AUSGABE ZWÖLF

DIE BÖRSE DER HANSEATEN PHILIPP OTTO Wie das Herz einer RUNGE Bürgerstadt entstand Das romantische Wunderkind in der Hamburger Kunsthalle

DIE TATTOO-

LEGENDE BESUCH IN CHRISTIAN WARLICH BILLSTEDT AUF ST. PAULI Der unterschätzte Stadtteil im Osten der Stadt

DIE BAND TOCOTRONIC Geschichten aus der Hamburger Schule 2019-2 € 9,80 ISBN 978-3-946677-43-7 ISBN ALTONAER MUSEUM Laß leuchten!

PETER RÜHMKORF ZUM NEUNZIGSTEN 21.08.2019 – 20.07.2020 Stiftung Historische Museen , Altonaer Museum Eine Ausstellung der Museumstr. 23, 22765 Hamburg, S-Bahnhof Altona, Arno Schmidt Stiftung

shmh.de Mo, Mi– Fr 10 –17 Uhr, Sa/So 10 –18 Uhr im Altonaer Museum Abb.: Peter Rühmkorf spricht im St. Pauli-Stadion, Hamburg, 1983, Foto Helga Kneidl, Deutsches Literaturarchiv Marbach

SHMH_19_Rühmkorf_ANZ_HHlive_OUT.indd 1 15.07.19 17:02 HAMBURG HISTORY LIVE Editorial

EINE STADT. EINE GESCHICHTE. EIN MAGAZIN.

LIEBE LESER,

zu den schönsten Herausforderungen meiner Nachfolge im Amt des Vorstands der Stiftung Historische Museen Hamburg gehört die Über- nahme der Herausgeberschaft von „Hamburg History Live“. Es freut mich daher sehr, mich Ihnen hiermit vorstellen und zugleich ankündi- gen zu können, dass wir Ihnen in der aktuellen Ausgabe wieder wie gewohnt ein facettenreiches Ensemble typischer, aber trotzdem unge- wöhnlicher Hamburg-Geschichten präsentieren können.

Unser Titelthema widmet sich diesmal gleich aus mehreren Blickwin- keln dem Tattoo-Künstler Christian Warlich, dessen Motivkreationen sich auch heute noch auf der ganzen Welt großer Popularität erfreuen. Als „König der Tätowierer“ hat dieser Gastwirt auf St. Pauli bis in die 1960er-Jahre mit seinem sehr eigenen Stil ein besonderes Kapitel der Hamburger Stadtgeschichte geprägt, das wir ab Ende November 2019 im Museum für Hamburgische Geschichte mit einer großen Sonder- ausstellung beleuchten werden. Als Einstimmung darauf geben wir Ihnen schon jetzt einen Einblick in die faszinierende Welt der Tat- too-Kunst in Hamburgs Kiezquartier – von den Anfängen des 20. Jahr- Prof. Dr. Hans-Jörg Czech, Vorstand und Direktor der Stiftung Historische Museen Hamburg hunderts bis heute. Um ganz andere, aber nicht weniger beeindruckende Chronisten Ham- burger Zeitläufte geht es in dieser Ausgabe in den Rubriken „Literatur“ und „Musik“: Der Schriftsteller Siegfried Lenz und die Band Tocotronic haben auf jeweils eigene Weise (Hamburger) Schule gemacht, sodass es längst einmal Zeit wurde, beiden jeweils in unserem Magazin Raum zu geben. Im Falle von Tocotronic kommt sogar noch ein spezieller Anlass hinzu: Im letzten Jahr feierten die Musiker ihr mittlerweile 25-jähriges Bandjubiläum..

Ein großes Jubiläum wird 2019 auch in der Hamburger Museumsland- schaft begangen – die Hamburger Kunsthalle wird 150 Jahre jung. Dies haben wir zum Anlass genommen, unter dem Rubrum „Hamburger Künstler“ einem der wichtigsten Vertreter aus der reichen Sammlung dieser ehrwürdigen Institution Aufmerksamkeit zu widmen: Philipp Otto Runge, dem neben Caspar David Friedrich bedeutendsten Maler der deutschen Frühromantik.

Eine ebenso inspirierende wie unterhaltsame Lektüre wünscht Ihnen,

Ihr Hans-Jörg Czech FOTO: SINJE HASHEIDER FOTO:

3 INHALT 12

03 EDITORIAL 84 KÜNSTLER UND IHRE WERKE Das Wunderkind Otto Philipp Runge 06 FUNDSTÜCK Ein Schokoladenautomat gestern und heute 98 LITERATUR Der „Ombudsmann des menschlichen 08 SCHÖNES UND NÜTZLICHES Anstandes“: Siegfried Lenz Traditionell und reell 108 HAMBURGS MUSIKGESCHICHTE 12 TITELGESCHICHTE 25 Jahre „Tocotronic“ Tattoo-Legende Christian Warlich und sein Vermächtnis in Hamburg 120 EINBLICKE INS MUSEUM Das Speicherstadtmuseum 32 STADTTEILE Billstedt – das unterschätzte Sorgenkind im Osten 136 TERMINKALENDER der Stadt Wichtige Termine bis Frühjahr 2020

50 SERIE: DIE GESCHICHTE DER GEBÄUDE 144 SERVICE Die Börse: vom einstigen Herz des Handels zum Register und Impressum Architekturliebling 146 STADTGESICHTER. EINE KOLUMNE 68 STADTBILD Carl Melchior Synagogen: verlorene Identität jüdischen

Glaubens zwischen den Wohnvierteln | ELKE WALFORD, KUNSTHALLE (3), SHMH (2), BPK | HAMBURGER PALMER FRITS FOTOS: TOCOTRONIC SUMESGUTNER, | DANIEL HANDELSKAMMER HAMBURG

4 3242 120

84

108

50 68

5 FUNDSTÜCK Gestern

SCHOKOLADENAUTOMAT Als 1864 Schleswig-Holstein und damit auch Altona zum Königreich Preußen kam, entwickelte sich Altona in rasantem Tempo. So wurde auch die 1810 gegründete Gartmannsche Fabrik ab 1865 von Christian Heinrich Louis unter dem noch heute existierenden Namen C.H.L. Gartmann zu einem hoch entwickelten industriellen Betrieb mit damaligem Kontor an der Blücherstraße/Königstraße ausgebaut. Nach dem Vorbild der ab 1887 aufgestellten Stollwerck-Schokoladenautomaten ließ auch die Altonaer Schokoladenfabrik Gartmann ab 1903 Automaten bauen. Für 10 Pfennig erhielt man eine Schoko-Rolle und ein Gartmann-Sammelbild. Das Unternehmen ist noch heute in Norddeutschland für seine beliebten Gartmann „Tannenbaum-Chokoladenkränze“ als auch die berühmten Gartmann-Automaten bekannt. Die Gartmann-Automaten der C.H.L. Gartmann GmbH waren nicht nur mit Schokoladenrollen, sondern auch mit den verschiedensten Sammelbildern befüllt. Die Automaten wurden nach dem Krieg nach und nach weniger, unter anderem auch, weil sie in der Nachkriegszeit oft als Feuerholz genutzt wurden.

Zu sehen ist der Schokoladenautomat in der Abteilung „Handel und Kontor“ (RECHTS) WWW.AZKOYENVENDING.DE SHMH (LINKS), FOTOS: in der Dauerausstellung im Museum der Arbeit

6 FUNDSTÜCK Heute

VERKAUFSAUTOMATEN Einfach ein paar Münzen einwerfen und den kleinen Hunger oder Durst zwischendurch stillen. Sandwiches, Snacks oder Süßes, aber auch verschiedene Getränke sind heutzutage schnell und unkompliziert an vielen öffentlichen Orten greifbar – dank der sogenannten Kombiautomaten. Die Rettung und Anlaufpunkt für Reisende am Bahnhof oder gehetzte Verschläfer auf dem Weg zur Arbeit. Mittlerweile sind die Automaten nicht mehr nur mit Nervennahrung gefüllt, auch beispielsweise Kondome erweitern in einigen das Sortiment, was gut ankommt. Mit einer großen Glasfront ausgestattet, die freie Sicht auf die Produkte gestattet, werden vor allem Impulskäufer angelockt. Und kaum jemand ist noch nie in Versuchung geraten und hat beglückt einen Schokoriegel aus dem Ausgabefach gezogen.

www.azkoyenvending.de

7 SCHÖNES UND NÜTZLICHES Traditionell und reell

TRADITIONELL UND REELL Die kalte Jahreszeit steht vor der Tür, das Schmuddelwetter ist im Anmarsch. Für die typisch Hamburger Jahreszeit bieten diese Artikel Wärme, Spaß und Unter­ haltung. Und zum Gewinnen ist auch etwas dabei!

 SCHLÜSSELANHÄNGER Der Hello Whale-Anhänger verschafft jedem Schlüsselbund eine maritime Note und wirkt durch die goldene Farbe stylish und edel. 8 x 4 x 0,3 cm, 8,95 Euro über donkey-products.com

WETTERFEST  Nordish by nature: Der gelbe Friesennerz für Männer passt perfekt ~ WARLICH-RUM in graues Hamburger Der Rum zur Ausstellung „Tattoo-­ Regenwetter – wasserab- Legenden“ besticht mit seiner weisend und winddicht. historischen Rezeptur aus mehreren 139 Euro, im Derbe & Sup- Rum-Destillaten, komponiert aus sehr port Shop, Osterstraße 169 eigenen und zugleich klassischen Geschmacksvarianten. Durch die Lagerung in den über 60 Jahre alten Rumfässern der Manufaktur von Have erhält er seine authentisch hamburgi- sche Note. 0,5 l, 29,95 Euro, pro verkaufter Flasche geht 1 Euro an das gemeinnützige Institut für deutsche Tattoo-Geschichte e. V., über www.nachlasswarlich.de

8  WISSENSWERTES ÜBER SCHIFFE Es ist noch gar nicht so lange her, da treibt der Pinguin Pip auf einer Eisscholle in den Hamburger Hafen. Zwei Hamburger Freunde namens Jan & Jörn nehmen ihn auf und zeigen ihm sein neues Zuhause. Das Erzähl-Sachbuch verbindet interessante Fakten zu unterschiedlichen Schiff stypen und deren Ladung mit einer fesselnden und detailreich illustrierten Geschichte. 32 Seiten, Hardcover, mit Hamburg-Klapp-Poster, 18 Euro

~ FRUCHTIGER KALENDER Ein Tagesabreißkalender für Apfel-Lieb- TRADITIONELLE haber: 366 historische Apfelsorten BUTTERDOSE  schmücken liebevoll illustriert die Butter frisch halten nach französischer Blätter. Verpackt ist der „An Apple a Art: In der zweiteiligen Dose wird ein Teil Day 2020“-Kalender in einer Sperr- mit Salzwasser befüllt. So entweicht Luft holz-Mini-Obstkiste. beim Schließen der Dose und hält die 11,4 x 15 cm, 368 Blätter, 24,80 Euro über Butter frisch. Das Unterteil der Dose ist Verlag Hermann Schmidt aus echtem Westerfelder Ton – streichzart ganz ohne Kühlschrank. Höhe 10 cm, 49 Euro über manufactum.de

MAL-SPASS Der Kreisel aus Buchenholz malt selbst- ständig Bleistift-Muster auf ein Blatt Papier, sobald er in Schwung gebracht wird. Die beiliegende Anleitung bietet einige Ideen für verschiedene Kreisel- spiele – ein kreatives Holzspielzeug. Höhe 5 cm, 5,80 Euro über manufactum.de

~ MITMACHEN UND GEWINNEN! Es werden zwei schwarze Smartphone Necklaces von xouxou verlost. Die schwarze Kordel ist mit einer Handyhülle verbunden, sodass das Smartphone KEMM’SCHE praktisch wie eine Umhängetasche IM MICHEL  getragen werden kann – Hände frei für die Echte Hamburg-Verbun- wichtigen Dinge im Leben. denheit: Traditionsgebäck Schicken Sie eine Postkarte mit dem Stichwort Kemm’sche Kuchen in Dosen „xouxou“ an die Stiftung der Historischen verpackt mit Hamburger Museen Hamburg, Holstenwall 24, 20355 Wahrzeichen wie dem Michel. Hamburg. Einsendeschluss ist der 29.11.2019. Befüllt mit jeweils 2 x 200 Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Gramm Kemm’sche Kuchen. 5 Euro über www.kemm-hamburg.de oder in den gängigen Supermärkten

9 SCHÖNES UND NÜTZLICHES Bücher

Die ersten Fotos der Stadt Um 1860 begannen Hamburger und auswärtige Fotografen, das Bild der Stadt festzuhalten. Noch gab es das alte Hamburg, das aus krummen Straßen, schiefen Fachwerkhäusern und engen Gängen bestand. Aber nach dem Großen Brand von 1842 war auch ein neues Hamburg entstanden, offen, hell, geradlinig – und modern. Die Gaslaternen, die auf vielen Fotos aus dieser Zeit zu sehen sind, kündigen schon die rasante technische Entwicklung an, die die Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfasst. Der überwiegende Teil der Fotos, die dieser Bildband zeigt – darunter das älteste Foto der Reeperbahn –, wurde noch nie publiziert. In ihren Details zeigen die Aufnahmen aus der Zeit von 1859 bis 1883 vieles vom alltäglichen Leben auf Hamburgs Straßen: Kutschen und Krinolinen, Bürger und Dienstboten, Handwerker und Arbeiter. Mal ist der Standort des Foto- grafen dabei auch für den heutigen Betrachter einfach zu erkennen, an anderen Stellen hat sich die Stadt in 150 Jahren dagegen vollständig gewandelt. Hamburg in frühen Fotografien. Jan Zimmermann (Hg.), Junius Verlag Hamburg, 224 Seiten, 39,90 Euro

Ein fotografischer Schatz Ausgerüstet mit einer schweren Holz-Plattenkamera und per Pferdefuhrwerk begaben sich die Fotografen Franz Schmidt und Otto Kofahl zwischen 1890 und 1904 zu den verschie- densten, oft schwer zugänglichen Standorten im Hamburger Hafen. 1908 wurden die rund 170 Fotografien als Konvolut Mit Kindern durchs Museum erstmals veröffentlicht. Jede einzelne dieser im Daguerreo- typie-Verfahren erstellten Aufnahmen ist heute ein fotogra- Mit der neuen Buchreihe, die die Stiftung Historische Museen Ham­ fischer und stadthistorischer Schatz. Der Band enthält eine burg gemeinsam mit dem Carlsen Verlag konzipiert hat, können historische Karte, die alle Aufnahmeorte verzeichnet, dazu Groß und Klein verschiedene Objekte aus den Sammlungen der zum Vergleich eine aktuelle Karte des Hamburger Hafens. historischen Museen in Hamburg aktiv entdecken, kennenlernen, Ein Essay des Architekturhistorikers Gert Kähler liefert einen wiedererkennen und benennen. Der besondere Clou: Die Bände sind kenntnisreichen Blick auf den alten Hafens aus heutiger Sicht. mit QR-Codes ausgestattet, die auf eine Website mit spannenden, Der Hamburger Hafen um 1900. Franz Schmidt und kindgerecht erzählten Geschichten zu jedem Objekt führen. Otto Kofahl, Dölling und Galitz Verlag Hamburg, ca. 224 Mit Kindern durchs Museum. Hrsg. Stiftung Historische Museen

Seiten, 49,90 Euro Hamburg, Carlsen Verlag Hamburg, jeweils 9,99 Euro HAMBURG JUNIUS VERLAG FOTO:

10 LESENSWERTES Sonder- NACH DEM MUSEUMSBESUCH ausstellung

KÖNIGLICHES VERMÄCHTNIS Ab 27.09. Der Hamburger Tätowierer Christian Warlich (1891–1964) war ein Pionier der professionellen Tätowierung des frühen 20. Jahrhunderts. Er gilt als einer der bedeutendsten Vertreter dieser Kunstform und BesUCH IN wurde als „König der Tätowierer“ international bekannt. Warlich fi el _ nicht nur durch seinen Anspruch auf, die Tätowierung zu professio- nalisieren, sondern zeich- LübecK sTA1t nete sich auch durch sein handwerkliches Können und seinen künstlerischen FLuG in Anspruch aus. Sein Vorlagealbum, dass die Vielzahl seiner Motive dIE kaRIBik. versammelt, ist das wohl bekannteste Dokument der deutschen Tätowier- geschichte und bis heute eine Inspiration für Tätowierer weltweit. Vor dem Hintergrund der Ende November beginnenden Sonder- ausstellung über Christian Warlich im Museum für Hamburgische Geschichte ist sein „Tattoo Flash Book“ in einer edlen Neuaufl age erschienen. Für Tattoo-Fans ein absolutes Muss, für alle anderen ein ästhetischer Genuss. Christian Warlich. Tattoo Flash Book. Ole Wittmann (Hg.) Vorlagealbum des Königs der Tätowierer/Original Designs by the King of Tattooists, Prestel Verlag München, Hardcover (engl.), Pappband, 108 Seiten, 38 Euro

Der wichtigste EIN QUARTIER WIRD WELTERBE Die Hamburger wurde offi ziell am 15. Oktober Gastro-Guide 1888 eröff net, der letzte Speicherblock ging 1927 in Betrieb. Seit 2015 zählt der einzigartige für Hamburg Lagerhauskomplex zum UNESCO-Welterbe. Die

ISBN 978-3-946677-33-8 SPEZIAL NR. 32 Speicherstadt war ein Viertel der ESSEN+TRINKEN 2019/2020 | € 9,90 Superlative. 17 Speicherblöcke mit 330.000 Quadratmetern Lagerfl äche reihten sich hier entlang der Fleete, die von 20 neu errichteten Brücken überspannt wurden. Eine Top Neueröffnungen und mehr als Kraftzentrale mit Kesselhaus und 600 Restaurants im Test Unverträglichkeiten im Trend? Wo Hamburg Maschinenstation versorgte aufbrüht

Dos und Don’ts bereits 1888 alle Gebäude mit Druckwasser und mit Elektrizität bei Tisch

für die Beleuchtung. Mit dem Band des Kunsthistorikers Ralf Darum lieben Gastronomen die Tolle Tipps Hansestadt Lange, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Speicherstadt- fürs Umland

Heft Anonym. Kritisch. Unabhängig. Die App zum museum tätig ist, liegt nun erstmalig eine umfassende Planungs- +++ Kostenlos +++ und Baugeschichte der Speicherstadt vor, die auch deren Vorgeschichte, alle beteiligten Architekten, den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die aktuelle Revitalisierung des Quartiers würdigt. Im Handel Die Hamburger Speicherstadt – Geschichte. Architektur. Welterbe. Ralf Lange, Dölling und Galitz Verlag Hamburg, ca. 300 Seiten, 39,90 Euro Oder über szene-hamburg.com

KUNST, DIE IN DIE HAUT GEHT Erst ein Bier für den Moment, dann ein Bild für die Ewigkeit: In den 20er-Jahren unterhielt Christian Warlich, Hamburgs legendärer Tattookünstler, auf dem Kiez ein Tattoostudio mit Kneipe. Die Szene hat sich verändert, ist „sauberer“ geworden, etablierter. Zum Glück gibt es aber noch Warlich-Kenner, die sein Andenken in die Gegenwart holen. In vielerlei Hinsicht …

TEXT: MATTHIAS GRETZSCHEL

13 TITELGESCHICHTE Tattoo

o ganz leicht zu finden ist der Laden nicht, vor al- lem wenn man die Stadt kaum kennt. Schon kurz nach 9 Uhr morgens ist Frank Miller an diesem nebligen Oktobertag des Jahres 1921 von Bord des amerikanischen Stückgutfrachters „John Brown“ gegangen, hat den Hafen verlassen und S sich nach St. Pauli aufgemacht, um einen gewis- sen Christian Warlich ausfindig zu machen. Vor ein paar Monaten hatte ein Freund aus Brooklyn, der auch zur See fährt und schon öfter in Deutschland war, Miller ganz begeistert von die- sem Deutschen erzählt, der in Hamburg ein ganz außergewöhnliches Tätowierstudio betreiben würde. Er hatte sein Hemd aufgeknöpft und ihm das Bild gezeigt, das ihm der Mann mit dem unaussprechlichen Namen auf die Schulter tätowiert hat: ein lassoschwingendes Cowgirl mit Hut, gelbem Kleid und Colt im Halfter – ein richtiges Kunstwerk. So etwas will Miller nun auch haben, kein Cowgirl zwar, aber auch eine fesche Dame, möglichst barbusig mit langem schwarzen Haar und mit flatternden Bastrock. Eine Schönheit, wie er sie auf Hawaii gesehen hat. Schon mehr als eine Stunde lang ist Miller durch die Straßen von St. Pauli geirrt, hat immer wieder nach Christian Warlich gefragt, des- sen Namen er offenbar falsch ausspricht, ohne jemanden zu finden, der ihm weiterhelfen kann. Zum Glück hat er den Namen aufgeschrie- ben, sodass er den Zettel zeigen kann. Jetzt findet er endlich einen äl- teren Hafenarbeiter, der Warlich kennt und Miller auch die Adresse nennen kann: Kieler Straße 44. Der Amerikaner ist inzwischen am Spielbudenplatz gelandet und weiß jetzt endlich, wohin er gehen muss. Wissend gelächelt hat der Hafenarbeiter, bevor er ihm den Weg erklärt. „Warlich ist eine gute Adresse“, sagt er und zieht den rechten Ärmel sei- ner Jacke nach oben, sodass eine Tätowierung sichtbar wird. Sie zeigt einen Indianer mit großem zweifarbigen Federschmuck. Miller ist be- eindruckt, er hätte das Tattoo gern noch eingehender betrachtet, doch der Angesprochene ist in Eile, hat den Ärmel wieder langgezogen und noch einmal kurz den Weg erklärt. So läuft er nun die Reeperbahn ent- lang, biegt dann rechts in die Hein-Hoyer-Straße ein und hat nach drei Kreuzungen die Kieler Straße erreicht. Inzwischen ist es gegen 11 Uhr. Miller sieht ziemlich viele Polizis- ten auf der Straße, was die Passanten aber ebenso wenig zu stören scheint wie die Prostituierten, die hier auf St. Pauli schon am Vormittag anzutreffen sind. Erst vor ein paar Wochen, hat ihm ein britischer Ma- trose erzählt, gab es eine große Aktion, als die Polizei an der Hafen- Christian Warlich in seinem Tattoostudio 1936 mit giftfreien Farben straße und am Pinnasberg zwei von Chinesen betriebene Opiumhöllen

und reinem Alkohol zur Desinfektion ausgehoben hat. Aber die Aufregung legte sich schnell wieder, u SHMH UND ILLUSTRATIONEN: FOTOS

14 TITELGESCHICHTE Tattoo

15 Zum „Lütt un Lütt“ (Bier und Schnaps) präsentiert Wahrlich 1936 sein Skizzen­buch in seiner Gaststube. Es ist wie eine Schatzkarte mit einer Vielzahl von ­irgendwas passiert auf St. Pauli immer, wissen die Menschen, die hier Motiven. Vorausschau- unterwegs sind, meist ohne sich von der Polizei beeindrucken zu lassen. end ließ er seine Kunden Jetzt hat der amerikanische Seemann sein Ziel erreicht, steht vor allerdings nie allein darin herum­blättern und der Gastwirtschaft an der Kieler Straße 44 und sieht schon von außen, sorgte damit für den dass dies keine normale Kiez-Kneipe ist. Es gibt Schilder, die klarma- Erhalt des Buches bis heute chen, dass nicht nur Rum und Bier angeboten wird, sondern außerdem eine sehr spezielle Kunst. „Alles, was der männliche Körper ausdrü- cken soll, steche ich ein: Politik, Erotik, Athletik, Aesthetik, Religiös!! In sämtl. Farben nur elektrisch an allen Stellen. Streng reell! Wundervolls- te Muster! Freie Auswahl! Nach persönl. Geschmack. Giftfrei! Unver- wüstlich! Streng reell!!! Separat. Gebt Euren Körper nicht in die Hände von Pfuschern. Meine Tätowierungen dauern über den Tod hinaus. Re- ferenzen aus allen Hafenstädten der Welt“, steht auf einem großen Schild, das im Schaufenster steht. Voller Erwartung betritt der Amerikaner die Kneipe, die gut be- sucht und entsprechend verraucht ist. An den blanken Tischen sitzen Männer, von denen die meisten Seeleute oder Hafenarbeiter sein dürf-

ten, und trinken schon am Vormittag Grog und Bier. Links ist der Tre- SHMH UND ILLUSTRATIONEN: FOTOS

16 TITELGESCHICHTE Tattoo

sen, daneben gibt es einen Bereich, der mit einem schwarzen Vorhang abgetrennt und nicht einsehbar ist. An den Wänden hängen große Blät- ter mit Motiven, die man sich hier in die Haut stechen lassen kann: Herzen, Hexen, Anker, Blumen, Nixen und vieles mehr. In gebroche- nem Deutsch fragt der neue Gast eine ziemlich dicke Kellnerin, die am Tresen Biergläser füllt, nach Christian Warlich, dem Wirt. Er soll sich erst einmal setzen, sagt sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Als er gerade die Hälfte seines Bavaria-Biers ausgetrunken hat, tritt ein Mann an seinen Tisch, den er im Leben nicht für einen Kneipenwirt gehalten hätte. Er wirkt noch relativ jung, gepflegt, trägt das dunkle Haar streng gescheitelt. Er hat eine Weste an, ein weißes Hemd und Fliege, so könn- te er als Beamter oder Arzt durchgehen. Trotzdem ist es der Wirt, der sich als Christian Warlich vorstellt. Er spricht passables Englisch, so- dass der Gast nicht radebrechen muss. „Komm doch mit“, sagt er, und führt den Amerikaner gleich darauf in den Raumteil hinter dem bodenlangen dunklen Vorhang. Nichts ist hier schmierig oder schmutzig, alles wirkt professionell, erinnert eher an eine Arztpraxis als an einen Handwerksbetrieb auf St. Pauli. Zum Inventar gehören Tätowiermaschinen, Schablonen, Vorlagen und eini- ge Werkzeuge und Geräte, deren Funktion sich dem Laien nicht gleich erschließt. Sie nehmen an einem Tisch Platz, auf dem ein Album liegt, das der Gast aber nicht anfassen darf. Warlich weist ihn freundlich da- rauf hin und schlägt das Buch behutsam auf, sodass die Seiten sichtbar werden: Darauf sind jene Vorlagen zu sehen, die sich die Kunden auf Wunsch von Warlich in die Haut stechen lassen können. Der Amerika- ner hat schon viel von diesem Mann und seiner Kunst gehört, aber was er jetzt sieht, macht ihn fassungslos: Indianerhäuptlinge und barbusige Matrosenbräute, japanische Geishas und Höllenmonster, geringelte Schlangen und brüllende Löwen, Anker und Gräber, Drachen und Dol- che, Fische, Adler und schier unendlich viel mehr Motive. Aber was ihn fasziniert, sind nicht nur der Reichtum und die Fülle der Vorlagen, es ist vor allem die präzise und zugleich ungemein ausdrucksvolle Art der Darstellung. Das ist nicht irgendwas, das ist enormes Können und mehr als das: Es ist große Kunst. Sein Freund aus Brooklyn hat völlig recht, dieser Mann ist wirklich der „König der Tätowierer“. Keine Frage, auch er wird sich von diesem Meister ein Bild in den rechten Oberarm stechen lassen. Was es denn sein soll, fragt Warlich und blättert in sei- nem Vorlagealbum, als Miller ihm von der hawaiianischen Schönheit erzählt. Der Meister braucht nicht lange zu suchen, bald hat er eine ­Seite gefunden, wo sie genau so zu sehen ist, wie Miller sie sich er- träumt hat: barbusig, mit wehendem schwarzen Haar und einer Blu- menkette um den Hals. Der Preis, den der Tätowierer ihm nennt, kommt Miller keines- wegs hoch vor. Sieben Reichsmark ist fast ein Schnäppchen. Wann es denn losgehen kann, fragt der Amerikaner, der schon am nächsten Tag mit der „John Brown“ wieder Richtung Southampton auslaufen wird. „Haben Sie etwas Zeit mitgebracht“, fragt Warlich den Matrosen, zieht eine silberne Taschenuhr aus der Westentasche und denkt nach. „Jetzt ist es gleich halb zwölf, da habe ich einen Termin, anschließend ­könnte ich Ihnen die Dame in den Arm stechen“, sagt er, als er mit Miller wie- der die Gaststube betritt. Dort wartet schon ein junger Mann in Arbeitskleidung, der ein biss- chen nervös wirkt. Er sitzt allein am Tisch und hat schon das zweite u

17 TITELGESCHICHTE Tattoo

Halbliterglas Bavaria ausgetrunken. Als Warlich auf ihn zugeht, springt der Mann sofort beflissen auf und reicht ihm die Hand. „Nur Mut, das kriegen wir schon hin, ist alles halb so schlimm“, sagt der Tätowierer zu ihm und führt ihn rechts hinten im Gastraum zu einer Tür. „Und du kannst gern mitkommen, dann siehst du mal, wie so ein Bild wieder verschwinden kann“, sagt Warlich zu Miller, der nun auch durch die Tür in einen kleineren Raum tritt, der ein bisschen an das Behand- lungszimmer eines Arztes erinnert: Eine Liege mit Lederbezug, ein Ho- cker auf Rollen, auf dem Warlich nun Platz nimmt. An den Wänden stehen Regale mit Glasgefäßen, in denen sich Chemikalien befinden. Hier kümmert sich Warlich um die komplizierten Fälle. „Na zeigen Sie mal“, sagt er und krempelt den rechten Ärmel des jungen Mannes hoch, auf dem ein Frauenporträt mit Bubikopf und einem Herz sicht- bar wird, über dem ein Spruchband mit dem Namen Evelyn liegt. „Mit Evelyn ist es wohl vorbei?“, fragt Warlich mitfühlend. Wäh- rend der junge Mann nickt und ein paar schwer verständliche Sätze brummelt, trägt Warlich eine spezielle Lösung auf das Hautbild auf. Sie besteht aus destilliertem Wasser, Kalium, Äther, Kochsalz und arsen- freier Schwefelsäure. „Das müssen wir einwirken lassen und noch mehrfach auftragen, anschließend lässt sich die Haut problemlos ent- Warlichs Kunden lassen sich nur allzu gern fotografieren fernen und du bist deine Evelyn wieder los“, sagt Warlich und wendet und werden damit selbst zu rbesten Werbeplattform sich nun Miller zu. „Wenn du willst, kann es jetzt losgehen“, sagt er zu dem Amerikaner, der auf dem Behandlungsstuhl Platz nimmt und sein Hemd hochkrempelt, sodass der rechte Oberarm frei ist. Warlich greift nach einer Flasche, schüttelt sie kräftig.

„Das ist reiner Alkohol, den brauchen wir zum Desinfizieren“, sagt SHMH UND ILLUSTRATIONEN: FOTOS

18 TITELGESCHICHTE Tattoo

er, trägt die Flüssigkeit breitflächig auf und verreibt sie mit dem Zeige- finger. Dann greift er nach einem Rasiermesser, entfernt die Härchen auf dem Arm, sodass die Haut ganz glatt ist. Aus einer Schublade greift er nach der Schablone mit dem gewünschten Motiv, streicht sie mit blauer Farbe ein und legt sie Miller auf den Arm, der nun die Platzie- rung des künftigen Tattoos schon erkennen kann. Anschließend nimmt Warlich die Tätowiermaschine in die Hand und schaltet deren Motor ein. Miller hält die Luft an, denn das Gerät erinnert ihn fatal an den Bohrer beim Zahnarzt. Zum Glück tut es kaum weh, wenn der Tä- towierer mit der Nadel die Umrissfarbe einen halben Millimeter unter die Haut bringt. „Das Patent für dieses Gerät hat übrigens ein berühm- ter Landsmann von ihnen: Thomas Edison“, sagt Warlich, der nun an- fängt, die Flächen des Motivs mit entgifteten Spezialfarben auszufül- len. Rot, Gelb und Schwarz. Nach und nach entsteht auf Millers Arm nun die halbnackte Südseeschönheit mit wehendem Haar. Warlich ar- beitet konzentriert, ganz am Schluss färbt er noch den oberen Ansatz des Flatterröckchens rot ein, dann ist das Bild fertig. „Nun, bist du zu- frieden?“, fragt er Miller, der tief durchatmet, das Bild betrachtet und beeindruckt ist. „Exzellent“, sagt er, greift nach seiner Geldbörse und zahlt Warlich den zuvor vereinbarten Preis von sieben Reichsmark. „Bei dir dauert es noch ein bisschen“, sagt der Tätowierer zu dem Mann auf der Liege, der sein Evelyn-Tattoo entfernt haben will, und führt Miller in den Gastraum, wo der sich noch einen halben Liter Ba- varia bestellt. Eine halbe Stunde später verlässt der amerikanische Ma- trose die Kneipe an der Kieler Straße und kehrt stolz und zufrieden in den Hafen zurück. Gleich nach seiner Rückkehr in die Heimat u

19 TITELGESCHICHTE Tattoo

Chriss Dettmer hat sich über Hamburg hinaus einen Namen in der Tattooszene gemacht. Weil er sich auch für die wird er seinen Freund in Brooklyn besuchen, ihm stolz die Hawaiia- Geschichte seiner Kunst nerin zeigen und von seinem Besuch beim „König der Tätowierer“ in interessiert, kommt es nicht selten vor, dass er Hamburg St. Pauli berichten. Warlich-Motive sticht, wie rechts zu sehen EIN STUDIO IN ALTONA Wenn ein Nachfahre des fiktiven amerikanischen Seemanns Frank Miller heute nach Hamburg käme, um sich hier ein Motiv des berühm- ten Tätowierers Christian Warlich stechen zu lassen, sollte er sich an Chriss Dettmer wenden. Man findet den bärtigen Tätowierer in seinem Studio The Black Hole am Alsenplatz in Altona. Im Erdgeschoss eines schnörkeligen Gründerzeithauses befindet sich der Laden, der in der Szene seit Langem als Institution gilt. Chriss Dettmer ist nicht nur ein guter Handwerker, der seine Technik perfekt beherrscht, er hat sich schon immer auch für die Tat- too-Geschichte interessiert – und ist dabei zwangsläufig auch auf War- lich gestoßen, den legendären „König der Tätowierer“. „Natürlich gibt es auch andere bedeutende Tätowierer, an denen man nicht vorbei- kommt, zum Beispiel Sailor Jerry, einen US-Amerikaner, der Tat- too-Künstler und zugleich Seemann war und enormen Einfluss auf die weltweite Szene gehabt hat und weiterhin hat“, sagt er. „Von War- lich habe ich zum ersten Mal als Jugendlicher vom Vater eines Freun- des gehört, der über und über tätowiert war, was mich sehr beein- druckt hat. Irgendwie ist der Name hängen geblieben, obwohl ich da-

mals noch nicht viel mit ihman fangen konnte.“ u PALMER FRITS FOTOS:

20 TITELGESCHICHTE Tattoo

21 TITELGESCHICHTE Tattoo

ICH BIN VON STUDIO ZU STUDIO GEZOGEN UND HABE GEFRAGT, OB ICH DA LERNEN DARF

Wie wird man überhaupt Tätowierer? Das ist eine Frage, die sich nicht leicht beantworten lässt. Für Dett- mer war das Berufsziel immer klar, er wollte schon mit elf oder zwölf nichts anderes werden. Als es dann Ende der 1990er-Jahre nach Schule und Zivildienst losgehen sollte, erwies sich die Verwirklichung des damals noch exotischen Berufswunsches als ziemlich kompliziert. Schon das Equipment war in dieser Zeit nicht leicht zu beschaffen. Und an eine ordentliche Lehre konnte man sowieso nicht denken. Tätowierer war kein Lehrberuf, ist es bis heute nicht. Eine ordentliche Ausbildung mit The- orie und Praxis, Berufsschule und Lehrwerkstatt gab und gibt es nicht, obwohl es doch ein Handwerk ist, das man irgendwie lernen muss. „Ich bin von Studio zu Studio ge- gangen und habe gefragt, ob ich da was lernen darf, aber die meisten Tätowierer wollten ihre Ruhe haben. Als ich dann irgendwann einen netten Typen gefunden hatte, der sich zu einer Art Lehre bereitfand, war der auf einmal nach zwei Monaten verschwunden und ich stand wieder allein da“, erinnert sich Dettmer an seine schwierigen Anfänge. Irgendwie hat er es dann doch gelernt, hat sich vieles aber auch selbst beigebracht und sich in der Szene längst einen Namen gemacht. Ein bisschen merkwürdig findet er es schon, dass es zwar inzwischen jede Menge Studios gibt, die auf höchst unterschiedlichem Niveau arbeiten, sich aber keine offizielle Stelle dafür interessiert. Bei je- dem anderen Handwerk müsse man alle möglichen Nachweise bringen, hier aber könne jeder einen Laden einrichten, die Tür aufmachen und loslegen. „Aber ande- rerseits ist es vielleicht ganz gut, dass wir uns nicht mit allen möglichen Vorgaben auseinandersetzen müssen“, meint er schmunzelnd. Und was hat sich in den letzten 20 Jahren verändert? „Eine Menge, in meinen Anfangsjahren habe ich zum Beispiel kaum Unterarme tätowiert, die meisten Tattoos sollten damals nicht offen sichtbar sein. Das wäre damals sozial kaum akzeptiert worden. Heute spielt das über- haupt keine Rolle mehr“, sagt er, und erzählt, wie er später wieder auf Christian Warlich gestoßen ist. „Die meis- u

22 TITELGESCHICHTE Tattoo

Kreativität, saubere Arbeitsweise, ein gutes Equipment und zeichnerisches Talent sind die Grundvoraussetzungen, um als guter Tatöwierer tätig sein zu können FOTOS: FRITS PALMER FRITS FOTOS:

23 TITELGESCHICHTE Tattoo

Das Warlich-Album

ten Tätowierer hatten zwar von ihm gehört, aber irgendwie war der Mann doch ein Geheimnis. Das lag vor allem daran, dass kaum jemand seine Motive gesehen hatte, denn es gab zwar seit 1981 einen Nachdruck des berühmten Vorlagealbums, das beim Harenberg Verlag erschienen ist, aber das war längst vergriffen. Erschwerend kam hinzu, dass es nur ein kleines Format hatte und so schlecht gedruckt war, dass man die ori- ginale Farbigkeit kaum erahnen konnte.“ Als er erfuhr, dass ein großer DIE TÄTOWIERER Teil des Warlich-Nachlasses im Museum für Hamburgische Geschichte aufbewahrt wird, ging er dort hin und konnte einige Vorlagen im Origi- HABEN VON nal betrachten. Manchmal wünschen sich Kunden Motive, für die es nur WARLICH Linien zeichnungen gibt. Für Dettmer ist auch das kein Problem. „Ich habe mich so lange mit Christian Warlich auseinandergesetzt, dass ich GEHÖRT, ABER eine ungefähre Vorstellung habe, wie er die Zeichnung wohl schattiert und koloriert hätte.“ Dass Warlich vor knapp 100 Jahren neben seinem TROTZDEM BLIEB Tätowierstudio auch eine Kneipe betrieben hat, findet Chriss Dettmer sympathisch. „Es gibt heute ganz unterschiedliche Menschen, die sich ER IMMER EIN Tattoos stechen lassen, manche finden diese Kneipenatmosphäre sicher GEHEIMNIS nicht gut und könnten sich eher ein schickes Café vorstellen. Ich bin da ganz anders gestrickt“, sagt der Hamburger Tätowierer, der nichts dage- gen hat, wenn seine Kunden ein Bier trinken, während er ihnen ein kunstvolles Tattoo sticht – gern auch nach einer Vorlage aus Christian Warlichs berühmten Album. u

MATTHIAS GRETZSCHEL Verantwortl. Redakteur der Museumswelt Hamburg Journalist und Autor zahlreicher Bücher zu kulturgeschichtlichen Themen. Er besucht regelmäßig die Museen in Hamburg – berufl ich wie privat. FOTOS: SHMH, FRITS PALMER SHMH, FRITS FOTOS:

24 TITELGESCHICHTE Tattoo

25 TITELGESCHICHTE Tattoo

DURCH SEIN ALBUM WURDE WARLICH ZUR IKONE Interview mit Ole Wittmann, Kurator der Ausstellung „Tattoo-Legenden. Christian Warlich auf St. Pauli“, die ab 27. November im Museum für Hamburgische Geschichte zu sehen ist

INTERVIEW: MATTHIAS GRETZSCHEL

Wer Ole Wittmann besuchen möchte, nach 2000. Näher beschäftigt habe ich ich die Objekte aufspüren, anschlie- muss im Museum für Hamburgische mich mit ihm dann erstmals im Zu- ßend habe ich sie ikonografisch be- Geschichte weite Wege zurücklegen. sammenhang mit meiner Dissertation arbeitet und verschiedenen Themen- Im zweiten Stock geht es durch die „Tattoos in der Kunst“. Da ging es be- bereichen zugeordnet, die auch in der Abteilung zur jüdischen Geschichte, sonders um das Schmetterlingsmotiv Ausstellung eine Rolle spielen. bevor man jenen Gang erreicht, an in der bildenden Kunst und in der dem das kleine Büro des Wissenschaft- Tätowierkultur, was mich wieder mit Woraus besteht der Nachlass? lers liegt. Es ist gut gefüllt mit Kisten Warlich in Verbindung brachte. Ich Dazu zählt zum Beispiel ein zweites, in und Kästen, Regalen voller Bücher, wusste, dass er ein Vorlagenbuch er- der Öffentlichkeit noch nicht bekann- Fotoalben, vergilbten Papieren, an den arbeitet hat, das berühmt ist und in tes Vorlagnalbum, das Umrisszeich- Wänden Plakate und Zeichnungen – dem es auch prägnante Schmetter- nungen enthält. Dann gibt es die Blät- überwiegend Materialien eines Nach- lingsdarstellungen gibt. Damals war ter mit den Vorlagen, die im Studio an lasses, in dem es vor allem um eines ich auch zum ersten Mal hier im Mu- der Wand hingen, es gibt Fotoalben, geht: Tattoos. „Nachlass Warlich“ heißt seum, um mir das Original anzuse- viele einzelne Fotografien, schriftliche das Projekt, dem sich der promovierte hen. Obwohl es ja bereits als Faksimile Zeugnisse und vieles mehr. Kunsthistoriker seit vier Jahren wid- publiziert worden war, wird die künst- met, der selbst zahlreiche Tattoos trägt. lerische Qualität im Original viel bes- Über den Lebenslauf ist relativ wenig Und für Menschen, die sich für Täto- ser sichtbar. Nachdem ich nicht nur bekannt, selbst das Geburtsdatum wierungen und deren Geschichte in- das Album, sondern auch die übrigen war, wie Sie recherchiert haben, teressieren, hat der Name Christian Objekte aus dem im Museum verwahr- fehlerhaft. Was gibt es denn an ge- Warlich (1891–1964) einen ganz be- ten Nachlass gesehen habe, entstand sichertem Wissen über ihn? sonderen Klang. Wittmann bereitet die Idee zu dem Forschungsprojekt Tatsächlich nicht so viel. Er wurde 1891 zurzeit eine Ausstellung vor, die von „Nachlass Warlich“. bei Hannover geboren, hat möglicher- Ende November an unter dem Titel weise schon seine Mitschüler tätowiert „Tattoo-Legenden. Christian Warlich Was tun Sie da konkret? und ging als 14-Jähriger nach Dort- auf St. Pauli“ im Museum für Ham- Zunächst versuche ich, den Nachlass so mund. Ob er dort tatsächlich als Kessel- burgische Geschichte gezeigt werden vollständig wie möglich zu erfassen. Er schmied gearbeitet hat, ist nicht belegt, soll. Wir fragten Ole Wittmann, was es befindet sich ja nicht nur hier in Ham- kann aber sein. Von seinem Stiefenkel damit auf sich hat: burg, sondern ist in mehrere Hände habe ich gehört, dass man Erfahrungen gegangen. Einen großen Teil hat nach in einem anderen metallverarbeitenden In der Tattoo-Szene gilt Christian Warlichs Tod Tattoo-Theo übernom- Beruf haben musste, um als Schiffshei- Warlich als Superstar, einer größeren men, der eigentlich Theodor Vetter zer anheuern zu können. Deshalb habe Öffentlichkeit ist er dagegen unbe- hieß und ein Freund der Familie war. er als Beruf Kesselschmied angegeben, kannt. Wann ist Ihnen der Name zum Als er 2004 starb, wurde der Bestand als er sich 1914 um einen Job als Heizer ersten Mal begegnet? erneut aufgeteilt und ging hauptsäch- auf dem HAPAG-Dampfer „Imperator“

Wahrscheinlich in den ersten Jahren lich nach England. Zunächst musste beworben hat. Die Reise ging nach u SHMH UND ILLUSTRATION: FOTO

26 TITELGESCHICHTE Tattoo

Kurator Ole Wittmann beschäftigt sich intensiv mit Warlichs Nachlass und der Geschichte der Tattooszene in Hamburg

27 New York, das belegt ein Eintrag in der Seekasse, den ich gefunden habe, und auch Warlichs Reisepass.

Er hat ja in New York offenbar Kon- takt zu Tätowierern gehabt. Ist er dort längere Zeit geblieben? Länger geblieben ist er nicht, schon nach einigen Tagen ist er mit der „Im- perator“ zurückgekehrt. Man kann aber davon ausgehen, dass er Kontakte zu amerikanischen Tätowierern hatte.

Sprach er denn Englisch? In der Korrespondenz gibt es englisch abgefasste Briefe an Amerikaner, aber die kann auch jemand anders für ihn übersetzt haben.

Wieso war er im Ersten Weltkrieg nicht Soldat? Keineswegs. Adolf Spamer schreibt album, das schon 1981 erstmals publi- In einem Zeitungsartikel wird erwähnt, in seinem Buch „Die Tätowierungen ziert wurde und das quasi jeder Täto- dass er bei der Kriegsmarine gewesen in den deutschen Hafenstädten“, wierer kennt. Es gibt keinen anderen, sei, aber dafür finden sich keine Bele- dass es zu Beginn der 1930er-Jahre in der in der Szene so stark rezipiert wird ge. Wir wissen es einfach nicht. Deutschland insgesamt nur zwei wie Warlich. Seine Motive werden bis ­Dutzend professionelle Tätowierer heute ständig tätowiert. Seit wann war er in Hamburg? gegeben hat. So viel findet man heute Es gibt ein Foto, das ihn in Hamburg in jeder größeren Einfallstraße. Hat er sich hinsichtlich der Motive zeigt und das laut Beschriftung auf der nach den üblichen Vorlieben seiner Rückseite 1909 aufgenommen wurde. Sie sagen, dass Warlich das Tätowie- Kunden gerichtet oder auch neue Im Hamburger Adressbuch ist er ab ren in Deutschland auf ein neues Bildideen eingebracht? 1917 zu finden. ­Niveau gehoben hat. Worin besteht Es gab für die westlichen Tätowierun- seine eigentliche Leistung? gen einen ganz festen Kanon von Moti- Und ab wann hatte er die Kneipe? Das eine ist die Qualität seiner Arbei- ven, der sich im 19. Jahrhundert heraus- Ab 1919, das war das Frühstückslokal ten, sowohl der Zeichnung als auch gebildet hat und kaum verändert wurde: Robert Schnorf auf der früheren Kieler der Umsetzung. Da hebt er sich sehr zum Beispiel Schlange, Anker, Segel- Straße 44, der heutigen Clemens- stark von seinen Mitbewerbern ab, er schiff, aber auch Kombinationen wie Schultz-Straße. Auf einem Foto von war einfach künstlerisch besser. Dann Frau mit Palme, Totenkopf mit Schwert 1919, das das Lokal von außen zeigt, ist es der Grad der Professionalisie- oder Dolch. Die tauchen überall auf der ist im Schaufenster eine Werbetafel rung, nicht nur im Handwerklichen, Welt auf. Trotzdem hat jeder Tätowierer mit Tattoo-Motiven zu sehen. Das sondern auch im Hinblick auf das seine eigene künstlerische Handschrift ­Lokal gibt es übrigens noch, heute ist ganze Umfeld. Er hat Werbung ge- und bringt oft auch ein paar neue Mo­ da die Bar Toom Peerstall drin. macht, Handzettel gedruckt. Er hat tive mit ein. So gibt es Kompositionen, sich auch viel ausgetauscht, nicht nur die man sofort mit Warlich in Verbin- Da gab es also von vornherein die mit Tätowierern, sondern auch mit dung bringt. Ganz typisch für ihn ist Verbindung von Kneipe und Täto- Wissenschaftlern, vor allem mit Volks- zum Beispiel der Dämon mit dem wierstudio? kundlern und Medizinern. Aus die- ­Messer durch den Kopf. Offenbar ja. Am Anfang hat er wohl sem Grund wurde er schon zu Leb­ bei Schnorf gearbeitet und die Kneipe zeiten in Publikationen genannt. Hat er sich selbst eher als Handwer- später selbst übernommen. ker oder als Künstler gesehen? Und wie wurde er zu dieser Ikone, als Das wissen wir nicht. Es war ihm wohl Damals war er vermutlich einer von die er heute gilt? viel daran gelegen, die Tätowierung

vielen Tätowierern in Hamburg. Das liegt vor allem an seinem Vorlage- und die bildende Kunst zu verbinden. SHMH FOTOS:

28 TITELGESCHICHTE Tattoo

Er hat zum Beispiel Reproduktionen Nicht ausschließlich, aber überwie- ren Publikum vorgestellt. Was erwar- von Dürer-Stichen in der Wiener Al- gend. Es wird durchaus auch noch mit tet den Besucher konkret? bertina bestellt, weil er fand, dass sich der Hand tätowiert. Warlich selbst hat Aus Warlichs Leben und Schaffen las- einige davon besonders gut als Täto- meistens mit der Maschine gearbeitet. sen sich zahlreiche Themen ableiten, wierbilder eignen würden. die wir in der Ausstellung behandeln: War er innerhalb der Szene schon zu das Werk selbst, seine Biografie, der Hat er die Tätowiermaschine mit nach Lebzeiten international bekannt? internationale Austausch, aber auch Europa gebracht oder die Technik in Davon kann man ausgehen, da es das Thema Tattoo-Entfernung, dem er anderer Hinsicht weiterentwickelt? schon während seiner Berufstätigkeit sich ja selbst gewidmet hat, seine Re- Belegen kann man das nicht, aber ich Berichte über ihn in der ausländischen zeption heute, andere Hamburger gehe davon aus, dass er Tätowierma- Presse gegeben hat, die ganz sicher zu Tätowierer. Warlich bildet sozusagen schinen aus New York nach Deutsch- seiner Popularität beigetragen haben. den roten Faden, dem viele einzelne land mitgebracht hat. Es gab zwar da- Themen zugeordnet werden. mals auch schon in Europa Tätowier- Er hat also auch ausländische Kunden maschinen, aber in den USA waren sie gehabt, Matrosen zum Beispiel? Was stellen Sie konkret aus? vermutlich schon viel stärker verbrei- Ganz sicher, es gibt ja auch Korrespon- Neben vielen Objekten aus dem War- tet und daher leicht zu erwerben. In denzen, die er mit Ausländern geführt lich-Nachlass auch zahlreiche weitere technischer Hinsicht hat er keine In- hat. Zeugnisse der Tätowiergeschichte in novationen eingebracht, überhaupt hat Deutschland, zum Beispiel Vorlage­ sich die Tätowiertechnik bis heute Mit der Ausstellung im Museum für blätter von Karl Rodemich, der schon kaum verändert. Hamburgische Geschichte und den in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­­- ­ Wird heute nur noch mit Maschinen Projekten in den sozialen Medien wird hun­derts als Tätowierer in Hamburg tätowiert? Christian Warlich jetzt einem größe- tätig war. Interessant sind auch u

29 TITELGESCHICHTE Tattoo

Durch Schaufensterwerbung wurde Warlich bekannt

Trockenpräparate, darunter auch toos lange Zeit nur bei gesellschaftli- Warlich-Tattoos, die er offenbar selbst chen Randgruppen üblich waren. Wie wieder entfernt hat. kommt es zu dieser Annahme, obwohl es offenbar schon immer in allen sozi- Über die Persönlichkeit von Warlich alen Schichten üblich war? hinaus geht es auch um die Geschich- Das geht auf eine Arbeit des italieni- te des Tattoos in Hamburg. Seit wann schen Gerichtsmediziners und Psychi- sind denn Tätowierungen in Hamburg aters Cesare Lombroso zurück, der im überhaupt nachgewiesen? 19. Jahrhundert Strafgefangene unter- Das älteste Beispiel aus dem Hambur- sucht und dabei festgestellt hat, dass ger Raum sind die tätowierten Arme sie tätowiert waren. Er schloss daraus: des Itzehoer Jerusalem-Pilgers Radke Wer tätowiert ist, ist in der Regel kri- Stubbe aus dem Jahr 1669 auf einem minell. Er hat nur vergessen, den Rest Kupferstich von 1676. Das sieht man der Bevölkerung zu untersuchen. Die- biblische Motive von der Auferstehung ses Vorurteil war so prägend, das es bis zur Himmelfahrt. sich teilweise bis heute gehalten hat.

Da hat es also vom 17. Jahrhundert bis Aber waren Tattoos nicht doch in un- heute durchgehend Tattoos in Ham- terschiedlichen sozialen Schichten burg gegeben? unterschiedlich stark verbreitet? Also Sicher schon viel früher, nur sind sie bei lutherischen Pastoren sicher we- nicht eher dokumentiert. niger als bei Matrosen. Das kann man vermuten, aber es gibt

Zu den Klischees gehört es, dass Tat- dazu keine statistischen Untersuchun- SHMH FOTOS:

30 gen. Derartige Studien werden erst seit kurzer Zeit erarbeitet. Es liegt natür- lich nahe, dass Menschen, die sich vor 100 Jahren tätowieren ließen, SELBST KAISERIN SISI TRUG EIN das möglichst nicht öffentlich gezeigt haben, weil sie sich den Vorurteilen ANKER-TATTOO, DASS SIE ABER STETS und Diskriminierungen eben nicht aussetzen wollten. UNTER KLEIDERN VERDECKTE

Waren nur deshalb vor 100 Jahren viel weniger Menschen tätowiert als heute? Nein, Tätowierungen waren in Europa 34-Jährigen sogar 28 Prozent. Ist das Ich weiß gar nicht, ob damals wirklich schon immer verbreitet. Die amerika- eine Hype oder eine vorübergehende weniger Menschen als heute tätowiert nische Autorin Anna Friedman spricht Erscheinung? waren, auch aus allen Schichten. Si- daher vom „Cook-Mythos“, der sich Das ist keine Mode, weil schon immer cher ist nur, die Tätowierungen waren auch darauf bezieht, dass das Wort tätowiert wurde. Um 1900 gab es zum weniger sichtbar als heute und es war „Tattoo“ von Cook angeblich nach Beispiel in und an der ameri- auch weniger tätowierte Hautfläche. ­Europa gebracht worden sei, was nicht kanischen Ostküste auch einen Hype, So hatte die Kaiserin Elisabeth von stimmt. Auf jeden Fall haben Täto­ über den in den Medien berichtet wur- Österreich-Ungarn, besser bekannt als wierungen aus fremden Kulturen viel de. Allerdings gibt es zu verschiede- Sisi, ein Anker-Tattoo, das aber stets zur Popularisierung der Tattoos in nen Zeiten und an verschiedenen Or- von Kleidern bedeckt war. Heute hätte Europa beigetragen. ten immer mal Hochs … sie vielleicht ein Tattoo am Hals, beide Handrücken voll und den Rest auch, Woher kommen die Vorurteile gegen … die aber auch mal wieder abflachen was man sofort sehen würde. Es gibt die Tätowierten? können? den Bericht eines Volkskundlers aus Das geht einerseits tatsächlich auf Durchaus, das bleibt nicht immer kon- den 1880er-Jahren, der erstaunt darü- Lombroso zurück, hängt andererseits stant, sondern verändert sich von Zeit ber war, wie viele Tattoos er in einem aber auch mit der Auffassung zusam- zu Zeit. Freibad gesehen hat, obwohl die dama- men, dass man seinen gottgegebenen lige Bademode ja den größten Teil des Körper nicht verändern soll. Da geht es Sie tragen selbst Tattoos. Wenn Sie Körpers immer noch bedeckte. um das Ideal der Unversehrtheit, das die Chance hätten, Christian Warlich christlichen, aber auch ganz anderen zu begegnen und sich von ihm täto- Trotzdem gab es bestimmte Berufs- Vorstellungen entspringen kann. wieren lassen könnten. Für welches gruppen, die offenbar eine besondere Motiv aus seinem berühmten Vor­ Affinität zu Tattoos hatten. Warum Viele Tätowierte bedecken ihre Tat- lagealbum würden Sie sich entschei- waren sie zum Beispiel bei Matrosen toos mit Kleidung. Ist ein sichtbares den? so beliebt? Tattoo dagegen ein besonderes State- Es gibt eine ganz androgyne Matrosin Das hängt mit einer gewissen Sam- ment? so aus den 1920er-Jahren mit kur­- melleidenschaft zusammen, durch Für die meisten wahrscheinlich nicht. zen Haaren, die sieht super aus und die auch beglaubigt werden sollte, Aber das ist sehr individuell, der eine ist eines meiner Lieblingsmotive. wo sie jeweils gewesen sind. Die See­ will seine Tattoos zeigen, der andere Die hätte ich gern. fahrer-Motive hatten eine eigene nicht. Der eine muss sie verdecken, ­Bedeutung, die unter Matrosen auch weil es in seinem Beruf einen Dress- Und wo sollte das hin? verstanden wurde. Natürlich gab code gibt, der das verbietet. Bei an­ Das wäre ein tolles Motiv für den Arm, es aber bei jedem Träger auch indivi- deren Menschen spielt das keine Rolle. da habe ich aber keinen Platz mehr. duelle Zuschreibungen. Das ist sehr unterschiedlich. Deshalb würde ich mir von Warlich vielleicht erst einmal etwas entfernen Der englische Weltumsegler James Tattoos haben seit mehreren Jahr- lassen, um Platz zu schaffen. Cook hat 1774 den tätowierten Prinz zehnten nicht nur Konjunktur, son- Omai aus Tahiti mit nach London ge- dern werden auch zunehmend gesell- bracht. Oft wird behauptet, dass er schaftlich akzeptiert. Heute sollen die Tätowierung für Europa damit mindestens 15 Prozent der Bevölke- entdeckt hätte. Das stimmt nicht? rung tätowiert sein, bei den 25- bis

31 STADTTEILE Billstedt

GESCHICHTE ZWISCHEN GRAU UND GRÜN Ein leichtes Dröhnen von Autobahn und Bundesstraße liegt in der Luft. Vielstimmig, ab und zu von einem Tatütata oder zwitschernden Vögeln durchsetzt. Manchmal brummt ein Rasenmäher und der Hahn kräht. Wir sind in Billstedt, der – zu Unrecht umstrittene – Hamburger Stadtteil zwischen Jenfeld, Horn und Bergedorf. Er wird 1928 aus den drei Gemeinden Öjendorf, Schiffbek und Steinbek zusammen- gefügt und kommt mit dem Groß-Hamburg-Gesetz zu Hamburg

TEXT: FRANK BERNO TIMM

32 STADTTEILE Billstedt

33 STADTTEILE Billstedt

Karte von 1895

34 STADTTEILE Billstedt

s gibt viel mehr als nur gesichtslose Wohn- blocks: fast schon rei- zende Einfamilienhaus- viertel, unglaubliche Mengen Grün, die bunt zusammengewürfelte E Bevölkerung. Und gräbt man in der Geschichte, wird schnell offenbar, dass Billstedt Entwick- lungen genommen hat, die nicht nur ganz Ham- burg, sondern oft auch der Zeit weit voraus waren. Billstedt ist also in gewisser Weise ein Modell für Hamburg, für urbanes Leben. So, wie Billstedt im Laufe des 20. Jahrhunderts aus drei Orten zusam- mengefügt wird, lässt sich auch die Entwicklung des Ortsteils in drei Phasen einteilen: die Zeit der Mühlen, der frühen Industrialisierung und die Zeit der umwälzenden Gegenwart seit der Nach- Arbeiter vor den Toren ihrer kriegszeit. Drei Themen wiederholen sich in chemischen Fabrik Billstedts langer Geschichte: viele Zuwanderer, in Billbrook in den berühmte Leute, die spannende Entwicklungen 50er-Jahren vorantreiben und schließlich ein erschreckend laxer Umgang mit der Umwelt.

BILLSTEDTS ERSTE STUNDEN Gehen wir zu den Anfängen: Hildegard Dunker (Die Billstedter Heimatkunde, 1954) spricht von häufigem Besitzerwechsel der Bill­stedter Grün- dungsortschaften Schiffbek, Steinbek und Öjen-

V. dorf. Frühe Verweise finden sich in Urkunden, die vermelden, an wen die drei Orte den Zehnten (also ein Zehntel des Einkommens, eine biblische Tradition) zu zahlen hatten – die Marienkirche in gebräuchliche Namen – Oberschleems und Unter- Hamburg, das Nonnenkloster in Reinbek, später schleems – sie erinnern an die Gebäude, die zu das dortige Amt. Lebensmittelpunkte waren, den Mühlen am Schleemer Bach gehörten. mehr als heute, die Kirchen: Steinbek habe seine Der Steinbeker Bach hatte ebenfalls zwei eigene gehabt, Schiffbek und Öjen­dorf gehörten Mühlenteiche: einer bei Steinfurth und den heute zur Hamburger Jacobikirche – bis 1265 einem noch existierenden Steinbeker Mühlenteich (bei- Ersuchen, von dort nach Steinbek „umgepfarrt“ de Gewässer gibt es noch). Es existierten nicht nur zu werden, stattgegeben worden sei. Wasser-, sondern auch eine Windmühle: Sie muss Ein anderer Bezugspunkt ist Wasser: Ur- auf dem Geesthang am Ufer des Schleemer Bachs sprünglich sind der Schleemer und der Steinbeker gestanden haben und ist laut Dunker im letzten Bach (heute Glinder Au) viel wasserreicher gewe- Krieg abgebrannt. Zu den Mühlenprodukten ge- sen. Sie wurden aufgestaut, um Mühlen zu betrei- hörten Papier, Pulver und Kupfer. Die heutige ben. Bei zwei dieser Mühlenteiche gibt es heute Mühle an der Glinder Au ist nach eigenen An­ keinerlei Hinweis mehr darauf zu sehen, dass es gaben einer der ältesten Hamburger Betriebe und sie je gegeben hat: Einer reichte vom früheren Lu- befindet sich seit 1735 in Familienhand. „Hat die isenhof bis zur Möllner Landstraße, der andere Mühle in früheren Zeiten Getreide gemahlen und erstreckte sich vom Schleemer Hof bis zur Polizei- Lumpen zerkleinert, ist bis heute der Mineralim-

STADTPLAN: WWW.CHRISTIAN-TERSTEGGE.DE, FOTO: GESCHICHTSWERKSTATT BILLSTEDT E. BILLSTEDT GESCHICHTSWERKSTATT FOTO: WWW.CHRISTIAN-TERSTEGGE.DE, STADTPLAN: wache in der Billstedter Hauptstraße; heute noch port zu einem wichtigen Bereich gewachsen. u

35 STADTTEILE Billstedt

Die weithin sichtbare Kirche auf dem Geesthang bildet seit 1239 das Zentrum von Kirchsteinbek und war ebenso ihr Namensgeber. Neben dem Mineralimport sowie der Weiterverar- gibt damals „altfreie“ Bauern, die dem Schicksal, Nach Kriegschä- beitung werden noch zwei weitere Produktbe­ Leibeigene zu werden, entgangen sind. Der so den wurde sie Mitte der 50er-Jahre reiche bedient: Kokosnussprodukte und Talkum“, genannte Allmendebesitz, also das gemeinsame wieder aufgebaut heißt es auf der Website der Mühle an der Glinder Eigentum an Wald, Moor und Heide, sei auf die und modernisiert Au. Sie ist die letzte aktive Vertreterin der Mühlen- einzelnen Bauern aufgeteilt und vorher in mühsa- zeit im heutigen Billstedt. mer Kleinarbeit ausgemessen worden, das nennt man damals offensichtlich „einkoppeln“. Die ers- ten, so eingekoppelten Dörfer sind laut Dunker DREI DÖRFER Schiffbek und Schleeme im Jahr 1777. Diese Ar- Das Trio aus drei Dörfern ist über die Jahrhunder- beiten hätten bis 1780 gedauert, ein Jahr später sei te immer wieder schlimmsten Kriegen, Besatzun- dann unter anderem Öjendorf an die Reihe ge- gen und Seuchen ausgesetzt – das abseits gelege- kommen. „Die Bauern waren meistens zufrieden ne Billwerder (damals noch Billwärder geschrie- mit diesen dänischen Reformen“, schreibt Dun- ben) dient als Fluchtpunkt, wenn es zu schlimm ker; wohl des entstehenden Wohlstands wegen. wird. So richten sich die Bewohner nur notdürftig ein, manchmal kommen sie über die Bille zurück, um die Besatzer zu versorgen, zu verhandeln und DREI BERÜHMTE LEUTE zu schauen, ob die Fremden noch da sind. Neben Eine Geschichte über Billstedt wäre unvollständig den weltlichen und kirchlichen Herren der Zeit ohne die Geschichte von drei Menschen, die im haben hier über die Jahrzehnte Polen, Österrei- Billstedt des 18. Jahrhunderts leben und wirken. cher, Brandenburger, Russen und Dänen das Heft Der erste ist der Verleger Hans Heinrich Holle: Er in der Hand. Letztere bringen dabei eine Entwick- ist 1708 Buchdrucker in Hamburg, zwei Jahre lung ins spätere Billstedt, die zumindest von später in Wandsbek, dann in Schiffbek und be-

­Hildegard Dunker recht positiv gesehen wird: Es hördlich ziemlich unbeliebt, weil er sich mit u PALMER FRITS HAMBURG-BILDARCHIV, FOTOS:

36 STADTTEILE Billstedt

37 werden muss, erscheint es 1721 wieder unter ver- schiedenen Namen, bis er die Zeitung 1730 an seinen Schwiegersohn übergibt, der sie schließ- lich als Hamburger Correspondent weiterführt – dieses Blatt soll zu den einflussreichsten im ­damaligen Europa zählen. Der Erfolg macht den Schriftsteller großzügig, und so vermacht Holle der Gemeinde sein Haus, in dem die erste Schule Schiffbeks gegründet wird. Der zweite, wichtige Mann ist Johann Wil- helm von Archenholz, dem das Landgut Öjendor- fer Hof gehört, das später Luisenhof heißen wird. Zunächst ist er, der Familientradition folgend, Soldat in der preußischen Armee, aus der er 1763 schwer verwundet entlassen wird. Archenholz reist anschließend durch Europa, beginnt zu schreiben und lässt sich zunächst in Dresden nie- der. Hier lernt er Friedrich Schiller kennen und gibt inspiriert und voller Tatendrang ab 1782 das Monatsblatt Literatur- und Volkskunde heraus. Im Jahr 1786 kommt Archenholz nach Hamburg, weil hier die Zensur hier weniger streng ist, so Ralph Ziegenbalgs Vermutung. Der Leiter der Billstedter Geschichtswerkstatt beschäftigt sich schon lange mit der Thematik. Die Geschichtswerkstatt gibt es seit 2007. Er weiß auch, dass Archenholz 1791 mit der Familie nach geht, um dort die Zeitschrift Minerva zu gründen – mit sichtlichem Erfolg, denn obwohl der Publizist schon ein Jahr später wieder aus Frankreich weg- und zurück nach Hamburg geht, erscheint seine Minerva über Archenholz’ Tod ­hinaus bis 1858: etwa 200 Seiten pro Ausgabe in handlicher Form, schlichtem Layout, „ohne Bilder Zu den heutigen und Schmuckelemente“. Modern ist das Blatt da- Kulturdenkmälern mals auch, weil Archenholz „streng um Unpartei- Billstedts gehört auch lichkeit und die Trennung von Nachricht und die Steinbeker Mühle an der Glinder Au. Meinung“ bemüht ist, was in Deutschland erst Seit 1735 in Besitz der der Herausgabe einer Biblia Pentabla beschäftigt, nach dem Zweiten Weltkrieg Standard werden Familie Neubauer ist sie einer der ältesten einer ganz besonderen Bibel. Sie besteht aus einer soll. Archenholz ist auch als Schriftsteller aktiv – Betriebe in Hamburg. katholischen, einer lutherischen, einer reformier- eine Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Eine traditionsreiche ten, einer jüdischen und einer holländischen Deutschland und 19 Bände zur britischen Ge- Mühle, die sich heute auf die Produktion von Übersetzung in fünf Spalten nebeneinander und schichte haben schon damals ein großes Publi- Talkum, Glimmer und ist zusätzlich mit Erläuterungen versehen. Das kum gefunden. Für den Erfolg wird er heute ge- Kokosnussprodukten, für die Industrie spezia- Unternehmen als einer der ersten Versuche zu würdigt: Die Archenholzstraße führt durch Öjen- lisiert hat bezeichnen, die christliche Heilige Schrift histo- dorf direkt an seinem ehemaligen Besitz entlang. risch-kritisch zu lesen, ist sicher nicht übertrieben. Die dritte Billstedter Berühmtheit ist Chris­ Holle, nach dem in Billstedt auch eine Straße tian Fritzsch, der 1719 als 24-Jähriger nach Ham- nahe des Öjendorfer Wegs benannt ist, tut sich burg kommt. Der Kupferstecher steht im Dienst noch anderweitig hervor. Als Zeitungsverleger des Holsteinisch-Gottorfschen Herzogs Carl Fried- bringt er ab 1712 zweimal wöchentlich das Schiff- rich, der Fritzsch ein Haus mit Garten in Schiffbek beker Posthorn heraus. Und auch, wenn es im anweist (heute hätte es die Adresse Billstedter nächsten der vielen Kriege zunächst eingestellt Hauptstraße 42). Fritzsch arbeitet auch für den

38 STADTTEILE Billstedt

Sohn des Herzogs, „der durch Heirat russischer stedt nicht leben und so muss bald die Jutespinne- Großfürst geworden war“, wie Dunker schreibt. rei und Weberei aufgeben, dabei fängt deren Ge- Der geborene Sachse sticht viele Persönlichkeiten schichte vielversprechend an: 1881 gründet sich seiner Zeit und beliefert Buchdrucker und Zei- die Fabrik auf einer ehemaligen Schweineweide tungsverleger mit seinen Arbeiten, wie Dunker an der Bille und wird schon 1883 fertiggestellt. notiert. „Auch mit dem Baumeister Sonnin stand Hildegard Dunker beziffert die erste Beschäftig- er in Verbindung und stach manche seiner Bau­ tenzahl mit 500 Arbeitern – bis 1889 seien es pläne in Kupfer“. Der Fritzschweg führt in der schon 1.200 gewesen. Die Fabrik baut entspre- Nähe des Billstedt Centers als kleine Seitenstraße chende Wohnungen von der Möllner Landstraße zum U-Bahnhof Billstedt, sein einstiges Wohn- bis zur Billstedter Hauptstraße: Schiffbek wird haus wurde eine „Erziehungsanstalt“ für Jungs. städtischer. Es folgen eine Lehranstalt für die ka- tholischen Einwandererkinder und 1889 die Jute- schule in der Kinder unterrichtet werden, die auch BILLSTEDT WIRD STÄDTISCH in der Fabrik, in der „Jute“ arbeiten, bis 1893 die Billstedt ein Ausflugsziel? Auf den ersten Blick ist Kinderarbeit dann gesetzlich eingeschränkt wird. das heute schwer vorstellbar – trotz mancher Se- Anfang des 20. Jahrhunderts entstehen dann di- henswürdigkeit und reicher Hamburger, die sich verse Vereine, darunter der Spar- und Bau-Verein sommers auf Billwerder niederlassen. Es gibt gut für Schiffbek und Steinbek. Was aber fehlt noch besuchte Ausflugslokale. Eine Ahnung davon, zur städtischen Struktur? Wasser und Abwasser, was die Leute im 19. Jahrhundert anzieht, kann Strom, Gas. Nach Hildegard Dunker wird 1903 das Die Straßenbahn­ man heute noch auf Billwerder finden: feinste Elektrizitätswerk am größeren der beiden Stau­ endhaltestelle Billstedt in den Villen in bester Kulturlandschaftsidylle. Doch von teiche in der Möllner Landstraße gebaut, sieben 50er-Jahren. reinem Ausflugsverkehr kann das spätere Bill­ Jahre später ragt ein Gasbehälter daneben auf. u Hier trafen sich die Linien1, 7 und 12. Am 29.9.1968 fährt die letzte Bahn Richtung Billstedt

V.

FOTOS: FRITS PALMER, GESCHICHTSWERKSTATT BILLSTEDT E. BILLSTEDT GESCHICHTSWERKSTATT PALMER, FRITS FOTOS:

39 STADTTEILE Billstedt

Villenarchitektur trifft auf Mehrzweckbauten – besonders im Kontrast der Gebäude zeigt sich die Janusköpfigkeit der Billstedter Geschichte

40 STADTTEILE Billstedt FOTOS:

41 1954: Blick stadtauswärts auf die Einmündung Schiffbeker Weg in die Billstedter Hauptstraße

42 STADTTEILE Billstedt

Viel schwieriger ist es mit dem Abwasser: Die Fertigstellung der Kanalisation zieht sich bis 1930, weit länger als im nahen Hamburg, das sei- ne Kanalisation bekanntlich William Lindley ver- dankt. Hinter der Verzögerung versteckt sich der Umstand, dass die Schiffbeker die recht erfolg­ reiche Straßenbahn verlängern (vom Letzten Heller bis zur Roten Brücke) und erst damit den Bau einer Kanalisation verknüpfen wollen.

DIE GOLDENEN 20ER Nach dem Ersten Weltkrieg ist in Billstedt erst- mals von Arbeitslosigkeit die Rede, und sie steigt, schreibt Hildegard Dunker, bis 1921 an, sodass zahlreiche Familien den Winter in großem Elend verbingen, besonders nach den Unruhen im Ok- tober 1923, die so viele Arbeiter wurden von der Arbeit ausgesperrt haben. Unruhen? Das Ge- schichtsbuch Hamburg erinnert online an die In- flation der zwanziger Jahre: „Das am Morgen verdiente Geld reichte am Abend nicht mehr für die Grundnahrungsmittel (...)“. Auch das Notgeld des Senats genügt da nicht mehr, sodass es in den Hamburger Werften zu rumoren beginnt: Die KPD proklamiert den Generalstreik, auch die Rechten formieren sich und im Mai 1923 wird ein Komplott in Hamburg entdeckt, das Vorbereitun- gen trifft „für den Krieg nach außen unter Zer- schlagung der vaterlandsfeindlichen Widerstände im eigenen Lande. Die Kommunisten [greifen] am 23. Oktober 1923 zu den Waffen, [scheitern] aber mit ihrem Aufstand“. In Schiffbek werden die Gemeindeverwaltung, das evangelische Gemein- Der Versuch an der Billstedter Haupt- dehaus und die Post besetzt. Die Aufständischen straße, gegenüber reißen Straßenpflaster für Schützengräben auf. dem Billstedt Man kann sich vorstellen: Der rund 200 Mann Center durch kleine Geschäfte starke Aufstand wird nicht auf Anhieb niederge- eine Urbanität zu

V. schlagen. Doch es gibt nicht nur Dramen zu Be- schaffen ginn des 20. Jahrhunderts: Der Zusammen- schluss von Schiffbek, Kirchsteinbek und Öjen- rer Republik hinein [...] bei den Wahlen zusam- dorf zu Billstedt vollzieht sich im Jahr 1928 und men auf mehr als 60 Prozent der abgegebenen bildet das Fundament für die Entscheidung, den Stimmen“, heißt es in einer Broschüre der Ge­ Ort 1937 im Rahmen des Groß-Hamburg-Geset- schichtswerkstatt aus dem Jahr 2012. Die NSDAP zes auch ganz offiziell zur Hansestadt zu zählen, kann hier lange nur schwer Fuß fassen. Im April zusammen mit Wandsbek, Harburg-Wilhelms- 1933 kommt es dann trotzdem zu den ersten Boy- burg, Altona – und vielen anderen. kottaufrufen jüdischer Geschäfte und immer wie- der zu willkürlichen Verhaftungen. Die Geschich- te nimmt ihren bekannten tragischen Lauf und so WEIMARER REPUBLIK: BILLSTEDT IST LINKS werden unter anderen Fiete Schulze, der militäri- Seit der Industrialisierung gilt Billstedt als Hoch- sche Chef des Billstedter Aufstands, zum Tode burg der Arbeiter, die beiden Arbeiterparteien SPD verurteilt und die Sozialdemokratin Katharina

FOTOS: FRITS PALMER (2), GESCHICHTSWERKSTATT BILLSTEDT E. BILLSTEDT (2), GESCHICHTSWERKSTATT PALMER FRITS FOTOS: und KPD kommen „bis in die Endzeit der Weima- Corleis im KZ Fuhlsbüttel umgebracht. u

43 STADTTEILE Billstedt

44 STADTTEILE Billstedt

Das Billstedt Center (kurz BCH) wurde am 21. September 1977 eröffnet. Mit 40.000 Quadrat­metern für 110 Geschäften versorgt das Einkaufs- zentrum heute ein Einzugsgebiet von fast einer Million Einwohnern

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts baute man viergeschossige Mietshäuser im In der Siedlung Sonnenland gibt es in den chen, die das Denkmal 2003 errichten, bekom- Schiffbeker Weg. 1980er-Jahren eine Geschichtsgruppe um Erhard men den Bertini-Preis dafür. Dass die Lore in Die Altbauten wurden im Jahr Dressel, den Leiter des heutigen Stadtteilprojekts. Billstedt in den letzten Jahren erst nach längeren 1969 einseitig Schon 1941, so ihre Unterlagen, kommen die ers- Interventionen von Schmierereien gereinigt wieder entfernt, um ten Zwangsarbeiter nach Hamburg – am Ende ­wurde und sich der Regionalausschuss lange Platz für die Verbreiterung der sind es 70.000. Sie verdienen – offiziell – für nicht auf ein Gedenken an den Widerstand an die Straße zu schaffen neuneinhalb Stunden Arbeit 1,28 Reichsmark, NS-Zeit einigen konnte, stellt dem Billstedter sind in bewachten Lagern untergebracht, in denen Gremium ein schlechtes Zeugnis aus. schwerste Krankheiten grassieren und sie dürfen bei Luftangriffen nicht in die Schutzbunker – über 10.000 seien dadurch in ganz Hamburg ums Le- DIE ZEIT DER WANDLUNGEN ben gekommen, schreiben sie. Eine der Firmen, Nach der Weltkriegskatastrophe wird Billstedt zum in denen Zwangsarbeiter schuften müssen, ist die Wohnungsbaugebiet – und zwar mit prominenter Kalksandsteinfabrik Joh. Thießen KG am Toten- Beteiligung, denn in dem Projekt war kein Gerin- redder (heute Sonnenland). In der Kiesgrube ar- gerer als Künstlergröße Werner Kallmorgen invol- beiten damals auch der Kommunist Rudi Giffey, viert. Ralph Ziegenbalg benennt für 1952/53 den der Jude Abraham Korte und der Sinto Hugo Ro- Bau der Siedlung Mehrenskamp, in den frühen senberg – ihnen und ihren Leidensgenossen setzt Sechzigern folgen knapp 200 Reihenhäuser, meh- man ein Denkmal: Ein erster Gedenkstein wird rere Viergeschosser und fünf Achtgeschosser un- am 13. Dezember 1987 eingeweiht, einige Jahre weit des U-Bahnhofs Merkenstraße. In den Jahren später zerstört. Der zweite Schritt ist die Aufstel- von 1962 bis 1966 entsteht die Siedlung Sonnen- lung einer Lore am Aufgang vom Sonnenland land, 1964 wird an der Archenholzstraße gebaut

FOTOS: FRITS PALMER, KURT J. SCHEFFER J. KURT PALMER, FRITS FOTOS: zum Oststeinbeker Weg. Die Billstedter Jugendli- und an der Möllner Landstraße. Von 1968 bis u

45 STADTTEILE Billstedt

46 STADTTEILE Billstedt

Das Billstedt Center war im ersten Bauab- schnitt zunächst nur als offene Laubengang- Passage geplant FOTOS:

47 STADTTEILE Billstedt

Der U-Bahnhof Billstedt, inklusive dem Busbahnhof, wurde am 28. September 1969 eröffnet. Ab 2007 hat man ihn umfassend für 5,5 Millionen Euro saniert 1974 wächst Kaltenbergen (auf Hausmüll gebaut), gefährlichen und schweren Körperverletzungen 1972 bis 1979 die Siedlung Mümmelmannsberg, in Billstedt um einen Fall zugenommen, in der für die laut Architekturexperte Ralf Lange 1968 Altstadt aber um 28 Fälle. Bei den Wohnungsein- die ersten Pläne gemacht wurden. Dieser Bauma- bruchdiebstählen gab es 37 Anzeigen weniger in rathon treibt die Einwohnerzahl Billstedts derart Billstedt, in der Altstadt vier weniger. Bei Dieb- in die Höhe, dass sie sich innerhalb von 30 Jahren stählen insgesamt ging die Zahl in Billstedt um verdreifacht. Jürgen Wolff, Chef des Stadtteilpro- 117 zurück – in der Altstadt um 459. Hamburgweit jekts Sonnenland, lebt schon als Jugendlicher in sei die Zahl der erfassten Taten das dritte Mal in Billstedt und erinnert sich, nach dem Krieg habe Folge zurückgegangen, und zwar um weitere 3,3 Billstedt aus ein paar Straßen und „Feldmarken, Prozent. Zuweilen ist von der Polizei zu hören, es die dann bebaut wurden“ bestanden. Wichtig für gebe einen Unterschied zwischen dem subjekti- die Entwicklung Billstedts ist damals auch das ven Sicherheitsgefühl und den absoluten Zahlen. Entstehen der U-Bahnlinie U2: Laut Hochbahn Soll heißen: Billstedt ist besser als sein Ruf. Noch fährt sie seit 1969 bis Billstedt, seit 1970 bis zur einmal Ralph Ziegenbalg: Er findet, Billstedt sei Merkenstraße, seit 1990 nach Mümmelmanns- sehr grün, man sei schnell in der Stadt und auf berg. dem Land, die Lebensqualität hoch. Allerdings Der Zuzug bricht übrigens auch in der Ge- entsorge Hamburg hier immer wieder billig seine genwart nicht ab, und er bringt nicht nur die bes- Probleme. ten Seiten der Stadt hervor: Seit dem großen Flüchtlingszuzug kocht der Streit um Fremde FRANK BERNO TIMM auch in Billstedt wieder hoch. Alle Jahre wieder Kultur- und Lokaljournalist wird Billstedt nur als sozialer Brennpunkt, oft Schwerpunkte: Soziales, Migration, verkürzt und oberflächlich, gesehen. Doch die of- Stadtteile, öffentlicher Verkehr. Zuletzt besuchte Ausstellung: „Helmut Lander. fiziellen Zahlen der Polizei sprechen eine andere Der Weltensammler“ im

Sprache. Demnach haben von 2017 auf 2018 die Barlach-Museum in Wedel (S. 46/47) E.V. BILLSTEDT GESCHICHTSWERKSTATT AG, HOCHBAHN DER HAMBURGER ARCHIV FOTOS:

48 Das Hamburg-ABO 12x Szene Hamburg +1x Kauft ein! +1x Essen&Trinken

für nur 49,- Euro portofrei: [email protected] SERIE: DIE GESCHICHTE DER GEBÄUDE Alte Börse

50 SERIE: DIE GESCHICHTE DER GEBÄUDE Alte Börse OPERATIONEN AM HERZEN DER STADT Die Baugeschichte der Börse in Hamburg. Wo liegt das Herz einer Stadt? Einer Hafen- und Handelsstadt, einer freien Stadt – wie man hier immer wieder gerne betont – einer Bürgerstadt, deren Bevölkerung Könige und Kaiser eher zur Kenntnis genommen als bejubelt hat. Kurz: Einer Stadt wie Hamburg?

TEXT: OLAF BARTELS SERIE: DIE GESCHICHTE DER GEBÄUDE Alte Börse

Während die alte Börse am Nikolaifleet ein Raub des Großen Brandes von 1842 wurde, blieb der gerade eingeweihte Neubau am Adolphsplatz durch die vereinte Tatkraft der Hamburger Bevölkerung erhalten

er Hafen ist der Motor dieser Hier ist seit dem 12. Jahrhundert der zentrale Umschlag- Stadt. Ihn haben die Bürger in platz für Waren aus aller Welt, steht die Stadtwaage, handeln Jahrhunderten mit unermüdli- die Kaufleute den Wert ihrer Waren untereinander aus – hier cher Arbeit und großem diplo- ist auch der Gründungsort der Hamburgischen Börse und matischen Geschick zu einem hier steht auch das erste Rathaus dieser Bürgerstadt. Man wichtigen Handelsplatz ausge- kann sie fast eine Bürgerrepublik nennen, denn auf die Un- D baut. Im Mittelalter setzen sie abhängigkeit vom Heiligen Römischen Reich deutscher Na­ ein umfassendes Stapelrecht tion – die ihnen Kaiser Friedrich I. Barbarossa in seinem be- für ihre Stadt durch und vertei- rühmten Freibrief 1189 zugesteht – legt man in Hamburg digten es hartnäckig gegen so damals großen Wert. Ihre damit verbundene Selbstverwal- manchen Konkurrenten im Unterelberaum. Denn Hamburg tung können die Hamburger bis in die Napoleonischen Krie- liegt, anders als viele glauben, nicht direkt an der Nordsee. Bis ge und die Gründung des Deutschen Reiches 1871 verteidi- zur Elbmündung sind noch etwa 100 Kilometer zurückzule- gen. Und noch heute ist man hier auf das kleine Wort „und“ gen. Dies bietet damals allerdings auch einigen Schutz gegen im Titel der Stadt stolz: Freie und Hansestadt Hamburg. Angreifer, die bis in moderne Zeiten gerne den Seeweg neh- men, um Hamburg seine Position streitig zu machen. Auch der Hafen liegt weit ins Innere der Stadt zurückgezogen am HAFEN, MARKT UND DER RAT DER STADT heutigen Nikolaifleet in der Nähe der Trostbrücke und den Deshalb bilden Börse und Rathaus in Hamburg zu dieser mittlerweile verlassenen Gebäuden der Commerzbank, die Zeit eine Einheit: 1290 ist am Nikolaifleet ein neues Rathaus hier ihren Gründungsort hat. Heute tobt der Verkehr auf der errichtet worden, das zuvor genutzte Gebäude liegt nicht Ludwig-Erhard-Straße über diesen Hafen, in dem einst die weit davon entfernt. 1558 richtet die Stadt hier an der Trost-

stolzen Handelsschiffe der Hansestadt Hamburg liegen. brücke den ersten festen Versammlungsort für ihre Kauf­ DER HANDELSKAMMER ARCHIV (S. 50/51), HANDELSKAMMER HAMBURG FOTOS:

52 Das 1841 nach den Plänen von Carl Ludwig Wimmel und Gustav Forsmann fertiggestellte Börsengebäude war mit seiner Architektur ein Quantensprung für Hamburg, der noch größer hätte ausfallen können, wäre man den Vorstellungen des damals noch jungen Architekten Alexis de Chateauneuf gefolgt

leute ein, an dem diese ihre Verhandlungen abhalten – noch Hier treffen sich Kaufmanns- und Bürgerschaft und sie ma- unter freiem Himmel. Zwischen 1577 und 1583 folgt dann der chen Rathaus und Börse zum politischen und ökonomi- Bau des ersten Gebäudes nach den Plänen des niederländi- schen Forum der Stadt. Die logische Konsequenz: 1619 schen Architekten Jan Andresen. Es ist eine große Halle mit gründet sich genau hier die Hamburger Bank. einem Obergeschoss, die die unterschiedlichen Handels­ plätze für Getreide, Gewürze, Tücher und andere Waren unter einem Dach vereint und Witterungsschutz bietet. Ein NAPOLEONS MACHT UND ERBE großer Lastenkran und die Stadtwaage sind Nachbarn der Der erste große Einschnitt in der Entwicklung Hamburgs als Börse, in der auch die Commerzdeputation, die „Versamm- Handelsmetropole ist die Besatzung durch napoleonische lung Eines Ehrbaren Kaufmanns“ (seit 1867 die Handels- Truppen 1803. Die Geschäfte laufen am Ende des 18. Jahr- kammer) residiert. Das Gebäude der Hamburger Börse ist hunderts gut, „Hamburg besitzt den Credit der ganzen Welt“ das erste seiner Art in ganz Deutschland. heißt es 1798 noch lapidar in einer Chronik – doch kurz da- Zur Zeit der Renaissance und in den darauffolgenden nach erfasst die Stadt eine harte Wirtschaftskrise. Noch här- Jahrhunderten etabliert sich der Ort an der Trostbrücke zum ter trifft die Stadt die Besatzung durch die französischen Handels- und Finanzzentrum, aber eben auch zum politi- Soldaten. Die Hamburger Bank wird ausgeplündert, Kirchen schen Zentrum Hamburgs. War der Grundbau der Börse und Klöster säkularen Zwecken zugeführt, wenn sie diesen noch aus den Spenden der Kaufleute finanziert worden, be- nicht schon seit dem Dreißigjährigen Krieg dienten. Das Jo- müht man sich für den weiteren Ausbau des Bauwerks auch hanniskloster und seine Kirche beispielsweise, die in der mithilfe der Commerzdeputation nun um die Finanzierung Nähe des heutigen Rathauses liegen, werden jetzt zu einem durch die Stadt. Die sollte daran doch ein gesteigertes Inte­ Pferdestall und zu einer Turnhalle umfunktioniert. In den resse haben, denn dort wo die Börse steht, da schlägt auch Klosterräumen residiert allerdings weiter die dort bereits das Herz der Stadt, angetrieben durch den Motor des Hafens. 1529 gegründete Gelehrtenschule des Johanneums. Auch u SERIE: DIE GESCHICHTE DER GEBÄUDE Alte Börse

Zu den Neuerungen beim Wieder- aufbau nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte dieser in das Untergeschoss eingelassene Verhandlungsbereich mit Zellen für Einzelgespräche

die Börse wird 1814 zum Pferdestall und aus der Commerz- deputation wird kurzzeitig die Chambre de Commerce (die Handelskammer). Zehn Jahre hält die Besatzung an, dann wird Hamburg befreit, aber noch weitere zwei Jahre belagert. Für die Entwicklung der Stadt ist dies die bislang schwerste Zeit in ihrer Geschichte und umso befreiender wird ihr Ende empfunden. Nach dem Rückzug der französischen Truppen müssen sich die deutschen Staaten wieder neu konstituie- ren. Hamburg schließt sich daraufhin zwar 1815 dem Deut- schen Bund an, erlebt aber auch eine Hochzeit der Freistaat- lichkeit. Die Wirtschaft wächst wieder – und mit ihr reifen die Pläne für eine neue Börse. Ab 1819 trägt Hamburg dann den Staatstitel „Freie und Hansestadt Hamburg“. Jedoch: Je stärker die deutschen Länder in den folgenden Jahrzehnten zusammenfinden und Bündnisse wie den Nord- deutschen Bund schließen, desto mehr verliert die Stadt wie- der an Eigenständigkeit, bis sie in den deutschen Zollverein und 1871 in das Deutsche Reich eingegliedert wird. Dem fällt letztendlich das Privileg der Steuerfreiheit zum Opfer, aber mit dem Freihafen gibt es immerhin noch ein Zollausland, mit dem Hamburg international handlungsfähig bleibt. Es ist den Stadtoberen wohl auch deutlich geworden, dass sie die Sicherheit der Stadt nicht mehr allein gewährleisten konnten.

NEUBAUPLÄNE Das alte Renaissancegebäude am Nikolaifleet ist den Kauf- leuten schon lange zu klein geworden. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts hatten sie Überlegungen zu einer Vergröße- rung der Börse und auch zu ihrer Verlagerung angestellt, doch die Besatzungszeit hatte dieses Vorhaben ausge- bremst. Umso heftiger entbrennt die Diskussion in der Zeit danach: Zwischen 1821 und 1841, im Jahr der Einweihung des neuen Gebäudes am Adolphsplatz, entwickelt sich ein­ u

54 55 56 SERIE: DIE GESCHICHTE DER GEBÄUDE Alte Börse

Der Parketthandel bestimmte das Leben in der Börse, wie auch in ihrem Umfeld

aus heutiger Sicht spannender Wettstreit der Ideen, in dem Verlauf des 19. Jahrhunderts erheblichen Einfluss auf die sich Bürger, Kaufleute, Architekten und Baubeamte zu Wort Gestalt seiner Heimatstadt nehmen wird. Allerdings: Dies melden, aufgefordert oder nicht, Pläne vorlegen, Standorte dürfte ihm im Jahr 1827, als er sich zunächst anonym in die abwägen. Zur Debatte stehen neben dem Ursprungsort Diskussion einbringt, noch nicht bewusst sein. Chateauneuf auch jene Standorte der verlassenen oder umgewidmeten wird 1799 in Hamburg als Sohn französischer Emigranten Kirchen und Klöster. Der Hamburger Dom ist bereits 1804 geboren, lernt hier das Zimmererhandwerk und studiert Ar- abgebrochen worden. Hier klafft eine Brache, die geschlos- chitektur bei Friedrich Weinbrenner in Karlsruhe, einem re- sen werden soll. Die Johanniskirche, aber auch das Maria-­ nommierten Vertreter des Klassizismus. Zu Beginn der Magdalenenkloster stehen zur Disposition, wogegen einige 1820er Jahre kommt er nach ausgedehnten Studienreisen Diskutanten Denkschriften als kleine Druckwerke auflegen nach Hamburg zurück. Ehrgeizig bemüht er sich um die und sie in Umlauf bringen. Einige dieser Flugschriften sind großen Bauaufgaben der Stadt, beteiligt sich 1825 am Wett- noch erhalten und werden in den Bibliotheken der Hanse- bewerb um den Bau eines Hamburger Schauspielhauses, stadt verwahrt. Die Autoren bleiben gerne anonym, nannten macht Vorschläge zur neuen Bebauung der Stadtplätze. Er sich „ein Bürger“ oder „ein Nicht-Kaufmann“. Die rege An- hat Talent und entwirft für Senator Hudtwalcker ein Stadt- teilnahme verwundert nicht, es ist die Zeit der Aufklärung, haus an der ABC-Straße. Der nur etwa 13 Jahre ältere Ham- in der die heute oft zitierte Zivilgesellschaft immer mehr burger Baudirektor Carl Ludwig Wimmel kann den ungestü- Mut fasst und sich zu Wort meldet. Schließlich geht es um men, vor Ideen sprühenden und vorwärtsdrängenden jünge- das Herzstück der Stadt, um ihr Forum, wenn auch zu- ren Kollegen nur knapp im Zaum halten. Mit dem Bau der nächst um das Handelsforum. Es geht sozusagen um die Stadtpost am Neuen Wall gelingt ihm um 1830 schließlich räumliche Verfassung der Hamburger Stadtgesellschaft. Die der Durchbruch, der allerdings nicht nachhaltig bleibt. Nähe der Börse als Handelsforum zum Rathaus, dem politi- schen Forum, waren kein Zufall. Sie hatte im Gegenteil Tra- dition und war ein Produkt der Hamburger Gesellschaft aus FLUGSCHRIFTEN, MEINUNGEN UND ENTWÜRFE Bürgern und Kaufleuten. Chateauneufs als Diskussionsbeitrag 1827 verbreitete Flug- Als ein Autor der anonymen Schriften lässt sich der Ar- schrift trägt den Titel „Betrachtungen über den zweckmä-

FOTOS: AKG-IMAGES / IMAGNO / FRANZ HUBMANN, SLUB / DEUTSCHE FOTOTHEK / GERMIN FOTOTHEK / DEUTSCHE / FRANZ HUBMANN, SLUB / IMAGNO AKG-IMAGES FOTOS: chitekt Alexis de Chateauneuf identifizieren, der im weiteren ßigsten Platz zum Bau einer neuen Börse. Von einem u

57 Zum 150. Geburtstag bekam die Hamburgische Börse 1991 ein umfassendes „Facelifting“. Die beim Wiederaufbau absichtlich nur in Ansätzen wieder hergestellten Ornamente wurden nicht nur rekonstruiert, sondern auch farblich differenziert

58

SERIE: DIE GESCHICHTE DER GEBÄUDE Alte Börse

Gehandelt wurde in Hamburg mit vielerlei Waren: mit Leder, Zement, Bier und anderem. Die drei Säle der Hamburgischen Börse boten dafür vielfältige Möglichkeiten

Bürger.“ Er diskutiert darin den Raumbedarf und die Kosten „Kleinen Alster“ mit offenem Blick über die Binnenalster des neuen Gebäudes, das an der Trostbrücke nach seinen befindet. Worten so immens viel Platz einnehmen würde, dass es weit 1837 schreiben die Baudeputation, deren Beamte Carl in das Fleet hinaus über dem Wasser hätte erbaut werden Ludwig Wimmel als Baudirektor und sein Kollege Franz müssen. Das Rathaus würde dadurch, wie Chateauneuf sich Gustav Forsmann etwas halbherzig einen Architektenwettbe- ausdrückte, arg in Bedrängnis geraten. Es habe zudem kaum werb aus. Innerhalb von drei Monaten sollen die Teilnehmer die ihm gebührende Wirkung entfalten und selbst zu wenig ihre Arbeiten abliefern und auch alle Rechte an den Plänen Licht aufnehmen können, um gut nutzbar zu sein. Er schlägt abgeben. Es kommt unter den freien Hamburger Architekten stattdessen vor, einen Neubau auf dem Gelände der verlasse- zum Eklat. Sie verweigern die Teilnahme, offenbar ahnen sie nen Johanniskirche und den benachbarten Klostergebäuden einen Betrug. Denn die beiden beamteten Architekten Fors- zu errichten. Das Johanneum könne bald auf dem alten mann und Wimmel, die auch Mitglieder der Jury sind, ferti- Domplatz eine neue Unterkunft beziehen und auch für die gen einen eigenen Entwurf an, der zwar zunächst außer anderen im Johanniskloster untergebrachten Einrichtungen Konkurrenz betrachtet werden soll. Doch die für den Bau der sei leicht Ersatz zu finden. Börse eingerichtete Kommission lässt diesen Entwurf dann Alexis de Chateauneuf bleibt nicht der einzige Architekt, doch durch zwei unabhängige Gutachter bewerten und als der sich an der Diskussion um den Ort und um die Art des Vorschlag zu. Die boykottierenden Architekten wie Alexis de neuen Börsengebäudes beteiligt. Etwa 30 Entwürfe werden Chateauneuf lassen sich davon nicht abhalten, konkurrieren- zwischen 1821 und 1837 vorgelegt. Darunter auch die der de Entwürfe zu veröffentlichen. Es hilft ihnen nichts, 1837 dänischen Architekten Axel Bundsen und Ole Jørgen werden – wie in dieser Geschichte eigentlich zu erwarten – Schmidt, Letzterer ein Schüler des Klassizisten Christian Wimmel und Forsmann mit dem Bau der Börse beauftragt. Frederik Hansen, legen wie Chateauneuf eine Vielzahl an Im November 1841 ist er dann fertig gestellt. Auch der Wett- Entwürfen vor. Neben der Debatte um den Bauplatz, geht es bewerbsgewinner, der Kölner Architekt Ernst Friedrich auch um die Art des Gebäudes: Soll es eine komplett über- Zwirner, der später durch den Ausbau des Kölner Doms be- deckte Börsenhalle geben oder soll die Kaufmannschaft auch kannt wurde, hatte in Hamburg das Nachsehen. teilweise unter freiem Himmel verhandeln? Soll die Halle beheizt sein oder nicht? Die Debatte scheint uferlos und kleinteilig geworden zu sein. CHATEAUNEUF LEGT NACH Trotz der verwirrenden Vielzahl von Standortvorschlägen und Gebäudeentwürfen lohnt sich ein Blick auf das beson­ EINE ARCHITEKTENWETTBEWERB WIRD ZUR FARCE dere Engagement des Architekten Alexis de Chateauneuf. Der Senat entscheidet sich zwar für einen Neubau der Börse Immerhin legt er trotz des verkündeten Wettbewerbboykotts am Adolphsplatz in der Nähe der Hamburger Bank, kauft einen Entwurf vor, der am Standort Adolphsplatz eine große dafür private Grundstücke auf und lässt die Gebäude des Säulenhalle zeigt. Die Säulen enden in Rundbögen, auf denen­ Maria-Magdalenenklosters abreißen. Chateauneufs Vor- eine Kassettendecke ruht. Die Stützen sind vor allem in den schlag für die Bebauung anstelle des Johannisklosters war Außenwänden derart schlank bemessen, dass man fast schon dennoch richtungsweisend. Der von ihm geplante Ort lag von einer Auflösung der Wände sprechen kann. Die da­­raus

etwa dort, wo sich heute der Rathausmarkt in der Nähe der entstehenden großen, an drei Seiten des Gebäudes u / GERMIN FOTOTHEK / DEUTSCHE SLUB (S.58/59), HANDELSKAMMER HAMBURG FOTOS:

60 SERIE: DIE GESCHICHTE DER GEBÄUDE Alte Börse FOTOS:

61 Der Zweite Weltkrieg hinterließ erhebliche Beschädigungen am Gebäude. Es wurde allerdings nicht so sehr zerstört, dass es nicht hätte wieder aufgebaut werden können

Schon wenige Jahre nach dem Krieg war der Parketthandel wieder im vollen Betrieb

­angebrachten Fensterflächen hätten eine so helle Börsenhalle­ vor. Dadurch wirkte das Gebäude nach außen hermetischer als geschaffen, wie sie eigentlich nur in gotischer Bauweise mög- sein späterer Entwurf für den Adolphsplatz.­ Für die Börsen- lich gewesen wäre. Südlich sollte eine, von der Halle aus di- halle selbst plante er damals ein Glasdach mit einer eisernen rekt zugängliche, Terrasse auch Verhandlungen unter freiem Konstruktion – architektonisch wäre dies einer Revolution Himmel ermöglichen. Außerdem hätte ein mehrgeschos­ gleichgekommen, denn solche Glas-­Eisendecken kennt man siger Gebäudeteil die Commerzdeputation und das Handels- zu dieser Zeit nur von Gewächs­häusern. Erst Jahrzehnte spä- gericht aufgenommen. Nach außen sollte sich Chateauneufs ter setzt der Architekt Henri Labrouste solche Konstruktionen Börse als kompakter Baukörper mit einem nicht erkennbaren für die Überdachung von Bibliotheken ein und noch ein paar flachen Dach präsentieren. Die Gebäudeecken und -achsen Jahrzehnte später dominie­ren sie den Bau von Markt- und sollten schlanke fialartige Türme markieren. Im Streit mit Bahnhofshallen. In Hamburg hat man dafür zu dieser Zeit seinem Rivalen Wimmel war dieser Entwurf ein Affront, war jedenfalls noch kein Verständnis: „Uns möchte überhaupt die doch die Belichtung der Börsenhalle ein wichtiger Aspekt in ganze Idee, das Börsenpublicum in einem Treibkasten zu der Baudiskussion geworden und der Entwurf von Forsmann stecken, eher als guthmütiger Scherz als ein ernst gemeinter und Wimmel konnte mit seinem schlichten steinernen Klas- Vorschlag erscheinen“, lassen die Baubeamten wissen. Wofür sizismus die Leichtigkeit und Helligkeit des Entwurfs von Chateauneuf in Hamburg Hohn und Spott erntet, bekommt Chateauneuf kaum erreichen. er 1839 in London den zweiten Preis im Wettbewerb um den Ein Jahr vor der Ausschreibung des Wettbewerbs hatte der Wiederaufbau der zuvor abgebrannten Börse. Hier hatte er sich noch einmal mit dem alten Börsenstandort am Nikolai­ eine leicht abgewandelte Version seines Börsenentwurfs für fleet beschäftig, den er zehn Jahre zuvor verworfen hatte. Die den Bauplatz am Hamburger Nikolaifleet eingereicht. Aussicht, dort einige Grundstücke durch die Stadt aufkaufen Im Hamburg nimmt die neue Börse nach den Entwür- lassen zu können, beflügelte seine Beschäftigung mit diesem fen von Carl Ludwig Wimmel und Franz Gustav Forsmann Standort in der direkten Nachbarschaft des Rathauses im Jahr nun schnell Form an. Mit zwei großen Feiern wird Anfang 1836 wieder. Auch hier sah er einen klassizistischen Entwurf Dezember 1841 die neue Börse eingeweiht und zwei Tage mit Rundbögen und die Börsenhalle umfassenden Arkaden später die alte Börse verabschiedet. Der Neubau besitzt nun

62 SERIE: DIE GESCHICHTE DER GEBÄUDE Alte Börse

eine große zentrale, über beide Geschosse reichende Halle, len Verletzten, Getöteten, Obdachlosen und den zerstörten die frei von Stützen ist und bekrönt von einer umlaufenden Existenzen, die das Feuer mit sich bringt, ist eine ganze Stadt Reihe großer Rundbogenfenster, die sie beleuchtete. Hinter wieder aufzubauen und diese Aufgabe ist gewaltig. Eine den Arkaden sind die Büros der Commerzdeputation und die Stadt, die für Deutschland und in Europa mit ihrem Hafen Commerzbibliothek untergebracht. Es ist ein schlichter und und als Handelsplatz eine große Bedeutung hat, ist buch- solider, in seiner Architektur zurückhaltender Bau, keine stäblich am Boden zerstört. architektonische Sensation. Doch sein Schicksal währt nicht lange: Gerade ein halbes Jahr nach der Eröffnung bricht am 5. Mai 1842 in der Hamburger Deichstraße ein verheerendes WIE DAS KUNSTWERK HAMBURG ENTSTEHT Feuer aus – der große Hamburger Brand, der einen großen 1917 blickt der damalige Baudirektor und spätere Oberbaudi- Teil der damaligen Stadt in Schutt und Asche legt. Die alte rektor Fritz Schumacher bewundernd auf die Planungs- und Börse wird ein Raub der Flammen. Die Hamburger versu- Wiederaufbauleistungen seiner älteren Kollegen zurück und chen, dem Feuer die Nahrung zu nehmen und opfern ihr fasst seine Forschungen und Eindrücke in einem kleinen Rathaus. Sie sprengen das Gebäude, doch das Feuer aufhal- Büchlein zusammen. Er gibt ihm den Titel: „Wie das Kunst- ten können sie damit nicht. Wie durch ein Wunder aber werk Hamburg nach dem grossen Brande entstand“. Bereits übersteht die neue Börse diesen Brand, wohl auch durch den am 21. Mai wird der englische Ingenieur William Lindley be- unermüdlichen Einsatz der Hamburger Bevölkerung, die auftragt, einen Entwicklungsplan für die Stadt an der Elbe zu um ihre Börse kämpft indem sie den Funkenflug eindämmt erarbeiten. Etwa zur gleichen Zeit wird eine „Technische und so das Dach schützt. Viele von ihnen, deren Häuser ab- Kommission“ zusammengestellt, der beamtete Architekten gebrannt sind, suchen und finden in der großen Börsenhalle und Ingenieure angehören – darunter selbstverständlich Schutz. Der Commerzdeputierte Theodor Dill tut sich dabei auch Carl Ludwig Wimmel. Aber auch einige Privatarchitek- besonders hervor: Als das Feuer am 8. Mai gelöscht werden ten, unter ihnen: Alexis de Chateauneuf. Aus Dresden meldet kann, steht die Börse wie ein Phönix in der Asche. Ringsum- sich Gottfried Semper zu Wort. 1803 in Hamburg geboren,

FOTOS: BUNDESARCHIV FOTOS: her hat das Feuer gewaltig gewütet. Abgesehen von den vie- wächst Semper zunächst in der damals noch dänisch u

63 SERIE: DIE GESCHICHTE DER GEBÄUDE Alte Börse

64 SERIE: DIE GESCHICHTE DER GEBÄUDE Alte Börse

Der Börsenhandel im Internet löste den öffentlichen Parketthandel 2002 weitgehend auf. Damit verlor die Stadt nach fast 500 Jahren ein wichtiges öffentliches Forum. Das 2007 neu errichtete „Haus im Haus“ konnte diese Lücke mit seinen neuen Einrichtungen nur ansatzweise schließen

­verwalteten Nachbarstadt Altona auf, wo auch seine Familie sehr unterschiedlich sind und in Hamburg ein großer Teil lebt. In dieser schweren Zeit fühlt er sich Hamburg verbun- des Platzes von den Wasserflächen der Kleinen Alster einge- den und steuert ein ums andere Mal Vorschläge für den nommen wird, ist auch das Raumgefüge in Hamburg mit Wiederaufbau bei. Fritz Schumacher schildert in seiner seinen Blickbeziehungen und den Zugängen zum Wasser kleinen Schrift recht eindrücklich, wie sich insbesondere sehr reizvoll. Räumlich wird es allerdings erst, nachdem das zwischen Semper, der nur zeitweise in Hamburg weilte, und Rathaus 1896 den Entwürfen des „Rathausbaumeisterbun- Chateauneuf ein Schlagabtausch und Ideenwettstreit um ein des“ entsprechend fertiggestellt und mit seinem Turm von neues Forum in der Hansestadt entwickelt. Die Börse wird der Alster und vom Jungfernsteig aus sichtbar wird. dafür zu einem Dreh- und Angelpunkt. Jetzt soll das politi- Das Kunstwerk Hamburg, das Fritz Schumacher in sei- sche Forum dem Handelsforum folgen und mit ihm wieder ner Schrift 1917 beschreibt, ist das Hamburger Staatsforum eine Einheit bilden. Bis sich der heute noch gut nachvollzieh- mit dem Adolphsplatz als Vorplatz und Zentrum der darum bare Verbund aus Binnenalster, Kleiner Alster, Rathausmarkt entstandenen Banken im räumlichen Verbund mit dem (der sich in etwa auf dem alten Johannisplatz befindet), Rat- Staatsforum, dem Rathaus. Der Gebäudekomplex aus Rat- haus, Börse, Adolphsplatz und dem Neubau der abgebrann- haus und Börse soll sozusagen die gebaute Verfassung der ten Nikolaikirche ergibt, sind einige Dispute und streitbare Stadt abbilden. Im Zentrum dieses Ensembles steht noch Briefe notwendig. Aber am Ende entsteht, wie Schumacher immer die 1841 eröffnete neue Börse. es formuliert, ein Kunstwerk in der Abfolge der städtischen Ihr Bau ist nach ihrer Eröffnung eigentlich schon wieder Plätze und dem Zusammenwirken von Gebäuden und In- zu klein, aber die gleich darauffolgenden katastrophalen Er- nenhöfen. Dabei sind sich, glaubt Schumacher, die Haupt- eignisse und die Planungen des neuen Staatsforums rücken kontrahenten Gottfried Semper und Alexis de Chateauneuf dies ein wenig in den Hintergrund. Recht eigentlich ist die kaum ihrer gemeinsamen Zielstrebigkeit bewusst und wech- Börse bis in das Jahr 1912 eine dauernde Baustelle: Zuerst seln beleidigt und herausfordernd Briefe mit Vorschlägen werden östlich zur Großen Johannisstraße die Börsenarka- und Gegenvorschlägen. Letztendlich beschreibt Schumacher den ergänzt, die zeitweise auch für Kunstausstellungen ge- die beiden als die Eltern dieses städtischen Gefüges. Gott- nutzt werden und aus deren Kontinuität schließlich die fried Semper als den Vater, der den Keim des jeweiligen Ge- Hamburger Kunsthalle gegründet wird. 1851 kommt ein dankens setze und Alexis de Chateauneuf als Mutter, die den zweiter Börsensaal hinzu und 1882 bis 1884 ergänzen die Gedanken mehr oder weniger überzeugt austrug und um- Architekten Bernhard Hanssen und Wilhelm Emil Meer- setzte. Anerkennend stellt Schumacher die Verwandtschaft wein einen westlichen Flügel mit einem dritten im Gegen- des Rathausmarktes mit dem Platz um die Kleine Alster und satz zum östlichen zweigeschossigen Börsensaal. Bei allen Chateauneufs Alsterarkaden zum Markusplatz in Venedig Anbauten bemühen sich die Architekten im Wesentlichen, fest. Beide Plätze zeichnen sich durch ihre Winkelform und den ursprünglichen klassizistischen Baustil von Wimmel den Zugang zum Wasser aus und auch, wenn Maßstab und und Forsmann beizubehalten. Allein Hanssen und Meer-

FOTO: HANDELSKAMMER HAMBURG FOTO: Bedeutung der Wasserflächen in Hamburg und Venedig wein fallen mit ihren Reminiszenzen an die italienische u

65 SERIE: DIE GESCHICHTE DER GEBÄUDE Alte Börse

Das stolze Gebäude der Hamburgischen Börse hat Brände und Kriege überlebt. Mit dem Rathaus bildet es noch immer eine symbiotisch bauliche Einheit, auch wenn der Ort für den Börsenhandel nur noch symbolische Bedeutung hat. Der fi ndet in virtueller Realität im Internet statt

Renaissance an der Westfassade ein wenig aus dem Rahmen. getroffen und zum Teil schwer beschädigt. Direkt nach der Bis der Bauplatz des Rathauses gefüllt und die bauliche Währungsreform beginnt der Architekt Georg Wellhausen Einheit des schon in den 1840er Jahren geplanten Hambur- mit der Wiederherstellung des Gebäudes und fängt bei den ger Staatsforums hergestellt ist, kommt der Börse die reprä- Börsensälen an, wobei er nicht jedes Detail in den Vorkriegs- sentative Wirkung der Alster zugute. Zum Adolphsplatz hin zustand zurückversetzt und auch moderne Elemente wie den gilt es nun noch, die einzelnen Abschnitte der Erweiterung Albert-Schäfer-Saal ergänzt. Zum 150. Geburtstag der Börse mit einer neuen Sandsteinfassade und einem umfassenden wird das Gebäude 1991 grundsaniert und bekommt in An- Figurenprogramm zusammenzufassen. Damit bekommt passung an ein Corporate Design ein umfassendes Face- auch der einfach gehaltene und zentrale Ursprungsbau ein lifting. neues Gesicht. Dann, 1896, tritt das Rathaus mit seiner Den größten Einschnitt in ihrer Geschichte erlebt die prächtigen bis schwülstigen Neorenaissancearchitektur so- Hamburger Börse 2002 mit der weitgehenden Einstellung zusagen als „politisches Forum“ in den Vordergrund. Es be- des Börsenhandels auf dem Parkett, denn der Handel wird herbergt mit der Hamburgischen Bürgerschaft, dem verfass- nun vor allem im Internet geführt und nur vereinzelt treffen ten Stadtparlament und dem Senat, der Stadtregierung, alle sich noch Börsenmakler für Verhandlungen von Angesicht Institutionen der politischen Macht. Dazu bildet die Börse als zu Angesicht. Die Wertpapierbörse verlässt das Gebäude und „Forum der Handelsmacht“ den Hintergrund, denn mit dem bezieht Büroräume in der Nachbarschaft. Nach fast 500 Jah- Rathaus ist es räumlich und baulich direkt verbunden. ren Börsenhandel ist es in Hamburg, dem Ort der ältesten Nichtsdestotrotz beginnen 1907 schon wieder die ersten Börse Deutschlands, sehr ruhig geworden und die großen Abbrucharbeiten am Ostflügel, der für den Bau der ersten Börsenhallen stehen fast leer da. 2003 zieht die Handels- U-Bahn in Hamburg weichen muss. 1909 bis 1912 ergänzt kammer daraus Konsequenzen und schreibt einen Architek- Bauinspektor Albert Erbe einen neuen, größer bemessenen tenwettbewerb um „ein Haus im Haus“ aus, das den westli- Anbau an der Ostseite schon mit dem deutlichen Bemühen, chen Börsensaal füllen solle. Behnisch Architekten gehen das Gebäude kaum merkbar in den Bestand zu integrieren. damals siegreich daraus hervor und bringen in dem neuen Damit ist auch die letzte Ausbaustufe des Gebäudekomple- Gebäudeteil mit eigener „Innenfassade“ ein Gründerzen- xes erreicht und der im Plan des Wiederaufbaus nach dem trum, großzügige Ausstellungsflächen für Kunstausstellun- Großen Brand vorgesehene Platz für die Bauten der Börse gen und eine Dauerausstellung zur Börsengeschichte unter, gefüllt. Drei große Säle kann das Gebäude nun aufweisen, Teile des Saals kann aber auch die Commerzbibliothek nut- dazu reichlich Flächen für die Nutzung durch die Commerz- zen. Außerdem gibt es ein Restaurant sowie Clubräume für deputation, aus der 1867 die Handelskammer geworden ist. die Mitglieder der Handelskammer Hamburg. 2007 wird das Außerdem bekommt die traditionsreiche Commerzbiblio- „Haus im Haus“ bezogen. Damit bleibt die Hamburger Börse thek hier ihren Sitz , die noch heute den Grundstock der äl- der Treffpunkt der Hamburger Kaufleute, auch wenn sie testen Sammlung dieser Art weltweit birgt. nicht mehr das Handelsforum der Stadt ist. Diese Öffentlich- keit hat wie so vieles eine neue, virtuelle Realität bekommen.

DAS ENDE DER BÖRSE ALS FORUM DER STADT

Fast genau 100 Jahre nach der Katastrophe des Großen Bran- OLAF BARTELS des trifft während des Zweiten Weltkriegs im Sommer 1943 Architekturhistoriker und Architekturjournalist Hamburg ein weit umfassenderes Unglück: Die englischen Schwerpunkte: Architektur und Stadtentwicklung und amerikanischen Bomberflotten bombardieren die Stadt in Geschichte und Gegenwart in Deutschland und in Europa. und hinterlassen vor allem im Osten verheerende Zerstö- Zuletzt besuchte Ausstellung: Maria Lassnig.

rung. Die Börse wird in ihrem Mittelbau und im Westflügel Ways of Being. In der Albertina, Wien PRIVAT HANDELSKAMMER HAMBURG, FOTOS:

66

STADTBILD Synagogen in Hamburg

HÄUSER DER VERSAMMLUNG Die Synagoge ist die wichtigste Institution im Judentum. Sie dient dem gemeinsamen Gebet und fungiert oft auch als Lehrhaus einer jüdischen Gemeinde. Nach Hamburg kam das Judentum über die Portugiesen in Altona – und mit ihnen auch eine Reihe besonderer Tempelbauten

TEXT: MICHAEL STUDEMUND-HALÉVY

68 STADTBILD Synagogen in Hamburg

OBERSTRASSE Mit neuer Sachlichkeit bauten die Architekten Ascher und Friedmann diese schmucklose Synagoge im Vil- lenviertel Harvestehude/Pöseldorf. 1931 eingeweiht fasst der Mittelteil etwa 1200 Personen. Nach der Progromnacht blieb er äußerlich unversehrt, wurde 1950 verkauft und beherbergt seit 2000 das Rolf-Liebermann-Studio (ehemals Großer Sendesaal des Funkhauses Hamburg) des NDR

ynagogen geben Aufschluss über die regio- nale Herkunft ihrer Mitglieder, portugiesi- sche oder deutsche Juden, und über die reli- giöse Ausrichtung der Gemeinde ob ortho- dox, konservativ, liberal oder Reform. Ebenso spiegelt die Lage der Synagogen in der Stadt S die innerstädtische Migration wider, wie die Trennung in jüdische und nichtjüdische Wohnviertel. Die Geschlechtertrennung während des Gottesdienstes, Männer unten, Frauen auf den meist vergitterten Frauenemporen, eine Synagogenorgel und ein gemischter Chor weist sie der Orthodoxie oder der Reform- bewegung zu. Synagogen stabilisieren das jüdische Gruppengefühl, indem sie einen sozialen Raum geben. Verlagerte eine restriktive Juden- politik das Gebet in das jüdische Heim, so ermöglichte eine libe- rale Judenpolitik die Errichtung öffentlicher Gebetshäuser. So waren und sind jüdische Sakralbauten immer auch Seismografen für gesellschaftliche Veränderungen, und spiegeln bis heute die Geschichte von Emanzipation und Akkulturation ihrer Mitglieder wider sowie das Verhältnis von Juden und Christen. Die deutschen Juden folgen der mittel- und osteuropäischen Tradition – in der Außenarchitektur respektierten sie, häufig not- gedrungen, die örtlichen Traditionen. Blieben die Portugiesen bis zur Schließung ihrer Synagoge Ende 1939 dem Raumschema der mittelalterlichen spanischen Synagoge treu, was vorgab, dass das Lesepult an der dem Toraschrein entgegengesetzten Wand stand und so mit ihm eine Längsachse bildete, an der die Sitzordnung ausgerichtet ist. Seit dem 19. Jahrhundert veränderte es sich: Auf- stellung der Bänke mit einem Mittelgang, freier Blick auf den Tora­ schrein, Abschaffung der Frauenempore, Einführung einer ­Kanzel für die landessprachliche Predigt und eine Orgel – alles

FOTOS: Neuerungen, die von den Konservativen und Reformern u

69 STADTBILD Synagogen in Hamburg

habe und um Sichtbarkeit ihrer Synagogen im öf- fentlichen Raum. Synagogen konfessionalisierten sich, als jüdische Gemeinden anfingen, ihre Syna- gogen vermehrt an öffentlichen Straßen und freien Plätzen zu errichten. Sie wurden als jüdische Bau- werke wahrgenommen, wodurch die Kirche im Stadtbild ihr religiöses Alleinstellungsmerkmal verlor. Mit dem Wachsen und dem Selbstverständ- nis der jüdischen Bevölkerung wurden die Synago- gen repräsentativer, erweiterten sich zu multifunk- SEDANSTRASSE tionalen Komplexen mit Versammlungsräumen, Eine Synagoge, die durch Anbauten den Schauräumen, Gemeindeverwaltungen, Schulen vielen Gästen und und sozialen Einrichtungen. möglichen Spendern Rechnung trug

PORTUGAL IN HAMBURG übernommen, von der Orthodoxie jedoch heftig Mit der Ankunft der Portugiesen nahm das jüdische bekämpft wurden. Leben in Hamburg und in Altona seinen Anfang. In In der frühen Neuzeit lagen die Synagogen den Berichten der portugiesischen Inquisition und Bethäuser zumeist hinter Vorderhäusern ver- heißt es, dass es um 1612 für die etwa 150 Personen borgen und waren damit im Stadtbild nicht sicht- zählenden Portugiesen, angesichts ausstehender bar. Sie waren Teil von Gemeindebauten oder in Privilegien und erschwerten Grunderwerbs, heim- Privaträumen wohlhabender Gemeindemitglieder liche Beträume in Wohnhäusern vermögender Ge- untergebracht. Im 19. Jahrhundert stritten die jüdi- meindeangehöriger gegeben haben soll: Einer be-

schen Gemeinden um die gesellschaftliche Teil­ fand sich am Alten Wall, ein anderer an der Herr- MICHAEL STUDEMUND-HALÉVY (2), SAMMLUNG: PALMER FRITS S.54/55: FOTOS:

70 lichkeit. Erst 1650 erlaubte die Stadt, unter der Vor- aussetzung, dass nicht mehr als 15 Familien zusam- menkamen, Gottesdienste in Privathäusern. Die Hamburger Portugiesen mussten – länger noch als die deutschen Juden – auf einen halbwegs repräsentativen Synagogenbau warten. Nachdem ihre Synagoge am Alten Wall durch den Großen Brand von 1842 in Flammen aufgegangen war, er- warben sie in der Marktstraße 6 (später Marcus- straße) ein Grundstuck für einen Neubau. Nach Plänen des renommierten jüdischen Architekten Albert Rosengarten und mit Unterstutzung zahl- reicher portugiesischer Schwestergemeinden in Europa erfolgte am 5. September 1854 im Hinter- hof des Gebäudekomplexes die Grundsteinlegung für die Synagoge, die schon ein Jahr später, am 6. September 1855, eingeweiht wurde. Die Synagoge Marcusstraße, ein rechteckiger schlichter Kuppelbau, bestand aus zwei Teilen – der westliche beherbergte im Untergeschoss eine Vorhalle, eingerahmt von den drei Seiten umlau- fenden Emporen, und Frauenemporen. Mit seinen bunt bemalten Säulen und Bögen, die zum Teil mit orientalisierenden Motiven verziert waren, wurde er von den Besuchern als ein Schmuckstück der maurischen Architektur wahrgenommen und galt als touristische Attraktion. Das Lesepult stand im Gegensatz zur aschkenasischen Tradition nicht in der Mitte oder an der Ostseite, sondern an der Westseite. Der dreiteilige Toraschrein befand sich in einem apsisartigen Ausbau, hinter einer Schrein- tur. Im zweiten Obergeschoss wurde ein kleiner Gebetsraum für die Werktagsgottesdienste bezie- hungsweise als Wintersynagoge genutzt. Zusammen mit der Synagoge in der Altonaer Bäckerstraße war sie die einzige portugiesische Synagoge auf deutschem Boden. Sie war bis 1935, nach der Schließung der Altonaer Portugiesen­ HOHE WEIDE synagoge, der letzte sefardische Bau in Deutsch- Die 1960 errichtete land. Das Inventar wurde 1935 in die neue Synago- Synagoge für die heutige jüdische Gemeinde in ge in der Innocentiastraße gebracht, als die Portu- Hamburg verfügt über giesen ihre Synagoge von 1936 bis Ende 1939 an die einen in der NS-Zeit Deutsch-Israelitische Gemeinde vermieten hatten. vergrabenen Leuchter und ein Gebetsbuch, das Die am 14. März 1935 geweihte Synagoge in der anlässlich der Einwei- Innocentiastraße befand sich bis Ende 1939 in ei- grundstück errichtete Fachwerksynagoge, besaß hung der Synagoge am ner herrschaftlichen Privatvilla, die in den 1940er- ein pfannengedecktes Satteldach. In dem mit einer Bornplatz im Jahr 1906 geschrieben wurde und Jahren zum Judenhaus wurde und heute wieder als Flachtonne eingewölbten Innenraum befand sich erhalten blieb Wohnhaus genutzt wird. die Kanzel in der Nähe des Einganges. In diesem Auch der Altonaer Synagoge in der Bäcker­ Bereich stand das Männergestühl parallel zu den straße blieb die Zerstörung in der NS-Zeit nicht Längswänden mit Blick auf die Kanzel. Das traditio­ erspart. Die rechteckige, 1771 mit finanzieller Un- nelle Frauengestühl befand sich auf einer an drei terstützung der wohlhabenden Altonaer Kauf- Seiten umlaufenden Empore hinter „dichten Git- mannsfamilie Mussaphia Fidalgo, auf einem Hof- tern“. Im 19. Jahrhundert erhielt das Gebäude u

STADTBILD Synagogen in Hamburg

NACH DEM STETIGEN ZUZUG AUS DEM UMLAND PRÜFTEN DIE HAMBURGER JUDEN DEN BAU EINER GRÖSSEREN GEMEINDESYNAGOGE

eine repräsentative Fassade mit Pilastergliederung und Größe der Kohlhöfen-Synagoge – der letzte INNOCENTIASTRASSE Im März 1935 in einer und eine neue Ausmalung und wurde 1882 an die Synagogenbau in der Hamburger Neustadt – waren herrschaftlichen Privatvilla Altonaer aschkenasische Gemeinde verkauft und ein augenfälliger Beweis, das mit der Emanzipation im noblen Stadtteil 1940 baufällig abgerissen. der Juden auch alle rechtlichen Baueinschränkun- Harvestehude geweiht, wurde diese bis 1939 als gen gefallen waren. Der monumentale und reprä- Synagoge genutzt sentative Neubau war zwar in seiner ganzen Breite ZWISCHEN EMANZIPATION von der Straße aus sichtbar, jedoch wurde von dem UND AKKULTURATION Wohnhaus an der rechten Seite und von der eben- Zwischen 1870 und 1930 ließen sich die Juden falls neu erbauten Talmud Tora Schule her eine am Grindel und am Rotherbaum-Harvestehude, Mauer gezogen, sodass die Synagoge zum Teil ab- Eppendorf und Dammtor nieder. 1788 erwarb geschirmt war. die Hochdeutsche Israeliten-Gemeinde Altona Auf den Kohlhöfen (heute Einmündung in die ein Grundstück in der Hamburger Elbstraße 18- Jan-Valkenburg-Straße) errichtete der Architekt 21 (heute Ecke Neanderstraße/Ludwig-Erhard-­ Alfred Rosengarten, der kurz zuvor auch die Portu- Straße). giesensynagoge in der Marcusstraße und die Syna- Am 5. Oktober 1790 wurde die Synagoge mit goge Alte und Neue Klaus in der Peterstraße (1853) Ritualbad (Mikwe) und Rabbinatswohnung feier- entworfen hatte, zwischen 1858 und 1859 für die lich eingeweiht. Sie besaß ein mit roten Pfannen Deutsch-Israelitische Gemeinde einen quadrati- eingedecktes Mansardendach und zwei Treppen- schen, dreischiffigen Ziegelbau mit einer an Kir- türme und war mit 398 Männer- und 219 Frauen- chenbauten erinnernden Tambourkuppel, Vorhalle plätzen ausgestattet. Der Abschiedsgottesdienst und Gemeinderäumen. Rosengarten, dem Fritz fand am 10. Juni 1906 statt, wenig später wurde die Schumacher trotz aller Kritik ein „ausgesprochenes Synagoge abgebrochen, der Toraschreinrahmen Backsteintalent“ zubilligte, orientierte sich bei sei- gelangte in die Privatsynagoge an der Hoheluft- nem Entwurf an den Grundriss von Sempers Syna- chaussee 25. goge in Dresden. Der Innenraum besaß 800 Män- Da die Stadt einen stetigen Zuzug von Juden ner- und 400 Frauenplätze, war opulent ausgestat- aus den umliegenden Orten verkraften musste, tet und ornamental ausgemalt. 1934 wurde sie an prüften die Hamburger Juden den Bau einer größe- die Stadt verkauft, da nur noch wenige Juden in der

FOTO: FRITS PALMER FRITS FOTO: ren Gemeindesynagoge an den Kohlhöfen. Lage ehemaligen Neustadt wohnten. u

73 STADTBILD Synagogen in Hamburg

74 AUF DEM WEG IN DIE MODERNE 1818 errichtete der ein Jahr zuvor gegründete „Neue Israelitische Tempelverein in Hamburg“ seinen Ersten Tempel in der Brunnenstraße/Alter Steinweg. Der mühsame Weg in die Moderne be- gann. Die reformierte Gebetsordnung näherte sich dem protestantischen Kultus an, mit länge- ren Predigten in deutscher Sprache zu Orgelbe- gleitung und gemischten Chorgesang. Die Gebete wurden teilweise in deutscher Sprache oder nach BORNPLATZ sefardischen Vorbild gesprochen oder gesungen. 1906 eingeweiht war Die Frauenräume wurden als Empore gestaltet sie eine der größten und eindrucksvollsten und nicht mehr vergittert, was später zum erbit- Synagogen in Hamburg. terten Hamburger Tempelstreit führte. Nach ihrer Zerstörung in Im baulichen Bereich hatte die Reform nur der Progromnacht 1938, musste die Gemeinde geringe Auswirkungen: Angleichung an kirchliche sie auf eigene Kosten Sitzordnung, Herausnahme des Almemor, ein er- ein Jahr später zwangs- abreißen höhter Platz mit Lesepult zur Verlesung der Tora, der nicht mehr in der Mitte stand, sondern in einer Apsis in der Ostseite. Almemor, Toraschrein­ und darüber die Orgel nahmen Formen protestanti- scher Kanzelaltäre an. Nach Plänen des Architekten Johann Hinrich Klees-Wülbern wurde zwischen 1842 und 1844 an der Ostseite der Poolstraße 12 im Hof der Zweite Tempel errichtet – ein dreischif-

FOTOS: VINTAGE , FRITS PALMER, SAMMLUNG: MICHAEL STUDEMUND-HALÉVY SAMMLUNG: PALMER, FRITS GERMANY, VINTAGE FOTOS: figes Gebäude mit seitlichen, gitterlosen u

75 KOHLHÖFEN Architekt Alfred Rosen- garten orientierte sich beim Entwurf an der Dresdner Synagoge von Gottfried Semper und ließ zwischen 1858 und 1859 einen dreischif- fi gen Ziegelbau in der Neustadt errichten, Emporen über fast quadratischem Grundriss so- Felix Ascher und Robert Friedmann errichteten ihn der 1934 an die Stadt wie straßenseitig vier Wohnhäusern. Der Tempel im Stil der Neuen Sachlichkeit, der am 30. August verkauft wurde verfügte über mehr als 600 Plätze, 350 für Män- 1931 feierlich eingeweiht wurde. Die schmucklosen ner, 280 für Frauen, sowie eine Orgel nebst Chor Gebäudekuben mit Muschelkalkverkleidung und für etwa 50 Sänger. Nach Abwanderung zahlrei- einem Lochfenster mit dem stilisierten siebenarmi- cher Gemeindemitglieder nach Harvestehude-Ro- gen Leuchter. Der Kultraum des quadratischen therbaum und dem Bau eines weiteren Tempels Baus fasste etwa 1200 Personen, auf der Rückseite in der Oberstraße, diente der Poolstraßen-Tempel lagen die Schul- und Jugendpflegeräume. In den zunächst als Magazin, bevor er 1937 verkauft zwei Seitenflügeln lag rechts der Gemeindesaal für wurde. Seit seiner Zerstörung 1944 im Zweiten etwa 250 Personen, links befand sich der Raum fü r Welt krieg stehen heute nur noch die Reste der den wöchentlichen Gottesdienst für etwa 150 Perso- westlichen Vorhalle und das östliche Apsisge- nen. Die Inschrift an der Hauptfront, dessen Ver- bäude. In diesem Gebäuderest befinden sich sprossung eine Menora darstellt, lautet: Mein Haus heute Gewerbebetriebe. Die Ruine und die vier soll ein Bethaus genannt werden fü r alle Völker Wohnhäuser stehen unter Denkmalschutz. (Jesaja 56, 7). Beim Novemberpogrom blieb zwar Der Tempel in der Oberstraße 120 ist der Dritte das Tempelgebäude äußerlich unversehrt, doch fiel Tempel des Reformjudentums. Die Architekten der Innenraum dem Vandalismus zum Opfer. 1950

76 STADTBILD Synagogen in Hamburg

wurde der Tempel verkauft und fur den späteren Nordwestdeutschen Rundfunk ausgebaut. Vor dem Bau erinnert das am 9.11.1983 eingeweihte bronze- ne Denkmal der Bildhauerin Doris Waschk-Balz. Seit der Renovierung 2000 heißt der ehemalige Große Sendesaal des Norddeutschen Rundfunks nun Rolf-Liebermann-Studio. MIT DER EINDRUCKSVOLLEN BORNPLATZ-SYNAGOGE

KLEIN JERUSALEM AM GRINDEL ENTSTAND DAS ERSTE UND Das Grindelviertel entwickelte sich mit dem An- VOLLSTÄNDIG FREISTEHENDE wachsen Hamburgs im 19. Jahrhundert und einer Zuwanderung vor allen von Juden aus Osteuropa JÜDISCHE GOTTESHAUS zu einem nicht immer freundlich gemeinten „Klein Jerusalem“. 1925 lebten fast 20 Prozent al- ler Hamburger Juden im Grindelviertel, das bis in die 1933er-Jahre mit seinen zahlreichen Synago- gen und Betstuben zum Zentrum des orthodox-­ judischen Lebens in Hamburg wurde. Das eindrucksvollste jüdische Bauwerk war die Bornplatz-Synagoge, das erste und vollständig frei- stehende jüdische Gotteshaus in Hamburg. Dessen 40 Meter hohe Kuppel und dem vergoldeten Da- vidstern auf der Spitze waren ein weithin sichtbares War die Bornplatz-Synagoge ein Zeugnis der Zeichen für das Selbstbewusstsein der jüdischen jüdischen Orthodoxie, so stand die Neue Damm- Gemeinde. Die nach Entwürfen der Architekten tor-Synagoge für eine konservative Richtung im Semmy Engel und Ernst Friedheim im neoromani- Judentum. Als Ersatz für ihre kleine am Jungfern- schen Stil aus rotem Sandstein errichtete, mit farbig stieg, die 1887 nach einem Brand geschlossen verglasten Rundfenstern versehene Synagoge be- werden musste, beauftragte der Verein „Neweh fand sich im Schnittpunkt der Straßen Grindelhof, Scholaum“ (Ort des Friedens) die Architekten Ge- Bornplatz und Binderstraße. Sie wurde am 13. Sep- org Schlepps und William H. Rzekonski mit dem tember 1906 eingeweiht und war mit 700 Plätzen Bau einer Synagoge in einem Hofgrundstück hin- für Männer und 500 für Frauen, die nach orthodo- ter den Vorderhäusern Beneckestraße 2 und 6 xer Tradition auf der Empore saßen, die größte Syn- (heute Allendeplatz). agoge Hamburgs. Der Toraschrein aus weißem und Diese, mit Hufeisenbögen und farbigen Zie- rotem Marmor und mit Zierat aus goldfarbener gelmustern, spitzbogigen Blendarkaden und einer Bronze galt als Höhepunkt der Einrichtung. In ei- maurischen Kuppel, zitiert orientalische Stilfor- nem Nebengebäude hinter dem Hauptbau befand men. Aber die Dammtor-Synagoge war die Erste, sich die Wochentags- beziehungsweise Wintersyna- die diese Formen auch im Äußeren aufwies. Von goge mit rund 120 Plätzen, ein in drei Klassen einge- der Straße nicht einsehbar, erreichten die Gläubi- teiltes Ritualbad (Mikwe) und Verwaltungsräume. gen sie durch einen schmalen Gang. Sie besaß 300 Nach den Verwüstungen der Reichspogrom- Männer- und 200 für Frauenplätze. Das Lesepult nacht 1938 musste die Gemeinde das Grundstück (Bima) stand vor dem Toraschrein und nicht in der 1939 abtreten und die Synagoge auf eigene Kosten Raummitte, wie in traditionellen Synagogen. Die abbrechen. Nach dem Zwangsabriss wurde auf Frauenempore war nur niedrig vergittert. Zudem Teilen des Geländes ein Hochbunker errichtet, der gab es eine Empore für einen vierstimmigen Chor, heute von der Universität genutzt wird. Ende der jedoch keine Orgel wie im Reformtempel. 1927 1980er Jahre wurde auf Drängen von Bürgerinitia- wurde die Synagoge um 150 Plätze erweitert und tiven der Platz nach Ideen des Architekten Bern- die Innenausmalung von dem Künstler Erich Brill hard Hirche und der Künstlerin Margit Kahl neu gestaltet, der auch die farbigen Glasfenster in der gestaltet: Dunkle Steine markieren die Umrisse der Kuppel schuf. Deckenkonstruktion der Synagoge und visualisie- Während des Novemberpogroms 1938 wurde

FOTO: SAMMLUNG MICHAEL STUDEMUND-HALÉVY SAMMLUNG FOTO: ren zugleich den Verlust. die Synagoge verwüstet, konnte aber durch u

77 78 STADTBILD Synagogen in Hamburg

RUTSCHBAHN Diese ehemalige Hinterhaus-Synagoge wurde 1905 eingeweiht und stand in der Tradition der Talmudlehranstalten. Eine Gedenktafel erin- nert an die Geschichte des Hauses, das heute gewerblich genutzt wird

79 STADTBILD Synagogen in Hamburg

HARBURG Am 19. Mai 1863 feierlich eingeweiht wurde sie nach drei Erweiterungen 1936 geschlossen und zwangsverkauft. In der Progromnacht verwüstet und ihr Inventar auf dem Harburger Marktplatz verbrannt. 1941 teilweise abgerissen, den Rest erledigten die schweren Bombennächte. Das rekonstruierte Portal der Synagoge erinnert an den ursprünglichen Standort

private Spenden wieder für den Gottesdienst herge- 1942 wurde die Lehranstalt zu einem „Juden- richtet werden. Kurz nach ihrer Beschlagnahme haus“, aus dem mindestens fünf Menschen nach zerstörten Bombentreffer im Juni 1943 das Gebäu- Theresienstadt deportiert wurden. Auf dem Hof de. Geblieben ist eine Rasenfläche zwischen zwei des Grundstücks Hoheluftchaussee 25 errichtete Universitätsgebäuden auf dem Campus (Allende- der Architekt Semmy Engel 1909 für die Vereine platz 3). Kelilat Jofi und Agudat Jescharim eine Privatsyna- Neben diesen zwei großen Synagogen gab es goge. Der unscheinbare Bau bot Platz für 150 am Grindel und in der unmittelbaren Nachbar- Männer und für 60 Frauenplätze. Die Synagoge schaft weitere kleinere Synagogen und Bethäuser. wurde 1939 geschlossen und 1943 durch Bomben Hirsch Berend Oppenheimer begründete 1868 die zerstört. Oppenheimer Stiftung mit Freiwohnungen und Die Vereine Agudat Jescharim (Bund der Red- einer Synagoge für hilfsbedürftige Mitglieder. Als lichen) und Kelilat Jofi (Krone der Schönheit) das Gebäude abgerissen werden musste, wurde schlossen sich 1885 zu einer Betvereinigung zu- zwischen 1907 und 1908 in der Kielortallee 22-24 sammen und gründeten in der Heinrich-Barth-­ nach Plänen von Ernst Friedheim im Mitteltrakt Straße 3-5 mit der Bornstraßen-Synagoge die ältes- der fünfgeschossigen Wohnanlage die Wallich-­ te Privatsynagoge im Grindelviertel. Diese verfügte Synagoge errichtet. Das Gebäude überstand den über insgesamt 125 Plätze: 80 für Männer und auf Krieg fast unversehrt und diente den wenigen über- einen etwas erhöhten Podest 45 für Frauen. 1939 lebenden Juden nach 1945 als Gebetsraum. gelang es den Mitgliedern, die Inneneinrichtung Der Verein Rabbinische Lehranstalt Jeschiwa der Synagoge nach Stockholm zu schaffen, wo sie e. V. erwarb 1924 ein Schulgebäude in der Kielort­ in der Synagoge Jeschurun wieder aufgestellt wur- allee 13. Die Synagoge besaß im Parterre einen de. Das Gebäude wurde 1943 durch Bomben zer- Raum für etwa 150 Männer und 50 Frauen. stört. Ein Nachbau des Innenraums findet sich in

80 STADTBILD Synagogen in Hamburg

der Jüdischen Abteilung des Museums für Ham- burgische Geschichte. Mitten im Wohngebiet befand sich in der Rutschbahn 11a die Hinterhaus-Synagoge der Verei- nigten Alten und Neuen Klaus. Sie gehörte zum Verband der vereinigten Judischen Lernvereine und ermöglichte begabten Schülern das kostenlose Stu- dium. Die Rabbiner der Klaus betreuten keine Ge- meinde, sondern konnten sich ganz dem Studium und der Vermittlung des Talmud widmen. Das gut 15 Meter lange und zehn Meter breite Gebäude, nach Plänen des Architekten Semmy Engel, wurde am 28. September 1905 eingeweiht und stand in der Tradi- tion der Talmudlehranstalten, die äußere Schlicht- heit und inneren Prunk verlangten. 1910 erhielt das Gebäude im Westen einen Anbau, um einen weite- ren Lehrsaal mit etwa 60 Plätzen zu schaffen. In dem schlichten Putzbau waren eine drei- schiffige Synagoge mit Platz für 120 Männer und 40 Frauen auf der vergitterten Empore, sowie zwei kleine Lehrräume untergebracht. Das halbrunde Ostfenster schmuckten Darstellungen eines Da- vidsterns und der Gesetzestafeln. Im Inneren be- fanden sich ein dreischiffiger quadratischer Raum und ein rechteckiger Anbau im Osten mit dem Aron haKodesh. Eine Gedenktafel am Eingang er- innert an die Geschichte des Hauses. Das im No- ALTONA vember 1938 verwustete, aber nicht zerstörte Ge- Die im gotischem bäude wird heute gewerblich genutzt. Stil erbaute Synagoge wurde In der Sedanstraße 23 konnte das Altenhaus 1942 zwangsver- am 10. Januar 1886 offiziell eingeweiht werden. kauft und an die Die Feierlichkeit wurde einem Bericht der „Israeli- Deutsche Werft AG verpachtet. tischen Wochenschrift“ zufolge „in einfacher, aber diz dafur, dass Gäste den Gottesdienst mitfeiern Bevor die Werf- recht wurdiger Weise abgehalten“. „Das Gebäude konnten, die eventuell auch als mögliche Spender tarbeiter aber prangte im festlichen Schmucke und machte einen in Frage kamen oder bereits als solche fungierten. richtig einziehen konnten, fiel das sehr vorteilhaften Eindruck. Überall bot sich dem Auch rechnete man in näherer Zukunft mit mehr Gebäude 1943 Auge das Bild einer behaglich eingerichteten, bur- Bewohnern, da der Bedarf auch um die Jahrhun- den Bombennäch- ten zum Opfer. gerlichen Häuslichkeit dar [...]. Am schönsten ge- dertwende nicht mit der vorhandenen Bettenkapa- Eine Gedenktafel schmuckt zeigte sich, die in der Mitte des Hauses zität gedeckt war. Dafur spricht auch die große am Postamt belegene, fur etwa 40 Personen hergestellte Syna- Frauenempore. Kirchenstraße/ Breite Straße goge. Auch eine Laubhutte befindet sich in dem erinnert heute an hinter dem Hause belegenen großen Garten.“ Nach die Synagoge mehreren Erweiterungen konnte 1900 die neue ALTONA-WANDSBEK-HARBURG Haussynagoge eingeweiht werden. Mit der zen­ Nach dem Privileg vom 1. August 1641 durften die trierten Lage im ersten Stock bildete der Betraum in Altona ansässigen Juden (Hochdeutsche Juden) den Mittelpunkt der Architektur, der Betsaal im al- eine Synagoge halten und ihren Gottesdienst nach ten Gebäude konnte am 15. Januar 1886 durch judischen Ritus darin abhalten. Während uber den Oberrabbiner Anschel Stern eingeweiht werden. Ort der ersten, 1647 erbauten Synagoge keine bild- Die Gebetsstätte besaß zwei Zugänge, einen fur liche Darstellungen oder ein architektonischer Männer und einen fur Frauen. Nach dem Anbau Nachweis existieren, gibt es uber die Entstehung und der Weihung der Synagoge uberstieg das Fas- der zwischen 1682 und 1684 in gotischem Stil als sungsvermögen der Gebetsräume wiederum deut- quadratischer Zentralbau errichteten Großen

FOTOS: S. 64/65: FRITS PALMER, MANUELA RIEBESELL, BILDARCHIV PISAREK / AKG-IMAGES, SAMMLUNG MICHAEL STUDEMUND-HALÉVY SAMMLUNG / AKG-IMAGES, PISAREK MANUELA RIEBESELL, BILDARCHIV PALMER, FRITS S. 64/65: FOTOS: lich die Bewohnerzahl. Dies ist zum einen ein In- Syna­goge in der Kleinen Papagoyenstraße 5-9 u

81 Die Ausstellung „Juden in Hamburg“ im Museum für Hamburgische Geschichte zeigt die bewegte und wechsel- volle Geschichte der jüdischen Bewohner der letzten 400 Jahre. Unter anderem ist auch der Nachbau des ausreichend Informationen. Vier Rundpfeilern Inneneinrichtung abgebrochen, das Gebäude Interieurs einer mit halb orientalisch, halb romanisch anmuten- wurde zum Lagerraum. Im Dezember 1942 wur- Synagoge zu sehen den Kapitellen trugen den von großen, rechtecki- de das Gebäude an die Stadt zwangsverkauft, die gen und von neun unechten Kreuzgewölben sie an die Deutsche Werft AG vermietete. Noch überdeckten dreischiffigen Hauptraum der, deren bevor sie dem Werftbesitzer fur seine ausländi- gewaltige Dimensionen die Zeitgenossen in Er- schen Facharbeiter als Schlaf- und Aufenthalts- staunen versetzt haben sollen. raum dienen konnte, zerstörten im Juli 1943 Zum Synagogenkomplex gehörten auch spä- Bomben das Gebäude. Eine Gedenktafel am Post- ter hinzugefügter Bet haMidrash, eine kleine amt (Kirchenstraße/Breite Straße) erinnert an die Wintersynagoge und eine Wohnung fur den Syna­ zerstörte Synagoge. gogendiener. Die im Großen Nordischen Krieg 1840 wurde in der Wandsbeker Lange Reihe (1711–1713) durch Brand stark zerstörte Synagoge 13-16 (heute Königsreihe 43) eine von dem däni- wurde 1716 unter Verwendung der Mauerreste schen Architekten Jan van Essen entworfene Back- wieder aufgebaut. Auf Beschluss der Gemeinde­ stein-Synagoge mit 80 Männer- und 75 Frauenplät- ältesten wurde die Synagoge 1832 renoviert. Die zen sowie einem kleinen Anbau fur die Verwaltung Kragsteine an den Wänden, die als Lager der Ge- errichtet und am 1. Juli 1840 eingeweiht. Den von wölbe gedient hatten, wurden abgearbeitet und einem Tonnengewölbe uberspannten Hauptraum durch Pilaster mit ägyptisierenden Palmenblätter- schmuckte ein klassizistischer Toraschrein und ein kapitellen ersetzt. Der Toraschrein wurde eben- etwas nach Westen gerücktes Lesepult. Anfang falls neu errichtet und von einem hohen Architrav Oktober 1938 fand die letzte Gebetsversammlung auf Säulen ohne Giebel umschlossen, der von statt. Die Synagoge wurde einige Tage nach der zwei Säulen mit Palmblattkapitellen getragen Pogromnacht 1938 demoliert, das ubrig gebliebene wurde. Nach dem 9. November 1938 wurde die Inventar eingelagert und das Silber an nichtjudi-

82 STADTBILD Synagogen in Hamburg

DIE IM AUGUST 1945 NEU GEGRÜNDETE JÜDISCHE GEMEINDE ZÄHLT HEUTE WIEDER 3000 MITGLIEDER

sche Nachbarn verteilt. Die Synagoge wurde im Juli Mikwe, einen Veranstaltungsraum fur 500 Perso- 1943 durch Bomben zerstört und 1975 schießlich nen, einen Jugendraum sowie eine Rabbinats- und abgerissen. Auf der gegenuberliegenden Straßen- Kantoratswohnung. seite erinnert seit 1988 ein Gedenkstein an die Man betritt die Synagoge durch den Hauptein- zerstörte Synagoge. gang, dessen Turenpaare die Hamburger Kunstle- Die 17 Meter lange und zehn Meter breite Har- rin Traute Beermann gestaltete. Die mit einem burger Synagoge in der Eißendorferstraße 15/Ecke Davidstern, den Gesetzestafeln, einer Torarolle, ei- Knoopstraße wurde am 19. Mai 1863 feierlich ein- nem Leuchter und einem Gewurzkasten ge- geweiht. 1889 erfolgte die Erweiterung fur den schmuckten funf farbigen Fenster schuf der Kunst- Chor, 1910 die Erweiterung der Empore, 1930 ein maler Herbert Spangenberg (1907–1984). Im Be- Anbau fur Unterricht und Versammlungen. 1936 traum befindet sich links vom Toraschrein ein wurde sie geschlossen. Am 22. August 1936 während der NS-Zeit vergrabener Leuchter, rechts zwangsverkauft und in der Pogromnacht verwüstet vom Schrein liegt hinter Glas ein auf koscherem und das Inventar auf dem Harburger Marktplatz Pergament geschriebenes Gebetbuch, das anläss- verbrannt. 1941 wurde ein Teil abgerissen und im lich der Einweihung der Bornplatz-Synagoge 1906 Zweiten Weltkrieg ganz zerstört. Das Grundstuck geschrieben wurde und die NS-Zeit, wie durch ein wurde nach dem Krieg an die Jewish Trust Corpo- Wunder, überlebte. ration for Germany ubereignet, die es an eine Bau- Die Synagogen im Hamburger Raum zeigen gesellschaft verkaufte, diese ließ dort 1954 Woh- ein jüdisches Leben, das sich allmählich von der nungen errichtete. An ihrem ursprunglichen Altstadt in die Neustadt und von dort ins Grindel- Standort wurde 1988 an der Ecke Eißendorfer viertel und in die Wohngebiete Rotherbaum-Har- Straße/Knoopstraße an der Außenfassade des vestehude, Eppendorf und Winterhude verlagert Wohnblocks das rekonstruierte Portal der Synago- hatte. Die Gebäude, von denen heute nur noch Fo- ge vorgesetzt. tos, Architekturzeichnungen und Berichte erhalten sind, fielen mit wenigen Ausnahmen nicht nur der Zerstörung durch das NS-Regime und den Bom- EIN ANFANG IST IMMER ben, sondern auch dem Desinteresse der Bevölke- Die im August 1945 von 600 Juden neu gegrun­ rung und einer geschichtsignoranten Stadtent- dete Judische Gemeinde in Hamburg besitzt seit wicklung zum Opfer. Was nicht zerstört wurde, 1948 den Status einer Körperschaft des öffentli- wurde abgerissen oder fand neue Verwendung als chen Rechts und zählt heute etwa 3000 Mitglieder. Parkplatz, Wohnhaus oder Werkstatt. Ihr Gemeindezentrum ist heute die ehemalige Talmud-Tora-Realschule (Grindelhof), ihr geistiges MICHAEL STUDEMUND-HALÉVY Zentrum ist die 1960 nach einem Entwurf der Ar- Linguist am Center for the Study of chitekten Karl-Heinz Wrongel und Klaus May er- Manuscript Cultures, Hamburg richtete Synagoge an der Hohen Weide 34. Diese Schwerpunkte: Jüdische Epigraphie und Ikonographie, Jüdisch-romanische Spra- verfugt uber einen Betsaal mit Frauenempore, eine chen. Letzter Museumsbesuch: Bucerius

FOTOS: SHMH/C. WILLE, PRIVAT SHMH/C. FOTOS: Wochentagssynagoge mit Frauenempore, eine Kunst Forum in Hamburg

83 Arions Meerfahrt, Aquarell und Tusche auf Papier auf Pappe, 1809

84 KÜNSTLER UND IHRE WERKE Philipp Otto Runge

HAMBURGS FRÜHROMANTISCHES MEMORIAL Philipp Otto Runge gilt neben Caspar David Friedrich als bedeutendster Vertreter der deutschen Romantik. Enttäuscht von der vorherrschenden Kunst des Klassizismus, die er besonders an der Akademie in Kopenhagen vorfindet, schafft Runge in Hamburg, im engsten Kreis der Familie, seine wegweisenden Bildkonzepte

TEXT: AMELIE BAADER

85 KÜNSTLER UND IHRE WERKE Philipp Otto Runge

is heute gilt Philipp Otto Runge einhellig als Aus- Selbstbildnis im nahmetalent der Hamburger Malerei des 19. blauen Rock, Öl auf Eichenholz, Jahrhunderts.­ Tatsächlich ist Runge kein gebürti- 1805 ger Hamburger, sondern kommt am 23. Juli 1777 in Wolgast zur Welt, einem kleinen Ort in damals Schwedisch-Pommern, nahe der Insel Usedom. B Sein Vater, Daniel Nikolaus Runge, ist dort als Schiffsreeder tätig, seine Mutter, Magdalena Do- rothea, ist die Tochter des örtlichen Hufschmieds. Beide geben ihren Kindern im streng protestan- tischen Haushalt pietistische Frömmigkeit und einen ausgeprägten Sinn für den Wert der Familie auf den Weg. 1795 verlässt Runge im Alter von 18 Jahren das Elternhaus und zieht zu seinem ältesten Bruder Daniel nach Hamburg. Dieser betreibt dort das Handelsgeschäft Hülsenbeck, Runge & Comp., gemeinsam mit seinen Freunden Friedrich August Hülsenbeck, Johann Michael Speckter und Johann Friedrich Wülffing. Gemäß väterlicher Vereinba- rung hilft Runge dem älteren Bruder in dessen Unternehmen aus und wird von diesem von nun an finanziell unterstützt. Durch den Freun- deskreis seines älteren Bruders erhält Runge Zutritt zu Hamburgs Bildungsbürgertum, dem sogenannten Perthes-Kreis. Gerade der Kopf der intellektuellen Vereinigung, Friedrich Christoph Perthes, soll sich als enger Vertrauter und Ansprechpartner des Künstlers herausstellen. Dessen Buchhandlung avanciert bald zum geistigen und kulturel- len Mittelpunkt Hamburgs, hier treffen sich die Maler Gerdt Hardorff d. Ä. und Heinrich Joachim Herterich, der Kunstsammler Gerhard Jo- achim Schmidt, Perthes’ Schwiegersohn Matthias Claudius, der Dichter Friedrich Gottlob Klopstock und auch Daniels Geschäftspartner Speck- ter zu wöchentlichen Leseabenden. In diesem Zirkel erschließt sich Runge ein völlig neues Universum: Er lernt von den antiken Dichtern Ovid und Homer, liest Goethes Propyläen, erkennt sich in Ludwig Tiecks Franz Sternbald – und die umfangreichen Graphiksammlungen von Schmidt, Speckter und Hardorff d. Ä. führen ihn schließlich in die Welt der Kunstgeschichte ein. Unter diesen Voraussetzungen verwun- dert es nicht, dass Runge sich nach und nach immer stärker zur Kunst hingezogen fühlt: „Die Mahlerey bleibt es ewig, woraus ich mir neuen Muth zur Arbeit und zum Leben holen kann.“ Runge beginnt bei Herterich erste Zeichenstunden zu nehmen, meist Entwürfe nach Kupferstichen. Eigenständig übt er sich in Sche- renschnitten und frühen Bildniszeichnungen. Später unterweist ihn Hardorff d. Ä. in der Zeichenkunst, seinerseits ehemaliger Student von Johann Anton Tischbein in Hamburg und von Giovanni Battista Casa- nova in Dresden. Zu diesem Zeitpunkt hat der stets verständnisvolle Daniel den jüngeren Bruder bereits von der morgendlichen Anstellung im Betrieb freigestellt und 1798 folgt auch die Erlaubnis des Vaters, dem Sohn das Studium an einer Kunstakademie zu ermöglichen. Nur ist dies zu Runges Zeit in Hamburg nicht so einfach möglich. u ABBILDUNGEN: HAMBURGER KUNSTHALLE (AUCH S. 84/85) (AUCH KUNSTHALLE ABBILDUNGEN: HAMBURGER

86 KÜNSTLER UND IHRE WERKE Philipp Otto Runge

87 KÜNSTLER UND IHRE WERKE Philipp Otto Runge

KUNST IN HAMBURG UM 1800 „Alle hiesigen Künstler müssen um’s Brod arbeiten, und noch dazu ist für’s Bildermachen Hamburg ein schlechter Ort“, so urteilt Runge in einem 1808 an den Schriftsteller Achim von Arnim gerichteten Brief. Zu Lebzeiten des Künst- lers ist Hamburg – damals immerhin drittgrößte Stadt des Reiches – ein florierendes Wirtschaftszentrum: Jeglicher Warenverkehr wird über Hamburg abgewickelt; auch der Handel mit der Kunst, wodurch dem Auktionswesen in der Stadt eine zentrale Rolle zukommt. Dennoch besitzt Hamburg keine eigene Kunstakade- mie, kein Museum und keine Universität. Zwar ist die Ha- fenstadt aufgrund ihrer internationalen Ausrichtung seit je- her Anlaufstelle ausländischer Künstler, wer aber in Ham- burg eine Kunstausbildung erlangen will, der muss gezielt suchen. Neben der Zeichenschule der Patriotischen Gesell- schaft, deren Fokus vornehmlich auf dem Kunstgewerbe liegt, sind es vor allem Siegfried Detlev Bendixen, Herterich und Hardorff d. Ä., die sich in Form des Privatunterrichts der angehenden Künstler annehmen. Letzterer versammelt beinahe sämtliche Hamburger Maler der folgenden Genera- tion um sich: die Gensler-Brüder, Victor Emil Janssen, Julius Oldach, Carl Julius Milde, Erwin und Otto Speckter sowie Der Morgen (erste Fassung), Öl auf Leinwand, 1808 Georg Haeselich. Sie alle gehen aus Hardorffs Schmiede hervor. Die für kulturell interessierte Bürger unzureichende Kunstszene in Hamburg prangern auch Runges Freunde im Perthes-Kreis an (so ist es sicher kein Zufall, dass etwa Her- terich, Speckter und Hardorff 1817 zu den Gründungsmit- gliedern des Hamburger Kunstvereins gehören, aus dem 1869 schließlich die Hamburger Kunsthalle hervorgeht). Zusätzlich zur fehlenden Akademie erschwert ein weite- rer Faktor den erfolgreichen Werdegang der jungen aufstre- benden Künstler: Wo in anderen Städten höfische oder kirchliche Auftraggeber mit repräsentativen Historienbil- dern locken, klagen die Künstler in Hamburg über ausblei- bende öffentliche Aufgaben. Die protestantische Kirche hat kaum noch Interesse daran, für ihre Gotteshäuser Altarbil- der in Auftrag zu geben. Ganz im Gegenteil führt der Abriss des Domes 1804 sogar dazu, dass Runge auf Anordnung des Malers Friedrich Ludwig Heinrich Waagen die Altarretabel vor deren Zerstörung rettet. Spätestens jetzt wird ihm die Ausweglosigkeit, die Kirche als Auftraggeber gewinnen zu können, unmissverständlich klar geworden sein. Letztendlich sind es aber vor allem die in ganz Deutsch- land herrschenden politischen Umbrüche, die in Hamburg den Aufbau einer regen Kunstszene verhindern: Von 1806 bis 1814 steht die Hansestadt unter napoleonischer Besat- zung. Runge sieht sich noch im ersten Jahr der Okkupation

88 Die Hülsenbeckschen Kinder, Öl auf Leinwand, 1805/06

gezwungen, die Stadt kurzzeitig zu verlassen und sich mit scher Historienmalerei, sodass vor Runge bereits Asmus seiner Familie nach Wolgast zurückzuziehen. Runge ist sich Jakob Carstens und Caspar David Friedrich dem Ruf des der prekären Situation stets bewusst, in die er sich mit der Nordens folgten. So wird auch er für zwei Jahre Schüler von Entscheidung für ein Künstlerdasein begeben hat. Doch er Jens Juel und Nicolai Abraham Abildgaard. lebt im tiefen Glauben an seine Bestimmung: „Denn die Wie auch an den deutschen Akademien besteht das Stu- Kunst soll doch den Künstler nicht ernähren, sondern der dium in Kopenhagen zunächst darin, nach Gipsabgüssen Künstler die Kunst.“ antiker Skulpturen zu zeichnen. Dieser Aufgabe geht Runge mit großer Genauigkeit nach, wechselt nach wenigen Mona- ten in die Modellklasse und erlernt von Juel schließlich das DREI JAHRE IN KOPENHAGEN (1798–1801) Malen in Öl. Ein Musterschüler also – und dennoch kann er Von der Situation in Hamburg ernüchtert, macht sich Runge sich nicht mit den vorgegebenen Aufgaben anfreunden. „Daß im Oktober 1799 auf den Weg nach Kopenhagen, um dort an man sich selbst am meisten helfen muß, ist mir hier sehr der Akademie das Kunststudium aufzunehmen. Der Vater deutlich gemacht worden“, so Runge. Der „einzige Ausweg“ gibt endlich sein Einverständnis, nachdem Runge vorge- sei doch „außerhalb der Anstalten“ zu finden. Und so gründet schlagen hat, das brüderliche Geschäft nach seiner Rückkehr der junge Künstler gemeinsam mit seinem Hamburger um eine Kunstabteilung zu erweitern. Zu dieser Zeit gilt Freund und Kommilitonen Johann Gottfried Eiffe und dem

ABBILDUNGEN: HAMBURGER KUNSTHALLE ABBILDUNGEN: HAMBURGER Kopenhagen im nördlichen Europa als Hochburg klassizisti- däni­schen Maler Conrad Christian Böhndel eine „Privat- u

89 Amaryllis formosissima, Öl auf Leinwand, 1808

90 KÜNSTLER UND IHRE WERKE Philipp Otto Runge

akademie“, in der sie zusammen zeichnen und das Ergebnis gust von Klinkowström aus Greifswald. Vor allem aber ist es im Anschluss besprechen können. Diese performative Aus- die Begegnung mit Ludwig Tieck, die den Künstler in beson- richtung der Treffen erlaubt den drei Künstlern, sich auch derem Maße prägt: „Ich habe Keinen gefunden, der mich so über diejenigen Themen auszutauschen, die sie im Curricu- ganz versteht und den ich so wieder verstehe, wie Tieck.“ Mit lum der Akademie vernachlässigt sehen, wie etwa das Studi- dem Dichter verbindet Runge die Kritik an der damals vor- um der Perspektive oder die Beschäftigung mit der Anatomie. herrschenden klassizistischen Kunstauffassung und beide An dieser Stelle sei angemerkt, dass sich Runges Akade- fordern ein tieferes Verständnis der Wechselwirkung von miekritik uneingeschränkt in das allgemeine emanzipatori- Kunst und Religion. In diesem Zusammenhang mag man sche Künstler(selbst)bewusstsein des beginnenden 19. auch einen engeren Austausch mit Caspar David Friedrich Jahrhunderts fügt. Ähnlich kritische Worte finden beispiels- vermuten – bei der heutigen Betrachtung ihrer Kunstwerke weise die nazarenischen Maler Fried- scheint die geistige Verwandtschaft rich Overbeck in Wien („Das sklavi- der beiden Romantiker sehr nahe zu sche Studium auf den Akademien RUNGE ENTSCHEI- liegen –, doch wird Friedrich in Run- führt zu nichts“) oder Peter von Corne­ ges nachgelassenen Schriften kaum lius, der die „fatalen Kunstakademien“ DET SICH GEGEN erwähnt. Zwar sind sich beide kurz vor mit ihrer „maschinenmäßigen Nich- DEN BESUCH DER Runges Ankunft in Dresden in Greifs- tigkeit“ anprangert. Und sogar Goethe wald begegnet, und dort unterstützt bestätigt die Vorbehalte Runges mit AKADEMIE, UM Friedrich, der seinerseits an der seiner in den Propyläen laut geworde- SICH DIE GROS- Dresdner Akademie studiert hatte, nen Kritik an den bestehenden Ver- den Entschluss des Kollegen, zum hältnissen der Kunstakademien. In SEN KUNSTSAMM- weiteren Studium in die sächsische diesen Ausführungen Goethes, denen LUNGEN EIGEN- Hauptstadt zu gehen, jedoch: Eine der junge Künstler schon in Hamburg weitergehende Freundschaft der bei- gefolgt war, sowie in den von Goethe STÄNDIG ZU den bleibt Spekulation. und Johann Heinrich Meyer initiier- ERSCHLIESSEN In Dresden entstehen die beiden ten Preisaufgaben sieht Runge den frühesten eigenständigen Kompositio- Ansporn, seine Kunst weiterzuentwi- nen in Öl, der Triumph des Amor und ckeln und sich an neuen Kompositio- Die Lehrstunde der Nachtigall. Ersteres nen auszuprobieren. Im August 1801 schickt Runge daher Werk hat Runge bereits in Kopenhagen, auf Anregung eines seine Zeichnung Achill und Skamandros nach Weimar, um Gedichtes von Johann Gottfried Herder, in Entwürfen ange- sich dem Wettbewerb der „Weimarer Kunstfreunde“ zu stel- legt, in Dresden führt er die Komposition 1802 in einem len. Die ernüchternde Kritik, die er auf seine Einsendung Ölgemälde fort. Schon früh regt sich bei Runge der Wunsch, erhält, lässt ihn jedoch endgültig an der vorherrschenden in raumbezogenen Wandausschmückungen Handwerk und Kunstform zweifeln und ebnet den Weg für seine eigene Kunst als ineinandergreifendes Gesamtkunstwerk zu verei- romantisch geprägte Kunstauffassung. nen. Die als Supraporte gedachte Grisaille (ein gemaltes Relief in Grautönen, das über der Tür angebracht werden soll) entwirft Runge für seinen Bruder Jakob in Wolgast als ZWEI JAHRE IN DRESDEN (1801–1803) Hochzeitsgeschenk. Es soll in dessen „Tanzsaal“ zusammen Runge reist weiter nach Dresden, zur damaligen Zeit eine mit einem zweiten – nicht ausgeführten Gemälde – über den der großen Kunstmetropolen Deutschlands, um sich dort Türen angebracht werden. Der Triumph des Amor ist eines neuen künstlerischen Herausforderungen zu stellen. Im von nur zwei Werken des Künstlers, die er zu Lebzeiten öf- Vergleich zu Kopenhagen bietet Dresden einen weitaus viel- fentlich ausstellt, in diesem Fall auf der Dresdner Akademie- versprechenderen Nährboden im Bereich der Kunstanschau- ausstellung 1802. Das Gemälde zeigt Amor in einer Muschel ung. Doch Runge entscheidet sich gegen den Besuch der sitzend, die von Genien mit kleinen Schmetterlingsflügeln Akademie, um sich die großen Kunstsammlungen der Stadt getragen wird. Runge bezeichnet diese in einem Brief an eigenständig zu erschließen. Endlich steht er vor den Ori­ seinen Freund aus Kopenhagener Tagen Böhndel als Horen, ginalen der alten Meister, etwa vor Raffaels Sixtinischer Ma- also als Allegorie auf die Zeit. Weiter erläutert er darin, dass donna, und muss sich nicht länger mit schwarz-weißen Re- sich die Gruppe „in einem Kreise, der sich um sie bildet“ produktionsgraphiken bescheiden, mit denen er in Ham- bewege, „worin die Liebe auf verschiedene Weise würkt; dies burg und Kopenhagen gearbeitet hatte. Hier verkehrt Runge ist der Kreis des menschlichen Lebens.“ nun mit dem Dresdner Hofmaler und Akademieprofessor Die Reaktionen der Dresdner Ausstellungsbesucher sind Anton Graff und steht in lebhaftem Austausch mit dem durchweg positiv, jedoch loben diese eher die täuschend ­echte

ABBILDUNG: HAMBURGER KUNSTHALLE ABBILDUNG: HAMBURGER Stuttgarter Maler Ferdinand Hartmann und Friedrich Au- Ausführung des Reliefs, als dass die zu übermittelnde u

91 KÜNSTLER UND IHRE WERKE Philipp Otto Runge

Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, Öl auf Leinwand, 1805/06

Botschaft von ihnen verstanden worden wäre. Runge kehrt David Friedrich oder den Nazarenern in Rom aus. Im Kontext sich spätestens mit diesem Werk von den gängigen Bildfor- dieser allgemeinen Aufbruchsstimmung sind auch Runges meln ab und verwendet zum ersten Mal die Sprache des Bil- Schriften zu verstehen, die uns einen Einblick in die Gedan- des als Ausdrucksmittel innerer Empfindungen: „Ist es nicht kenwelt des Künstlers geben. lächerlich, daß wir die Natur, d.h. den nackten Menschen Runge begreift den Ursprung und Sinn aller Kunst in der studiren, und nicht darauf verfallen, die innere Natur, d.i. die Offenlegung individueller Seelenzustände. Diese Auffassung innigste Liebe unsrer Seele zu studiren, daß wir uns nicht erfordert folgerichtig eine Abkehr von der klassizistisch ge- über unseren Empfindungen zu ertappen suchen und uns prägten Historienmalerei, wie sie Runge an den Akademien auf die Weise recht in uns erst kennen lernen?“ Dass Runge kennengelernt hatte. Die idealen Voraussetzungen sieht er in zu diesem Zeitpunkt das Thema der Liebe in der Kunst für der „Landschaft“ begründet. Allerdings ist hier nicht die Land­ sich entdeckt, hängt nur bedingt mit der Hochzeit seines schaftsmalerei gemeint, wie wir sie heute vor Augen haben, Bruders zusammen. Insbesondere fällt die persönliche Er- denn Runge geht es nicht um die reine Naturnachahmung, schließung jenes Motivs in die Zeit, in der er seine zukünftige sondern vielmehr um die Verbildlichung des tiefen Glaubens Frau Pauline Bassenge kennenlernt. an Gott, dessen Offenbarung im Kosmos der Natur zur An- schauung gelange. Der Landschaft komme die unabdingbare Aufgabe zu, die großen Zusammenhänge zwischen irdi- „ES DRÄNGT SICH ALLES ZUR LANDSCHAFT“ schem Leben, Gott und dem Universum herzustellen. Der Die Dresdner Jahre bieten Runge vielfältige Denkanstöße, wahre Künstler sei daher jener, der „durch Bild, Ton oder hier soll der Grundstein für sein weiteres künstlerisches Wort [auszudrücken verstehe], was seine innigste Überzeu- Schaffen gelegt werden: Mit seinen ersten Bilderfindungen gung von Gottes Liebe ist“. In den Kontext dieser bildtheore- formuliert der Maler noch 1802 in mehreren programmati- tischen Gedanken lässt sich auch Runges in Hamburg ent­ schen Briefen die Dringlichkeit einer Neuausrichtung der wickelte Farbenlehre eingliedern. Es überrascht nicht, dass Kunst. Angeregt durch die profunden Gespräche mit Ludwig der Künstler diesbezüglich in engem Austausch mit Goethe Tieck reiht sich Runge mit diesen kunsttheoretischen Über- steht. An ihn schreibt er, er wolle „die Eigenheiten der Far- legungen in den Kanon seiner „romantischen“ Zeitgenossen. ben“ ergründen und verstehen, „was sie leisten, oder was So gehen ähnlich wegweisende Vorstöße etwa von Caspar durch sie gewürkt wird, und was auf sie würkt“.

92 Triumph des Amor, Öl auf Leinwand, 1802

Runges Bildkonzepte hätte er nicht konziser, als in sei- bemerkt man den scharfen Beobachtungsgeist, den er bei nem 1802 entstandenen Ölgemälde Die Lehrstunde der Nach- der Wiedergabe der Pflanzenwelt offenbart. Diese präzise tigall umsetzen können. Wer heute in den sogenannten Auffassungsgabe entdecken wir auch in den frühen Scheren- Runge-Raum der Hamburger Kunsthalle tritt, sieht sich der schnitten des Künstlers. Das Prinzip der Arabeske und die zweiten Fassung des Programmbildes gegenüber, das der zweiteilige Bildstruktur, bestehend aus Binnen- und Rah- Künstler 1804/05 in Hamburg malt. Die erste Version fällt menbild, durchdringen von nun an viele seiner Werke. Sie 1931 – wie so viele Meisterwerke der Romantik, etwa Runges bezeugen Runges Denken in den großen kosmologischen epochales Freundschaftsbild Wir Drei – dem großen Brand Zusammenhängen des Universums. im Münchner Glaspalast zum Opfer. Wir blicken in dieser von Klopstocks Oden inspirierten „Landschaft“ auf einen ovalen Bildausschnitt, in der die Nachtigall – die Stimme der ZURÜCK IN HAMBURG (1803–1810) Liebe – als personifizierte Psyche in den Ästen eines Eichen- Noch in Dresden äußert Runge: „Ich glaube nicht, dass es baumes sitzt und Amor das Musizieren lehrt. Im Gesicht der nötig ist, grade an einem Ort wie Dresden, Wien, Paris zu geflügelten Schönheit entdecken wir die Züge von Pauline, leben; in vielen Fällen hat es, um sich Rats erholen zu kön- wodurch Runge dem Bild eine persönliche Note verleiht. Das nen, Sein Gutes; [W]ürken läßt sich aber gewiß leichter an Innenbild wird von einem schmalen Rahmen umgeben, in einem Ort, wo noch keine Kunstmeynungen herrschen.“ dem sich Klopstocks Verse wiederfinden. Daran schließen Damit deutet Runge seine Befürchtungen an, die gerade sich Runges charakteristische Arabesken an, die er uns hier gewonnenen Kunstüberlegungen zu gefährden, wenn er zum ersten Mal vorstellt. Die Symbolsprache des aufwendi- sich von den großen Meistern Italiens oder Frankreichs ab- gen Rahmenbildes, das er wie beim Triumph des Amor als lenken ließe. Tatsächlich gehört Runge – neben Friedrich – fingiertes Relief anlegt, greift das Thema der Liebe auf einer zu den wenigen konsequenten Italienverweigerern des 19. abstrakten, allgemeingültigen Ebene wieder auf. Mittig sitzt Jahrhunderts, die nie dem Reiz des Südens erliegen. Ende am oberen Rand Amor mit der Leier, daneben entspringen 1803 wendet sich Runge endgültig von der kunstaffinen Genien einer Rose (als Symbol der irdischen Liebe) und ei- Stadt Dresden ab, um sich mit Pauline in Hamburg ein ner Lilie (als Symbol für die himmlische Liebe). Betrachtet ­neues Leben fern des Kunsttrubels aufzubauen. Hier findet

ABBILDUNGEN: HAMBURGER KUNSTHALLE ABBILDUNGEN: HAMBURGER man die vegetabilen Ornamente in Runges Arabesken, so Runge endlich den erhofften Rückzugsort, den er – mit u

93 MIT SEINEN BILDNISSEN VERSUCHT RUNGE STETS, EINEN BLICK IN DAS SEELENLEBEN SEINER MODELLE ZU ERÖFFNEN

wenigen Unterbrechungen – bis zu seinem frühen Tod nicht Als besonderes Zeichen seines ausgeprägten Empathiever- mehr verlassen wird. mögens, das immer wieder aus den Porträts spricht, begibt In dieser Abgeschiedenheit entsteht ein Großteil des sich Runge auf die Höhe der Kinder selbst und fordert somit malerischen Œuvres von Runge. Umgeben von Familie, von den Betrachtern, sich auf deren Sichtweise einzulassen. Freunden und insbesondere Pauline, widmet er sich erneut der Gattung des Porträts, das er sich in Kopenhagen und Dresden bislang nur zeichnerisch erschlossen hatte. Ab DIE VIER ZEITEN 1804 entstehen die schönsten Selbstbildnisse: Etwa das Den schöpferischen Höhepunkt in Runges Malerei stellt frei- Selbstbildnis im blauen Rock, in dem sich Runge als melan- lich die Beschäftigung mit dem Zyklus der Tageszeiten dar. In cholischen Künstler im Moment kontemplativer Selbstrefle- Dresden hatte er die dort entstandenen Zeichnungsentwürfe xion inszeniert und das heute als Schlüsselwerk der roman- noch als Zimmerausschmückungen geplant, doch 1805, in tischen Porträtkunst gelten kann. Mit seinen Bildnissen Hamburg, entschließt er sich, die Tageszeiten als Kupferstich versucht Runge stets, einen Blick in das Seelenleben seiner zu publizieren und somit einer breiteren Öffentlichkeit zu- Modelle zu eröffnen. Auch im Selbstbildnis im blauen Rock gänglich zu machen. 1807 wird die Folge aufgrund der positi- offenbart er seine Gefühlswelt und lässt uns in Mimik und ven Resonanz in höherer Auflage von Perthes neu verlegt. Gestik seine innere Zerrissenheit spüren. Runges außerordentlicher Nachruhm, den er zu Beginn des Als besonders anmutig erweist sich das wohl bekann­ 19. Jahrhunderts erfahren soll, gründet maßgeblich auf der teste Werk des Künstlers, Die Hülsenbeckschen Kinder. Die Verbreitung dieses Grafikzyklus. Im Folgejahr greift er das Familie von Daniel Runges Geschäftspartner Hülsenbeck Thema wieder auf und fertigt zwei Neufassungen des Morgen lebt in Eimsbüttel, das damals noch vor den Stadttoren Ham- als Ölgemälde. Die malerische Umsetzung der übrigen Tages- burgs liegt. Im monumentalen Format zeigt uns Runge die zeiten bleibt dem Künstler aufgrund seines frühen Todes je- verschiedenen Entwicklungs- und Bewusstseinsstufen der doch verwehrt. Bei der ersten Fassung, dem sogenannten Kinder: der zweijährige Friedrich im Kinderwagen, der noch Kleinen Morgen, hält Runge an der bewährten Formel der zwei­ gänzlich unkoordiniert nach der Sonnenblume greift, der teiligen Komposition aus arabesker Rahmung und Binnenbild selbstbewusst auftretende vierjährige August, mit der Peit- fest: Im Bildinneren schwebt Aurora als Göttin der Morgen­ sche in der Hand, und die älteste Schwester Maria, die ver- röte über der Landschaft und verkündet den Anbruch des Ta- antwortungsvoll ein Auge auf ihre jüngeren Brüder wirft. ges. Die von ihr ausgehenden Sonnenstrahlen werden durch Mit diesem Gemälde revolutioniert Runge die Darstellung musizierende Engel verkörpert, während sich die drei Engels- des Kinderporträts. Der Maler lässt die drei Heranwachsen- köpfe am oberen Bildrand um Venus, den Morgenstern, den inmitten ihrer natürlichen Umgebung Kinder sein, und ­versammeln. Im Vordergrund stellen vier auf Wolken schwe-

stellt sie nicht, wie vorher üblich, als kleine Erwachsene dar. bende Genien die Verbindung zwischen der irdischen u KUNSTHALLE ABBILDUNGEN: HAMBURGER

94 KÜNSTLER UND IHRE WERKE Philipp Otto Runge

Die Lehrstunde der Nachtigall, Öl auf Leinwand, 1804/05

95 Runges frühem Tod ist es geschuldet, dass sich das Werk des Künstlers auf nur wenige Gemälde beschränkt, in denen sich seine bahnbrechende Kunstauffassung manifestiert. Vielleicht ist es gerade diese Exklusivität des Œuvres, die zur besonderen Verehrung des Malers führt. Eine ganze Genera- tion junger aufstrebender Hamburger Künstler wird nach seinem Tod von der Ära Runge geprägt und versucht, dessen Kunstauffassung weiterleben zu lassen. Runges Freund Eiffe etwa fertigt zehn Kopien des berühmten Selbstporträt im ­blauen Rock, um sie an Freunde und Bekannte zu verschen- ken und so dem Verstorbenen ein Denkmal zu setzen. Insbe- sondere Runges Bruder Daniel setzt sich dafür ein, das geis- tige und künstlerische Erbe des Verstorbenen zu verwalten, und sichert eine weite Verbreitung seines Vermächtnisses. 1840/41 veröffentlicht er schließlich den schriftlichen Nach- lass des Bruders in zwei Bänden, die es uns heute erlauben, sich ein Bild von der Kunstanschauung und dem Wesen des zurückgezogen lebenden Künstlers zu machen. Daniel ist es auch, der die Brüder Erwin und Otto Speckter ermutigt, die Zeichnung des Morgen als Lithographie zu reproduzieren, um Runges Bildideen posthum zu verbreiten. Besonders Erwin Speckter findet sich nachhaltig von den Bildkonzepten des großen Romantikers beeinflusst. Für das Landhaus des Hamburger Juristen Karl Sieveking nimmt er die Idee der Der Abend, Kupferstich, 1807 Tageszeiten als raumbezogene Wanddekoration wieder auf und gibt ihnen ein eigenes, unverwechselbares Gepräge.

LICHTWARKS WIEDERENTDECKUNG DER ROMANTIK Welt und den kosmischen und mythischen Sphären dar. Sie Noch heute, 150 Jahre nach Gründung der Hamburger ehren das hell erleuchtete Neugeborene mit Rosenblüten: So Kunsthalle, bilden die Werke Philipp Otto Runges für viele wie der Morgen einen Neubeginn einleitet, so steht das Kind Besucher einen Höhepunkt des Museumsrundgangs. Künst- für den Anbruch und Ursprung der Schöpfung. Die Rahmen- ler und Institution sind nach wie vor untrennbar miteinan- handlung der Arabeske eröffnet eine zweite Deutungsebene, der verbunden. Und das aus gutem Grund, denn in der die eine dezidiert christliche Interpretation transportiert. Hamburger Kunsthalle findet sich fast das gesamte zeichne- Mithilfe der aus den Blumen entspringenden Genien wird rische und malerische Werk des Künstlers vereint. Dieses der Aufstieg der Seele in das Reich Gottes versinnbildlicht. Verdienst geht vor allem auf den ersten Kunsthallendirektor Alles gipfelt in der Cherubsglorie am oberen Bildrand, die als Alfred Lichtwark zurück, der es während seiner Amtszeit Symbol für Gottes Herrlichkeit zu verstehen ist. Mit dem von 1886 bis 1914 wie kein anderer versteht, das lang verges- komplexen Bildprogramm des Morgen gelangt Runges Be- sene Œuvre des norddeutschen Romantikers wiederzuent- streben, die christliche Kunst auf eine neue geistige Ebene zu decken und neu zu bewerten. heben, zu einer durchweg überzeugenden Umsetzung. Bereits vor Lichtwarks Antritt vermacht Runges Witwe Pauline dem Kunstverein in Hamburg 154 Zeichnungen des Künstlers. Kurz nach der Eröffnung des Museums 1869 RUNGES NACHRUHM verzeichnet die Sammlung mehrere Gemälde des Künstlers, Am 2. Dezember 1810 stirbt Runge im Alter von nur 33 Jah- unter anderem Die Hülsenbeckschen Kinder, Die Lehrstunde ren an den Folgen einer Tuberkulose-Erkrankung. Eine sei- der Nachtigall oder Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten. ner letzten und ergreifendsten Zeichnungen zeigt mit offen- Runges Werke werden jedoch erst 1889 einem größeren kundiger Empathie die befreundete Sophia Sieveking auf Publikum zugänglich gemacht, nachdem Lichtwark seiner dem Sterbebett, die derselben Krankheit erlag. Selten spürt Absicht nachgeht, die Bestände der Kunsthalle systematisch man die tief empfundene Nähe des Künstlers zu seinem zu erschließen und zu begutachten. Im Rahmen dieser Sich- Modell so sehr wie in dieser Zeichnung, die bereits sein eige- tung stößt man auch auf Die Hülsenbeckschen Kinder, die nes Schicksal anzukündigen scheint. Lichtwark sogleich aus dem Depot in die neuen Räumlich-

96 KÜNSTLER UND IHRE WERKE Philipp Otto Runge

Modellstudien zur „Farbenkugel“: Querschnitt und Längsschnitt, Bleistift, Aquarell

keiten der Kunsthalle überführt. Eine erste wissenschaftliche nisiert die Hamburger Kunsthalle 2010 gemeinsam mit der Behandlung erfährt Runge 1893 in Lichtwarks Monographie Kunsthalle der Hypokulturstiftung in München eine große über „Hermann Kauffmann und die Kunst in Hamburg von Retrospektive. 1800 bis 1850“. Hier macht Lichtwark seinen Anspruch als Heute befinden sich 30 Gemälde und Hunderte von Kunsthallendirektor geltend, „charakteristische Werke des Zeichnungen und Scherenschnitten in der Sammlung des seltenen Geistes zu erwerben, damit in der Sammlung zur Museums. Zuletzt ist Runges Nachruhm in der Ausstellung Geschichte der Malerei in Hamburg ein Bild seines originel- „Hamburger Schule – Das 19. Jahrhundert neu entdeckt“ len Wesens gewonnen werden kann“. Bis zum Ende seiner gewürdigt worden; und nächstes Jahr erscheint in der Kunst- Direktorenlaufzeit gelingt es Lichtwark, durch geschickte halle ein umfassender Bestandskatalog der Gemälde des 19. Ankäufe, Schenkungen oder Leihgaben 18 Werke des Malers Jahrhunderts, der eine umfangreiche Aufarbeitung der für die Kunsthalle zu sichern, etwa das Bildnis von Runges neuesten Forschungsergebnisse zu Runges Werken ver- Eltern oder die beiden Fassungen des Morgen. spricht. Selbst nach 150 Jahren wird die Kunsthalle nicht Auf der viel gerühmten Jahrhundertausstellung in Ber- müde, ihren stillen Helden zu feiern. lin im Jahre 1906, die als Schlüsselmoment der Würdigung deutscher Romantik gelten muss, werden zehn Werke von Runge sowie fünf von Friedrich präsentiert – alle aus der Sammlung der Kunsthalle. Spätestens mit dieser Ausstel- lung werden Runge und Friedrich in den Olymp der Kunst- geschichtsschreibung erhoben und halten diesen Platz noch AMELIE BAADER Kunsthistorikerin und wissenschaftliche heute unangefochten. Das Erbe Lichtwarks wird konsequent Mitarbeiterin in der Hamburger Kunsthalle von allen kommenden Kunsthallendirektoren weitergeführt: Zuletzt besuchte Ausstellungen: Kiki Smith. Werner Hofmann etwa widmet Runge und seiner Zeit 1977 Procession, Unteres Belvedere, Wien und Spiegel. Der Mensch im Widerschein, eine zentrale Position in dem epochalen Ausstellungszyklus Museum Rietberg, Zürich.

ABBILDUNGEN: HAMBURGER KUNSTHALLE, FOTO: PRIVAT FOTO: KUNSTHALLE, ABBILDUNGEN: HAMBURGER „Kunst um 1800“. Anlässlich Runges 200. Todestages orga-

97 98 LITERATUR Siegfried Lenz

GEISTIGER WIEDERAUFBAU

Für Siegfried Lenz ist „Schreiben Rechenschaft vom eigenen Leben geben, Rechtfertigung der eigenen Existenz“. Sein erster Roman erscheint 1951 bei Hoffmann und Campe in Hamburg – hier lebt der Schriftsteller seit der Entlassung aus britischer Gefangenschaft und ­wird zum international geachteten Autor, der viele Spuren hinterlässt. Für Helmut Schmidt war Siegfried Lenz nicht weniger als der „Ombudsmann des menschlichen Anstandes“

TEXT: AXEL REITEL

99 LITERATUR Siegfried Lenz

ls masurischer Notabiturient zur See in der Kriegsmaschine- rie der Wehrmacht, erkennt er, neben der Mitschuld, die wahre Absicht des Gewaltmenschen: in systematischer Weise den A Grad der Mündigkeit zu elimi- nieren. Ende April 1945 gelingt ihm in Dänemark vom Hilfs- kreuzer „Hansa“ die Desertion. Seine Angst auf der Flucht, das Durchschlagen durch Dänemarks Wälder, spiegeln sich in den bedrückenden Waldszenen jenes ersten Romans Es waren Habichte in der Luft, der zuerst als Fortsetzungsroman in der „Welt“ und im selben Jahr als Buch erscheint. Der Autor der Habichte gilt aufgrund der kristallklar gesehenen menschli- chen Reflexe in der Handlung und der unsentimentalen Schilderung des Terrors nicht nur der „Frankfurter Allgemei- nen Zeitung“ sofort als Leucht­streifen der „jungen erzählen- den Literatur“. Dem Ritterschlag voraus gehen ein abgebro- chenes Studium der Philosophie, Anglistik und Literarturwis- senschaft an der Universität Hamburg, eine das Studium fi- nanzierende Karriere als Schwarzmarkthändler, sowie ein Volontariat bei der Tageszeitung „Die Welt“. Von 1950 bis 1951 ist Siegfried Lenz dann Feuilleton-Redakteur dieser Zeitung.

ZEIT DER BEKENNTNISSE

In den 1964 erscheinenden Bekenntnissen eines Schwarz- GERMANY VINTAGE (S. 96), MORGENSTERN / BARBARA FOTOTHEK DRESDEN / DEUTSCHE SLUB FOTOS: markthändlers, Lehmanns Erzählungen, deren Handlungs- schauplatz durchweg Hamburg ist, hebt er den abgebrührten ironischen Realismus aus der Taufe, der die atmosphärischen Bekenntnisse des Felix Krull unnachahmlich erdet. „Die Not“, heißt es in den Bekenntnissen, „ist meine schönste Zeit. Schon früh erkannte ich, welche Möglichkeiten der Mangel hamburger – zu sagen. Und: „Auf eiliger, auf oberflächlicher birgt. Die Knappheit an allen Dingen.“ Ich möchte behaupten, Suche trifft man nur Krebse, Pinneberger, Bergedorfer, man wer immer diesem hell reflektierenden Text durch das Nach- begegnet den genügsamen Bücklingen einer strebsamen dunkel des Nachkrieges folgt, ihn nie jemals vergessen wird. Gesellschaft, Makrelen aus Stade, Ewerschollen aus Finken- Zudem löst sich Lenz in den Bekenntnissen gänzlich von werder, Heringe aus Cuxhaven schwimmen in erwartungs- seinen stilistischen Vorbildern Ernest Hemingway und Willi- vollen Schwärmen durch die Straßen meiner Stadt, Hummer am Faulkner, die in der Erzählung Lukas, sanftmütiger Knecht bewachen mit geöffneten Scheren die Börse, Knurrhähne noch vordergründig waren. Dabei beißt Lenz sich nicht an begeben sich zu einer Konferenz ins Rathaus, man begegnet der einmal gefundenen Form fest, sondern lässt notfalls Ge- dem Seelachs und dem Dornhai und verfolgt volkreiche Wan- gebenheiten und die ihnen ausgesetzten Leute zur Form derungen von Dorschen, die zum Hafen hinabziehen. Der werden, wie in „Leute von Hamburg“ aus dem Jahr 1992. erste, sozusagen unbewaffnete Blick findet immer wieder „Schwer ist es, in Hamburg einen Hamburger zu ertappen“, den Meeresgrund, er fällt in Aquariumsdämmerung; das hat weiß hier Lenz – seit fünfundvierzig Jahren nunmehr Wahl- schon Heinrich Heine erfahren müssen, als er mit gebilde-

100 Zeitungs- und Zeitschriftenkiosk am Jungfernstieg

tem Spott und talentierter Melancholie die Leute von Ham- burg suchte.“ Später lautet eine biografische Hinzufügung mit etwas weniger Spott, „irgendwo… hänge sein düsteres Bild“, das Bildnis des Dorian Gray, und es zeige „sein wahres Gesicht“. Und weiter: „Denn natürlich hat man fast fünfzig Jahre lang gearbeitet.“ Das habe „Spuren hinterlassen“. Von jenen fünfzig Jahren als Hamburger Bürger, in viele Sprachen übersetzter Autor und engagierter Kopf, „vom Meer und Küste, Fluss und Hafen, Wracks und Tauchen und dem Glück, einen Fisch zu fangen“, soll des Weiteren die Rede sein. Dabei kündigt sich, vorweggesagt, ein grandioses, ein lieb zu gewinnendes Scheitern an. Den langen Schatten der Vergan- genheit auf der ewigen Lust nach der Freiheit, eigene u

101 Wege zu gehen, ist der Kampf angesagt. Dabei hat Siegfried Buchtitel wahre „Filmjuwelen“. Und dieses Licht fällt auch Lenz vielleicht das einheitlichste Werk jener großen drei der auf einige hervorragende Titel von Siegfried Lenz. Vom Nachkriegsliteratur hinterlassen: Grass’ literarisch so hoch bahnrechenden Roman bis zur letzten Novelle: Deutsch­ liegendes wie umstrittenes Buch „Beim Häuten der Zwiebel“ stunde, So zärtlich war Suleyken, Der Verlust, Ein Kriegsende, gehen lange literarische Fehljahre nach der bahnbrechenden Schweigeminute. Sie zeigen sowohl die Vielfalt des Autors als Danziger Trilogie (Die Blechtrommel, Katz und Maus, Hunde­ auch seine wiederkehrenden Grundthemen, die auch die jahre) voraus – umstritten ist das erstgenannte Werk deshalb, Themen seiner Generation sind: „Gewalt, Flucht, miss- weil er erstmals seinen Beitritt in die SS als 17-Jähriger thema- brauchte Begeisterung und sinnlose Tode“. tisiert, worauf ihm die Ehrenbürgerschaft von Gdansk aber- kannt werden soll. Günter Grass hält sich an seine eigene lite- rarische Meinung über seine Bücher. Und die war nicht die GROSSE FREUNDSCHAFTEN schlechteste. Und Heinrich Böll hält morgendlich den ange- Ein Stück Literatur erlebt seine Krönung als Film. Das Licht leckten Finger in die Luft, ob der Tag zum Schreiben oder zum des Ruhms. Mehr Licht geht eigentlich nicht. Doch auch ein Lesen gemacht ist. Ansichten eines Clowns und Die verlorene Schatten besteht aus Licht. Auf der Trauerfeier für Siegfried Ehre der Katharina Blum sind Beispiele einer „aktuellen, fes- Lenz am Dienstag, dem 28. Oktober 2014, versammelt sich selnden, engagierten“ Entwicklungsliteratur – der Literatur die erste Reihe des Trauerknigge, wie sie ein Land nur auf- über die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland (die weisen kann: Helmut Schmidt, Günter Grass, Wolf Bier- selbstredend aus den langen Schatten heraustreten will). Sieg- mann und seine Frau Pamela, Jürgen Flimm, Intendant der fried Lenz hält sich an seine fast immer schmauchende Pfeife. Staatsoper , und seine Ehefrau Susanne, Hamburgs Die Pfeife ist ihm der „verlässlichste Begleiter“. Er betrachtet Erster Bürgermeister Olaf Scholz, die Bildungsministerin sie „als Freund“. von Schleswig-Holstein Britta Ernst und Schleswig-Hol- Alles in allem werden aus den meisten der genannten steins Ministerpräsident Torsten Albig, der Hamburger

Lenz (Mitte) im Gespräch mit Dr. Albrecht Knaus (rechts), damaliger Verlagsleiter von Hoffmann und Campe, am Rande der Frankfurter Buchmesse im Oktober 1971

102 LITERATUR Siegfried Lenz

Unternehmer und Mäzen Ian Karan und seine Frau Barbara, Hamburgs ehemaliger Erster Bürgermeister Henning Vo- scherau, NDR-Intendant Lutz Marmor und die Hamburger Kultursenatorin Barbara Kisseler nehmen damals im Ham- burger Michel ihre Plätze ein. Zweitausend Freunde, Politi- ker und Bürger erwiesen im Hamburger Michel dem „Om- budsmann des menschlichen Anstandes“ die letzte Ehre. Hamburg verbeugt sich vor Siegfried Lenz. Doch: „Einmal DIE PFEIFE IST IHM verschwindet jeder hinter dem Horizont“, schreibt Siegfried Lenz dreißig Jahre vorher im Text Kleines Strandgut: „So wie DER VERLÄSSLICHSTE Odysseus verschwand und Kapitän Ahab, wie Robinson und BEGLEITER. ER Nemo und der große Beutemacher Sir Walter Raleigh.“ Wir Lebenden aber halten die Augen nach ihnen noch auf und BETRACHTET SIE wollen lernen. Das ist sozusagen unsere Beute. „ALS FREUND“ Im gleichen Jahr, 1984, wird mit dem Erscheinen der Erzählung Ein Kriegsende klar, dass der Autor des internatio- nalen Bestsellers Deutschstunde eine weitere Variation seines Hauptthemas vorlegt: über die Verantwortung eines Men- schen in finsteren Zeiten und dessen Feinde. Als Anfang Mai 1945 einen deutschen Minensucher in der Ostsee der erwartete Funkspruch von der deutschen Kapitulation er- reicht, ist zwar der Krieg zu Ende und an Bord wird der u

Lenz (Mitte) beim SPD-Parteitag im November 1977 in Hamburg im Gespräch mit Günter Grass (links) und dem damaligen Parteivorsitzenden Willy Brandt

u FOTOS: BUNDESARCHIV, AKG -IMAGES AKG BUNDESARCHIV, FOTOS:

103 Kommandant von der Besatzung unter Arrest gestellt. Doch rischen Handlungsspielraum erkannt. Jedenfalls wird er ihn taucht sogleich die Frage auf, ob dies Meuterei ist. Wie in der – erklärlicherweise – nicht mehr verlassen. Zur Begründung Deutschstunde erweist sich „das schwierige Verhältnis zwi- sei auf die landschaftliche Verwandtschaft zwischen dem schen Gehorsam und Verantwortung, zwischen Kriegsrecht seenreichen Masuren und dem Ostsee-geprägten Teil des und humaner Moral“ als Krimi. Dabei geht es nicht darum, deutschen Nordens verwiesen. Dankbarkeit dürfte ebenfalls „wie die furchtbaren Richter von damals geurteilt haben, das eine Rolle spielen. Vielleicht eine Dankbarkeit an die Freiheit, steht in den Geschichtsbüchern“. Siegfried Lenz gibt sich die den Deutschen vor seinen Augen geschenkt wurde, anstatt eben damit nicht zufrieden. Diese grandiose Parabel soll ihnen eine neue Knechtschaft aufzubürden. Warum nicht? anders, von der Wirklichkeit her, gedacht werden. Denn es ist Denn stimmt es, dass Heimat dort ist, wo das Herz ist: Woran die britische Besatzungsmacht, die im Mai 1945 auf deut- liegt einem menschlichen Herz mehr als an Verdiensten? schen Minensuchbooten sogenannte German Mine­sweeper in die Ostsee abtauchen lässt, die Seeminen der deutschen Kriegsmarine zu entschärfen – und die deutsche Kriegsma- LIEBESBEWEIS AN EINEN WOHNORT rine hatte Tausende Seeminen ausgelegt. Unter den German Siegfried Lenz wohnt bis zu seinem Tod in der Preußerstraße Minesweeper befinden sich neben Kriegsgefangenen auch 4 in Hamburg-Othmarschen. Das Haus kaufte er 1963. Er war Arbeitssuchende, denn im deutschen „Trümmermeer“, in von Beginn an ein erfolgreicher Schriftsteller – und Erfolg dem damals auch Hamburg versinkt, sucht ein Arbeitslosen- kann Lachen machen, vom Erfolg gehen heilsame Kräfte aus. heer nach Arbeit und Abenteuer. Schließlich kamen erst ein Haus auf der dänischen Insel Al- sen und später ein Bungalow in Tetenhusen hinzu. Die Som- mer lebte er Dänemark, die kalte Jahreszeit gedachte er NACHKRIEGSGESCHICHTE Hamburg zu, sichtbare Auswirkung auf die geschriebenen Ein Kriegsende versammelt also geschickt wie geglückt das Seiten haben die warmen und kalten Jahreszeiten aber nicht. kollektive Gedankenspiel der Geschlagenen und lässt es litera- Es sind Gegebenheiten des Sujets, die ihren Stempel aufset- risch auf dem deutschen Minensuchboot Gestalt annehmen. zen. Ins Spiel zu bringen wäre auch der spontane Einfall der Als wären sie noch einmal frei in ihrer Entscheidung. Was sie Laune: Setzt Lenz in Leute von Hamburg auf Vergleiche, ver- nicht mehr sind, kurz nach dem Krieg. Als wäre Siegfried Lenz wirft er alles, was die Möglichkeit zu sehr „einschränkt“, diese noch einmal frei in seiner Entscheidung, was er tatsächlich Leute auch zu „ertappen“. So lässt Lenz ab vom Grund der noch einmal ist, knapp vor Kriegsende. Seiner Beförderung Ostsee, denn dieser „schränkt zu sehr ein, er lässt zu wenig zum Fähnrich zur See am 20. April 1945 folgt die Desertion in offen“ und wählt stattdessen, „um sich von ihnen begeistern Dänemark vom Hilfskreuzer „Hansa“. Dabei will es wohl die oder befremden zu lassen“, den Blick „mit bewaffnetem Ironie der Geschichte, dass die Hansa unter der Benennung Auge“ durch „ein Rumglas“, das „gegen die Vorübergehen- Schiff 5 zwar ein für den Einsatz bei der Kriegsmarine verein- den“ gehalten, sie aufnimmt „wie mit einer mitteilsamen nahmtes britisches Handelsschiff ist. Das britische Fracht- Linse, bannt und sammelt sie“. schiff Glengarry wurde unter deutscher Flagge und der Be- In der Tat gelang ihm das Meisterstück eines Liebesbe- zeichnung Handelsstörkreuzer als Hilfskreuzer vorbereitet, weises an einen Wohnort, an Hamburg. Es ist ein Buch wie doch schließlich nur als Kadettenschulschiff genutzt. Nach ein trunkener Sommer, doch es konnte nur in der kühleren dem Untergang des Deutschen Reiches fährt es wieder unter Jahreszeit geschrieben werden. Und schon längst kam von der Flagge des Vereinigten Königreiches. ihm Weltliteratur aus Hamburg. Eine andere Sache ist das Womöglich ist das alles ein Grund dafür, dass Siegfried Kühle, das Unterkühlte, und Karge in der Seele. Und die Lenz, als er auf seiner Flucht durch die dänischen Wälder ei- „Freuden der Pflicht“ sind sein angemessener Ausdruck. Als ner Kompanie des Vereinigten Königreichs in die Arme läuft, sein Roman Deutschstunde 1968 erscheint, war die Bundes- zwar Kriegsgefangener wird, doch als Dolmetscher für die republik noch zwölf Jahre davon entfernt, im öffentlichen Kommunikation mit den Krauts auch Verdienste einfahren Diskurs zu bekennen, dass „niemand frei [ist] von der Ge- darf. Über den empfohlenen Umgang der britischen Soldaten schichte“. Der Zwangscharakter des Protagonisten Jens Ole mit den Deutschen gibt der „Leitfaden für die britischen Sol- Jepsen, Dorfpolizist von Rugbüll am nördlichsten Nordende, daten in Deutschland 1944“ des britischen Außenministeri- verschreibt sich mit dem Aufkommen der braunen Unter- ums jedenfalls ausführlich Auskunft. Unter anderem wird drücker eben deren Zielen und überträgt das neue Pflicht­ darin betont, „dass die britische Besatzung nicht brutal, aber gefühl auch auf seine nächsten Menschen. Vor allem auf den auch nicht nachgiebig oder sentimental“ sein soll. Die Solda- Maler Max Ludwig Nansen hat er es dabei abgesehen. Nach ten werden vor „Propaganda in Form von Unglücksgeschich- dessen Stigmatisierung zum entarteten Künstler versucht er ten“ gewarnt und die Deutschen werden als „merkwürdige[s] ihn auf Schritt und Tritt beim Weitermalen verbotener Bil-­ Volk, in einem merkwürdigen, feindlichen Land‘ beschrie- der zu ertappen, wovon er auch nach dem Untergang der u ben“. Siegfried Lenz hat Zeit und Ort wohl früh auch als litera- Unterdrücker nicht lassen kann. Auch dass Nansen ein BUNDESARCHIV FOTO:

104 LITERATUR Siegfried Lenz

Mit dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (vorne rechts) im Oktober 1988 in Frankfurt a. M.

IN DER TAT GELANG IHM DAS MEISTERSTÜCK EINES LIEBESBEWEISES AN EINEN WOHNORT, AN HAMBURG

105 Siegfried Lenz nach einer Lesung im Züricher Stadthaus beim Signieren seines Romans „Der Verlust“

106 LITERATUR Siegfried Lenz

SIEGFRIED LENZ WAR DER OMBUDSMANN DES MENSCHLICHEN ANSTANDES. BEI ALLEDEM WAR ER EIN GROSSARTIGER GESCHICHTENERZÄHLER

Jugendfreund Jepsens und sogar sein Lebensretter war, wird genannte Jean-Paul Sartre, von dem sich Lenz wegen dessen im Brennglas des Sohnes Siggi Jepsen gesammelt, der in ei- Befürwortung des Stalinismus ab- und dem Gegner des „So- ner Besserungsanstalt für Jugendliche, Notizhefte füllend, zialismus der Galgen“, Albert Camus, zuwendet, sagt in ei- den Freuden der Pflicht die Freuden des Schreibens, des nem seiner letzten Worte: „Ich bin gescheitert“. Zygmunt Geschichtenerzählens entgegensetzt. Über das Geschichten­ Rogalla aber sieht sein Werk einer, das Schöne, Wahre und erzählen kann man den Autor natürlich selbst fragen. Ich Gute verabscheuenden Zeit preisgegeben. Das ist der feine fand eine mir passable Passage in der „Zeit“. Also, „,was sind Unterschied, der das Werk von Siegfried Lenz auszeichnet. Geschichten?‘, fragte Lenz einmal und gab selbst die wun- In seiner Trauerrede im Hamburger Michel fasst Alt- derbare Antwort: ‚Man kann sagen, zierliche Nötigungen der kanzler Helmut Schmidt am 28.10.2014 Wesen und Wirken Wirklichkeit, Farbe zu bekennen. Man kann aber auch sa- des Schriftstellers Siegfried Lenz aber wohl am eindrück- gen: Versuche, die Wirklichkeit da zu verstehen, wo sie lichsten zusammen: „Mit dem Abschied von Siegfried Lenz nichts preisgeben möchte“. ist für mich eine Freundschaft zu Ende gegangen, die gut ein Preisgeben ist ein starkes Verb, das weder in den Roma- halbes Jahrhundert gedauert hat. Die mich immer wieder nen Deutschstunde, Das Vorbild oder Fundbüro, dafür gleich bereichert hat. Für Loki und für mich war Siegfried Lenz der fünf Mal in seinem bis zur „New York Times“ bejubelten Ombudsmann des menschlichen Anstandes. Bei alledem Opus magnum Heimatmuseum vorkommt. Es umläuft das war Sigi Lenz ein großartiger Geschichtenerzähler. Ich habe Phänomen des Scheiterns, das Bange sein vor dem Schei- seinen Einfallsreichtum und die Kraft seiner Fantasie immer tern, das Schutzbedürfnis vor der Preisgabe des mühsam bewundert. Über die Fülle seiner genialen Einfälle, auf den Aufgebauten, vor der Bloßstellung, der unlauteren Absicht. seine Romane beruhen, habe ich gestaunt. Er hat seinen Le- Aber auch vor dem Mitwissen, vor dem Mitgegangensein, sern ein ganzes Mosaik unserer Epoche präsentiert und hat der Mittäterschaft. Als Deutschland im April/Mai 1945 von damit zum geistigen Wiederaufbau Deutschlands beigetra- seiner schlimmsten Zeit (seit den Anfängen unter Karl dem gen und zugleich hat er mit seiner Imagination und seiner Großen) befreit wird, beginnt das bekannte Schweigen (nicht Präzision den Deutschen einen bedeutenden literarischen überall: Die Eltern des Autors waren, bis zu einem Punkt, Schatz hinterlassen.“ sprudelnde Quellen der Kriegserinnerung). Es war die Scham, das Schämen, das furchtbare Beschämtsein ange- AXEL REITEL sichts der selbst verschuldeten Berge an Verbrechen. Um Autor. Schwerpunkt: (literarische) Aufarbeitung der nichts in der Welt preisgeben, was war, ist das dunkle Motiv deutsch-deutschen Vergangenheit des Dorian Gray. Im Roman Heimatmuseum brennt der Zuletzt besuchte Ausstellung: Reaching out for the future. Zukunftsfantasien um 1900, Bröhan-Museum Schöpfer und Hüter des Museums, Zygmunt Rogalla, der in Berlin

FOTOS: AKG-MAGES / NIKLAUS STAUSS, PRIVAT STAUSS, / NIKLAUS AKG-MAGES FOTOS: auch der Erzähler ist, jenes eigenhändig ab. Der noch nicht

107 108 HAMBURGS MUSIKGESCHICHTE Tocotronic

INTELLEKTUELLER MINIMALISMUS

Es ist eine Zeit der Orientierungslosigkeit. Nicht nur darüber, was die Welt wohl bereithalten wird für jemanden, der sich nicht mit den gängigen Attitüden der Gesellschaft schmücken will – auch darüber, was man selbst denn eigentlich bedeutet in diesem Gesamtzusammenhang der Welt. Es geht um drei Jungs, die sich in ihrer Gefühlswelt ganz und gar nicht alleine fühlen müssten und es dennoch tun – bis sie einander finden und die Band Tocotronic gründen

TEXT: JENNY V. WIRSCHKY

109 HAMBURGS MUSIKGESCHICHTE Tocotronic

ie machen Indie-Pop-Rock. dem Parolenpunk der Hafenstraße inzwischen Mit wenig Perfektion und ver- schon fremd geworden ist. Sie sind so laissez-­ zerrten Gitarren im Zwielicht faire, wie sie ernst genommen werden müssen der Dogmen von Kultur und und schaffen ein neues Bühnenbild, vor dem sich Gegenkultur. Ihr Anfang, das jeder positionieren und dabei doch endlich wieder ist 1993. Eine Zeit, in der bedeutend fühlen kann. S Hamburg als das Mekka für Zwei Jahre später veröffentlichen Tocotronic Musiker gilt und natürlich ist beim Hamburger Independent-Label L’âge d’Or diese Stadt der Ort, in dem ihr erstes Album Digital ist besser, auf dem sich ­alles beginnt. Vorher hallt der Ruf der norddeut- die drei Bandmitglieder auf selbstironische Weise schen Hafenstadt bis nach Offenburg, an die süd- mit ihrer Vorliebe für E-Gitarren auseinander­ deutsche Grenze bei Straßburg, wo ihn der 22- ­ setzen: Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk bei­ jährige Dirk von Lotzow erhört und endlich die spielsweise ist eine Persiflage auf die Anerken- Abkehr vom Spiegel schafft, den er im beschauli- nung der Band für Nirvana – und ein Abgrenzung chen Heimatstädtchen jeden Tag nach David Bo- vom Status quo der Hamburger Underground- wie befragt, hin zu den Schiffen und den rauen Musikszene,­ die mit derartigen Ami-Bands so gar Sitten. Hin zur Hamburger Uni, an der er Jan nichts am Hut haben wollten, mit dieser Musik Müller und Arne Zank kennenlernt. Für alle drei zwischen Metal und Punkrock und dem soge- steht weniger das Studium, als vielmehr die Mu- nannten Seattle-Sound. Der Hang zur prosai- sik im Zentrum des Interesses und mit ihrem lite- schen Selbstreflexion wird zum Fundament der rarischen Ansatz bringen sie als Tocotronic eine Band. Intellektualität in die Hamburger Musikszene, die Mit Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht

110 deshalb so anziehend, weil ihre Aussagen sich nicht im Wirrwarr gesetzter Trends verlieren, sondern weil sie eine derart professionalisierte Unbeholfenheit an den Tag legen, dass man sich eben nicht als unvollkommener Konsument ihrer vollkommenen Schöpfung erlebt, sondern als vergegenwärtigter Teil ihrer dadaistischen Kunst. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ und deshalb ist „falsch das neue Richtig“. Nach dem ersten Album folgen in den nächs- ten zwei Jahren drei weitere Platten, bis der Band 1999 mit K.O.O.K. der endgültige Durchbruch gelingt. In dieser Atmosphäre wächst die Band zu einem musikalischen Zufluchtsort heran – und zwar nicht nur für ihre Fans, auch für die Kultur­ industrie, die endlich wieder etwas hat, an das sie sich herantasten kann, um ihr schlussendlich ei- MEIN RUIN DAS IST ZUNÄCHST, nen Namen zu geben: Hamburger Schule. Der Begriff surrt zwar bereits seit 1992 durch die Luft ETWAS DAS GEWACHSEN IST. der Journaille, Tocotronic machen ihn aber erst zu WIE EINE WELLE DIE MICH dem, was er meint zu sein: zur Bezeichnung einer Institution. Auf der Bühne sieht man nun keine TRÄGT UND MICH DANN UNTER Trainingsjacken mehr und irgendwie wird alles SICH BEGRÄBT selbstverständlicher und vielleicht sogar melan- cholischer. Schwermütig ist die Stimmung der Aus: Mein Ruin. Von: Kapitulation Musik, schwermütig die Mimik, schwermütig die Präsenz – oder, wenn man so will, das selbst ge- wählte Image, das Tocotronic ironischer, wenn nicht gar sarkastisch etabliert haben. Besonders eindrucksvoll zeigt sich der humorvolle Charakter auf dem K.O.O.K.-Promoplakat, das im Sommer ­bereit provoziert Tocotronic die trockenen Tränen 1999 etliche Fassaden ziert. Es titelt: Volle Power! all derer, die sich mit der Traurigkeit des Status Depressionen! Aberwitzig! Postmodern! Mit die- quo arrangiert haben, weil sie die Hoffnung da­ ser Attitüde stürmen sie die europäischen Bühnen rauf verloren haben, das irgendjemand auf dieser und das ist anstrengend, nach K.O.O.K. kommt Welt für die einfachen Lösungen der Zwischen- erst mal eine Pause. Drei Jahre hört man nichts menschlichkeit empfänglich wäre. Es ist die ba­ von den sonst so produktionswütigen Musikern. nale Alltäglichkeit im Gesagten, dass dem Zusam- Verdächtig viel Zeit. menhang seine Tiefe verleiht, wenn Dirk von Lot- Das Thema Zeit ist es dann tatsächlich, das zow davon singt, ein fremdes Mädchen zum Eis das folgende Weiße Album bestimmt. Wieder ver- einzuladen, „Stracciatella oder Nuss“, weil sie ändert sich der Stil: Der Blick als Motiv häuft sich vielleicht etwas bedrückt „über das sie reden in den Versen, als hätte die Band die Augen geöff- muss“. Die Erzählungen über das gerade Gesche- net und für sich klar gesehen, dass die ersehnte hene, die zu ungewollten Wegweisern für eine Gegenkultur immer auch eine Rückwende zur Herde von gerade Erwachsenen werden. Kultur bedarf, um zu verstehen, wogegen man Und dennoch: In dieser Zeit haben Tocotro- eigentlich ist. Und das ist genau das, was Tocotro- nic neben Touren und Proben mehr noch mit nic damals wie heute von vielen anderen Bands Diskussionen darüber zu tun, wer, was und wie unterscheidet: die Fähigkeit zur Versöhnung mit sie sein wollen. Sie planen ein Image und mit dem dem Zweck der endgültigen Abkehr. Hype um ihre Musik wird auch jener Nimbus po- Wieder drei Jahre später, inzwischen mit Rick pulär, der spätestens jetzt in Form von Trainings- McPhail als weiterem Gitarristen in petto, er- jacken und Seitenscheitel an die Öffentlichkeit scheint Pure Vernunft darf niemals siegen. Produ-

FOTOS: TOCOTRONIC (AUCH S. 108-109) (AUCH TOCOTRONIC FOTOS: tritt. Vielleicht ist die Phänomenologie der Band ziert hat das Album der Berliner Mischmeister u

111 HAMBURGS MUSIKGESCHICHTE Tocotronic

SIE WOLLEN UNS GLAUBEN MACHEN, ES GÄBE WAS ZU LACHEN. SIE WOLLEN GANZ BESTIMMT, DASS WIR GLÜCKLICH SIND

Aus: Sie wollen uns erzählen

Moses Schneider, der Tocotronic ab 2005 eine Annäherung an das Sein in dieser Welt. Damit Klangfarbe auf den Leib schneidert, die die avant- kann nicht jeder umgehen – und vielleicht lesen gardistische, postmoderne Ehrlichkeit der Band einige Musikjournalisten auch einfach die fal- einzurahmen schafft. Postmoderne heißt hier je- schen Bücher. doch nicht Dekonstruktivismus, der mit seinen Was dieser Annäherung folgt, sind Aufrufe Analysen nicht selten vom Anschaulichen nur zum Rückzug. Zum Gegenteil der Selbstoptimie- abstrakte Vorformen übriglässt. Gegen das von rung, die sich Anfang des 21. Jahrhunderts bereits den Musikjournalisten dennoch konstatierte Abs- sozial zu etablieren beginnt. Wir sollen kapitulie- traktum Tocotronic wehrt sich die Band und allen ren, alles absagen, uns gegen uns selbst verschwö- voran Bassist Jan Müller vehement. Dirk von Lot- ren. Fuck it all. Die entgegengesetzte Richtung zow sieht in seinen Texten vielmehr einen prosai- feiern, um uns selbst zu finden. Das Spektrum schen Zugang zur Welt, damals. Heute einen lyri- auf dem Album Kapitulation ist ein Motivgemen-

schen. Und das ist es: Die Songs sind eine lyrische ge von Verrat und Treue. Und es bereitet uns vor TOCOTRONIC FOTO:

112 auf die Retrospektive von Schall & Wahn, dem Form autobiografischer Hinwendung beschreibt neunten Album der Band, das 2010 erscheint und Dirk von Lotzow sein Leben von A bis Z, dekliniert mit den Songs Im Zweifel für den Zweifel und Mach den Wandel durch und lässt uns teilhaben – nicht es nicht selbst ein für alle Mal klarstellt, dass ein an seiner Geschichte, sondern auch den intimen „Willen wie aus Wachs“ dem krampfhaften Fest- Details einer Band. Wieder hat Moses Schneider halten an Idealen vorzuziehen ist. Wachs lässt sich seine Finger im Spiel, der die sehr persönliche nämlich formen und der Wille muss formbar Nuancierung unterstützt – genau wie alle Band- bleiben unter den Blicken der Selbstbeobachtung. kollegen. Im Mittelstück des Albums, dem Song Drei Alben weiter sind wir im Hier und Jetzt 1993, besingt von Lotzow die Gründung der Band, und in der Unendlichkeit angekommen. So heißt der eine Verbannung des Selbst in der Diaspora das 2018 erschienene Album und es beweist, dass vorauszugehen hatte. Ein großes Wort. Ein leid- die große Klammer der Tocotronischen Diskro- voller Begriff. In dieser intellektuellen Übertrei- grafie tatsächlich jene Selbstbeobachtung ist. In bung liegt vielleicht das ganze Sein der Band. u

113 HAMBURGS MUSIKGESCHICHTE Tocotronic

UNENDLICHE WEITEN Es sollte ein lustvoller Schlagabtausch über die Nuancen der Kunst im sonnigen Berlin-Friedrichshain werden: Ein Gespräch mit Dirk von Lotzow und Jan Müller über den musikalischen Kosmos von Tocotronic – das feierliche Zurücklassen, ein selbstironisches Reflektieren und: immer wieder das Neuerfinden des Status quo

INTERVIEW: JENNY V. WIRSCHKY

Es gibt auf dem neuen Album ein Stück über den Anfang sucht, uns vom Punk zu lösen, mein Jurastudium habe ich auch eurer Band. Darin findet sich die Zeile: „1993 war das Jahr nicht so hundertprozentig ernst genommen, genau wie Dirk. Als in dem ich dich zurückgelassen hab, in der der Diaspora“. wir uns kennengelernt haben, gab es quasi sofort die Band. Diaspora ist ein großes Wort – was bedeutet es für dich, Dirk: Aber Jan, sag mal, als ich nach Hamburg kam und mit Dirk, einen Teil von dir zerstreut in der Fremde gelassen zu dir Jura angefangen habe, da hatte ich ja schon mehrere Stu- haben? diengänge abgebrochen, wir waren aber gleich alt. Zivil- Dirk: Die Platte Die Unendlichkeit ist meine Biografie, im dienst haben wir auch beide … Hast du vor dem Jurastudium Zusammenspiel mit der Band. Der Song handelt tatsächlich auch schon was anderes gemacht? Das hab ich dich nie ge- davon, dass ich 1993 nach Hamburg gekommen bin. Diaspo- fragt … ra kommt aber erst mal nur durch den Reim zustande und Jan: Ich habe eine Klasse wiederholt – freiwillig möchte ich eigentlich ist es ein viel zu großes Wort, denn sagen will ich hier betonen! Freiwillig bin ich von der 12. in die 11. Klasse „Provinz“. Aber in der Übertreibung liegt schließlich auch zurückgegangen. Den Zivildienst hab ich mir günstig gelegt die Kunst … und hatte dann Zeit, vor dem Studium noch ein bisschen rumzugammeln … … oder die Wahrheit. Dirk: Ah so … in der Zeit habe ich dann Kunstgeschichte, Dirk: Oder die Wahrheit, ja. Ethnologie und Germanistik abgebrochen …

Hast du noch Verbindungen zu dieser Vergangenheit? Weil dir die Fächer nicht zusagten, oder weil du dich im Dirk: Ich komme aus Offenburg. Das liegt quasi gegenüber Studium allgemein nicht zurechtgefunden hast? von Straßburg am Fuße des Schwarzwaldes und ich habe Dirk: Es war insgesamt desorientierend. Und ich glaube, das noch Kontakt dorthin, weil meine Eltern dort leben. Wenn geht vielen Menschen unserer Generation so, in diesem ich sie besuche, ist mir das alles auch sehr vertraut. westdeutschen Universitätssystem. Vielleicht ist es zu viel Wahlfreiheit … Jan, was bedeutet das für dich? Die Zeit, die Gründung der Band – vielleicht sogar der Begriff Diaspora? Warum hast du dann in Hamburg trotzdem wieder ange- Jan: Als Dirk mir den Text präsentierte, empfand ich diese fangen zu studieren? Übertreibung als sehr witzig. Sich so zu überhöhen … Es ist Dirk: Na ja, ich wollte nach Hamburg, weil das die interes- vordergründig lustig mit einem tragischen Kern. Das mag santeste Musikstadt zu der Zeit war. Ich wollte zwar Musik ich sehr an Dirks Texten. Was die Bandgründung betrifft, die machen, aber konnte ja nicht gleich davon ausgehen, dass war ein großer Wendepunkt in meinem Leben. ich wirklich erfolgreicher Musiker werde. Irgendwas musste ich bis dahin also machen. Als Legitimation. Ich brauchte Inwiefern? schließlich eine Rechtfertigung meinen Eltern gegenüber. In Jan: Ich war, wie Dirk, damals ziemlich orientierungslos. Musika- diesem bürgerlichen Background wäre das anders nicht lisch haben ich und unser Schlagzeuger Arne damals gerade ver- möglich gewesen.

114 Jan: Es gab damals auch noch gar nicht diese ganzen mich in eine Popwelt rein- Popakademien. Und da wä- geträumt, hatte einen „so- ren wir auch nicht die Rich- phisticated Geschmack“ tigen gewesen, dafür hatten und las hauptsächlich Mu- wir viel zu viele Selbstzwei- sikzeitschriften. fel. Und ich fand Jura tat- sächlich irgendwie interes- Eure Musik bezieht sich ja sant, es war auch ein beson- auch vor allem auf das In- derer Fachbereich, Jura 2, nenleben, das zwischen der ein bisschen linker ori- Zerrissenheit und Authen- entiert war. Die linken Karri- ES GEHT DARUM, DASS tizität oszilliert. Eine Kritik eristen waren mir dann aber MAN HALTUNG ZEIGT, OHNE, der Gesellschaft findet da auch suspekt. Ich glaube, eher verklausuliert und am jede Form von Strebsamkeit DASS DIE TEXTE SICH Rande statt. Trotzdem en- hat ihn mir eine gewisse IN PAROLEN ERSCHÖPFEN gagiert ihr euch politisch Form der Skepsis erwachen bei Pro Asyl, seid im Bünd- lassen. nis gegen Antisemitismus Dirk: Aber wir haben uns aktiv. Warum spielen diese dort kennengelernt. Als ich Themen in eurer Musik völlig desorientiert durch die Orientierungswoche gelaufen eine untergeordnete Rolle? bin. Beide lange, wuschelige Haare, Trainingsjacken – na ja. Dirk: Weil das die Kunst total banalisiert und nur schreckli- Wir haben uns halt gefunden. che Lieder dabei rauskommen können. Das Politische beein- flusst die eigene ästhetische Theorie der man nachhängt, Zu dieser „jugendlichen Radikalität“ von damals gesellt aber dennoch, auch, wenn man nicht weiß, was genau diese sich im Laufe der Zeit eine „erwachsene Nachsicht“ – wie Theorie ist. Das politische Lied als solches jedoch, das inte­ habt ihr diese Entwicklung bei euch wahrgenommen? ressiert mich in den allermeisten Fällen einfach nicht. Jan: Ich wollte immer raus aus der Radikalität. Als Kind bin Jan: Genau das kam Arne und mir ganz recht, weil wir das im ich, ohne die Hintergründe wirklich zu kennen, in die Punk schon alles durchlebt hatten, in dem sich beinahe alles Punkszene geraten und die Zeit war sehr intensiv. Ich habe in Parolen erschöpft. Gegen die Polizei, gegen den Staat – das nun nicht im Bauwagen gewohnt, aber ich war viel auf De- ist alles sehr flach. Ich habe früher zum Beispiel auch viel mos und Konzerten im Störtebeker in der Hafenstraße. Die Ton Steine Scherben gehört und ich fand sie viel interessan- Szene war damals ziemlich von Gewalt geprägt, auch wenn ter, als die Texte persönlicher wurden. Es geht doch darum, es in der Szene kein direktes Bekenntnis dazu gab. Das wi- dass man Haltung zeigt mit dem, was man macht, ohne, dass derstrebte mir sehr. Auch diese ganzen anti-israelischen Pa- die Texte sich in Parolen erschöpfen. rolen und das Sympathisieren mit der RAF. Ich fand das Dirk: Das ist es, glaub ich, das ist das Stichwort. furchtbar und wollte da weg. Als wir Dirk kennengelernt haben, sind wir dann plötzlich in ganz andere Läden gegan- In welcher Lebenswelt hat sich die Band dann etabliert gen, weil er eher aus der Popszene kam. Das war toll und und inwiefern hatte das auch mit Abgrenzung von dieser eben auf eine viel fantasievollere Art radikal. Welt zu tun?

FOTO: TOCOTRONIC FOTO: Dirk: Ich hatte mit Politik gar nicht so viel zu tun. Ich hatte Dirk: Das war schon im subkulturellen Raum, in dem u

115 HAMBURGS MUSIKGESCHICHTE Tocotronic

Konzerte noch in den Kneipen stattgefunden haben. Und Jan: Oder das Techno-Label Underground Resistance. Das noch bevor wir unsere ersten Auftritte hatten, waren wir damit musste also nicht einmal in unserem musikalischen Bereich beschäftigt, uns ein Image zu entwerfen: Eine Technik, die sein, es hat uns einfach wahnsinnig fasziniert, wenn Bands eher vom Pop kommt, auf eine Musik anzuwenden, die eher und Projekte einen derartigen Überbau hatten. Grunge-Rock ist. Wir haben das also eher ironisch betrachtet. Jan: Wir wollten auch ein bisschen damit spielen und provo- Ihr habt also viel geredet über das, was ihr sein wollt? zieren. Die Musikszene in Hamburg war damals bis in den Dirk: Jeden Tag. Stundenlang haben wir uns unterhalten. Golden Pudel Club hinein von der Mod-Kultur geprägt. Es Jan: Also das Musizieren war auch ein wichtiger Teil davon, ging immer darum, sich abzugrenzen, in dem man das ge- aber der kleinere. Ich weiß noch, als Rick in die Band kam, hat schmacklich Richtige tut. Das war in gewisser Weise autori- er sich immer gewundert, dass wir doch sehr viel reden und tär und ich empfand das immer als sehr eng. wenig spielen. Irgendwann hat er sich dem dann ergeben …

Ihr habt also in dieser Pop-Subkultur-Szene versucht, ein Könnte man sagen, dass der subversive Anspruch auch Image zu finden. Das bedeutet, ihr habt schonungslos auf war, eine eigene, vielleicht ironische Jugendbewegung zu das reflektiert, was ihr sein wollt … schaffen? Dirk: Ja, spielerisch und mit sehr viel Humor. Wir sind ja Jan: Ich glaube, so groß haben wir wiederum nicht gedacht. auch unbewusst von der Postmoderne geprägt, in der es Es hat uns schon gereicht, irgendwie irgendwas zu veröffent- schon sehr viele musikalische Ansätze gibt, die genau das lichen und vielleicht damit zu verstören, wie die Platte aufge- schon reflektiert haben. Bands, die sich als eine Art Firma nommen ist. präsentiert haben, wie zum Beispiel die HipHop-Band Public Dirk: Das wäre ein bisschen größenwahnsinnig gewesen Enemy als Seitenarm der Black Panthers. und dafür war das alles auch zu schrullig und privatistisch.

116 Anfangs kam, vielleicht deshalb, manchmal der Vorwurf von haben dann ja sehr schnell sehr viele Alben hintereinander Privatsprache auf. Wie eine eigene Sprache, über die man rausgebracht, weil wir dachten, es wäre interessant, die eigene sich gefreut hat, weil man sie gefunden hat. Wie ein Code. Position immer wieder aufs Neue darzustellen, teilweise zu re- Die Außenwirkung kam dann ja erst 1995 mit der ersten vidieren und sich selber unter einer dauernden Beobachtung zu Platte und den ersten Kritiken in der „Spex“ und so weiter. halten. Also du hast schon recht, es ging auch darum, die Sub- sumierung unter das Label zu reflektieren. Musik über das Und dann sind auf einmal sehr viele junge Menschen mit Musikmachen zu machen, das fanden wir immer schon inte­ Trainingsjacken und Seitenscheitel rumgelaufen … ressant. Und ja, die Szene hatte etwas durchaus Elitäres, nach Dirk: Ja, das ging dann ziemlich schnell und war wie ein den Kriterien von Einschluss und Ausschluss wie in bestimm- Hype. Zeitlich parallel mit dem Britpop-Hype in den frühen ten Kunstszenen auch. Wer darf rein, wer ist nicht mehr so 90ern mit Oasis und Blur. Die wurden ziemlich bewusst gerne gesehen … Das sind Dynamiken, die einfach passieren. produziert von der Musikbranche und das schwappte dann eben rüber nach Hamburg, die ja schon immer eine sehr Ihr gehörtet und gehört dazu, dennoch wabert in Bezug auf anglophile Stadt war. eure Band der Begriff der „selbst gewählten Einsamkeit“ ­ Jan: Vielleicht gab es für die Leute, die uns hörten, mehr in der Luft. Wenn man sich den Song „Freiburg“ anhört, Gelegenheit, etwas davon für sich zu beanspruchen: keine kommt schnell die Frage auf, welche Rolle diese Einsamkeit Mod-Codes, keine Anzüge – es war alles ein bisschen jugend- auch für eure Selbstfindung als Musiker gespielt hat. licher. Und die Songs haben viele bewegt. Der Pop war da- Dirk: Das ist ein misanthropischer Aspekt und da kommt mals englischsprachig geprägt, so dass es beinahe als uncool jemand wie Thomas Bernhard ins Spiel, weil das ein Schrift- galt, deutsch zu singen. steller war, der mich vor allem in meiner späteren Jugend Dirk: Außer in diesem Hamburg-Mikrokosmos, den man so wahnsinnig fasziniert hat. Sprachlich und von der Radikalität als Hamburger Schule benennt natürlich … der Aussagen her und genau darum geht es ja: dass man sich Dieser Stempel kam irgendwann durch eine „taz“-redaktio- abgrenzt. Bei ihm war es nun noch eine andere Lebenswelt, nelle Zuschreibung zustande. das nicht entnazifizierte Österreich, in dem man sich einsam und unverstanden fühlt zwischen den beiden Polen Katholi- Wie war das damals für euch, unter so einem Schlagwort zismus und Nationalsozialismus. Wir haben versucht, das subsumiert zu werden? auf die eigene Wirklichkeit zu übertragen, die natürlich ganz Dirk: Wir waren ja bei dem Label, das eigentlich das Haupt- anders war. Vielleicht kommt der Begriff daher. label dieser Richtung war und dieses Etikett auch ein biss- Jan: Mir war das wahnsinnig recht. Ich habe Thomas Bern- chen für sich beansprucht hatte. Für mich, der von außen hard über Dirk kennengelernt und verschlungen. Alte Meister kam, war das beinahe schon eine Ehre. Hamburg war eine ist umwerfend. Diese Wucht von Thomas Bernhard hat Dirk Stadt, die sehr reflektiert war, was die Poptechniken anbe- versucht, in die Musik zu übertragen, zum Beispiel in langt. Es gab ein großes Wissen und viele Plattenläden in denen man sich darüber ausgetauscht hat. Es war nur so, dass die Frage nach der Hamburger Schule immer wieder aufkam und beim hundertsten Mal hat es dann genervt, wie das bei allen Dingen so ist. Jan: Ich sehe das auch ambivalent. Einerseits hat mich das mit einem unheimlichen Stolz erfüllt, dass man als Band mit eingeschränkten Möglichkeiten ein Teil so einer Szene war. Auf der anderen Seite war man damals noch so narzis- stisch, dass man dachte: Das ist doch unsere Band. Die kann man doch nicht irgendwo einsortieren. Das Problem mit den Schubladen hat wahrscheinlich jeder Künstler.

Im Song „Ich bin neu in der Hamburger Schule“ singt ihr davon, dass das eine Elite-Schule ist, auf der ihr niemals einen Abschluss machen werdet. Ist sie also etwas, in das DIE SZENE HATTE nicht jeder reinkommt und die, die drin sind, nicht mehr rauskommen? ETWAS ELITÄRES NACH Dirk: Es ist nicht das aller gelungenste Lied. Aber es war der KRITERIEN EINSCHLUSS Versuch, nachdem wir das erste Album gemacht haben, uns

FOTO: TOCOTRONIC FOTO: wieder zu reflektieren und Statusmeldungen zu geben. Wir UND AUSSCHLUSS

117 HAMBURGS MUSIKGESCHICHTE Tocotronic

WIR SETZEN UNS ALS BAND IMMER WIEDER NEUE THEMEN

­F­reiburg, was für mich zu sehr radikalen Songs geführt hat Dirk: Wir sind schon länger befreundet und haben uns über – und was auch eine Sackgasse hätte sein können. Irgend- Konzerte kennengelernt. Ich schätze sie sehr, aber ich finde wann ist man dann doch erfolgreich und dann fühlt man nicht, dass unsere Band und ihre Musik so wahnsinnig viele sich eben gar nicht mehr so. Deshalb bin ich sehr glücklich Überschneidungspunkte haben. Das ist eine interessante über unsere Entwicklung, dass dieses nicht das einzige The- Theorie. ma der Band geblieben ist. Abstrakte Texte, im Refrain wird es sehr konkret im Sinne Wenn man sich diese Entwicklung anschaut, fällt auf, dass einer Innenwelt, die man der Außenwelt schildert, eine so etwas wie eine adoleszente Selbstanalyse sich durch unfassbare Interpretationsfläche, fast ein philosophischer eure gesamte Diskografie zieht. Ist dieses Thema etwas Kosmos – ich finde die Theorie der Vergleichbarkeit recht Substanzielles für Tocotronic? handfest … Dirk: Beim letzten Album ist das so, weil es autobiografisch Dirk: Sophie, so wie ich sie kenne, ist sehr interessiert an Li- ist. Im Moment, als das Album entstand, also 2016/2017, da teratur und an philosophischen Texten. Und das kann Men- hat uns dieses autofiktionale Schreiben sehr interessiert. Wir schen, die Texte schreiben, nicht schaden. Vielleicht kommt setzen uns aber eigentlich immer neue Themen. daher die Gemeinsamkeit. Jan: Das letzte Album geht auch so weit zurück wie kein an- Jan: Ich habe Dirks Texte nie als sonderlich abstrakt empfun- deres, bis in die frühe Kindheit. Bis zum Album Es ist egal, den. Vielleicht sehe ich diese Lücken aber auch einfach nicht. aber würde ich dir auch recht geben, dass der Rückblick da Es gab ja früher auch mal der Vorwurf von einer gewissen ist, aber ab K.O.O.K. haben wir damit dann eigentlich gebro- Art von Musikjournalisten, wir wären zu unverständlich. chen, weil wir gemerkt haben, dass die Geschichte da aus­ Dirk: Das liegt aber auch an unserer Entwicklung vom ersten erzählt ist. Album zu K.O.O.K. zum „weißen Album“, was vielleicht die meisten theoretischen Texte über Wahrnehmungen, Phäno- Wie habt ihr den Stil weiterentwickelt. menologie und Blicke – ein Wort, das damals en vogue war. Dirk: Genau so, in dem wir uns von Album zu Album neue Das Blick-Regime. Das stand schon im Kontrast zu dem, was Themen gesucht haben. Für mich hat beim Songschreiben man fünf Jahre vorher gemacht hat. Aber es war eine Ent- später dann die Beschäftigung mit theoretischen Texten ei- wicklung, die wichtig war. nen größeren Platz eingenommen. Mehr als zu Anfang.

Das ist interessant mit Blick auf dieses Oszillieren zwischen sehr konkreten Textbestandteilen und ziemlich JENNY V. WIRSCHKY abstrakten. Und vor allem mit Blick auf die spezifischen Chefredakteurin, Sozialwissenschaftlerin Auslassungen in euren Texten erinnert das an andere Schwerpunkte: Kultur- und Kunstgeschichte, Literatur Vertreter der Hamburger Schule, aber auch an die und Bildungswesen Zuletzt besuchte Ausstellung: Underground Archi- Schweizer Sängerin Sophie Hunger. Wie kam die tecture Berliner U-Bahnhöfe 1953-1994, Berlinische

Bekanntschaft zustande? Galerie, Museum für Moderne Kunst TOCOTRONIC FOTOS:

118 119

VON SPEICHERN UND FLEETEN Hier im roten Backsteingebäude am Sandtorkai 36, im Hochparterre des Speicherblocks L von 1888, präsentiert das Speicherstadtmuseum die bewegte Vergangenheit des weltweit größten zusammenhängenden Lagerkomplexes

TEXT: JAN VAHLENKAMP

121 EINBLICKE INS MUSEUM Speicherstadt Museum

122 EINBLICKE INS MUSEUM Speicherstadtmuseum

Eine Stauerplatte, ervorgegangen ist das Speicher­ die als Vorläufer Hausbesitzer. Alfred Lichtwark, der stadtmuseum aus der Sonder­ der heute üblichen erste Direktor der Hamburger Kunst­ ausstellung „Speicherstadt – Palette gilt. Soge­ halle, prägt zu dieser Zeit das Bonmot nannte Griepen, Baudenkmal und Arbeitsort seit die zum Greifen von der „Freien und Abrissstadt Ham­ 100 Jahren“, die das Museum der der Packstücke burg“, das auch heute noch oft Anwen­ H benutzt wurden und Arbeit zum 100. Jubiläum des dung findet. Probenstecher, die Lagerhausviertels 1988 und die Quartiersleute dann noch einmal ein Jahr später auf zwei Lagerböden am zum Bemustern der Säcke einsetzten, St. Annenufer zeigte. Diese bildete vor allem die Arbeits­ werden auch im DIE POLITIK DER ZERSTÖRUNG weisen in der Speicherstadt ab. Als Henning Rademacher die Museum gezeigt Der Museumsbesucher erfährt, dass Ausstellung 1995 für die privat betriebene Außenstelle des der Grund für den Abriss politischer Museums der Arbeit übernahm, musste er erst einmal – Natur ist. Zur Zeit des Heiligen Römi­ wortwörtlich – aufräumen, da sich im Laufe der Zeit nie­ schen Reiches deutscher Nation und mand mehr um den Zustand der Ausstellung gekümmert auch danach ist Hamburg eine Freie hatte. Aber auch inhaltlich wurde sie schrittweise neu struk­ Reichsstadt – sie untersteht direkt dem turiert – im Rahmen der knappen Mittel. Kaiser, ansonsten ist sie politisch auto­ Die aktuelle Ausstellung im Speicherstadtmuseum nom, denn kein Landesherr hat in zeigt, wie das Viertel geplant und gebaut wurde und welche Hamburg etwas zu sagen. Ein Um­ Rolle es für den Hamburger Außenhandelt spielte. Zudem stand, der auch heute noch sichtbar ist: wird die Vorgeschichte, der Zollanschlussvertrag 1881, der Hamburg ist als Stadtstaat ein eigen­ zum Bau des Lagerhausviertels führte, thematisiert. Auch ständiges Bundesland. Als am 1. Januar ein begleitendes Programm wurde ins Leben gerufen wie öf­ 1871 das Deutsche Reich gegründet fentliche Führungen und die beliebten Familienführungen wird, wird die Stadt Teil eines National­ „Speicherstadt – Die Entdeckertour für Kinder“. Rund 8.000 staates – Hamburg ist von da an aufge­ Schüler und Auszubildende werden jedes Jahr von den Mit­ fordert, sich den deutschen Warenzöl­ arbeitern durch das Museum und die Speicherstadt geführt. len anzupassen. Zwar hat der Deutsche In dem ehemaligen Kontor führen kleine und große Zollverein bereits im Vorfeld einen Ausstellungsobjekte, Fotografien und Texttafeln die Besu­ Binnenmarkt der deutschen Teilstaa­ cher in die mehr als 130 Jahre alte Geschichte des Quartiers. ten geschaffen und so die Reichsgrün­ Zu Beginn steht der Abriss: Die Elbinseln Kehrwieder und dung vorbereitet, doch Hamburg ist Wandrahm, auf denen die Speicherstadt heute steht, sind vor diesem Verein nie beigetreten. Die ers­ deren Erbauung keineswegs unbewohnt. Rund 16.000 Men­ ten 17 Jahre nach der Reichsgründung schen leben in den 1880er-Jahren hier. Reiche Kaufleute re­ bleibt Hamburg Zollausland, denn die sidieren in Barock- und Renaissance-Häusern auf dem Hamburger Kaufmannschaft befürch­ Wand­rahm, auch wenn zu dem Zeitpunkt ihr Umzug in die tet Umsatzeinbußen, wenn sie die neuen Villenviertel bereits im Gange ist. Hafen- und Werft­ deutschen Zollgesetze anwendet. Nach arbeiter sowie Handwerker, Gastwirte und Ladenbesitzer langen Verhandlungen zwischen wohnen in Fachwerkhäusern aus dem 16. und 17. Jahrhun­ Reichsregierung und Hamburger Se­ dert, die in engen Gängevierteln auf dem Kehrwieder stehen. nat einigen sie sich 1881 im Zollan­ Diese Gebäude auf den Brookinseln, wie diese Gegend da­ schlussvertrag darauf, dass die Stadt bis mals genannt wird, macht die Stadt ab 1883 dem Erdboden 1888 an das deutsche Zollgebiet ange­ gleich. Neben den 16.000 Bewohnern der Brookinseln müs­ schlossen wird. Im Gegenzug soll ein sen zudem 2.400 vom Nordufer des Zollkanals und 6.000 Freihafen geschaffen werden, in dem aus Steinwerder umsiedeln – ohne Hilfe vom Staat müssen Kaufleute Importgüter weiterhin zollf­

FOTOS: FRITS PALMER (VORHERIGE DOPPELSEITE) (VORHERIGE PALMER FRITS FOTOS: sie eine neue Bleibe finden, entschädigt werden nur die rei einführen, lagern und veredeln u

123 EINBLICKE INS MUSEUM Speicherstadtmuseum

Speicherhaus, das den Kaufleuten auch als Wohnhaus dient, passé, Relikte sind heute noch in der Deichstraße zu sehen. Ab 1885 entsteht schließlich die Speicherstadt, gegliedert in drei Bauabschnitten von Westen nach Osten. Die aus Silber gefertigte Maurerkelle und der Pollerhammer aus Elfenbein, mit denen Kaiser Wilhelm II. am 29. Oktober 1888 die feier­ liche Schlusssteinlegung zur Eröffnung des neuen Freiha­ Gegen gelegent­ fens vollzieht, sind als Leihgab­ en des Hamburger Rathauses lich auftretende im Speicherstadtmuseum ausgestellt. Bis zum Jahr 1897 ist Hochwasser, da die die Speicherstadt der zweite Bauabschnitt vollendet, ab 1899 beginnt der letzte südlich der am Abschnitt der Speicherstadt, der aber erst im Jahr 1927 fertig­ Zollkanal verlau­ dürfen. Die Brookinseln bilden damals fenden Hamburger gestellt wird, bedingt durch den Ersten Weltkrieg und die In­ jenen Teil des Freihafens, der der In­ Hauptdeichlinie flation. Ein vierter Bauabschnitt ist zwar geplant, wird aber nenstadt mit ihren Kaufmannskonto­ liegt, ist das nie realisiert. Museum mit einem ren am nächsten gelegen ist. Hier sol­ eigenen Flutschutz­ Als Schöpfer der Speicherstadt gilt Franz Andreas len nun Lagerhäuser entstehen – aller­ gitter ausgerüstet Meyer, der damalige Oberingenieur der Baudeputation der dings nicht nur einfache Lagerhallen, städtischen Baubehörde. Texttafeln im Museum berichten, sondern eine neugotische Kathedrale dass er in dieser Funktion aber nur für die Gebäude, die von des Handels, finanziert aus 40 Millio­ der Stadt finanziert werden, zuständig ist: Brücken, techni­ nen Goldmark, die die Stadt Hamburg sche Betriebsgebäude und die beiden Staatsspeicher am vom Deutschen Reich als Gegenleis­ Kehrwieder und am Sandtorkai. Er fungiert jedoch auch als tung zum Zollbeitritt erhält. Berater der Hamburger Freihafen-Lagerhaus-Gesellschaft (HFLG), die mit der Realisierung der Speicherstadt beauf­ tragt wird. Der größte Teil, der in den ersten Jahren errich­ SCHÖPFUNG EINER STADT teten Speicher, plant der Architekten Georg Thielen – auf ihn Am 1. November 1883 beginnen die Ab­ geht die Einheitlichkeit der roten Backsteinfassaden zurück. brucharbeiten mit der Spitzhacke am Auch im Grundriss unterscheiden sich die Speicherblöcke Kehrwieder und auch auf dem gegen­ nicht allzu sehr: Die Kontore beherbergen ein bis zwei So­ überliegenden Ufer der Altstadt fallen ckelgeschosse mit großen Fenstern, darüber liegen drei bis die ersten Häuser, denn die Stadt baut fünf Lagerböden mit kleineren Fenstern – ein Modell im das Dovenfleet und das Mührenfleet Speicherstadtmuseum verdeutlicht die typische Nutzung der zum Zollkanal aus, der bald die Spei­ Speicher. Hier erfährt der Besucher auch, dass die Speicher cherstadt nach Norden hin begrenzen des ersten Bauabschnitts noch nicht über Notausgänge ver­ wird. Es ist eine Zeit der Neuerungen, fügen und deshalb bei den späteren Bauten Wendeltreppen in der auch der Hafen kräftig nach Sü­ eingebaut werden, untergebracht in turmartigen Erkern. den erweitert und erstmals eine Stra­ Thielen ist ein Vertreter der Hannoverschen Schule, die sich ßenbrücke über die Norderelbe gebaut der Neugotik verschrieben hat. Unweigerlich erinnern die wird: die Neue Elbbrücke, die heute die Erker und Giebel der Speicherstadt an die norddeutsche Veddel mit der verbindet – Backsteingotik. Auch sind maßgeblich am Bau der Speicher­ vorher war die Überquerung nur über anlagen die Privatarchitekten Bernhard Georg Hanssen und eine Eisenbahnbrücke und mit Fähren Wilhelm Emil Meerwein sowie Gustav Schrader beteiligt, die möglich. Das Entscheidende aber ist hauptsächlich die Fassaden gestalten. Die Hauptarbeit leistet der Bau von neuen, großen Speicher­ bis 1888 aber das Technische Büro der HFLG, das 15 Ingeni­ anlagen. Damit ist das traditionelle eure, 24 Architekten und 23 Bauaufseher umfasst. u

124 EINBLICKE INS MUSEUM Speicherstadt Museum

Die neu errichtete Speicherstadt am Sandtorkai im Ein­ weihungsjahr 1888 mit Blick Richtung Innenstadt. Links unterhalb der St. Katharinen­ kirche befindet sich heute das Speicher­ stadtmuseum FOTOS: FRITS PALMER, STAATSARCHIV 720-1 126-2 = 1_11A_BLATT03 LMZ-36245 = 1_11A_BLATT03 126-2 720-1 STAATSARCHIV PALMER, FRITS FOTOS:

125 Bereits am 8. Juli 1908 wird das Patent „Kaffeefilter mit auf der Unter­ seite gewölbtem und mit Vertiefung versehenem Boden sowie schräg gerichteten Durch­ flußlöchern“ für den Porzellanfilter angemeldet

126 EINBLICKE INS MUSEUM Speicherstadtmuseum

leuchtet ist – in den 1880er-Jahren sind sonst fast überall noch Petroleum- und Gaslampen üblich. Der Gütertransport hingegen ist lange Zeit noch in archaischer Betriebsamkeit „gefangen“. Sämtliche Speicher haben an einer Seite einen Zugang zur Straße und an der anderen zu einem der Kanäle, um die Güter von den Schiffen direkt in die Gebäude zu ver­ laden. Und das ist im 19. Jahrhundert gar nicht so einfach, denn in der gesamten Speicherstadt gibt es damals wie heute kaum Lastenaufzüge. Alle Güter werden an der Außenseite mithilfe von Winden an den Fassaden hochgezogen und dann über die sogenannten Luken in die Speicher befördert und vice versa. Der Antrieb der Winden erfolgt hydraulisch, das heißt mithilfe von Druckwasser aus einer zentralen Pumpstation. Im Kesselhaus wurde die Dampfenergie für den Antrieb der Pumpen in der daneben liegenden Maschi­ nenzentralstation erzeugt, die das Druckwasser dann über ein 14,5 Kilometer langes Leitungsnetz auf alle Speicher ver­ teilten. Erst beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Welt­ krieg wurden die Winden auf Elektromotoren umgerüstet. Es sind kleine Lastkähne, die Schuten, die das Stückgut von den im Hafen liegenden Frachtschiffen in die Speicher­ stadt transportieren. Da eine Schute keinen eigenen Antrieb hat, muss sie in flachen Gewässern mit einem Bootshaken angeschoben werden. Ein solcher „Peekhaken“ ist heute im Speicherstadtmuseum ausgestellt. Der „Kapitän“ einer sol­ chen Schute nennt sich Ewerführer, obwohl ein Ewer eigent­ lich ein anderer Bootstyp ist. Von den Schauerleuten, die die Ladung löschen, übernimmt der Ewerführer die Fracht und bringt sie zu den Speichern. Auch die Versorgung der Damp­ MECHANISCHE PERFEKTION fer mit Kohlen erledigen die Ewerführer mit ihren Schuten. Im Museum erfährt der Besucher, dass Um die Sicherheit des Zollverschlusses zu gewährleisten, die Speicherstadt bis heute auf zwölf dürfen sie ihre Boote nur von Samstagabend bis Montagfrüh Meter hohen Holzpfählen, von Dampf­ verlassen. Um das zu gewährleisten, verlegen sie ihren rammen in den Boden getrieben, steht. Wohnbereich kurzerhand auf ihre Kähne. Ein Opfer mit Die ersten Speicherblöcke werden Prestige, denn die harte Arbeit des Ewerführers war lange noch mit genieteten Trägern und Stüt­ Zeit der einzige Lehrberuf im Hamburger Hafen. zen aus Schmiedeeisen errichtet. Als In der Speicherstadt kümmern sich die Quartiersleute 1891 ein Speicher ausbrennt, knicken um die Ladung. Sie sind die eigentlichen Herren des Lager­ die Eisenstützen ein – danach verwen­ hausviertels. Sie lagern hier Kaffee, Tee, Kakao, Gewürze, Ta­ den die Bauherren Innenskelette aus bak, Kautschuk oder andere hochwertige Importgüter für die Holz. Später wird wieder Eisen einge­ Hamburger Kaufleute, sie bemustern und veredeln, das setzt, allerdings mit Korkstein oder Be­ heißt reinigen, sortieren und mischen – ab dem 17. Jahrhun­ ton isoliert. Dabei wird schon von An­ dert ist ihre Existenz in Hamburg vermerkt. fang an auf Brandschutz geachtet, denn Bis zum Bau der Speicherstadt ziehen sie als Selbststän­ die Speicherstadt ist der erste Gebäude­ dige von Speicher zu Speicher, um für die Eigentümer diese

FOTOS: FRITS PALMER FRITS FOTOS: komplex, der vollständig elektrisch be­ Arbeiten zu erledigen. Eigene Lagerfirmen gründen sie u

127 EINBLICKE INS MUSEUM Speicherstadt Museum

128 EINBLICKE INS MUSEUM Speicherstadtmuseum

Hamburg wird bald zu einem der be­ deutendsten Kaffeehandelsplätze der Welt. Natürlich ist im Speicherstadtmu­ seum das typische Inventar eines Pro­ benzimmers für Kaffee aus den 1930er- bis 1950er-Jahren zu sehen: ein elektri­ scher Probenröster, eine Kaffeemühle, ein Wasserkessel, ein Speikübel sowie Dosen, Tassen und Beutel zum Aufbe­ wahren und Verkosten von Kaffeemus­ tern. Auch die Röstung, Verlesung und Zubereitung von Kaffee erklärt das ­Museum mithilfe vieler Ausstellungs­ stücke. Auch die segensreiche Erfin­ dung des Kaffeefilters durch Melitta Bentz im Jahre 1908 findet Erwähnung. Ein Highlight des Museums ist der Son­ derbriefkasten für Kaffeeproben. Die­ Die klassische Teeverkostung wird ser blaue Postkasten wird um 1900 vom auch heute noch Postamt Freihafen in Betrieb genom­ praktiziert und auch für Besucher des men und ist für den Versand von Roh­ Museums angeboten. kaffeeproben vorgesehen. Diese dürfen teespeicher.de zollfrei verschickt werden, solange sie ein bestimmtes Gewicht nicht über­ schreiten. Sobald der Briefkasten sein maximales Füllgewicht von 30 Kilo­ mit dem Bau der Speicherstadt, und mieten manchmal gan­ gramm erreicht, ertönt ein akustisches ze Speicherblöcke von der HLFG, begnügen sich aber meis­ Signal, dass der Kasten zu leeren ist. tens mit nur relativ wenigen Lagerböden. Das ist „goldener Ein weiteres wichtiges Importgut Mittelstand“ mit zehn bis 20 Mitarbeitern, die übrigens bis für die Speicherstadt ist zu jener Zeit in die 1930er-Jahre hinein ihren Beruf nicht an einer Berufs­ der Tee. Der Museumsbesucher erhält schule erlernen können, sondern nur auf ihre Praxiserfah­ Auskünfte zu Pflanzen, Erntezeiten rung und die Ratschläge erfahrener Kollegen vertrauen müs­ und Verarbeitung. Im Gegensatz zu sen – „Learning by doing“ würde man heute sagen. Viele der Kaffee wird Tee seit jeher genussfertig Gebrauchsgegenstände, die die Quartiersleute zum Wiegen, exportiert. Als echter Tee gelten grüner, Bemustern und Verwalten der Waren benutzen, sind heute weißer oder schwarzer Tee, der aus im Museum ausgestellt. Blättern, Blattknospen und Stielen der Teeplanze Camelia sinensis hergestellt wird. Kräuter- oder Früchtetees werden KAFFEE- UND TEESTADT HAMBURG als Teedrogen bezeichnet. Das Wort Besonders wichtig für Hamburg und die Speicherstadt ist da­ Droge leitet sich vom niederländischen mals die Lagerung und Veredelung von Kaffee. Der Hambur­ Wort droog (trocken) ab, eine Bezeich­ ger Kaufmann Joachim Darboven bringt als einer der ersten nung für getrocknete Pflanzenteile. fertigen Röstkaffee auf den Markt – eine sensationelle Er­ leichterung, denn bis in die 1860er-Jahre muss Rohkaffee zu Hause noch selbst geröstet werden. In die Speicherstadt wird KRIEG, WIEDERAUFBAU, vorrangig Kaffee aus Brasilien importiert, wo gerade Kaffee INNOVATIONEN boomt – eine Phase wirtschaftlichen Aufschwungs und poli­ Kann man Anfang des 20. Jahrhun­ tischer Stabilität – und die Hamburger Kaufleute gute Kon­ derts also von Hamburg als Kaffeestadt takte nach Lateinamerika pflegen. 1887 eröffnet im Block O sprechen, sorgt der Erste Weltkrieg für der Speicherstadt, nach New York und Le Havre, die weltweit eine Unterbrechung des Geschäfts. Da­ dritte Warenterminbörse für Rohkaffee, wo sich Im- und Ex­ nach erschweren Hyperinflation und

FOTOS: FRITS PALMER FRITS FOTOS: portunternehmer, Kaffeemakler und Import-Agenten treffen. Weltwirtschaftskrise die Geschäfte. u

129 130 EINBLICKE INS MUSEUM Speicherstadt Museum

131 EINBLICKE INS MUSEUM Speicherstadtmuseum

nige Gedanke des „Herrenmenschentums“ der Nazis rächt sich später durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges, denen auch über 50 Prozent der Speicherstadt zum Opfer fällt, insbesondere während der „Operation Gomorrha“. Nach dem Krieg werden die Gebäude aber größtenteils origi­ nalgetreu wiederaufgebaut – eine Ausnahme bilden die Blö­ cke ganz im Westen, wo heute das Hanseatic Trade Center steht. An einigen anderen Stellen entstehen Bürogebäude statt Lagerhäuser, die aber an das Erscheinungsbild der Spei­ cherstadt angepasst sind. Das Ende der Speicherstadt als Zentrum von Lagerung und Handel kommt endgültig mit der Einführung der Con­ tainerschifffahrt: Am 31. Mai 1968 legt das erste Container­ schiff am Burchardkai an. Innerhalb kurzer Zeit verdrängt dieser neue Schiffstyp die traditionelle Stückgutfracht, denn Containerschiffe lassen sich viel schneller Be­ und Entladen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Arbeit in den alten Speichern sehr personalintensiv ist, was bei den steigenden Löhnen dazu führt, dass der Betrieb völlig unwirtschaftlich wird. Interessant werden die Speicher von nun an vor allem für Teppichhändler, die Hamburg bis weit in die 1990er­ Jahre zum weltweit führenden Zentrum für den Orienttep­ pich­Handel machen. Auch heute noch spielt der Teppich­ handel eine wichtige Rolle in der Speicherstadt mit rund 70 Unternehmen, doch die große Zeit ist vorbei. Auch Quar­ tiersleute gibt es hier schon rund anderthalb Jahrzehnte nicht mehr. Auch, wenn die Speicherstadt einer wechselhaf­ Drei dieser blauen ten Entwicklung unterlegen war, niemals geriet aus dem Sonderbriefkästen Blickfeld, dass sie ein einzigartiges Baudenkmal ist und dienten in der Speicherstadt dazu, pfleglich behandelt gehört – für die HHLA war dies immer Rohkaff eeproben eine besondere Verpflichtung. Und deshalb konnte der Lager ­ zollfrei zu ver­ senden. Eine Waage hauskomplex 2014 in die „Premium League“ des UNESCO­ im Inneren sorgte Welterbes aufsteigen. Bis dahin war es ein weiter Weg und für die Mengen­ einer Geschichte, die politische und gesellschaftliche Strö­ kontrolle. War das In den 30er­Jahren zeigen sich die ers­ Gesamtgewicht von mungen widerspiegelt. Wer die kennen lernen möchte, ist ten Auswüchse des Nationalsozialis­ 30 Kilo eines Brief­ im Speicherstadtmuseum am richtigen Ort. kastens erreicht, mus, nicht nur mit einer Handelskon­ ertönte ein Signal trolle, sondern auch und vor allem mit und eine Leerung Enteignungen jüdischer Geschäfte und erfolgte JAN VAHLENKAMP Firmen. Während des Dritten Reichs Politikwissenschaftler und freier Autor werden immer mehr Unternehmen Schwerpunkte: Parteien- und Wahlfor- arisiert: In der Speicherstadt betrifft schung, Hexenverfolgung und Naher Osten das acht Unternehmen, deren Besitzer Zuletzt besuchte Ausstellung: Museum und Gedenkstätte Peršmanhof, Juden sind, Kaffeeimporteure, die am Bad Eisenkappel

Sandtorkai ansässig sind. Der wahnsin­ PRIVAT S. 130/131), (AUCH PALMER FRITS FOTOS:

132 Georg Koppmann Preis für Hamburger Stadt- fotografie 2020

Georg Koppmann Preis für Hamburger Stadt- fotografie 2020 Georg Koppmann Preis für Bewerbungen sowie alle Informationen Hamburger zum Fotopreis: ab dem Stadt- 1. Oktober 2019 unter fotografie shmh.de/fotopreis 2020

Stiftung Historische Museen Hamburg, Holstenwall 24, 20355 Hamburg

Mit freundlicher Unterstützung Folgen Sie uns Gestaltung:feldmann & atelier freilinger

SHMH_19_KP_Anz_HHL_OUT.indd 2 10.09.19 09:04 EINBLICKE INS MUSEUM Speicherstadtmuseum

„EIGENTLICH BIN ICH KEIN MUSEUMSMENSCH …“

Museumsleiter Henning Rademacher über seine Entscheidung, das private Speicherstadtmuseum zu gründen

INTERVIEW: JAN VAHLENKAMP

Wie wird man Leiter des Speicher- sie auch vor Ort. Aber mangels finan­ wir thematisieren jetzt auch die Ge­ stadtmuseums? zieller Mittel war die Ausstellung nur schichte der Speicherstadt – also die Indem man zur richtigen Zeit am rich­ noch für angemeldete Besuchergrup­ Planung, den Bau und das ganze Kapi­ tigen Ort ist und niemand anderes pen zugänglich, und keiner fühlte sich tel mit dem Zollanschluss. Und wir das machen will. Aber Scherz beiseite. richtig dafür verantwortlich. Nach ein haben eine Abteilung zum Thema Von Hause aus bin ich kein Museums­ paar Jahren war die Ausstellung Kaffeehandel aufgebaut. Hier gab es mensch, sondern ehemaliger See­ schließlich so verwahrlost, dass eine nämlich 1887 eine der ersten Kaffee­ mann. Ich bin Schiffsoffizier und habe Entscheidung fallen musste: Entweder börsen überhaupt. Und bis 1914 ging das Kapitänspatent. Ab einem gewis­ wir schließen, oder es gibt einen Neu­ jeder vierte Sack Kaffee auf der Welt an sen Punkt war für mich aber Schluss start auf einer ganz anderen organisa­ die Elbe. Das sind Themen, die 1988 mit der Seefahrt. Nach einem Ab­ torischen Basis. Ich habe mich für den noch keine große Rolle gespielt hatten. stecher in den Buchhandel habe ich Neustart entschieden, auch wenn ich schließlich die Hafen- und Schiff­ das volle finanzielle Risiko nun selbst Und was bedeutete der fahrtsgeschichte für mich entdeckt tragen musste. Im Übrigen habe ich Freihafenstatus für das Museum? und da das Museum der Arbeit damals das Museum nicht alleine aufgebaut, Vor allem Quittungen schreiben – für einen Volontär mit maritimer Praxis­ ohne meinen damaligen Lebenspartner jede Tüte Lakritz oder Tee, die wir erfahrung suchte, bin ich schließlich Ralf Lange hätte ich das nicht geschafft. ­verkauft hatten. Wir mussten immer dort gelandet. In dieser Funktion habe nachweisen, dass es sich um Waren ich dann die Ausstellung „Speicher­ Was hat sich in den letzten 24 Jahren aus dem Zollinland handelte. Der Zoll stadt, Baudenkmal und Arbeitsort seit im Museum verändert? war aber so kulant, uns überhaupt Ein­ 100 Jahren“ organisatorisch geleitet, Alles. Als wir aufmachten, war die zelhandel und Gastronomie zu erlau­ die das Museum 1988 zum Jubiläum Speicherstadt noch Freihafengebiet. ben. Sonst hätten wir das Museum der Speicherstadt auf zwei Lagerböden Und hier wurde auch noch gelagert. Da gleich wieder schließen können. Und am St. Annenufer gezeigt hat. haben wir uns manchmal gefragt, wa­ jeden Abend wurden fast alle Brücken rum wir etwas in einem Museum zei­ zur Innenstadt mit Toren verschlos­ Und aus dieser Ausstellung ist gen, was es noch live vor Ort gibt. Aber sen. Manchmal haben uns sogar Leute dann das Speicherstadtmuseum das hörte dann ziemlich schnell auf, angerufen und gefragt, ob sie den hervorgegangen? und von da an hatte das Museum seine ­Reisepass mitbringen müssen, wenn Nicht direkt und auch erst nach län­­- Berechtigung als „Gedächtnis der Spei­ sie uns besuchen wollen. gerer­ Zeit. Wir konnten die Ausstel­­- cherstadt“, wie wir das nennen. Im lung dank der Quartiersmannsfirma Zuge dessen hat sich dann der Charak­ Das Speicherstadtmuseum ist dann ­Eicholtz & Cons., die den Speicher am ter des Museums verändert. Die Spei­ umgezogen, vom St. Annenufer an St. Annenufer gemietet hatte, 1989 cherarbeit steht zwar immer noch im den Sandtorkai.

noch einmal zeigen, und danach blieb Zentrum der Dauerausstellung, aber Wir sind 2011 hier eingezogen. Sehr PALMER FOTO:FRITS

134 zügig von Juli bis November haben wir Museumsleiter Henning Rademacher diese Räume hergerichtet und Mitte November aufgemacht. Das war zum größten Teil selbst finanziert, aber glücklicherweise konnte uns die ­Stiftung Historische Museen Ham­ burg, zu der wir als Außenstelle des Museums der Arbeit seit 2008 Ja, der hat sich durch die Fans der sives Silber mit Elfenbeingriffen. Die gehören, dabei unterstützen. ­Krimi-Lesungen gegründet. Vor Ort sind für Hamburg aber natürlich auch und in der Hafenwirtschaft haben wir historisch von hohem Wert. Wenn Sie Heute kommen hauptsächlich Touris- dagegen kaum Unterstützer gefunden, einen eher ideellen Wert meinen, dann ten hierher, oder? was wohl auch daran liegt, dass sich die würde ich sagen ist es die gesamte Aus­ Hauptsächlich ja. Das merkt man an ganze Szene hier in den 90er-Jahren stellung. Die vielen historischen Fotos der Verteilung der Besucherzahlen – in mehr und mehr aufgelöst hat. Inzwi­ und Dokumente, die wir zur Geschichte der Ferienzeit ist bei uns Hauptsaison. schen ist ja sogar der Kaffeehandel aus der Speicherstadt und zum Außen­ In den Ferien und an vielen Feiertagen, der Speicherstadt abgewandert. Der handel zusammengetragen haben, auch an denen, die wir hier im Norden Verein hat mittlerweile 70 Mitglieder, die Arbeitsgeräte aus den Quartiers­ nicht kennen, wie Fronleichnam oder und was die bewirken, ist phänomenal. mannsbetrieben, die Geschichten, Mariä Himmelfahrt, spüren wir eine Im Moment lassen wir gerade ein die diese Objekte erzählen. Überhaupt deutlich größere Resonanz. Hambur­ ­professionelles Speichermodell bauen, die ganze Atmosphäre, die das Museum ger und Besucher aus dem Umland das der Verein mit 12.000 Euro unter­ hat. Wir bekommen in dieser sprechen wir stärker mit unseren stützt. Und im Oktober geben wir ein Hinsicht viel positives Feedback. ­Sonderveranstaltungen an wie den wissenschaftliches Buch zur Planungs- Krimi-Lesungen oder den Tee- und und Baugeschichte der Speicherstadt Was sind Ihre Pläne für die Zukunft ­Kaffeeverkostungen. Auch an den heraus. Das hätten wir ohne den Ver­ des Museums? ­öffentlichen Familienführungen, den ein auch nicht geschafft. Ehrlich gesagt, haben wir im Moment „Entdeckertouren“ für Kinder, nehmen keine konkreten Pläne, sondern nur viele Einheimische teil. Dazu melden Gibt es hier in der Ausstellung mehr oder weniger vage Aussichten. sich aber mittlerweile auch Familien ein Ausstellungsstück, das für Sie per- Es ist schon länger angedacht, das aus Wien oder der Schweiz an. sönlich das wertvollste ist? Speicherstadtmuseum mit dem ge­ Das Wertvollste sind sicherlich die planten Welterbe-Informations­ Der Verein der Freunde des Maurerwerkzeuge, die Kaiser Wilhelm zentrum zusammenzulegen. Bisher Speicherstadtmuseums, das ist Ihr II. bei der Zollanschlussfeier in der gibt es dazu aber noch keine belast­ Förderverein? Speicherstadt gereicht wurden – mas­ baren Aussagen.

135 TERMINKALENDER Ausstellungen und Veranstaltungen TERMINKALENDER Ausstellungen und Veranstaltungen bis Frühjahr 2020

MUSEUM FÜR HAMBURGISCHE GESCHICHTE

Die Neue Heimat Tattoo-Legenden auf St. Pauli Mit Loki in die Welt Das architektonische Ge- Die Geschichte von Chris- Eine Ausstellung zum sicht der Bundesrepublik tian Warlich – dem „König 100. Geburtstag von Die „Neue Heimat” war der größte und der Tätowierer“ Hannelore Schmidt bedeutendste nichtstaatliche Wohnungs- Chinesische Drachen, geheimnisvolle Anlässlich ihres 100. Geburtstages baukonzern im Europa der Nachkriegs- Nixen und junge Matrosen, Segelschiffe, prä­sen­tiert die Ausstellung faszinierende zeit. Nach dem Motto „Wir machen alles“ Anker, Geishas und Dämonen – die Augenblicke aus dem Leben von Hanne-­ wurden neben großen Wohnanlagen Hamburger Tattoo-Legende Christian lore „Loki“ Schmidt. Die Besucher unter­ auch Universitäten, Kongresszentren und Warlich (1891–1964) ist nicht nur in nehmen eine Zeitreise durch das Leben Großkliniken gebaut. Damit prägte der Hamburg bekannt als der „König der der beliebtesten deutschen Kanzler­ Konzern das Gesicht der Bundesrepublik Tätowierer“. Unter dem Motto „Streng gattin und erfahren so von ihrem Weg städtebaulich und architektonisch nach- reell! Wundervollste Muster! Giftfrei! aus einem Hamburger Arbeiterquartier haltig: Seine Projekte waren Ausdruck Und unverwüstlich bis über den Tod in die Bonner Republik. Ob als leiden- und Spiegelbild der bundesdeutschen hinaus!“ ist Warlich über 40 Jahre lang in schaftliche Lehrerin in Kriegs- und Nach- Sozialgeschichte. Die Ausstellung, die in seiner Kneipe auf St. Pauli tätig gewesen. kriegszeiten, im Kanzlerbungalow oder Inspiriert von asiatischen und amerika­ auf Blumenwiesen, stets war ihr Leben Kooperation mit dem Architekturmuseum nischen Motiven, die er mit einem von einem enormen Wissenshunger und der TU München und dem Hamburgi- unverkennbaren Stil verband, erlangte er einer großen Liebe zu allem Lebendigen schen Architekturarchiv entstanden ist, schnell internationale Berühmtheit. Die geprägt. Die Ausstellung erzählt deshalb präsentiert anhand von historischen Foto- Ausstellung im Museum am Holstenwall auch, wie Loki Schmidt zu Deutschlands und Filmaufnahmen, Planmaterialien und erzählt die Geschichte von Christian berühmtester Naturschützerin wurde zahlreichen Modellen die Architektur Warlich auf St. Pauli anhand von Fotogra- und bei zahlreichen Expeditionen auf einer sozialdemokratischen Utopie. fien, bisher unveröffentlichten Filmen und allen Kontinenten die verschiedenen Bis 6. Oktober 2019 jeder Menge Original-Flashs. Ökosysteme der Erde studierte. shmh.de Ab 27. November 2019 Bis 21. Oktober 2019 shmh.de shmh.de FOTOS: SHMH FOTOS:

136 ALTONAER MUSEUM

Premiere: Die erhitzten Jahre Kleine Welt ganz GROSS Lyrik & Jazz im Großformat der Weimarer Republik Der Modelleisenbahn Ham- Peter Rühmkorf zum Die neue Produktion des burg e. V. wird 70 Jahre alt! 90. Geburtstag Axensprung Theaters Die Modelleisenbahn im Museum für Der vielfach preisgekrönte Lyriker Peter Unter dem sprechenden Titel „Gier“ er- Hamburgische Geschichte gehört zu den Rühmkorf (1929–2008) war lange Jahre zählt die aktuelle Produktion des Ham- beliebtesten Orten der Besucher. Wie auf in Oevelgönne an der Elbe zu Hause. An- burger Axensprung Theaters von den dem richtigen Bahnhof rollen hier die lässlich seines 90. Geburtstags präsen- erhitzten Jahren der Weimarer Republik, Züge über das weitläufige Gleisnetz. tiert die Arno Schmidt Stiftung eine far- von Menschen in Zeiten extremer Wider- Während der IC am Bahnsteig kurz hält, benfrohe und medienreiche Ausstellung sprüche und von der Zerbrechlichkeit der rollt ein Nahverkehrszug heran, Güter­ zu Leben und Werk des Dichters. Zentra- Freiheit in einer fragilen Demokratie. Das züge durchfahren den Bahnhof und Loko- les Element der Ausstellung ist ein Raum, Stück macht die erste deutsche parla- motiven passieren ein Stellwerk auf der in dem zehn Gedichte Rühmkorfs in mentarische Demokratie mit ihren Wirr- Fahrt zum Lokschuppen. Signale ändern Großprojektionen eindrucksvoll inszeniert nissen nacherlebbar und schafft ein Ge- ihre Anzeige, während in der Ferne das werden. Eine Auswahl von weitgehend fühl dafür, wie Menschen in Zeiten rasen- Spitzenlicht eines weiteren Zuges auf- unbekannten Filmaufnahmen von Rühm- der Veränderung träumen, hoffen und taucht. Anlässlich des 70-jährigen Jubi­ korfs Jazz-und-Lyrik-Programmen aus handeln. In die sich verwebenden Hand- läums der Anlage lädt der Verein Modell­ mehreren Jahrzehnten und mehrere lungsstränge der Protagonisten des eisenbahn Hamburg e. V. zu einem be- ­Themenstationen widmen sich wichtigen Stücks treten real-historische Personen sonderen Programm ein. Neben Vor­- biografischen Orten des Dichters, stellen wie Walter Rathenau, Gustav Strese- trägen und Vorführungen präsentiert eine einzelne Werkphasen vor und erläutern mann, Erich Ludendorff, Matthias Erz­ kleine Ausstellung die Geschichte der Rühmkorfs poetisches Konzept. Eine berger und Fritz Schumacher sowie der Modelleisenbahn und die Entwicklung 50qm-Wandinstallation verdeutlicht am bekannte kleine Gefreite, der „beschloss, des Bahnverkehrs nach Hamburg. Beispiel des Gedichts „Selbst III/88“ Politiker zu werden“. Vom 3. bis 6. Oktober Rühmkorfs aufwendigen Arbeitsprozess. Premiere am 31. Oktober 2019 shmh.de Bis 20. Juli 2020 www.axensprung-theater.de shmh.de

137 TERMINKALENDER Ausstellungen und Veranstaltungen

ALTONAER MUSEUM

Muslime aus Altona erzählen … Mein Name ist Hase! Die Ästhetik der Illustration Berichte über die Redewendungen und Eine Ausstellung zum Ham- ­Bedeutung des Glaubens Sprichwörter burger Bilderbuchpreis Der Bezirk Altona mit seinen 14 Stadttei- Jeder von uns verwendet im Durchschnitt Hier wird gelesen, vorgelesen, geschrie- len und insgesamt 270.000 Einwohnern hundert Redewendungen und Sprichwör- ben, illustriert, kritisiert, gedruckt und ist geprägt von kultureller, sozialer – und ter am Tag. Sie öffnen uns die Augen und ­gebunden, beraten und informiert. Im Kin- religiöser Vielfalt. Seit Jahrzehnten sind lassen uns die Ohren spitzen. Sie motivie- derbuchhaus im Altonaer Museum stehen dort Muslime unterschiedlicher Konfes­ ren, trösten und unterhalten – und doch das Buch und alles, was mit Büchern zu sionen, Ethnien und Kulturen zu Hause. haben wir von ihren historischen Hinter- tun hat, im Mittelpunkt. In der aktuellen In der Ausstellung „Mahalla Altona“, die gründen oft keine Ahnung. Wer weiß Ausstellung werden die Shortlist des in ­unter der Projektleitung des Kurators und schon, warum wir Lampenfieber haben diesem Jahr erstmalig verliehenen Ham- Filmemachers Ayhan Salar für das Alto- oder die Katze im Sack kaufen? Die Mit- burger Bilderbuchpreises sowie weitere naer Museum entstanden ist, berichten ­ mach- und Mitdenk-Ausstellung „Mein Wettbewerbseinreichungen präsentiert. 21 muslimische Altonaerinnen und Alto- Name ist Hase!“ hilft uns auf die Sprünge. Der im Frühjahr 2018 gegründete Verein naer über die Rolle und Bedeutung ihres Die Besucher können sich dort in wunder- Neues Bilderbuch e. V. möchte mit die- Glaubens in ihrem Alltag. Anhand von barer Jahrmarktatmosphäre an einem Rät- sem Preis die künstlerische Arbeit von individuell ausgewählten Gegenständen, sel mit internationalen Redewendungen Illustratorinnen und Illustratoren unter- die in der Ausstellung präsentiert werden und an einem Sprichwort-Generator ver- stützen. Als erste Preisträgerin wurde die und in Form von Videointerviews geben suchen. Vergnüglich, anschaulich und an- Illustratorin Ulrike Jänichen für das Kon- die Protagonisten ganz persönliche Ein- regend zugleich präsentiert die vom Mu- zept ihres Bilderbuchs „Zug der Fische“ blicke in ihren Alltag und berichten da­ seum für Kommunikation in Nürnberg ent- ausgezeichnet, deren Bilder den Kern der rüber, welche religiösen Lehren, Gebote wickelte Ausstellung Redensarten und Ausstellung bilden. und Pflichten ihnen im täglichen Leben deren Geschichte als einen der originells- Bis 30. Juni 2020 im Kinderbuchhaus im wichtig sind. ten Bereiche unseres Wortschatzes. Altonaer Museum kinderbuchhaus.de Bis 18. November 2019 Bis 21. Oktober 2019 shmh.de shmh.de FOTOS: SHMH FOTOS:

138 MUSEUM DER ARBEIT

Happy Birthday, Peter Rühmkorf! Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da Eine Liaison von Food und Design Ein festlicher Abend zum Mythen, Kunst und Popkul- Mehr als 80 Anbieter aus Geburtstag des Dichters tur in der dunklen Tageszeit dem BESONDERSMARKT und Jazz-Verehrers Die meisten Menschen schlafen in der Am 27. Oktober versammeln sich im Mu- Am 25. Oktober wäre der Dichter und Nacht. Doch wer die Nacht einmal seum der Arbeit wieder rund 80 Hand- passionierte Jazz-Verehrer Peter Rühm- durchwacht, dem erscheint unsere Welt made-Labels, Food-Manufakturen, korf 90 Jahre alt geworden. Vor dem Hin- plötzlich in einem anderen Licht. Ob im ­Designer und Händler und bieten ihre tergrund der aktuellen Sonderausstellung Schimmer des Mondes und der Sterne, im bunten Sortimente auf dem legendären lädt das Altonaer Museum zu diesem An- gleißend hellen Weiß von Leuchtstoffröh- BESONDERSMARKT an. Geplant ist lass zu einem festlichen Abend ein. Rühm- ren oder im Halbdunkel eines Clubs – in abermals eine Liaison von Design und korf-Kenner und Zeitgenossen wie Joa- der Nacht eröffnen sich Räume, die dem Food, die den Besuchern einen rundum chim Kersten, Stephan Opitz, Bernd Rau- täglichen Leben entzogen sind. Aus ver- genussvollen und schönen Tag bereitet. schenbach und Jan Philipp Reemtsma schiedenen Perspektiven wirft die inter- In den Sortimenten findet sich sicherlich lesen aus dem lyrischen Werk des Meis- disziplinäre Ausstellung „Die Nacht. Alles wieder so manches schöne Schätzchen ters aus Övelgönnne. Leszek Zadlo, der außer Schlaf“ im Museum der Arbeit an- fürs Zuhause, für die Schmuckschatulle zusammen mit Peter Rühmkorf, Michael hand von Objekten aus den Bereichen oder für den Kleiderschrank – feine Naura und Wolfgang Schlüter bei zahlrei- Mythologie, Astronomie, Kunst, Popkultur ­Dinge, die einfach Spaß machen, inspirie- chen „Jazz und Lyrik“-Konzerten aufge- und Technikgeschichte einen Blick auf ren, gut aussehen oder einfach besonders treten ist, präsentiert mit seinem Quartett unseren Umgang mit den Stunden zwi- lecker sind. die Musik, die Rühmkorf über alles liebte. schen Abend und Morgen und zeigt, wie Am 27. Oktober 2019 Am 25. Oktober 2019 wir in und mit der Nacht kommunizieren. shmh.de shmh.de Ab 30. Oktober 2019 shmh.de

139 TERMINKALENDER Ausstellungen und Veranstaltungen

JENISCH HAUS HAFENMUSEUM HAMBURG

Die Kunst als Tanz des Lebens Götzen, Krater und Zinnober Een Hamborger Veermaster kommt … 100 Jahre Vorträge zur Die PEKING – ein Schiff Hamburgische Sezession Hamburgischen Sezession und seine Geschichte Die Künstlervereinigung „Hamburgische Begleitend zur Ausstellung „Tanz des Mit der Rückkehr der aufwendig restau­ Sezession“ trat anno 1919 mit dem Ziel an, ­Lebens. 100 Jahre Hamburgische Sezes- rierten Viermastbark PEKING erhält die Handels- und Kaufmannsstadt Ham- sion“ lädt eine Reihe von Vorträgen dazu Hamburg in den kommenden Jahren ein burg um eine lebendige Kunstszene zu ein, sich mit Momenten und Ereignissen in neues Wahrzeichen und gleichzeitig das bereichern und das kulturelle Klima zu der Geschichte dieser avantgardistischen erste sichtbare Objekt für das in Planung verändern. Ihre Ausstellungen, Vorträge Künstlergruppe vertiefend auseinander- befindliche Deutsche Hafenmuseum. und vor allem ihre rauschenden Künstler- zusetzen. Die Sezessions-Expertin Maike Wer schon jetzt etwas über das Schiff, die feste erfuhren über 14 Jahre hinweg bis Bruhns widmet sich in ihrem Vortrag den laufenden Restaurierungsarbeiten und 1933 große Resonanz – auch weit über Wandbildern der Künstlervereinigung, die Geschichte der legendären Flying-P- Hamburgs Grenzen hinaus. Zunächst der Germanist Rüdiger Schütt analysiert Liner aus der Hamburger Reederei Laeisz am Expressionismus und an der Neuen die sagenumwobenen Künstlerfeste der erfahren möchte, dem sei die Präsenta­ Sachlichkeit orientiert, entwickelten die Sezession in der Weimarer Zeit und der tion „Een Hamborger Veermaster kommt Sezessionisten in den späten 1920er Jah- Kunst- und Designhistoriker Rüdiger Jop- nach Hamburg“ im Hafenmuseum Ham- ren einen ganz eigenen Stil. Zu ihnen ge- pien spricht über den besonderen Beitrag burg wärmstens empfohlen. Neben Groß- hörten neben Anita Rée, Gretchen Wohl- dieser Künstler zur Hamburger Kultur­ f­otos und zahlreichen Originalrequisiten will und Eduard Bargheer auch heute geschichte. von der PEKING gibt es auf einem Segel ­leider in Vergessenheit geratene Künstler Am 22. September 2019, 24. November als Projektionsfläche den aus dem Jahr wie Dorothea Maetzel-Johannsen und 2019 und 13. Januar 2020 1929 stammenden Film „The PEKING Rolf Nesch. shmh.de battles Cape Horn“ von Irving Johnson zu Bis 13. Januar 2020 sehen. shmh.de Bis 31. Oktober 2019 shmh.de

140 TERMINKALENDER Ausstellungen und Veranstaltungen

SPEICHERSTADT­ DIE KRAMER- MUSEUM WITWEN-WOHNUNG

Hamburgs Weltkulturerbe entdecken! Ein Kleinod in der Neustadt Kaffee, Kautschuk Mobiliar aus dem und Kakao 19. Jahrhundert Griepen, Kaffeesäcke, Fässer, Ballen und Die Küche mit offenem Herd liegt im Erd- Zuckerklatschen: Wo sonst, wenn nicht im geschoss, über eine enge Treppe gelangt Speicherstadtmuseum können die Besu- man zum Wohn- und Schlafzimmer, über cher in einzigartiger Atmosphäre die his- dem sich noch ein Vorratsraum befindet. torische Speicherstadt erleben. Die Aus- Puppenstubenhaft klein, anheimelnd und stellung im authentischen Ambiente eines gemütlich ist die Kramer-Witwen-Woh- Lagerhauses von 1888 zeigt anschaulich, nung, die sich in einer engen Gasse gleich wie die Quartiersleute (vulgo Lagerhal- neben dem Michel befindet. 1676 erbaute ter) früher hochwertige Importgüter wie das Krameramt, eine Art Zunft der Ham- Kaffee, akaoK oder Kautschuk gelagert, burger Kleinhändler, in der Neustadt eine bemustert und veredelt haben. Darüber Gasse mit Fachwerkhäusern, in denen hinaus werden der Tee- und Kaffeehandel, 20 Wohnungen für die Witwen seiner der in den Kontoren der Speicherstadt Mitglieder untergebracht waren. In den ansässig war, vorgestellt sowie die Bau­ 1970er Jahren restauriert, zogen bald geschichte der zum Weltkulturerbe ge­ kleine Läden, eine Galerie, eine Kaffee- adelten Speicherstadt, deren spannende stube und ein Restaurant in die malerische Historie anhand zahlreicher historischer Gasse. Eine der früheren Wohnungen Fotos und Pläne illustriert wird. wurde mit Mobiliar und Ausstattung aus Ganzjähriges Programm der Mitte des 19. Jahrhunderts versehen speicherstadtmuseum.de und museal zugänglich gemacht. Ganzjährige Ausstellung shmh.de FOTOS: SHMH FOTOS:

141 TERMINKALENDER Ausstellungen und Veranstaltungen

Wissenschaftliche Tagung über Peter Rühmkorf und die Tradition „Wo ich gelernt habe“ Als Poetik-Dozent an der Universität Göttingen hielt der Dichter Peter Rühmkorf am 19. Januar 1999 die Rede „Wo ich gelernt habe“. Zu diesem Zeitpunkt wirkte er an der Entstehung seiner Werkausgabe mit, deren erster Band im selben Jahr erschien. Die Erfahrungen bei der Edition des eigenen Gesamtwerks hatten großen Einfluss auf seine Rede, in der Rühmkorf über die Voraussetzungen seines Dichtens reflektierte – in der er sich selbst historisch wurde. Begleitend zur aktuellen Sonderausstellung „Laß leuchten! Peter Rühmkorf zum Neunzigsten“ nimmt die Tagung im Altonaer Museum die Rede als Ausgangspunkt, um sich mit Rühmkorfs Verhältnis zur literarischen Tradition auseinanderzusetzen. Die Teilnahme an der Tagung ist kostenfrei. 27. und 28. September 2019 im Altonaer Museum. Anmel- dung über [email protected]. Infos zum Programm unter www.shmh.de

Symposium zur Rolle der Digitalisierung in Kulturinstitutionen Das digitale Publikum Die Digitalisierung ist längst ein wirkungsmächtiger Faktor unserer Lebenswirklichkeit. In Museen und anderen Kultur­ einrichtungen wurden in den vergangenen Jahren viele Projekte ins Leben gerufen und realisiert, die mit diesen neuen technischen Möglichkeiten experimentierten und zum Teil beachtenswerte und auch nachhaltige Ergebnisse produzier- ten. Zugleich haben sich die Herangehensweisen, Konzepte und Ziele der Museen meist noch nicht auf die neuen technolo­ gischen und kommunikativen Möglichkeiten sowie das poten- zielle Publikum hin angepasst. Im Rahmen einer Fachtagung im Museum der Arbeit sollen unter dem Motto „Das digitale Publikum“ gemeinsam mit Experten Anregungen diskutiert und Ideen entwickelt werden, die sich mit dem Einfluss der Digitalisierung auf die Wahrnehmungen und Erwartungen der Besucher und Nutzer kultureller Aktivitäten auseinander­ setzen. Die Teilnahme am Symposium ist kostenfrei. 1. Oktober 2019 im Museum der Arbeit. Anmeldung über info@mda. shmh.de. Infos zum Programm unter www.shmh.de FOTOS: SHMH FOTOS:

142 M U S E U M DER ARBEIT

DIE NACHT ALLES AUSSER SCHLAF 30.10.2019 – 01.06.2020

Stiftung Historische Museen Hamburg, Museum der Arbeit Folgen Sie uns: Ein Ausstellungsprojekt in Kooperation Wiesendamm 3, 22305 Hamburg, S-Bahnhof Barmbek mit der Museumsstiftung Post und Tele- Mo 10 – 21 Uhr, Mi – Fr 10 – 17 Uhr, Sa/So 10 – 18 Uhr kommunikation shmh.de DIE HISTORISCHEN MUSEEN HAMBURG

ALTONAER MUSEUM Museumstraße 23 22765 Hamburg Tel. 040 428 135 0 [email protected] ÖFFNUNGSZEITEN Montag 10–17 Uhr Dienstags geschlossen Mittwoch bis Freitag 10–17 Uhr Samstag bis Sonntag 10–18 Uhr EINTRITTSPREISE 8,50 Euro für Erwachsene 6 Euro für Gruppen ab 10 Personen 5 Euro ermäßigt Freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren

HAFENMUSEUM HAMBURG Kopfbau des Schuppens 50A Australiastraße 20457 Hamburg Tel. 040 73 091 184 [email protected] ÖFFNUNGSZEITEN (BIS 31.10.) Montag 10–17 Uhr Dienstags geschlossen EINTRITTSPREISE (Telefonisch oder per Mail bei EINTRITTSPREISE Mittwoch bis Freitag 10–17 Uhr 7 Euro für Erwachsene Ricarda Luthe) 9,50 Euro für Erwachsene Samstag bis Sonntag 10–18 Uhr 5 Euro für Gruppen ab 10 Personen EINTRITTSPREISE 7 Euro für Gruppen ab 10 Personen EINTRITTSPREISE und ermäßigt Freier Eintritt 6 Euro ermäßigt Freier Eintritt für Kinder und 6,50 Euro für Erwachsene Freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren 4 Euro für Gruppen ab 10 Personen MUSEUM DER ARBEIT (S. FOTO) Jugendliche unter 18 Jahren und ermäßigt Wiesendamm 3 KRAMER-WITWEN- Freier Eintritt für Kinder und 22305 Hamburg WOHNUNG Jugendliche unter 18 Jahren Tel. 040 428 133 0 Krayenkamp 10 [email protected] 20459 Hamburg ÖFFNUNGSZEITEN SPEICHERSTADTMUSEUM Tel. 040 375 019 88 Montag 10–21 Uhr Am Sandtorkai 36 [email protected] HEINRICH HEINE HAUS Dienstags geschlossen 20457 Hamburg ÖFFNUNGSZEITEN Heine-Haus e. V. Mittwoch bis Freitag 10–17 Uhr Tel. 040 32 11 91 April bis Oktober: Elbchaussee 31 Samstag bis Sonntag 10–18 Uhr [email protected] 22765 Hamburg Montag 10–17 Uhr EINTRITTSPREISE speicherstadtmuseum.de Tel. 040 855 09 787 Dienstags geschlossen 8,50 Euro für Erwachsene [email protected] Mittwoch bis Sonntag 10–17 Uhr ÖFFNUNGSZEITEN 6 Euro für Gruppen ab 10 Personen ÖFFNUNGSZEITEN November bis März: März bis November: 5 Euro ermäßigt Zu den Veranstaltungen und Samstag und Sonntag von 10–17 Uhr Montag bis Freitag 10–17 Uhr Freier Eintritt für Kinder und nach Vereinbarung EINTRITTSPREISE Samstag bis Sonntag 10–18 Uhr Jugendliche unter 18 Jahren EINTRITTSPREISE 2,50 Euro für Erwachsene Dezember bis Februar: 1,70 Euro für Gruppen ab Freier Eintritt Dienstag bis Sonntag 10–17 Uhr 10 Personen und ermäßigt Freier Eintritt für Kinder und MUSEUM FÜR EINTRITTSPREISE JENISCH HAUS Jugendliche unter 18 Jahren HAMBURGISCHE GESCHICHTE 4,00 Euro für Erwachsene Baron-Voght-Str. 50 Holstenwall 24 2,50 Euro ermäßigt 22609 Hamburg 20355 Hamburg MILLERNTORWACHE 2 Euro für Schüler Tel. 040 82 87 90 Tel. 040 428 132 100 Millerntordamm, nahe Holstenwall 24 Freier Eintritt für Kinder [email protected] 20355 Hamburg [email protected] unter 6 Jahren shmh.de Tel. 040 33 402 16 ÖFFNUNGSZEITEN ÖFFNUNGSZEITEN [email protected] Montag 10–17 Uhr Montag 11–18 Uhr ÖFFNUNGSZEITEN Dienstags geschlossen Dienstags geschlossen Montags, Dienstags und Donners- Mittwoch bis Freitag 10–17 Uhr Weiterführende Informationen:

Mittwoch bis Sonntag 11–18 Uhr tags und nach Vereinbarung Samstag bis Sonntag 10–18 Uhr shmh.de WERA WECKER/SHMH FOTO:

144 Führungen in Gebärdensprache Barrierefrei SERVICE Register und Impressum

REGISTER

CARLSEN VERLAG MANUFACTUM Völckersstraße 14 – 20 Fischertwiete 2 22765 Hamburg 20095 Hamburg Verlagsgesellschaft der Stiftung Historische Museen Hamburg Tel. 040 39 80 40 Tel. 040 30 08 77 43 Holstenwall 24, 20355 Hamburg www.carlsen.de www.manufactum.de Tel. 040 428 131 150 www.shmh.de DERBE UND SUPPORT NACHLASS WARLICH www.hamburg-history-live.de Osterstraße 169 Norderstedter Str. 2 20255 Hamburg 24558 Henstedt-Ulzburg In Kooperation mit Tel. 040 29 22 29 29 Tel. 04193 959 77 97 VKM Verlagskontor für Medieninhalte GmbH Gaußstraße 190c, 22765 Hamburg www.derbe-hamburg.de www.nachlasswarlich.de Tel 040 36 88 110–0

DÖLLING UND GALITZ VERLAG HERMANN Herausgeber VERLAG SCHMIDT Hans-Jörg Czech Friedensallee 26 Gonsenheimer Str. 56 Vorstand und Direktor der Stiftung Historische Museen Hamburg 22765 Hamburg 55126 Mainz Tel. 040 38 93 515 https://typografie.de Chefredaktion: Jenny V. Wirschky (V.i.S.d.P.) Geschäftsführender Redakteur: Matthias Seeberg www.dugverlag.de Art Direction: Eike Hahn VERLAGSGRUPPE RAN- Lithografie:Thomas Weber-Ude DONKEY PRODUCTS DOM HOUSE / PRESTEL Textchef: Jenny V. Wirschky GMBH & CO. KG VERLAG MÜNCHEN Schlussredaktion: Claudia Hoffmann Osterfeldstraße 6 Neumarkter Str. 28 Bildredaktion: Nathalie Möller-Titel 22529 Hamburg 81673 München Tel. 040 22 62 23 50 Tel. 0800 500 33 22 Autoren dieser Ausgabe Amelie Baader, Olaf Bartels, Matthias Gretzschel, Axel Reitel https://donkey-products. www.randomhouse.de Matthias Seeberg, Michael Studemund-Halévy, Frank Berno Timm, com Jan Vahlenkamp, Jenny V. Wirschky XOUXOUBERLIN JUNIUS VERLAG Hasenheide 12 Fotos Stresemannstraße 375 10967 Berlin akg-images, Archiv der Hamburger Hochbahn AG, Archiv der Handelskammer 22761 Hamburg https://xouxouberlin.com Hamburg, Bundesarchiv, BIS Archives Basel, Deutsche Fotothek, Geschichtswerk- Tel. 040 89 25 99 statt Billstedt e. V., Daniel Gregor, Hamburg-Bildarchiv, Hamburger Kunsthalle, Handelskammer Hamburg, Sinje Hasheider, Hijabvibe, Helmut Herbst, www.junius-verlag.de Victor Hugo, Loki Schmidt Stiftung, Frits Palmer, Staatsarchiv Hamburg, Patrick Sun, Christian Terschegge, Tocotronic, Vintage Germany, C. Wille KEMM 1782 HAMBURG GMBH Vertrieb: VKM Verlagskontor für Medieninhalte GmbH Pickhuben 6 [email protected] / [email protected] 20457 Hamburg Herstellung: Lars Heitmann Tel. 040 36 00 39 13 Druck: Dierichs Druck+Media GmbH & Co. KG www.kemm-hamburg.de Anzeigen Kumst Medien Vermarktungsgesellschaft mbH Verantwortlich: Tanya Kumst (Geschäftsführung) Tel 040 524 72 26 88; [email protected]

Copyright für alle Beiträge, soweit nicht anders angegeben: Hamburg History Live Verlagsgesellschaft der Stiftung Historische Museen Hamburg

Bei Anregungen und Kritik Hamburg History Live Verlagsgesellschaft der Stiftung Historische Museen Hamburg Holstenwall 24, 20355 Hamburg [email protected]

145 STADTGESICHTER. EINE KOLUMNE Carl Melchior

DER VERGESSENE FRIEDENSSTIFTER Der Hamburger Jurist und Bankier Carl Melchior (1871–1933) war einer der wichtigsten Finanzdiplomaten der Weimarer Republik

TEXT: MATTHIAS SEEBERG

Literatur- und Debattierclub. Nach dem semitischen Milieus als „Landesverräter“ Studium der Rechtswissenschaft wurde und „Novemberverbrecher“ geschmäht. er 1899 mit 29 Jahren zum Richter am Dabei ging es dem vorausschauenden Fi- Hamburger Amtsgericht ernannt. Nur nanzexperten sehr wohl um die Interes- zwei Jahre später quittierte er den Staats- sen seines Landes, allerdings vor dem dienst wieder, um auf Empfehlung des Hintergrund einer gesamteuropäischen Kunsthistorikers Aby Warburg als Syndi- Stabilität unter langfristig pazifizierenden kus in das Bankhaus M.M. Warburg ein- Bedingungen. Sein Bankierskollege Sieg- zutreten. Melchiors hochgeschätzter ju- mund Warburg erinnerte sich später an ristischer Sachverstand, sein distinguiert einen „Mann, dem Ausgleich und Versöh- zurückhaltendes Auftreten und vor allem nen wichtiger waren als Kampf für Macht- sein ausgeprägtes Geschick in Verhand- positionen und siegreiche Triumphe“. lungsfragen machen ihn 1917 sogar zum Die fortwährenden Verhandlungen Carl Melchior am Sitzungstisch 1930, Mitinhaber, was in der Tradition der Bank über verschiedene Aspekte der Repara­ fotografiert von Jeck Basel bis dahin nur Namensträgern der Familie tionsfragen durchzogen die politischen vorbehalten war. Turbulenzen der Weimarer Republik wie Mit dem Ende des Ersten Weltkrie- ein roter Faden und bestimmten auch ür die Gründe, warum Persönlich- ges, den Melchior trotz schwerer Verwun- Melchiors unerschütterliches Engage- keiten im historischen Gedächtnis dung überlebte, bekam seine erfolgreiche ment. Ob als Berater, Sachverständiger Fnicht den gebührenden Platz erhal- Bankierstätigkeit eine neue Dimension, oder Unterhändler nahm er an zahlrei- ten, gibt es viele Erklärungen. Doch im deren politische Konsequenzen für die chen Konferenzen von Spa (1920) bis Lau- Fall von Carl Melchior, dem Hamburger kommenden Jahre von enormer Bedeu- sanne (1932) teil. Nach dem Beitritt der Juristen, Bankier und sicherlich profilier- tung waren: Nach dem Vorsitz des Finanz­ jungen Republik in den Völkerbund anno testen Finanzdiplomaten der Weimarer ausschusses der deutschen Waffenstill- 1926 wurde Melchior als einziger Deut- Republik, ist es mehr als verwunderlich, standskommission, die im März 1919 für scher zum Mitglied im Finanzausschuss dass selbst in seiner Heimatstadt nicht die dringend erforderlichen Lebensmittel­ und ab 1930 sogar als dessen Vorsitzender einmal eine Straße nach ihm benannt ist lieferungen ins kriegsgebeutelte Deutsch- ernannt. – geschweige denn ein Institut für wirt- land sorgte, erwartete den liberalen De- Doch die Tragik seiner Zeit wurde schaftspolitische Fragen unserer Zeit. Am mokraten eine Schlüsselposition bei den auch zur Tragik seines Lebens. Als 1932 Anfang dieses Jahres hatte nun das Jüdi- Friedensverhandlungen in Versailles. Als das Ende der Reparationsforderungen be- sche Museum Berlin zusammen mit der stellvertretener Chef der sechs deutschen schlossen werden konnte, an dessen Ver- Stiftung Warburg Archiv dem „Jüdischen Hauptdelegierten und Leiter der deut- handlungen Melchior maßgeblich betei- Vorkämpfer eines europäischen Friedens“ schen Finanzkommission war Melchior ligt war, lauerte am politischen Firma- eine Präsentation gewidmet, die mit zahl- einer der führenden Köpfe bei den hitzi- ment schon die Machtübernahme der Na- reichen Originaldokumenten an die wich- gen Debatten um die Regelung der viru­ tionalsozialisten, unter deren Regime tige Rolle dieses Botschafters der Versöh- lenten Reparationszahlungen an die alli- Melchior als Jude und Demokrat sämt­ nung erinnerte. ierten Siegermächte. liche Ämter verlor und zunehmender Be- In Hamburg im Jahr der Gründung Obwohl er letztlich seine Unterschrift drohung ausgesetzt war. Im Frühjahr 1933 des Deutschen Kaiserreichs als Kind einer verweigerte und Versailles vor Abschluss gründete das unermüdliche Organisa­ jüdischen Gelehrten- und Kaufmanns­ des problembeladenen Vertrages verließ, tionstalent noch gemeinsam mit dem familie geboren, besuchte Melchior das hu- den er wie sein englisches Pendant John deutschen Oberrabbiner Leo Baeck den manistische Johanneum und unterhielt Maynard Keynes aus Gründen der ökono- „Zentralausschuss der deutschen Juden bereits als Schüler mit seinem Bruder und mischen Vernunft als „höllisch“ empfun- für Hilfe und Aufbau“ – am 30. Dezember dem späteren Kunstsammler und Schrift- den hat, wurde Melchior nach seiner desselben Jahres starb Carl Melchior an

steller Harry Graf Kessler einen eigenen Rückkehr von nationalistischen und anti- einem Schlaganfall. SWITZERLAND BASEL, BIS ARCHIVES, BISA.7.27.2.PEO.4.HISTORICAL.PHOTOS.139, FOTO:

146 EINE STADT. EINE GESCHICHTE. EIN MAGAZIN.

JETZT BESTELLEN! www.hamburg-history-live.de