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Sendung vom 15.03.1999

Professor Dr. Raimund Wünsche Leiter der in München im Gespräch mit Jürgen Martin Möller

Möller: Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, willkommen bei Alpha-Forum. Zu Gast ist heute Professor Raimund Wünsche, der Direktor der “Staatlichen Antikensammlung” und der “Glyptothek” in München. Herr Professor Wünsche, ist das Ihr Traumjob? Wünsche: Ja, so kann ich das sagen. Ich bin ja nun schon seit 28 Jahren in diesem tätig – und deswegen kann man das wohl auch ein wenig beurteilen. Möller: Direktor sind Sie seit vier Jahren. Wünsche: Seit 1994. Möller: Sie hatten aber die ganze Zeit über Ihr Standbein sozusagen schon in der “Glyptothek”. Wünsche: Mit gelegentlichen Unterbrechungen. Die “Glyptothek” war wirklich mein Standbein. Ich bin sehr jung an dieses Museum gekommen: Das war zu einer Zeit – ich nenne das immer die "heroische Zeit" –, als das Museum noch in Trümmern lag und vom Architekten Wiedemann erst wiederhergestellt wurde. Die Aufgabe bestand darin, das Museum wieder aufzubauen. Auch zu diesem Zweck hat mich der damalige Direktor Dieter Ohly nach München geholt. Möller: Bleiben wir bei dem Wort “Glyptothek”. Mit diesem Wort geht man zunächst einmal wie selbstverständlich um: Wenn man in Bayern oder in München lebt, hat man zumindest eine ungefähre Vorstellung davon, was das ist. Aber das Wort ist doch eigentlich eine freie Erfindung oder zumindest eine Schöpfung, ein Kunstwort. Wünsche: Ja, das Wort ist schwierig. Es hat natürlich so viel Tradition, daß wir es nun nicht mehr abändern wollen, obwohl wir schon auch wissen, daß die meisten Leute damit nichts anfangen können. Man hat sich über dieses Wort – auch schon zu Zeiten Klenzes oder des "Simplicissimus" – lustig gemacht. Man nannte es z. B. "Kryptothek". Man hat es ja noch nicht einmal richtig schreiben können, denn selbst auf der Münze, die zur Grundsteinlegung gemacht wurde, ist der Name falsch geschrieben. Wobei man da sicherlich ein wenig aufpassen muß, denn das hat früher keine so große Rolle gespielt. In „Effi Briest“ von Fontane ist das ja auch wunderbar geschildert: Sie war in der “Alten Pinakothek” gewesen und schreibt nun eine Karte nach Hause, auf der sie bemerkt, daß sie auch noch in dem anderen Museum gewesen sei, sie aber nicht richtig schreiben könne, wie das Museum geheißen hat. Das war natürlich die “Glyptothek”. Das Wort ist eine Erfindung des Hofbibliothekars von Ludwig I. In Analogie zur “Pinakothek”, die ja eine Bildersammlung ist, aber natürlich auch zum Wort "Hypothek" hat er aus den Wörtern "glyphein", das heißt schlagen bzw. meißeln, und dem Wort "Theke" – dort, wo man etwas ablegt – dieses Kunstwort geschaffen. Dieses Kunstwort hat aber sehr eingeschlagen. Noch am Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Wort z. B. in Kopenhagen bei der “” übernommen. Möller: Aber das ist schon die einzige andere “Glyptothek” auf der Welt. Wünsche: Ja, das ist die zweite. Möller: Gehen wir doch chronologisch vor und bleiben wir bei diesem zunächst etwas merkwürdigen Holperwort “Glyptothek”. Was ist denn in der “Glyptothek” gesammelt worden? Was findet jemand, der München und Bayern nicht so kennt, dort vor? Wünsche: Jetzt ist es eine Sammlung griechischer und römischer Skulpturen, eine ganz bedeutende Sammlung, die wirklich Weltrang besitzt. Es gibt kaum ein Museum, das in 13 Sälen so hohe Qualität versammelt. Das war die Intention Ludwigs I. Wobei man freilich damals bei der Schaffung der “Glyptothek” einen ganz anderen Anspruch hatte. Damals war im ersten Saal ja nicht nur griechische und römische Kunst, sondern auch ägyptische Kunst ausgestellt. Und im letzten Saal fand sich sogar die Kunst der damaligen Moderne, also die Kunst des 19. Jahrhunderts. Möller: Aber das hat sich doch erst entwickelt. Der Gründungsvater mit seinen Intentionen und mit seinem Ehrgeiz war der damalige Kronprinz Ludwig, ein Griechenlandbegeisterter, der griechische Skulpturen gesammelt hat. Dafür suchte er dann einen richtigen und würdigen Rahmen. Wünsche: Eigenartigerweise ist seine Intention, überhaupt antike Kunst zu sammeln, von einem damals modernen Kunstwerk ausgegangen: nämlich von Canovas "Hebe", also von einem klassizistischen Werk, bei dem ihm sozusagen die Augen aufgingen. Canova hatte es nämlich geschafft, Antikes und die damalige Moderne so zu verbinden, daß man die Antike leichter verstand. Denn es ist ja nicht so ganz einfach gewesen, diese Figuren richtig zu sehen. Da sind Ludwig, wie er selbst schreibt, die Schuppen von den Augen gefallen. Der endgültige Anstoß kam 1806 auf einer Romreise: Dort entschloß er sich, Antiken zu sammeln. Ab dem Jahr 1810 wird das von ihm in großem Stil betrieben. Es gelang ihm in relativ kurzer Zeit, diese bedeutende Sammlung zusammenzubringen. Möller: So etwas gehörte freilich auch zum Bildungskanon der damaligen Zeit, zum Kunst- und Kulturverständnis: daß die Antike eigentlich der Maßstab zu sein hat. Jeder Herrscher und jeder kultivierte Mensch, der es sich leisten konnte, hat so etwas gesammelt. Das zieht sich ja auch durch die Geschichte der Päpste, die die wichtigsten und schönsten Denkmäler und Dinge, die aus der Antike noch erhalten geblieben waren, im Vatikan gesammelt hatten. Wer damals etwas auf sich gehalten hat und zudem zu einer herrscherlichen Familie gehörte, der machte eine Kunstreise nach Italien und schaute sich das alles an. Dabei hat er seinen Geschmack gebildet. Das oberste Leitbild war damals eben immer noch die Antike. Sie sagten, daß im weiteren Verlauf der “Glyptothek” auch ägyptische, assyrische und moderne Sachen dazukamen: Aber zunächst war es doch die griechische Kunst alleine gewesen? Wünsche: Das stimmt nicht ganz. Man muß da ein wenig trennen. Natürlich sammelt man seit der Renaissance. Die Fürsten, die das getan hatten, wollten damit an eine Tradition anknüpfen. Auch der Papst, der Pontifex Maximus, knüpfte an die antike Tradition an. Das war hinsichtlich der Herrscher- Ikonographie auch notwendig gewesen. In München ist das z. B. das “Antiquarium” gewesen, in dem man ganz einfach die früheren Herrscher zeigte – und "daß nun wir da sind". Davon setzt sich die “Glyptothek” jedoch ab. Die “Glyptothek” war von Ludwig I. zur Volksbildung gedacht. Es war von Anfang an nicht gedacht – es war natürlich immer ein Teil des Mäzenatentums –, um das Haus Wittelsbach zu feiern, sondern um die Kunst in Bayern zu befördern. Denn dort in der Bildhauerkunst hatte es seiner Ansicht nach am meisten gefehlt. Ganz im Gedankengut des 19. Jahrhunderts dachte er, daß in Bayern dann, wenn man nur die richtigen Vorbilder hätte, auch bald eine große Kunst entstehen würde. Das kann man ganz gut außen an der “Glyptothek” sehen: Dort sind diese großen antiken Künstler wie z. B. oder auch , der Schöpfer des Menschen, dargestellt. Dort finden sich auch die großen antiken Mäzene wie z. B. Perikles und . An der Westseite finden sich die großen Künstler der Renaissance, also der Wiedergeburt: Michelangelo und Ghiberti. Auf der Ostseite, der aufgehenden Sonne entgegen, stehen die Heroen der damaligen Moderne: Das beginnt bei Canova und Thorvaldsen und endet mit dem Bayern Ludwig Schwanthaler, der sozusagen der bayerische Phidias war. Ludwig will also an der “Glyptothek” zeigen, daß von der untergegangenen Antike über die Renaissance eine Linie zu München führt, wo wieder ganz große Kunst entsteht. Die ”” von Schwanthaler ist ja auch die größte Bronzefigur nach der Antike. Möller: Ludwig, der damals zunächst nur Kronprinz gewesen ist, hat ja auch sehr viele eigene Mittel eingesetzt, um das alles kaufen zu können. Er hat auch viele Tricks angewandt, um sich Geld zu verschaffen. Könnten Sie dazu einmal etwas sagen? Ich habe bei der Vorbereitung auf dieses Gespräch gelesen, wie er bis hin zum Streit und Bruch mit Montgelas und immer in der Auseinandersetzung mit der Staatskasse versucht hat, Dinge zu finanzieren. Er hat ja auch diese einmalige historische Situation ausgenutzt: Denn wann sonst konnte man so viele antike Kunstwerke auf dem freien Markt kaufen wie damals nach dem Niedergang Napoleons? Wünsche: Der Vater von Ludwig, Max I. Joseph, hatte für die Antike nichts übrig: Das waren für ihn schmutzige zerbrochene Puppen. Der Sohn stand da also ziemlich alleine – auch hinsichtlich der ganzen bayerischen Regierung um Max I. herum, wo man dafür wenig Verständnis hatte. Der Ausgangspunkt war dann, daß Ludwig 1810 geheiratet hat. Dadurch bekam er eine Apanage und war finanziell etwas unabhängiger. Er schuf dann das Oktoberfest und die “Glyptothek”. Man muß die damalige Zeit mit berücksichtigen. Das war die Zeit der napoleonischen Kriege: Italien war von Napoleon besetzt worden, Bayern war damals auf der richtigen Seite, nämlich auf der Seite Napoleons. Die Engländer waren aus Italien vertrieben worden, und dadurch waren die Franzosen mit ihrem “Musée Napoléon” die einzige wirklich große Konkurrenz. Österreich und alle anderen Mächte fielen aus, weil sie zu der Zeit in Italien politisch nicht gerne gesehen waren. Ludwig hatte damals die Möglichkeit, einen Agenten nach Italien zu schicken: Der sollte für ihn Sachen einkaufen, damit, wie er selbst sagte, "die Franzosen nicht alles wegkapern" und auch ein wenig nach München kommt. Er hatte natürlich dabei schon einen gewissen Konkurrenzkampf auszufechten. In seinem Inneren war er nämlich ganz gegen Napoleon eingestellt. Napoleon hatte ja Rom zur zweiten Hauptstadt seines Reiches gemacht und wollte, daß Paris zum Zentrum der Kunst wird. Ludwig hatte aber die Idee, daß das in einem bescheideneren Rahmen München sein sollte. Das Erstaunliche dabei ist, daß er das geschafft hat. Er hat es geschafft, durch sehr geschickte Verhandlungen, durch den richtigen Mann und durch das richtige Programm. Das Programm bestand darin, das Schönste an Kaufbarem zu erwerben: Er wollte lieber weniges, aber dafür Bestes. Möller: Er wollte nur höchste Qualität. Wünsche: Er hatte natürlich das Glück, daß wegen Napoleon die italienischen Fürsten verarmt waren. Zum Teil wurden sie ja auch beraubt, und sie dachten sich daher: ”Bevor es einem weggenommen wird, verkauft man die Sachen besser.” Und zum anderen war es so gewesen, daß sie hohe Kontributionen zahlen mußten und daher manchmal auch gezwungen waren zu verkaufen. Möller: Das war dann nach dem Sturz Napoleons. Wünsche: Das war noch vor dem Sturz Napoleons, denn von 1810 bis 1813 war die Haupt-Kaufzeit. Da hatte Ludwig eben das Glück, diese Dinge durch geschickte Verhandlungen einkaufen zu können. Diese Verhandlungen hat er natürlich nur aus München verfolgen können. Er hatte in Rom einen Agenten, der ihm immer mitteilen mußte, was es alles gibt: manchmal schickte er ihm deswegen auch Strichzeichnungen nach München. Ludwig hat dann von hier aus zugestimmt oder eben nicht. Das Wichtige dabei ist eben, daß er nicht nur den richtigen Mann in Rom erwischt hat, sondern daß er diesem Mann auch das Richtige gesagt hat: "Lieber mehr zahlen – aber dafür muß es dann auch wirklich hervorragend sein!" Daraus wurde ganz sicher eine unglaubliche Leistung: Ich wüßte kein anderes Museum, das in so kurzer Zeit so hohe Qualität gekauft hätte. Möller: Das Stichwort von München als "-Athen" geht letztlich auf diese Initiativen zurück. Wünsche: Das war das Programm. Man hatte damals folgende Idee: Athen war untergegangen und von Rom beerbt worden, indem es zu einem Teil des römischen Reiches geworden war. Aber Rom war mittlerweile auch untergegangen und die Antike in der Renaissance wieder auferstanden. Dann, im 19. Jahrhundert, hatte sich Paris angeschickt, die erste Kunsthauptstadt zu werden. Dem hat Ludwig entgegengesetzt, daß München eben auch etwas Großes werden müsse. Er hat im Windschatten von Napoleon versucht, hier so ein Museum einzurichten. Das Spannende dabei ist allerdings, daß es das erste Skulpturen-Museum der Welt geworden ist. Es ist das erste Museum, das ganz programmatisch nur für Skulpturen gemacht worden ist. In allen anderen Museen der Zeit war es nämlich anders gewesen. Der Vatikan z. B. war nur ein Palast, in den man die Skulpturen hineingestellt hatte. Das “Musée Napoléon” war ganz einfach der “Louvre”, in den man die Sachen hineingestellt hatte. Hier in München plante man jedoch von Anfang an einen eigenen Bau und ein eigenes Museum mit einem Programm, das die Entwicklung der Skulptur aufzeigen sollte. Das Ägyptische war daher von Anfang schon gewollt – genauso wie die Kunst der Moderne. Das war ein Programm, das eigentlich auf den Vater der Archäologie, auf Winckelmann, zurückging: die Entwicklung der Kunst. Möller: Nun wird unser Gespräch schon sehr kunstgeschichtlich und archäologisch speziell. Aber das geht ja auch gar nicht anders und ist hochspannend. Aber bevor wir diese geschichtliche Achse weiterverfolgen, würde mich Ihre eigene lebensgeschichtliche Achse interessieren. Sie sind, wie ich gelesen habe, Jahrgang 1944. Sie haben 1964 in München bzw. in Salzburg angefangen, Kunstgeschichte und Archäologie zu studieren. Das waren damals klassische Orchideenfächer. Besorgte Eltern haben ihren Kindern gesagt: "Mach’ Jura, mach’ Medizin, mach’ Volkswirtschaft. Wenn du sicher sein willst, daß du später dein Brot verdienen kannst, dann mach’ doch nicht so etwas Riskantes wie Kunstgeschichte oder Archäologie." Welches Glück hatten Sie mit Ihren Eltern, daß es ganz offensichtlich in Ordnung ging, daß Sie Kunstgeschichte und Archäologie studierten? Wünsche: Mein Vater war Maler und Bildhauer und war schon deswegen nicht so besorgt gewesen. Dieses Thema hatte ich also zu Hause nie auszufechten. Man muß sich natürlich schon fragen, wie man zur Archäologie kommt. Ich war in Eichstätt, in diesem idyllischen Ort im Altmühltal, in der Schule gewesen. Dort gab es noch so ein richtiges humanistisches Gymnasium, wie man es heute eigentlich gar nicht mehr kennt. Dabei waren Griechisch und Latein eben ganz wichtig gewesen. Daneben gab es auch ein Priesterseminar, und eigentlich dachte man schon, daß aus uns allen einmal Priester werden sollten. Bei ganz wenigen war das dann aber auch der Fall. Es gab auf diesem Gymnasium auch genügend Lehrer, für die das Griechentum das Allerwichtigste gewesen ist. Ich habe das damals immer mit einem Spruch von Lichtenberg verspottet: Sie hatten den so verinnerlicht, daß sie regelmäßig statt "angenommen" "Agamemnon" sagten. Das waren also Leute, für die das ungeheuer wichtig gewesen ist. Damals fiel es mir allerdings schon ein bißchen schwer, das auszuhalten. Aber man darf diese Prägung in der Schulzeit nicht vernachlässigen. Man hatte doch sehr viele Jahre Latein und Altgriechisch. In Eichstätt gab es auch einen Lehrer, der immer wünschte, daß man einmal in der Woche einen Schaukasten mit griechischer Kunst machte. Das habe ich gemacht, und so kam es, daß man auch mit Hilfe von Büchern zu diesem Thema hingeführt worden ist. Ich bin dann mit 17 Jahren schon allein nach Griechenland getrampt und für längere Zeit dort herumgereist, soweit das eben in den Ferien möglich gewesen ist. Daher war das Interesse bei mir relativ groß. Der Bezug zur Kunst war natürlich schon vom Elternhaus her angelegt gewesen. Ich habe bei meinem Vater, der ja Bildhauer war, immer schon viel mitarbeiten müssen. Und so hatte man allein dadurch einen näheren Bezug zur Skulptur. Nach der Schule war ich in Florenz und habe lange geschwankt, ob ich denn nicht Kunstgeschichte studieren sollte. Ich habe eigentlich deshalb Archäologie studiert, weil mir die Sachen dort besser gefallen haben. Das, was Sie ansprechen hinsichtlich der Berufswahl und den Chancen: Damals gab es nur wenige Fächer mit einem Numerus clausus – Medizin wäre z. B. so eines gewesen. Aber ich hatte so gute Noten, daß ich alles hätte studieren können. Aber ich habe dann eben Archäologie studiert, weil ich mir dachte: "Das ist gut, das mache ich, das interessiert mich, das gefällt mir." Die Berufschancen waren damals nicht besser als jetzt. Ich würde sogar sagen, daß sie damals eher schlechter gewesen sind. Zu meiner Zeit haben das Fach genauso viele wie jetzt ernsthaft studiert – vielleicht sogar noch ein paar mehr. Aber das Risiko ging man eben ein: Vielleicht hatte man auch ein wenig den Hintergedanken – das muß ich schon auch sagen –, daß man dann, wenn es nicht klappen würde, ganz einfach noch etwas anderes studieren würde: "Dann machst du halt noch ein Zweitstudium." Möller: Aber es hat sich dann schon während des Studiums ergeben, daß es paßte und daß es klappte? Wünsche: Da war schon auch ein bißchen Glück mit dabei. Ich hatte schon vor der Promotion diese Stelle erhalten. Ich habe hier in München studiert und bin schon 1966 auf eine Ausgrabung gegangen. Ich war während der Jahre 1967 bis 1969 oft sieben oder acht Monate im Jahr in Griechenland bei einer großen Ausgrabung in Ägina. Auf der selben Insel hat auch der damalige Direktor der “Glyptothek” am Aphaia-Tempel gegraben, und dort habe ich eben auch mitgearbeitet. Ich hatte eigentlich über die Prähistorie gearbeitet: Das war etwas, das nun mit der “Glyptothek” gar nichts zu tun hatte. Meine Doktorarbeit ging über einen Fundkomplex aus dem dritten und zweiten Jahrtausend vor Christus – also weit weg von der “Glyptothek”. Aber ich habe dort eben mitgearbeitet, und er kam dann – so etwas könnte man sich heute gar nicht mehr vorstellen – auch einmal nach Griechenland und hat mich zu einem bestimmten Zeitpunkt ins Athener Nationalmuseum in den Kouros-Saal gebeten. Dort hat er mich gefragt, ob ich an die “Glyptothek” kommen möchte. Ich habe mir das damals noch überlegen müssen. Ich habe zu ihm gesagt, daß ich darüber schon zuerst einmal nachdenken müßte, weil ich mir im Grunde für mich selbst doch etwas anderes vorgestellt hätte. Nach zwei Monaten Bedenkzeit habe ich zugesagt. Dann änderte sich auch mein ganzer Forschungsbereich. Es war nämlich klar, daß ich von da an richtig klassische Archäologie machen werde: griechisch-römische Kunst circa vom sechsten Jahrhundert vor bis zum fünften Jahrhundert nach Christus – das, was man in der “Glyptothek” auch aufbewahrt. Möller: Das war also die richtige und wünschenswerte Kombination von Tüchtigkeit und Glück, wie man sagen könnte. Wünsche: Ja, das war wie immer. Wir sind ja auch jetzt noch ein kleines Fach, und da ist es eben schon so, daß sich viele Leute, wenn nicht die meisten, untereinander nach einer gewissen Zeit kennen. Selbst die ausländischen Kollegen kennt man. Das ist doch etwas Schönes: Wenn man irgendwohin fährt, kann man in einer anderen Stadt, wenn es dort eine Universität oder ein Museum gibt, zumindest einen Archäologen aufsuchen. Das ist mit Jura oder mit Medizin nicht vergleichbar. Es ist eben immer noch ein Zwergfach. Möller: Bleiben wir bei diesem Gebäude, bei der “Glyptothek” in München. Als Sie dann 1970 fest angefangen haben, war sie noch gar nicht wiederhergestellt. Es gab zunächst einmal eine jahrelange Diskussion, wie man damit umgeht, daß so ein wunderschönes und repräsentatives Gebäude von Leo von Klenze im Zweiten Weltkrieg massivst von Brandbomben zerstört worden war. Der Dachstuhl war ausgebrannt, innen war alles heruntergebrochen. Sie waren damals schon von innen her an diesen Diskussionen beteiligt: Was waren so die Hauptprobleme, mit denen man sich damals auseinanderzusetzen hatte? Wie wollte und sollte man das machen? Wünsche: Die Grundsatzentscheidung war schon gefallen, bevor ich dort anfing. Die Entscheidung lautete, daß man es nicht wiederherstellt. Man muß sich ja vorstellen, daß der Bauauftrag für die “Glyptothek” erst in den späten sechziger Jahren kam: Bis dahin hat man immer noch geschwankt, ob man es nicht doch teilweise oder in einer reduzierten Form wiederherstellen sollte. Ich hätte das für eine besonders furchtbare Lösung gehalten. Möller: Was hätte das bedeutet? Wünsche: Die reduzierte Lösung hätte bedeutet, daß man den Klassizismus sozusagen etwas dünner macht – was ja häufig genug passiert ist. Es war im Grunde genommen schon das Verdienst aller Beteiligten, also der Direktion und des Architekten Wiedemann, daß man diese einfache Lösung gefunden hat. Möller: Wobei der Architekt Wiedemann mit diesem Vorschlag zunächst nicht durchgekommen war. Denn man hatte zunächst schon versucht, den anderen Weg zu gehen, und es noch einmal in voller Schönheit des 19. Jahrhunderts erstehen zu lassen. Wünsche: Ja, man hat auch Probesäle gemacht, in denen man die Wände zwar verputzt, aber dafür den Schmuck weggelassen hatte. Das waren meines Erachtens wirklich ganz schlimme Lösungen. Aber es stellte sich heraus, daß das einfach nicht ging. Es klingt zwar komisch, aber die Armut ist oft auch ein großer Künstler: Weil wenig Geld da war, war man immer gezwungen, darüber nachzudenken, wie man es in einer adäquaten Zeit überhaupt machen konnte. Das weitere Problem war natürlich, daß diese wunderbare Ausstattung im Krieg verlorengegangen ist: Sie war ja von ausgemalt worden, und von Schwanthaler hat es dazu die tollsten Stukkaturen gegeben. All dies war sicherlich ein Argument dafür zu sagen: "So etwas könnte man nur erstrangig wiederherstellen." Aber das wäre wohl überhaupt nicht finanzierbar gewesen. Man hätte diese ungeheuer teure Innenausstattung von Klenze gar nicht mehr bezahlen können. Diese Ausstattung war aber schon zu ihrer Zeit bekrittelt worden. Von Martin von Wagner z. B., das war der Aufkäufer von Ludwig gewesen, hat es immer schon geheißen: "Die teure Schale!" Schon damals hatte es Tendenzen gegeben, ob nicht die Lösung, es einfacher zu machen, besser gewesen wäre. Man muß natürlich schon auch sagen, daß Klenze so von sich eingenommen war, daß er gemeint hat, er müßte das Gebäude im Rohbau so anlegen, daß wenn nach tausend Jahren – wie er sich ausdrückte – der Stuck und die Dekoration kaputt sind, dieses Gebäude noch immer wirken würde. Möller: Was für ein Glück, daß er so arrogant gewesen ist. Wünsche: Ja, es war für uns natürlich wunderbar, daß Klenze das Gebäude im Rohbau so angelegt hatte, denn sonst hätten wir das ja gar nicht machen können. Selbst Ludwig hatte einst in einem Brief an Klenze gesagt, wie sehr ihm die unbekleideten Wände gefallen. Auf der Basis konnte man dann diskutieren und auch sagen: "Seht doch, das ist gar keine neue Konzeption, sondern das ist die alte Klenzesche und auch Ludwigsche Konzeption. Es war vor allem auch schon der Gedanke Martin von Wagners gewesen, ob man die Räume nicht ganz einfach lassen sollte." Mit diesen Argumenten konnte man denkmalschützerische Überlegungen, weil man das Gebäude im alten Zustand nun doch nicht wiederherstellte, abschwächen. Und das hat zu dieser einfachen Lösung geführt, die eigentlich nur bedeutet hat, daß man den Bau von Klenze stehen läßt und nichts daran verändert. Man hat nur innen die Wände neu verschlämmt und einen neuen Fußboden hineingelegt. Ich sage das nun nicht nur deshalb, weil ich an diesem Museum selbst arbeite, aber nach 27 Jahren kann man das schon sagen: Das war sicher die glücklichste Wiederherstellung. Unmittelbar nach der Eröffnung gab es schon ein paar Leute, die gesagt haben, daß es anders vielleicht doch besser gewesen wäre. Aber heute sind die Leute einstimmig davon überzeugt, daß die Lösung, so wie sie jetzt aussieht, eine ganz geniale Lösung gewesen ist. Möller: Weil damit natürlich auch die Inhalte viel besser zur Geltung kommen und man eben durch das Dekor des 19. Jahrhunderts nicht abgelenkt wird. Wünsche: Ich möchte Ihnen da nicht widersprechen, aber das sagt man nun so. Ich bin glücklich, daß es so ist, aber wir kennen die alte “Glyptothek” ja nur von schwarz-weiß Fotos und von ein paar Aquarellen. Ich muß schon sagen, daß das früher sicherlich auch ganz wunderbar gewesen ist. Möller: Aber doch ziemlich duster, oder? Wünsche: Das weiß ich nicht. Ich habe mich damit einmal sehr beschäftigt: Der Mann war wirklich genial gewesen, denn er hatte die Decken vergoldet und weiß gestrichen, so daß sehr viel Strahllicht von oben herunter gekommen ist. Es war anders, aber es war in sich sicher ein vollkommenes Kunstwerk. Möller: Da kommt man sowieso ins Nachdenken über die Bilder, die wir von der Klassik im Kopf haben. Nun ist der Bau, wie er von Wiedemann restauriert worden ist, mit dem verschlämmten Mauerwerk auch wirklich wunderschön. Aber dem heutigen Geschmacksempfinden nach sagt man doch, daß das 19. Jahrhundert zu farbig und zu üppig gewesen sei. Aber man muß sich dabei auch klar machen, daß die griechischen Marmorstatuen ursprünglich auch alle angemalt waren. Wünsche: Ja, wir können uns an die Antike eben immer nur annähern. Jedes Zeitalter hat eben eine andere Vision von der Antike. Das 19. Jahrhundert glaubte, man müßte diese Bruchstücke und diese Figuren, die zum Teil nur fragmentarisch erhalten geblieben waren, ergänzen, vervollständigen und in einen prachtvollen Rahmen setzen, um sie auf diese Weise zu würdigen. Das war das Konzept der damaligen Zeit. Möller: Aber man wußte im 19. Jahrhundert schon, daß diese Figuren ursprünglich alle bemalt gewesen waren. Wünsche: Man wußte auch, daß sie bemalt waren. Möller: Warum hat man es dann nie so weit getrieben zu versuchen, sie wieder anzumalen? Wünsche: Das hat man im 19. Jahrhundert schon auch gemacht. Man hat im 19. Jahrhundert Proben in der Richtung gemacht. Wir wissen ja nur, daß sie einst bemalt waren. Damals gab es genau wie heute auch schon Reste von Farbe. Aber es ist eben doch ein Unterschied zu wissen, daß sie bemalt sind, und dem Vorhaben, sie wieder bemalen zu wollen, denn wie sie genau bemalt waren, können wir nur bei ganz wenigen Figuren ansatzmäßig rekonstruieren. Man weiß ja auch, daß früher diese Maler hochbezahlt gewesen waren. Es war eben nicht so, daß sie nur angepinselt gewesen wären. Sie waren ursprünglich so grandios und auch oft so lebensecht bemalt, daß es von der “Kuh von ” geheißen hat, sie wäre so lebensecht gewesen, daß ein Stier darauf gesprungen wäre. Das kann freilich nicht stimmen. Aber das soll nur zeigen, daß die Dinge damals nicht einfach nur farbig eingefaßt waren, sondern daß es eine ganz hohe künstlerische Form gewesen sein muß. Man konnte angeblich in den Augen der Figuren sogar noch das Wasser sehen. Das war wirklich sehr grandios gemacht, aber es ist leider alles verlorengegangen. Obwohl gerade bei uns im Hause immer wieder Versuche gemacht werden – ich habe auch einen Mitarbeiter, der sich ganz darauf spezialisiert hat –, so etwas zu rekonstruieren. Aber auch das können nur Annäherungen sein. Wir haben ein paar Pigmentreste, wir haben manchmal die Muster, aber wir haben nie eine vollständige Vorlage. Aber die Wirkung einer farbigen antiken Skulptur vor einem farbigen Hintergrund wäre natürlich etwas, das uns heute etwas fremd bleiben würde. Gesetzt den Fall, daß heute irgendwo bei einer Grabung eine antike Figur mit all ihrem Schmuck – sie hatten ja auch noch Bronze- und Goldapplikationen – und in all ihrer Farbigkeit zu Tage befördert werden würde: Ich weiß nicht, ob uns das gefallen würde. Man muß also schon sehen, daß das ein ganz ungeheurer Bruch in unserer ästhetischen Anschauung wäre. Wir versuchen, es manchmal ein wenig darzustellen und zu sagen, daß man es sich so, in dieser Richtung, vorzustellen hat: Das ist natürlich schon eine ganz andere Welt. Das hat das 19. Jahrhundert genauso gewußt. Sie haben damals schon auch Versuche in der Richtung gemacht. Sie haben zum Teil auch die Architektur bemalt, denn sie war in der Antike ja auch bemalt gewesen: Das geschah aber natürlich immer nur über Annäherungen und gemäß dem Geschmack der eigenen Zeit. Möller: Zum Stichwort Rekonstruktion und Annäherung. Reden wir einmal nicht über das Bemalen, sondern über folgendes: Es gibt ja bei einer großen Reihe von erstrangigen Statuen aus der Antike das technische Problem, daß sie uns nur in Bruchstücken erhalten geblieben sind. Das geht von der “Venus von Milo” bis zu dem Beispiel, zu dem ich nun kommen möchte und das ganz intensiv mit Ihrem Namen verbunden ist, dem berühmten “Torso vom Belvedere”. Am besten ist es, wenn Sie dieses einmalige Werk selbst beschreiben. Wünsche: Bei der Antike ist es generell so, daß sie als Fragment zu uns gekommen ist. Früher, also im 16., 17. und 18. Jahrhundert, hat man Fragmente als nicht so ganz würdig empfunden und man hat sie ergänzt. Aber schon im 19. Jahrhundert haben die modernen Künstler – sicher auch von antiken Vorbildern ausgehend – Bruchstücke hergestellt: den Torso. Das Bruchstück hat natürlich oft eine ungeheure Dynamik: Wenn Sie die “Ägeneten” im jetzigen Zustand vergleichen mit dem Zustand, als sie ergänzt gewesen waren: Da wirkt doch so ein einzelnes Bein oder ein einzelner Torso ungeheuer spannend und phantasieanregend. Auch das ergibt eine Interpretation der Antike. Eines der wenigen frühen Stücke aus der Antike, das nie ergänzt worden ist, war dieser berühmte Torso aus dem Belvedere, dem ab dem Oberschenkel die beiden Beine, beide Arme und der Kopf und von der Schulter auch noch ein großer Teil fehlen. Bei diesem Torso ist eigentlich ziemlich wenig da. Aber dieser Torso hatte das Glück, daß er zu einer ungemein günstigen Zeit gefunden worden ist. Ich glaube, wenn der im 13. Jahrhundert aufgetaucht wäre, hätte man ihn ganz einfach kaputt gemacht. Er kam gerade zu einer Zeit der Frührenaissance, in der man auf einmal solche Formen sah, sie verstand und auch für wichtig hielt. Er wird gleich hoch eingeschätzt – und dann kommt schon der große Michelangelo. Möller: Wenn Sie sagen, daß dieser Torso ”gekommen sei”: Weiß man denn über den Zeitraum vor dem Jahr 1400 über diesen Torso Bescheid? Wünsche: Nein, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß diese Figur schon lange zuvor über der Erde gewesen war und auf einmal nur entdeckt worden ist. Ich denke mir, der wird im 15. Jahrhundert schon irgendwo aufgefunden worden sein... Möller: In Italien? Wünsche: In Italien, wahrscheinlich in Rom. Denn es wird berichtet, daß die Inschrift gelesen wurde: Er hatte eine griechische Inschrift, und das machte ihn noch zusätzlich spannend, denn damit wußte man, daß das ein griechisches Werk ist. Er hat diese ganzen überlebensgroßen Formen und diese starke Drehung. Er sitzt vor allem auf einem Fell, und deshalb hat man angenommen, daß er „Herkules“ darstellt. „Herkules“ ist ja die antike Figur schlechthin, die selbst im Christentum noch eine hohe Bedeutung besitzt als jemand, der die Menschheit von den Unholden befreit. Dieser monumentale „Herkules“ wurde von Michelangelo sehr geschätzt, was diesem Werk wirklich einen ungeheuren Rang eingebracht hat. Hinzu kam, daß diese Figur auch noch im Innenhof des Vatikans aufgestellt gewesen ist und damit für Künstler zugänglich war. Das ist damals sicher die berühmteste Antike gewesen – zusammen mit “Laokoon” und dem später hinzugekommenen “Apoll vom Belvedere”. Wobei aber der Torso der einzige gewesen ist, an dem nichts geändert und nichts ergänzt worden ist. Möller: Aus Respekt? Wünsche: Ich würde sagen, weil Michelangelo nichts daran gemacht hatte. Wenn Michelangelo sagt, daß man diesen Torso nicht ergänzen könne, dann hat sich nach Michelangelo, der sofort als der Göttliche gefeiert worden ist, niemand mehr an ihn herangetraut. Der Torso und Michelangelo zusammen: Das ergibt den vollkommenen Ruhm. Möller: Gab es da schon eine Tradition von Vermutungen, wen er darstellt, abgesehen vom „Herkules“? Hatte man auch schon über andere Gestalten nachgedacht? Wünsche: Eigenartigerweise hat sich diese Herkules-Deutung ungeheuer lange gehalten, obwohl sie sehr leicht zu widerlegen gewesen ist. Denn „Herkules“ hatte das Löwenfell als Attribut, und der Torso sitzt eben auf keinem Löwenfell. Man hätte also sofort sagen können, daß die Interpretation mit „Herkules“ nicht stimmt. Aber das hat später erst die Archäologie gesehen. Die Archäologie hat ihn genauer betrachtet und zu deuten versucht. Und die Archäologie hat eben gesagt, daß das gar nicht „Herkules“ sein könne. Dann beginnt natürlich der übliche Deutungswettlauf: Es gab dann einfach ganz viele Deutungen nebeneinander. Bei so einer wichtigen Figur hat jeder zünftige Archäologe irgendeine Idee. Das muß auch so sein. Möller: Wann haben Sie sich in diesen Deutungswettlauf eingeschaltet? Wünsche: Eigentlich war es so, daß der Deutungswettlauf für mich gar nicht so wichtig gewesen ist. Wissen Sie, es gibt so viele antike Monumente: Da beschäftigt sich der eine und der andere damit, bis man am Schluß sagt, daß man es sowieso nicht herausbringen könne und es gar keinen Sinn hätte. Wichtig ist, nicht nur eine fragwürdige Lösung anzubieten, die von dem einen bejaht und vom anderen abgelehnt wird, sondern der Versuch, doch eine nähere Beweisführung zu finden, die auch als Ganzes überzeugend ist. Der Grund dafür war ganz einfach, daß ich eines Tages bei einer Exkursion mit Akademiestudenten ein wenig herumprobiert habe. Ich habe sie einfach so hinsetzen lassen, wie es sich aus den Ansatzpunkten erschließt. Da kam ich auf den Gedanken, ob es nicht auch der sinnende „Aias“ sein könnte, der doch auch von Münzen und von Kleinbronzen her bekannt ist. Ich habe diese Idee aber wieder fallen lassen und sie nicht weiter verfolgt. Das war erst der Fall, als wir gesagt haben - und das war natürlich für München besonders komisch, denn wir waren es ja gewesen, die die Ergänzungen bei den Skulpturen abgenommen hatten -, „jetzt ergänzen wir einfach“. Wir hatten in der Gipssammlung einen Abguß von ihm und haben daran herumprobiert: Wir wollten einfach über das Probieren hinkommen. Das hat sich auch über eine längere Zeit hingezogen. Das ist eigentlich der Weg, mit dem man am weitesten kommt. Ich habe das früher schon einmal bei anderen Figuren gemacht, beim berühmten “Poseidon” vom Kap Athenisium, wie er damals geheißen hat. Es war immer umstritten gewesen, ob das „Poseidon“ oder „Zeus“ sei, denn diese Figur steht mit weit ausgestreckten Händen da. Ich habe einfach den Versuch gemacht zu modellieren. Damit konnte man ausschließen, daß es „Poseidon“ ist – und es daher „Zeus“ sein mußte. Möller: Da hat Ihnen der handwerkliche Hintergrund Ihres Vaters als Bildhauer schon sehr geholfen. So haben Sie dann nicht einfach nur auf die kunstgeschichtliche Überlieferung gesehen, sondern haben sich schlicht die Bohrlöcher und die Statik des Torsos angesehen. Wünsche: Und es war natürlich auch die Arbeit in der “Glyptothek”: Wenn man tagtäglich mit Originalen zu tun hat und dann auch Skulpturen vorfindet, bei denen die Ergänzungen abgenommen worden sind, ist man natürlich schon gewohnt, mit Restaurateuren umzugehen. Wir hatten bei uns ja ein ganzes Team von italienischen Restaurateuren. Man ist daher an der “Glyptothek” immer praktisch tätig. Nach einer gewissen Zeit ist man natürlich auch sehr geschult darin, mit Fragmenten umzugehen und zu sehen, wie das als Ganzes aussehen könnte. Das ist ja eine etwas singuläre Position bei uns am Haus, denn in welchem anderen Museum hat man dem ganzen Skulpturenbestand die Ergänzungen abgenommen und die Dinge wieder neu zusammengesetzt und aufstellt – und das dann auch noch über Jahre? Dadurch ist man natürlich auch in der Forschung eher in so eine Richtung gedrängt worden. Möller: Sie und die ganze Mannschaft in der “Glyptothek” haben es ja fertig gebracht – wobei auch die Politik und die guten Verbindungen zum Vatikan geholfen haben –, daß Sie das Originalkunstwerk zu Beginn der neunziger Jahre nach München bekommen haben und es dort neben Ihre Rekonstruktion stellen konnten. Wünsche: Ja, ich hatte am Anfang nicht erwartet, daß das klappt, aber ich habe zu dem zuständigen Archäologen im Vatikan ein ganz gutes Verhältnis. Ich hatte dazu im Vatikan einen Vortrag gehalten und ihn gefragt, ob man bei so einer Sache denn nicht auch einmal das Original ausleihen könnte. Aber so etwas ist natürlich ganz schwierig. Es wurden viele Briefe gewechselt und viel hin und her telefoniert. Und dann habe ich auch noch den Herrn Kultusminister davon überzeugt, der Gott sei Dank auch sehr angetan war davon. Dann hat man überlegt, welche Möglichkeiten es gäbe und daß Kardinal Ratzinger auch zustimmen müßte. Das wurde von beiden Seiten lange sondiert, und am Ende hat sich sogar noch Frau Stoiber bereit erklärt, den Brief selbst zu überbringen. Das waren natürlich alles günstige Voraussetzungen, so daß sie dann zugestimmt haben. Diese Ausstellung wird übrigens ab dem 19. November 1998 in Rom im Vatikan gezeigt. Möller: Hat sich denn Ihre Deutung durchgesetzt, daß es sich nicht um “Herkules”, sondern um “Ajax” handelt? Wünsche: Ja, dazu muß ich natürlich schon sagen, daß die Ausstellung dafür nur der Endpunkt gewesen ist. Ich hatte natürlich vorher schon in wissenschaftlichen Zeitschriften das Ergebnis veröffentlicht. So etwas muß man ganz einfach veröffentlichen, damit darüber diskutiert werden kann. Es wurden auch viele Vorträge gehalten und... Möller: Gab es denn auch scharfe Einsprüche? Wünsche: Nein. Denn typischerweise ist es am Schluß immer so, daß auch andere sagen, sie hätten diese Idee schon einmal gehabt, oder daß gesagt wird, daß das ja ganz einfach sei. Das ist eigentlich immer eher ein Zeichen dafür, daß man recht hat. Wobei ich schon sagen muß, daß die Rekonstruktion, so wie sie jetzt ist, auch nur eine Annäherung ist. Wir sind uns darüber schon im klaren, daß wir nur versucht haben, die Grundbewegung darzustellen. Wenn man z. B. die vielen Löcher am Rücken dieser Figur sieht, muß man sagen, daß da vielleicht auch noch das Schild des “Aias” dargestellt worden war. Vielleicht war das dahinter aber auch ein Baum. Vielleicht hat er auch sein Bein auf einem Schaf aufgestützt. Man muß sich das alles viel reicher vorstellen. Wir haben dazu nun noch ein kleines Modell gemacht, bei dem wir eine ganz kühne Lösung suchen und anhand von Darstellungen auf antiken Bildwerken und kleinen Münzen oder Gemmen zeigen, wie man sich das Ganze vollständig vorstellen könnte. Es wäre natürlich schon interessant, wenn man das einst herausbekommen könnte. Möller: Nun hat diese Figur noch eine besondere Pointe. Bei uns gibt es einen Kult um das Original: Das Original ist unerreichbar, und die Kopie ist sozusagen schon nur noch die zweite Wahl. Es gibt dazu auch ganze kunsttheoretische Ansätze wie z. B. den von Walter Benjamin über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Diese Statue, die jetzt wieder als Torso im Vatikan steht, ist ja selbst eine Kopie und gar nicht das Original. Wünsche: Ja, es ist schon so, daß wir mit dem Begriff der Originalität in der Archäologie nichts anfangen können. Denn es gibt wirklich nur ganz wenige originale griechische Skulpturen. Die Bronzestatuen, die im fünften Jahrhundert geschaffen worden sind, wurden später alle eingeschmolzen. Die wenigen, die wir im Original haben, sind entweder wie der „Wagenlenker“ in Delphi in der Antike einmal verschüttet worden oder beim Transport, als sie die Römer von Griechenland nach Italien bringen wollten, bei einem Schiffbruch untergegangen, so daß man sie heute aus dem Meer herausholen kann. Aber das kommt wirklich nur ganz selten vor. Das meiste, das wir haben, sind römische Kopien. Das sind römische Kopien, die gemacht worden sind, weil sich das Original entweder nur der Kaiser oder ganz bedeutende Römer leisten konnten. Aber der kunstsinnige Römer wollte so etwas auch zu Hause haben genauso wie die Städte, die auch weiterhin solche Meisterwerke besitzen wollten. Und daher hat man von diesen Meisterwerken eben Kopien angefertigt. Das sind also Kopien, die 700 Jahre später geschaffen worden sind: Das muß man dabei immer mitbedenken – genauso wie die Tatsache, daß sie den Stil ihrer Zeit in sich tragen. Da aber diese Kopien so zahlreich gemacht worden sind, haben wir von vielen berühmten griechischen Statuen eine ganze Reihe von Kopien: von der “Aphrodite von Knidos” haben wir zwar kein Original, aber wir haben über hundert erhaltene Kopien. Diese Kopien kann der Archäologe sondieren: Er kann dann sagen, was eine gute und was eine schlechte Kopie ist, und er kann sich anhand dieser vielen Kopien auch eine Vorstellung davon machen, wie das Original in etwa ausgesehen haben dürfte. Aber das ist und bleibt eigentlich immer offen. Möller: Mir ist bei der Vorbereitung auf dieses Gespräch noch etwas aufgefallen: Es war für mich ein richtiger Schock, als ich gesehen habe, daß bei irgendeinem dieser Nazi-Kunstumzüge auch so ein Styropormodell des “Torso vom Belvedere” durch Münchner Straßen getragen worden ist. Ich habe mir gedacht, daß unsere Meinung, unsere abendländische Humanität sei aufgehoben in der Rückversicherung am griechischen Original, wohl nicht haltbar ist. Wir dachten doch immer, daß diese griechischen Originale auch die Leitbegriffe für unsere Vorstellung von Menschlichkeit seien und doch eigentlich nichts schief gehen könnte, wenn man sich das als Maßstab erhalten würde. Aber man könnte sich eben durchaus vorstellen, daß sich ein Nazi-Bildhauer – in der entsprechenden Verhunzung und Vergröberung – irgendwie an diesem Ideal orientiert hätte. Wünsche: Ja, aber das ist natürlich auch ein Umstand der Zeit, denn in den zwanziger Jahren beginnt auch bei modernsten Künstlern eine allgemeine Rückbesinnung: Man geht wieder etwas zurück auf die Antike. Selbst bei Picasso kann man feststellen, daß er in seinen Formensprachen doch wieder ganz stark auf so etwas zurückgeht. In Frankreich könnte man das z. B. mit Maillol in Verbindung bringen. Ein Teil der Künstler hat sich in dieser Zeit eben wieder auf solche Vorbilder berufen. Arno Breker z. B., der ja lange Zeit in Paris gearbeitet hatte, hat ganz bewußt – schon bevor das Nazi-Reich begann – auf solche Formen Wert gelegt. Daß dann dieser dritte Klassizismus, wie ich ihn hier einmal nennen will, zur Staatskunst gemacht worden ist und in den monumentalen Darstellungen völlig verkommen ist, ist eine andere Frage. Aber die Architektur zu der Zeit kennt diese Richtung durchaus: Bauten, wie wir sie hier in München in der Meiserstraße haben, oder solche wie das gibt es auch in Washington. Das war eben ein ganz bestimmter Klassizismus. Auch das Bauhaus hatte solche klassizistischen Formen an sich. Ich würde sogar sagen, daß auch die Moderne wie z. B. Le Corbusier ganz stark auf diese Vorbilder zurückgegriffen hat. Möller: Ich meinte meine vorherige Anmerkung eigentlich ein wenig anders. Meine Überlegung bezog sich auf die Naivität der Annahme, mit der man geglaubt hat, daß die Orientierung an den klassischen Originalen und Maßstäben den Absturz in die Unmenschlichkeit und Bestialität verhindern würde: Diese Rechnung ist aber nicht aufgegangen. Wünsche: Nein. Möller: Umgekehrt ist es ja auch so, daß sich die moderne Kunst um das Jahr 1900 herum zum Teil vom griechischen Leitbild weg und zu afrikanischer und asiatischer Kunst hin umorientiert hat. Sie würden daher auch sagen, daß diese Rangfolge, bei der die Spitze vom Griechischen repräsentiert wird und alles andere erst darunter kommt, heute nicht mehr vertretbar ist? Statt dessen stehen heute die Dinge gleichberechtigt nebeneinander. Wünsche: Ja, unbedingt. Die Meinung, daß jemand, der Altgriechisch lernt oder die griechische Kunst schätzt, auch ein guter Mensch sei, ist natürlich irrig. Himmler soll z. B. ein ganz großer Geiger gewesen sein. Möller: Sein Vater war Griechischlehrer – aber der war natürlich nicht für seinen Sohn verantwortlich. Wünsche: Ja, das sagt eben gar nichts. Es gab viele Nazis, die sogar sehr musikalisch gewesen sind – und trotzdem waren sie Bestien. Wenn einer in ein Antikenmuseum geht, wird er deswegen noch kein besserer Mensch. Auch die Antike war nicht so besonders in der Hinsicht, denn auch da kommt ja wieder nur so ein Ideal zum Vorschein, das wir haben. Möller: Wer in ein Antikenmuseum geht, ist daher mit Sicherheit kein besserer Mensch. Aber das ist kein Grund, nicht in ein Antikenmuseum zu gehen. Wie ist denn Ihre Besucherakzeptanz? Welche Besucherströme haben Sie? Wünsche: In der “Glyptothek” können wir uns nicht beklagen. Wir haben ganz gute Zahlen: pro Jahr circa 130000 Besucher. Wir haben dabei auch die Genugtuung, daß wir nicht nur die älteren Leute anziehen, bei denen man sagen kann, sie kämen aus dem humanistischen Gymnasium, sondern daß sich heute in einer Zeit, in der quasi alle jungen Leute von neusprachlichen Gymnasien kommen, weil es in Bayern nur noch ganz selten ein altsprachliches Gymnasium gibt, auch diese jungen Leute von uns angezogen fühlen. Dabei haben wir nun eher das Problem, daß wir selbst umdenken müssen, weil man eben doch sehen muß, daß bestimmte Voraussetzungen einfach nicht mehr gegeben sind: Man kann heute lateinische Worte, die uns völlig geläufig sind, nicht mehr gebrauchen. Wir müssen daher in allen Publikationen versuchen, eine Sprache zu finden, die auch für denjenigen verständlich ist, der in der Schule kein Wort Latein oder Griechisch gelernt hat. Möller: Sie unternehmen in der Richtung ja auch sehr prononcierte museumspädagogische Anstrengungen, um das Publikum für Ihre Schätze zu begeistern. Wünsche: Ja, denn wir haben es besonders schwer, weil unser Museum schon eine gewisse Bildungsvoraussetzung besitzt. Das rührt schon von diesem Bau her, so wie er dasteht mit seinen Säulen: Von außen wirkt er ja immer etwas abweisend. Denn beide Gebäude, die “Glyptothek” und die “Antikensammlung”, wirken ja wie Tempel. Das ist zwar festlich, aber es ist eben auch nicht so selbstverständlich, dort hineinzugehen. Möller: Das ist also doch eine Hemmschwelle. Wünsche: Ja, das würde ich schon so sehen. Dazu kommt dieses riesige Bronzetor: Das wirkt nicht so wie ein modernes Museum, bei dem es eine Eingangssituation wie bei einem Kaufhaus gibt. Möller: Aber man muß schon wissen, daß es drinnen eine wunderschöne Cafeteria gibt, denn das hilft vielleicht auch. Wünsche: Das ist eine Hilfe, ja. Wir haben auch einen wunderbaren Innenhof. Wir müssen also schon viel unternehmen, damit wir die Leute zu uns herein bekommen. Denn wir sind davon überzeugt, daß ein Besucher, wenn er einmal bei uns im Museum ist, davon auch berührt wird. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß es nur ganz wenige Menschen gibt, bei denen das nicht der Fall ist, die nicht von dieser Ästhetik der Aufstellung oder auch von der Monumentalität der Räume berührt sind. Wir sind wirklich überzeugt davon, daß man sich bei uns wohl fühlen kann. Aber bis wir die Leute eben bei uns im Museum haben, gibt es schon gewisse Hemmschwellen. Auch mit dem Namen haben wir natürlich so unsere Schwierigkeiten. Deswegen muß man eben mit verschiedenen Mitteln versuchen, die Leute zu uns herein zu bekommen, denn dann erst kann die Sache selbst wirken. So haben wir z. B. schon sehr früh damit begonnen, auch Personen anzusprechen, die nicht unbedingt nur an der Antike interessiert sind. Ich finde das auch gar nicht notwendig. Ich kann mir z. B. sehr gut vorstellen, daß zu uns gerne Leute kommen, die vor allem zeichnen wollen. Man kann ja nirgends so gut probieren, Figuren zu zeichnen wie bei uns, weil sich die Figur nicht rührt, weil sie ja aus Stein oder Gips ist. Wir haben daher auch schon alle möglichen Zeichenschulen angesprochen, ob sie nicht zu uns kommen möchten: Ihnen werden dann Hocker gestellt und auch Bretter hingelegt, damit sie zeichnen können. Das hat von Anfang an auch sehr eingeschlagen. Es gibt Tage, an denen in der “Glyptothek” mehr Zeichner als sonstige Besucher sind. Möller: Wunderschön. Wir sind schon am Ende unserer Zeit, was mir im Augenblick wirklich leid tut, denn es war sehr schön, daß Sie bei uns gewesen sind. Zu Gast, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, war heute Professor Raimund Wünsche, der Direktor der „Staatlichen Antikensammlung” und der “Glyptothek” in München.

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