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Ein Kritiker bezeichnete ihn einmal als »the most beautiful sound next to silence«, den Klang der Edition of Contemporary Music (ECM). Mit reduzierter Ästhetik und namhaften Künstlern hat das Münchener Label in vierzig Jahren einen neuen musikästhetischen Standard geschaffen. text Patrick KRAUSE

»A master musician goes onto the stage hoping to hatte auch die Nacht davor kaum geschlafen. Aber am Ende ist geworden, seine »Einzelgänger-Eskapaden jenseits des Main- stens aufwertet. Und trotzdem: Alles bleibt aufs Wesentliche have a rendezvous with music. He/she knows the music die Oper voll, ein Jazzpianist setzt sich an das Piano, und diese stream« (Irish Times) werden weltweit anerkannt. Solo-Einspie- reduziert. Die Schwarz-Weiß-Fotografie, oft auf Nebelschwaden, Musik entsteht, die »die Plattenschränke jener Zeit ziert wie die lungen von Jazzmusikern waren bei weitem nicht Eichers letzte Himmel oder Steine beschränkt, nimmt die akustische Stimmung is there (it always is), but this meeting depends not Poster von Che Guevara Studentenbuden ein Jahrzehnt zuvor« Produktionsidee. Schönberg und Schubert in der Reihenfolge vorweg, auf die der Hörer sich einschwingen darf. Die Musik only on knowledge but on openness. (...) It is a discri- (FAZ). Wer heute bei dem Begriff »Jazz« nicht an schwarze Jim abzuwechseln, statt sie schön ordentlich zu trennen, überhaupt selbst scheint oft schwerelos, entrückt, dunkel. Eine Stimmung, mination against mechanical pattern, for content, Crows mit aufgeblasenen Backen und Kulleraugen denkt oder beides auf einer CD zu produzieren wie bei Thomas Larchers die absichtsvoll inszeniert wird. against facile emotion, for a certain quality of energy, panisch an Freejazz-Eskapaden, der ist möglicherweise mit Köln »Klavierstücken«? Bei den üblichen verdächtigen High-Brow- Concert und ECM erwachsen geworden. Labels vollkommen undenkbar. Mittelalterliche Gesänge mit Jarrett sagte einmal: »Solokonzerte sind so ziemlich die enthül- against stasis, for flow, against military precision, einem frei improvisierenden Sopransaxophon kreuzen? Ein Sa- lendste psychologische Selbstanalyse, die ich mir vorstellen kann.« for tactile pulse. It is like an attempt, over and over Kein Wunder, dass im Produzenten selbst ein Musikerherz schlägt. krileg, so geschehen beim Officium-Projekt mit dem Hilliard Eicher achtet darauf, dass nichts ablenkt. Viele Jahre lang nahm again, to reveal the heart of things.« ECM ist das Werk von , seines Zeichens selbst Ensemble und ECMs zweiten »Star« , deren neuar- ECM seine Platten bevorzugt im Osloer Rainbow Studio von Jan Kontrabassist, und Ende der Sechziger Jahre unzufrieden mit den tige Mischung aus Choral und Jazz, aufgenommen in der Propstei Erik Kongshaug auf, ganz bewusst: Musiker wie der brasilianische Produktionsbedingungen, die er in den Studios antrifft. Deshalb St. Gerold, es sogar in Deutschlands Top 40 geschafft hat, und die Gitarrist Egberto Gismonti waren angesichts der kurzen Tage sehr , Live at the Blue Note legt er bald selbst Hand an, produziert Musikerkollegen wie Wolf- mit ihrem neuen Album »Officium Novum« gerade wieder daran verwirrt; sie gingen morgens ins Studio und kamen abends oder gang Dauner, Mal Waldron und kurz darauf auch diesen jungen anknüpfen. Dazwischen gibt es ein breites Spektrum an musika- nachts mit einer anders intendierten Musik wieder heraus. Die Pianisten, der gerade bei Miles Davis für Furore gesorgt hatte: lischen Facetten, eingespielt auf bislang mehr als 1.200 Alben. »Stimmung« macht ECM aus. Nicht eine solche, die sich Föhn- Keith Jarrett. Der ist froh, jemanden gefunden zu haben, der ihn Unter anderem produzierte Eicher den blutjungen Pat Metheny, frisuren oder Radio-Nebenbeihörer vorstellen. Eher schon Medi- improvisieren, frei auf dem Klavier agieren lässt – und nicht, wie machte den Komponisten Arvo Pärt und den Trompeter Nils Peter tation. ECM ist eben nicht apollinisch, ECM ist dionysisch. Es er dem SPIEGEL einmal referierte, »wie diese Föhnfrisuren der Molvaer einem breiten Publikum bekannt, entdeckte neue Kom- regnet auf diesen Aufnahmen, und es ist schön, einsam, still. Es ist Major Labels, die dich in einer Bar in Manhattan über den Tisch ponisten wie Giya Kancheli, produziert seit Jahrzehnten alte sogar vollkommen in Ordnung ECM zu hören, wenn man traurig Man kennt das Köln Concert. Besonders Part IIc. Sieben ziehen wollen«. Mit Jarretts erster Solo-LP »Facing You« entsteht ECM-Stallhasen wie John Abercrombie, Charlie Haden, Ralph ist, weil diese Stimmung trägt. Dann ist nichts mehr da, außer der Minuten Nostalgie, Elegie, Erotik. Es ist Sonntagmorgen und ein bis dato »unerhörtes« Genre, hat man von Solo Piano-Werken Towner, Egberto Gismonti, Enrico Rava, Miroslav Vitous, Charles Musik, kein Objekt, kein Bild, kein Motiv, nichts Gegenständ- draußen regnet es. Wie viele solcher Morgen vom Köln Concert im Jazz doch wenig gehört. Und ... ist das Jazz? Oder ist es nicht Lloyd, Stephan Micus, Paul Motian, vollendete das Klangbild liches. Nur Stimmung – obwohl diese Musik so räumlich ist. in stuckverzierten Altbauwohnungen oder vornehmen Vorstadt- einfach egal? Bis heute entstanden mehr als fünfzig ECM-Ein- des Art Ensemble of Chicago, fördert neue Talente wie den Schelling bezeichnete Architektur als »gefrorene Musik«. Hegel bungalows akustisch absolviert wurden; niemand vermag es zu spielungen mit Keith Jarrett, solo, auf dem Klassik-Label New italienischen Pianisten Stefano Bollani, die Schweizer Sängerin verglich das musikalische Hörerlebnis mit einer Andacht. Bei sagen. Mit über 3,5 Millionen Exemplaren ist das Konzert das Series, mit dem europäischen und dem legendären American Susanne Abbuehl, die israelische Pianistin Anat Fort, die deutsche ECM-CDs setzt die Andacht unmittelbar ein – das erste Stück bestverkaufte Solo Piano-Album aller Zeiten. Und ein Anfang. Quartet, und vor allem mit dem Trio, das in Begleitung von Gary Julia Hülsmann und viele andere. Auch das Label ECM New beginnt grundsätzlich erst nach fünf Sekunden. Wenn »Jazzpapst« Die von dem Pianisten Keith Jarrett solo getragene und vorge- Peacock (Bass) und Jack DeJohnette (Drums) seit 25 Jahren fast Series setzt mittlerweile im Bereich der so genannten »Ernsten Joachim-Ernst Berendt meinte, die Welt sei Klang, dann ist ECM tragene, frei improvisierte Stimmung vereint die Wurzeln des Jazz ausschließlich und sehr erfolgreich die Jazz-Standards des Great Musik« Maßstäbe. Die Konkurrenz scheut sich nicht einmal davor, eine eigene Klangwelt, in die man abtauchen kann, verschwinden mit Romantik, Impressionismus und, ja, einem Hauch Kitsch. American Songbook wiederbelebt. die Coverästhetik zu kopieren. wie der Mann in seinem eigenen Bild in der chinesischen Erzäh- Hervorgerufen spontan. Jarrett setzt sich an das Klavier und weiß Der direkte Kontakt mit den Künstlern ist Eicher heute noch Kaum ein bedeutender zeitgenössischer Jazzmusiker, der nicht lung, verschwunden in einer einzigartigen Stille – tatsächlich nicht, was gleich passiert. Der magische Moment von Part IIc, wichtig, sein Status des Produzenten als »dritter Mann« mani- eine Einspielung von ECM in seinem Portfolio vorweisen kann. bezeichnete ein Kritiker ECM als »the most beautiful sound next ehemals »Seite 4« aus dem Zeitalter der Schallplatte, entstand festiert sich etwa auf dem Plattencover des Duos Enrico Rava/ Denn ECM ist längst, um nicht die Mercedes-Metapher zu be- to silence«. Im Werksverzeichnis der »Deutschen Standards« steht wirklich nicht konstruiert. Das Ersatzklavier auf der Bühne der Stefano Bollani, wo man links unten noch die Schuhe des »Third mühen, ein Markenzeichen geworden, das adelt. Schon wegen des ECM als »Das Plattenlabel« eingetragen. Deutsch, puristisch, Kölner Oper war eine Katastrophe. Das Konzert wäre beinahe Man« sieht. Der Erfolg gibt ihm Recht: Gerade ist Eicher zum Klangs, dann auch wegen der detailgenauen und liebevollen ästhetisch, mittlerweile Standard. Keine Frage: Wäre ECM Archi- abgesagt worden. Jarrett war nach einer endlosen Fahrt in einem dritten Mal hintereinander Producer of the Year im renom- Aufbereitung von Typo- und Fotografie bis zum charakteristischen tektur, es wäre Bauhaus. ruckeligen Renault 4 von der Schweiz nach Köln erschöpft und mierten Down Beat Critics Poll, und ECM Label of the Year ECM-Umschlag, der den unumgehbaren Acrylcontainer wenig-

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