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Martina Frank Karlstr. 5 70839 Gerlingen

Dissertation zur Erlangung des akademischen Doktorgrades (Dr. phil) im Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaft zum Thema:

MACHT UND MYTHOS: Bedeutung und Ursprünge ideologischer Macht aufgezeigt am Beispiel des italienischen Nationalismus mithilfe der Figurationssoziologie Norbert Elias', des IEMP- Modells Michael Manns und der Mythostheorie nach Roland Barthes

ERKLÄRUNG:

Ich versichere hiermit, dass ich die Arbeit selbstständig verfasst und keine anderen Quellen und Hilfsmittel als die angegebenen benutzt habe. Ferner habe ich die Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinn nach entnommen wurden, in jedem einzelnen Fall unter Angabe der Quelle als Entlehnung kenntlich gemacht.

Außerdem habe ich eine Hausarbeit oder Prüfungsarbeit mit gleichem oder ähnlichem Thema weder an der FernUniversität Hagen noch an einer anderen Hochschule jemals eingereicht.

Gerlingen, den 2. Dezember 1996

Martina Frank 3

0. EINLEITUNG ...... 6

I. THEORETISCHER TEIL...... 10 I.1 DIE HYPOTHESEN...... 10 I.2 WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE VORBETRACHTUNG ...... 12 I.2.1 Berücksichtigung der menschlichen Wahrnehmung...... 12 I.2.2 Elias: Engagement und Distanzierung...... 13 I.2.3.1 Der Modellbegriff bei Max Black ...... 18 I.2.3.2 Der Metapherbegriff bei Max Black ...... 19 I.3 DAS INSTRUMENTARIUM (I)...... 22 I.3.1 Norbert Elias: Figurationssoziologie...... 23 I.3.2 Spielmodelle: Modelle normierter Verflechtungen ...... 34 I.3.2.1 1) Zweipersonenspiele...... 35 I.3.2.2 2) Vielpersonenspiele auf einer Ebene...... 37 I.3.2.3 Vielpersonenspiele auf mehreren Ebenen ...... 40 I.3.2.4. 3a) Zweistöckiges Spielmodell...... 42 I.3.2.5. 3b) Zweistöckiges Spielmodell: ...... 43 Vereinfachter Demokratisierungstyp...... 43 I.3.2.6. Zusammenfassung und Problematik ...... 44

I.3.3 MICHAEL MANN: ...... 46 DIE VIER QUELLEN DER MACHT (IEMP) ...... 46 I.3.3.1 Gesellschaften als organisierte Machtgeflechte...... 46 I.3.3.2 Menschliche Natur und soziale Macht ...... 49 I.3.3.3 Organisationelle Macht...... 51 I.3.3.3.1 Kollektive und distributive Macht...... 51 I.3.3.3.2 Extensive, intensive, autoritative und diffuse Macht...... 53 I.3.3.4 Manns Auseinandersetzung mit aktuellen Schichtungstheorien ...... 55 I.3.3.5 »Ebenen« und »Dimensionen« von »Gesellschaft«...... 57 I.3.3.6 Das Durcheinander von Organisationen und Funktionen...... 60 I.3.3.7 Machtorganisationen ...... 61 I.3.3.8 Die vier Quellen und Organisationsformen von Macht...... 64 I.3.3.8.1. Ökonomische Macht...... 64 I.3.3.8.2. Militärische Macht...... 66 I.3.3.8.3 Politische Macht ...... 67 I.3.3.8.4 Ideologische Macht...... 68 I.3.3.9 Das IEMP-Modell:...... 69 Was es umfasst, und was es nicht umfasst ...... 69

I.3.4 SIGMUND FREUD: ÜBER-ICH, ICH UND ES ...... 72 I.3.4.2 Der psychische Apparat...... 73 I.3.4.3 Bewusstsein und Unbewusstes ...... 77

I.3.5 DER STRUKTURALISMUS...... 81 I.3.5.1 Saussure ...... 81 I.3.5.1.1 »Parole« und »langue«...... 82 I.3.5.1.2 Die Arbitrarität des Zeichens...... 84 I.3.5.1.3 Bezeichnetes und Bezeichnendes ...... 87 4

I.3.5.1.4 Synchronie und Diachronie ...... 91 I.3.5.5 Jacques Lacan: Der Vorrang der parole ...... 92 I.3.5 Das Mythos-Konzept Roland Barthes'...... 101 I.3.5.1 Das semiologische System des Mythos...... 104 I.3.5.2 Wie liest und entziffert man einen Mythos? ...... 106 I.4 DAS INSTRUMENTARIUM II:...... 110 DIE ELEMENTE...... 110 I.4.1 Die Ebene der Gesellschaft: ...... 110 I.4.1.1 Menschengruppen als Figurationen:...... 110 Die Figurationssoziologie Norbert Elias' ...... 110 I.4.1.2 Die Figuration der Machtquellen: ...... 111 Die Übertragung der Figurationssoziologie auf...... 111 das Modell Michael Manns ...... 111 I.4.2 Die Ebene des Individuums...... 113 I.4.2.1. Die Figuration der Persönlichkeit: ...... 113 Die Übertragung der Figurationssoziologie auf...... 113 das Persönlichkeitsmodell Sigmund Freuds...... 113 I.4.3 Strukturen der Sprache...... 115 I.4.3.1 Das Strukturmodell Ferdinand de Saussures und seine Modifikation bei Jacques Lacan...... 115 I.4.3.2 Strukturen ideologischer Macht: Das strukturalistische Modell Roland Barthes' ...... 117 I.5 HANDHABUNG DES INSTRUMENTS ...... 119

II. PRAKTISCHER TEIL...... 120 II.1. EXKURS: ABRISS DER ITALIENISCHEN GESCHICHTE ...... 121 II.1.1. Von der Invasion Napoleons bis zum Risorgimento ...... 121 II.1.2. Vom Risorgimento bis zum Ende des I. Weltkriegs...... 124 II.1.3. Von der faschistischen Ära bis zum Ende des II. Weltkriegs...... 125 II.1.4. Die Erste Republik ...... 129 II.1.5. Der Beginn der Zweiten Republik...... 141 II.2 FIGURATIONEN DER MACHTTYPEN IN ITALIEN...... 143 II.2.1 Die inneren Figurationen des Risorgimento...... 144 aus der Perspektive der Vertreter der italienischen...... 144 Einheit ...... 144 II.2.2 Figurationen des italienischen Staates ...... 149 II.3. DIE BEGRIFFE NATIONALISMUS UND NATION ...... 157 II.3.1. Der Begriff der Nation bzw. des Nationalstaats...... 157 II.3.2. Der Begriff des Nationalismus ...... 163 II.4 DIE AUSBILDUNG NATIONALER KRITERIEN IN ITALIEN ...... 168 II.4.1 Die territoriale Einheit Italiens...... 168 II.4.2 Die kulturelle Einheit Italiens ...... 170 II.4.2.1 Die Generierung einer italienischen Sprache...... 171 II.4.2.1.1 Die sprachliche Situation im heutigen Italien...... 171 II.4.2.1.2 Das historische Werden der italienischen Sprache ...... 173 II.4.2.2 Gemeinsame wirtschaftliche und soziale Institutionen...... 190 II.4.2.3 Glaube an eine gemeinsame Geschichte...... 193 II.4.2.4 Konstruktion eines "Wir-Gefühls"...... 196 5

II.5 DER MYTHOS NATIONALISMUS IM BARTHESSCHEN SCHEMA...... 199 II.5.1 Der nationalistische Mythos Mazzinis...... 199 II.5.2 Die zweite Stufe der Mythisierung: ...... 205 Der Transformationsprozess...... 205 von der Ideologie des Nationalismus zum Imperialismus ...... 205 II.5.3 Der Mythologe Labriola ...... 212 II.5.4 Der Mythos Gabriele D'Annunzios ...... 217 II.5.5 Der Mythos Mussolinis ...... 227 II.5.5.1 Die Ideologie Vilfredo Paretos...... 229 II.5.5.2 Das Denkmodell Mussolinis ...... 237 II.6 FAZIT ...... 250

GLOSSAR...... 257

LITERATUR...... 280

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0. EINLEITUNG

Die vorliegende Arbeit besteht aus einem »theoretischen« und einem »praktischen« Teil. Unter »theoretisch« wird hier die Entwicklung eines Modells verstanden, das dazu dienen soll, die Hauptmachtquellen mensch- licher Gesellschaften zu verdeutlichen, wohingegen mit »praktisch« die An- wendung dieses Modells auf einen konkreten Fall, hier der Prozess des italienischen Nationalismus, gemeint ist.

Nach der Entwicklung richtungweisender Hypothesen in Kapitel I.1 erfolgt in Kapitel I.2 eine wissenschaftstheoretische Vorbetrachtung, die mit einer Vorbemerkung über die spezifisch menschliche Wahrnehmung (I.2.1) beginnt. Es folgt eine Auseinandersetzung mit der wissenschaftstheo- retischen Position von Norbert Elias (I.2.2), da dessen figurationssoziolo- gisches Modell für das hier entwickelte wesentliche Elemente liefert. Am Ende dieser methodischen Vorbetrachtungen zeigt ein Exkurs zum Thema »Modelle und Metaphern«, welche Vorteile selbst ein naturwissen- schaftlich, d.h. prinzipiell empirisch ausgerichteter Denker wie Max Black in der Verwendung von Modellen und Metaphern sieht, was nicht zuletzt dazu dient, die Vorteile herauszustreichen, die die gewählte Methode bietet, wenn größere Zusammenhänge untersucht werden sollen. Mit dem Verzicht auf die Anwendung empirischer Methoden im Hinblick auf die Unter- suchung der in den Mittelpunkt dieser Arbeit gestellten Thesen wird diesen jedoch keine grundsätzliche Absage erteilt, im Gegenteil werden diese für die Untersuchung von Detailfragen nach wie vor zur Anwendung kommen 1 müssen .

In Kapitel I.3 »Das Instrumentarium« wird dieses entwickelt, indem die höchst unterschiedlichen Elemente, aus denen es besteht, hinsichtlich ihrer Herkunft beschrieben und erläutert werden. Diese Elemente sind das

1 Es findet sich eine resümierende wissenschaftstheoretische Betrachtung Arnd Mertens' in: Sandkühler, Hans Jörg: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften; Hamburg: Meiner, 1990 unter dem Stichwort METHODE/METHODOLOGIE (S. 403 - 412, Bd. 3; ebenso ders. in: Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie; Hamburg: Meiner, 1999, Bd. 1, S. 832 - 840). Eine Betrachtung zum Methodenproblem in der Philosophie im Allgemeinen findet sich in: Krings, Hermann; Baumgartner, Hans Michael; Wild, Christoph: Handbuch philosophischer Grundbegriffe; München: Kösel, 1973, Bd. 4, S. 913 -929 und in: Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, 1980, Bd. 5, Sp. 1304 - 1332).

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Spielemodell, das von Norbert Elias im Rahmen seiner Figurations- soziologie konzipiert wurde (I.3.3), das IEMP-Machtquellenmodell Michael Manns (I.3.3), das psychische Modell Sigmund Freuds bestehend aus Über- Ich, Ich und Es (I.3.4) und das strukturalistische Mythos-Konzept Roland Barthes' (I.3.5.3), das dieser im Anschluss an die Arbeiten von Saussure (I.3.5.1) und Lacan entwickelte (I.3.5.2).

Nach dieser Darstellung der Elemente des hier entwickelten Instrumen- tariums werden in Kapitel I.4 dessen Funktionen und Anwen- dungsmöglichkeiten in Bezug auf menschliche Gesellschaften vorgestellt. Dabei erfolgt eine Unterteilung derselben in einerseits die Ebene der Men- schengruppe (I.4.1) und andererseits in die Ebene des Individuums (I.4.2), wobei unter Menschengruppe alle Formationen zu verstehen sind, die aus mehr als einem Individuum gebildet wurden, ohne Ansehen des Grades ihrer Strukturiertheit oder ihrer internen und externen Organisation. Welchen Ordnungskriterien bzw. Machtkriterien eine Figuration jeweils unterliegt, kann mit dem Mannschen IEMP-Modell untersucht werden, dessen Elemente wiederum eine Figuration bilden (I.4.1.2). Das Modell der dynamischen, sich stets prozesshaft verändernden Figuration wird hier als grundlegende Denkfolie verstanden, die allem gesellschaftlichen und indi- viduellen Geschehen zu jeder Zeit zugrunde liegt.

Doch kann nicht die Gesamtheit der figurativen Prozesse innerhalb einer Arbeit fokussiert werden. Deshalb wird hier ein Aspekt ausgewählt, der anhand der dargelegten theoretischen Vorlagen genauer untersucht wird. Die so getroffene Auswahl, die den Schwerpunkt auf die in einer Figuration stattfindenden ideologischen Prozesse legt, erfolgte ausschließlich unter dem Gesichtspunkt meines persönlichen, emanzipatorisch ausgerichteten Erkenntnisinteresses, das von der Überzeugung der nicht zu über- schätzenden Auswirkungen dieser ideologischen Prozesse auf alle anderen geleitet wird, da sowohl die Art und Weise als auch die Richtung der Prozesse in allen anderen Teilfigurationen stets einen ideologischen Hintergrund haben, der allerdings nicht immer ins Bewusstsein der betroffenen Individuen dringt. Aus diesem Grund erschien es mir sinnvoll, mit der Betrachtung dieses Prozesses zu beginnen. Diese Selektion begünstigt meiner Ansicht nach die Anwendung des strukturalistischen Mythoskonzepts Roland Barthes' (1.4.3.2), wie es anhand eines Nach- zeichnens seiner Vorgeschichte bei Saussure und Lacan verdeutlicht wird.

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Kapitel I.5 enthält schließlich grundsätzliche Vorschläge zur Nutzung des gewonnenen Instruments und leitet so zu Teil II über, in dem das Konzept zur »praktischen« Anwendung kommt.

Teil II beginnt mit einem Abriss der italienischen Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte, da diese als Material zur Erprobung der vorgelegten Theorie verwendet wird. Die Wahl dieses Materials erfolgte ebenfalls allein aus persönlichem Interesse, das aber nicht zuletzt durch die aktuellen politischen Konstellationen in Italien erregt wurde, die mich zu Frage- stellungen bezüglich den diesen zugrunde liegenden ideologisch-histori- schen Prozessen anleiteten. Dennoch halte ich für diesen Zweck jedes historische oder auch aktuell politische Material für prinzipiell geeignet, selbstverständlich unter der Voraussetzung, dass die Wahl eines veränderten Fokusses unter Umständen die Hinzunahme weiterer - durchaus auch empirischer Methoden - nötig werden lassen kann.

Nach dem in die Materie einführenden, als Exkurs präsentierten ge- schichtlichen Abriss in Kapitel II.1, stellt Kapitel II.2 nach der Analyse der mythologischen Transformationen des italienischen Nationalismus die Figurationen der entsprechenden Machttypen im Sinne Michael Manns dar. Dies geschieht anhand von IEMP-Figurationen, i.e. grafischen Repräsen- tationen der Machtprozesse, wobei das IEMP-Modell Michael Manns mit den Figurationen des Eliasschen Spielemodells kombiniert wird.

Danach wird in Kapitel II.3 eine Klärung der Begriffe Nation und Nationalismus vorgenommen, da diese nach Betrachtung der historischen Fakten m. E. als die wesentlichen machtstrukturierenden Mythen im Sinne Roland Barthes anzusehen sind.

In Kapitel II.4 wird die Ausbildung der nationalen Kriterien in Italien untersucht, wobei angesichts der vorab getroffenen Entscheidung, den ideologischen Machttypus im Sinne Michael Manns zu fokussieren, der Schwerpunkt auf die Steuerung der sprachlichen Prozesse gelegt wird. Inwiefern dann der Nationalismus in Italien Transformationen erfahren hat, wird in Kapitel II.5 analysiert.

Im Anschluss an diese Differenzierung der Erscheinungsformen des Nationalismus im Allgemeinen und des italienischen Nationalismus im Besonderen wende ich mich in Kapitel II.5 nun den spezifischen 9

Transformationen zu, die dieser Mythos in Italien im Verlauf des Betrach- tungszeitraums erfahren hat. Ausgehend von Mazzinis nationalistischem Mythos erfährt der italienische Nationalismus eine enorme Steigerung durch den Imperialismus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die dann bei Mussolini eskaliert. Da eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Fa- schismus nicht stattfindet, gelingt es diesem am Ende des 20. Jahrhunderts, wieder Regierungsbeteiligung zu erlangen, und zwar im Bündnis mit Berlusconis von allen Skrupeln gelöstem puristischen Kapitalismus. Dabei wurden Kritikern der Steuerungsweisen des Prozessgeschehens niemals wesentliche Spielräume eröffnet, wie dies bereits im 19. Jahrhundert das Beispiel Labriolas verdeutlicht.

Kapitel II.6 schließt die Arbeit ab, indem ein Fazit in Form einer Über- prüfung der Eingangsthesen gezogen wird und Vorschläge für weitere Arbeiten gemacht werden.

HINWEIS: Orthografie und Interpunktion wurden den neuen Regeln angepasst. 10

I. THEORETISCHER TEIL2

I.1 DIE HYPOTHESEN

Dieser Arbeit liegen einige Annahmen zugrunde, die das Ergebnis grund- sätzlicher Überlegungen in Bezug auf die Frage darstellen, welche gesellschaftlichen Prozesse welche Arten von Macht und Herrschaft konstituieren. Diese Annahmen resultieren aus einer längeren Phase der 3 Lektüre zu dieser Frage und werden hier in Form von Hypothesen vorgestellt:

1. Mythos, Religion, Kultur, Ideologie stellen nicht verschiedene oder sogar verschiedenartige Phänomene dar, sondern sind lediglich verschiedene Bezeichnungen für ein Wirkprinzip.

2. Dieses Wirkprinzip ist eine von vier Haupt-Machtquellen, die die Dynamik innerhalb menschlicher Gesellschaften regeln, und zwar neben den Machtquellen politischer, ökonomischer und militärischer Natur und hat auf die anderen nicht zu überschätzende Effekte.

3. Die Dynamik, die in allen menschlichen Gruppen herrscht, wird durch das Spiel um Macht bestimmt, das sich beginnend mit der kleinsten Gruppierung oder Figuration auf allen Ebenen bis hin zu Groß-

2 Gleich zu Beginn dieses theoretischen Teils möchte ich darauf hinweisen, dass der hier unternommene Versuch der Entwicklung eines flexiblen Instrumentariums zum Zweck der Analyse gesellschaftlicher Prozesse im Rahmen einer Dissertation eine knappe Darstellung grundsätzlich erforderlich machte. Auf Einzelheiten der Modelle, die mir für die Entwicklung des vorgelegten Instrumentariums nicht zwingend notwendig erschienen, habe ich deshalb verzichtet. Des Weiteren habe ich ebenfalls aus Raum- und Zeitgründen auf eine extensive Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk der berücksichtigten Denker verzichtet. Hinweise auf die neben der zitierten verwandte Literatur sind jeweils den Anmerkungen und dem Literaturverzeichnis zu entnehmen.

3 Es ist nicht möglich, hier alle Bände aufzuzählen, die ich auf der Suche nach geeigneten Modellen konsultiert habe. Auf einige Werke, die besonders hilfreich bei der Erweiterung des Verständnisses der Implikationen jedweder Machtkonstitution möchte ich dennoch an dieser Stelle verweisen: 1. Lieber, Hans-Joachim (Hrsg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart; Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1993; 2. Käsler, Dirk (Hrsg.): Klassiker der Soziologie, München: Beck, 1999; 3. Fetscher, Iring; Münkler, Herfried: Pipers Handbuch der politischen Ideen; München: Piper, 1984 und 4. Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, 1980. Der Zugang zum Werk von Norbert Elias eröffnete sich mir dagegen bereits während der Studien zu meiner Magisterarbeit.

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figurationen, wie sie von mehreren Staaten gebildet werden, fortsetzt.

4. Die kleinste Einheit, die sich aus Figurationen zusammensetzt, ist das Individuum. Bereits auf dieser Ebene werden im Innern jeder Persönlichkeit Machtkämpfe zwischen Ich, Es und Über-Ich ausgetragen.

5. Die dynamischen Prozesse aller Ebenen überschneiden sich permanent. Kreuzweise Interaktionen finden ständig über mehrere Ebenen hinweg statt. Dabei bilden sich ständig neue, sich gegenseitig häufig über- lagernde dynamische Netzwerke, die sich stellenweise und zeitweise verdichten oder verdünnen.

6. Diese Prozesse setzen sich in allen Dimensionen menschlicher Existenz fort. Dabei lassen sich bestimmte Strukturen erkennen, die zwar inner- halb jeder Ebene wahrnehmbar, doch auf der sprachlichen am leichtesten fassbar sind. Die derart erkennbaren Strukturen lassen die kulturelle oder ideologische Richtung erkennen, in der sich eine Gesellschaft oder Figuration bewegt.

Diese Hypothesen werden am Ende dieser Arbeit als Maßstab heran- gezogen, um das Resultat der Untersuchungen zu überprüfen. 12

I.2 Wissenschaftstheoretische Vorbetrachtung

Der Untersuchung jeder wissenschaftlichen Fragestellung ist die Selektion einer geeigneten Methode vorgängig. Diese Selektion erfolgt nach Kriterien, die nicht allein in der Sache begründet sind. Im Gegenteil spielen subjektive Faktoren bei der Methodenwahl eine nicht zu unterschätzende Rolle, von denen ein individuell unterschiedlich großer Teil unbewusst bleibt. Wie groß dieser unbewusste Teil auf Dauer ist, hängt nicht zuletzt von der Bereitschaft des Einzelnen ab, sich vor jeder wissenschaftlichen Tätigkeit mit dieser Problematik auseinanderzusetzen.

Der Vorteil einer solchen Bewusstmachung der Hintergründe einer bestimmten Methodenselektion besteht nicht nur in der besseren Ausrichtung der anzuwendenden Instrumente auf den Zweck, sondern auch in der Art und Weise, in der dieser bewusster verfolgt werden kann. Gemeint ist hier auch das politische Interesse, und zwar einmal das eigene, und andererseits dasjenige derer, denen eine Untersuchung möglicherweise Nutzen bringen kann.

I.2.1 Berücksichtigung der menschlichen Wahrnehmung

Welcher Art sind nun diese subjektiven Faktoren? Vordergründig sind dies erst einmal das eben schon erwähnte politische Interesse und die eigene Biographie, die es zu berücksichtigen gilt. Hintergründig wirken darüber hinaus Faktoren, die nur selten überhaupt ins Bewusstsein gelangen. Denn unabhängig von biographischen Einflüssen - die immer wesentlich von politischen Dimensionen bestimmt sind - unterliegen wir der Steuerung individuell-biologischer Faktoren. Hiermit ist die ontogenetische Ausstattung des Individuums gemeint, und zwar vor allem diejenige im 4 Bereich der Wahrnehmungsorgane . Als Beispiel sei nur die Farbwahrnehmung erwähnt und hier besonders die Differenzen im 5 individuell wahrnehmbaren Farbenspektrum . Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist noch nicht einzuschätzen, welche Rolle biologisch-organisch bedingte Wahrnehmungsdifferenzen bei der Konstitution des individuellen Weltbildes spielen. Eine diesbezügliche Untersuchung wäre aber besonders

4 Vgl. hierzu Fischer 1995, bes. Kap. 2 und 3 und Guski 2000.

5 Vgl. Fischer 1995, Kap. 3.

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dann von Interesse, wenn sie das Zusammenwirken dieser biologischen Voraussetzungen mit dem biographisch-politischen Hintergrund herausstellte. Darüber hinaus ist es keine Frage, dass die Bewusstmachung eines Zusammenhangs das Denken und Verhalten eines Menschen verändern kann.

Die Frage, ob der Wissenschaftler nun sein Weltbild in seine Arbeit einfließen lassen darf, wird in den Sozialwissenschaften seit langem kontrovers beantwortet. Ich vertrete die Ansicht, dass eine klar formulierte Position diesbezüglich einer letztendlich illusionären Objektivität vorzu- ziehen ist.

I.2.2 Elias: Engagement und Distanzierung

Da Norbert Elias' Figurationsmodell die Basis für das in dieser Arbeit entwickelte analytische Instrumentarium lieferte, ist es zunächst interessant, 6 die wissenschaftstheoretische Position dieses Denkers zu beleuchten .

7 Elias' Denken geht grundsätzlich von den dynamischen Prozessen aus, die innerhalb menschlicher Gruppen permanent stattfinden und auf denen die

6 Elias' Arbeit war von zwei Grundmotivationen wesentlich geprägt: seiner emotionalen Hinwendung zu seinen Mitmenschen und seinem Optimismus, dass wohlmeinende Menschen, die dabei jedoch keineswegs blind dem Netzwerk der sie umgebenden sozialen Prozesse gegenüberstehen dürfen, dennoch dieser Dynamik eine positive - im Sinne von Leid vermeidende - Wirkung geben können. Dieser Optimismus stößt zwar innerhalb des aktuellen Paradigmas häufig auf Kritik, nichtsdestoweniger begründet er auch mitunter eine spontane Sympathie für diesen Denker. Dies wird von einer Reihe von Sozialwissenschaftlern wie beispielsweise Korte, der sich gründlich mit Elias beschäftigt hat, ähnlich empfunden: "Elias lässt uns eine Chance, und darin liegt - neben wissenschaftlichen Gründen - gewiss auch die Attraktivität seiner Prozesstheorie begründet: sie lässt uns die Hoffnung, verändernd in den Lauf der Geschichte einzugreifen" (Korte 1999, S. 330).

7 Zum Begriff der Dynamik vgl. auch Janich, Peter: Dynamik in: Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie; Stuttgart; Weimar: Metzler, 1995 (Bd. 1, S. 515): "Der Ausdruck D. kommt wohl erstmals bei G. W. Leibniz vor. J. L. Lagrange bestimmt D. im Gegensatz zur Statik als eigenes Teilgebiet der Mechanik durch die Definition, dass die Dynamik die beschleunigenden und verzögernden Kräfte und die von ihnen erzeugten Bewegungen zum Gegenstand habe." Genau um diese beschleunigenden und verzögernden Kräfte geht es auch innerhalb der Figurationsanalyse, was aber nicht heißen soll, dass hier mechanische Grundsätze eins zu eins auf menschliche Gesellschaften übertragen werden sollen, denn selbstverständlich sind die Faktoren, die jeweils als Beschleuniger oder als Verzögerer wirken, innerhalb dieser sehr viel komplexer.

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Gruppenexistenz wesentlich basiert:

"Präzise gesagt: die Möglichkeit eines jeden geordneten Gruppenlebens beruht auf dem Zusammenspiel zwischen engagierenden und distanzierenden Impulsen im menschlichen Denken und Handeln, die sich gegenseitig in Schach halten" (Elias 1983, S. 10).

Elias trifft also keine Entscheidung für eine distanzierte oder engagierte 8 9 Weltsicht, sondern fasst "Engagement" und "Distanzierung" als dynamische Prozesse auf. Sie ringen miteinander um Balancen, die wiederum menschliches Handeln initiieren und deren Beziehung "den Kurs der Menschen bestimmt". Dieser Distanzierungsprozess konstituiert sich dabei wesentlich auf der Folie sozialer Rahmenbedingungen, denn die 10 "individuelle Variationsbreite der Distanzierung" , wird durch "die gesellschaftlichen Standards der Distanzierung begrenzt".

Elias übersieht nicht, dass auch Naturwissenschaftler sowohl durch persönliche Wünsche und Neigungen, als auch durch Gruppeninteressen geleitet werden. Eine völlig distanzierte Haltung überschritte die emotionalen Möglichkeiten jedes Wissenschaftlers, insofern er Mensch 11 bleibt . Dabei macht es einen wesentlichen Unterschied, ob es sich um

8 Vgl. hierzu Fischer 1995, bes. Kap. 2 und 3 und Guski 2000.

9 Bei Dorsch (1998, S. 190) findet sich unter dem Terminus "Distanz" als Definition: "die räumliche Entfernung zwischen zwei Punkten; auch der Zeitabstand zwischen zwei Ereignissen. - I. ü. S. der Grad der Unabhängigkeit, Vorurteilsfreiheit, persönlichen Selbstständigkeit eines Menschen gegenüber einer Person, Sache oder Idee." Es könnte hier der Eindruck entstehen, dass eine Distanzierung desto leichter fallen müsste, je größer die räumliche oder zeitliche Distanz zu einem zu analysierenden Ereignis ist. Die Erfahrung zeigt aber, dass im Falle eines persönlichen emotionalen Angesprochenseins diese 'objektiven' Distanzmaße nur eine untergeordnete Rolle spielen.

10 Ebd., S. 12.

11 Die Kontrolle unserer Emotionen fällt je nach persönlicher Betroffenheit und Temperament mehr oder weniger schwer. Wissenschaftler bilden hier keineswegs eine Ausnahme, auch wenn dies einige zu meinen scheinen. Besonders unter den Naturwissenschaftlern, die sich mit dem Nimbus umgeben haben, sie alleine betrieben "exakte Wissenschaften", ist die Ansicht verbreitet, es ließe sich eine emotionslose Wissenschaft betreiben. Diesbezügliche Reflektionen werden von den Wissenschaftlern dieser Couleur aus 'ihren' Wissenschaften von vorneherein ausgeschlossen und ins Reich der Philosophie verbannt. Dazu findet sich in der Notiz zum Gebrauch des "Thesaurus der exakten Wissenschaften" (2001, S. VII) folgende Antwort auf die Frage: "Wie funktioniert Wissenschaft?": "Nichts ist schwieriger als diese Frage, auf die traditionell die Philosophie eine Antwort zu geben versucht. Die Philosophie gehört nicht zu den exakten Wissenschaften. Darum kann sie den nötigen Abstand wahren, um nach den Methoden, Wahlentscheidungen, dem Weltbild und der Wahrheit der Naturwissenschaften zu fragen. Sie befasst sich mit der geschichtlichen Entwicklung der Naturwissenschaften und mit Fragen der (faktischen oder moralischen) Geltung ihrer Aussagen. Nur in dieser Funktion gehört die Philosophie in dieses Lexikon."

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einen humanen oder nicht-humanen Forschungsgegenstand handelt, denn

"im Verhältnis von Menschen zu nicht-menschlichen Kräften ist der sozial geforderte und sozial gezüchtete Standard sowohl der Selbstbeherrschung wie der Beherrschung der Beziehungszusammenhänge, also in diesem Fall der Naturzusammenhänge, relativ hoch; im Verhältnis von Menschen zu Menschen ist der Standard beider sehr viel niedriger" (ebd., S. 22).

12 Es fällt also dem Wissenschaftler schwerer, seine Affekte in Bezug auf humane Zusammenhänge zu kontrollieren, als dies bei unbelebten Objekten der Fall ist. D. h. also, dass diejenigen Situationen auch innerhalb des wissenschaftlichen Geschehens am schwierigsten zu kontrollieren sind, wo eine gewisse Selbstbetroffenheit zusätzlich zu den sonst auch immer gege- benen Einflussfaktoren ins Spiel kommt, denn

"im Unterschied zu den Naturwissenschaften, die die Zusammenhänge vormenschlicher Ereignisse zu erhellen suchten, beschäftigen sich die Gesellschaftswissenschaften mit Zusammenhängen von Menschen. Auf dieser Wissenschaftsebene begegnen Menschen sich selbst und einander; die »Objekte« sind zugleich »Subjekte«" (ebd., S. 24).

Dies kennzeichnet die besondere Situation des Sozialwissenschaftlers, der 13 oft selbst von den Fragestellungen betroffen ist , die er untersucht, und dessen Distanzierung zum Gegenstand ihm um so schwerer fallen muss, je mehr dieser die Belastungen reflektiert, denen er womöglich selbst 14 ausgesetzt ist . Doch nicht nur die innerpsychischen Prozesse eines Menschenwissenschaftlers beeinflussen seine Arbeit. Darüber hinaus gehört er in der Regel noch einer Gruppe, einer Nation oder möglicherweise einer Partei an, innerhalb derer ein bestimmtes Gruppenbild valide ist,

"in der Regel ein Amalgam von realistischen Beobachtungen und kollektiven Phantasien (die wie die Mythen einfacherer Völker als Handlungsmotive real genug sind)" (ebd., S. 28).

Stellt der Wissenschaftler sich nun außerhalb, erforscht die Zusammen-

12 Bei einem "Affekt" handelt es sich lt. Brockhaus Biologie (Bd. 1, S. 8) um einen "Zustand starker Erregung, häufig gebraucht für kurze und heftige Emotionen." Affekte, das legt ihre hier konstatierte Heftigkeit nahe, scheinen deshalb auf den ersten Blick für den Wissenschaftler abzulehnende Regungen zu sein. Auf den zweiten Blick besteht aber "eine enge Beziehung zu den Antrieben (Motivationen)" (ebd.). M. E. repräsentieren aber Motivationen gerade in den Sozialwissenschaften etwas durchaus Wünschenswertes, sollten also - zur Steigerung der Produktivität - weniger unterdrückt als vielmehr kanalisiert werden.

13 Vgl. hierzu die autobiografischen Informationen in: Elias, Norbert: Norbert Elias: im Gespräch mit Hans Christian Huf; Berlin: Ullstein, 1999 u. Elias, Norbert: Norbert Elias über sich selbst: Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996.

14 Vgl. ebd., S. 25.

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setzung des Bildes seiner Gruppe und konfrontiert diese damit, ist das oft mit dem Risiko einer Ächtung derselben verbunden, die im schlimmsten 15 Fall sogar zum Ausschluss aus der Gruppe führen kann .

16 Als weiteres aktuelles Problem erweisen sich die aus der Physik übernommene Sprache und der mit ihr korrespondierende Denkstil, die ihre Vorherrschaft längst in der Gesellschaft etabliert haben. Dies führt zum Transfer von Begriffsbildungen auf andere Forschungsebenen, auch innerhalb der Humanwissenschaften, und hat dort ernsthafte Konsequenzen:

"Nicht nur bestimmte Erwartungen darüber, wie wahrgenommene Daten miteinander zusammenhängen, auch bestimmte Begriffe der Verursachung oder der Erklärung, die zunächst Beobachtungen über die Beziehungen physikalischer Ereignisse abgewonnen und auf diese abgestimmt sind, werden verallgemeinert und wie selbstverständlich auf Untersuchungen über die Beziehungen von Menschen übertragen" (ebd., S. 32).

Dieses im wahrsten Sinne des Wortes vorherrschende Wissenschaftsmodell entmündigt darüber hinaus andersdenkende Wissenschaftler und drängt sie in eine Außenseiterposition, denn seine Anhänger determinieren, "was wissenschaftlich sei und was nicht". Dabei versäumen sie es sogar oft noch, ihre pseudo-naturwissenschaftlichen Modelle zu aktualisieren und hängen einem altertümlichen physikalischen Wissenschaftsbild an, das in der Physik selbst längst keine Geltung mehr besitzt.

Doch Elias' kritische Haltung gegenüber dem Positivismus kann nicht über seine Furcht vor der fehlenden Leidenschaftsbeherrschung des Wissen- schaftlers hinwegtäuschen, denn seine Grenze zwischen Engagement und Distanzierung ist

"defensiv gezogen. Die Stoßrichtung seiner Wissenschaftstheorie geht gegen das Engagement. Dass ein Zuviel an Distanzierung den Arbeitsergebnissen ebenfalls gefährlich werden kann, hat er demgegenüber vernachlässigt" (Schröter 1997, S. 188).

15 Vgl. hierzu bes. Elias, Norbert; Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter; Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993. In diesem Werk, das ein sozialwissenschaftliches Forschungsprojekt beschreibt, wird dargelegt, wie eine E-A-F (Eine Etablierten- Außenseiter-Figuration entsteht. Z. Biografie v. Norbert Elias vgl. ebenso die Einleitung z. Bartels, Hans-Peter: Menschen in Figurationen (1995, S. 9ff) u. Korte, Hermann: Über Norbert Elias (1988).

16 Es sei unbestritten, dass es auch in der Physik einen offeneren Denkstil gibt, wie er beispielsweise von Werner Heisenberg u. a. vertreten wird. Vgl. hierzu Hermann, Armin: Weltreich der Physik - Von Galilei bis Heisenberg; Stuttgart: Verl. f. Geschichte d. Naturwissenschaft u. d. Technik, 1991.

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17 Der "unpolitische Elias", wie er einst von den Kollegen genannt wurde , meinte aufgrund eigener politischer Erfahrungen zeitlebens, es sei stets die beste Lösung, sich vor allen Parteinahmen so weit als möglich zu hüten. Eine prinzipielle Befürwortung einer Distanzierung des Menschenwissenschaftlers von seinem Forschungsobjekt muss man ihm deshalb wohl anlasten. Dass er es selbst in der Praxis nicht so gehalten hat, lässt sich schon allein an der Konstruktion seiner E-A-F (Etablierten- 18 Außenseiter-Figuration) ablesen . Auch Schröter, der Elias durch jahrelange Zusammenarbeit persönlich recht gut gekannt hat, meint, dass Elias auf keinen Fall in die Ecke des mitleidlosen Beobachters gestellt werden darf:

"Wahrscheinlich hat Elias über kein Thema intensiv nachgedacht, von dem er nicht persönlich betroffen war. Er stellte seine volle Erfahrung in den Dienst seines Werks und schöpfte mehr, als er vielleicht sich selbst und gewiss als er anderen eingestand, aus dieser Quelle" (Schröter 1997, S. 189).19

Nicht nur vom positivistischen Standpunkt und dem des Kritischen Rationalismus setzte sich Elias ab, sondern auch von der Systemtheorie, die 20 für ihn "bloße Zustandssoziologie" war und damit in scharfem Gegenstand zu der von ihm propagierten Prozesssoziologie stand. Er ordnete sie einer "Vorphase des Wissens" zu, deren partikularistischer Ansatz mit seinem eigenen generalisierend-synthetischen unvereinbar war. Darüber hinaus sprach er der Systemtheorie die Möglichkeit zur Erfassung sozialer Komplexität ab.

Dem Marxismus warf er dagegen vor, neue Mythen zu produzieren. Er räumte zwar ein, dass der Marxismus sich nicht entlang derselben ahistorischen Schiene bewegt wie die Systemtheorie, dennoch missfiel ihm die Monokausalität des marxistischen Konzepts, dessen Argumentation sich 21 wesentlich auf die Zuhilfenahme ökonomischer Kategorien beschränkt .

17 Vgl. Elias 1999, S. 39.

18 Vgl. hierzu Elias u. Scotson, 1993.

19 Andererseits ist dieses "Nicht-Eingestehen" der eigenen Emotionalität angesichts der Dominanz des schon erwähnten, einem mechanistisch-physikalischen Dogma hörigen Wissenschaftsbetriebs für einen, der ohnehin in die Kategorie "Außenseiter" eingeordnet wurde, m. E. nicht weiter verwunderlich.

20 Treibel 1997, S. 179.

21 Vgl. ebd.

18

Aus meiner Sicht kann der von Elias praktizierten Auffassung im Wesent- lichen zugestimmt werden. Treibel resümiert den Kern des Eliasschen wissenschaftstheoretischen Konzepts wie folgt:

"[...] die bisherig Soziologie sei ahistorisch, treffe falsche Grundannahmen über das 'Wesen' 'des' Menschen und habe ihr Erklärungspotenzial durch die Aufspaltung in Mikro- und Makrotheorie selbst eingeschränkt. Sein Ziel ist die Überwindung des theoretischen Dualismus von Individualismus und Kollektivismus, ist der Wechsel von einer Zustands- zu einer Prozesssoziologie. Dies will er durch eine neue Synthesestufe erreichen [...]" (1997, S. 180).

Da in dieser Arbeit nicht mit Statistiken, sondern wesentlich mit Modellen 22 und Metaphern gearbeitet wird, sei hier ein kleiner Exkurs gestattet, in dem die Gedanken eines Naturwissenschaftlers, des amerikanischen Mathe- matikers und Philosophen Max Black, zur Verwendung von Modellen und Metaphern ganz allgemein dargelegt sind. Dieser Exkurs dient dazu zu verdeutlichen, dass selbst sich als Empiriker betrachtende Naturwissen- schaftler zum Mittel der Modelle greifen müssen, um zu komplexeren Aussagen zu gelangen.

I.2.3 Exkurs: Max Black: Modelle und Metaphern

I.2.3.1 Der Modellbegriff bei Max Black

Max Black definiert den Modellbegriff wie folgt:

"An analogue model is some material object system, or process designed to reproduce as faithfully as possible in some new medium the structure or web of relationships in an original" (Black 1962, S. 222).

Das Entscheidende an einem Modell ist demgemäß also nicht die detail- getreue Wiedergabe der Realität, sondern die möglichst genaue Abbildung der Strukturen und Beziehungen des Originals. Um dies bewerkstelligen zu können,

22 Max Black habe ich ausgewählt, weil er einem analytisch-philosophischen Spektrum zugerechnet wird u. Wittgenstein nahesteht (vgl. Lorenz, Kuno in: Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie ; Stuttgart; Weimar: Metzler, 1995). Dies belegt m. E., dass selbst eher positivistisch einzuschätzende Theoretiker - Black übersetzte Arbeiten Freges u. Carnaps ins Englische - nicht wirklich glauben, man könne auf Nicht-Empirisches verzichten.

19

"there must be rules for translating the terminology applicable to the model in such a way as to conserve truth value" (ebd.).

Welchen Regeln müsste nun die Übersetzung von Begriffen folgen, die eine möglichst genaue Abbildung des Originals gewährleisten? Sie müssen von Fakten untermauert werden, sonst können sie ihre heuristische Funktion nicht erfüllen. Auch sollte nie vergessen werden, dass analoge Modelle nicht mit Beweisen verwechselt werden dürfen:

"Any would-be scientific use of an analogue model demands independent confirmation. Analogue models furnish plausible hypotheses, not proofs" (Black 1962, S. 223).

Nach Black ist die Bildung eines Modells wie

"a wedding of disparate subjects, by a distinctive operation of transfer of the implication of relatively well-organized fields. And as with weddings, their outcomes are unpredictable. Use of a particular model may amount to nothing more than a strained and artificial description of a domain sufficiently known otherwise. But it may also help to notice what would be overlooked, to shift the relative emphasis attached to details in short, to see new connections" (Black 1962, S. 237).

I.2.3.2 Der Metapherbegriff bei Max Black

Blacks Theorie über Metaphern, die sogenannte "Interaktionstheorie", bricht mit der traditionellen Vergleichstheorie, die die Metapher "als 23 vergleichsvermittelte Bedeutungsübertragung" sieht . Die "semantische Interaktion" bei Max Black findet zwischen einem "metaphorischen Rahmen", dem wörtlich gebrauchten Teil eines metaphorischen Ausdrucks, und einem "metaphorischen Brennpunkt" statt, wobei die normalerweise mit dem Brennpunkt oder "focus" verbundenen Konnotationen auf den "Rahmen" übergehen. Bei dieser Interaktion kann sich auch eine Bedeu- tungsverschiebung als nötig erweisen. Dieser Vorgang findet in begrenztem Maße ebenfalls in umgekehrter Richtung statt, also auch der Brennpunkt verschiebt die Bedeutung des Rahmens.

"Difference in the two frames will produce some differences in the interplay between focus and frame in the two cases" (Black 1962, S. 28).

Warum ist oft der Gebrauch von Metaphern unumgänglich? Nach Black ist der Hauptgrund hierfür, dass die verbale Sprache oft gar kein Äquivalent bietet, um einen bestimmten Sachverhalt zu benennen. Darum dient

23 Vgl. Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 1995, Bd. 2, S. 867f.

20

"the use of a word in some new sense in order to remedy a gap in the vocabulary" (Black 1962, S. 33).

Dabei ersetzt die Metapher nicht einfach eine wörtlich zu nehmende Aussage, sondern besitzt eigene Qualitäten und Möglichkeiten:

"Metaphorical statement is not a substitute for a formal comparison or any other kind of literal statement, but has its own distinctive capacities and achievements" (Black 1962, S. 37).

Black klassifiziert drei Typen von Metaphern: die der Ersetzung, die des Vergleichs und die der Interaktion, wobei wissenschaftstheoretisch nur der letztgenannte Typ relevant ist.

24 Dieser Interaktions-Typus muss allerdings bestimmten Kriterien genügen :

1. Eine metaphorische Aussage besteht aus zwei unterscheidbaren Subjekten: einem "principal subject" und einem "subsidiary subject".

2. Diese Subjekte sind in der Regel eher als ein "System von Dingen" denn als "Dinge" anzusehen.

3. Die Metapher wird in ihre Funktion eingesetzt, indem man dem "principal subject" ein System von mit ihm "verbundenen Implikationen" zuordnet, die für das "subsidiary subject" charakteristisch sind.

4. Diese Implikationen bestehen gewöhnlich aus "Gemeinplätzen" bzgl. des "subsidiary subjects", aber können auch gegebenenfalls aus abweichenden Implikationen bestehen, die vom Autor ad hoc eingeführt werden.

5. Die Metapher wählt Merkmale des "principal subjects" aus, betont, unterdrückt oder organisiert andere, indem sie Aussagen darauf anwendet, die üblicherweise für das "subsidiary subject" gelten.

6. Dies bringt Bedeutungsverschiebungen von Wörtern mit sich, die zur selben Familie oder System gehören wie der metaphorische Ausdruck, und einige dieser Ausdrücke, jedoch nicht alle, sind metaphorische Über- setzungen.

24 Vgl. hierzu Black 1962, S. 45.

21

An dieser Stelle fügt Black in Klammern hinzu:

"The subordinate metaphors are, however, to be read less 'emphatically'" (Black 1962, S. 45).

7. Es gibt im Allgemeinen keine einfache "Basis" für die notwendigen Bedeutungsverschiebungen - keine allgemeine Begründung, warum die einen Metaphern ihren Zweck erfüllen und andere nicht.

Doch selbst wenn eine Metapher alle die vorgenannten Kriterien erfüllt, wird ihrem "Leser" darüber hinaus etwas abverlangt.

"Their mode of operation requires the reader to use a system of implications [...] as a means for selectivity, emphasizing, and organizing relations in a different field. This use of a 'subsidiary subject' to foster in sight into a 'principal subject' is a distinctive intellectual operation [...], demanding simultaneous awareness of both subjects but not reducible to any comparison between them" (ebd., S. 46).

Eine Metapher ist also mehr als ein Vergleich zwischen einem Hauptsubjekt und seiner Ersetzung. Die Stärke einer Metapher gegenüber dem Begriff, den sie veranschaulicht, besteht wesentlich darin, dass sie zu weiteren Einsichten zu führen vermag:

"[...] the relevant weakness of the literal paraphrase is not that it may be tiresomely prolix or boringly explicit (or deficient in qualities of style); it fails to be a translation because it fails to give the insight that the metaphor did" (ebd.).

Dieser Exkurs verdeutlicht die Nutzbarkeit von Modellen und Metaphern und bestätigt deshalb das hier zugrunde gelegte wissenschaftstheoretische Konzept.

22

I.3 DAS INSTRUMENTARIUM (I)

Bei Norbert Elias ist stets der lebende Mensch im Vordergrund, denn sein Ziel ist explizit, wie er es selbst immer formuliert, das Betreiben einer "Menschenwissenschaft".

Deshalb erscheint mir sein Konzept nach eingehender Beschäftigung mit der sozialtheoretischen Materie als Basis besonders geeignet, um die wesent- lichen Punkte der Organisationsweise von Menschengruppen unter Beto- nung dynamischer Aspekte erfassen zu können. Diese Basis erschien mir allerdings etwas ergänzungsbedürftig.

Das nun vorliegende Konzept ist deshalb eine Kombination von Konzepten, die ich zu diesem Zweck teilweise modifizieren musste, und zwar verknüpfe ich die Eliassche Figurationsanalyse mit Elementen der Mannschen Machttypen, des Freudschen Persönlichkeitskonzepts und des Struktura- lismus. Im Folgenden werden die zu kombinierenden einzelnen Elemente vorgestellt. 23

I.3.1 Norbert Elias: Figurationssoziologie

25 Norbert Elias sah sich als "Spätkommender" der Soziologie, begriff dies aber durchaus als Chance:

"Es war leichter für mich zu erkennen, wie ideologiegesättigt existierende Modellentwürfe langfristiger Gesellschaftsprozesse noch waren" (Elias in: Bartels 1995, S. 112).

Diese Beobachtung kann ich aufgrund meiner oben dargelegten Unter- suchungen vorliegender Gesellschaftsmodelle auf jeden Fall bestätigen. Es fand sich bei allen besprochenen Modellen hinter- oder sogar vordergründig 26 eine metaphysische Letztbegründung . Elias fasst es dagegen als eine seiner Hauptaufgaben auf, "die Desideologisierung soziologischer Theorien 27 in Gang zu bringen" . Dafür war es seiner Ansicht nach zunächst nötig, dass sich die gesellschaftlichen Theorien "von der Hegemonie der zeitgenössischen politischen Ideologien" emanzipierten. Die Notwendigkeit dieses Unterfangens ist lange nicht gesehen worden. Schon Elias vermutete, dass ein sichtbarer Fortschritt in diesem Emanzipationsprozess vermutlich 28 erst Generationen von Wissenschaftlern später erkennbar sein wird .

25 Als der "Spätgekommene" bezeichnet ihn auch Bartels in seiner Einleitung zu "Menschen in Figurationen" (1995, S. 9).

26 Damit soll keineswegs gesagt werden, dass metaphysische Betrachtungen generell zu verteufeln sind. Sie sollten nur nicht dazu missbraucht werden, einen Normenkatalog zu legitimieren.

27 Z. Problem, inwieweit Theorien v. Ideologien überhaupt zu unterscheiden sind, s. Neumann (1998, Vorwort z. Handbuch: "Politische Theorien und Ideologien", o. S.): "Theorien und Ideologien sind begrifflich zu trennen: Theorie zielt dem Grund nach auf Aufklärung, Ideologie auf Verschleierung." Weiter unten stellt Neumann ein Kriterium zur Verfügung, wie Ideologie zu erkennen ist: Es sollte "der Ideologiebegriff allein für falsches, aber gleichwohl in einer bestimmten gesellschaftlich-geschichtlichen Lage notwendiges Bewusstsein von Individuen, sozialen Gruppen oder Klassen vorbehalten bleiben. Von Ideologie kann auch dann gesprochen werden, wenn die Realität unvollständig oder verzerrt wiedergegeben wird, wenn sich partielle Wahrheit und partielle Unwahrheit mischen, wenn nur die Oberfläche der gesellschaftlichen Verhältnisse widergespiegelt, ihre Totalität dagegen außer Acht gelassen wird. Dies gilt besonders dann, wenn Sonderinteressen als gesellschaftliches Gesamtinteresse ausgegeben (und dafür auch wissenschaftliche Theorien benutzt) werden, um Veränderungen des Status quo in Richtung auf allgemeine Emanzipation abzuwehren. Auch Wissenschaft steht immer wieder in Gefahr, die Realität zu verfehlen und sie einseitig oder parteilich zu beschreiben und zu erklären. Auch Wissenschaft kann sich der Politik und den Herrschenden als Magd andienen. Ideologie aber versagt sich den Erkenntnismöglichkeiten von vornherein. Sie behauptet, tritt affirmativ auf und rechtfertigt; Wissenschaft dagegen zweifelt, argumentiert und deutet." Dem ist m. E. nichts mehr hinzuzufügen.

28 Ebd., S. 113.

24

Elias ging es statt um die Apologie einer bestimmten politischen Richtung in erster Linie "um neues Erklärungswissen über die Verflechtung, die Interdependenz, die Ordnung des Nacheinander, das heißt über den 29 Prozesscharakter des beobachteten Tatsachenfeldes" . Menschen kann man 30 31 nach Elias nicht als "fensterlose Monaden" betrachten, die von der Außenwelt, die von allen anderen Menschen gebildet wird, als getrennt angesehen werden müssen. Der "homo clausus" existiert nicht. Ausgangspunkt "beim Nachdenken über menschliche Angelegenheiten" 32 müssen deshalb immer die Menschen sein und nicht "der Mensch" . Dies ist ein wesentlicher Ansatz der Figurationssoziologie:

"An die Stelle der Vorstellung, dass das Individuum hart von der Gesellschaft, die es umgibt, getrennt ist, tritt in der Figurationssoziologie das Bild vieler einzelner Menschen, die kraft ihrer elementaren Ausgerichtetheit, ihrer Angewiesenheit aufeinander und ihrer Abhängigkeit voneinander auf die verschiedenste Weise aneinander gebunden sind und demgemäß miteinander Interdependenzgeflechte oder Figurationen mit mehr oder weniger labilen Machtbalancen verschiedenster Art bilden" (ebd.)33 34.

29 Bartels 1995, S. 18.

30 Bei einer Monade handelt es sich, so heißt es unter dem Stichwort "Monade" in: Müller, Max; Halder, Alois: Philosophisches Wörterbuch; Freiburg: Herder, 1988, um einen bereits in der Antike verwendeten Begriff, der über das Mittelalter bis hin zu Leibniz tradiert wurde. Dessen "Monadologie" handelt von den "unendlich vielen einfachen u. daher unvergänglich beseelten Substanzen ("Entelechien"), die nach Vorstellung (perceptio) u. Streben (appetitus) hierarchisch gestuft sind u. die gesamte Welt aus ihrem jeweiligen Blickpunkt (Perspektivität) spiegeln (repraesentatio). Das Verhältnis jeder M. zu allen Übrigen ist jedoch aufgrund der schlechthinnigen Einfachheit u. damit Abgeschlossenheit ("Fensterlosigkeit") keine wechselseitige Einwirkung, sondern eine durch den Schöpfungsakt von Gott (Monas monadum) geleistete vollkommene Abstimmung aufeinander (prästabilierte Harmonie)" (ebd., S. 197f). D. h., menschliche Monaden würden sich nicht durch prozesshafte Interaktionen entwickeln, sondern unterlägen "vorprogrammierten Gesetzen". Der Begriff der "prästabilierten Harmonie" erinnert an d. calvinistische Prädestinationslehre. Vgl. hierzu bes. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus; Weinheim: Beltz Athenäum, 2000.

31 Ebd., S. 23.

32 Der Mensch ist bereits eine religiösem, d.h. ideologischem Denken entnommene Interpretation. Vgl. hierzu den Abschnitt "Der Mensch in der Religion" unter dem Stichwort "Mensch in: Ahlheim, Karl-Heinz (Hrsg.): Meyers Taschenlexikon Biologie; Mannheim; Leipzig; Wien; Zürich: BI-Taschenbuchverlag, 1994 (Bd. 2, S. 184): "In der Religion nimmt der M. stets eine gegenüber anderen Lebewesen vorrangige Stellung ein."

33 Die Betonung liegt hier auf "vieler einzelner Menschen".

34 Im Duden Herkunftswörterbuch (2001, S. 65) findet sich zum Stichwort "Balance" die Erklärung: "»Gleichgewicht«: "Das Fremdwort wurde in der Artistensprache des 17. Jh.s aus frz. balance entlehnt, das wie Bilanz auf vlat. bilancia zurückgeht." Interessant ist hierbei, dass die Balance zu halten oftmals einen artistischen Akt erfordert und langfristig 25

35 Wesentliches Kriterium der Figurationssoziologie ist demnach die Fokussierung nicht des Individuums, sondern der Verbindungsstränge, die es im Geflecht der ihn umgebenden Menschengruppe hält. Dieser Halt, die Machtbalance, ist keine verlässliche, stabile Konstruktion, sondern unterliegt den Labilitäten wechselnder "Machtbalancen". Dennoch bestehen Interdependenzen einerseits innerhalb der Figurationen und andererseits gibt es solche, die über die das Individuum primär umgebende Figuration hinaus und in andere hineingreifen. Auf diese Weise entstehen "Interdependenz- 36 geflechte" , in die jedes menschliche Individuum notwendig eingebunden ist und das von den Schwankungen der Machtbalancen der Figurationen,

kaum möglich ist.

35 Z. Begriff der Figuration s. bes. Elias, Norbert: Figuration in: Schäfers, Bernhard (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie; Opladen: Leske + Budrich, 2001 (S. 87ff). Elias setzt hier den Figurationsbegriff von dem der Konfiguration deutlich ab: "Der Begriff der F. unterscheidet sich dadurch von vielen anderen theor. Begriffen der Soz., dass er die Menschen ausdrücklich in die Begriffsbildung einbezieht. Er setzt sich also mit einer gewissen Entschiedenheit von einem weithin vorherrschenden Typ der Begriffsbildung ab, die sich vor allem bei der Erforschung lebloser Objekte, also im Rahmen der Physik und der an ihr orientierten Philosophie herausgebildet hat. Es gibt Konfigurationen von Sternen, auch von Pflanzen und Tieren. Menschen allein bilden miteinander F.en. die Art ihres Zusammenlebens in kleinen und großen Gruppen ist in gewisser Hinsicht einzigartig. Es wird immer durch Wissensübertragung von einer Generation zur anderen mitbestimmt, also durch den Eintritt des Einzelnen in die spezifische Symbolwelt einer schon vorhandenen F. von Menschen. Mit den vier zeiträumlichen Dimensionen unabtrennbar verbunden ist im Falle der Menschen eine fünfte, die der erlernten gesellschaftlichen Symbole. Ohne deren Aneignung, ohne z. B. das Erlernen einer bestimmten gesellschaftsspezifischen Sprache, vermögen Menschen weder sich in ihrer Welt zu orientieren, noch miteinander zu kommunizieren" (ebd., S. 87). Diese Definition dessen, wodurch eine Figuration wesentlich zustande kommt, weist m. E. darauf hin, dass eine Ergänzung der Eliasschen Figurationssoziologie mit dem französischen Strukturalismus Barthesscher Prägung sich geradezu aufdrängt. Kritisch gesehen werden muss Elias' Dichotomie Mensch - Tier. Es sollte nicht vergessen werden, dass die Fähigkeit zur Benutzung einer Symbolsprache bereits bei Menschenaffen nachgewiesen wurde (vgl. hierzu z. B. Paul, Andreas: Menschenaffen in: Sauermost, Rolf; Freudig, Doris (Red.): Lexikon der Biologie, Bd. 9; Heidelberg: Spektrum, 2002, bes. Kap. "Gehirn, Intelligenz, Kultur", S. 169). Daraus folgt, dass der Unterschied Mensch/Tier eher als ein gradueller denn ein prinzipieller gesehen werden muss.

36 Diese Interdependenzen sind nicht lediglich der Kitt, der menschliche Gesellschaften zusammenhält, sie tragen auch sonst wesentlich zur Dynamik Letzterer bei: "Kraft ihrer grundlegenden Interdependenz voneinander gruppieren sich Menschen immer in der Form spezifischer Figurationen. Im Unterschied von den Konfigurationen anderer Lebewesen sind diese Figurationen nicht gattungsmäßig, nicht biologisch fixiert. Aus Dörfern können Städte werden, aus Sippen Kleinfamilien, aus Stämmen Staaten. Biologisch unveränderte Menschen können veränderliche Figurationen bilden." Erneut muss auf Elias' wissenschaftlich veraltetes Bild der Tierwelt hingewiesen werden. Vgl. hierzu z. B. Wehner, Rüdiger; Gehring Walter: Zoologie; Stuttgart; New York: Thieme, 1995, hier bes. S. 500ff: "Sozialverhalten".

26

von denen sein Leben unmittelbar betroffen ist, bestimmt wird.

Schwankungen in diesen Machtbalancen ergeben sich nicht zuletzt aus der Tatsache,

"dass zwei oder mehr Menschen ihre Kräfte aneinander messen [...], wo immer Menschen in Beziehung zueinander stehen oder in Beziehung zueinander treten" (ebd.).

37 Demgemäß strebt prinzipiell jedes Lebewesen nach Dominanz und entwickelt Strategien, um diese auch zu erreichen. Dies resultiert dann in "mehr oder weniger fluktuierende[n] Machtbalancen", die allen mensch- lichen Beziehungen zugrunde liegen. Die Frage, auf welche Weise dies geschieht und woher die ausgeübte Macht jeweils stammt, verweist auf andere Aspekte:

"Dabei ist die Art der Machtquellen vielgestaltig, polymorph" (ebd.)38.

Nach Elias sind "menschliche Beziehungen absolut unnormiert und 39 unreguliert" , was nicht bedeutet, dass es keine "gesellschaftlichen 40 Glaubenssysteme" gäbe, die normierende Wirkung haben . Vielmehr will Elias damit auf die Unmöglichkeit hinweisen, das genaue Verhalten einer 41 größeren Menschengruppe auf längere Sicht zu prognostizieren , obwohl es durchaus kurz- oder sogar längerfristig gelingen kann, gewünschte Verhaltensweisen durch Zwänge hervorzurufen. Schon allein durch die 42 Abhängigkeit der Individuen kommt es häufig zu Zwängen :

37 In der Biologie versteht man unter Dominanz neben der Bedeutung des Begriffs innerhalb der Vererbungslehre einen "biosozialen Status, der dem dominierenden Individuum in einer bestimmten Umweltbeziehung ein »Vorrecht« gegenüber anderen sichert" (Brockhaus Biologie Bd. 1 1986, S. 203).

38 Diese Aspekte der Gestalten der Macht hat später Michael Mann ausgearbeitet, es sei an dieser Stelle bereits auf das sein Modell behandelnde Kapitel dieser Arbeit verwiesen.

39 Ebd., S. 24.

40 Denn "das Zusammenleben von Menschen in Gesellschaften hat immer, selbst im Chaos, im Zerfall, in der allergrößten sozialen Unordnung, eine ganz bestimmte Gestalt" (Elias 2001, S. 88).

41 In dieser Hinsicht ist sich Elias offensichtlich mit Michael Mann einig.

42 Elias definierte später den Zusammenhang von Interdependenzen und Zwängen folgendermaßen: "Ein einzelner Mensch kann einen Freiheitsspielraum besitzen, der es ihm ermöglicht, sich von einer bestimmten Figuration abzulösen und sich in eine andere einzufügen, aber ob und wie das möglich ist, hängt selbst von der Eigenart der betreffenden Figuration ab" (Elias 2001, S. 88f).

27

"Die Interdependenz vieler Menschen wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die einzelnen Menschen häufig dazu zwingen, in einer Weise zu handeln, in der sie ohne diesen Zwang nicht handeln würden" (ebd.).

Die Wirkungen dieser Interdependenzen werden jedoch häufig von denen 43 sozialer Glaubensartikel und Wertsysteme durchkreuzt , deren Ideale in Trennungen selbst großer Menschenverbände resultieren können.

Zur Beschreibung und Erklärung der dynamischen Prozesse innerhalb menschlicher Gruppen jeder Größe benötigt man auch ein geeignetes Analyseinstrument, das vor allem dieser Dynamik Rechnung trägt, mithilfe dessen auch der Rückbezug auf spezifisch Menschliches gelingt, und das darüber hinaus handhabbare Begriffe zur Verfügung stellt. Dies war die Motivation Elias', die ihn zur Konstruktion der Figurationsanalyse bewog:

"Der Begriff der Figuration dient nun dazu, ein einfaches begriffliches Werkzeug zu schaffen, mit dessen Hilfe man den gesellschaftlichen Zwang, so zu sprechen und so zu denken, als ob »Individuum« und »Gesellschaft« zwei verschiedene und überdies auch noch antagonistische Figuren sind, zu lockern" (ebd.).

Wenn Elias' schon aufgrund der Tatsache, dass er sein Augenmerk mehr auf 44 die Gruppe als auf das Individuum richtete, nicht mit Freudscher Intensität auf die Innendynamik eines Individuums einging, die stets zusätzlich zu dessen Verflechtung mit seiner Umgebung wirksam ist, so hat er das Prinzip dieser Umstände sehr wohl erkannt:

"Der Mensch ist ständig in Bewegung; er durchläuft nicht nur einen Prozess, er ist ein Prozess" (ebd., S. 25).

Dass diese Prozesse nicht nur von äußeren Wirkungen gesteuert werden, 45 sondern sich die Dynamik gerade in den Wechselwirkungen ausdrückt, die von innerindividuellen Vorgängen mitkonstituiert werden, ist ihm ebenfalls

43 S. hierzu a. Peuckert 2001, S. 435: Es "wachsen mit dem in modernen, komplexen Gesellschaften beobachtbaren Werte-Pluralismus und den Widersprüchen im Werte-System die gesellschaftlichen Spannungen und Konflikte sowie die psychischen Belastungen des Einzelnen."

44 Wie weitgehend tatsächlich Individuum und Gesellschaft miteinander verflochten sind, wird später noch anhand des Freudschen Über-Ich-Ich-Es-Modells erläutert. Hier wird sich zeigen, dass faktisch der Verflechtungsgrad wahrscheinlich noch weit über das Maß hinausgeht, das sich an diesem Punkt hier bereits vermuten lässt.

45 Z. Begriff d. Dynamik s. a. Hörz, Herbert et al. (Hrsg.): Philosophie und Naturwissenschaften; Berlin: Dietz 1991, S. 207. Danach versteht man unter "Dynamik" die "Lehre von den Bewegungen, d. h. von den Zustandsänderungen physikalischer Systeme unter dem Einfluss äußerer oder innerer Kräfte bzw. Wechselwirkungen."

28

nicht entgangen:

"Menschen bedürfen der emotionalen Stimulation durch andere Menschen. Man kann sich - modellartig - jeden Menschen zu einer gegebenen Zeit als ein Wesen mit vielen Valenzen vorstellen, die sich auf andere Menschen richten, von denen einige in anderen Menschen ihre feste Bindung und Verankerung gefunden haben, andere dagegen, frei und ungesättigt, auf der Suche nach Bindung und Verankerung in anderen Menschen sind" (ebd.).

46 Diese "emotionale Stimulation" heißt, auf die Freudsche Begrifflichkeit übertragen, die Wechselwirkungen zwischen den Persönlichkeits- komponenten der Individuen, nämlich zwischen ihren "Über-ichs", "Ichs" und "Es'". Elias hätte sich vielleicht doch genauer mit Freuds Denken auseinandersetzen sollen, vor allem mit seinem Persönlichkeitsmodell. Er hätte - entgegen seiner Vermutung - auch hier Fruchtbares entdeckt. Missfallen hat ihm sicherlich Freuds Betonung sexueller Zusammenhänge, gilt Elias doch gerade "die Möglichkeit affektiver Permanenz über den Sexualakt hinaus und die Möglichkeit sehr starker emotionaler Bindungen verschiedener Art ohne sexuelle Tönung" als Vorteil spezifisch menschlichen Daseins. Dennoch sieht er die Entwicklung menschlicher Individuen prinzipiell nicht anders als Freud:

"Jeder Mensch hat ungeplante Eltern und beginnt damit, dass er in Reaktion auf sie oder auf Ersatzeltern handelt. Seine Willensakte erfolgen im Dienst von Bedürfnissen, die nicht das Ergebnis eines Willensaktes sind" (ebd.).

Auch nach Freud ist der Mensch schließlich ein vorrangig bedürfnis- 47 48 gesteuertes Wesen , der zunächst von den Eltern eine Prägung im Hinblick auf eben diese Bedürfnisse erhält. Elias gebraucht zwar den 49 Begriff des Willens , der aber kein freier ist, sondern immer bereits

46 Unter dem Stichwort "Stimulation" findet sich bei Knoll, Ludwig: Lexikon der praktischen Psychologie, Bergisch Gladbach: Lübbe, 1979, S. 384 die Definition "die Anregung oder Reizung und Steigerung von Gefühlen und Begierden." Demnach ist es also durchaus berechtigt, von einer "emotionalen Stimulation" zu sprechen.

47 Das nach dem Lust-Unlust-Prinzip vorgeht (vgl. hierzu Laplanche/Pontalis 1972, S. 564.). Z. Begriff d. Bedürfnisses vgl. bes. a. Heim, Robert: Bedürfnis, Begehren, Befriedigung in: Mertens, Wolfgang; Waldvogel, Bruno: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe; Stuttgart; Berlin; Köln: Kohlhammer, 2000. Dieser Artikel ist besonders interessant, da er eine Auseinandersetzung mit der Lacanschen Freud-Interpretation einschließt.

48 Z. Begriff d. Prägung s. z. B. Penzlin/Libbert 1991, S. 267 in: Libbert, Eike: Allgemeine Biologie; Jena: Fischer, 1991. Danach ist "Prägung" "ein irreversibler, außergewöhnlich schnell, innerhalb einer + kurzen 'kritischen Periode' ablaufender Lernvorgang." Dagegen hält z. B. Becker-Carus (vgl. 1999, S. 280) beim Menschen Prägungsvorgänge nicht unbedingt für irreversibel.

49 Vgl. hierzu d. Begriff d. Willens i. d. Philosophie (vgl. z. B. Prechtl, Peter: Wille in: 29

Ausdruck der Kräfte, die in dem Beziehungsgeflecht wirksam ist, in das er ohne sein Zutun schon mit der Geburt gerät. Der Wille als solcher, der sich in den zahlreichen und verschiedenartigen Strängen dieses Beziehungsgeflechts manifestiert, wird nämlich in keinem Fall von irgendeinem Individuum in einem freien Akt konstituiert:

"Ebensowenig sind andere Menschen, ihre Pläne und Wünsche, die die eigenen erfüllen oder enttäuschen, das Ergebnis von Willensakten. Und ebensowenig ist es von einem Menschen gewollt oder bewirkt, dass er als Kind völlig von anderen abhängig ist - und es bis zu einem gewissen Grade das ganze Leben hindurch bleibt" (ebd.).

Nach Elias ist also die menschliche Existenz von Beginn an durch Interdependenzen gekennzeichnet, denen kein Individuum entgehen kann - es differiert im Einzelfall nur der Grad, in dem das der Fall ist. Auf diesen Grad der individuellen Interdependenz und auch derer von Figurationen an sich kann auch die Dynamik des sozialen Prozessgeschehens abheben, wenn durch sie Fluktuationen bezüglich der Machtbalancen innerhalb und zwischen Individuen und Figurationen entstehen. Dieser Grad ist auch 50 erkennbar an dem Ausmaß der Strukturiertheit einer gegebenen Figuration, denn:

"Alle Gesellschaften, soweit man sehen kann, haben die allgemeinen Kennzeichen von strukturierten Figurationen mit Unterfigurationen auf mehreren Ebenen, von denen Individuen als Individuen nur eine bilden" (ebd., S. 33)

Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass Elias bereits das Individuum als Unterfiguration erkannte. Die Identifikation derselben mittels des Freudschen Modells ist dann m. E. dann nur ein weiterer, an sich logischer Schritt. Es ist auch nicht einzusehen, warum das Individuum in einem Figurationsgefüge eine letzte, nicht weiter zerlegbare Einheit bilden sollte, ist doch die detaillierte Analyse der Figurationen bei Elias bereits prinzipiell angelegt.

Prechtl, Peter; Burkard, Franz-Peter: Metzler-Philosophie-Lexikon: Begriffe und Definitionen; Stuttgart; Weimar: Metzler, 1999, S. 662): Prechtl vergleicht die Positionen v. Kant, Descartes u. Hobbes.

50 Z. Strukturiertheit v. Figurationen vgl. a. Elias 2001, S. 88: "Einzelne Menschen leben miteinander in bestimmten Figurationen. Die einzelnen Menschen wandeln sich. Die Figurationen, die sie miteinander bilden, wandeln sich ebenfalls. Aber die Veränderungen der einzelnen Menschen und die Veränderungen der Figurationen, die sie miteinander bilden, obgleich unabtrennbar und ineinander verwoben, sind Veränderungen auf verschiedener Ebene und auf verschiedene Art. Ein einzelner Mensch kann eine relative Autonomie gegenüber bestimmten Figurationen haben, aber allenfalls nur in Grenzfällen (etwa des Wahnsinns) von Figurationen überhaupt."

30

Der Eliassche Wille hat also keine metaphysische Komponente, sondern ist wesentlich Ausdruck einer inner- und interindividuellen Dynamik. Ebenso existiert nach Elias auch keine metaphysische Letztinstanz und auch "kein außerweltlicher »Urheber«". Damit nimmt er jedem ideologisch gerichteten Erklärungs- und sogar Steuerungsversuch den Wind aus den Segeln. Gesellschaftliche Entwicklungen richten sich demnach nicht nach dem Willen eines oder mehrerer Götter oder sonstiger vergötterter Wesen, sondern nehmen auf längere Sicht unvorhersehbar immer wieder einen 51 selbst von den unmittelbar Beteiligten unerwarteten Verlauf . Jedoch ist gesellschaftlicher Wandel

"weder ungerichtet noch ordnungslos; die Art, wie die jeweils späteren sozialen Formationen aus den früheren hervorgehen, kann bestimmt und erklärt werden" (ebd., S. 34).

Die posthum logisch und fast zwangsläufig erscheinenden Ereignisabfolgen sind jedoch für die jeweils Beteiligten während ihres Geschehens niemals übersehbar. Erst im Nachhinein bekommen die Prozessverläufe sozialer Dynamik diese scheinbar ihnen immanente Notwendigkeit, die aber faktisch so von vorneherein niemals feststeht, sind doch zu viele der Faktoren, die die Richtung des sozialen Geschehens determinieren, erstens nicht vorher erkennbar und zweitens oft zum Zeitpunkt einer versuchten Abschätzung dieser Richtung noch nicht einmal existent. D. h. es gibt immer verschiedene Möglichkeiten, in welcher Richtung sich das Netzwerk der Verflechtungen zukünftig verdichten kann. Zuverlässige Aussagen sind aus diesem Grund nur über Gegenwart und Vergangenheit möglich, wenn sich auch hinsichtlich vor einer bestimmten Gesellschaft liegenden Prozessen aus einer sorgfältigen Beobachtung und Analyse heraus bestimmte Wahrscheinlichkeiten ergeben, die jedoch immer auch erkennbare Alternativen haben. Voraussetzung hierfür ist aber stets eine Analyse des Status quo:

"Der gesellschaftliche Verflechtungsprozess und sein jeweiliger Stand, die jeweilige Figuration, an der sich der einzelne Mensch orientiert, stellen eine eigene Ordnung dar, einen Typ von Phänomenen mit Strukturen, Zusammenhangsformen, Regelmäßigkeiten spezifischer Art, die nicht etwa außerhalb der Individuen existieren, sondern sich eben gerade aus der ständigen Integrierung und der Verflechtung der Individuen ergeben" (ebd.).

Eben diese Verflechtungen müssen im Mittelpunkt einer Untersuchung

51 D. h. eine teleologische Ausrichtung sozialer Prozesse wird nicht angenommen. Vgl. hierzu Prechtl (1999, S. 590). Unter d. Stichwort "Teleologie" heißt es u. a.: "Unter Teleologie wird die Annahme der Zielgerichtetheit eines Prozesses oder einer Handlung verstanden."

31

stehen, will man Antworten auf Fragen nach Hintergründe bestimmter historischer bzw. politischer Ereignisse erhalten. Denn:

"Auf diese Ordnung, die auch spezifische Typen der Unordnung, Typen der Desintegration und der Entflechtung einschließt, bezieht sich alles, was wir über »Gesellschaften«, über »soziale Fakten« sagen" (ebd.).

Die »Entwicklung« einer Gesellschaft ist also keine Einbahnstraße. Soziale Prozesse sind niemals endgültig, sondern repräsentieren immer nur ein 52 vorläufiges Erlebnis. Ein erreichter Integrationsgrad bedeutet nicht, dass die betreffende Gesellschaft künftig auf jeden Fall auf ihn aufbauen kann, sondern es ist genauso möglich, dass sie einer Phase der Desintegration entgegensieht. Ebenso ist nicht nur eine weitere Verdichtung im Verflechtungsprozess möglich, sondern ebenso eine Verdünnung, weil an einigen Stellen des Netzwerks eine Entflechtung stattgefunden hat.

Das bedeutet jedoch nicht, dass sich gar keine Aussagen machen lassen. Es gilt aber immer im Auge zu behalten, dass man eine Bewegung "nur aus einer Bewegung, einen Wandel nur aus einem Wandel erklären kann".

Weshalb gibt es aber überhaupt Veränderungen? Warum verändern sich manche gesellschaftlichen Figurationen schneller und häufiger - zumindest zeitweise - während andere im selben Zeitraum, soweit es sich erkennen lässt, relativ gleichförmig überdauern?

Nach Elias verändern sich Figurationen maßgeblich gemäß ihrer Fähigkeit,

"Erfahrungen, die in einer bestimmten Generation gemacht worden sind, als gelerntes gesellschaftliches Wissen (gesellschaftlich akkumulierte Erfahrungen) an die folgenden Generationen weiterzugeben" (ebd.).

Dabei spielt erkennbar die Alphabetisierung eine nicht zu überschätzende Rolle. Denn nur schriftliche Aufzeichnungen überdauern sicher und Modifikationen von Gewusstem bedürfen zunächst in jedem Fall einer 53 sicheren fixierten Basis . Diese kann eine ausschließlich mündliche

52 Wobei der Begriff "Integration" durchaus problematisch zu sehen ist. S. hierzu bes. Peuckert, Rüdiger: Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle in: Korte, Hermann; Schäfers, Bernhard (Hrsg.): Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie; Opladen: Leske + Budrich, 2000, S. 104 z. Problem der Integration bei der Umsetzung v. sozialer Kontrolle: "Soziale Kontrolle ist ein zentraler Bestandteil aller Prozesse der sozialen Integration."

53 Zur Verschriftlichung s. bes. Kuckenburg (1989, S. 135): "Erst die Schrift ermöglicht auch eine Geschichtsschreibung und ein 'Geschichtsbewusstsein' im engeren, d.h. auf eine möglichst vollständige und authentische Erfassung der Vergangenheit gerichteten Sinne; 32

Gesellschaft nicht bieten, schon aufgrund der Unmöglichkeit, eine Sache 54 detailgetreu allein durch mündliche Überlieferung zu tradieren . Zu dieser Ungenauigkeit der Überlieferung kommt dann noch die mögliche missbräuchliche Willkür einzelner Mächtiger, eine Gesetzesvariante als Tradition zu betiteln, weil kein schriftliches Gesetz vorliegt, anhand dessen dies überprüft werden könnte. Von dieser Möglichkeit machten noch im Hochmittelalter Europas zahlreiche Herrscher im eigenen Interesse häufig 55 Gebrauch . Nebenbei bemerkt, ist dies auch ein gutes Argument gegen die Behauptung, sogenannte "primitive" Gesellschaften seien ein genaues Abbild früher europäischer, denn sie hätten ihre Traditionen jahrtausendelang bewahrt.

Trotzdem liegt nach Elias der Dynamik aller Figurationen eine Reihe von Antrieben zugrunde:

"Die wichtigsten Antriebe gesellschaftlicher Prozesse sind:

1. die Konkurrenz der großen und der kleinen Überlebenseinheiten (Angriffs- und Verteidigungseinheiten; Stämme und Staaten),

erst durch sie nämlich entsteht eine von der selektierenden Erinnerung unabhängige Aufzeichnung und Aufbewahrung des Gewesenen, wird somit auch der 'gesellschaftliche Filter', der über Weitergabe oder Vergessen von Fakten, Erfahrungen und Ideen entscheidet, weitmaschiger und durchlässiger. So haben in einem bestimmten Maße auch solche Gedanken und Ideen die Chance, in schriftlicher Form zu überleben und in die Zukunft zu wirken, deren Überlieferung nicht den Bedürfnissen, Interessen und Prioritäten der bestehenden Gesellschaft (oder der in ihr herrschenden Gruppe) entspricht, und die daher bei einer rein mündlichen Tradierung unvermeidlich ausgelöscht würden. Dieser Umstand war manchen totalitären Herrschern in der Geschichte ein solches Ärgernis, dass sie ihn (zumeist vergeblich) durch massenhafte Bücherverbrennungen und die Vernichtung ganzer Bibliotheken auszuschalten versucht."

54 Man denke nur an die Festtagsrezepte, die in manchen Familien mündlich von Generation zu Generation weitergereicht werden: in der Regel gibt es am Ende so viele Varianten des Gerichts wie Köche und die aktuelle Generation isst wahrscheinlich etwas völlig anderes als drei oder gar vier Generationen zuvor zubereitet wurde.

55 Jedoch gilt dies in England und Frankreich im MA nicht im gleichen Maße wie für Deutschland. S. hierzu bes. Vollrath, Hanna: Deutsche Geschichte im Mittelalter in: Vogt, Martin (Hrsg.): Deutsche Geschichte: von den Anfängen bis zur Gegenwart; Stuttgart; Weimar: Metzler, 1997, S. 64: "Auch das im 12. Jahrhundert beliebte Diktum, dass ein illiterater König ein gekrönter Esel sei (rex illitteratus asinus coronatus) weist darauf hin, dass damals von einem König Fähigkeiten verlangt wurden, die über die Verkörperung sakralen und ritterlich-adligen Herrentums hinausgingen. Aber es ist wohl kein Zufall, dass das zitierte Sprichwort vor allem in den damals sehr »modernen« Ländern Frankreich und England Verbreitung fand. Im deutschen Reich war dagegen Ludwig der Bayer (1314-1347) keine Ausnahme, der von sich - nicht ohne einen gewissen oppositionellen Stolz - feststellte, dass ihm als Ritter und Kriegsmann die Feinheiten des gelehrten Bücherwissens verschlossen seien."

33

2. Fortschritte in der Entwicklung der Orientierungsmittel (Wissen)

3. die Entwicklung der Produktionsmittel

4. die Entwicklung der Selbstkontrollen" (ebd., S. 34f).

Die Konkurrenz der »Überlebenseinheiten« (Punkt 1) resultiert in Machtdifferenzialen, wobei jede Einheit bzw. Figuration auf bestimmte Machtquellen zurückgreift, wie sie Michael Mann so anschaulich beschrie- ben hat.

Die »Fortschritte in der Entwicklung der Orientierungsmittel« (Punkt 2) haben einen großen Einfluss darauf, welche Figurationen innerhalb der großen und kleinen Einheiten auf Dauer mehr Macht beanspruchen oder vielmehr durchsetzen können. Schriftlichkeit ist diesbezüglich, wie schon ausgeführt, ein nicht zu unterschätzender Faktor, denn eine verschriftete Figuration hat immer eine größere Auswahl an Interaktionsmöglichkeiten und so auch eine größere Chance, sich innerhalb der größeren Figurationen, 56 deren Teil sie ist, langfristig durchzusetzen .

Die Verschriftung einer Figuration ist jedoch nur ein Orientierungsmittel, in dessen Besitz sie sich befinden kann. Andere Faktoren in dieser Rubrik wären u. a. medizinisches Wissen oder die Kenntnis kultischer Rituale, deren Erscheinungsbild in Abhängigkeit von der Umgebung einer Sozietät stark variieren kann. Ebenso spielen die Produktionsmittel, über die eine Figuration verfügt, keine geringe Rolle (Punkt 3). Hierunter fällt sowohl deren technischer Standard und ihre Variationsbreite zum Beispiel in Bezug auf Werkzeuge und nicht zuletzt der Grad der Arbeitsteilung. Arbeitsteilige Figurationen bringen Spezialisten für verschiedene Arbeitsgänge hervor, die in ihrer Kenntnis des jeweiligen Produktionszweiges handwerklichen Allroundern in der Regel überlegen sind.

Zu Punkt 3 ist zu sagen, dass Norbert Elias von einem Prozess der Zivilisation ausging, der sich seiner Ansicht nach in der Entwicklung immer größerer Triebkontrollen manifestierte. Sein relativ optimistisches Menschenbild zeigt sich in seiner Zivilisationstheorie, die "sich auf alle

56 Man denke hier nur an die Religionsgemeinschaften, innerhalb derer verschriftete Priesterschaften jahrhundertelang die Oberhand über analphabetische Menschenmassen bewahren konnten. Anzuführen wären hier viele Beispiele: der altägyptische Amunkult, die christliche Kirche besonders des Mittelalters, der fundamentalistische moderne Islam etc.

34

57 Menschen bezieht" und innerhalb derer

"Triebkontrolle eine menschliche Universalie ist, ohne die es weder einen individuellen Menschen noch ein menschliches Zusammenleben der Individuen gibt" (ebd., S. 73f).

Nun sind diese Antriebe sozialer Prozesse aber keineswegs als einzelne Phänomene zu verstehen, denn ganz im Gegenteil

"verschränken [sie] sich, sind interdependent, und haben zugleich eine relative Autonomie; keiner ist »Überbau«" (Elias in: Bartels 1995, S. 35).

In der Regel wird auch nicht ein einzelner dieser Antriebe in einer Figuration wirksam werden, sondern Kombinationen von ihnen. Punkt 2 und 3 hängen sogar direkt zusammen, die Entwicklung von Orientierungswissen befördert oft die Entwicklung der Produktionsmittel oder umgekehrt, man kann hier im Prinzip von einer Wechselwirkung ausgehen. Doch es darf nicht vergessen werden, dass kein Prozess oder "Entwicklungsschub" jemals als irreversibel betrachtet werden sollte.

Zur Verdeutlichung seines Konzepts hat Norbert Elias seine Theorie als Varianten von Spielmodellen ausgearbeitet, wobei jedes Modell Ausdruck einer bestimmten Form von Figuration ist.

I.3.2 Spielmodelle: Modelle normierter Verflechtungen

58 Die Spielmodelle nach Norbert Elias sind

"vereinfachende Gedankenexperimente, mit deren Hilfe es möglich ist, den Prozesscharakter von Beziehungen aufzuzeigen. Gleichzeitig machen sie deutlich, in welcher Weise sich die Verflechtung der Menschen verändert, wenn sich die Verteilung der Machtgewichte verändert " (Elias 1996, S. 83).

Dieser Machtgewichtsverteilung entspricht im Modell "die relative Spiel- stärke der Spieler".

Das erste Modell der Zweipersonenspiele stellt die einfachste Form dar. Mit

57 Elias 1987, S. 73.

58 Die Spielmodelle nach Norbert Elias dürfen nicht mit der Spieltheorie nach Neumann/Morgenstern verwechselt werden! (Vgl. hierzu Mikl-Horke 2001, S. 400ff). Bei dieser handelt es sich wesentlich um "eine interaktive Entscheidungstheorie" (ebd., S. 403) und nicht um ein figurationssoziologisches Gesellschaftsmodell wie bei Norbert Elias.

35 zunehmender Spielerzahl erhöht sich auch der Komplexitätsgrad des Modells.

I.3.2.1 1) Zweipersonenspiele

Dieses einfachste Modell beinhaltet zwei Varianten. Im Fall a) besteht ein großer Unterschied zwischen der relativen Spielstärke des Spielers A im Verhältnis zu Spieler B, d. h. A ist wesentlich spielstärker als B, wie im folgenden Schaubild dargestellt. Die doppelte Linie, die A umgibt, steht für die größere Spielstärke As.

+-----+ +-----+ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ A ¦------¦ B ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ +-----+ +-----+

"In diesem Fall hat A ein sehr hohes Maß an Kontrolle über B: Bis zu einem gewissen Grad kann er ihn zwingen, bestimmte Spielzüge zu tun. Er hat, mit anderen Worten, 'Macht' über ihn" (ebd., S. 84).

Es ist aber nicht so, dass Bs Spielstärke Null beträgt. B ist also gegenüber A wesentlich weniger mächtig, aber eben nicht vollkommen machtlos, denn

"sonst gäbe es kein Spiel. Menschen, die irgendein Spiel miteinander spielen, beeinflussen sich mit anderen Worten immer gegenseitig" (ebd.).

Aber "der Saldo der Spielstärken" ist dafür verantwortlich, wer den Status des Mächtigeren erhält, in unserem Fall also A. Das ist aber nicht der einzige Vorteil, den A aus seiner relativen Spielstärke ziehen kann. Neben der Kontrolle über Bs Verhalten hat er darüber hinaus noch

"ein hohes Maß an Kontrolle über das Spiel als solches. Er kann zwar nicht absolut, aber doch in recht hohem Maße den Spielverlauf - den 'Spielprozess', den Beziehungsprozess - als Ganzes und damit also auch das Resultat des Spiels bestimmen" (ebd., S. 83).

Im Fall b) hat sich der "Saldo" der Spielstärke zwischen den beiden Kontrahenten A und B reduziert. Dabei spielt es keine Rolle, ob einer der beiden an Spielstärke gewonnen hat oder die des anderen rückläufig ist. Das 36

Schaubild zeigt die Veränderung: die A umgebende Linie ist nur noch einfach, was die relativ ausgeglichene Stärke der beiden Spieler darstellt:

+-----+ +-----+ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ A ¦------¦ B ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ +-----+ +-----+

Das Maß, in dem der Spielstärkere den relativ Spielschwächeren zu einem bestimmten Verhalten zwingen kann, nimmt ebenfalls ab. Das gleiche gilt für die Kontrolle des gesamten Spiels.

"Umso weniger ist einer der beiden Spieler in der Lage, die Spielfiguration zu kontrollieren; umso weniger ist sie allein von den Absichten und Plänen abhängig, die sich der Einzelne selbst vom Spielverlauf gemacht hat" (ebd., S. 85).

Was dabei allerdings zunimmt, ist die Abhängigkeit As und auch Bs "von der sich wandelnden Spielfiguration, vom Spielprozess". Das bedeutet, dass die Vorstellungen, die der einzelne sich über den Spielverlauf gemacht hat, für keinen vollkommen realisierbar sind, denn der Spielprozess erweist sich neben der Vorstellung As und der Bs als dritter Einflussfaktor, der bei geringem Machtdifferential sich als deren stärkster erweisen wird. Damit gewinnt das Spiel den Charakter eines sozialen Prozesses und verliert den des Vollzugs eines individuellen Plans; in umso höherem Maße resultiert, mit anderen Worten, aus der Verflechtung der Züge zweier einzelner 59 Menschen ein Spielprozess, "den keiner der beiden Spieler so geplant hat" .

Die nächste Ebene mit mehreren Spielern weist bereits einen relativ hohen Komplexitätsgrad auf.

59 Ebd., Hervorh. i. O.

37

I.3.2.2 2) Vielpersonenspiele auf einer Ebene

Fall a)

In diesem Modell spielt ein Spieler A parallel gegen diverse andere Spieler B, C, D, etc. Dabei spielt er gegen jeden dieser anderen Spieler ein individuelles Spiel, d. h. Gruppenbildung wird ausgeschlossen. Im untenstehenden Schaubild zeigt die doppelte Linie um A dessen überlegene Macht an, während die einfache Linie um B, C und D deren jeweilige Unterlegenheit demonstriert. Die durchbrochenen Verbindungslinien stehen für die Instabilität jedes Machtgeflechts:

+-----+ ¦ ¦ ¦ A ¦ ¦ ¦ +-----+ | | | | | | |------+ | +------+ | | | +-----+ +-----+ +-----+ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ B ¦ ¦ C ¦ ¦ D ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ +-----+ +-----+ +-----+

Hierbei besitzt A gegenüber allen seinen Gegenspielern Spielüberlegenheit. Dieser Fall ist im Prinzip genauso zu interpretieren wie 1a). Die Bedingungen würden sich allerdings zu Ungunsten von A verändern, nähme die Zahl der Gegenspieler weiter zu. Dies hätte wahrscheinlich zur Folge, dass As Spielstärke gegenüber den ersten, also B, C, D, etc. jeweils relativ abnähme.

"Die Spanne der aktiven Beziehungen, die ein einzelner Mensch gleichzeitig unabhängig voneinander spielen kann, also sozusagen in getrennten Abteilen, ist begrenzt" (ebd., S. 86). 38

Fall 2b)

Die Konstellation wird nun dahingehend verändert, dass A nicht mehr gegen jeden Spieler B, C, D, etc. einzeln spielt, sondern gegen alle zusammen als 60 Kollektiv . Innerhalb dieses Kollektivs ist jedoch jeder einzelne Spieler A unterlegen. Im Gegensatz zum Schaubild 2a) zeigen im folgenden Schaubild die durchbrochenen Verbindungslinien zwischen B und C und C und D, dass diese nun gemeinsam spielen.

+-----+ ¦ ¦ ¦ A ¦ ¦ ¦ +-----+ | | | | | | |------+ | +------+ | | | +-----+ +-----+ +-----+ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ B ¦------¦ C ¦------¦ D ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ +-----+ +-----+ +-----+

Das Spielresultat und die Machtbalance hängen jetzt auch vom internen Verhältnis der Spielgruppe ab. Ist Letztere harmonisch, so reduziert diese Einigkeit der Solidargruppe die Machtüberlegenheit, die A gegenüber jedem einzelnen Spieler innehat.

"Gruppenbildung spielschwächerer Spieler ohne starke innere Spannungen ist selbst ein Machtfaktor zu ihren Gunsten" (ebd.).

Herrscht aber Uneinigkeit in der Spielgruppe, so erhöht dies wieder die Macht von A.

60 Z. Wandel d. Kollektivbegriffs vgl. a. Neumann, Lothar F.: Kollektiv in: Meyer, Thomas et al. (Hrsg.): Lexikon des Sozialismus; Köln: Bund-Verlag, 1986.

39

Fall 2c)

Nimmt die Spielstärke von A als solche ab, so entsteht eine Situation, die mit 1b) vergleichbar ist, "vorausgesetzt, dass die Gruppe der Gegenspieler 61 sich einigermaßen einig ist" . Die doppelte Linie um A im Fall von 2a) und 2b) ist zu einer einfachen geworden:

+-----+ ¦ ¦ ¦ A ¦ ¦ ¦ +-----+ | | | | | | |------+ | +------+ | | | +-----+ +-----+ +-----+ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ B ¦------¦ C ¦------¦ D ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ +-----+ +-----+ +-----+

Fall 2d)

Nun spielen zwei Gruppen B, C, D, etc. und U, V, W, etc. gegeneinander "nach Spielregeln, die beiden Seiten gleiche Gewinnchancen geben, und mit annähernd gleicher Spielstärke". Keine der beiden Gruppen kann hier die Kontrolle an sich reißen und keine verfügt über die größere Macht. Der jeweils nächste Spielzug hängt für jede Gruppe von dem vorhergehenden ab und keine Seite kann sich wirklich sicher sein, wie der nächste Spielzug aussehen wird, obwohl beiderseits gewisse Vermutungen bestehen werden.

61 Ebd., S. 87.

40

+-----+ +-----+ +-----+ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ B ¦------¦ C ¦------¦ D ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ +-----+ +-----+ +-----+ | | | +-----+ +-----+ +-----+ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ U ¦------¦ V ¦------¦ W ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ +-----+ +-----+ +-----+

"Es handelt sich hier um eine Ordnung spezifischer Art, eben eine Verflechtungs- oder Figurationsordnung, innerhalb derer kein Akt der einen Seite allein als Akt dieser Seite zu erklären ist, sondern allein als Fortsetzung der vorangehenden Verflechtung und der erwarteten zukünftigen Verflechtung von Akten beider Seiten" (ebd.).

I.3.2.3 Vielpersonenspiele auf mehreren Ebenen

Eine ständig wachsende Zahl von Spielern erzwingt hier den ständigen Wandel bezüglich der Beziehungen der Spieler untereinander und bezüglich 62 63 ihrer Organisation . Der Vollzug der Spielzüge aller Spieler pro 64 Durchgang nimmt immer längere Zeitspannen in Anspruch . Das bedeutet für den einzelnen Spieler auch immer länger werdende Warteintervalle, bis

62 Wesentlich hängt der Erfolg eines Kollektivs von der Organisationsfähigkeit seiner Mitglieder ab. S. hierzu Schmidt 1995, S. 681: "Die Organisationsfähigkeit einer sozialen Gruppe hängt maßgeblich vom Kosten-Nutzen-Kalkül ihrer (potenziellen) Mitglieder ab, in das nicht nur eng definierte ökonomische Interessen, sondern auch Antriebskräfte wie soziale Ehre, Sitte und Gewohnheit einfließen. [...] Der politische Einfluss einer bestimmten Gesellschaftsgruppe hängt maßgeblich ab von ihrer Organisationsfähigkeit und Konfliktfähigkeit."

63 Aufgrund der Komplexität dieser multiplen Figuration ist eine übersichtliche Darstellung mittels eines Schaubildes mit den hier gegebenen technischen Mitteln nicht möglich, weshalb auf die Erstellung eines solchen verzichtet wird.

64 Vgl. hierzu Bahrdt 1992, S. 92: "Soziale Gruppen aktualisieren sich als interagierender Verband nur ab und zu in Situationen, die als solche des gemeinsamen Handelns feststehen und trotz zeitlicher Unterbrechungen als Teile einer Sequenz angesehen werden." Voraussetzung für Gruppenhandeln sind selbstverständlich gemeinsame Ziele: "Im Allgemeinen nimmt man an, dass eine Gruppe ein oder mehrere Gruppenziele verfolgt und dass darüber auch ein Konsens besteht" (ebd., S. 91). Für eine effektive Gruppe gilt auch, dass ihre Mitglieder "nicht nur gelegentlich und unzusammenhängend, sondern immer wieder" interagieren (vgl. ebd.).

41

er an die Reihe kommt und erschwert es ihm zusehends,

"sich ein Bild vom Spielverlauf und von der sich wandelnden Spielkonfiguration zu machen" (ebd., S. 88).

Die zunehmende Komplexität der Figuration erschwert dem einzelnen darüber hinaus in wachsendem Maße die Orientierung, die er dringend benötigt, um entscheiden zu können,

"welcher Zug ihm die beste Gewinnchance gibt oder auch die beste Chance, Angriffe von Gegenspielern abzuwehren" (ebd.).

Die Komplexität einer Figuration, die er in diesem Sinne zu meistern vermag, ist aufgrund seiner eigenen Wahrnehmungsfähigkeit begrenzt, denn eine zunehmend komplexe Figuration verliert immer mehr an Transparenz für den einzelnen Spieler. Das mit wachsender Spielerzahl ständig an Komplexität gewinnende "Interdependenzgeflecht", die "Figuration des Spiels", lässt die Entwicklung und die Richtung des Spiels für den Einzelnen "wie spielstark er auch sein mag, immer unkontrollierbarer 65 werden" . Die Figuration entwickelt so etwas wie ein "Eigenleben". Diese Situation ergibt sich selbstverständlich für alle Spieler. Dies hat wiederum Auswirkungen auf das Spiel. Es "desorganisiert sich in zunehmendem Maße; es funktioniert schlechter und schlechter". Dies zwingt die Spieler 66 67 zur Umorganisation . Hierfür bestehen nach Elias drei Möglichkeiten, wovon er aber nur eine weiterverfolgt.

Erstens kann die sich ständig erhöhende Spielerzahl "zu einer Desintegration der Spielergruppe führen", wonach sich die Mitglieder auf Splittergruppen verteilen. Dies bewirkt entweder eine zunehmende Distanz unter diesen neu entstandenen Splittergruppen, wobei dann diese "ihr Spiel völlig unabhängig von jeder andern" weiterentwickeln oder sie bilden "eine neue Figuration interdependenter kleiner Gruppen miteinander", die zwar autonom sind, aber

65 Trotz der Problematik der reduzierten Überschaubarkeit einer größeren Figuration für das einzelne Mitglied, sollte nicht übersehen werden, dass kleine Gruppen in der Regel nicht nur ein geringeres Machtpotenzial besitzen, sondern dass es ihnen auch häufig an personellen und sachliche Kapazitäten fehlt (vgl. Bahrdt 1992, S. 96).

66 Mit anderen Worten: Die Figuration ist zur Handhabung ihrer eigenen Komplexität zur Arbeitsteilung gezwungen.

67 Vgl. 1996, S. 89.

42

"alle zugleich als Rivalen um bestimmte von ihnen gleichermaßen begehrte Chancen interdependent bleiben" (ebd.).

Die dritte Möglichkeit, die dann auch eingehender von Elias behandelt wird, ist, dass die Spielergruppe bei wachsender Spielerzahl integriert bleibt; dabei unterliegt sie jedoch einem Transformationsprozess, an dessen Ende aus ihr "eine Figuration von höherer Komplexität" wird: "aus einer 68 einstöckigen kann eine zweistöckige Gruppe werden" .

I.3.2.4. 3a) Zweistöckiges Spielmodell

Auch bei einer zweistöckigen Gruppe bleiben alle Spieler voneinander abhängig, obwohl sie nicht mehr direkt miteinander spielen. Das Spiel wird nunmehr von einer Führungsgruppe koordiniert, "die sich sozusagen im zweiten Stock befindet". Deren Mitglieder spielen "direkt mit- und gegeneinander", sind aber

"zugleich in der einen oder anderen Form an die Masse der Spieler gebunden, die nun das erste Stockwerk bilden. [...] Die beiden Stockwerke hängen voneinander ab und haben - entsprechend dem Grad ihrer Abhängigkeit voneinander - ein verschiedenes Maß an gegenseitigen Machtchancen" (ebd.).

Bezüglich der Machtdifferenziale zwischen erstem und zweitem Stock kann man wieder zwei Extreme annehmen. Erstens können diese Machtdifferenziale sehr groß sein. Dabei haben die Spieler des zweiten Stocks das Monopol des Spielzugangs, denn nur sie "haben direkten und 69 aktiven Anteil am Verlauf des Spiels" . Elias verzichtet zwar auf die Darstellung von Figurationen noch größerer Komplexität, wie drei-, vier- oder noch mehrstöckiger Figurationen - wie sie wohl mit Sicherheit in realen Gesellschaften anzutreffen sind -, konstatiert aber, dass diese dann komplexerer wissenschaftlicher Analyse bedürfen. Jedoch dienen wie oben erwähnt Modelle eher dazu, Komplexität zu reduzieren, um ein Prozessgeschehen im Prinzip erfassen zu können und sollen eine detaillierte Analyse gar nicht ersetzen. Bereits in einem zweistöckigen Modell ist das Ausmaß der Komplexität wie auch der Vernetzung ja bereits immens. Es existieren nicht nur Rivalitäten zwischen den beiden Stockwerken, sondern auch jeweils ebenenintern zwischen einzelnen Spielern oder Subgruppen.

68 Mit einer Arbeitsteilung geht in der Regel auch eine Hierarchisierung einher.

69 Ebd., S. 90.

43

Genauso verhält es sich bezüglich der Vielfalt möglicher Allianzen. Letztere existieren auch zwischen Gruppen verschiedener Stockwerke sowie zwischen einzelnen Spielern, unabhängig davon, auf welcher Ebene der eine oder der andere angesiedelt ist.

"Man kann in einem zweistöckigen Spiel mindestens drei, wenn nicht vier verschiedene Machtbalancen unterscheiden, die wie Räder eines Räderwerks ineinandergreifen, und dabei können die Gegner der einen Ebene Verbündete sein" (ebd., S. 91).

Elias glaubt, das

"oligarchische Zweiebenenmodell entspräche der dynastisch-aristokratischen Gesellschaft" (ebd.).

Hier wird jedoch die Ansicht vertreten, dass schon in dieser Gesellschaftsform mehr als zwei Ebenen erkennbar sind, bildet ja jedes Individuum schon eine eigene Figuration.

I.3.2.5. 3b) Zweistöckiges Spielmodell: Vereinfachter Demokratisierungstyp

In diesem Modell hat sich die Machtbalance zugunsten des unteren Stockwerks verschoben. Doch der Einfluss der dort angesiedelten Spieler bleibt

"indirekt und latent, unter anderem deswegen, weil es ihnen an Organisation fehlt" (ebd., S. 93).

Aber den Spielern des zweiten Stockwerks werden die durch die Verringerung der Machtdifferenziale stärker gewordenen Abhängigkeiten deutlicher bewusst. Bei weiterer Abnahme der Machtdifferenziale

"verändern sich schließlich die Funktion und der Charakter der Spieler des oberen Stockwerks" (ebd.).

An einem gewissen Punkt der Machtverschiebung beginnen die Spieler des 70 unteren Stockwerks sich zu organisieren und Repräsentanten zu wählen.

70 Zur Problematik zunehmender Machtdifferenziale bei der Ausbildung von Hierarchien, die gewöhnlich mit der Wahl von Repräsentanten einhergeht, vgl. Patzelt 2001, S. 511, der die Rolle politischer Repräsentanten weitgehend positiv sieht. Bei der Repräsentation handelt es sich lt. Patzelt um eine Form gesellschaftlicher Arbeitsteilung: "Politische Entscheidungen zu treffen, wird Repräsentanten bzw. dem politischen System als dessen besondere Aufgabe zugewiesen. Von einer reinen Herrschaftsbeziehung, bei welcher 'Untertanen' der 'Obrigkeit' gegenüberstehen, unterscheidet sich Repräsentation durch das Vorliegen folgender Merkmale: Die Repräsentanten handeln responsiv und im 44

Dies erschwert die Spielsituation zusehends für die Spieler des oberen Stockwerks, die zuvor relativ frei schalten und walten konnten.

"Die Gesamtfiguration dieser ineinander verwobenen Spiele differenziert sich zusehends" (ebd., S. 94). und selbst der bislang erfolgreichste Spieler sieht sich mit einer immer mehr schwindenden Transparenz des Spiels konfrontiert. In diesem Rahmen und unter diesen schwierigen Bedingungen

"bleibt eine Figuration, die einen einzelnen Spieler oder einer ganz kleinen Gruppe von Spielern außerordentliche große Machtchancen zugänglich macht, dieser latenten Machtstruktur entsprechend höchst instabil; sie stellt sich zumeist in Krisenzeiten her und lässt sich nur schwer für längere Zeit aufrechterhalten" (ebd.).

I.3.2.6. Zusammenfassung und Problematik

Der wesentliche Vorteil des Eliasschen Modells ist sicherlich seine Dynamik. Elias selbst hat immer wieder betont, dass eine Machtbalance, die ja einen statischen Zustand repräsentieren würde, innerhalb einer Figuration im Prinzip nur eine theoretische Möglichkeit darstellt und sozusagen als Eichmaß dient, aber sich de facto in der Praxis kaum jemals beobachten lassen wird. Aus diesem Grund lässt sich m. E. behaupten, dass das Spielmodell kein statisches Moment beinhaltet.

Als problematisch könnte die Wahl der Metapher des »Stockwerks« angesehen werden, impliziert dies doch einen fixen hierarchischen Aufbau. Ich glaube jedoch, dass sich Elias der Statik dieses Bildes gar nicht bewusst war und dass dieses Problem der eventuell nicht ganz glücklichen Begriffswahl deshalb vernachlässigt werden kann.

Interesse der Repräsentierten; Repräsentanten und Repräsentierte können unabhängig voneinander ihre Positionen sowie Interessen definieren und handeln, so dass beliebig große Konflikte zwischen ihnen entstehen können; und zugleich schaffen es die Repräsentanten, durch mit politischer Führung gepaarte Responsivität die Beziehungen zu den Repräsentierten so zu gestalten, dass derartige Konflikte sich in halbwegs engen Grenzen halten." Angesichts dieses idealisierenden Repräsentationsverständnisses kann eine Bezugnahme auf die Systemtheorie nicht verwundern, denn für Patzelt ist Repräsentation eine "mögliche Systemeigenschaft". Diese Sichtweise wird hier nicht geteilt. M. E. impliziert die Wahl von Repräsentanten immer auch die Gefahr eines allzugroßen Machtzuwachses, wenn nicht gleichzeitig installierte Kontrollmechanismen der Wählenden greifen.

45

Dennoch bin ich nach einigen unbefriedigenden Versuchen der Konstruktion eines Metaphermodells, das die Beibehaltung des Begriffs erlauben würde, zu der Überzeugung gelangt, dass es günstiger ist, den Stockwerksbegriff durch den flexibleren Begriff der Ebene ersetzen, den ja auch Elias selbst bereits häufig gebraucht hat.

Die Figurationsanalyse präsentiert sich also prinzipiell als geeignetes Instrument zur Erfassung dynamischer Prozesse und Machtfokussierungen. Was sich mit ihr allerdings nicht feststellen lässt, ist die Art und Zusammensetzung von Mächten. Diese beschreiben zu können, halte ich allerdings für das Verständnis des Zusammenhangs von Macht und Ideologie unabdingbar, weshalb die Figurationsanalyse für die Zwecke dieser Arbeit einer Ergänzung bedarf. Diese Ergänzung habe ich in Michael Manns Analyse der Machtquellen gefunden, die Gesellschaften als organisierte Machtgeflechte versteht, die Übertragbarkeit evolutionär- biologistischer Modelle auf die Sozialwissenschaften ablehnt und darüber hinaus zu keiner Zeit auf ein transzendentes Letztes im Sinne einer teleologischen Setzung zurückgreift. Aus diesen Gründen kollidiert sie auch nicht ideologisch mit dem Eliasschen Modell und macht ihre Verwendung 71 als dessen Komplement umso plausibler .

71 Vgl. hierzu Knöbl/Haferkamp (2001, S. 306), die ebenfalls die Verknüpfung von Michael Manns Modell mit anderen für sinnvoll halten: "Trotz Einwänden im Einzelnen stellt der machttheoretische Ansatz seine Fruchtbarkeit unter Beweis. Verbindet man ihn mit den analytischen Orientierungen anderer Autoren der angelsächsischen Historischen Soziologie, dann lässt sich überdies die These vertreten, dass Historische Soziologie eine relativ eigenständige Forschungsheuristik bietet." Ob nun Elias sich in den von Knöbl genannten Bereich einordnen lässt, ist m. E. vernachlässigbar. Ich bin der Ansicht, dass sich sein dynamisches Modell jedenfalls gut mit Manns IEMP-Schema verträgt.

46

I.3.3 MICHAEL MANN: DIE VIER QUELLEN DER MACHT (IEMP)

I.3.3.1 Gesellschaften als organisierte Machtgeflechte

Michael Manns »Geschichte der Macht« untersucht die Machtfrage mittels 72 empirisch-historischer Methodik in einem makro-soziologischen Rahmen . Seine zentralen Fragestellungen und theoretischen Grundannahmen werden innerhalb dieses Werks wesentlich in dem Kapitel »Gesellschaften als organisierte Machtgeflechte« dargelegt, das auch dem Gesamtwerk 73 vorangestellt ist . (Auf dieses Kapitel beziehen sich auch die folgenden Seitenzahlen.)

Laut eigener Aussage lässt sich Manns Ansatz auf zwei Thesen zusammendrängen, und zwar

1. "Gesellschaften bestehen aus vielfältigen, sich überlagernden und 74 überschneidenden sozialräumlichen Machtgeflechten" (S. 14) .

2. "Eine allgemeine Beschreibung von Gesellschaften75, ihrer Struktur

72 Zur Diskussion über die Vertretbarkeit makrosoziologischer Diskussionen vgl. Knöbl/Haferkamp (2001, S. 304). Knöbl/Haferkamp kritisieren hier beispielsweise die Position Tenbrucks, dessen Einfluss auf die Historische Soziologie nach ihrer Ansicht eher bremsend wirkte, da Tenbruck "jeden verallgemeinernden Erklärungsanspruch und jede Suche nach strukturellen Regelmäßigkeiten als verfehlt betrachtet und statt dessen allein die historisch-verstehende Untersuchung konkreter und einzelner kultureller Erscheinungen für vertretbar hält." Darüber hinaus kritisieren die Autoren auch Kruse, der prominente Soziologen, die in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Werke im Bereich der Historischen Soziologie verfasst hatten, in den "Rang von Klassikern" (ebd.) erheben wollte. Knöbl/Haferkamp melden diesbezüglich Zweifel an (ebd., S. 305) und verweisen auf "eine Vielzahl theoretisch fundierter und empirisch kontrollierter Untersuchungen" im anglo-amerikanischen Raum, "die gerade nicht auf generalisierende Aussagen und Kausalanalysen verzichten und die eben deshalb wichtige Beiträge zu einer soziologischen Erklärung makroskopischer Entwicklungen und zur Genese moderner Gesellschaften geliefert haben." Vgl. hierzu auch Tenbruck (1986, S. 331 ff) u. Kruse (1999, S. 279ff).

73 Vgl. Mann 1990, S. 13ff.

74 Vgl. hierzu den Gesellschaftsbegriff Max Webers (1972, S. 212), demzufolge es sich bei Gesellschaften um »allgemeine Struktur f o r m e n menschlicher Gemeinschaften« handelt (vgl. ebd.). Diese »Strukturformen« sind nach marxistischer Definition nichts anderes als »ein Ausdruck der Produktionsweisen« (Lebec 1985, S. 424). Vgl. hierzu a. Eichhorn (1979, S. 343ff): "Die Gesellschaft als Gegenstand der Philosophie".

75 Mann verzichtet auf die im Marxismus geführte Diskussion um gesellschaftliches Sein und 47

und ihrer Geschichte lässt sich am besten als Analyse der Wechselbeziehungen dessen vornehmen, was ich als die vier Hauptquelllen von sozialer Macht bezeichnen möchte, mithin der ideologischen, ökonomischen, militärischen und politischen Gegebenheiten und Zusammenhänge (IEMP)*" (S. 15). [*= Ideological, Economic, Military, Political]

Ihren Ausdruck finden diese »Hauptquellen von sozialer Macht« einmal in "sich überlagernden Netzen sozialer Interaktionen [...]" (S. 15f) und andererseits in "Organisationen als den institutionellen Mitteln zur 76 Erreichung menschlicher Ziele" (S. 16) . Dabei sind »Interaktionsnetze« nicht als "Dimensionen, Ebenen oder Faktoren einer einzigen sozialen Totalität" zu verstehen, denn Mann vermeidet durchgängig die Zuhilfenahme transzendenter Kategorien, somit auch die Zuflucht zu einem mystischen »Letzten«. Konsequenterweise beschränkt er seine Analyse denn auch auf faktisch leichter Aufzufindendes:

"Ihr Primat rührt nicht von einer tiefen menschlichen Sehnsucht nach ideologischer, ökonomischer, militärischer oder politischer Bedürfnisbefriedigung her, sondern von den je speziellen organisationellen Mitteln, über die sie gebieten und mittels derer sich menschlichste Ziele unterschiedlichster Art erreichen lassen" (ebd.f)77.

Diese Grundannahme führt Mann zu seinen zentralen Fragen, die sich vornehmlich auf die Gebiete der »Organisation, Kontrolle, Logistik und Kommunikation« beziehen. Von diesen Kategorien geleitet, versucht er die Beantwortung seiner wichtigsten Fragen an die Soziologie:

"Wie kann man »das wichtigste« Element oder »die wichtigsten« Elemente in menschlichen Gesellschaften erkennen und isolieren?" (S. 17)78.

gesellschaftliches Bewusstsein (vgl. hierzu Bensussan 1985, S. 428ff).

76 Vgl. dazu a. Etzioni 1975, S. 138. Etzioni sieht hinsichtlich des Abhängigkeitsgrades gesellschaftlicher Einheiten zwei Hauptdimensionen: "funktionale Abhängigkeit und Subordination".

77 Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass die Mittel selbstverständlich auch nicht unabhängig von der Ausprägung bestimmter Bedürfnisse gesehen werden können. Verwiesen sei hier z. B. auf die Berücksichtigung der Maslowschen Bedürfnispyramide. Maslow erstellt eine hierarchische Anordnung der angeborenen menschlichen Bedürfnisse, wobei er zwischen Mangel- und Wachstumsmotivation als Hauptkategorien unterscheidet. "Sind die Bedürfnisse einer Stufe einigermaßen befriedigt, hat das Bedürfnis auf der nächsten Stufe Vorrang" (Dorsch Psychol. Wörterbuch 1998, S. 103).

78 Knöbl/Haferkamp (2001, S. 309) sind überzeugt, dass für Mann die Frage besonders wichtig ist, wie »einheitlich« gesellschaftliche Einheiten denn tatsächlich sind, "d.h., ob diesen wirklich eine gemeinsame Aktionsbasis zur Verfügung steht. Dies ist für Mann 48

Michael Mann ist sich sehr wohl bewusst, dass allein das Wagnis, offen auszusprechen, dass man die Beantwortung einer solch komplexen Frage in Angriff nehmen will, in weiten Kreisen der zeitgenössischen Soziologie Proteste und Entrüstung auslösen wird, denn innerhalb des "main streams" der Nachkriegszeit gilt das Aufstellen allgemeiner Hypothesen, die eine Geltung in allen menschlichen Gesellschaften beanspruchen, eigentlich als 79 Sakrileg . Man interessiert sich seit Durkheim an sich nur noch für 80 Detailfragen . Das kümmert Mann jedoch nicht, im Gegenteil verwirft er den herrschenden skeptischen Empirismus, der seine Analyse auf 81 spezifische Situationen beschränken will .

In Erwartung der Kritik von dieser Seite hält Michael Mann jenen »eingefleischten« Empirikern entgegen, dass eine Analyse nie nur »Fakten« widerspiegele, sondern immer durch »abstrakte Begriffe und Theorien« (S. 18) angeleitet ist und in keinem Fall ohne implizite Annahme auskommt. Diese wissenschaftstheoretische Position wird hier prinzipiell geteilt.

Trotz seiner Einwände gegen einen orthodoxen Empirismus weiß Mann genau um die unüberwindliche Diskrepanz zwischen jeder Theorie und ihrer gesellschaftlichen Realität:

"Gesellschaften sind sehr viel weniger geordnet, sehr viel weniger ordentlich als unsere Theorien von ihnen" (ebd.)82.

gerade deshalb so wichtig, weil er nicht bereit ist, das soziale Gefüge theoretisch nur in bloße Struktureigenschaften zu zerlegen. Manns Vorgehen ist von Anfang an handlungstheoretisch orientiert, d.h. er sucht nach Akteuren, welche die Stabilität von Gesellschaften bzw. deren Wandlungsdynamiken erklären."

79 Z. Verhältnis eines jeweiligen "main streams" in den Einzelwissenschaften zu neuen Paradigmen vgl. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen; Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1969.

80 Vgl. hierzu Korte 1999, S. 71: "Zumindest in der Zeit in Bordeaux beschäftigte sich Durkheim mit der Ausarbeitung seiner These, dass die Entwicklung des Sozialen eine eigene, rationale Struktur hat. [...] Die sozialen Realitäten existieren unabhängig von den einzelnen Individuen" (Hervorh. i. Orig.). Diese Auffassung führte bes. in Frankreich innerhalb der Soziologie z. Hinwendung zum Detail, wobei selbst namhafte Wissenschaftler offen erklärten, sich überhaupt nicht für die Auffindung systematischer Modelle zu interessieren (vgl. a. Korte 1999, S. 75).

81 Dies ist auch einer der Gründe, weshalb Manns »Geschichte der Macht« "bis heute in der deutschen Soziologie kaum rezipiert worden ist" (Knöbl 2001, S. 301).

82 Vgl. dazu a. Tenbruck (1986, S. 88): "Wir alle leben in der Gesellschaft, und jede Gesellschaft muss in ihren Mitgliedern verhältnismäßig spezifische Anlagen, Bedürfnisse und Fähigkeiten ausbilden und wird sie darüber hinaus auch als das angemessene 49

Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht Mann in der methodologischen 83 Nachfolge des seiner Ansicht nach größten Soziologen, Max Webers , denn der mangelnden Ordnung real existierender Gesellschaften könne man nur mit einer Methodologie beikommen, und zwar

"nur, wenn wir Konzepte entwickeln, die dem Umgang mit einem Durcheinander angemessen sind. Dies, so meine ich, ist der Vorzug eines sozialräumlichen und organisationellen Modells der Macht" (ebd.)84.

Diesen Quellen von sozialer Macht liegt eine ursprüngliche Machtquelle zugrunde, die in der Natur des Menschen begründet ist.

"Die Menschen sind rastlos, zielorientiert und rational, sie sind bestrebt, ihren Genuss an den schönen Dingen des Lebens zu mehren, und sie sind fähig, die dazu erforderlichen Mittel herauszufinden und von ihnen Gebrauch zu machen." (S. 19).

Das heißt allerdings nicht, dass die Menschen stets ihrer Ratio folgen, wie auch noch anhand des Abschnitts über die ideologische Macht zu sehen sein wird.

I.3.3.2 Menschliche Natur und soziale Macht

Von einer intensiveren Beschäftigung mit Motivationsproblemen oder gar der Erstellung eines Motivationsmodells verspricht sich Mann dagegen nichts, räumt er doch den Mitteln bezüglich ihres Erklärungswertes den

Grundverständnis des Menschen ideologisieren müssen. Wir bewegen uns also immer schon doppelt in einem bestimmten reduktiven Menschenverständnis, das sich in unserem Erfahrungsbereich, nämlich unserer Gesellschaft, bestätigt und deshalb schier unüberwindlich wird." Daraus ergibt sich, bedenkt man den Einwand Michael Manns unter Einbeziehung der Bedenken Tenbrucks, dass es einem Menschen - auch keinem noch so darum bemühten Wissenschaftler - kaum möglich ist, sich vom tradierten Gedankengut der Gesellschaft zu lösen, wenn er sich daranmacht, über diese Theorien aufzustellen, dass dieses Problem noch von der Schwierigkeit begleitet wird, dass jedes Modell nur einen Idealfall von gesellschaftlichen Prozessen repräsentieren kann, der mit einer vorfindlichen Realität nur mehr oder weniger zu tun hat.

83 Vgl. hierzu beispielsweise die strenge methodische Gliederung, die Max Weber in "Wirtschaft und Gesellschaft" (1972) durchhält.

84 Nach Knöbl/Haferkamp (2001, S. 307) war Manns frühen Arbeiten keineswegs anzusehen, dass sie sozusagen ein Präludium zu einem »gigantischen Gesamtprojekt« darstellten, denn: "Wie man feststellen kann, sind Michael Manns frühe Veröffentlichungen aus den 70er Jahren so ungewöhnlich nicht, und es hätte tatsächlich hellseherischer Fähigkeiten bedurft, um aus diesen Publikationen Manns späteres umfangreiches Projekt vorherzusagen."

50

Primat vor den Zielen ein, d.h. wenn die logistischen Voraussetzungen fehlen, wird eine Vielzahl von Zielen erst gar nicht ins Auge gefasst 85 werden . Interessanter findet er, dass menschliche Motivationsimpulse Beziehungen zur Natur und zu anderen Menschen einleiten:

"Menschliche Ziele und ihre Erreichung machen zweierlei erforderlich: den Eingriff in die Natur - ein materielles Leben im weitesten Sinne - und die soziale Kooperation." (ebd.).

Wie schon vor Jahrtausenden Aristoteles konstatierte, ist der Mensch ein soziales Wesen und bedarf zur Erreichung seiner Ziele der Kooperation.

"Die Vielfalt dieser Ziele resultiert dabei in ebenso vielfältigen sozialen Beziehungen von der Liebesbeziehung über die Familie bis hin zur Wirtschaft und zum Staat und »sozialen Welten« [...] und zwar Beruf, Klasse, Nachbarschaft, Geschlecht, Generation, Liebhabereien usw." (ebd.) (H. i. O.).

Zur Bewältigung dieser Beziehungsvielfalt vereinfacht die soziologische Theorie durch selektive Fokussierung. Es werden bestimmte Beziehungen hervorgehoben, denen ein größerer Einfluss auf andere Beziehungen zugestanden wird und die deshalb die spezifische Ausformung sozialer Strukturen generell determinieren.

"Es sind deshalb nicht die Ziele, sondern die Mittel, die uns den richtigen Einstieg in die Frage nach dem obersten Primat ermöglichen" (S. 21).

Dem kann hier nicht ohne weiteres zugestimmt werden. Immerhin ist auch denkbar, dass die motivationale Macht der Ziele erst die Wahl und effektive 86 Handhabung letztlich erfolgreicher Mittel ermöglicht . Dieser Argu- mentationsstrang wird in dieser Arbeit jedoch nicht weiter verfolgt, obwohl er sicherlich zu neuen interessanten Fragestellungen führt.

Macht an sich gilt Michael Mann im Anschluss an obige Argumentation auch nicht als Ziel, sondern als wirkungsvolles Mittel zur Zielerreichung:

85 Vgl. hierzu Mann 1990, S. 20: "Niemand hat denn auch jemals ernsthaft behauptet, die Bewohner der Täler von Euphrat und Nil hätten sich durch stärkere wirtschaftliche Triebe ausgezeichnet als etwa die prähistorischen Bewohner der europäischen Landmassen, die sich nicht als Kulturpioniere hervortaten. Eher war es doch so, dass die allen gemeinsamen Triebe und Impulse im einen Fall durch die Umwelt in Gestalt der Stromtäler (und ihrer regionalen Gegebenheiten) eine Verstärkung und Begünstigung erfuhren, die die Menschen zu einer bestimmten sozialen Reaktion veranlassten, und im anderen nicht. Von dem Umstand abgesehen, dass zu ihr auch jenes Vorwärtsstreben gehört, das den meisten Menschen, ganz gleich wo sie leben, eine gewisse Schwungkraft verleiht, ist die menschliche Motivation irrelevant."

86 Vgl. hierzu z. B. Kurt Lewins Feldtheorie (Bern: Huber; Stuttgart: Klett-Cotta, 1982).

51

"Das Machtbedürfnis ist ein emergentes Bedürfnis, das sich im Verlauf der Bedürfnisbefriedigung erst einstellt" (ebd.).

Auch hier kann Manns Begriffsverständnis mit Verweis auf die Aggres- sionsforschung nicht geteilt werden. Diese Kritik schmälert jedoch keines- wegs die Brauchbarkeit seiner im Folgenden dargestellten Kategorisierung der diversen Arten von Macht.

I.3.3.3 Organisationelle Macht

I.3.3.3.1 Kollektive und distributive Macht

Seiner Kategorisierung der organisationellen Macht stellt Michael Mann eine Definition von allgemeiner Macht voraus:

"Macht in der allgemeinen Bedeutung des Wortes ist die Möglichkeit einer Person, durch Herrschaft über ihre Umgebung ihre Ziele verfolgen und erreichen, d. h. ihren Willen durchsetzen zu können" (S. 22).

87 Gegenüber diesem allgemeinen Machtbegriff muss »soziale Macht« sehr viel differenzierter gesehen werden, was durch eine weitere Spezifizierung bewerkstelligt werden soll. Der bei Mann an dieser Stelle folgende Rückgriff auf Parsons erscheint mir nicht unbedingt nötig, denn der distributive und kollektive Aspekt von Macht wurde ebenfalls von Elias gesehen, wie oben bereits gezeigt wurde, dessen weitaus flexibleres Modell zu dem hier von Michael Mann vorgelegten m. E. auch besser passt. Zwar verwendet Elias andere Begriffe, doch inhaltlich ist sein Modell mit dem 88 von Mann hervorragend in Einklang zu bringen .

Es ist aber ein unbestreitbarer Vorzug von Manns Ansatz, dass er die ver-

87 Vgl. hierzu den Machtbegriff Max Webers (1972, S. 28f): "M a c h t bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht." Weber unterscheidet weiter den Begriff der Macht von dem der Herrschaft und der Disziplin: "H e r r s c h a f t soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden; D i s z i p l i n soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit von Menschen zu finden."

88 In Elias' Prozesstheorie ist der Begriff der "Interdependenz" von großer Bedeutung. Es bedarf nach ihm deshalb - im Unterschied zu Mann - "auch nicht länger des Unterschiedes zwischen einer strukturfunktionalen und einer handlungstheoretischen Ebene" (Korte 1999, S. 327).

52

89 schiedenen Machtaspekte berücksichtigt .

"In den meisten sozialen Beziehungen werden beide Machtaspekte, der distributive und der kollektive, der exploitative und der funktionale, gleichzeitig wirksam und sind ineinander verwoben" (ebd.).

Das Verhältnis zwischen dem distributiven und dem kollektiven Aspekt der Macht ist laut Mann ein dialektisches. Denn wenn die Menschen Ziele errei- chen wollen, geht das in der Regel mit der Bildung kooperativer und kollek- tiver Machtbeziehungen einher.

Kollektive Machtbeziehungen führen zu kollektiven Zielen, die wiederum eine soziale Organisation einschließlich Arbeitsteilung mit sich bringen. Da sowohl diese Organisation als auch die Arbeitsteilung kontrolliert und koordiniert werden müssen, tragen diese Momente "von Überwachung und Koordination eine inhärente Tendenz zu distributiver Macht in sich" (S. 22). Zwar bilden sich durch die Arbeitsteilung Spezialisierungen in allen sozialen Bereichen aus, doch impliziert die Notwendigkeit der Koordination immer auch die Übernahme von Kontrollfunktionen. Deshalb gibt es "eine Spitze, die das Ganze kontrolliert und steuert".

Diese »Spitze« ist organisationell den Anderen gegenüber im Vorteil, und 90 zwar in ganz beträchtlichem Maße . Darüber hinaus sind die Interaktions- und Kommunikationsnetze für ihre Bedürfnisse konzipiert und befähigen sie, den gesellschaftlichen Apparat zu steuern und für ihre eigenen Ziele einzusetzen, während andererseits die nicht an der Organisation einer Gesellschaft aktiv Beteiligten von der Einflussnahme auf deren Zielauswahl und -verfolgung weitgehend ausgeschlossen bleiben.

"Die Wenigen an der Spitze können die Vielen am Grund zu steter Willfährigkeit veranlassen, vorausgesetzt, ihre Herrschaft ist in den Gesetzen und Normen der sozialen Gruppe, in der beide interagieren, institutionell verankert" (S. 23).

89 Z. Unterschiedlichkeit der Herangehensweise bei der Untersuchung von Machtkonstellationen vgl. bes. Knöbl/Haferkamp (2001, S. 320): Für Mann gilt, "dass ihn nicht der von Elias ins Zentrum der Theorie gestellte Zusammenhang zwischen (staatlichem) Monopolmechanismus und Subjektkonstitution interessierte, also jener durch politische Prozesse beförderte Zwang zu einer immer stärkeren Affektkontrolle, sondern die Struktureigentümlichkeiten der Staatsbildung selbst und die durch sie hervorgerufenenen Effekte auf die Formierung von Klassen und Nationen."

90 Nicht zuletzt, weil diese Spitze über distributive Macht verfügt. S. hierzu Althusser/Balibar (1972, S. 224): "Auch die Distribution erscheint unter doppeltem Aspekt. Sie ist nicht nur die Verteilung der Einkünfte oder Zahlungsmittel (und weist als solche auf die Produktionsverhältnisse zurück), sondern auch die Verteilung der im Produktionsprozess erzeugten Gebrauchswerte."

53

Eine Institutionalisierung ist die Voraussetzung für das Erreichen kollektiver Ziele, darum heißt distributive Macht immer auch soziale Schichtung. Diese Schlussfolgerung führt Michael Mann zur Beantwortung der Frage, aus welchem Grund »die Massen nicht revoltieren«:

"Die Massen halten still, weil es ihnen an der kollektiven Organisation fehlt, deren sie bedürfen, um sich anders verhalten zu können; sie halten still, weil sie in kollektive und distributive Machtorganisationen eingebunden sind, die von anderen kontrolliert und beherrscht werden. Sie sind organisationell umstellt und umzingelt" (ebd.).

Damit ergibt sich für ihn gleichzeitig, dass die oft anzutreffende Unterscheidung zwischen Macht und Autorität vernachlässigbar ist, beson- ders wenn Autorität als eine Form von legitimer Macht über die jeweils Betroffenen begriffen wird:

"Nur höchst selten findet sich nämlich Macht, die entweder umfassend legitim oder umfassend illegitim ist" (ebd.)91.

I.3.3.3.2 Extensive, intensive, autoritative und diffuse Macht

Extensive Macht setzt das Vermögen voraus,

"eine große Zahl von Menschen über weite Räume hinweg so zu organisieren, dass ein Minimum an stabiler Kooperation zwischen ihnen möglich ist" (S. 24),

während intensive Macht von der Fähigkeit abhängt,

"eine Anzahl von Personen straff zu organisieren und ein hohes Maß an Aktivität oder Bindung von ihnen zu verlangen, und zwar unabhängig davon, ob das Gebiet und die Zahl der Betroffenen groß oder klein sind" (ebd.).

Dabei dient die Verbindung von extensiver und intensiver Macht der Zielerreichung, und zwar mittels extensiver und intensiver Kooperation. Das heißt für Michael Mann nun aber keinesfalls, dass es sich bei Gesellschaften lediglich um »Ansammlungen großer autoritativer Machtorganisationen«

91 Zur Legitimität v. Macht b. Mann s. a. Knöbl/Haferkamp (2001, S. 327): "Legitimiationsstrukturen politischer Herrschaft, bei Weber zusammen mit der Organisation des Verwaltungsstabes ein gleichgewichtiges Unterscheidungskriterium von Herrschaftsformen [...], spielen bei Mann kaum eine Rolle. Er setzt das Gewicht von Autorität und Legitimität in Macht- und Herrschaftsbeziehungen deutlich geringer an; der Umstand, dass die Menschen in kollektive Machtorganisationen eingebunden sind, erscheint ihm für die gesellschaftliche Integration viel entscheidender zu sein." In dieser Hinsicht ist Manns Theorie m. E. besonders ergänzungsbedürftig. Als geeignete Ergänzung erscheint mir bzgl. des im Legitimationsaspekt impliziten Ideologiekriteriums die strukturalistischen Mythentheorie nach Roland Barthes.

54 handelt, denn eine ganze Reihe von Machtträgern sind nur mäßig »orga- nisiert« (H. i. O.). Dieser Umstand veranlasst Mann zur Hervorhebung zweier weiterer Aspekte von Macht, und zwar des autoritativen und des diffusen Machtaspekts. Nach ihm ist die autoritative Macht

"von Gruppen und Institutionen gewollt und bejaht. Sie impliziert klare Anweisungen und bewussten Gehorsam" (ebd.), diffuse Macht dagegen

"verteilt sich in einer eher spontanen, unwillkürlichen, dezentralen Weise über die Bevölkerung und produziert dabei gleichartige Sozialpraktiken, die zwar ebenfalls Machtbeziehungen implizieren, aber keine explizit von oben verfügen" (ebd.).

Dabei basiert Letztere

"im typischen Fall nicht auf Anweisung und Gehorsam, sondern auf einem Einverständnis, dass diese Praktiken natürlich oder moralisch oder im augenscheinlichen Gemeininteresse begründet sind" (ebd.).

Diffuse Macht verfügt fast immer über einen größeren kollektiven als distributiven Machtanteil und

"sie kann zudem in einer totalen »Vergatterung« der untergeordneten Klassen resultieren, so dass diesen jeder Widerstand, jede Gegenwehr als zwecklos erscheint." (ebd.). Diese Fallunterscheidungen der verschiedenartigen Machtaspekte ordnet Mann nun unter Zuhilfenahme veranschaulichender Beispiele in folgendes Schema ein: nach Abb. 1.1: Formen organisationeller Machtentfaltung

+------+ ¦ ¦ autoritativ ¦ diffus ¦ +------+------+------¦ ¦ intensiv ¦ Befehlsstruktur der Armee ¦ Generalstreik ¦ +------+------+------¦ ¦ extensiv ¦ militärisches Großreich ¦ Markt ¦ +------+

In diesem Schema werden die vier idealtypischen Formen organisationeller Machtentfaltung jeweils mit einem Beispiel in ihrem Verhältnis zueinander dargestellt. Es muss nicht erwähnt werden, dass diese Idealtypen so nicht in der Realität auffindbar sind. 55

Intensive Macht ist in der Lage, das Leben Unterworfener weitgehend zu determinieren, in ihrer extremsten Form kann sie ihnen sogar dieses Leben abverlangen, ohne auf Widerstand zu stoßen (vgl. S. 25f). Extensive Macht manifestiert sich wesentlich in geografischer und sozialräumlicher Hinsicht. An dieser Stelle verweist Mann erneut auf seine Gesellschaftsdefinition, die besagt, dass es sich bei Gesellschaften um Geflechte oder »Netze mit festen 92 räumlichen Konturen« (S. 26) handelt .

Diffuse Macht trägt die Tendenz der Veränderung in sich, wenn sie zusammen mit autoritativer Macht auftritt "und von deren Logistik beeinflusst" (S. 27) wird. Doch auch auf sich selbst gestellt schafft sie es, sich "gleichsam automatisch und universell" über die ganze Bevölkerung auszubreiten. Dem liegt eine quantifizierbare technologische Entwicklung zugrunde, so beispielsweise in wirtschaftlicher Hinsicht und in Bezug auf die Verfügbarkeit bestimmter Kulturtechniken wie etwa der Grad der Alphabetisierung der Bevölkerung. Aus diesen Fallunterscheidungen der Hauptaspekte von sozialer Macht folgt nach Mann für eine allgemeine historische Soziologie die Konzentration "auf die Entstehung und Ausbildung von kollektiver und distributiver Macht" (S. 28), und zwar "gemessen am jeweiligen Entwicklungsstand der Infrastruktur". Durch die Identifikation der beiden Machtvarianten »autoritativ« und »diffus«, wobei erstere eine logistische und letztere eine universelle Infrastruktur benötigt, wird es möglich,

"eine Organisationsanalyse von Macht und Gesellschaft vorzunehmen und deren sozialräumliche Konturen zu erforschen" (ebd.).

I.3.3.4 Manns Auseinandersetzung mit aktuellen Schichtungstheorien

Eine Auseinandersetzung mit den seiner Ansicht nach bestimmenden Theorien sozialer Schichtung, von denen die eine auf Marx und die andere auf Weber zurückgeht, bringt Michael Mann auf die Erweiterung der herrschenden Lehre, in der der Staat auf den drei gängigen Konzepte von

92 Es sei an dieser Stelle nochmals auf die Nähe des Mannschen Modells zur Eliasschen Figurationsanalyse verwiesen, ähneln doch die Mannschen »Netze« sehr den Eliasschen Figurationen.

56

Klasse93, Status und Partei beruht, und der gegenüber Mann vier Grundtypen von Macht bevorzugt. Ihm zufolge besteht hinsichtlich der Ausgangsprämisse Einigkeit zwischen dem marxistischen und dem weberianischen Ansatz:

"Soziale Schichtung ist die Konsequenz der Herausbildung von Macht und ihrer Verbreitung in der Gesellschaft" (S. 28).

Dem ist laut Mann grundsätzlich zuzustimmen. Die Übereinstimmung zwischen dem Marxschen und dem Weberschen Ansatz geht sogar noch weiter, "denn tendenziell sind es dieselben drei Arten von Machtor- ganisation, die beide als bestimmend ansehen", und zwar sind dies die drei vorgenannten. Manns vierter Typus ergibt sich nun aus einer weiteren Unterteilung des Begriffs der Partei, der seines Erachtens zwei verschiedene 94 Machtformen in sich vereinigt, nämlich politische und militärische Macht . Marx und Weber sahen nach Mann diese Spezifizierung noch nicht als notwendig an, da für sie das Monopol der physischen Gewalt noch mit dem Staat zusammenfiel (vgl. S. 29). Auch Michael Mann meint, dass dies wohl auch im Falle moderner Staaten häufig so sei, hält aber das Aus- einanderhalten dieser beiden Begriffe für sinnvoll.

Mann definiert den Unterschied von politischer und militärischer Macht fol- gendermaßen:

"Politische Machtbefugnisse betreffen die zentralisierte, institutionalisierte, territoriale Reglementierung, während militärische Machtkompetenzen, wo immer sie organisationelle Formen annehmen, organisierte physische Gewalt implizieren" (ebd.).

Diese Unterscheidung gilt nicht nur für Staaten, sondern auch für andere

93 Zum marxistischen Klassenbegriff s. a. Eißel (1986, S. 303) in: Meyer, Thomas et al. (Hrsg.): Lexikon des Sozialismus; Köln: Bund-Verlag, 1986: "Marx unterscheidet zwischen der K. »an sich«, die durch eine gemeinsame sozial- ökonomische Grundbefindlichkeit gekennzeichnet ist, und der K. »für sich«, die ein Bewusstsein der gesellschaftlichen Verhältnisse gewonnen hat und dieses in kollektives politisches Handeln umsetzt." Eben hinsichtlich der Existenz dieses bestehenden Klassensbewusstseins hegt Mann beträchtliche Zweifel, denn: "Sich selbst als Arbeiterklasse oder als Widerpart einer kapitalistischen Klasse zu begreifen, löst normalerweise eine Konkurrenz aus zwischen dem Insiderbewusstsein des Arbeiters und anderen Elementen kollektiver Identität und Opposition; und ein starkes Gefühl von Klassentotalität ist selten, selbst unter militanten Kämpfern."

94 M. E. kommt eine Partei aber ebensowenig jemals ohne ein beträchtliches Quantum an ideologischer Macht aus.

57 soziale Gruppen.

Auf diese Weise gelangt Michael Mann schließlich zu seinem spezifischen Ansatz der Machttheorie, der vier verschiedene Machtquellen zugrunde legt, und zwar die ökonomische, die ideologische, die militärische und die politische Quelle der Macht (vgl. S. 30).

I.3.3.5 »Ebenen« und »Dimensionen« von »Gesellschaft«

Es folgt eine weitere Begriffsklärung, denn Michael Mann untersucht jetzt die Begriffe »Dimension« und der »Ebene«. Der Begriff der Dimension hat seinen Ursprung in der Mathematik und wird in zwei Bedeutungsvarianten benutzt:

"1. Dimensionen sind analoge und unabhängige Größen, die sich in gleicher Weise auf eine strukturelle Grundgröße beziehen.

2. Dimensionen sind im gleichen Gesamtraum, in diesem Fall eine »Gesellschaft«, gelegen" (ebd.).

Der Dimensionsbegriff spielt laut Mann eine zentrale Rolle sowohl im marxistischen als auch im weberschen Ansatz, und zwar in erster Linie deshalb, weil sich beide auf die Gesellschaft als einer Totalität mit Gesamt- charakter beziehen. Damit sollen die beiden Ansätze zwar nicht gleichgesetzt werden, doch von sonstigen mit Sicherheit beträchtlichen Differenzen abgesehen,

"haben beide eine symmetrische Vorstellung von Gesellschaft als einem einzigen ein- heitlichen Ganzen" (S. 31).

Dies wird bei genauerer Betrachtung der einzelnen Dimensionen oder Ebenen sogar noch deutlicher, indem jeweils drei typische Merkmale auf jeder von ihnen miteinander verbunden sind, nämlich 1. Institutionen, 2. Funktionen bzw. funktionale Ziele und 3. funktionale Mittel. Diese Merkmale werden zwar von Marxisten und Weberianern verschieden bewertet und nicht auf dieselbe Weise erklärt, aber dennoch sind für beide Organisationen und Funktionen als Ziel und als Mittel homolog, analog "und im selben Raum angesiedelt". Dabei ist der innere Gehalt aller Ebenen bzw. Dimensionen äquivalent. An dieser symmetrischen Darstellung ändert nach Manns Ansicht auch die Aufspaltung der Ebenen in Faktoren nichts, denn »Faktoren« sind wiederum

58

"Bestandteile funktionaler organisationeller Dimensionen oder Ebenen, die ihrerseits analoge, unabhängige Subsysteme eines sozialen Ganzen sind" (S. 32).

In Abhängigkeit von dieser Sichtweise entsteht das Bild "von der Gesellschaft als einer einheitlichen Ganzheit". Von den klassischen Sozialtheoretikern werden zwei unterschiedliche Gesellschaftsbegriffe gebraucht. Einerseits bezeichnet eine »Gesellschaft« einfach eine stabile menschliche Gruppierung, d. h. der Begriff ist durchaus äquivalent mit »sozialer Gruppe«, »sozialem Aggregat« oder »Assoziation«. Daneben existiert jedoch die engere Verwendung des Begriffs im Comteschen Sinne, bei welchem die »Gesellschaft« ein einheitliches soziales System impliziert. 95 In Auseinandersetzung mit Parsons, dessen Systembegriff Mann ablehnt , gelangt er zu folgender Definition seines eigenen Begriffs von Gesellschaft:

"Eine Gesellschaft ist ein soziales Interaktionsnetz, das an seinen Rändern oder Grenzen einen gewissen Interaktionsgraben zwischen sich und seiner Umwelt aufweist" (S.33).

Parsons Verständnis von Gesellschaft demonstriert seine systemische bzw. unitarische Konzeption, die deren Unveränderlichkeit voraussetzt. In diesem Sinne erfordert das Auffinden von allgemeinen Hypothesen die isolierte Analyse einer Gesellschaft, die sie automatisch zu einer Einheit erstarren lässt.

Dies ist laut Michael Mann vermeidbar, wenn man sich die ursprüngliche Bedeutung von »Gesellschaft« unter Einbeziehung etymologischer Aspekte verdeutlicht. Der englische Begriff »society« wurde von der lateinischen societas hergeleitet und bezeichnet dort eine

"eine asymmetrische Allianz, eine Sozietät bzw. Gemeinschaft im Sinne eines lockeren Zusammenschlusses stratifizierter Verbündeter" (S. 33f).

Dieser offene Gesellschaftsbegriff wird von Mann gegenüber dem symmetrischen favorisiert. Seine gesellschaftstheoretische Perspektive bringt Mann nun zu dem Schluss:

"Menschen sind soziale, nicht aber gesellschaftliche Wesen" (S. 34).

Das heißt also, dass Menschen zur Verfolgung ihrer Ziele zwar soziale

95 Nach Mann spricht Parsons' Systembegriff "nur den Grad von Einheit und Strukturierung an. Und das wird allzu häufig übersehen oder vergessen - mit dem Resultat, dass Einheit und Strukturierung als gegeben und unveränderlich vorausgesetzt werden. Heraus kommt dabei das, was ich die systemische oder unitarische Konzeption von Gesellschaft nenne" (Mann 1990, S. 33).

59

Machtbeziehungen eingehen müssen, aber deswegen noch lange keine 96 sozialen Gesamtheiten darstellen .

Um ihre sexuellen und materiellen Bedürfnissen zu befriedigen, finden sich Menschen allmählich zu formalisierten Interaktionen zusammen. Daraus resultieren langfristig Beziehungsnetze. Diese sind je nach den Funktionen, für die sie eingerichtet werden, ökonomischer, familiärer, sexueller, religiöser oder rechtlicher Natur (vgl. S. 34f). Dabei ergeben sich noch keine klaren sozialräumlichen Tendenzen bezüglich der einzelnen Interaktionsnetze, denn eine Tendenz zur Konstituierung eines Gesamtnetzes ergibt sich erst mit einer Institutionalisierung (vgl. S. 35), wobei Mann nicht diese, sondern die rastlosen Triebe der Menschen als Motor der Geschichte sieht. Sie veranlassen die Menschen "verschiedenartige Netze extensiver und intensiver Machtbeziehungen zu knüpfen", denn:

"In Verfolgung ihrer Ziele entwickeln die Menschen diese Netze weiter und lassen dabei die erreichte Stufe der Institutionalisierung immer wieder hinter sich" (ebd.).

Dieser Prozess führt immer wieder dazu, dass bereits existente Institutionen attackiert und neue geschaffen werden. Letzteres geschieht teilweise in einem unabsichtlichen, »interstitiellen« Prozess, der "in den Zwischenräumen zwischen den Institutionen und an ihren Rändern" (S. 35) stattfindet.

"Dieser Prozess wird verstärkt durch das beständigste Merkmal der Institutionalisierung, die Arbeitsteilung" (ebd.)

und hat nach Mann die bürgerliche Revolution auch "nicht den Charakter

96 Dazu Knöbl/Haferkamp (2001, S. 315), die Manns Gegenentwurf zu sämtlichen statischen Gesellschaftsmodellen folgendermaßen kritisieren: "Manns Definition von »Gesellschaften« als Zusammenspiel unterschiedlicher machtbestimmter Interaktionszusammenhänge, die nicht den Charakter der Totalität oder eines Systems besitzen, weist damit gleichzeitig jede Vorstellung von sozialer Evolution ab, ja entzieht evolutionistheoretischen Deutungen die Basis. Denn mit der Auflösung einer unitarisch- systemischen Konzeption von Gesellschaft verschwindet auch der Zurechnungspunkt sozialer Evolution überhaupt, der etwa nach den Prämissen des Systemfunktionalismus ausschließlich auf der Ebene des Gesellschaftssystems verortet werden kann [...]. Gesellschaften im Sinne von sich überlagernden Machtnetzwerken sind sehr viel weniger geordnet als Sozialtheoretiker annehmen und ihre Geschichte lässt sich nicht einfach als ein Wachstums- und Entfaltungsprozess deuten, sondern häufig genug ist sie durch katastrophische Wandlungsprozesse, Zusammenbrüche bzw. Abbrüche von Entwicklungen und natürlich auch Kontingenzen gekennzeichnet. Manns Vorstellungen zu sozialem Wandel lassen sich mit dem Begriff einer (neo-)episodischen Theorie umschreiben, die identifizierbare Sequenzen der Veränderung sozialer Institutionen im Kontext der Dynamik von Machtkonstellationen und Konfliktbeziehungen versucht [...]".

60

einer bestehenden Gesellschaft verändert" (S. 36), sondern "sie hat neue Gesellschaften entstehen lassen ". Für Mann kann also eine Institution nicht mehr als dieselbe angesehen werden, wenn ihr Charakter wesentlich modi- fiziert wurde.

Diese Prozesse nennt Mann interstitielle Emergenzen, die aus der "Über- setzung menschlicher Ziele in organisationelle Mittel" resultieren. Sie haben zu jeder Zeit stattgefunden, denn

"Gesellschaften sind niemals hinreichend institutionalisiert gewesen, um solche inter-- stitiellen Emergenzen zu verhindern" (ebd.).

Ein wichtiger Grund für die Möglichkeit des Ablaufens derartiger Prozesse 97 liegt in der "Vielfalt sich überschneidender Interaktionsnetze" , die der menschlichen Zielerreichung dienen und ebenso komplex sind wie die Struktur eben dieser ihnen zugrunde liegender Bedürfnisse. Eine wesentliche Rolle spielt dabei, dass für neue Ziele, die sich herauskristallisieren, auch immer wieder neue Netze geknüpft oder bereits existente erheblich modifiziert werden müssen. "Sich überlagernde Interaktionsnetze sind die historische Norm" (S. 37) und

"die Formen der Überlagerung und Überschneidung haben sich im Lauf der Geschichte zwar stark gewandelt, verschwunden sind sie aber niemals" (S. 38).

I.3.3.6 Das Durcheinander von Organisationen und Funktionen

Michael Mann gesteht ein, dass sein Gesellschaftsbegriff, der "Gesellschaften als föderative, sich überlagernde und überschneidende Geflechte" begreift und nicht als "simple Gesamtheiten", die Theoriebildung nicht erleichtert. Dazu kommt noch das oftmals divergierende Verhältnis zwischen den "real institutionalisierten" Interaktionsnetzen und den idealtypischen sozialen Machtquellen, das auch keinesfalls ein einfaches ist, denn Funktionen und Organisationen sind laut Mann »promiskuitiv«. In der Praxis heißt das, dass nicht nur ein einziges Ziel von der Gesamtheit der Gesellschaft verfolgt wird, sondern mehrere, unter Umständen durchaus

97 Es sei hier nochmals auf die Verwandtschaft mit dem Eliasschen Ansatz hingewiesen. Diese Verwandtschaft ruht m. E. in erster Linie daher, dass beide Ansätze, sowohl der Michael Manns als auch der von Norbert Elias, die gesellschaftliche Dynamik betonen, während systemtheoretische Modelle nur Querschnitte darstellen können, die naturgemäß statisch sind.

61

recht verschiedenartige. Zur Illustration führt Michael Mann hier das Beispiel des modernen Kapitalismus an.

"Entwickelte kapitalistische Staaten sind nicht politische oder ökonomische Phänomene, sie sind beides, und zwar gleichzeitig" (S. 39).

Dabei wird die kapitalistische Produktionsweise von mindestens zwei organisierten Hauptakteuren beherrscht, nämlich von Klassen und Nationalstaaten. Vergleicht man diese Konstellation mit der des euro- päischen Mittelalters, wird man mit völlig andersartigen Gegebenheiten konfrontiert, insofern dort eine klare Trennung zwischen ökonomischen und politischen Funktionen bestand:

"Die Trennung zwischen ökonomischen und politischen Funktionen bzw. Organisationen war klar und symmetrisch - Staaten waren politisch, Klassen ökonomisch" (ebd.).

Diese offensichtliche Asymmetrie zwischen der mittelalterlichen und der modernen Situation vereinfacht die Theoriebildung nicht, denn es zeigt sich eine gegenseitige Überwucherung und Überlagerung von Organisationen und Funktionen im Geschichtsablauf, die manchmal klar erkennbar sind, ein andermal in diversen Gestalten amalgamieren. Darüber hinaus sind es auch nicht stets dieselben Akteure, die bestimmte Funktionen wahrnehmen.

"Ökonomische Funktionen können wahrgenommen werden - und werden es normalerweise auch - von Staaten, vom Militär und von Kirchen sowie von Spezialorganisationen, die wir gemeinhin als 'ökonomische' bezeichnen. Und für die Ideologiebildung fühlen sich ökonomische Klassen, Staaten, Militäreliten nicht minder zuständig als Kirchen und ähnliche Organisationen" (S. 39f).

Doch bilden sich bei dieser fortwährend stattfindenden Funktionsteilung "die Ritzen und Zwischenräume zwischen den komplexeren Macht- 98 organisationen" (S. 40) aus .

I.3.3.7 Machtorganisationen

Eine bestimmte Machtorganisation ist nach Michael Mann - bei allen bestehenden Schwierigkeiten - am leichtesten erkennbar in den Fällen, in denen das Übergewicht der militärischen Machtquelle deutlich ist, und zwar, "weil kriegerische Erfolge ein in diesem Sinne plötzliches und

98 Diese Zwischenräume begreife ich als Chance für benachteiligte Gruppen innerhalb einer Gesellschaft. Als aktuelles Beispiel ließen sich die Grünen anführen, die eine ideologische Machtlücke in der deutschen Parteienorganisation für sich nutzen konnten.

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eindeutiges Resultat zeitigen können". Als Beispiel dient ihm hier "der Aufschwung der europäischen Pikenphalanx" (S. 40ff).

Innerhalb des Geflechts der europäischen Gesellschaften kristallisierte sich hier eine »intrinsisch militärische« neue Machtinstitution heraus, die selbst- verständlich auch ökonomische, ideologische etc. Voraussetzungen hatte.

Das zweite Beispiel behandelt den Fall eines Übergewichts der ideologischen Machtquelle. Ideologien haben sich zu allen Zeiten häufig sehr viel weiter sozialräumlich ausgebreitet, als staatliche Institutionen dies hätten begrenzen können. Die Gleichsetzung von Ideologien und Religionen, die Michael Mann an dieser Stelle vornimmt, wird hier übernommen, da ihnen dieselben psychischen und sozialen Phänomene 99 zugrunde liegen . Diese Gleichartigkeit gilt auch für ihre Ausbreitung.

"Die heilversprechenden Weltreligionen breiteten sich weiter über den Erdball aus als jede andere Machtorganisation. Aber auch weltliche Ideologien wie der Liberalismus und der Sozialismus haben die Grenzen der eigenen Machtsysteme inzwischen weit hinter sich gelassen" (ebd.).

Wie im Falle des militärischen Übergewichts bei einer spezifischen historisch-sozialen Konstellation, sind selbstverständlich auch Ideologien unter bestimmten ökonomischen, politischen und häufig auch militärischen Voraussetzungen entstanden. Michael Mann sieht sie allerdings nicht lediglich als Produkte "realer sozialer Umstände", was aber nicht heißt, dass er sich nun doch in die Regionen der Transzendenz flüchtet, weil er keine andere Erklärung zu finden vermag. Deshalb will er die ideologische Macht nicht aus ihren sozialen Kontexten völlig herauslösen. Denn

"wenn sie nicht im Sinne eines göttlichen Eingriffs ins soziale Leben tritt, dann muss sie reale Lebenserfahrungen erklären und widerspiegeln. Aber, und darin liegt ihre Autonomie, sie erklärt und reflektiert Aspekte des sozialen Lebens, die die vorhandenen Machtorganisationen (Produktionsweise, Staat, Militär) weder erklären noch effektiv organisieren. Eine Ideologie wird dann zu einer mächtigen, autonomen Kraft, wenn es ihr gelingt, eine Reihe von Aspekten des Daseins, die für die herrschenden Machtorganisationen bis dahin marginal und interstitiell waren, in einer einzigen Erklärung und Organisation zusammenzubringen" (ebd.).

Das bedeutet aber nicht, dass Machtinstitutionen, die ihre Kraft vorwiegend aus der ideologischen Machtquelle schöpfen, nicht auch auf andere Machtquellen zurückgreifen, deren Institutionen im Sinne ihrer eigenen Bedürfnisse umstrukturieren und sie so zu Funktionen ihrer eigenen Ziele

99 Vgl. S. 44.

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und ihrer spezifischen Machtorganisation machen. Bereits historisch frühe Kulturen nutzten die ideologische Variante der Machtorganisation, weil deren Führungskader die Vorteile der Ausbildung einer kollektiven und normativen Identität erkannten, die zudem noch die Kooperationsfähigkeit 100 beträchtlich zu steigern vermochte . In frühen Kollektiven hatten Ideologien in der Regel die Form von Religionen - eine mögliche Erklärung dafür dürfte im geringeren Abstraktionsgrad des Denkens dieser schließlich zumeist schriftlosen - Menschen begründet sein. Die Vorteile oder der Nutzen, der aus der Etablierung einer Religion zu ziehen ist, darf auf keinen 101 Fall geringer eingeschätzt werden als der einer Ideologie :

"Eine religiös begründete Kultur ermöglichte eine bestimmte Art der Organisation von sozialen Beziehungen. Sie verschmolz eine Anzahl von sozialen Bedürfnissen, die für die bestimmenden Institutionen der kleinen Familien, dörflichen oder auch staatsförmigen Gesellschaften der Region bis dahin interstitiell gewesen waren, zu einer kohärenten organisationellen Form miteinander. Die Machtorganisation aus Tempeln, Priestern, Schriftgelehrten usw. reagierte darauf und organisierte diese Institutionen vor allem insofern um und neu, als sie Formen einer großräumigen wirtschaftlichen und politischen Kontrolle ersann und etablierte" (ebd.).

Nicht alle Ideologien bzw. Religionen verfügen zu allen Zeiten über dieselbe Durchschlagskraft. Ihr unterschiedlicher Erfolg - denn nur wenige von ihnen waren in der Lage, große soziale Räume langfristig zu erobern - liegt nach Michael Mann auch in der Art und Weise begründet, in der Ideologien ihre Antworten auf menschliche Fragen und Probleme präsentieren. Behauptet wird dabei meist, dass die Bewältigung dieser Probleme nur mittels einer "transzendenten, geheiligten Autorität" (S. 46) erfolgen könne, die alle anderen Machtpotenziale letztendlich übersteige.

Voraussetzung für die Analyse ideologischer Hintergründe ist laut Mann immer, dass "ideologische Bewegungen als Organisationen sichtbar wer- den". Dann kann man die Umstände betrachten, die den Erfolg und das Entstehen einer solchen ideologischen Bewegung primär bedingt haben. Denn:

"Es muss bestimmte Voraussetzungen geben, die es einer transzendenten sozialen Autorität ermöglichen, durch den Kompetenzbereich etablierter Machtautoritäten hindurch und über

100 Vgl. S. 45.

101 Vgl. hierzu a. Max Weber (1972, S. 291): "Die europäische Bürokratie sieht sich, bei durchschnittlich etwa gleicher innerer Verachtung aller ernst genommenen Religiosität, im Interesse der Massendomestikation zur offiziellen Respektierung der bestehenden kirchlichen Religiosität genötigt." D.h., dass bereits nach Weber Religiosität zunehmend ideologisch instrumentalisiert wird.

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sie hinweg und hinaus menschliche Probleme zu lösen" (ebd.).

Diese Frage ist gleichzeitig auch zentral für diese Arbeit.

I.3.3.8 Die vier Quellen und Organisationsformen von Macht

Wie oben bereits erwähnt, identifiziert Michael Mann die vier Hauptquellen der Macht als ideologische, ökonomische, militärische und politische, die er im Weiteren entsprechend ihrer Initialen im Englischen (ideological, economical, military, political) als IEMP bezeichnet. Da für mich die ideologische Machtquelle im Mittelpunkt steht, wende ich mich zunächst den anderen zu.

I.3.3.8.1. Ökonomische Macht

Laut der Definition Michael Manns leitet diese

"sich her aus der Erfüllung von Subsistenzerfordernissen vermittels der sozial organisierten Extraktion, Transformation, Distribution und Konsumtion der Gaben der Natur" (S. 49).

Diesen Aufgaben widmen sich in einer Gesellschaft Klassen, ein Begriff, 102 den Mann ausschließlich im ökonomischen Sinn gebraucht . Die durch die Bewältigung dieser Aufgaben entstehenden Zusammenhänge führen zu einer hohen Konzentration intensiver und extensiver Macht, die die Schichtung der beteiligten Klassen erklärt:

"Diejenigen, die das Herrschaftsmonopol über Produktion, Distribution, Tausch und Konsum haben, d. h. die herrschende Klasse, können umfassende kollektive und distributive Macht in den Gesellschaften erlangen" (ebd.).

Bezüglich der derart sich konstituierenden Klassenbeziehungen und kämpfe unterscheidet Mann vier Phasen, und zwar die der latenten, der extensiven, der symmetrischen und der politischen Klassenstrukturen.

Im Unterkapitel »Die Klasse im klassischen Griechenland« desselben Bandes führt er diese Phasen am Beispiel der griechischen Stadtstaaten aus.

102 Bei Marx geht ebenfalls der Klassenbegriff auf eine ökonomische Grundlage zurück. Denn die "Anatomie der Gesellschaft" kann durch "die Erforschung der Produktionsweise" ihrer ökonomischen Struktur erkannt werden. Die "Gesellschaftsformation" ist dann "der Ort eines ersten zwischen verschiedenen Klassen" (Althusser/Balibar 1972, S. 271).

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Das erste, also das latente Stadium, nimmt keine ausgeprägte Organisationsform an. Dies ist bedingt durch

"das Nebeneinander von »vertikalen« Klassen und »horizontalen« ökonomischen Organisationen in Gestalt von familialen, gefolgschaftlichen, stammesmäßigen, lokalen und anderen Gefügen" (S. 350f).

Doch im Laufe der Zeit erfahren trotz dieser vagen Strukturen die Klassen eine Stärkung. Dies führt zur zweiten, zur extensiven Phase. Extensive Klassen

"entstehen dort, wo vertikale Klassenbeziehungen in einem bestimmten sozialen Raum über horizontale Organisationen ein Übergewicht haben" (S. 351).

Auf dieser Stufe sind Klassen bereits differenzierter vorzustellen, deshalb unterscheidet Mann nun zwischen eindimensionalen und mehrdimen- sionalen Klassen einerseits und symmetrischen und asymmetrischen andererseits. Im Übrigen besteht für die Entwicklung zu Stufe zwei keinerlei Notwendigkeit, denn die ökonomischen Beziehungen innerhalb einer Gesellschaft können durchaus bei einer weiterhin ausgeprägten horizontalen Organisation auf der ersten Stufe stehen bleiben, wenn keine Veränderung der Umstände eintritt, die eine Modifizierung der ökonomischen Organi- sation erforderlich macht. Der Organisationszweck der dritten Stufe, die Ausbildung von politischen Klassen,

"ist entweder die politische Transformation des Staates oder die politische Verteidigung des Status quo" (ebd.).

Diese dritte Stufe der Klassenbildung ist kaum je mehrdimensional struk- turiert, aber sehr wohl symmetrisch oder asymmetrisch.

"Im letzteren Fall ist nur eine - in der Regel die herrschende Klasse - politisch organisiert" (ebd.).

Eine ökonomische Organisation besteht nach Michael Mann im 103 Wesentlichen aus »Praxiskreisläufen« . Dieser von der Marxschen Theorie abgeleitete Begriff bezieht sich auf das unterschiedliche Verhältnis, das herrschende und beherrschte Gruppen innerhalb einer Gesellschaft jeweils zu den Kreisläufen von Produktion, Distribution, Austausch und Konsum haben:

"Gruppen, die durch ihr Verhältnis zu den Praxiskreisläufen definiert sind, heißen Klassen.

103 Vgl. S. 358.

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Der Grad, in dem sie innerhalb des gesamten Praxiskreislaufs einer Produktionsweise »extensiv«, »symmetrisch« und »politisch« sind, bestimmt, in welchem Umfang Klasse und Klassenkampf jene organisierende Kraft entfalten, die ihrerseits maßgeblich darüber entscheidet, wie fest die intensive lokale Produktion und die extensiven Tauschkreisläufe miteinander verkoppelt sind" (S. 51.).

Den Ausdruck »Produktionsweise« verwendet Mann dabei als Kürzel für 104 "die Form von Produktion, Distribution, Austausch und Konsum" , was aber keinesfalls den "Primat der Produktion über die anderen Sphären" bedeuten soll.

I.3.3.8.2. Militärische Macht

Militärische Macht entspringt laut Michael Mann

"dem Bedürfnis nach organisierter physischer Verteidigung und ihrer Zweckdienlichkeit im Falle aggressiver Absichten" (ebd.).

Dabei führt ein militärisches Machtmonopol oft auch zu kollektiver und distributiver Macht der militärischen Eliten. Organisiert ist militärische Macht hauptsächlich durch "konzentrierte Zwangsgewalt" (S. 52), wobei diese, wenn sie einmal existiert, "auch jenseits des Schlachtfeldes" 105 angewandt wird , denn

"militärische Formen sozialer Kontrolle werden durchaus auch in Friedenszeiten praktiziert und sind dann nicht minder konzentriert" (ebd.).

Ihr Nachteil für diejenigen, die sich ihrer vornehmlich bedienen, liegt in ihren hohen Kosten, die im Laufe der Geschichte oft die Mittel eines Regimes überschritten.

"Zweitens zeichnet sich militärische Macht durch eine - in ihrer Form negative, weil terroristische - größere Reichweite aus" (ebd.),

denn Letztere überstieg in der Regel die der ökonomischen Macht. Dennoch sollten die mit ihr verbundenen Kontrollmöglichkeiten nicht überschätzt werden, denn ihre Anwendung wirft erhebliche logistische Probleme auf. Dieses Logistikproblem hängt direkt mit dem der Finanzierung zusammen,

104 S. 51, Anm.

105 Zur Betonung der Wirksamkeit militärischer Macht s. a. Knöbl (2001, S. 318): Nach Knöbl ist es "eines der Spezifika der Mannschen Sicht auf den langen Prozess der westlichen Modernisierung, dass er besonders eindringlich die Wirkungsmächtigkeit von politischen und militärischen Machtnetzwerken hervorhebt."

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denn logistische Mittel bedeuten stets auch schwer kalkulierbare Kosten.

Bezüglich der Sozialräume, die militärische Macht kontrollieren soll, ist sie laut Mann zweidimensional:

"Um einen konzentrierten Kern, in dem offener Zwang ausgeübt werden kann, legt sich ein ausgedehnter Halbschatten, in dem eingeschüchterte Bevölkerungen zwar brav ihre Willfährigkeit bekunden, in ihrem Verhalten aber dennoch nicht umfassend und wirksam kontrolliert werden können" (S. 53).

I.3.3.8.3 Politische Macht

Politische Macht leitet Michael Mann her

"aus der Zweckdienlichkeit einer zentralisierten, institutionalisierten, territorialisierten Reglementierung vieler Aspekte der sozialen Verhältnisse und Beziehungen" (ebd.).

Diese Funktion begrenzt Mann explizit auf staatliche Macht, worunter er eine zwanghaft durchgesetzte normative Ordnung versteht, die auf einen bestimmten Raum begrenzt ist, denn im Gegensatz zu den anderen 106 Machtvarianten verstärkt politische Macht territoriale Außengrenzen . Dabei ist die Spitze des Staates in der Lage, "sowohl kollektive als auch distributive Macht zu erlangen". Wie die anderen Machtquellen auch, verfügt die politische Macht über zwei sozialräumliche Dimensionen, d. h. in diesem Falle, sie ist einerseits innenpolitisch und andererseits »international« organisiert. Die Begrenzung des Staates wird von einer territoriale Kontrolle ausübenden Zentrale gelenkt. Neue Mittel im Hinblick auf eine Intensivierung der von einer staatlichen Elite kontrollierten Kooperation und Exploitation erhöhen die autonome Macht eines Staates. Die bevorzugten Machttechniken politischer Organisation sind autoritativer Natur, wobei diese Bevorzugung bei militärischen Organisationen in wesentlich stärkerem Maße üblich ist. Michael Mann unterscheidet bezüglich "des konkreten Machtpotentials staatlicher Eliten" (S. 54) formal »despotische« Machtbefugnisse von realen »infra-strukturellen«.

Unter despotischer Macht versteht Mann

"Handlungen, die auszuführen der Herrscher und sein Beamtenkörper imstande sind, ohne dass sie vorher den Weg der routinemäßigen institutionalisierten Verhandlung mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen gehen" (S. 278).

106 Dies unterstreicht erneut das Zusammenwirken von politischer und militärischer Macht.

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Institutionelle Macht bezieht sich dagegen auf

"das Vermögen, die Gesellschaft tatsächlich zu durchdringen und politische Entscheidungen logistisch zu implementieren" (S. 279).

Eine weitere Variante von Machtorganisation ist die geopolitische Diplomatie, der Aspekt, der nicht auf »innere« Machtstrukturen der beteiligten Staaten reduzierbar ist, eine bisher weitgehend von der Gesellschaftstheorie ignorierte "Komponente von sozialer Schichtung im Großen" (S. 54). Mann versteht unter dieser Komponente die Macht, die durch das Zusammenwirken mehrerer staatlicher Eliten innerhalb eines 107 bestimmten sozialen Raumes ausgeübt wird .

I.3.3.8.4 Ideologische Macht

Die letzte Quelle sozialer Macht in Michael Manns Modell ist schließlich diejenige, der hier meine besondere Aufmerksamkeit gilt, nämlich die der ideologischen Organisation108. Die ideologische Macht tritt nach Mann auf zweierlei Weise auf, einmal in einer sozialräumlich transzendenten, autonomeren Form, die sich hauptsächlich diffuser Machttechniken bedient (S. 48). Ihr kommt laut Mann ein besonderes Gewicht zu:

"Ihr wächst eine mächtige, autonome Funktion bzw. Position dann zu, wenn qualitativ neue Eigenschaften des Lebens mehr Kooperation oder mehr Ausbeutung ermöglichen, als die organisationelle Reichweite säkularer Autoritäten sie zulässt. Ideologische Organisationen können deshalb in technischer Hinsicht in extremer Weise von den von mir als diffus bezeichneten Machttechniken abhängig sein, was umgekehrt den Auftrieb erklärt, den sie durch die Ausbreitung solcher »universeller Infrastrukturen«, wie Alphabetismus, Münzsystem und Märkte es sind, erfuhren" (ebd.).

Ihr großer Vorteil liegt in der ideologischer Macht innewohnenden Po- tenzialität zur Lösung etwa neu auftretender sozialer Schwierigkeiten.

Die zweite Gestalt, in der ideologische Macht auftritt, ist laut Michael Mann

107 Nach Max Weber (1972, S. 588) steigern sich "die Chancen einer Militärmonarchie eines auf Söldner gestützten Despoten" "mit steigender Geldherrschaft" wesentlich.

108 S. hierzu Knöbl/Haferkamp (2001, S. 314): "Nicht Prozesse normativer Integration wie im Strukturfunktionalismus oder die verschwiegenen Mechanismen ökonomischer Herrschaftsverhältnisse wie im Marxismus verknüpfen die Menschen zu einer festen Ordnung, sondern der stumme Zwang der je unterschiedlich organisierten Machtquellen und die pragmatische Orientierung der Akteure an diesen Voraussetzungen."

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die einer immanenten Moral. Diese verstärkt die Kohäsion und damit das Machtbewusstsein einer bereits vorhandenen gesellschaftlichen Gruppe.

"Ideologische Macht ermöglicht eine spezielle, sozialräumliche Art der Handhabung von neu sich ergebenden Sozialproblemen" (S. 49).

In ihrer ersten Form, der »transzendenten«, kann ideologische Macht nicht nur integrative Bezüge in einer schon etablierten Gesellschaft herstellen und widerspiegeln, sondern sogar

"aus qualitativ neuen, interstitiellen sozialen Bedürfnissen und Beziehungen ein gesellschaftsartiges Gefüge, eine religiöse oder kulturelle Gemeinschaft" (S. 48)

konstituieren. Die Wirkungen ideologischer Macht sind extrem langfristig, was auch ihren speziellen Stellenwert im Machtgeflecht aller Gesellschaften determiniert und sie sowohl für eine bereits existente als auch für eine sich neu etablierende Gruppe zu einem unverzichtbaren Mittel der Macht- intensivierung und -extensivierung werden lässt.

I.3.3.9 Das IEMP-Modell: Was es umfasst, und was es nicht umfasst

Ausgangspunkt ist für Michael Mann die menschliche Verfolgung von Zielen. Die Vorgeschichte dieser Ziele ist dabei für sein Modell an sich unerheblich (S. 56). Er meint auch, dass die Vielfalt menschlicher Ziele und die aus ihr resultierende Komplexität es kaum ermöglichen, sie bezüglich 109 ihres Zustandekommens in eine allgemeine Theorie zu fassen .

"Was sich hingegen leichter erkennen lässt, sind Beziehungen, die, um die wirksamsten organisationellen Mittel kreisend, sich zu großen institutionellen Netzen von stabiler Form verbinden und intensive und extensive Macht, autoritative und diffuse in sich vereinigen" (ebd.).

Wie im vorangegangenen Abschnitt besprochen, sind es vier Haupt- oder "Großquellen", aus denen laut Michael Mann soziale Macht entspringt, "deren jede um ein anderes Organisationsmittel zentriert ist". Diese amalgamieren unter der Notwendigkeit der Ausbildung von Institutionen zu einem oder mehreren beherrschenden Machtgeflechten bzw. Netzwerken

109 Deshalb richtet sich "Manns Forschungsinteresse" hauptsächlich darauf, "wie Menschen auf ihrem Wege, bestimmte Ziele zu erreichen, in Beziehung zueinander treten; wie sie dabei Netzwerke gründen und institutionalisieren; wie sie sich der verschiedenen Machtquellen bedienen" (Vester 1995, S. 168).

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von sozialer Macht. Diese Strukturen repräsentieren die Linien, entlang derer die Mitglieder von Gesellschaften ihr Leben ausrichten oder häufig auch ausrichten müssen. Dennoch ist dieser Zwang, der durch jeweils existente Interaktionsnetze vorgegeben wird, kein totaler. Denn in den Zwischenräumen, die sich von keiner zentralen Machtorganisation ständig alle schließen lassen, bilden sich immer wieder von Michael Mann so bezeichnete »interstitielle« Interaktionsnetze aus. Von diesen verharren freilich die meisten in ihrem interstitiellen Status

"indem sie sowohl zwischen den vier großen Machtquellen als auch zwischen den institutionellen Machtstrukturen liegen" (ebd.).

Doch manchmal können auch die Inhaber solcher interstitieller Machtquellen sich eine mangelhafte Integration der aktuell dominierenden Machtstrukturen zu Nutze machen und "ein qualitativ neues und mächtigeres Netz entstehen" (S. 58) lassen,

"das um eine oder mehrere der vier Machtquellen zentriert ist und dessen Existenz eine Reorganisation des sozialen Lebens und eine Umgestaltung der Machtstrukturen bewirkt" (ebd.).

Erweisen muss sich das IEMP-Modell in einem empirisch-historischen Test, wofür es nach Michael Mann drei Gründe gibt. Denn erstens bezieht sich das IEMP-Modell im Kern auf "Prozesse des sozialen Wandels", zweitens kann Mann nicht von realen Gesellschaften abstrahierte soziale Gebilde, sprich Systeme, miteinander vergleichen, da er eine systemische Gesell- schaftsperspektive grundsätzlich ablehnt und es seiner Ansicht nach darüber hinaus auch nur jeweils wenige vergleichbare historische Fälle gibt, die einer induktiven Hypothesenbildung zugänglich gemacht werden könnten. Drittens ist er der Überzeugung, "dass die Machtvolumina im Laufe der Geschichte enorm gewachsen sind", dies sich aber nur mittels eines genauen Aufweises von sozialen Infrastrukturen, die dann quantifizierbar sein müssen, demonstrieren lässt.

Leider gehen aufgrund der Aktualität des Werkes Michael Manns die Stellungnahmen innerhalb der Soziologie in der Regel kaum je über die Erwähnung der "Geschichte der Macht" in Nebensätzen hinaus, die bei einer 110 bloßen Zurkenntnisnahme stehen bleiben .

110 S. Haferkamp/Knöbl (2001, 303): "Michael Manns historisch weit ausgreifende soziologische »Geschichte der Macht« ist bis heute in der deutschen Soziologie kaum rezipiert worden." Die Gründe hierfür werden von den Autoren allerdings nicht nur in der Aktualität des Werkes gesehen, sondern "dies mag mit dem ungewöhnlichen Zuschnitt dieser Analyse 71

Vester nimmt in seinem Überblick über die aktuelle Geschichtssoziologie "Geschichte und Gesellschaft" (1995) immerhin eine ausführlichere Zusammenfassung des Werks vor, wobei er leider jedoch auf eine in- tensivere Auseinandersetzung mit Manns theoretischen Aussagen verzichtet. Letztere findet sich - jedenfalls im deutschen Sprachraum lediglich bei Haferkamp/Knöbl. Es steht zu hoffen, dass sich künftig das Interesse an makrosoziologischen Modellen wieder erhöht. Damit käme man auch hierzulande dann kaum an einer Rezeption des Mannschen Werkes vorbei.

Das IEMP-Modell stellt eine brauchbare Ergänzung zum Eliasschen Spielmodell dar, denn während sich Elias auf allgemeine Machtstrategien konzentriert, verdeutlicht Manns Modell die Varianten von Machtquellen und beschreibt ihre jeweils spezifischen Möglichkeiten, deren sich die Protagonisten des Eliasschen Spiels jeweils bedienen können, je nach ihren eigenen und den situativ vorgefundenen Konditionen. Hierauf wird am Ende dieses theoretischen Teils in einem Kapitel, das das aus diversen als für die in dieser Arbeit zu leistenden Analysen brauchbar erkannten Theorien zusammengesetzte Instrument vorstellt, nochmals eingegangen.

Nach dieser Beleuchtung der Voraussetzungen und Institutionalisierungs- weisen von Macht ist es erforderlich, nunmehr genauer auf die bereits erwähnte Dynamik der Prozesse innerhalb der Figuration des Individuums einzugehen, denn Individuen bilden schließlich die kleinsten figurativen Einheiten innerhalb jeder menschlichen Gruppe und ohne ihr Verständnis ist auch das größerer Figurationen nicht denkbar. Ein interessantes Modell der innerhalb der individuellen Figuration wirksamen Kräfte wurde von Sigmund Freud vorgelegt, das nun kurz vorgestellt wird.

zusammenhängen, gilt die Soziologie doch als Gegenwartswissenschaft, deren Interesse an vormodernen Formen der Vergesellschaftung sich in engen Grenzen hält." Aber der Hauptgrund ist ein anderer: "Vor allem aber hat die Vernachlässigung mit der stiefmütterlichen Behandlung der Historischen Soziologie in Deutschland insgesamt zu tun. Denn obwohl die Historische Soziologie vor allem im internationalen Kontext als eine facettenreiche und etablierte Forschungsrichtung gilt, die etwa in der American Sociological Association über eine der mitgliederstärksten Sektionen verfügt, ist in der bundesrepublikanischen Soziologie das Interesse äußerst gering geblieben" (ebd.).

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I.3.4 SIGMUND FREUD: ÜBER-ICH, ICH UND ES

Kaum ein Menschenwissenschaftler hat die nachfolgenden Generationen in zwei derart unversöhnliche Lager gespalten wie Sigmund Freud. Scheinbar gab es in der Regel nur die Entscheidung für oder gegen ihn. Dabei verstellt sowohl eine idolisierende Verklärung als auch eine generalisierende Diffa- mierung seiner Konzepte völlig den Blick auf heuristisch interessante Ansätze.

Die ihn verdammen, begründen dies regelmäßig mit seiner Trieblehre, die zugegebenermaßen einiges postuliert, das nach neueren Forschungs- ergebnissen nicht haltbar ist. Von dieser Trieblehre wird jedoch hier weit- gehend abgesehen, das gilt auch für die umfangreiche Diskussion zu diesem 111 Thema .

Dagegen wird davon ausgegangen, dass geringfügige Modifikationen das Freudsche Modell von Über-Ich, Ich und Es zu einer dynamischen Figu- ration werden lassen, die das Individuum aus der Statik und Isolation syste- mischer Theorie befreit, so dass es in die Lage versetzt wird, an sozialen Prozessen partizipieren zu können.

Dabei möchte ich zunächst einmal auf Freuds Argumentation eingehen, bevor ich die neuralgischen Punkte seines Modells für die Zwecke dieser Arbeit einer Modifikation unterziehe.

111 Sieht man von ideologischen Begründungen ab, ist nicht einzusehen, warum offensichtlich fruchtbare Denkansätze, wie sie besonders das Spätwerk Freuds aufweist, reliquiengleich tabuisiert werden sollen und nicht von anderer Seite fortgeführt werden dürfen, nur weil der Autor von den einen zur Ikone erhoben und von den anderen als Ketzer für unberührbar erklärt wurde. Sicher gibt es innerhalb der Diskussion um das Freudsche Werk auch gemäßigtere Position, aber selbst Herbert Marcuse (vgl. z. B. in: Triebstruktur und Gesellschaft; Frankf./M.: Suhrkamp, 1984) betrieb doch einen erheblichen apologetischen Aufwand zur Ehrenrettung der Trieblehre, wo es vielleicht der Sache dienlicher gewesen wäre, zuzugeben, dass Freud an manchen Stellen schlichtweg geirrt hat, was seine Gesamtleistung nicht schmälert, sondern im Gegenteil die Punkte, deren Entdeckung zweifellos sein Verdienst sind, noch deutlicher hervorhebt. Z. Trieblehre vgl. auch Städtler 1998, S. 1119ff. Ich persönlich teile bzgl. d. Triebkonzepts die beispielsweise im Brockhaus Psychologie dargelegte Auffassung, nach der es problematisch ist, Grundtriebe "als Hauptmotiv für menschliches Handeln zu suchen", da "die Vermischung der Triebe mit geistig-seelischen Motivationen und die grundsätzliche Mehrdeutigkeit triebbestimmter Handlungen" "eine Bestimmung menschlicher Grundtriebe" wesentlich erschweren. Aus diesem Grund glaube ich auch nicht, dass die Annahme eines Machttriebes für die Analyse gesellschaftlicher Machtfigurationen besonders hilfreich wäre.

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I.3.4.2 Der psychische Apparat

112 113 Über-Ich, Ich und Es bilden nach Freud einen "psychischen Apparat" . Dieser entwickelt sich beginnend mit dem Es im Laufe des Heranwachsens eines Lebewesens. Von diesen Elementen handelt es sich bei dem Es um den Teil, der alles enthält,

"was ererbt, bei Geburt mitgebracht, konstitutionell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation stammenden Triebe, die hier einen ersten uns in seinen Formen unbekannten psychischen Ausdruck finden" (ebd.).

Um Missverständnissen vorzubeugen, könnte man den Begriff "Triebe" hier durch "Bedürfnisse und Reflexe" ersetzen, um den Eindruck zu vermeiden, es handele sich bei mir doch auch um eine verkappte Trieblehre. Nichts liegt mir jedoch ferner, als diese durch die Hintertür wieder einzuführen. Dass allerdings jedes Lebewesen bereits bei seiner Geburt über ein Repertoire von Reflexen und auch Bedürfnissen - z. B. den Reflex des Lächelns, der sich als überkulturell erwiesen hat und die erwiesenermaßen universellen Bedürfnisse bezüglich Nahrung und Schlaf - verfügt, kann wohl kaum bestritten werden. Eben diese formen das Freudsche Es. Doch schon dieses Es ist nichts Statisches. Denn

"unter dem Einfluss der uns umgebenden realen Außenwelt hat ein Teil des Es eine besondere Entwicklung erfahren" (ebd.)114.

Das Es in der Psyche des Lebewesens ist also keine isolierte Monade, sondern es kommuniziert mit seiner Umgebung. Diese Kommunikation bleibt nicht folgenlos, denn sie leitet einen sozialen Prozess ein, bei dem sowohl das Es als auch seine spezifische Außenwelt beteiligt sind. Dies führt dazu, dass ein Teil des Es schließlich eine neue Funktion erhält, und zwar die Funktion der Vermittlung zwischen Es und Umwelt. Daraus ergibt sich

"eine besondere Organisation, die von nun an zwischen Es und Außenwelt vermittelt"

112 Vgl. hierzu Laplanche/Pontalis 1972, S. 73f, die die Hauptaufgabe des psychischen Apparates bei Freud darin sehen, "die innere Energie eines Organismus auf einem möglichst niederen Niveau zu halten" (ebd., S. 74), wobei "seine Differenzierung in Substrukturen hilft die Energieverwandlungen (von einem freien in einen gebundenen Zustand) [...] und das Spiel der Besetzungen, Gegenbesetzungen, Überbesetzungen zu erfassen".

113 S. 1972, S. 9.

114 Vgl. hierzu auch Laplanche/Pontalis 1972, S. 147ff.

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(ebd., S. 10).

Im Verlauf des Kommunikationsprozesses zwischen Es und Umwelt konstituiert sich aufgrund des dynamischen Geschehens zwischen diesen beiden eine neue Instanz:

115 "Diesem Bezirk unseres Seelenlebens lassen wir den Namen des Ichs" (ebd.) .

Nun hat sich also in der Psyche bereits eine Figuration herausgebildet, vorläufig zwar nur eine des einfachsten Typs, aber doch ein Feld, auf dem 116 kontinuierlich um die Balance zwischen zwei Mächten gerungen wird . Die Interaktionen des Individuums werden künftig stark davon beeinflusst sein, ob das Es oder das Ich gerade die Oberhand behält. Dies geschieht aber immer in Abhängigkeit von der Umwelt, die ja weiterhin mit dem Ich interagiert.

Freuds Ich bekommt eine Vielzahl von Aufgaben zugewiesen:

"Infolge der vorgebildeten Beziehung zwischen Sinneswahrnehmung und Muskelaktion hat das Ich die Verfügung über die willkürlichen Bewegungen. Es hat die Aufgabe der Selbstbehauptung, erfüllt sie, indem es nach außen die Reize kennenlernt, Erfahrungen über sie aufspeichert (im Gedächtnis), überstarke Reize vermeidet (durch Flucht), mäßigen Reizen begegnet (durch Anpassung) und endlich lernt, die Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil zu verändern (Aktivität); nach innen gegen das Es, indem es die Herrschaft über die Triebansprüche gewinnt, entscheidet, ob sie zur Befriedigung zugelassen werden sollen, diese Befriedigung auf die in der Außenwelt günstigen Zeiten und Umstände verschiebt oder ihre Erregungen überhaupt unterdrückt" (ebd.).

Die Erfüllung dieser Aufgaben des Ichs erfordern ein kontinuierlich dynamisches Interagieren nach beiden Seiten: sowohl in Richtung Außen- welt, die sich ihrerseits keineswegs immer gemäß den Plänen des Ichs ver- hält und in Richtung Es, dessen eigene Strategien teilweise konträr zu denen des Ichs verlaufen.

Das Ich versucht in der Regel, die Kontrolle über das Spiel des Es zu gewinnen und als Inhaber der Macht in der Figuration "Individuum" mit der Außenwelt zu interagieren. Doch der Spielverlauf dürfte sich äußerst

115 Vgl. hierzu auch Laplanche/Pontalis 1972, S. 184ff.

116 Z. Unterscheidung von "Es" und "Ich" vgl. a. Holder,1976, S. 259: "Freud konzipiert das Ich vorwiegend gemäß einer Struktur, die sich infolge der Einflüsse äußerer Realität und zur Sicherstellung der Selbsterhaltung aus dem Es entwickelt hat." Vgl. a. ebd. S. 260: "Seinen Ursprung und sein Vorhandensein verdankt es [das Ich] der Interaktion des psychischen Apparates und der Außenwelt sowie dem Bedürfnis nach Selbsterhaltung; das Ich ist der organisierte Teil des Es."

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dramatisch gestalten, denn oft behält auch das Es die Oberhand und initiiert kurzfristige Prozesse, die dem Ich (und oft auch der Gesamtfiguration) über kurz oder lang schaden können. Interpretiert man dieses Spiel von Ich und Es mithilfe der Figurationssoziologie, kommt man vollkommen ohne die Freudschen Konstrukte der Reizspannung und des Lust/Unlust-Modells aus, die dem "psychischen Apparat" doch allzu viel Mechanik und damit Statik verleihen. Dieser Begriff des "psychischen Apparats" soll deshalb hier durch den der "psychischen Figuration" ersetzt werden.

Diese psychische Figuration ist aber mit Es und Ich noch nicht komplett. Besonders der Mensch benötigt aufgrund seiner Eigenart noch eine dritte Instanz, die Freud "Über-Ich" nennt:

"Als Niederschlag der langen Kindheitsperiode, während der der werdende Mensch in Abhängigkeit von seinen Eltern lebt, bildet sich in seinem Ich eine besondere Instanz heraus, in der sich dieser elterliche Einfluss fortsetzt. Sie hat den Namen des Über-Ichs erhalten. Insoweit dieses Über-Ich sich vom Ich sondert und sich ihm entgegenstellt, ist es eine dritte Macht, der das Ich Rechnung tragen muss" (ebd.)117.

Die Figuration gewinnt also an Komplexität. Aus der einfachen Zweier- Konstellation, die das Es und das Ich gebildet hatten, ist eine Dreier-Kon- stellation geworden. Dies Geschehen findet wiederum nicht im luftleeren Raum statt, sondern konstituiert sich aus der Abhängigkeit des Individuums von seinen Eltern, die hier stellvertretend für alle Haupt-Bezugspersonen stehen, die nicht nur häufig mit dem Individuum interagieren, sondern darüber hinaus einen wesentlichen Teil seiner Außenwelt in einer für seine Entwicklung richtunggebenden Phase darstellen.

In der nun entstandenen Figuration Es-Ich-Über-Ich sind die Spielzüge für das Ich schwieriger geworden. Nach wie vor muss es das Es kontrollieren, was je nach Individuum mehr oder weniger große Kraftakte erfordert. Dazu kommt nun die Macht des Über-Ichs, die ebenfalls - wie das Es auch - von Individuum zu Individuum variiert.

117 Vgl. hierzu auch Laplanche/Pontalis 1972, S. 540ff, insbesondere die ersten beiden Absätze der dem Artikel vorangestellten (fettgedruckten) Definition: "Eine der Instanzen der Persönlichkeit, wie Freud sie im Rahmen seiner zweiten Theorie des psychischen Apparates beschrieben hat: Ihre Rolle ist vergleichbar mit der eines Richters oder Zensors des Ichs. Freud sieht im Gewissen, der Selbstbeobachtung, der Idealbildung Funktionen des Über-Ichs. In klassischer Sicht wird das Über-Ich als der Erbe des Ödipuskomplexes definiert; es bildet sich durch Verinnerlichung der elterlichen Forderungen und Verbote." Wenn auch in dieser Arbeit von der Diskussion um den Ödipuskomplex abgesehen wird, so bestätigt diese Definition die Funktionsweise der individuellen Figuration.

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"Eine Handlung des Ichs ist dann korrekt, wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß" (ebd.).

Diese nicht gerade einfache Aufgabe wird vom Ich also gelöst, wenn es gelingt, zwischen allen dreien an der Figuration beteiligten Instanzen eine Machtbalance herzustellen. Doch eine wirkliche Balance dürfte auch bei dieser Figuration nicht möglich sein, wie ja auch Elias schon konstatierte, dass dieser Zustand kaum jemals tatsächlich zu erreichen ist.

Ebenso wie die Figuration aus Es und Ich ist die Konstellation Es-Ich-Über- Ich in seine Umwelt, d. h. in das Geschehen übergeordneter Figurationen eingebunden. Denn

"die Einzelheiten der Beziehung zwischen Ich und Über-Ich werden durchwegs aus der Zurückführung auf das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern verständlich. Im Elterneinfluss wirkt natürlich nicht nur das persönliche Wesen der Eltern, sondern auch der durch sie fortgepflanzte Einfluss von Familien-, Rassen- und Volkstradition sowie die von ihnen vertretenen Anforderungen des jeweiligen sozialen Milieus" (ebd., S. 10f).

Sowohl das Über-Ich als auch das Ich und das Es besitzen sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Dimension. Dabei zerfällt die räumliche Dimension in eine innen- und eine außenräumliche Komponente, deren Erstere auf den Raum innerhalb der Figuration bezogen ist und die andere auf die Interaktionen mit übergeordneten Figurationen. Die zeitliche Dimension wird repräsentiert durch alle Erfahrungen und Konstellationen, die im Laufe der Zeit auf die Figuration einwirken.

Diese zeitliche Dimension wirkt sich nach Freud besonders signifikant für das Über-Ich aus, denn es übernimmt

"im Laufe der individuellen Entwicklung Beiträge von Seiten späterer Erzieher, öffentlicher Vorbilder, in der Gesellschaft verehrter Ideale" (ebd., S. 11).

Im Gegensatz zu vielen seiner Schüler hat also Freud sehr wohl gesehen, dass die Entwicklung des Über-Ichs nicht mit Beendigung der Kindheit abgeschlossen ist, sondern dass es sich dabei um einen lebenslangen Prozess handelt. So werden innerhalb der psychischen Figuration immer wieder neue Machtkonstellationen aktuell, da das Machtdifferenzial zwischen den Instanzen sich ständig verschiebt. Auch Bündniskonstellationen sind denkbar, etwa von Es und Ich gegen das Über-Ich oder von Ich und Über- Ich gegen das Es. Es ist jedenfalls davon auszugehen, dass ein Individuum, das selbst wieder Teil einer Figuration ist, durch die jeweilige Konstellation 77

seiner psychischen Figuration in seinem Verhalten und Handeln wesentlich gelenkt ist. Dasselbe gilt selbstverständlich immer für alle Individuen, die Teil einer Figuration sind. Dabei muss in jeder aus mehreren Lebewesen bestehenden Figuration von miteinander interagierenden psychischen Figurationen ausgegangen werden, die wiederum Teil einer übergeordneten Figuration sind usf. Dies macht die Komplexität gesellschaftlichen Handelns eigentlich erst sichtbar. Es gibt an sich keine statische Komponente in dem riesigen Netzwerk einer größeren Figuration, wie sie zum Beispiel durch einen Staat repräsentiert wird, dessen Dynamik deshalb auch zu keiner Zeit vollständig kontrollierbar sein kann.

Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Konstellationen psychischer Figurationen keineswegs immer offen einsehbar sind, sondern sich in der Regel latent bilden. Erforderlich ist zum Verständnis psychischer Vorgänge nach Freud deshalb außerdem die Scheidung in Bewusstsein und Unbewusstes.

I.3.4.3 Bewusstsein und Unbewusstes

Der Begriff "Bewusstsein" bezieht sich laut Freud lediglich auf die 118 Beschreibung unmittelbar wahrnehmbarer Dinge , d. h.

"es empfängt gleichzeitig die Informationen aus der Außenwelt und die, die von innen kommen, d. h. die Empfindungen, die zur Lust-Unlust-Reihe gehören, und die wiederbelebten Erinnerungen" (Laplanche/Pontalis 1972, S. 97).

Aber psychische Elemente, zu denen beispielsweise auch Vorstellungen und 119 dergleichen gehören, sind "gewöhnlich nicht dauernd bewusst" , sondern nur jeweils für kurze Zeit, wobei sie nach einer Periode des Nicht- Bewusstseins wieder ins Bewusstsein zurückkehren können. Während dieser Zeit ist eine Vorstellung latent, womit gemeint ist, "dass sie jederzeit bewusstseinsfähig war". Man kann diesen Zustand einer Vorstellung aber auch als unbewusst bezeichnen. In diesem Fall entspricht dann etwas Unbewusstes einem Latent-Bewusstseinsfähigen. Dieser Typ des Unbewussten ist aber noch nicht das Unbewusste, mit dem sich die

118 Vgl. 1978, S. 172.

119 Freud 1978, S. 172.

78

Psychoanalyse beschäftigt. Letzteres ist vor allem durch eine bestimmte psychische Dynamik gekennzeichnet.

Nach Freud gibt es nämlich "sehr starke seelische Vorgänge oder Vorstellungen",

"die alle Folgen für das Seelenleben haben können wie sonstige Vorstellungen, auch solche Folgen, die wiederum als Vorstellungen bewusst werden können, nur werden sie selbst nicht bewusst" (ebd., S. 172f).

Dieser Typ der Vorstellungen wird aus dem Grund nicht bewusst, "weil eine 120 gewisse Kraft sich dem widersetzt" . Das heißt, die psychische Dynamik, oder vielmehr deren figurative Komponenten, die oben bereits dargestellt wurden, beinhaltet einen bestimmten Vorstellungen Schranken setzenden 121 Widerstand. Diesen Vorgang bezeichnet Freud mit »Verdrängung« .

"Das Verdrängte ist uns das Vorbild des Unbewussten". Wie schon vermutet, existieren nach Freud also zweierlei verschiedene Arten von Unbewusstem, und zwar "das latente, doch bewusstseinsfähige, und das Verdrängte, an sich und ohne weiteres nicht bewusstseinsfähige". Diese Feststellung führt ihn auch zu einer terminologischen Dichotomie des Unbewussten: er differenziert nun zwischen Vorbewusstem und Unbewusstem, wobei er mit Vorbewusstem das Latente und mit Unbewusstem das nicht Bewusstseinsfähige bezeichnet. Die Kenntnis dieser Freudschen Terminologie ist unumgänglich zur Vermeidung von 122 Missverständnissen .

Die Ortung eines »Unbewussten« lässt das Ausmaß der Schwierigkeiten

120 Ebd., S. 173.

121 Z. Unbewussten s. a. Wyss 1991, S. 68ff.

122 Wyss (1991, S. 70) hebt die Problematik der Alogizität der Vorgänge im Unbewussten hervor und betont die Doppelzensur im psychischen Apparat: "So wird im Verlauf der (topischen) Aufgliederung des Unbewussten außer der Zensur zwischen Vorbewusstem und Unbewusstem noch eine zweite Zensur zwischen dem Vorbewussten und Bewussten eingeführt. Diese Instanz gleicht ebenfalls einer final orientierten Intelligenz, die die bewusstseinsfähigen von den abgewehrten Vorstellungen nach Prinzipien der Ökonomie trennt. Sie ist es, die sich in der psychoanalytischen Kur als bewusster Widerstand gegen das Auftauchen bestimmter Inhalte bemerkbar macht. Das Bewusstsein wird gegenüber den Systemen des Unbewussten und Vorbewussten zu einem bloßen Symptom. Das bedeutet den Bankrott der bewussten Beobachtung und Wahrnehmung gegenüber den komplizierten Hypothesen über Aufbau und Zusammenhang des Unbewussten und Vorbewussten, die ausschließlich erschlossen sind."

79

erahnen, mit welchen psychische Figurationen ständig zu kämpfen haben. Nicht genug, dass es kaum möglich ist, eine Balance innerhalb der Figuration zu etablieren. Dazu kommt noch, dass viele Interaktionen völlig unkontrolliert in einem uneinsehbaren Raum stattfinden, zu dem das Ich - dem die Aufgabe der Vermittlung zukäme - keinen Zutritt hat. Das 123 Verdrängte ist nämlich ein vom Ich Abgespaltenes und stellt sich ihm als 124 solches entgegen . Trotzdem gehen diese Verdrängungen vom Ich aus,

"durch welche gewisse seelische Strebungen nicht nur vom Bewusstsein, sondern auch von den anderen Arten der Geltung und Betätigung ausgeschlossen werden sollen" (ebd.).

Verdeutlicht man sich die Position des Ichs innerhalb der psychischen Figuration, wird die strategische Rolle der Verdrängung in ihrer Bedeutung klar. Das Ich muss sich einerseits gegen das Es behaupten, dessen Strategie wiederum darin besteht, das Ich mit Bedürfnissen und Reflexen zu kontrollieren, während andererseits das Über-Ich mit seinem Normenkomplex aus gerade entgegen gesetzter Richtung versucht, diese Bedürfnisse und Reflexe zu reglementieren. Will das Ich nicht zwischen diesen beiden Polen zerrieben werden, benötigt es eine Strategie, die es vor den beiden anderen Komponenten schützt. Die Errichtung von Schranken in beiden Richtungen erweist sich hier als effektives Mittel. Selbstverständlich sind diese Schranken im Normalfall nicht undurchlässig, das Ich kann sowohl in Richtung des Es als auch in Richtung des Über-ich immer nur einen Teil abschirmen.

Der Idealfall bezüglich des Machtdifferenzials in einer psychischen Figuration wäre der Wert Null, das heißt das Erreichen der Balance zwischen den beteiligten Kräften, was, wie schon gesagt, in der Realität nicht erreichbar ist. Das Ich wird in der Praxis in seinen Interaktionen mit der Außenwelt einmal mehr von dieser Seite und einmal mehr von der anderen kontrolliert oder bildet eine Allianz mit der einen oder der anderen Seite, was in der Regel auf die Einflüsse der Außenwelt und die direkte und indirekte Interaktion mit anderen psychischen Figurationen zurückgeht. Direkte Interaktionen finden mit unmittelbaren Bezugspersonen bzw. mit deren psychischen Figurationen statt, indirekte mit übergeordneten Figurationen. Darüber hinaus determinieren auch unpersönliche Einflüsse die Interaktionen von Individuen und deren innerpsychische Prozesse und

123 Vgl. ebd., S. 175.

124 Vgl. hierzu auch Laplanche/Pontalis 1972, S. 582ff.

80 zwar solche sozialer, ökonomischer, biologischer etc. Art. Dem Erfolg bestimmter Ideologien dürfte ein Bündnis zwischen Über-ich und Ich bei einer relativ großen Zahl von Individuen zugrunde liegen.

Von der Frage, wie die Individuen und Gruppen organisiert sind, aus denen die Menschheit sich zusammensetzt, bzw. aus welchen miteinander interagierenden Komponenten sie bestehen, ist es nicht weit zu den Fragen, in welchen Formen sich diese Komponenten artikulieren und wie diese Artikulation strukturiert ist.

Im Gegensatz zum gesellschaftlichen Wandel existieren hier nur wenige komplexe Modelle. Aber was die Übertragbarkeit sowohl auf die Ebene des Individuums als auch auf die der Gruppe angeht, ist mir nur eines begegnet, und zwar das strukturalistische Paradigma, wie es ausgehend von Saussure über Lacan zu Barthes weiterentwickelt wurde. 81

I.3.5 DER STRUKTURALISMUS

I.3.5.1 Saussure

Saussure ist zwar nicht sein Begründer, aber doch darf er

"als die wichtigste Quelle der darauffolgenden Entwicklung des Strukturalismus in den verschiedensten Wissenschaftszweigen gelten" (Fietz 1992, S. 19)125 126.

Er hinterließ kein kompaktes Werk, aus dem seine Thesen gebündelt zu entnehmen wären, sondern nur einzelne Vorlesungsmanuskripte, die aber von seinen Schülern gesammelt wurden und so doch drei Jahre nach seinem 127 Tod herausgegeben werden konnten , und zwar unter dem Titel "Cours de 128 linguistique générale" . Deren weiträumige Rezeption unterlag zwar einer beträchtlichen Verzögerung, führte dann aber zu einer fruchtbaren Erweiterung von Saussures Thesen in diversen Wissenschaftsbereichen.

125 S. a. hierzu Dosse 1996, S. 77, der Saussure als 'Urheber' sieht: "Wenn auch der Strukturalismus ein sehr vielgestaltiges Phänomen umspannt, das mehr ist als eine Methode und weniger als eine Philosophie, findet er seinen Kern, seinen gemeinschaftlichen Grundbestand im Modell der modernen Linguistik und in Ferdinand de Saussure, der als ihr Urheber gilt" (ebd.). Denn: "Saussure wird also als Gründervater auftreten, auch wenn in etlichen Forschungen die Kenntnis seines Werkes auf der Vermittlung durch andere Autoren beruht" (ebd.). Lt. Teichmann (1983, S. 17) handelt es sich bei de Saussure lediglich um den "Begründer des europäischen Strukturalismus", den er vom amerikanischen unterscheidet: "Die Unterschiede zum europäischen Strukturalismus sind nicht unerheblich" (ebd.). Bzgl. d. europäischen Strukturalismus unterscheidet Teichmann (ebd.) eine Genfer (Saussure u. s. Nachfolger), eine Kopenhagener (Hjelmslev) und eine Prager Schule (Trubetzkoy u. Jakobson).

126 Der namengebende Terminus "Struktur" wurde von Saussure selbst nicht gebraucht (vgl. ebd.), er bevorzugte den Ausdruck 'System' "und meinte damit den Zusammenhang von Zeichen und sprachlichen Einheiten, die durch ihren nichtpositiven Charakter definiert sind" (vgl. ebd.). S. hierzu a. Schaff (1974, S. 17): "Erst der Prager Kreis hat den Terminus »Struktur« im Sinne einer Relation zwischen Elementen des Sprachsystems, das heißt den Phonemen (oder genauer Phonempaaren) eingeführt" (ebd.).

127 Vgl. "Vorwort zur ersten Auflage" v. Juli 1915 (Ch. Bally/Alb. Sechehaye) u. Teichmann 1983, S. 23. Teichmann weist in diesem Zusammenhang auf die immensen Schwierigkeiten der Herausgeber Bally, Sechehaye u. Frei hin, die sich auch für andere fortsetzten, die um ein Verständnis des Saussureschen Gedankengutes bemüht waren: "Erst durch mühsame Quellenforschung der letzten Zeit versucht man aus den von den Herausgebern mitgestalteten Formulierungen die originalen Vorstellungen Saussures zu rekonstruieren" (ebd.).

128 1916; dt.: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaften.

82

Dabei gebührt ihm unbestritten das Verdienst, die Semiologie begründet zu haben, wobei er noch den Ausdruck »Semeologie« verwendet:

"Man kann sich also vorstellen eine Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht; diese würde einen Teil der Sozialpsychologie bilden und infolgedessen einen Teil der allgemeinen Psychologie; wir werden sie Semeologie (von griechisch semeion, »das Zeichen«) nennen. [...] Die Sprachwissenschaft ist nur ein Teil dieser allgemeinen Wissenschaft, die Gesetze, welche die Semeologie entdecken wird, werden auf die Sprachwissenschaft anwendbar sein, und diese letztere wird auf diese Weise zu einem ganz bestimmten Gebiet in der Gesamtheit der menschlichen Verhältnisse gehören" (Saussure 1967, S. 19).

Hieraus ergibt sich auch, mit welchem Recht die Methoden Saussures, die dieser selbst ausschließlich auf die Sprachwissenschaften anwandte, auf andere Bereiche ausgedehnt werden können, wie dies hier durch Anwen- 129 dung innerhalb der Menschenwissenschaften geschieht .

Saussure sah bereits die ausgedehnten Möglichkeiten, mithilfe semiolo- gischer Methoden zu Erkenntnissen auch auf anderen Gebieten als der Sprachwissenschaft zu kommen:

"Auf diese Weise wird man nicht nur das sprachliche Problem aufklären, sondern ich meine, dass mit der Betrachtung der Sitten und Bräuche usw. als Zeichen diese Dinge in neuer Beleuchtung sich zeigen werden, und man wird das Bedürfnis empfinden, sie in die Semeologie einzuordnen und durch die Gesetze dieser Wissenschaft zu erklären" (ebd., S. 21).

Doch zunächst ist es wichtig, sich mit Saussures Hauptbegriffen aus- einanderzusetzen.

I.3.5.1.1 »Parole« und »langue«

Wenn »Die Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaften« auch nicht von ihm selbst herausgegeben wurden, so enthält dieses Werk doch seine wichtigsten Thesen, deren Wirkung noch so weite Kreise ziehen sollte.

Sprache besteht nach Saussure aus einem »physischen« und einem »psy- chischen« Teil. Ersterer bezieht sich auf das bloße Wahrnehmen von Gesprochenem, auf die Laute, die wir bei einer fremden Sprache wohl hören, aber nicht verstehen können, deshalb bleiben wir in diesem Fall, 130 "eben weil wir nicht verstehen, außerhalb des sozialen Vorgangs" .

129 Der Ausdruck 'Menschenwissenschaft' wird hier gem. d. Eliasschen Verständnis gebraucht.

130 Ebd., S. 16. 83

Aber auch der zweite, der »psychische« Teil, der nun das Verständnis benötigt, involviert dabei doch nicht den kompletten sozialen Raum der Sprache, denn

"die Ausübung geschieht niemals durch die Masse; sie ist immer individuell und das Individuum beherrscht sie" (ebd.).

Diesen Vorgang nennt Saussure »das Sprechen« (parole) und setzt ihn von der Sprache (langue) ab. Diese beiden Begriffe bezeichnen nach Saussure 131 qualitativ völlig verschiedene Dinge .

Eine soziale Einheit kann von einzelnen Sprechenden nach Saussure niemals gebildet werden, da das Individuum stets nur Teile von ihr beherrscht. Also existiert die Vorstellung einer gesamten gemeinsamen Sprache als sozialer Einheit nur

"virtuell in jedem Gehirn, oder vielmehr in den Gehirnen einer Gesamtheit von Individuen" (ebd.).

D. h. dass jeder Sprechende stets nur seinen individuellen Anteil an einer Sprache repräsentieren kann,

"denn die Sprache ist in keinem derselben vollständig, vollkommen existiert sie nur in der Masse" (ebd.).

Ihren sozialen Charakter erhält die Sprache also nicht dadurch, dass sie einen einheitlichen sozialen Raum für Interaktionen vorgibt, sondern dieser entsteht erst durch die Bereitschaft diverser Individuen innerhalb der

131 Manche Sprachwissenschaftler (z. B. André Martinet) kritisieren hinsichtl. dieser Absetzung des Sprechens von der Sprache, was als 'Saussurescher Schnitt' in die Geschichte d. Strukturalismus einging, dass hier "dem Druck der Soziologen nachgegeben" (Dosse 1996, S.82) wurde und das sprachwissenschaftliche Ziel damit verfehlt sei. Vielleicht bildet aber gerade diese 'Konzession an die Soziologie' die Basis für die Nutzung dieses Modells in gesellschaftsanalytischen Zusammenhängen. Engler (in: Stammerjohann, Harro (Hrsg.): Lexicon grammaticorum: who's who in the history of world linguistics; Tübingen: Niemeyer, 1996; S. 826) sieht das Verhältnis zwischen langue und parole weniger als Schnitt als vielmehr als Konsequenz: "While parole is a realization of langue, langue follows from parole" (ebd.). Schaff (1974, S. 225) hingegen unterteilt die Strukturalisten v. a. in 'Deskriptivisten und 'Phonologen': "Die phonologische Schule, die ihr Untersuchungsobjekt und ihre Untersuchungsmethode am präzisesten festgelegt hat, strebt nach der strukturellen Beschreibung der phonischen Seite der Sprache, ausgehend von den kleinsten phonischen Einheiten - den Phonemen. Die Deskriptivisten dagegen stellen sich die strukturelle Beschreibung der sprachlichen Phänomene zum Ziel, streben nach Segmentation und Klassifikation der kleinsten bedeutungserfüllten Einheiten der Sprache - der Morpheme.

84

Schnittmenge, die aus den Gemeinsamkeiten ihrer jeweils eigenen Sprache vorgegeben wird, miteinander zu kommunizieren. Dies geschieht jedoch, ohne dass die Beteiligten eine bewusste Vereinbarung treffen, denn die

"Sprache ist nicht eine Funktion der sprechenden Person; sie ist das Produkt, welches das Individuum in passiver Weise einregistriert; sie setzt niemals eine vorherige Überlegung voraus, und die Reflexion ist dabei nur beteiligt, sofern sie die Einordnung und Zuordnung betätigt [...]" (ebd.).

Die Sprache, die parole, existiert also an sich, ohne das Zutun desjenigen, 132 der sie benutzt . Jeder Benutzer greift aber für seine Zwecke immer nur auf einen Teil von ihr zurück, der in Abhängigkeit von individuellen biographischen, sozialen und kontextlichen Faktoren selegiert wird oder überhaupt erst selegiert werden kann.

Die Passivität des »einregistrierenden« Individuums hört aber auf, sobald dieses von der Sprache Gebrauch macht, wie beispielsweise beim Erlernen 133 einer bestimmten Sprache oder etwa bei einer strategischen Wortwahl . Grundsätzlich können deshalb auch für jedes Individuum mehr oder weniger häufige Kommunikationssituationen angenommen werden, in denen eine bewusste sprachliche Selektion stattfindet, was auch in den Prozessen, die jede Figuration kontinuierlich durchläuft, oft deutlich zum Ausdruck kommt. Letztendlich kommen bei jeder Konstitution einer instrumentell und individuell genutzten Sprache passive und aktive Rezeptionsweisen zusammen. Dabei handelt es sich nach Saussure jedoch nicht mehr um parole, sondern um langue134. Diese Unterscheidung von parole und langue wurden später von den französischen Strukturalisten Jacques Lacan und Roland Barthes übernommen.

I.3.5.1.2 Die Arbitrarität des Zeichens

Ein sprachliches Zeichen besteht aus einer Verbindung zwischen einer 135 geistigen Vorstellung mit einem Lautbild . Diese Verbindung ist aber

132 Dies unterwirft die parole bereits der langue. Vgl. hierzu Dosse 1996, S. 88.

133 Für die sprachwissenschaftliche Analyse erschien es bereits den deutschen Komparatisten nötig, vom Sprecher abzusehen. Nach Dosse (1996, S. 87 u. S. 89) wurde Saussure von diesen beeinflusst.

134 Vgl. ebd., S. 17.

135 Vgl. ebd., S. 78. 85

keinesfalls in ihrer Art notwendiger, sondern beliebiger Natur.

"§ 2. Erster Grundsatz: Beliebigkeit des Zeichens

Das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft, ist beliebig; und da wir unter Zeichen das durch die assoziative Verbindung einer Bezeichnung mit einem Bezeichneten erzeugte Ganze verstehen, so können wir dafür auch einfacher sagen: das sprachliche Zeichen ist beliebig" (ebd., S. 79).

Diese Eigenschaft sprachlicher Zeichen haben einige Strukturalisten später ihre "Arbitrarität" genannt. Dabei ist "beliebig" nicht mit der Wahlfreiheit einer Person gleichzusetzen, sondern besagt, dass für die verschiedenen Bezeichnungen, die sich für ein bestimmtes Bezeichnetes in verschiedenen Sprachen ergeben haben, keine Hierarchien oder zu begründende 136 Präferenzen existieren . Es spielt keine Rolle innerhalb der jeweiligen "Menge von Sprechenden", ob ich ein bestimmtes Tier mit "Hund" oder "cane" oder "dog" bezeichne. D. h. eine Bezeichnung ist zwar "beliebig", aber keineswegs "frei", sie ist

"in Beziehung auf die Sprachgemeinschaft, in der sie gebraucht wird, nicht frei, sondern ihr auferlegt" (ebd., S. 83).

Es ist offensichtlich, dass eine Sprachgemeinschaft etwas Gewordenes darstellt. Deshalb bildet sie sowohl den sozialen als auch den historischen Raum, innerhalb dessen sich eine Bezeichnung konstituiert. Der historische Aspekt gilt deshalb auch für die Sprache insgesamt, sie ist auf jeden Fall etwas Gewordenes.

"Der gegebene Zustand einer Sprache ist immer das Erzeugnis historischer Faktoren, und diese Faktoren bieten die Erklärung, warum das Zeichen unveränderlich ist, d. h. jeder willkürlichen Ersetzung widersteht" (ebd., S. 84; H. i. O.).

Verantwortlich für diese Widerstände des Zeichens gegenüber "willkürlicher Ersetzung" sind laut Saussure vor allem psychologische 137 138 Faktoren wie "das Gesetz der Überlieferung" .

136 Die "Arbitrarität" eines Zeichens besagt lediglich, "dass es keine notwendige Beziehung zwischen einer bestimmten Vorstellung und einem betimmten Lautbild gibt" (Teichmann 1983, S. 25).

137 Ebd., S. 87.

138 Dazu Schiwy (1984, S. 40): "Für die Erweiterung des zu engen positivistischen Horizonts, wie ihn DE SAUSSURE von der junggrammatischen Tradition her kannte, war seine These von der psychischen Natur der Sprache ein wesentlicher Fortschritt" (ebd.).

86

Doch obwohl das Zeichen gegenüber radikalen willkürlichen Veränderungen so vehement Widerstand leistet, unterliegt es denselben allmählichen Erosionsprozessen wie alles andere auch, wobei wieder seine Historizität ins Spiel kommt. Denn

"das Zeichen wird umgestaltet, weil es sich ununterbrochen in der Zeit fortpflanzt. Das Vorherrschende bei einer jeden Umgestaltung ist aber, dass die ursprüngliche Materie dabei fortbesteht, die Abweichung vom Vergangenen ist nur relativ" (ebd., S. 87f).

Höchstens ein isoliertes Individuum hätte unter Umständen eine Chance, 139 eine Sprache unverändert zu erhalten .

Diese auf Überlieferung beruhenden beliebigen Zeichen erhalten ihre Sprachfunktion nicht etwa durch ein ihnen innewohnendes System, also 140 nicht durch "ein Zusammenwirken von Zeichen" , sondern

"es ist eine unterschiedslose Masse, bei der nur Aufmerksamkeit und Gewöhnung uns die besonderen Elemente auffinden lassen. Die Einheit hat keinerlei besonderen Charakter, und die einzige Definition, die man ihr geben könnte, ist die folgende: eine Lautfolge, welche mit Ausschluss des in der gesprochenen Reihe Vorausgehenden und Darauffolgenden das Bezeichnende für eine gewisse Vorstellung ist" (ebd.).

Die sich aus Einheiten konstituierende Sprache hat nun die Aufgabe,

"als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut zu dienen, dergestalt, dass deren Verbindung notwendigerweise zu einander entsprechenden Abgrenzungen von Einheiten führt" (ebd.).

Es bedarf an sich nicht der Erwähnung, dass nur in Gemeinschaft lebende Individuen dazu gezwungen sind, sich einander verständlich zu machen.

Aufgrund ihrer biologischen Ausstattung verfügen zwar die Menschen über die Fähigkeit, eine große Zahl verschiedener Lautkombinationen hervorzubringen. Doch erst die Notwendigkeit zu kommunizieren bringt lautliche Artikulationen hervor, wobei sich deren Ausprägungen von Kommunikationsgemeinschaft zu Kommunikationsgemeinschaft erheblich voneinander unterscheiden. Dies begründet laut Saussure die "Beliebigkeit

139 Vgl. S. 92: "Aber gleichwohl ist es nicht das, was uns verhindert, die Sprache als eine bloße Übereinkunft zu betrachten, die nach dem Belieben der Interessenten umgestaltet werden könnte; es ist die Wirkung der Zeit, die sich mit der Wirkung der sozialen Kräfte vereinigt; außerhalb des zeitlichen Verlaufes wäre die Sprache nichts vollkommen Reales, also auch keine Schlussfolgerung möglich" (ebd.).

140 Ebd., S. 123.

87

des Zeichens", die auch dazu beiträgt, besser zu verstehen,

"warum uns der soziale Zustand ein sprachliches System zu schaffen vermag. Die Gesellschaft ist notwendig, um Werte aufzustellen, deren einziger Daseinsgrund auf dem Gebrauch und dem allgemeinen Einverständnis beruht. Das Individuum ist für sich allein außerstande, einen Wert festzusetzen" (ebd., S. 135).

Der Begriff des "Werts" lässt sich demnach nur schwer von dem der 141 "Bedeutung" unterscheiden . Auch Saussure vermag hier keine klaren Unterscheidungskriterien anzugeben, weswegen dieser Punkt hier auch 142 nicht weiter verfolgt wird .

I.3.5.1.3 Bezeichnetes und Bezeichnendes

Dagegen ragt bei Saussure ragt der Begriff der "Bedeutung" heraus:

"Sie ist [...] nur das Gegenstück zum Lautbild. Es dreht sich alles nur um die Beziehung zwischen Lautbild und Vorstellung innerhalb des Wertes selbst, das dabei als ein selbstständiges, für sich bestehendes Ganzes betrachtet wird" (ebd.).

Wie konstituiert sich nun diese Einheit bzw. dieses »Ganze«? Eine der Voraussetzungen für ihr bzw. sein Zustandekommen wurde bereits angesprochen: dieses »Ganze« entsteht wesentlich durch die Differenzierung der verschiedenen Funktionen von Sprache (langue) und Sprechen (parole). Die Sprache (langue) ist dabei nach Saussure "die 143 menschliche Rede abzüglich des Sprechens" und nur die Summe sprachlicher Gewohnheiten ermöglichen es dem Individuum "zu verstehen und sich verständlich zu machen". Hierzu kommt aber notwendig noch ein sozialer Faktor hinzu, ohne den eine Sprache nicht bestehen kann, und zwar ein sprechendes Kollektiv, eine »Menge«. Denn die Sprache kann nicht außerhalb eines sozialen Raums existieren:

"Ihre soziale Natur gehört zu ihrem inneren Wesen" (ebd.).

Die Untrennbarkeit dieser beiden Faktoren, aus denen jede Kommunikation

141 S. hierzu a. Scheerer (1980, S. 102): "Ungewiss bleibt, wie Saussure das Verhältnis von Wert und Bedeutung (»signification«) des Zeichens verstanden hat".

142 Obgleich in der Saussure-Literatur Deutungen zu finden sind; s. hierzu z. B. ebenfalls Scheerer 1980, S. 102.

143 Ebd., S. 97.

88

144 zusammengesetzt ist, verdeutlicht folgendes Schema :

--+ +------+ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ DIE SPRACHE ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ +------+ ¦ +------+ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ SPRECHENDE MENGE ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ +------+ ¦ --+

Doch damit ist die Sprache lediglich im Raum festgelegt. Bis zu diesem Punkt ist sie ahistorisch. Da aber ein Raum ohne zeitliche Dimension für die menschliche Vorstellung nicht existieren kann, muss diese notwendig einbezogen werden. Für die Einheit Sprache / sprechende Menge bedeutet das konkret, dass sie kontinuierlich zeitlichen Veränderungen unterliegt. Die zeitliche Komponente wirkt auch der Arbitrarität des Zeichens entgegen. Wie jede soziale Figuration, die von Menschen gebildet wird, können sich auch weder das Zeichen noch sein Benutzer der Wirkung der Zeit entziehen. Allein schon hierdurch kommt es zu einer Verschiebung:

"Das Fortbestehen aber trägt notwendigerweise die Umgestaltung in sich, eine mehr oder weniger beträchtliche Verschiebung der Beziehungen" (ebd., S. 93).

Dieser Begriff der »Verschiebung« wurde von Lacan ebenfalls verwendet, jedoch nicht im Sinne einer zeitlichen Dimension, sondern mehr im Sinne eines psychischen Prozesses, wobei er sich in erster Linie auf Freud berief.

Doch zurück zu Saussures Einheit der Bedeutung, deren konstitutive Komponenten soeben analysiert wurden. Sie wird beim Akt des Sprechens 145 mit einem Lautbild verbunden, und zwar folgendermaßen :

144 Nach Saussure 1967, S. 91; jedoch aus technischen Gründen geringfügig modifiziert.

145 Modifiziertes Schema (wie (20)).

89

/\ +------+ ¦ ¦ ¦ Bezeichnetes ¦ ¦ ¦ ¦ (Bedeutung) ¦ ¦ ¦ +------¦ ¦ ¦ ¦ Bezeichnendes ¦ ¦ ¦ +------+ \/

Die Bedeutung ergänzt dabei das Lautbild, denn es

"dreht sich alles nur um die Beziehung zwischen Lautbild und Vorstellung innerhalb des Wortes selbst, das dabei als ein selbstständiges, für sich bestehendes Ganzes betrachtet wird" (ebd.).

Ganz wesentlich ist nun, dass diese Einheit, bestehend aus Bezeichnetem bzw. Bedeutung und Bezeichnendem, nicht etwa isoliert vorkommt, sondern gewissermaßen immer Glied in einer Kette aus ebenso aufgebauten anderen Einheiten ist,

"da die Sprache ein System ist, dessen Glieder sich alle gegenseitig bedingen und in dem Geltung und Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des anderen sich ergeben [...]" (ebd., S. 136f).

146 Dies verdeutlicht untenstehendes Schema :

+------+ +------+ +------+ ¦Bezeichnetes ¦ ¦Bezeichnetes ¦ ¦Bezeichnetes ¦ ---+------¦<->+------¦<->+------¦--- ¦Bezeichnendes¦ ¦Bezeichnendes¦ ¦Bezeichnendes¦ +------+ +------+ +------+

Saussure verzichtet also darauf, Wörter oder Sätze voneinander abzugrenzen. Es ist völlig unwesentlich, ob die gebildete Zeichenkette von irgendwelchen Satzzeichen unterbrochen wird. Indem er hiervon absieht, wird das Modell zum handhabbaren Instrument nicht nur für alle Sprachen, sondern auch für andere nichtsprachliche Zeichensysteme. Diese Kette von Zeichengliedern nennt Saussure eine "syntagmatische" oder "Anreihungsbeziehung".

"Die syntagmatische oder Anreihungsbeziehung besteht in praesenta: sie beruht auf zwei oder mehreren in einer bestehenden Reihe vorhandenen Gliedern. Im Gegensatz dazu verbindet die assoziative Beziehung Glieder in absentia in einer möglichen

146 Vgl. (20) u. (21).

90

Gedächtnisreihe" (ebd., S. 148).

Diese Beziehung ist ein Abhängigkeitsverhältnis, denn

"fast alle Einheiten der Sprache hängen ab entweder von dem, was sie in der gesprochenen Reihe umgibt, oder von den aufeinanderfolgenden Teilen, aus denen sie selbst zusammengesetzt sind" (ebd., S. 152).

Es liegt auf der Hand, dass die interdependenten Einheiten der Sprache sich auch in jeder sozialen Figuration wiederfinden lassen und die Grundlage von Netzwerken bilden. Das interdependente sprachliche Netzwerk kor- respondiert dabei sowohl mit den Interdependenzen der humanen Einheiten als auch mit denen anderer Zeichen, seien sie ökonomischer, militärischer, politischer oder ideologischer Natur.

In der Diskussion um die Saussuresche Semiologie wird ebenfalls schon auf die besondere Historizität der Saussureschen Methode hingewiesen wurde, so z. B. Kuno Füssel:

"Indem de Saussure die Sprache als »ein System von Zeichen« und ihre Geschichte als Folge von Zuständen dieses Systems begriff, durchbrach er die Vorherrschaft der historischen Betrachtungsweise und schuf erstmals nicht nur die Grundlage für eine linguistisch ausgearbeitete Theorie der Sprache, sondern für eine allgemeine Wissenschaft von den Zeichensystemen, die er »Semeologie« (heute sagt man Semiologie) nannte. [...] Für de Saussure kann die wahre Natur der Sprache am besten entdeckt werden, wenn man erkennt, was sie mit anderen semiologischen Systemen wie symbolischen Riten, Höflichkeitsformen, militärischen Signalen usw. gemeinsam hat" (1983, S. 14f).

Füssel hält diese Sicht auch in Bezug auf die für den Strukturalismus so wichtige Trennung von langue und parole durch:

"Trotz dieser starken Trennung fasst de Saussure die Relation zwischen systemhafter langue und aktualisierender parole nicht monokausal, sondern dialektisch auf: Die Existenz der langue ist eine notwendige Voraussetzung für die parole, die von unterschiedlichen Sprechern/Hörern nur als einheitliches Kommunikationsmittel benutzt werden kann, weil sie im Verstehen auf die langue zurückgreifen können; andererseits wird die langue nur greifbar anhand der aktuellen Äußerungen der parole. Die parole ist also das zeitlich Frühere, während man der langue eine gewisse logische Priorität einräumen kann" (ebd., S. 16).

Das Zeichen bei Saussure entbehrt also nicht der Dimensionen, es ist weder eine asoziale noch eine geschichtslose Entität, auch wenn dies im Widerspruch zum "Saussureschen Schnitt" zu stehen scheint. Aus Letzterem, der zwar für die semiologische Analyse zunächst von der Geschichte absieht, lässt sich dennoch keineswegs folgern, dass der Mensch oder auch die Sprache von Saussure als ahistorisch betrachtet werden, sondern dass die Strukturen der gegebenen Sprache als solche zu analysieren sind, ohne sofort konstitutive historisch-mythische Bezüge zu 91

unterstellen, wie das besonders in der deutschen Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts häufig geschehen war, als man sich romantisch-verklärt bemühte, einen allen gemeinsamen sprachlichen Ursprung auszumachen, den man dann in Indien gefunden zu haben glaubte.

I.3.5.1.4 Synchronie und Diachronie

Wie bereits oben erwähnt, hat für Saussure die Sprache den Charakter eines 147 Systems . Das führt ihn zur Unterscheidung von Synchronie und Diachronie:

"Synchronisch ist alles, was sich auf die statische Seite unserer Wissenschaft bezieht; diachronisch alles, was mit den Entwicklungsvorgängen zusammenhängt. Ebenso sollen Synchronie bzw. Diachronie einen Sprachzustand bzw. eine Entwicklungsphase bezeichnen" (Saussure 1967, S. 96).

Auf das Modell der Figuration übertragen entspricht die Synchronie einer Momentaufnahme, die Analyse einer Figuration zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, während die Diachronie die Untersuchung der Prozesse bedeutet, die im Verlauf einer gewissen Zeit zu dieser Figuration geführt haben.

Im Bereich der Sprachwissenschaft räumt Saussure der Synchronie 148 absoluten Vorrang ein und möchte "die Diachronie ignorieren" . Er begründet das insbesondere mit seiner oben schon erwähnten Ablehnung der Schule der deutschen Sprachwissenschaft.

Eine Nutzung des Saussureschen Modells in anderen Bereichen als dem sprachwissenschaftlichen impliziert aber keineswegs, dass diese absolute Hinwendung zur Synchronie mitvollzogen werden muss. Auch Füssel lastet das offensichtlich entstandene Missverständnis eines Synchroniezwanges einer Reihe von Saussure-Schülern an, die

"aus der methodischen Bevorzugung der Synchronie einen unversöhnlichen Gegensatz zur Diachronie konstruierten" (1983, S. 17)

147 Vgl. Füssel 1983, S. 16.

148 Vgl. a. Dosse (1996, S. 83): "Diese These von der Unabhängigkeit der synchronen Untersuchung bezüglich des Zugangs zum System bricht mit der Methode der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaftler und der klassischen Philologie, die auf der Erforschung der sukzessiven Entlehnungen, der verschiedenen Schichten in der Herausbildung der Sprachen fußt".

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und damit fast vergessen ließen, dass diese Präferenz vorrangig methodisch bedingt war

"und nicht etwa einen undialektischen Gegensatz in der Sache selbst zum Ausdruck bringen" (ebd.) sollte, was sich auch am Saussureschen "bilateralen Modell des Sprach- zeichens beobachten" lässt.

"Das sprachliche Zeichen ist für de Saussure nämlich die Verbindung eines Bezeichnenden mit einem Bezeichneten [...], oder nach der späteren Terminologie, eines Signifikanten (signifiant) mit einem Signifikat (signifié)" (ebd.).

Auch Füssel bezieht sich zur Veranschaulichung der Saussureschen Metho- 149 dik auf sein vielzitiertes Beispiel des Schachspiels,

"wo es auch auf die Kombination und die relativen Beziehungen der Figuren zueinander ankommt, während sämtliche materielle Daten [...] vernachlässigbar sind",

um die allein methodische Relevanz des Synchronievorranges nachzuweisen. Es soll hier nicht diskutiert werden, ob nicht auch für die Sprachwissenschaft eine stärkere Berücksichtigung der Diachronie eine fruchtbare Erweiterung mit sich brächte - man denke beispielsweise an die Einbeziehung der ideologischen Generierung von Erweiterungen oder Reduktionen einer bestimmten Sprache -, denn Saussures Modell wurde hier nur so ausführlich besprochen, um die Hintergründe der Konstitution des strukturalistischen Konzepts transparent zu machen. Doch sicherlich liegt hier noch ein latentes Potenzial, dessen Ausschöpfung interessante Erkenntnisse befördern könnte.

Nun wende ich mich Lacans Weiterentwicklung des Saussureschen Modells zu, die ich bereits einige Male erwähnt habe.

I.3.5.5 Jacques Lacan: Der Vorrang der parole

150 Jacques Lacan, der nach seiner Abwendung vom Katholizismus und der 151 Hegellektüre unter Anleitung Kojèves sich der Psychoanalyse

149 S. hierzu auch Dosse 1996, S. 83.

150 Vgl. Dosse 1996, S. 145.

151 Vgl. ebd.

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152 153 zuwandte , fand den Weg zu Saussure über Lévi-Strauss und Jakobson .

Daneben wurde Lacan wesentlich von Freud beeinflusst, was angesichts seiner Tätigkeit als Psychotherapeut allerdings nicht verwundert. Lacans Freud-Rezeption wird hier allerdings nur insofern thematisiert, als sie ihn zu seiner Modifikation des soeben vorgestellten Saussureschen Modells inspirierte. Maßgeblich waren für Lacan in dieser Hinsicht der Begriff des Unbewussten und die innerhalb der "Traumdeutung" aufgezeigten Freud- schen Prozesse der Verschiebung und der Verdichtung, denn

"Lacan hat darin zwei von der Linguistik beschriebene wesentliche Figuren erkannt: die Metonymie und die Metapher" (Althusser 1970, S. 21).

Die sprachlich-psychischen Prozesse Metonymie und Metapher sind eine Folge der prinzipiellen Überzeugung Lacans, dass das Unbewusste wie eine 154 Sprache strukturiert sei . Dabei muss der Begriff des Unbewussten, wie ihn Lacan versteht, zugrunde gelegt werden, welcher sich wesentlich von 155 dem Freudschen unterscheidet .

Aus seiner eigenen Arbeit als Psychoanalytiker mit dem Freudschen Gedankengut vertraut, interpretierte Lacan dieses nach eingehender Beschäftigung mit linguistischen Schriften, die das Sprechen in den Mittel- punkt seines Denkens gerückt hatte, völlig neu. In diesem neuen Licht

"entdeckt die Psychoanalyse im Unbewussten über ein solches Sprechen hinaus die ganze Struktur der Sprache" (Lacan Schriften II, 1991, S. 19).

152 Innerhalb der psychoanalytischen Diskussion gibt es auch kritische Stimmen hinsichtlich der Art und Weise, wie Lacan Saussures linguistisches und Freuds psychoanalytisches Programm verband. So konstatiert z. B. Wolfram Ehlers (in: Mertens, Wolfgang; Waldvogel, Bruno: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe; Stuttgart; Berlin; Köln: Kohlhammer, 2000, S. 14): "Noch weitgehender in der Kritik [als Horowitz] sind sprachtheoretische Überlegungen von Lacan (1966) und gesellschaftstheoretische Arbeiten von Lorenzer (1970), die anstelle der psychoanalytischen Metatheorie ihre linguistische oder soziale Theorie setzen und auf deren Grundlage zu einer philosophischen und gesellschaftswissenschaftlichen Verallgemeinerung der psychoanalytischen Abwehrvorgänge kommen".

153 Vgl. Dosse 1996, S. 146.

154 Vgl. hierzu Teichmann 1983, Kap. 7.5.1: "Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache" (S. 100ff). Teichmann bezieht sich auch insbesondere auf Freuds Traumbegriff, denn "die Austauschbarkeit der Traumelemente macht erst ihre Darstellung möglich. [...] Diese Beweglichkeit und Verschiebbarkeit der Traumelemente ist die der Sprache." Vgl. auch Rosenfeld 1984, Kap. IV.3: "Der Traum als Signifikantenkette" (S. 60ff).

155 Vgl. Althusser 1970, S. 21.

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Er ist überzeugt, dass die so wahrgenommene Sprache dem aufmerksamen Psychoanalytiker demonstriert,

"warum er dem Gedanken abschwören muss, dass das Unbewusste nur der Sitz der Instinkte sei" (ebd.).

Damit will er keineswegs Freud einen reduktionistischen Begriff des Unbe- wussten unterstellen. Doch nach einer Neulektüre des Freudschen Werks, die nach der Auseinandersetzung mit der strukturalen Anthropologie erfolgte, schreitet er zu einer Modifizierung seines Verständnisses dieses Unbe-wussten. Lacan ist besonders von der Lektüre des Lévi-Straussschen 156 Werkes beeindruckt, auf das er sich fortan "ausdrücklich" beruft . Lévi- Strauss' Verständnis des Unbewussten verfolgt ebenso das

"Ziel der Entmedikalisierung, der Entbiologisierung des Freudschen Diskurses, (S. 174) das Lacan verfolgt" (ebd., S. 173f).

Die Folge dieser Entbiologisierung für das Unbewusste nach Lévi-Strauss ist, dass es seine individuelle Geschichte verliert und eine radikale 157 Formalisierung erfährt :

"Lévi-Strauss wird Lacan gerade da tief beeinflussen, wo er anlässlich seiner vergleichenden Studie seine eigene Definition des Unbewussten gibt, das er eben nicht als Zufluchtsort der Eigenheiten einer rein individuellen, einzigartigen Geschichte fasst, sondern aus der Historie herauslöst, indem er seine Verwandtschaft mit der symbolischen Funktion behauptet [...]" (ebd.).

Diese Formalisierung steckte nach Lacan aber schon immer im Unbewussten, wenn dies auch zuvor in der Regel übersehen wurde:

"Von Beginn an hat man die konstituierende Rolle des Signifikanten im Status des Unbewussten verkannt, die Freud von vornherein sehr exakt formalisiert hat. Dies aus einem doppelten Grund, wobei der am wenigsten auffallende natürlich der ist, dass diese Formalisierung für sich allein nicht hinreichte, die Instanz des Signifikanten erkennen zu lassen; sie war zur Zeit des Erscheinens der »Traumdeutung« den Formalisierungen der Linguistik weit voraus, denen sie, wie man ohne Zweifel zeigen könnte, allein durch ihr Wahrheitsgewicht, den Weg gebahnt hat. Der zweite Grund ist letztlich nur die Rückseite des ersten, denn wenn die Psychoanalytiker ausschließlich an den im Unbewussten aufgefundenen Bedeutungen fasziniert waren, so deshalb, weil diese ihren geheimsten Reiz aus der Dialektik bezogen haben, die ihnen immanent schien" (Lacan Schriften II, 1991, S. 38).

156 Vgl. Dosse 1996, S. 173. Nach Dosse kommt dem Einfluss Lévi-Strauss' auf Lacan eine immense Bedeutung zu, denn er konstatiert: "Lévi-Strauss' Werk, der anthropologische Strukturalismus, bildet den Eckpfeiler für Lacans radikalen Neuansatz nach dem Krieg" (ebd.).

157 Vgl. Dosse, S. 176.

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Freud habe bei seinem Werk "Kursänderungen" durchführen müssen, so Lacan, um "das Überleben seiner Entdeckung abzusichern", was vorrangig der wissenschaftlichen Rückständigkeit seiner Zeitgenossen zuzuschreiben 158 sei . Die Folge sei in Bezug auf das Unbewusste "eine missbräuchliche 159 Verwendung des Ausdrucks" , die zu einer Verwechslung des Unbewussten mit dem Psychischen führe. So bezeichne man beispielsweise "eine Wirkung des Unbewussten auf das Somatische als psychisch". Lacan will dieser Fehlinterpretation des Unbewussten durch eine erneute Lektüre des Freudschen Werks begegnen, die dem originären Inhalt des Begriffs, der ihm bereits von seinem Entdecker zugewiesen wurde, ans Licht verhelfen soll:

"Deswegen muss jede Richtigstellung der Psychoanalyse auf die Wahrheit jener Entdeckung zurückführen, die unmöglich in ihrem Ursprungsmoment verdunkelt werden kann" (ebd., S. 39).

Lacan definiert auf dieser Grundlage unter ausdrücklichem Verweis auf 160 161 Saussure "die Topik dieses Unbewussten" . Diese Definition kann demnach nur lauten:

158 Lacan Schriften II, 1991, S. 38. Da Lacan hier nur die Funktion zukommt, die Bedeutung der Hierarchieänderung von Signifikat und Signifikant zu verdeutlichen, kann nicht sein gesamtes Schrifttum berücksichtigt werden. Das Augenmerk gilt für diesen Zweck vielmehr der Schrift, in der er sich dieser Frage besonders intensiv widmet. Dies ist m. E. "Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud" (L'instance de la lettre dans l'inconscient ou la raison depuis Freud, in der deutschen Übersetzung von Norbert Haas und Chantal Creusot erstmals 1973 erschienen). Es handelt sich bei dieser Schrift um ein für ein Seminar verfasstes Manuskript. Nach Lacan verfuhren »die Psychoanalytiker« einseitig, denn sie waren "ausschließlich von den im Unbewussten aufgefundenen Bedeutungen fasziniert", und zwar weil "diese ihren geheimsten Reiz aus der Dialektik bezogen haben, die ihnen immanent schien". Lacan nun befand es für sein Seminar für nötig, "die immer mehr sich überstürzenden Auswirkungen dieser Einseitigkeit ins rechte Geleise zurückzubringen, und nur daraus erklären sich die offenkundigen Schwenks oder besser gesagt die Kursänderungen, die Freud durch seine dringlichste Sorge, das Überleben seiner Entdeckungen abzusichern, mit den ersten Umarbeitungen, die sie den Kenntnissen abverlangte, seiner Lehre im Verlauf ihrer Entfaltung glaubte mit auf den Weg geben zu müssen".

159 Ebd., S. 40.

160 Vgl. ebd., S. 36. Hier bringt Lacan ausdrücklich Saussure in Verbindung mit der Freudschen Traumdeutung: "Die Entstellung, im Französischen transposition, in der Freud die allgemeine Vorbedingung der Traumfunktion aufzeigt, ist, was wir weiter oben mit Saussure als Gleiten des Signifikats unter dem Signifikanten bezeichnet haben, das im Diskurs immer (auf, wohlgemerkt, unbewusste Weise) wirksam ist."

161 Ebd., S. 40.

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S - s

Lacan nimmt also eine entscheidende Modifikation des Saussureschen Algorithmus vor: er vertauscht die Positionen von Signifikat und Signifikant. Dies wandelt das Verhältnis dieser beiden Formen zueinander vollständig:

"Lacan nun pointiert dieses Verhältnis durch seine Umkehrung von s und S in der Weise, dass an einem Primat des Signifikanten kein Zweifel mehr bestehen kann. Die Ordnung der Signifikanten ist völlig eigenständig und jener der Signifikate vorgeschaltet" (Teichmann 1983, S. 109).

Dieser Primat des Signifikanten ist im Sinne Lacans schon allein dadurch 162 bedingt, dass "das Subjekt, das als ein Sklave erscheinen kann" von einer 163 Hörigkeit gegenüber dem Diskurs von Geburt an geprägt ist , was sich 164 allein schon durch den Erhalt eines Eigennamens ausdrückt . Der Signifikant repräsentiert also die Symbole und diese

"hüllen das Leben des Menschen so vollständig ein in ihr Netz, dass sie, noch bevor er auf die Welt kommt, diejenigen zusammenführen, die ihn »aus Knochen und aus Fleisch zeugen«" (Lacan Schriften I, 1991, S. 120).

Die Herrschaft der Symbole ist gleichzusetzen mit der Herrschaft des Unbewussten, das "keine einzige unserer Handlungen aus seinem Feld 165 entlässt" . Der Balken trennt nun den Signifikanten vom Signifikat, vergleichbar der Trennung von Moi und Je, wie Lacan sie in seiner Schrift

162 Lacan Schriften II, 1991, S. 19.

163 Vgl. ebd., S. 19f. Jedes Individuum unterliegt nach Lacan dieser Diskurshörigkeit vom Anbeginn seiner Existenz "in einer universalen Bewegung" (ebd., S. 199).

164 Vgl. ebd., S. 20. Neben diesem Erwerb des Eigennamens sind weitere Prozesse für den Diskurs konstitutiv, denn nach Lacan ist die Konvention, die auch für Saussure mit der Sprachübernahme des Individuums einhergeht, nicht die Basis des menschlichen Diskurses: "Der Bezug auf die Erfahrung der Gemeinschaft als der Substanz dieses Diskurses bringt keine Lösung. Denn diese Erfahrung gewinnt ihre wesentliche Dimension aus der Überlieferung begründet, lange bevor das Drama der Geschichte sich in sie einschreibt, die elementaren Strukturen der Kultur. Und diese Strukturen ihrerseits offenbaren eine Ordnung der Tauschakte, die, wäre sie auch unbewusst, nicht denkbar ist außerhalb der Permutationen, die die Sprache ermöglicht" (ebd.).

165 Lacan Schriften II, 1991, S. 40.

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166 "Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion" beschreibt .

Sprache, repräsentiert durch den Signifikanten, ist durch ihre Einheiten identifizierbar, die sich "nach den Gesetzen einer geschlossenen 167 168 Ordnung" zusammensetzen . Analog zur Freudschen Assoziationskette bilden die Signifikanten ebenso Ketten, die eine Vielzahl von Verbindungen 169 diverser Formen eingehen können . Daraus ergibt sich die Vieldeutigkeit, die "Ambiguität" der Sprache, die aus dem Gleiten des Signifizierten unter 170 den Signifikanten resultiert .

Aufgrund dieser Struktur der Sprache, die das Subjekt dem Signifikanten unterwirft, wodurch dieses Subjekt in seiner Existenz auf diesen Signifikanten beschränkt und damit zur Fiktion wird, konstituiert sich dennoch eine Wechselwirkung zwischen Signifikant und Signifikat. Im Gegensatz zu Lévi-Strauss begreift Lacan also das Signifikat nicht als 171 "Entleertes" , im Gegenteil:

"Der Signifkant lässt das Signifikat sogar eine Art Passion erleiden" (ebd., S. 167).

Damit wird aus den Saussureschen Begriffen etwas qualitativ Anderes, denn

"wie der Gedanke vom Gleiten des Signifikats unter dem Signifikanten für Saussure überhaupt keinen Sinn ergeben hätte, entging ihm auch der Begriff des Unbewussten" (ebd.).

Zur Beschreibung der Diskursentfaltung dienen Lacan nun die Jacobson-

166 Lacan Schriften I, 1991, S. 61ff.

167 Lacan Schriften II, 1991, S. 26.

168 Vgl. Teichmann 1983, S. 106. Teichmann begreift die durch die Sprache etablierte Ordnung bei Lacan als konstitutives Element: "Erst in ihr kann sich der Mensch an einem Ort situieren, wo es ihm möglich ist, die Ordnungen des Realen und Imaginären zu transzendieren."

169 Vgl. ebd.

170 Ebd., S. 107.

171 Vgl. Dosse 1996, S. 167. Indem Lacan "das Signifikat auf einen Nebenschauplatz verbannt", "ist das Subjekt aus dem Zentrum gerückt" und lediglich "Effekt eines Signifikanten, der seinerseits auf einen anderen Signifikanten verweist" und ist somit "Produkt der Sprache, die in ihm spricht" (ebd., S. 166). Hier wird implizit das Leid reflektiert, die das Subjekt durch das Abgetrenntsein des Je vom Moi erfährt (vgl. "Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion" in: Schriften I, Lacan 1991, S. 61ff).

98

schen Figuren Metapher und Metonymie, die er mit dem Unbewussten verknüpft, wobei er die Freudsche Verdichtung mit dem Verfahren der 172 Metapher und die Freudsche Verschiebung mit der Metonymie verbindet .

Dabei besteht die Funktion der Metapher in einer Substituierung, die den Primat und die Selbständigkeit des Signifikanten gegenüber dem Signifikat 173 bestätigt. Wie dies vor sich geht, verdeutlicht das folgende Schaubild :

S1 akustisches Bild: »xy« ------s1 Begriff von xy

S2 akustisches Bild: »ab« ------s2 Begriff von ab

Der Effekt dieser metaphorischen Figur ist nun die signifizierende Substitution von S2 zu S1:

+--+ ¦S1¦------+ ¦__¦ ¦ +--+ ¦s1¦ ¦ ¦S2¦ +--+ ¦ ¦__¦ ¦ ¦ ¦ +--+ +------> ¦S1¦ ¦S1¦ +------> ¦__¦ ¦__¦ ¦ ¦s1¦ +-----> s2 ¦s1¦ ¦ +--+----+ +--+------+

Dabei lässt diese Substituierung S1 unter den Bedeutungsbalken wandern, wird zum neuen Signifikat und stößt dadurch das alte Signifikat s2 (die 174 Vorstellung, den Begriff) aus .

172 Vgl. ebd., S. 167f. Bei Dosse findet sich das Beispiel J. Dors für den metaphorischen Gebrauch Freuds des Ausdrucks »Pest« für »Psychoanalyse«. Aufgrund der hier angestrebten Verallgemeinerung - denn das strukturalistische Modell soll Eingang in ein politisch-gesellschaftliches Analyseinstrument finden - habe ich für diese die Variablen »ab« bzw. »xy« eingesetzt.

173 Vgl. ebd.

174 Vgl. ebd., S. 168.

99

175 Die Metonymie bildet eine weitere Diskurstechnik, die vom Unbewussten eingesetzt wird:

S1 akustisches Bild: »xy« ------s1 Begriff von xy

S2 akustisches Bild: »ab« ------s2 Begriff von ab

+--+ ¦S1¦------+ ¦__¦ ¦ +------+ ¦s1¦ +------> ¦S2 (...... S1)¦ +-->S2 +--+ ¦______¦ ¦ +------> ¦ s1 ¦ ¦ +--+ ¦ +------+----+ ¦S1¦ ¦ ¦__¦ ¦ ¦s1¦ ¦ +--+------+

Hier wandert der ausgeschaltete Signifikant nicht unter den Bedeutungs- 176 balken. Signifikat s2 jedoch, die Vorstellung von ab, wird ausgestoßen .

Bezüglich ihrer Funktion unterscheiden sich die beiden Figuren Metapher und Metonymie deutlich. Denn die Metapher dient in erster Linie der Verdrängung, dem Verstellen und Verstecken von Bedeutung, "wobei das Verdrängte latent präsent bleibt in seiner spezifischen Form der abwesenden 177 Anwesenheit" , während die Metonymie einen Signifikanten mit einem anderen verknüpft. Diese metonymische Funktion des Signifikanten besteht dabei im Verweisen und Verschieben. Dabei ist auf die Struktur der Metonymie zu achten,

175 Vgl. ebd., S. 169. Hier gilt ebenfalls die Ersetzung der bei Dosse verwandten Ausdrücke durch Variablen (siehe hierzu Anm. 16).

176 Vgl. ebd., S. 170.

177 Rosenfeld 1984, S. 59.

100

"die anzeigt, dass die Verbindung des Signifikanten mit dem Signifikanten die Auslassung möglich macht, durch die das Signifikante den Seinsmangel (manque de l'être) in die Objektbeziehung einführt, wobei es sich des Verweisungswerts der Bedeutung bedient, um ihn mit dem Begehren zu besetzen, das auf diesen Mangel zielt, den es unterhält" (Lacan Schriften II, 1991, S. 41).

Der Bedeutungsbalken behält allerdings stets seine trennende Funktion. Die Konsequenz für das Subjekt aus diesem »signifikanten Spiel von 178 Metonymie und Metapher« besteht in der Tragik, dass ein Symptom bzw. eine Metapher ihm in seiner bzw. ihrer Bedeutung unzugänglich ist, da es 179 sich "in einer aktuellen signifikanten Kette substituiert" , während es gefangen bleibt "in den ewig auf das Begehren nach etwas anderem ausgerichteten Metonymie".

Das »signifikante Spiel von Metonymie und Metapher« produziert also das Netzwerk von Signifikanten, das die menschliche Kommunikation ausmacht, oder ist vielmehr in all seiner Ambiguität dieser schon immer vorgängig, verändert sich - meist unbemerkt - und übt so seine Herrschaft aus, indem es - mit Elias gesprochen - Figurationen bildet und sowohl in die sozialen Netzwerke, die die Individuen konstituieren, als auch in die psychischen Figurationen innerhalb der Individuen permanent eingreift.

Die Umkehr der Relation von Signifikat und Signifikant, die von Lacan vorgenommen wurde, wird auch von der Barthesschen Mythostheorie aufgenommen. Jedoch bezieht Barthes sein strukturales Modell nicht wie Lacan vordergründig auf eine psychoanalytische Praxis, sondern auf den menschlichen Alltag und dessen politisch-ideologische, latente Funktionen.

178 Ebd., S. 43.

179 Ebd., S. 44.

101

I.3.5 Das Mythos-Konzept Roland Barthes'

Nach Saussures Einführung des strukturalistischen Konzepts, das er selbst 180 nicht so benannt hat, wurde es von Lacan weiterentwickelt . Roland Barthes, die »Mutter des Strukturalismus« - so überschreibt Dosse in seiner "Geschichte des Strukturalismus" das Barthes' Werk behandelnde Kapitel - hat aus dieser Lacanschen Version schließlich sein strukturalistisches Mythos-Konzept herausgearbeitet, das im Folgenden kurz dargestellt wird. Dabei möchte ich mich auf die Schlüsselpunkte dieses Modells beschränken, denn andere Seiten der schillernden und in jeder Hinsicht 181 äußerst dynamischen Persönlichkeit Roland Barthes' sind hier ausdrücklich nicht Thema, können aber der umfangreichen Literatur über 182 ihn entnommen werden .

Zugrundegelegt wird hier der "erste Abschnitt" seines "semiologischen 183 Abenteuers" . Barthes selbst unterteilte seine semiologische Entwicklung 184 in drei "Abschnitte" , die seine jeweils dominierende Einstellung zur Semiologie kennzeichnen. Der Zweck dieser Arbeit, einmal die Funktionsweise gesellschaftlicher Macht an sich in ein Modell zu fassen und dann insbesondere die Konstitution ideologischer Macht anhand eines konkreten Beispiels zu analysieren, verweist bereits auf Barthes "ersten

180 Ob es sich bei den Lacanschen Modellen um eine Weiter- oder eine »Weg«entwicklung handelt, muss aus der jeweiligen fachlichen und politischen Perspektive beurteilt werden. Je nach der Position des Urteilenden wird diese Frage anders entschieden werden.

181 Nach Dosse machte gerade diese Dynamik sein Denken bereits in den fünfziger Jahren so attraktiv: "Man kann bereits erkennen, was ihm die große Anhängerschaft eintragen wird - seine Beweglichkeit, seine Geschmeidigkeit im Umgang mit Theorien: So flink er sie sich zu eigen macht, so schnell löst er sich auch wieder von ihnen" (Dosse 1996, S. 117), wobei man nicht sagen kann, Barthes habe sich von der Semiologie wieder schnell gelöst. Dagegen spricht schon die Zahl der von ihm veröffentlichten semiologischen Arbeiten.

182 So z. B. Ette, Ottmar: Roland Barthes; Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1998; Kolesch, Doris: Roland Barthes; Frankfurt/Main; New York: Campus Verlag, 1997; Lindorfer, Bettina: Roland Barthes: Zeichen und Psychoanalyse; München: Fink, 1998; Fages, Jean-Baptiste: Comprendre Roland Barthes; Toulouse: Pensée Privat, 1979. Zur Annäherung an die Persönlichkeit Roland Barthes' lesenswert ist auch Thody, Philip: Roland Barthes: A Conservative Estimate; London; Basingstroke: The MacMillan Press, 1977, und zwar insbesondere Kapitel 1: Biography, writing and method (S. 1ff) u. Postscript (S. 149). Weitere Titel können dem Literaturverzeichnis entnommen werden. Sehr zum Verständnis der Persönlichkeit Roland Barthes' trägt auch die Lektüre der "Begebenheiten" (Incidents - dt. Mainz: Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, 1988) bei.

183 Barthes 1988.

184 Ebd., S. 8ff.

102

Abschnitt", den er folgendermaßen beschreibt:

"I. Der erste Abschnitt war einer der Faszination. Seit meinem ersten Buch Am Nullpunkt der Literatur galt meine Arbeit ständig der Sprache oder, genauer, dem Diskurs. 1956 hatte ich eine Art mythisches Material der Konsumgesellschaft zusammengetragen und unter dem Titel Mythen des Alltags Nadeaus Zeitschrift Les Lettres Nouvelles überlassen; damals las ich zum ersten Mal Saussure, und war nach beendeter Lektüre begeistert von dieser Hoffnung: Der Verurteilung der kleinbürgerlichen Mythen, die immer nur proklamiert wurde, endlich ein Mittel zur wissenschaftlichen Entwicklung zu verschaffen; dieses Mittel war die Semiologie oder die subtile Analyse der Sinnprozesse, mit deren Hilfe die Bourgeoisie ihre historische Klassenkultur in universelle Natur verwandelte; die Semiologie der Zukunft mit ihrem Programm und ihren Aufgaben erschien mir damals als die grundlegende Methode der Ideologiekritik. Ich brachte diese Begeisterung und diese Hoffnung im Nachwort zu Mythen des Alltags zum Ausdruck, einem vielleicht wissenschaftlich veralteten, aber euphorischen Text, da er das intellektuelle Engagement besänftigte, ihm ein Instrument der Analyse gab und der Untersuchung des Sinns Verantwortungsbewusstsein und politische Tragweite verlieh" (Barthes 1988, S. 8f).

Das Anliegen der Barthesschen Semiologie dieser ersten Phase ist also prinzipiell identisch mit dem Anliegen dieser Arbeit, denn es ist ein primär ideologiekritisches und setzt den primären Akzent auf die gesellschaftliche Analyse.

Der "zweite Abschnitt" des Barthesschen "semiologischen Abenteuers" dagegen

"war der der Wissenschaft, oder zumindest der Wissenschaftlichkeit" (ebd., S. 9).

Er analysierte den Gegenstand der modischen Kleidung, was in der Terminologie der Semiologie ausgedrückt hieß,

"die Grammatik einer bekannten, aber bisher noch nicht analysierten Sprache zu erarbeiten" (ebd.).

185 Im dritten Abschnitt schließlich, den Barthes als den des "Textes" bezeichnet, versucht er, die mittlerweile recht weit gediehenen Exkurse aufzunehmen (z. B. Propp, Kristeva, Derrida, und nicht zuletzt Foucault). Er verarbeitet seine dadurch neu gewonnene Position in einem Werk über Japan: "Das Reich der Zeichen" (1981). In dieser Schrift begreift er das Land als ein Zeichensystem. Denn "es gibt zum Beispiel einen Text des 186 Lebens" , der "kein ästhetisches Produkt, sondern eine signifikante Praxis" darstellt.

185 Ebd., S. 10.

186 Ebd., S. 11.

103

Diese periodische Einteilung seiner semiologischen Arbeit resultiert für 187 Barthes jedoch nicht in einer zweimaligen Revision seiner Position , wie er es anhand eines historischen Beispiels illustriert:

"Es heißt, König Ludwig XVIII., ein feiner Gourmet, habe sich von seinem Koch mehrere Koteletts übereinander zubereiten lassen, von denen er nur das unterste aß, das den von den übrigen gefilterten Saft enthielt. Genauso möchte ich, dass der gegenwärtige Abschnitt meines semiologischen Abenteuers die Würze der vorangegangenen enthalte und der Filter, wie bei den Koteletts des Königs, aus demselben Stoff sein, der gefiltert werden soll; dass das Filtrierende das Filtrat selbst sei, wie das Signifikat der Signifikant ist; und dass man folglich in meiner gegenwärtigen Arbeit die Antriebe finde, die in der gesamten Vergangenheit dieses semiologischen Abenteuers am Werk waren: den Willen, mich in eine Gemeinschaft gewissenhafter Forscher einzureihen, und die Treue zur beharrlichen Adhäsion des Politischen und des Semiologischen" (ebd.).

Hier wird nochmals deutlich, dass die in den "Mythen des Alltags" vertretenen Thesen nicht fallengelassen wurden und Barthes keinesfalls seine "Euphorie" revidiert. Es ist ihm im Gegenteil immer noch wichtig, dass die Semiologie keine positive Wissenschaft ist und zu keinem System erstarrt, wobei sie schließlich ihrer politischen Schlagkraft verlustig ginge 188 und selbst zur Ideologie, zum Dogma geriete .

Der Mythos ist nach Roland Barthes eine Aussage, ein Mitteilungssystem,

187 Vielleicht kann man die chronologische Abfolge dieser drei Phasen auch nicht als "Entwicklung" im Sinne einer chronologischen Abfolge von Stufen bezeichnen, denn für Barthes bedeuteten der zweite und dritte Abschnitt nicht jeweils die Preisgabe des zeitlich früheren, sondern eher eine Erweiterung. Er selbst bezeichnete sie als "Erfahrungen" (1981, S. 11).

188 Die Veränderung, die Barthes an der Semiologie rückblickend vornimmt, vertieft noch deren politische Funktion, wie er es im Folgenden begründet: " [...] - bezüglich des ersten Punkts, nämlich der Wissenschaftlichkeit der Semiologie, kann ich heute nicht glauben, und wünsche ich nicht, dass die Semiologie eine bloße Wissenschaft, eine positive Wissenschaft ist, und zwar aus einem ausschlaggebenden Grund: Es obliegt der Semiologie, und heute vielleicht von allen Humanwissenschaften der Semiologie allein, ihren eigenen Diskurs in Frage zu stellen: als Wissenschaft von der Sprache, den Sprachen, kann sie ihre eigene Sprache nicht als gegeben, als Transparenz, als Werkzeug, kurz, als Metasprache hinnehmen: auf die Erkenntnisse der Psychoanalyse gestützt, fragt sie nach dem Ort, von aus sie spricht, eine Fragestellung, ohne die jede Wissenschaft und jede Ideologiekritik lächerlich wird: für die Semiologie, so zumindest mein Wunsch, gibt es keine Exterritorialität des Subjekts, auch nicht eines wissenschaftlichen, in Bezug auf seinen Diskurs. Mit anderen Worten, die Wissenschaft kennt keinen gesicherten Ort, und in diesem Sinn sollte sie sich als Schreiben verstehen; - bezüglich des zweiten Punkts, nämlich des ideologischen Engagements der Semiologie, denke ich, dass in meinen Augen der Einsatz beträchtlich angewachsen ist: Die Semiologie muss nicht mehr bloß, wie zur Zeit der Mythen des Alltags, gegen das kleinbürgerliche gute Gewissen ankämpfen, sondern gegen das symbolische und semantische System unserer Zivilisation insgesamt; Inhalte ändern zu wollen, ist zu wenig, vor allem gilt es, in das System des Sinns selbst Risse zu schlagen: herauszukommen aus dem abendländischen Gehege, wie ich es in meinem Text über Japan postulierte" (ebd., S. 11f).

104

eine Botschaft, eine Weise des Bedeutens, also eine Form. Als solche gehört er in die Semiologie, deren Begriff bekanntermaßen auf Saussure zurückgeht, denn diese ist eine Wissenschaft, die sich mit Formen beschäftigt und Bedeutungen unabhängig von ihrem Gehalt untersucht. Nach Barthes müssen jedoch nach der Feststellung einer mythischen Form deren historische Grenzen und gesellschaftlicher Rahmen wieder angegeben 189 werden .

Die Form eines Phänomens identifizieren zu können, kann gerade bei der Identifikation von Machtquellen innerhalb einer Gesellschaft außer- ordentlich hilfreich sein, deshalb ist die Semiologie zur Analyse eines Mythos' notwendig, wenn sie auch nicht ausreicht und durch Methoden anderer Wissenschaften ergänzt werden muss.

I.3.5.1 Das semiologische System des Mythos

190 Die Semiologie basiert auf der Voraussetzung, dass eine Beziehung zwischen zwei Termini besteht, nämlich zwischen dem Bedeutenden und dem Bedeuteten. Die Korrelation, die zwischen diesen beiden Termini 191 besteht, heißt in der Semiologie das Zeichen . Bis hierhin ist nur das linguistische und objektsprachliche Primärsystem betroffen. Jetzt tritt der Mythos auf den Plan und verwandelt den End- terminus des Primärsystems, der Sprache, in den Anfangsterminus seines sekundären semiologischen Systems. Aus dem Zeichen der Objektsprache macht er das Bedeutende auf einer anderen Ebene, nämlich auf der der Metasprache:

189 Vgl. Barthes 1964, S.85: Barthes konstatiert, "dass der Mythos kein Objekt, kein Begriff oder eine Idee sein kann; er ist eine Weise des Bedeutens, eine Form. Später werden für diese Form die historischen Grenzen, die Bedingungen ihrer Verwendung anzugeben sein, und später wird auch die Gesellschaft wieder in sie eingeführt werden müssen; doch darf uns das nicht davon abhalten, sie zunächst als Form zu beschreiben".

190 Vgl. hierzu die Ausführungen in den beiden vorhergehenden Kapiteln dieser Arbeit, in denen das semiologische Modell bereits umrissen wurde.

191 Vgl. hierzu Lavers 1982, S. 108f: "Saussure's model of the sign is very useful to Barthes, who is at pains to stress that it is made up of three elements, not two: the signifier, the signified, and the sign itself, a new entity born of the union of the other two. This tripartite schema is the constant form from one medium to another, whether linguistic, iconic, gestural, etc."

105

"Man sieht, dass im Mythos zwei semiologische Systeme enthalten sind, von denen eines im Verhältnis zum andern verschoben ist: ein linguistisches System, die Sprache (oder die ihr gleichgestellten Darstellungsweisen), die ich Objektsprache nenne, weil sie die Sprache ist, deren sich der Mythos bedient, um sein eigenes System zu errichten - und der Mythos selbst, den ich Metasprache nenne, weil er eine zweite Sprache darstellt, in der man von der ersten spricht" (Barthes 1964, S. 93)192.

So wird aus dem Bedeutenden der Sprache, dem Sinn, das Bedeutende des Mythos, die Form. Dabei verliert der Sinn an Wissen, das heißt, seine ursprüngliche Geschichte, die er auf der Ebene der Objektsprache noch besessen hatte, wird ihm entzogen:

"Indem er Form wird, verliert der Sinn seine Beliebigkeit; er leert sich, verarmt, die Geschichte verflüchtigt sich, es bleibt nur noch der Buchstabe" (Barthes 1964, S. 97).

193 Das folgende Schema verdeutlicht dieses Geschehen:

+------+ Sprache ¦¦1. Bedeutendes¦2. Bedeutetes¦ +++------+------+ ¦¦¦ 3. Zeichen ¦ ¦ ¦¦¦ I. BEDEUTENDES ¦II. BEDEUTETES¦ MYTHOS ¦++------¦ ¦ ¦ III. ZEICHEN ¦ +------+

"Man glaubt, der Sinn stirbt, aber es ist ein aufgeschobener Tod. Der Sinn verliert seinen Wert, aber er bleibt am Leben, und die Form des Mythos nährt sich davon" (Barthes 1964, S. 97).

Das Bedeutete, der Begriff, bemächtigt sich nun der Form und versieht sie mit einer neuen Geschichte.

"Der Begriff ist determiniert: er ist geschichtlich und intentional zugleich; er ist das Motiv, das den Mythos hervortreibt. [...] Der Begriff stellt die Kette von Ursachen und Wirkungen, von Motiven und Absichten wieder her. Im Gegensatz zur Form ist der Begriff keineswegs abstrakt: er ist von einer Situation erfüllt. Durch den Begriff wird eine neue Geschichte in den Mythos gepflanzt" (Barthes 1964, S. 98).

192 Dieses Schema ist auch nach Eve Tavor Bannet (1989, S. 53) anerkennenswert: "Barthes provides a suitable scientific diagram to illustrate the way his supplementary and alternative mythical message introduces itself into the order of language. He dignifies each aspect of this interlocking semiological structure with a suitable scientific terminology (on the level of language, the signifier and signified produce a meaning which in turn becomes the form of a mythical concept, which together constitute the mythical signification)."

193 Vgl. Barthes 1964, S. 93.

106

Der Begriff verhält sich nicht neutral, sondern er besitzt eine geschichtliche Tendenz. Bemerkenswert ist auch die Formenvielfalt des Mythos, der jedoch nur eine kleine Zahl von Begriffen gegenüber steht, was aber die Identifikation des Mythos erleichtert.

"Der quantitativen Fülle der Formen entspricht eine kleine Zahl von Begriffen. Diese Wiederholung des Begriffes durch die verschiedenen Formen hindurch ist für den Mythologen kostbar, sie ermöglicht es, den Mythos zu entziffern" (ebd., S. 100).

Neben dieser großen Quantität der Formen und der geringen der Begriffe ist die Unvermeidlichkeit von Neologismen ein weiteres Merkmal, an der ein Mythos erkannt werden kann. Neologismen innerhalb eines mythischen Systems sind nicht beliebig, sondern

"nach einer sehr überlegten Proportionalregel konstruiert" (Barthes 1964, S. 101).

Dies geschieht selbstverständlich mit Blick auf die Funktion, der der Mythos dienen soll. Die mythischen Begriffe sind nicht stabil, die Geschichte kann sie zum Verschwinden bringen. Dies bedingt schon die Historizität der mythischen Begriffe.

"Ich habe schon gesagt, dass es keine Beständigkeit in den mythischen Begriffen gibt: sie können sich bilden, können verderben, sich auflösen und gänzlich verschwinden. Gerade weil sie historisch sind, kann die Geschichte sie leicht vernichten" (Barthes 1964, S. 101).

Die generelle Funktion eines Mythos ist die Deformierung des Sinns, die in einer Entfremdung besteht. Die deformierte Form besitzt eine ungeheure "intentionale Kraft", die sie auf eine ganz bestimmte Art ausübt, denn "der 194 Begriff deformiert, aber er zerstört nicht den Sinn" . Das macht es auch so schwer, dem Mythos Widerstand zu leisten.

I.3.5.2 Wie liest und entziffert man einen Mythos?

Es gibt nach Barthes drei verschiedene Weisen, wie ein Mythos aufgefaßt werden kann:

1. Das Bedeutende wird als leer gesehen. Diese Auffassung ist typisch für 195 den "Erzeuger eines Mythos" . Er benutzt diese Leere für seine

194 Barthes 1964, S. 103f.

195 Roland Barthes 1964, S. 111.

107

Zwecke, indem er das entleerte Bedeutende mit einem neuen Sinn auffüllt.

"Wenn ich mich auf ein leeres Bedeutendes einstelle, lasse ich den Begriff die Form des Mythos ohne Doppeldeutigkeit anfüllen und habe ein einfaches System vor mir, in dem die Bedeutung wieder wörtlich wird: [...]. Diese Art und Weise des Sichein- stellens ist die des Erzeugers von Mythen [...]" (Barthes 1964, S. 110f).

2. Das Bedeutende wird als erfüllt erkannt. Das ist die Voraussetzung für die Zwecke des Mythologen, der diese Füllung als Deformation erkennt und so den Mythos entlarvt.

"Wenn ich mich auf ein erfülltes Bedeutendes einstelle, in welchem ich deutlich Sinn und Form unterscheide und von da aus die Deformation, die die Form beim Sinn bewirkt, zerstöre ich die Bedeutung des Mythos und nehme ihn als Betrug auf [...]. Diese Art der Einstellung ist die des Mythologen. Er entziffert den Mythos, er versteht ihn als eine Deformation" (Barthes 1964, S. 111).

3. Das Bedeutende erscheint als ein verflochtenes Ganzes von Sinn und Form. So wird es von den Lesern des Mythos empfunden, die auch die Zielgruppe für die Intentionen des Mythoserzeugers bilden. Am Leser wirkt der "konstitutive Mechanismus des Mythos".

"Wenn ich schließlich das Bedeutende des Mythos als ein unentwirrbares Ganzes von Sinn und Form ins Auge fasse, empfange ich eine doppeldeutige Bedeutung: ich antworte auf den konstitutiven Mechanismus des Mythos, ich werde der Leser des Mythos; [...]" (Barthes 1964, S. 111).

Der ersten und der zweiten Auffassung des Bedeutenden liegen analytische Einstellungen zugrunde. Der Erzeuger muss das Bedeutende in seiner wahren Gestalt erkennen, um es seinen Intentionen gefügig machen zu können. Für den Mythologen ist seine Arbeit, die in der Demaskierung des Mythos besteht, wobei die Intentionen des letzteren aufgezeigt werden müssen, nicht möglich, wenn er die "Sinn"-Füllung des Mythos nicht erkennt. Barthes Urteil über diese beiden Auffassungen lautet:

"Die erste ist zynisch, die zweite ist entmystifizierend" (ebd., S. 111).

Die dritte Einstellung gegenüber dem Bedeutenden ist von der Dynamik der Wahrnehmung des Lesers abhängig. Der Leser, der auch das Opfer des 108

Mythos ist, ohne dass ihm diese Rolle bewusst wird, sieht das für ihn Konstruierte

"als ob das Bild auf natürliche Weise den Begriff hervorriefe, als ob das Bedeutende das Bedeutete stiftet" (ebd., S. 113. Hervorhebung i. O.).

Durch das "Natürlichmachen" des Begriffs hält der Leser den Mythos für eine "unschuldige" Aussage,

"nicht weil seine Intentionen verborgen sind - wenn sie das wären, könnten sie nicht wirksam sein -, sondern weil sie natürlich sind" (ebd., S. 115). Deshalb sieht der Leser eines Mythos nicht, dass es sich hierbei um ein semiologisches System handelt, sondern er hält es für ein System von Fakten. Das soll er auch, denn eben das entspricht der intentionalisierten Funktion eines Mythos, seinem "eigentlichen Prinzip":

"er verwandelt Geschichte in Natur. Man versteht nun, wie in den Augen des Verbrauchers von Mythen die Intention des Begriffes so offenkundig bleiben kann, ohne deshalb als interessengebunden zu erscheinen. Die Sache, die bewirkt, dass die mythische Aussage gemacht wird, ist vollkommen explizit, aber sie gerinnt sogleich zu Natur" (ebd., S. 113).

Das strukturalistische Mythenschema weist damit auf die Notwendigkeit hin, Mythen oder Ideologien zu entlarven und liefert gleichzeitig ein geeignet scheinendes Instrument für diesen Zweck, der ja auch der dieser 196 Arbeit ist .

Das hier angewandte strukturalistische Konzept hat also drei Folgen:

1. die Entdeckung der der Sprache zugrunde liegende Struktur durch Saussure;

2. die Umkehr der Stellung von Bedeutendem und Bedeutung bei Lacan;

196 In: d. semiolog. Abent. (1981, S. 12) findet sich auch noch ein Hinweis auf das Bewusstsein der eigenen Subjektivität: "Zum Abschluss noch eine Bemerkung zu dieser Einführung: In ihr heißt es ICH. Es versteht sich von selbst, dass diese erste Person imaginär (im psychoanalytischen Sinn des Begriffs) ist; wäre sie es nicht, wäre die Aufrichtigkeit nicht ein Verkennen, so wäre das Schreiben nur vergebliche Mühe, es genügte dann zu sprechen. Das Schreiben ist genau dieser Raum, in dem die Personen der Grammatik und die Ursprünge des Diskurses sich vermischen, verschwimmen und sich im Unauffindbaren verlieren: Das Schreiben ist die Wahrheit, nicht der Person (des Autors), sondern der Sprache. Deshalb übersteigt das Schreiben immer das Sprechen. Die Einwilligung, von seinem Schreiben zu sprechen, wie dies hier geschah, ist nichts anderes, als dem anderen zu sagen, dass man seines Sprechens bedarf". Dies kann m. E. durchaus als Übereinstimmung mit dem von Adorno proklamierten Verständnis von Wissenschaft gewertet werden.

109

3. die Erweiterung des Konzepts bei Barthes zu seiner Anwendung auf andere als sprachliche Phänomene.

Die dem Strukturalismus insgesamt vorgeworfene »Ahistorizität« wurde schon im Teilkapitel über Saussure widerlegt, was Roland Barthes bestätigt:

"Ob weit zurückliegend oder nicht, die Mythologie kann nur eine geschichtliche Grundlage haben, denn der Mythos ist eine von der Geschichte gewählte Aussage; aus der »Natur« der Dinge vermöchte er nicht hervorzugehen" (Barthes 1964, S. 86).

Wie dieses dreiteilige strukturalistische Konzept nun im Zusammenwirken mit der Figurationsanalyse zu instrumentalisieren ist, wird im folgenden Kapitel dargelegt.

110

I.4 DAS INSTRUMENTARIUM II: DIE ELEMENTE

I.4.1 Die Ebene der Gesellschaft:

I.4.1.1 Menschengruppen als Figurationen: Die Figurationssoziologie Norbert Elias'

Für die Erfassung sozialer Prozesse wurde in der Eliasschen Figurationssoziologie ein geeignetes Modell gefunden. Elias' Konzept verdeutlicht die ungeplanten sozialen Prozesse sich ständig wandelnder Figurationen, innerhalb derer zwar immer wieder Kämpfe um die Vorherrschaft ausgetragen werden, die aber niemals als endgültig und schon gar nicht als von einem metaphysischen Wesen so intendiert verstanden werden dürfen. Zwar kann eine Figuration nur Stabilität erlangen, wenn es gelingt, eine gewisse Machtbalance zu etablieren, diese ist aber nie vollkommen zu erreichen und verbleibt so dennoch immer in einem mehr oder weniger labilen Zustand, jeweils in Abhängigkeit von den einzelnen Machtdifferenzen, die intern herrschen. Denn aufgrund ihrer konträren Interessen geben die Beteiligten ihren jeweils eigenen Kampf niemals auf und formieren sich zu diesem Zweck immer wieder neu und bilden auch untereinander immer wieder neue Allianzen.

Alle Ebenen der menschlichen Gesellschaft sind in solche Figurationen eingebunden. Daraus ergibt sich eine weltweite und alle sozialen Ebenen durchkreuzende Verflechtung, denn Figurationen sind keine abgeschlossenen Einheiten, sondern reagieren miteinander und aufeinander wie chemische Moleküle, die ja auch intern vom Geschehen zwischen ihren kleinsten Teilchen mitbestimmt werden, was in immer komplexer werdenden sozialen Gebilden resultiert.

Diese Gebilde und die Art und Weise, wie sie sich konstituieren, sind bei einer Untersuchung, die die oben dargelegten Thesen zum Gegenstand hat, stets zu berücksichtigen.

111

I.4.1.2 Die Figuration der Machtquellen: Die Übertragung der Figurationssoziologie auf das Modell Michael Manns

Michael Mann zufolge ist Macht nicht als ein einfacher Ausdruck sozialer Vorherrschaft aufzufassen, sondern muss weiter differenziert werden, soll die Betrachtung sozialer Prozesse einen Erkenntnisgewinn erbringen.

Aus diesem Grund spezifiziert er vier verschiedene Quellen, die jeweils unterschiedlich zu charakterisierende Machttypen konstituieren. Die einzel- nen Quellen identifiziert er als politische, ökonomische, militärische und ideologische, wobei der letzteren, der ideologischen Machtquelle im Rahmen dieser Arbeit besondere Aufmerksamkeit zuteil wird.

Diese Machtquellen manifestieren sich in gesellschaftlichen Gebilden, wobei jeweils alle Machttypen immer präsent sind, aber nicht in derselben Ausprägung und Konstellation. Insgesamt verflechten sich aber verschie- dene Gebilde mit verschieden ausgeprägten Konstellationen, die aus den vier Hauptmachttypen gebildet werden, zu vielfältig miteinander verfloch- tenen Netzwerken.

An diesem Punkt wird die Verbindung zur Eliasschen Figurationssoziologie ersichtlich, denn um gesellschaftliche Verflechtungen geht es Elias auch. Die Parallele geht aber noch weiter: sowohl Elias als auch Michael Mann lehnen metaphysische Begründungen sozialer Prozesse weitgehend ab und halten ihren Verlauf für prinzipiell ungeplant. Beide stimmen weiter dahin- gehend überein, dass bei einer gesellschaftlichen Analyse die Bildung vielfältiger Verflechtungen in allen Gesellschaften letztendlich in weltum- spannenden Netzwerken resultiert.

Ich möchte allerdings noch einen Schritt weitergehen. Denn es ist m. E. nicht einzusehen, dass die Verflechtungscharakteristik nur auf der Ebene der menschlichen Komponenten der Figurationen stattfindet. Es ist vielmehr nur konsequent, dies auch für die Machtquellen anzunehmen, aus denen die Individuen schöpfen. Dieser Logik folgend, ist der Prozess einer Figuration nicht nur allgemein an dem aus Machtverschiebungen resultierenden Wandel abzulesen, sondern er kann sogar hinsichtlich der Art der Macht spezifiziert werden, wenn man zugrunde legt, dass die vier Machtquellen ihrerseits auch als Figuration anzusehen sind. D. h. die politische, 112

ökonomische, militärische und ideologische Macht interagieren miteinan- der, und zwar derart, dass immer ein Machttyp oder eine Kombination von zweien oder dreien die Vorherrschaft über die andere(n) innehat. Es gelten in dieser Figuration dieselben Regeln wie innerhalb der menschlichen auch. Darüber hinaus ist die prozessuale Dynamik, die einer Machtfiguration innewohnt, keineswegs ein solches Abstraktum, wie dies vielleicht auf den ersten Blick den Anschein erweckt. Denn die Machttypen sind keine wesenlosen Entitäten, sondern repräsentieren real existierende Gruppen, die aus lebendigen Menschen bestehen, die ebenso mit den Figurationen und Metafigurationen vernetzt sind. Innerhalb der Machtfiguration findet ein Spiel über dem Spiel statt - gewissermaßen ein Metaspiel -, aber nicht unabhängig von allen anderen Spielen und Verflechtungen, sondern auf eine mit ihnen aufs engste verwobene und mit ihnen Interdependenzen konstituierende Art und Weise.

Das Instrument hat nun eine zweite Funktion zugewiesen bekommen: es muss nun auch die Möglichkeit bieten, mit seiner Hilfe nicht nur einfache Machtverschiebungen konstatieren zu können, sondern darüber hinaus auch noch den Machttypus bzw. die Allianz von Machttypen zu identifizieren, der oder die gerade die Vorherrschaft innehat bzw. innehaben. Dabei gilt es, nicht nur die individuellen Spielzüge der gesellschaftlichen Figuration festzustellen, die zu einer bestimmten Konstellation geführt haben, sondern auch noch die besonderen Verschiebungen innerhalb der Figuration der Machttypen, die diverse Interessengruppen repräsentieren. Dabei ist auch wieder jeder Machttyp als eigene Unterfiguration zu verstehen, dessen Dynamik wiederum innerhalb der Metafiguration der Machttypen mit den anderen Elementen interagiert.

So lässt sich mit der Identifikation des vorherrschenden Machttyps auch die jeweils tonangebende Gruppe in einer gesamtgesellschaftlichen Figuration herausfinden. Diese Kombination aus dem Eliasschen Figurationsmodell und den Machttypen Michael Manns ergeben dann eine IEMP-Figuration, die die machtdifferenzialen Prozesse jeweils widerspiegelt.

Dabei setzt eine diesbezügliche Untersuchung immer einen Akzent, d. h. ein bestimmter Machttypus wird selektiv fokussiert, was die Ausprägung der jeweiligen Arbeit zwangsläufig bestimmt. Dies führt zur Konzentration auf die durch diesen Machttyp beeinflussten gesellschaftlichen Prozesse, wäh- rend von anderen abgesehen wird. Im Rahmen einer Dissertation ist ohnehin 113 nur eine solcherart akzentuierte Betrachtung zu leisten.

Dies soll im zweiten Teil am Beispiel der Untersuchung der ideologischen Prozesse im Italien der letzten beiden Jahrhunderte auch geschehen.

I.4.2 Die Ebene des Individuums

I.4.2.1. Die Figuration der Persönlichkeit: Die Übertragung der Figurationssoziologie auf das Persönlichkeitsmodell Sigmund Freuds

Die beiden bisher miteinander verbundenen Modelle repräsentieren das Geschehen auf den diversen Ebenen der Gruppe bzw. Figuration bis zur Metafiguration des Nationalstaats. Es konnte gezeigt werden, dass die Figurationen und die aus diesen gebildeten Metafigurationen auf vielfältige Weise miteinander verflochten sind und sich aufgrund der permanenten Dynamik, die innerhalb jeder Figuration herrscht und die zusätzlich zwischen allen Figurationen wirkt, in immer wieder neuen Netzwerken organisieren. Noch unberücksichtigt war dabei die Ebene des Individuums. Bleibt man in den Schienen des vorgelegten Denkmodells, muss sich auf der individuellen Ebene eine ähnliche Konstellation finden lassen, denn es zeugte von logischer Inkonsequenz, stellte man den durch und durch dynamischen Prozessen und Interaktionen der Figurationen ein statisches Individuum entgegen, das sich passiv von diesen Prozessen treiben lässt, ohne seinerseits ebenfalls auf das Figurationsgeschehen Einfluss zu nehmen.

Das Freudsche Modell von Über-Ich, Ich und Es, dessen Dynamik bisher weitgehend übersehen wurde, bietet hier interessante Ansätze. Befreit man es vom Ballast der Trieblehre, wie oben geschehen, wird deutlich, dass im Individuum selbst sich in einer Figuration bewegende Kräfte wirksam sind, die sowohl eine interne als auch eine externe Dynamik aufweisen. Die Komponenten der individuellen Figuration können jedoch niemals isoliert von den Figurationen agieren, mit denen das Individuum verflochten ist. Schon aus diesem Grund weisen sie nur einen geringen Stabilitätsgrad auf. Dennoch versucht ständig jede der Komponenten Über-Ich, Ich und Es, die Oberhand über die beiden anderen zu bekommen und geht zu diesem Zweck sogar Bündnisse ein.

114

Das Es repräsentiert die Bedürfnisse und Reflexe des Individuums, während sich im Über-Ich die Normen der Figuration wiederfinden. Etwas unklar bleibt bei Freud das Ich, dem er praktisch alle Vermittlungsfunktionen zwischen den beiden anderen Komponenten und ebenso zwischen diesen und der Außenwelt zuweist, damit geraten aber Über-Ich und Es in Isolation von der Außenwelt.

Problematisch wäre auch ein Ich, das sich nur aus den Wirkungen zusammensetzte, die Es, Über-Ich und Außenwelt auf es ausüben, das also damit eigentlich keine eigentliche Komponente darstellen würde, sondern zur bloßen Zwischeninstanz verkäme. Wahrscheinlicher ist, dass das Ich einen bislang ausgeklammerten Teil repräsentiert, indem sich eigene Zielsetzungen und immaterielle Wünsche manifestieren, die über die materiellen Bedürfnisse und Reflexe des Es hinausgehen.

Darüber hinaus kann es nicht sein, dass lediglich das Ich mit der Außenwelt - sprich den es umgebenden Figurationen - interagiert, sondern die Kommunikation mit den Individuen der eigenen Figuration - und selbstverständlich auch mit anderen - muss von allen drei Komponenten der individuellen Figuration angenommen werden. Das gleiche gilt für ihre Verflochtenheit mit anderen Figurationen. Da in jedem Individuum diese interne Figuration mit all ihrer Dynamik anzunehmen ist, spielt sich die Interaktion von Individuum mit Individuum gleichermaßen als Interaktion zwischen den Komponenten ab. Kaum einmal wird eine gesamte individuelle Figuration mit der gesamten Figuration eines anderen Individuums interagieren, sondern in der Regel eine Komponente mit einer anderen oder mit einem Bündnis aus zwei Komponenten der inneren Figuration eines anderen Individuums, beispielsweise das Ich der Eltern mit dem Über-Ich des Kindes oder das Ich eines Politikers mit des Es eines potenziellen Wählers.

Es ist also davon auszugehen, dass die Interaktion jeder einzelnen Komponente jeder existierenden individuellen Figuration mit vielen anderen Figurationen verknüpft ist. Wahrscheinlich ist sogar anzunehmen, dass Ich, Über-Ich und Es noch nicht das Ende der Fahnenstange darstellen, sondern in der Zukunft noch kleinere Komponenten entdeckt werden.

Doch schon nach dem gegenwärtig möglichen Erkenntnisstand übersteigt die Vorstellung des gesamten Netzwerkes, das durch die unzähligen 115

Figurationen und Metafigurationen und ihre dynamischen Verflechtungen immer wieder neu konstituiert wird, das Vermögen des menschlichen Gehirns. Nur mithilfe von Modellen ist das gesamte soziale Prozess- geschehen noch einigermaßen fassbar.

In der Praxis heißt das, dass die Freudsche Figurationen, die das Machtgeschehen innerhalb der Persönlichkeit von Individuen abbildet, nur dann sinnvollerweise analysiert werden sollte, wenn ausreichend Daten über das fragliche Individuum zur Verfügung stehen. Dies ist in Bezug auf historische Persönlichkeiten allerdings meist nicht der Fall. Aus diesem Grund wird im folgenden praktischen Teil auf die Darstellung individueller Prozesse verzichtet, um bei der Sichtung historischen Materials nicht allein auf Spekulationen angewiesen zu sein. Es sei dennoch darauf verwiesen, dass die Rolle, die auch hier solche innerfigurativen Prozesse sicherlich etwa bei Mazzini oder Mussolini gespielt haben, nicht unterschätzt wird.

I.4.3 Strukturen der Sprache

I.4.3.1 Das Strukturmodell Ferdinand de Saussures und seine Modifikation bei Jacques Lacan

Bislang stand das Modell der prozessualen Interaktion im Vordergrund, das die Frage behandelt, auf welche Weise die Kommunikation auf den diversen Ebenen der Humanität vor sich geht. Dabei wurde noch nicht berücksichtigt, wie die Formen dieser Kommunikation strukturiert sind. Diese Frage nach der Struktur der Kommunikationsformen ist aber nicht unerheblich für die Dynamik sozialer Prozesse.

Die einzige für Menschen auf Anhieb bewusst wahrnehmbare Kommunikationsform ist die Sprache, wobei das Augenmerk zunächst der gesprochenen und artikulierten menschlichen Sprache gilt. Von anderen Formen wie beispielsweise der Körpersprache muss im Rahmen einer historischen Analyse aus nahe liegenden Gründen leider abgesehen werden.

Diese Struktur wurde von Ferdinand de Saussure in einem Modell dargestellt, das den Zusammenhang von gesprochenem Laut und der diesem zugeordneten Bedeutung als einen willkürlichen postuliert, wobei er das Sprechen der Menschen vom Abstraktum der Sprache ablöst und Letzterer 116 den Vorrang einräumt. Mit Willkür meint Saussure den Umstand, dass es zwischen einem Laut und der ihm zugeordneten Bezeichnung keine einsehbare Beziehung gibt, sondern derselbe Bedeutungsinhalt mit einer Vielzahl von Bezeichnungen belegt werden kann, ein Faktum, das allein schon durch die große Variationsbreite menschlicher Sprachen belegt ist.

Schließlich ist es für die inhaltliche Bedeutung nicht von Belang, ob beispielsweise die Bedeutung eines Tieres mit der Lautfolge »Hund«, »dog«, »chien« oder »cane« verbunden wird. Um mithilfe sinnvoller Ketten in einer Sprache mit anderen Individuen kommunizieren zu können, muss ein Sprecher allerdings die in dieser Sprache festgelegten Kombinationen von Laut und Bedeutung kennen. Denn um Zusammenhänge auszudrücken, bildet der Sprecher Ketten von Laut/Zeichen-Kombinationen.

Die Sprache existiert nach Saussure allerdings unabhängig vom Sprecher, da er sie bei seiner Geburt schon vorfand. Doch ist sie nicht ohne Dynamik, denn sie verändert sich fortwährend durch den permanenten kommuni- katorischen Gebrauch durch die Sprecher. Hier wird klar, dass es sich auch bei der Sprache um einen immerwährenden dynamischen sozialen Prozess handelt. So meint auch Saussure, dass lediglich ein in völliger Isolation befindliches Individuum eine unveränderliche Sprache längere Zeit beibehalten könnte. Ich möchte aber sogar das bestreiten, denn ich bleibe dabei, dass ein sich in einem ewigen dynamischen Prozess befindliches Wesen nichts Statisches hervorbringen kann, wie auch Norbert Elias schon konstatierte:

"Eine Bewegung kann man nur aus einer Bewegung, einen Wandel nur aus einem Wandel erklären" (Elias in: Bartels 1995, S. 34). Selbst ein isoliertes Individuum könnte das dynamische Geschehen in seiner internen Figuration nicht zum Stillstand bringen. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass diese interne Dynamik unter irgendwelchen Umständen außer Kraft gesetzt werden könnte. Saussure muss deshalb angelastet werden, dass er die innere Dynamik der Menschen unterschätzte. Obwohl sein Modell der Sprache sehr zur Erkenntnis von Kommunikationsprozessen beiträgt, verleiht seine Vorstellung des Vorrangs der Sprache vom Spre- chenden und damit vom Sprechen ersterer so etwas wie eine von diesem Sprechenden abgelöste eigene Entität und erhält damit letztendlich eine die menschlichen Individuen transzendierende metaphysische Qualität. Auf einer solchen metaphysischen Entität können aber keine wissenschaftlichen Aussagen basieren. 117

Jacques Lacan holt dann die Sprache auch wieder zurück ins Individuum. Seine Modifikation des Saussureschen Modells verwandelt dieses in ein für alle Menschenwissenschaften nutzbares Instrument. Der Vorrang liegt nun nicht mehr in einer metaphysischen Sprache, deren Wandel in vom sprechenden Individuum abgehobenen Sphären stattfindet. Jener permanente Wandel der Sprache vollzieht sich nun wieder auf der Ebene des Individuums oder vielmehr durch die Verdichtungen und Verdünnungen in den Netzwerken individueller und sozialer Figurationen. Mit Freuds Modell vertraut, war Lacan die Einbeziehung des Psychischen selbst- verständlich und so konnte er der psychischen Dynamik in seinem modifizierten Modell Rechnung tragen.

Dabei ist davon auszugehen, dass es sich auch bei der Sprache nicht um ein starren Gesetzen folgendes System, sondern um eine dynamische Figuration handelt, die freilich nicht von den Sprechern abgekoppelt ist, also nicht eine eigenständige Entität repräsentiert, sondern aus einer Figuration von Sprechern besteht. Auch in Bezug auf die verschiedenen Nationalsprachen ist ein Figurationsgeschehen beobachtbar, bei dem aktuell die englische Sprache eine Vormachtstellung beansprucht. Das sprachliche Figurationsgeschehen ist dabei Teil der oben schon erwähnten ideologischen Figuration. Es gibt schließlich überhaupt keinen logisch nachvollziehbaren Grund, warum die Dynamik an dieser Stelle Halt machen sollte.

Lacans Sprachmodell bildet allerdings insofern die Grundlage für Barthes, als es schon auf die Umdeutungsmöglichkeiten durch innerhalb der Sprachfiguration Macht erlangte Individuen aufmerksam macht. Eine ur- sprüngliche Bedeutung geht häufig durch Umdeutungen verloren, ohne dass die Mehrzahl der Individuen dies überhaupt bemerkt.

I.4.3.2 Strukturen ideologischer Macht: Das strukturalistische Modell Roland Barthes'

Roland Barthes wendet das sprachliche Modell, das von Saussure kreiert und von Lacan von seiner Metaphysik befreit wurde, nun auf gesellschaftliche Prozesse an.

118

Besondere Auswirkungen hat diese in der Sprache latente Dynamik vor allem an den Stellen, an denen sich Macht innerhalb eines Netzwerks verdichtet. Kommen nämlich beispielsweise verschiedene Konstellationen in einem Individuum oder einer Interessengruppe zusammen, kann dieses Individuum bzw. diese Gruppe steuernd in den dynamischen Prozess eingreifen. Hier wird deutlich, dass dieses vielfältige Prozessgeschehen nicht von den handelnden Individuen getrennt existiert, die innerhalb ihres Aktionsradius' über Kontrollmöglichkeiten verfügen.

Auf diese Weise kann auch ein mächtiges Individuum oder eine mächtige Gruppe das Kommunikationsmittel Sprache als Steuerungsinstrument nutzen, und zwar durch eine spezielle Anwendung der Willkür des Zeichens. Roland Barthes wollte mit seiner aus Saussures bzw. Lacans Modell gebildeten Mythostheorie genau darauf hinaus. Dies wird noch deutlicher, wenn man sich noch einmal die für die Mehrzahl der Individuen geltende Latenz ins Gedächtnis ruft. Genau diese Latenz, das Verborgenbleiben der Willkür des Zeichens, ermöglichen seinen Einsatz als Kontrollmedium und seine Funktion zur Erweiterung der ideologischen Macht von Individuen oder Interessengruppen. Die Kreation eines Mythos erfolgt stets im Verborgenen, und zwar, indem der Prozess eines Sprachwandels willkürlich beschleunigt und ein Zeichen umgedeutet wird. Diese Umdeutung bleibt in der Regel dann nicht auf die sprachliche Ebene beschränkt, sondern wird auf andere Ebenen transferiert und wandelt somit auch andere als sprachliche Bedeutungen.

Trotzdem sind diese nirgends so deutlich auszumachen wie gerade in sprachlichen Äußerungen. Doch auch nichtsprachliches Material, z. B. Bilddarstellungen einschließlich Filmen und Fotografien, kann ideologisch genutzt werden, wie es gerade Roland Barthes in den »Mythen des Alltags« deutlich gezeigt hat. Die Wirkungen einer mythischen Struktur lassen sich dann wiederum in einer Machtfiguration nachweisen, deren Prozesse sie wesentlich beeinflussen können. 119

I.5 Handhabung des Instruments

Im praktischen Teil werde ich nun versuchen, das hier konstruierte Instrument einem Anwendungstest zu unterziehen. Dabei muss für jede Analyse mit Hilfe des nach der Einnahme einer ideologischen, öko- nomischen, politischen oder militärischen Perspektive erstellten IEMP- figurativen Modells nach geeigneten Instrumenten gesucht werden, um die gewählte Komponente zu analysieren.

Ich möchte dies mit einer Metapher aus der Fotografie verdeutlichen: Ein Fotograf entdeckt auf einer Aufnahme ein Detail, dass ihn näher interessiert. Um dieses nun gründlicher in Augenschein nehmen zu können, zoomt er den Bildausschnitt, auf dem sich dieses Detail befindet.

Dies ist prinzipiell dasselbe Vorgehen, das nötig ist, wenn man mit IEMP- Figurationen arbeitet. Die IEMP-Figurationen zeigen Gesamtaufnahmen, die dann mit Hilfe weiterer Untersuchungsinstrumente "gezoomt" werden müssen, um ihre Bedeutung für andere Prozesse klären zu können. Hier geschieht dies mittels der Barthesschen Mythosanalyse.

Als Objekt der Anwendung habe ich die Prozesse innerhalb der italienischen IEMP-Figuration gewählt, wobei nationalistische Prozesse "gezoomt" werden. Meiner Ansicht nach gehören diese zu denjenigen, die besonders im Europa der letzten beiden Jahrhunderte zur Verschiebung von Machtdifferenzialen wesentlich beigetragen haben.

Das hier vorgelegte Instrument eignet sich aber selbstverständlich ebenso für die Analyse jeder beliebigen anderen Figuration, ebenso wie selbstverständlich andere machttypologische Fokussierungen möglich und vielleicht auch zusätzlich, d. h. in anderen Arbeiten, wünschenswert sind. 120

II. PRAKTISCHER TEIL

In dem nun folgenden zweiten Teil soll der ideologische Machttypus, der Italien in den beiden letzten Jahrhunderten dominierte, i. e. der Nationa- lismus, in seinen für diese gesellschaftliche Figuration spezifischen kon- stitutiven Prozessen und damit einhergehenden Transformationen mit der Hilfe des im vorangestellten ersten Teil entwickelten Instruments untersucht werden.

Es erscheint für dieses Unterfangen sinnvoll, zunächst einen Blick auf die Chronologie der Ereignisse zu werfen, in die die thematisierten Prozesse eingebettet waren bzw. sind. Dies geschieht hier in Form eines Exkurses, der einen Abriss der jüngeren italienischen Geschichte beinhaltet. 121

II.1. Exkurs: Abriss der italienischen Geschichte

Der folgende Abriss der letzten beiden zweihundert Jahre italienischer Geschichte ist in seiner Funktion als Hintergrund für eine Figurations- und Mythenstrukturanalyse als stark gestraffter Überblick gestaltet. Er basiert auf der einschlägigen Literatur, die im Einzelnen dem Verzeichnis zu entnehmen ist. Auf Zitate wurde für diesen Abschnitt aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichtet. Die Vorgänge um die Mafia sollten in einer gesonderten Arbeit behandelt werden, um ihnen im Detail die nötige Sorgfalt und Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen. Im Rahmen dieser Dissertation ist dies nicht zu bewerkstelligen, sondern ich musste die Anwendung des im Teil I entwickelten Instrumentes auf einen Argu- mentationsstrang begrenzen und habe mich für die Verfolgung der ideologischen Linie entschieden, die von Mazzini zu Berlusconi führt, dies nicht zuletzt auch aus aktuell-politischen Gründen. Besonders gestützt habe ich mich allerdings auf zwei Werke, und zwar für den Teil bis 1946 auf: Brütting, Richard (Hrsg.): Italien-Lexikon; Berlin: Erich Schmidt, 1997 und für den neueren Teil auf: Hausmann, Friederike: Kleine Geschichte Italiens von 1943 bis heute; Berlin: Klaus Wagenbach, 1997. Daneben waren selbstverständlich die im Literaturverzeichnis aufgeführten Werke zur italienischen Geschichte relevant.

Mithilfe des von Brütting (1997) herausgegebenen Italien-Lexikons habe ich auch zu Schlüsselbegriffen der italienischen Geschichte ein Glossar zusammengestellt, das im Anhang dieser Arbeit zu finden ist. Die darin enthaltenen Begriffe sind im Folgenden mit (*) gekennzeichnet.

II.1.1. Von der Invasion Napoleons bis zum Risorgimento

Die in den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts invasorisch durchgeführten Feldzüge Napoleons können als Beginn des Risorgimento angesehen werden. Die von Letzterem in Italien errichtete Hegemonie in Form von Satellitenstaaten entließ zwar diese nicht aus der Fremdherrschaft, aber brachte aus dem Blickwinkel einer politischen Liberalisierung zumindest den Fortschritt einer Verfassung mit sich. Nach dem Wiener Kongress folgte allerdings zunächst die Restauration, die das Rad wieder zurück- drehen sollte, um die vornapoleonischen Zustände wiederherzustellen. Ausschlaggebend war dabei die Vormachtstellung Österreichs, das sowohl 122 die Lombardei und Venetien erhielt, als auch die Toskana und Modena als Sekundogenituren zugesprochen bekam.

Doch ließ sich die napoleonische Epoche nicht ganz ungeschehen machen. Die schon 1807/1808 in Süditalien gegründete Geheimgesellschaft der (*), deren Mitglieder von den Ergebnissen des Wiener Kongresses enttäuscht waren, initiierte 1820/21 einen Aufstand im Königreich beider Sizilien, und auch in Piemont-Sardinien kam es zu einer Revolte. Doch obwohl beide Erhebungen niedergeschlagen wurden, erhöhte sich überall der innenpolitische Druck. Ebenso erging es den Aufstän- dischen 1831 in Modena, Parma und im Kirchenstaat, die genauso von Habsburg niedergeworfen wurden, gefolgt von den reformfeindlichen Enzy- klika Mirori vos des Papstes.

Dennoch ließen sich die republikanischen Gesinnungen nicht ausmerzen, denn noch im selben Jahr gründete Mazzini die Geheimgesellschaft Giovine Italia (*), die ein geeintes Italien mit einer republikanischen Verfassung zum Ziel hatte. Im Jahr 1846 wurden schließlich Reformen im Kirchenstaat, in der Toskana und im Piemont durchgeführt, woraufhin kirchenfreundliche Einigungsbefürworter den Neoguelfismus (*) als Gegenentwurf zu Mazzinis Position entwickelten. Zwei Jahre später, 1848, führte der Aufstand in Palermo zur Einführung einer Verfassung im Königreich beider Sizilien.

Gleiches geschah in der Toskana, als die als Quarantotto (*) in die Geschichte eingegangene revolutionäre Welle sich über ganz Italien ausbreitete. In Piemont-Sardinien wurde in ihrer Folge sogar eine Ver- fassung erlassen, das Statuto Albertino (*), das seine Gültigkeit später auch im geeinten Italien bis 1946 behielt. Selbst dem Kirchenstaat wurde eine Verfassung abgerungen, und nicht einmal in den österreichischen Gebieten blieb es ruhig.

Piemont, zu dieser Zeit der einzige Staat innerhalb desjenigen Territoriums, dem Metternich die Benennung »Italien« lediglich im Sinne eines geo- graphischen Begriffs zugestanden hatte, der von einem italienischen Monar- chen regiert wurde, nahm die sich ihm durch die Ereignisse des Quarantotto, wie die 48er Revolution in Italien genannt wurde, bietende Gelegenheit wahr und schwang sich zur Führungsmacht der national- staatlichen Bewegung auf. Im Bewusstsein der machtexpansorischen Möglichkeiten, die die Einigungsbewegung in sich barg, führte Piemont den 123 ersten Unabhängigkeitskrieg gegen Österreich, der jedoch mit einer Niederlage endete.

Auch im Kirchenstaat und im Königreich beider Sizilien wurden bereits im April und Mai 1848 die gewährten Verfassungen wieder zurückgenommen. Doch schon im November 1848 kam es in Rom erneut zu Unruhen, was den Papst sogar dazu veranlasste, eine Zeitlang ins Exil zu gehen. Diese Flucht nutzten Garibaldi und Mazzini zur Errichtung einer Römischen Republik, die jedoch bereits im Juli 1849 scheiterte. Nach der erneuten Niederlage der Republikaner waren die Jahre 1849 bis 1859 durch politische Repressionen in den meisten italienischen Staaten geprägt; viele Anhänger der Einigungs- bewegung gingen in die Emigration wie auch Garibaldi und Mazzini, über die man in Rom in ihrer Abwesenheit sogar Todesurteile verhängt hatte.

Unter der Regie Cavours, der 1852 Ministerpräsident von Piemont wurde, sollte 1861 die Errichtung eines italienischen Nationalstaats schließlich verwirklicht werden. Durch geschickte diplomatische Verhandlungen mit Frankreich einerseits und unter Ausnützung der Erfolge Garibaldis anderer- seits, dem mit seinem legendären Zug der Tausend (Spedizione dei Mille) (*) 1860 die Eroberung des Königreichs beider Sizilien geglückt war, gelang Cavour (*) die Etablierung eines italienischen Königreichs, des Regno d'Italia (*), dessen Thron Vittorio Emanuele II. im März 1861 bestieg.

Zum Zeitpunkt dieser Thronbesteigung wurde das jetzt auch politische Gebilde »Italien« allerdings von den Anhängern der Einigung noch als unvollständig empfunden, denn Venetien und Rom gehörten ihm noch nicht an. Doch die von Cavour entwickelte Taktik diplomatischer Ränke, wurde nach seinem Tod im Jahr 1861 ebenso von seinen Nachfolgern beherrscht. Man schloss ein Bündnis mit Preußen, was 1866 die Teilnahme am Deutschen Krieg gegen Habsburg mit sich brachte, der aus italienischer Sicht als dritter Unabhängigkeitskrieg (Terza Guerra d'Indipendenza) (*) gewertet wurde. Trotz der Niederlage in diesem Krieg gegen Österreich gelangte Italien noch im selben Jahr in den Besitz Venetiens, der der eigentliche Grund der Kriegsteilnahme gewesen war. Man erhielt es aller- dings auf einem Umweg aus der Hand Napoleons III., an den es Habsburg abgetreten hatte.

Nun fehlte nur noch Rom, das als Hauptstadt des italienischen Staates schon 124 allein aus ideologischen Gründen unverzichtbar schien. Deswegen schritt man sofort zu dessen Besetzung, als die Franzosen im September 1870 aus Rom abzogen. Im Juli des darauffolgenden Jahres wurde es dann letztendlich italienische Hauptstadt, wenn auch gegen den Willen und unter heftigem Protest des Papstes, der sich fortan als »Gefangener im Vatikan« bezeichnete (*).

II.1.2. Vom Risorgimento bis zum Ende des I. Weltkriegs

Auch das von 1861 bis zum März des Jahres 1876 von der »Historischen Rechten« (Destra Storica) (*) regierte Parlament zog nach Rom um. Von 1876 bis 1887 regierte dann die »Historische Linke« unter Depretis, der die parlamentarische Regierungsstrategie des Trasformismo (*) entwickelte, die eigentlich schon von Cavour zur Zeit des Parlaments von Turin entdeckt und als Connubio bezeichnet worden war. Nun wurde auch in Italien die allgemeine Schulpflicht eingeführt, allerdings lediglich für Kinder vom 6. bis zum 9. Lebensjahr.

Die Politik des jungen italienischen Staates war in erster Linie nationalistisch orientiert. So ist die Ära Depretis (*) auch die Zeit des Beginns einer imperialistisch ausgerichteten Eroberungspolitik in Ostafrika, wo Italien in den Besitz der Häfen Assab und Massaua in Eritrea gelangte. Auch die Anfänge der Irredenta-Bewegung (Irredentismo) (*) fallen in diese Periode der italienischen Geschichte.

Der Beitritt zum »Dreibund«, einem 1882 erstmals geschlossenen Bündnis zwischen Österreich, Deutschland und Italien und dessen Erneuerung 1887 diente u. a. auch der Abgrenzung gegenüber Frankreich, dessen Nachbar- schaft nunmehr als leicht bedrohlich empfunden wurde und das hinsichtlich der italienischen Interessen in Afrika Konkurrent war. Denn eine imperialistisch-expansionistische Politik bildete in den Augen der Ober- schicht einen unverzichtbaren Teil eines noch nicht fest etablierten Natio- nalgefühls. So zielte auch die Politik Crispis, der von 1887 bis 1851 und von 1893 bis 1896 das Amt des italienischen Ministerpräsidenten bekleidete, in dieselbe Richtung. Darüber hinaus betrieb er eine rigorose und autoritäre Innenpolitik. Im Zuge der italienischen Expansionspolitik wurde Eritrea 1890 italienische Kolonie. Doch trotz dieses Erfolges kostete diese Politik Crispi letztendlich sein Amt, denn nach der Niederlage von Adua (*) musste 125 er 1896 zurücktreten.

Unter Giolitti (*), der das Amt des Ministerpräsidenten von 1903 bis 1914 inne hatte, wurde dann im Zeichen der fortgeführten Kolonialpolitik 1905 Somalia italienisches Protektorat, und im Verlauf des Krieges gegen die Türkei in den Jahren 1911 und 1912 gelang die Eroberung Libyens und die Besetzung von Rhodos und Dodekanes.

Der Erste Weltkrieg (Prima Guerra Mondiale) (*), in den Italien erst 1915 nach einer Kriegserklärung an Österreich eintrat, nachdem man sich bereits 1902 der Unterzeichnung eines Neutralitätsabkommens mit Frankreich vom Dreibund gelöst hatte, bedeutete für Italien, das am Ende 600.000 Gefallene zu beklagen hatte, ein humanitäres Desaster.

II.1.3. Von der faschistischen Ära bis zum Ende des II. Weltkriegs

Trotz des Erhalts von Südtirol, Julisch-Venetien, Triest und Gebieten in Dalmatien und Istrien nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Saint-Germain, herrschte unter den italienischen Nationalisten ob dieses Ergebnisses Unzufriedenheit: man sprach von der »vittoria mutilata«, vom verstümmelten Sieg. Der fanatische Nationalist Gabriele d'Annunzio, der sich schon lange zuvor als Literat bekannt geworden war, besetzte als Ver- treter dieser Ideologie der »vittoria mutilata« im September 1919 Fiume (Fiome) (*).

Als weitere Erscheinung dieser Radikalisierung des Nationalismus erfolgte im November 1921 die Gründung der faschistischen Partei, des PNF (Partito Nazionale Fascista) (*). Unter der Führung Mussolinis war diese Partei aufgrund ihres brutalen Vorgehens gegen politisch Andersgesinnte gekennzeichnet - wie schon ihre die Fasci di Combattimento (*), die Kampfbünde, aus denen der PNF hervorgegangen war. Letztere pflegten unter ihren lokalen Führern, den Ras (*), mittels der Squadre d'Azione (*) vor allem sozialistische Versammlungen zu sprengen, indem sie die Teilnehmer rücksichtslos niederprügelten, was zu vielen Toten und Verletz- ten führte. Diese Strategie des Niedertrampelns aller politischen Gegner gipfelte im Oktober 1922 im faschistischen »Marsch auf Rom«, woraufhin Vittorio Emanuele III. Mussolini nach dem Rücktritt Luigi Factas am 31.10.1922 zum Regierungschef mit Sondervollmachten ernannte. 126

Die erste Krise im neuen Parlament unter faschistischer Herrschaft, in dem der PNF nun über eine Mehrheit verfügte, wurde durch die Ermordung des Sozialisten Giacomo Matteotti (*) ausgelöst. Aus Protest zogen daraufhin die meisten nicht-faschistischen Abgeordneten auf den Aventin (*). Doch Mussolini überstand diese Krise durch eine Strategie, die aus einer Kombi- nation von Beschwichtigung seiner Kritiker und teilweise unverhüllten Drohungen bestand. Um Krisen dieser Art künftig wirksamer begegnen zu können, verschärfte Mussolini seine repressiven Maßnahmen in der Folgezeit noch und baute seine Vollmachten weiter aus. Darüber hinaus schuf er Ausnahmegesetze und verwandelte Italien in einen diktatorischen Einparteienstaat. Diesen Maßnahmen in den Jahren 1925 und 1926 fügte er noch die Wiedereinführung der Todesstrafe und die Aufhebung der Tarifautonomie hinzu. Die hierauf einsetzende antifaschistische Emigration befreite ihn zudem von einer größeren Zahl seiner Gegner. Mit dem Entzug der Mandate der oppositionellen Abgeordneten beseitigte er dann im November 1926 den allerletzten Zweifel an seiner Demokratiefeindlichkeit (*).

Die Politik des Imperialismus dagegen wurde von Mussolini konsequent weitergeführt, was er durch die Umwandlung Albaniens in ein italienisches Protektorat unterstrich (*).

Mit der skrupellosen Etablierung seiner Macht leitete Mussolini in den Jahren 1927 bis 1929 eine Art Konsolidierungspolitik ein, indem er versuchte, Kontakte zu den alten Eliten herzustellen, während er das rigorose Vorgehen gegenüber Oppositionellen beibehielt, was sich erneut im Juni 1928 zeigte, als Antonio Gramsci und andere kommunistische Führer zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt wurden. Im darauffolgenden Jahr begann Mussolini mit einer Annäherung an die katholische Kirche und erreichte die Unterzeichnung der Lateranverträge am 11.2.1929. Er erkannte den Vatikan als Staat an und machte weitgehende Zugeständnisse, nicht zuletzt finanzieller Art, an die Kirche (*). Darüber hinaus wurde der Katho- lizismus Staatsreligion, der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen zugesagt und die kirchliche Eheschließung bekam auch zivile Gültigkeit.

Um sich Anerkennung besonders in Unternehmerkreisen zu verschaffen, leitete Mussolini in den 30er Jahren Maßnahmen zur Begegnung der Weltwirtschaftskrise ein. Die Konsolidierung seiner Position innerhalb 127

Italiens versuchte er nach außen hin nicht etwa dadurch zu untermauern, dass er zur Stabilisierung des italienischen Staates eine Friedenspolitik anstrebte, sondern er blieb im Gegenteil konsequent bei seiner seit Beginn seiner Machtübernahme verfolgten aggressiven Eroberungspolitik.

Im Oktober 1925 überfiel das faschistische Regime Abessinien, und ohne sich nur im Mindesten um die daraufhin vom Völkerbund verhängten Sanktionen zu kümmern, die ohnehin kaum eingehalten wurden, gelang es unter Mithilfe Hitlers im Mai 1936, dieses Gebiet zu annektieren. Vittorio Emanuele III. wurde zum »Kaiser von Abessinien« ausgerufen.

Noch im selben Jahr gelang es Mussolini, seinen Schwiegersohn, den Grafen Galeazzo Ciano, als Außenminister zu installieren. Außerdem versprach er sich weiteren Nutzen von der Kooperation mit dem inzwischen ebenfalls unter faschistischer Herrschaft stehenden Deutschland, nachdem er in der Abessinienfrage die Vorteile einer solchen Verbindung kennen gelernt hatte. Unterstrichen wurde seine Unterstützung für gleichgesinnte Regime auch durch die Teilnahme italienischer Kontingente am spanischen Bürgerkrieg, in dem antifaschistische italienische Emigranten auf der anderen Seite kämpften.

Durch diese neuen Allianzen gestärkt, trat Italien 1937 aus dem Völkerbund aus, der den faschistisch regierten Staaten ohnehin nicht günstig gesonnen war. Stattdessen bemühte sich Mussolini weiterhin eifrig um die Sympathien des nationalsozialistischen Deutschland, was er beispielsweise 1938 durch die Schaffung von Rassengesetzen demonstrierte.

Doch auch innenpolitisch setzte Mussolini seine diktatorische Politik durch, wie es 1939 die Bildung der Kammer der Fasci und der Korporationen belegte, die nach der Auflösung der Abgeordnetenkammer diese ersetzte. Diese absolute Macht unterstrich Mussolini auch nach außen, als er im April 1939 Albanien überfiel und okkupierte.

Um seine noch für die Zukunft geplanten Eroberungen außenpolitisch vorzubereiten, schmiedete er das Band mit Hitler im Mai desselben Jahres durch Unterzeichnung des »Stahlpaktes« (Patto d'Acciaio) noch enger (*). Die Folgen dieser unheiligen Allianz ließen nicht lange auf sich warten. Obwohl sich Italien während des deutschen Überfalls auf Polen 1939 noch abwartend verhielt, erfolgte bereits im Juni 1940 die Kriegserklärung an 128

Frankreich und Großbritannien, also der Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg, wobei zunächst "nur" seine Interessen auf dem Balkan und in Nordafrika die vordergründigen Ziele waren.

Eine weitere Konsolidierung der Faschisten brachte Italiens Einbindung in den Dreimächtepakt mit Japan und Deutschland am 27.9.1940 mit sich. Mit diesem Bündnis im Rücken, unternahm das italienische faschistische Regime im September 1940 einen Überfall auf Ägypten und im Oktober des Jahres auf Griechenland. Doch schon Letzterer brachte eine italienische Niederlage mit sich. In den folgenden Jahren reihte sich dann eine militärische Niederlage an die andere, denn Mussolinis fanatische Erobe- rungswut, gepaart mit seiner Furcht, gegenüber dem deutschen Bündnis- partner ins Hintertreffen zu geraten oder sogar die Stellung Italiens als Gründungsmacht des Stahlpaktes gegenüber den Satellitenstaaten des nationalsozialistischen Regimes einzubüßen, ließ ihn die logistischen und personellen Kapazitäten des italienischen Heeres ein ums andere Mal über- schätzen.

Am krassesten schlug dann 1942 die Teilnahme italienischer Truppenkontingente am Russlandfeldzug - abgekürzt ARMIR - zu Buche (*). Auch Mussolinis eigene Übernahme des Außenministeriums anstelle seines Schwiegersohns Ciano am 6.2.1943 konnte den bevorstehenden Zu- sammenbruch des faschistischen Regimes nicht mehr abwenden. Nach der Kapitulation der deutschen und italienischen Truppen in Nordafrika, bei der fast 120.000 italienische Soldaten in Gefangenschaft gerieten, und der Lan- dung der Alliierten in Sizilien wurde Mussolini schließlich durch den fa- schistischen Großrat entmachtet und auf Befehl Vittorio Emanueles III. verhaftet. Sein Nachfolger Pietro Badoglio schloss wenig später einen geheimen Waffenstillstand mit den Alliierten, die am 3.9.1943 auch auf dem italienischen Festland gelandet waren, und besiegelte damit das Ende des faschistischen Regimes. Doch die Nationalsozialisten waren noch weit davon entfernt, diese Vorgänge auf sich beruhen zu lassen und besetzten Nord- und Mittelitalien.

Dies war möglich, weil sich die Alliierten bis dahin lediglich in Süditalien festgesetzt hatten. Außerdem wurde Mussolini von den Deutschen befreit und fungierte als Oberhaupt der Repubblica Sociale Italiana, der sogenannten Republik von Salò (*), war aber faktisch nur noch eine Ma- rionette, an deren Fäden die Nationalsozialisten zogen, was sich auch in der 129 weitgehend nationalsozialistischen Verfassung dieses neu konstruierten Gebildes ablesen lässt.

Trotz seiner Kriegserklärung an Deutschland am 13.10.1943 und der Anerkennung durch die UdSSR, stieß Badoglio, der in Rom mittlerweile die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, bei dem im September gegrün- deten Befreiungskomitee, dem Comitato di Liberazione Nazionale (CLN) (*) auf Ablehnung, denn man hatte erstens seine Zugehörigkeit zum faschi- stischen Lager noch gut in Erinnerung und schätzte zweitens seinen re- staurativen politischen Kurs gegenüber den Antifaschisten nicht. Nach der Landung alliierter Truppen mithilfe der Mafia und deren Einnahme Roms im Juni 1944 wurde deshalb Ivanoe Bonomi neuer Ministerpräsident an der Spitze einer breiten Koalitionsregierung. Im Juni desselben Jahres erfolgte die Gründung der Resistenza, die den Kampf gegen die Allianz aus der faschistischen RSI und deutschen Truppen aufnahm, was im April in Ko- operation mit den Alliierten auch aus Gründen des allgemeinen Niedergangs des nationalsozialistischen Regimes zum Erfolg führte. Noch im selben Mo- nat fiel Mussolini in die Hände italienischer Partisanen und wurde von ihnen hingerichtet.

II.1.4. Die Erste Republik

Die antifaschistischen Kräfte, die unter Ferruccio Parri von Juni bis September 1945 eine Koalitionsregierung gebildet hatten, wurden bald schon wieder von den Konservativen dominiert. Denn schon Ende des Jahres trat Alcide de Gasperi an die Spitze der neuen katholisch orientierten Democrazia Cristiana und fungierte als Ministerpräsident von acht Regie- rungen der frischgebackenen italienischen Ersten Republik, nachdem das Königtum (*) am 2.6.1946 in einem Referendum, das gleichzeitig mit der Wahl zur Costituente, der neuen Verfassung, abgehalten worden war, mit knapper Stimmenmehrheit abgewählt wurde.

Die Abdankung des in die Machenschaften der Faschisten verstrickten Vittorio Emanuele III. zugunsten seines Sohnes Umberto II. hatte nicht ausgereicht, um das in Misskredit geratene Herrscherhaus zu rehabilitieren. So wurde am 18.6.1946 die Republik Italien ausgerufen.

Die parlamentarische Vergangenheit Italiens holte die neue Republik jedoch 130 rasch ein. Statt einer democrazia etablierte sich eine partitocrazia, deren Protagonisten sich wesentlich einer Strategie bedienten, die sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte des italienischen Parlaments zieht, nämlich der Strategie des trasformismo, die das erste Mal bereits von Cavour angewandt worden und unter dem Begriff connubio in die Geschichte eingegangen war.

Im Parlament waren ab 1946 gegenüber der vorfaschistischen Zeit kaum neue Programme zu finden, wenn auch einige Parteien neue Namen erhalten hatten und die Kirche ihre Nichteinmischung zugunsten vehementer poli- tischer Einflussnahme aufgab. Wesentlich repräsentiert wurden ihre Interes- sen von der Democrazia Cristiana (DC), die aus dem 1919 von dem Priester Don Luigi Sturzo begründeten Partito Popolare Italiano hervorgegangen war. Ihren schärfsten Gegner fand sie im Partito Comunista Italiano (PCI), der sich 1921 in Livorno formiert hatte und der in seinen Anfangsjahren seine herausragendsten Figuren in der ambivalenten Persönlichkeit Palmiro Togliattis (*) und dem 1937 an den Folgen faschistischer Gefangenschaft verstorbenen Antonio Gramsci fand.

Zwischen diesen beiden Polen, dem christlich-konservativen und dem kommunistischen, anzusiedeln war der PSI, der Partito Socialista Italiano, dessen Generalsekretär ab 1943 Pietro Nenni (*) war. Der PSI strebte von Beginn an danach, sich vom PCI abzugrenzen und verschrieb sich prag- matischen Strategien, d. h. zum Zwecke der Einflussgewinnung näherte man sich der DC.

Darüber hinaus bildeten sich italienischer parlamentarischer Tradition entsprechend bereits früh correnti (*), die die Strategie des trasformismo ermöglichen sollten. Diese Politik führte 1947 zu mehreren Abspaltungen, beispielsweise einer rechten, die sich unter dem Namen Partito Socialdemocratico Italiano (PSDI) formierte, aber kaum je Wahlerfolge erzielte und nur sehr wenige Abgeordnete ins Parlament schicken konnte. Der PSDI ist den kleinen Parteien des fronte laico zuzuordnen, deren Vertreter nur aufgrund einer fehlenden Prozenthürde den Weg ins Parlament finden konnten.

Die kleinen Parteien, die unter dem Begriff fronte laico subsumiert wurden, setzten sich aus den laizistischen Parteien des vorfaschistischen Italien mit Ausnahme der Faschisten und Linksextremen zusammen und traten nach 131 wie vor für eine strikte Trennung von Kirche und Staat ein. Sie wurden zwar vom PSI im Parlament geführt, traten aber auch häufig als Koalitionspartner der DC auf. Unter ihnen befand sich auch der Partito Liberale Italiano (PLI), der seit dem Zweiten Weltkrieg einen starken Profilverlust erlitten hatte und noch ganz in der Tradition Cavours stand. Seine einzige bemerkenswerte Figur in der Ära der Ersten Republik war Luigi Einaudi, der von 1945 bis 1947 das Amt des Präsidenten der Banca d'Italia bekleidet hatte, danach Budgetminister wurde und von 1948 bis 1955 italienischer Staatspräsident war.

Zum fronte laico zu rechnen ist auch der Partito Repubblicano Italiano, der PRI, der aus dem rechten Flügel des Resistenzabündnisses Partito d'Azione hervorgegangen war, was hieß, dass er sich zwar antifaschistisch orientierte, aber das Sozialprogramm des Partito d'Azione fallen gelassen hatte. Weiter wurden dem Parteienspektrum des fronte laico noch einige kleinere Splittergruppen zugerechnet, die aber während der gesamten Dauer der Ersten Republik politisch unauffällig blieben und kaum je einen Stimmen- anteil von mehr als 2% verbuchen konnten.

Weniger unauffällig und auf keinen Fall antifaschistisch war stets der Movimento Sociale Italiano (MSI), der sich bereits hinsichtlich der Namensgebung auf die Verfassung der Republik von Salò berief und sich so eindeutig zur faschistischen Tradition bekannte. Als zukunftsweisend sollte sich 1951 diesbezüglich leider die Inkonsequenz bei der Anwendung des legge Scelba herausstellen, das faschistische Nachfolgeparteien verbot, aber niemals auf den MSI angewendet wurde. Der MSI schloss sich 1968 mit den in der Destra Nazionale (DN) formierten Monarchisten zusammen.

Zu erwähnen wäre lediglich noch der etwas schrille und nicht aufgrund eines fixierten Programmes, sondern eher spontan agierende Partito Radicale (PR), der sich 1954 als Ein-Mann-Partei um Marco Pannella be- gründete. In den 80er Jahren entstanden dann das Linksbündnis der Democrazia Proletaria und die Verdi (die Grünen), die immerhin inzwi- schen einen römischen Bürgermeister stellten.

Die Politik des Parlaments der Ersten Republik stand von Beginn an unter dem Einfluss der USA - was sich bereits 1947 deutlich zeigte - als der nach der Wahl 1946, aus der als stärkste Partei die DC hervorgegangen war, mit dieser in einer Koalition befindliche PSI aus der Regierung ausgeschlossen 132 wurde, und zwar direkt im Anschluss an die USA-Reise des Minister- präsidenten De Gasperi. Es ging das Gerücht um, dass die USA dies im Zuge der Truman-Doktrin zur Bedingung für das Inkrafttreten des von der nach dem Krieg schwer darniederliegenden italienischen Wirtschaft drin- gend benötigten Marshall-Plans gemacht hatten.

Die Orientierung nach rechts wurde zusätzlich noch von einer weiteren Kraft forciert, und zwar von der katholischen Kirche. Bemerkbar machte sich dies auch im Gewerkschaftswesen. Bereits während der Resistenza war die Einheitsgewerkschaft CGIL, die Confederazione Generale Italiana del Lavoro, gegründet worden. Doch schon bald nach dieser Gründung kam es zu einer Konkurrenzorganisation, hinter der die katholische Kirche stand, die sich Azione Cattolica dei Lavoratori nannte und sich später mit einer weiteren Absplitterung von der CGIL zur Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori (CISL) zusammenschloss.

Doch auch auf dem linken Flügel musste die CGIL Federn lassen, denn dort spaltete sich die sozialistische Gewerkschaft Unione Italiana del Lavoro (UIL) ab. Die Gewerkschaften im Allgemeinen sollten sich aber im Verlauf der Ersten Republik zu einem einflussreichen Machtfaktor mausern.

Das erste Jahrzehnt der Ersten Republik war im Parlament geprägt von De Gasperis Ziel des centrismo (*), der darin bestand, dass er so viel Macht wie möglich in der Regierungspartei konzentrieren wollte. Höhepunkt seiner diesbezüglichen Politik war das Gesetz, das er 1953 einzuführen versuchte. Dieses ging als legge truffa (*) (betrügerisches Gesetz) in die italienische Geschichte ein und besagt, dass die Partei mit der absoluten Mehrheit auto- matisch zwei Drittel der Parlamentssitze zugesprochen bekommen sollte. Nach einer Wahlniederlage De Gasperis musste dieses Gesetz jedoch zurückgenommen werden.

Es bedarf kaum der Erwähnung, dass De Gasperi selbstverständlich die Strategie des trasformismo hervorragend beherrschte und die vor allem innerhalb der DC und des PSI entstandenen correnti in diesem Sinne zu nutzen verstand, während ihm der PRI und der PLI, die er an der Regierung beteiligte, wesentlich als Mehrheitsbeschaffer dienten. Was sein politisches Programm anging, so bestand es neben der völligen Ausrichtung auf die USA wesentlich aus meist niemals eingelösten Versprechungen großer Reformprogramme. Verwirklicht wurden lediglich die 1950 erfolgte Grün- 133 dung der Cassa per il Mezzogiorno, die jedoch hauptsächlich durch für die DC im Süden erhoffte Stimmengewinne motiviert war und die erst 1962 eingeführte Pflichtmittelschule, die angesichts des in Italien immer noch gravierenden Analphabetismus-Problems eigentlich unverständlich spät kam.

Die italienische Wirtschaft sah sich in den ersten Nachkriegsjahren im Prinzip mit noch größeren Problemen konfrontiert als der ehemalige Stahlpaktpartner Deutschland. Denn obwohl im Krieg nur 10% der Industrie des italienischen Nordens zerstört worden waren, verfügte das Land über so gut wie keine Rohstoffe und blieb zunächst schon aus diesem Grund von den Alliierten extrem abhängig. Auch die Landwirtschaft befand sich in katastrophalem Zustand, denn sie produzierte nur noch 65% gegenüber dem Vorkriegsstand. Die Folge hiervon war, dass sich vor allem im industrialisierten Norden ein rigoroser, am amerikanischen Vorbild bedingungslos orientierter, Wirtschaftsliberalismus durchsetzte, dem erst in den später erstarkenden Gewerkschaften ein Gegengewicht erwuchs.

Doch allmählich wendete sich das Blatt für die (nord)italienische Wirt- schaft. Die Textilindustrie boomte geradezu und auch in der Automobil- industrie stellten sich bemerkenswerte Erfolge ein. Das von FIAT produ- zierte Modell 500, in Italien Topolino (Mäuschen) genannt, wurde zum Symbol des italienischen "Wirtschaftswunders".

Aus dem Bereich der Politik der Linken gab es dagegen weniger Positives zu vermelden, was nicht nur an der Ausgrenzung seitens der Rechten lag, sondern auch an der Unfähigkeit, sich im linken Lager auf gemeinsame Programmpunkte zu einigen. Der Ungarnaufstand markierte in den 50er Jahren schließlich den Scheidepunkt zwischen PSI und PCI. Denn während Ersterer Partei für die rebellierenden Ungarn ergriff, rechtfertigte der PCI die Invasion der Sowjetunion. Diese lieferte dann dem PSI die Begründung von der endgültigen Ablösung vom PCI. Und immer wieder wurde deutlich, dass der Faschismus in Italien keinesfalls begraben worden war. Dies zeigte sich auch während der soge- nannten Tambroni-Krise im Mai 1960, benannt nach Fernando Tambroni, einem ehemaligen Angehörigen der faschistischen Miliz und Mitglied des linken Flügels der DC, der seit 1958 einer DC-Minderheitsregierung vorstand.

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Ausgelöst wurde die Krise durch die Ankündigung des MSI, er wolle einen Parteitag in Genua, einer Hochburg des Antifaschismus, abhalten. Diese Ankündigung wurde als Provokation verstanden, wie es vom MSI wohl auch intendiert worden war, löste in Genua umgehend heftige Proteste aus und brachte etwa 100.000 Demonstranten auf die Straße, an deren Spitze der damalige Präsident des Kassationsgerichtshofes Domenico Peretti Griva marschierte. Das Eingreifen der Polizei, das wesentlich in Angriffen auf die bis dahin völlig friedlichen Demonstranten bestand, führte zu blutigen Kämpfen und zu Generalstreiks in Genua, Mailand und anderen Städten Oberitaliens. Die Faschisten mussten schließlich klein beigeben, auf Genua als Veranstaltungsort verzichten und auch Tambroni konnte sich nun nicht mehr als Regierungschef halten.

Es folgte die erste Mitte-Links-Regierung Aldo Moros, die zwar nach einem halben Jahr über das Schulgesetz stolperte und dabei zu Fall kam, der aber dann bis 1968 zwei weitere Mitte-Links-Regierungen unter Aldo Moro folgten. Ein Intermezzo bildete das Hin und Her diverser DC-Minderheits- regierungen und wechselnder Koalitionen.

Eine heftigere Erschütterung erfuhr die DC durch den sogenannten De Lorenzo-Putschplan im Jahr 1964. Der nach klassischem Muster inszenierte Putsch, der durch Journalisten des Magazins L'Espresso frühzeitig aufgedeckt wurde, führte zur Verhaftung namhafter Politiker, Gewerkschaftler und Journalisten. Eine eigens eingerichtete Untersuchungs- kommission enthüllte nicht nur Kontakte der von dem Carabinieri-General Giovanni De Lorenzo angeführten Putschwilligen zu hochrangigen DC- Mitgliedern, darunter übrigens auch Aldo Moro, sondern auch zum amtierenden Staatspräsidenten Segni, ebenfalls DC. Die Putschgerüchte waren aufgekommen, als das Problem staatlicher Finanzierung von Privatschulen zum Stolperstein für die erste Mitte-Links-Regierung Moros geworden war. Sie schienen offenbar von solch bedrohlicher Natur zu sein, dass sich einige Gewerkschaftler und linke Politiker kaum noch aus dem Haus trauten. Doch auch nach der Aufdeckung des Putschplanes war die Furcht der PSI-Abgeordneten vor einem Umsturz von rechts noch so groß, dass sie in eine zweite Regierung unter Moro einwilligten, ohne auf vorheriger Programmabsprache zu bestehen.

Jedoch nicht nur von rechter Seite kam Bewegung in die italienische Politik. Auch in Italien oder eigentlich sogar besonders in Italien brachte die 135 linksgerichtete Studentenbewegung in den sechziger Jahren einige Steine ins Rollen. Neben den internationalen Themen, die auch die Studen- tenbewegungen in anderen europäischen Ländern aufgegriffen hatten, wie z. B. der Vietnamkrieg oder die Ermordung Che Guevaras, kamen spezifisch italienische Programmpunkte hinzu. Denn die jungen Leute hatten nicht nur die Machenschaften der partitocrazia (*) satt, sondern sie verstanden sich auch als Verteidiger des Erbes der Resistenza.

Mit diesem Verständnis hatten sie bereits an den Demonstrationen anlässlich der Tambroni-Krise teilgenommen und die Angriffe faschisti- scher Schlägertrupps auf Universitäten, die bereits 1966 in Rom in der Ermordung des Studenten Paolo Rossi durch einen solchen Trupp unter der Führung Stefano delle Chiaies, eines Protagonisten des Schwarzen Terrors, gipfelten, verstärkten noch den Eindruck, dass die Verteidigung dieser Werte auch wirklich nötig war. Paolo Rossis Tod führte auch zur ersten Besetzung einer italienischen Universität (*).

Doch nicht nur den Antifaschismus hatten sich die italienischen Studenten auf die Fahne geschrieben. Darüber hinaus thematisierten sie auch die Frage der Ausbeutung der Arbeiterschaft in den wachsenden Industrien des Nordens. Bereits 1960 waren um Raniero Panzieri und Mario Tronti die sogenannten Quaderni Rossi in der Auseinandersetzung mit dem PSI und dem PCI entstanden, die sich dann als operaismo zur wichtigsten Strömung der italienischen Studentenbewegung entwickelte. Seine Zentren waren die Universitätsstädte des Nordens, und zwar insbesondere Rom, Mailand, Pisa, Padua, Venedig, Turin und nicht zuletzt Trient.

Dort wurde auch eine heftige Kritik am Katholizismus formuliert, die interessanterweise besonders an der Katholischen Universität Mailand Gehör fand, die dann auch im November 1967 besetzt wurde. Der Süden blieb jedoch von all diesen Dingen weitgehend unberührt, was sicherlich nicht zuletzt seinen konservativen und vorwiegend agrarischen Strukturen sowie den sich nur wenig entwickelnden Bildungsinstitutionen und damit einem nach wie vor insgesamt niedrigen Bildungsgrad besonders der Land- arbeiterschaft geschuldet ist.

Im Norden dagegen verbündeten sich die Studenten mit den Akteuren der Arbeiterbewegung. Letztere war bereits im Jahr 1962 deutlich in Erscheinung getreten, als die Arbeiter in Turin vor dem Sitz der UIL gegen 136 deren allzu schnelles Nachgeben gegenüber den Arbeitgebern demon- strierten, was zu mehrere Tage andauernden Auseinandersetzungen mit der Polizei führte. Auf der anderen Seite war bereits 1966 an der Universität Pisa die Organisation Potere Operaio gegründet worden und schon 1968 wurden die Arbeiter von Studenten bei ihrem Kampf gegen Ausbeutung unterstützt, indem sie beispielsweise als Streikposten fungierten. Dafür nahmen auch Arbeiter an Protestaktionen teil, die sich gegen repressive Polizeimaßnahmen oder Verhaftungen von Studenten richteten.

Auf Studenten- und Arbeitervollversammlungen wurden Streiks und Demonstrationen organisiert. Diese Einigkeit färbte schließlich auch auf die Arbeit der Gewerkschaften ab, die im November 1968 einen von allen drei Gewerkschaften getragenen Generalstreik im Kampf gegen die Ver- schleppung der Rentenreform und gegen die gabbie salari, die Lohnzonen, die vorgeblich die Industrialisierung des Südens fördern sollten, aber in der Praxis wesentlich einer verschärften Ausbeutung der Arbeiter dienten.

Den Höhepunkt des Kampfes der italienischen Industriearbeiter bildete schließlich der sogenannte "heiße Herbst" (autunno caldo) des Jahres 1969, in dem in über drei Millionen Streikstunden bis 1970 Lohnerhöhungen von 18,3%, die Vierzigstundenwoche und der Abbau von Lohngruppen erreicht wurde. Darüber hinaus wurden in einem statuto dei lavoratori (*), einem Arbeiterstatut, die politischen Rechte der Gewerkschaften festgelegt, wie es schon in den fünfziger Jahren vom damaligen CGIL-Führer Di Vittorio gefordert worden war. Neben einem weitgehenden Kündigungsschutz bot es außerdem Sicherheit für die Aktivitäten der Gewerkschaftsmitglieder in den Betrieben. Auf Betreiben der Mitglieder schlossen sich darüber hinaus die drei großen Gewerkschaften zu einem Verband zusammen, was eine effek- tivere Koordination ihrer Tätigkeit erlaubte.

1969 war aber auch das Jahr, in dem der Schwarze Terror mit seinen Bombenanschlägen begann. Der erste Anschlag wurde am 25. April 1969, dem Jahrestag der Befreiung, auf der Fiera campionaria, verübt und bereits der zweite am 12. Dezember, der die Piazza Fontana vor der Banca dell'Agricoltura in Mailand zum Ziel hatte, forderte sechzehn Menschenleben. Die Polizei war zunächst bei ihren Ermittlungen konsequent auf dem rechten Auge blind und konzentrierte sich nur auf linke Kreise, was schließlich zu dem seltsamen Tod des Eisenbahners Giuseppe Pinelli führte, der durch einen Sturz aus dem Fenster des vierten Stocks des 137

Polizeipräsidiums während eines Verhörs ums Leben kam. Dies wurde von dem Kommissar, der das Verhör geleitet hatte, nämlich Luigi Calabresi, zunächst als Selbstmord dargestellt und als Schuldeingeständnis gewertet. Doch eine Gruppe beherzter Journalisten, angeführt von Camilla Caderna, ging der Sache nach, hierin kräftig unterstützt von der Gruppe Lotta Continua (*), die aus dem Potere Operaio (*) hervorgegangen war, und konnte diverse Ungereimtheiten nachweisen. Die Ermordung Calabresis am 17. Mai 1972 bestätigte die Auffassung der Journalisten, die schon zuvor Indizien gefunden hatten, die auf eine Inszenierung der Attentate seitens der rechten Szene hindeuteten.

Offenbar meinten faschistische Kreise, den Erfolgen der Arbeiter- und Studentenbewegung nunmehr entgegenwirken zu müssen, denn 1970 kursierte nach der Aufdeckung des Borghese-Putschplans die These vom strage di Stato, die besagte, es gäbe eine Komplott des Staates, das mithilfe faschistischer Akteure das politische Rad nun wieder mehr nach rechts drehen sollte. Dieser Putschversuch ging auf den als "Schwarzer Fürst" bekannten Junio Valerio Borghese (*) und seine Anhänger zurück, der im Zweiten Weltkrieg die sogenannte »zehnte Mas«, eine Torpedoschnell- bootabteilung befehligt und zur Zeit der Republik von Salò Jagd auf Parti- sanen gemacht hatte und der 1949 aufgrund eines Dekrets der DC, das die Entfaschisierung beendete, bereits freigelassen worden war, obwohl ihm zahlreiche Morde zur Last gelegt wurden. Der Putschplan flog durch die Entdeckung eines Waffendiebstahls aus dem Innenministerium im De- zember 1970 auf.

Vorläufig war die Mehrzahl der Italiener offensichtlich noch nicht bereit, sich das Erkämpfte wieder nehmen zu lassen. Im Gegenteil, man erreichte endlich die Einführung eines zivilen Ehescheidungsgesetzes und erteilte der DC bei der Wahl 1972 eine deutliche Lektion. Denn sowohl der PCI als auch der PSI konnten einen Stimmenanteil von 36,8% verbuchen, während die DC es gegenüber der einst bequemen Mehrheit von 48,5% im Jahre 1948 es jetzt nur noch auf magere 38,7% brachte. Man fürchtete nun im rechten Lager die alternativa di sinistra (*), einen Zusammenschluss von PSI und PCI und war versucht, sich noch stärker an ultrarechte, sprich faschistische und faschistoide Gruppierungen, anzunähern, was als alternativa di destra bezeichnet wurde. Doch viele DC-Mitglieder schreck- ten im damaligen politischen Klima des Landes noch vor einem solchen Schritt zurück und schlugen statt dessen eine weitere Öffnung nach links 138 vor.

Möglich wurde der nun einsetzende, aber noch sehr harmlose Flirt mit dem PCI durch dessen Wahl Enrico Berlinguers zum neuen Generalsekretär. Denn dieser kündigte eine opposizione diversa gegenüber dem mittlerweile (1973) wieder regierenden Mitte-Links-Bündnis an, die vor allem morbida (weich) sein sollte. Als Gegenleistung sollte die Regierung sich zum Beschützer von Kleinstverdienern machen und ein Arbeitsbeschaffungs- programm für den Süden ins Leben rufen. Auch in der Außenpolitik war Berlinguer (*) zu einer programmatischen Abkehr vom Antiamerikanismus bereit. Sein Ziel, die Erreichung einer Regierungsbeteiligung, wurde im September 1973 deutlich, als er einen compromesso storico (*), einen historischen Kompromiss vorschlug, eine repubblica conciliare, eine Repu- blik der Versöhnung.

Moro reagierte auf diese Anbiederungsversuche mit einer sogenannten »Strategie der Aufmerksamkeit«. Dieser Schmusekurs der DC gegenüber dem PCI fand jedoch nach der Entführung und Ermordung Aldo Moros (*) im Mai 1978 ein Ende.

Nach dem Sindona-Skandal (*), in den sowohl die Vatikanbank als auch die Mafia verwickelt waren und dessen Aufdeckung Geldwäsche und Waffen- handelsbeteiligungen in Milliardenhöhe zu Tage förderte, trat der PCI 1974 bei den Regionalwahlen mit dem Slogan an: Siamo il partito delle mani pulite. Wie sauber ihre Hände wirklich waren, sollte sich erst viele Jahre später herausstellen. Im Lichte des Tangentopoli-Skandals, der das Ende der Ersten Republik bedeutete, gibt die Unfähigkeit oder vielleicht auch Unwilligkeit des PCI, aus seinen Wahlerfolgen Kapital zu schlagen, Über- legungen Raum, welche Motive sich wohl hinter dieser passiven Strategie wirklich verborgen hatten.

Die Folgen des allgemeinen Rechtsrucks, der seitdem das politische Ge- schehen Italiens kennzeichnet, reichen deutlich sichtbar bis in die Gegenwart des neuen Jahrtausends.

In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wurde durch eine hohe Inflations- rate und steigende Arbeitslosenzahlen die Situation besonders für die Gewerkschaften schwierig. Doch zunächst gelang die Erhaltung des Real- lohnniveaus und die Abwendung von Massenentlassungen. Auch die scala 139 mobile (*), eine Errungenschaft des heißen Herbstes, eine Lohngleitklausel, dergemäß vierteljährlich die Löhne an einen Lebenshaltungskostenindex angepasst wurden, konnte erst einmal verteidigt werden.

Dann aber wurde von dem CGIL-Führer Luciano Lama die nach dem Tagungsort des Gewerkschaftskongresses 1978 im EUR-Viertel Roms benannte EUR-Strategie und damit eine entscheidende Wende eingeleitet. Den Unternehmern wurde Gesprächsbereitschaft über bisherige Tabu- themen zugesichert, d. h. man signalisierte seitens der Gewerkschaften die Bereitschaft zur Akzeptanz der Lockerung des Kündigungsschutzes. Dies wurde von Unternehmerseite umgehend ausgenützt und resultierte in der Durchsetzung von Massenentlassungen.

Daraufhin schossen die Arbeiter von FIAT das nächste Eigentor im linken Lager, indem der Erfolg eines 35tägigen Streiks durch im Oktober 1980 in Turin unter der Parole il lavoro si difende solo lavorando demonstrierende Arbeiter und Angestellte wieder zunichte gemacht wurde. Nun erkannten die Gewerkschaften das sogenannte »Mobilitäts-«Prinzip an und die Regierung Fanfani (DC) konnte das »Scotti-«Abkommen aushandeln, das eine Kürzung der scala mobile um über 15% bedeutete.

Nun zog der PSI seine Minister aus dem Kabinett zurück, was im Sommer 1983 zu Neuwahlen führte, die ein Rekordtief für die DC (32,9%) erbrachten. Bettino Craxi avancierte mithilfe des pentapartito (*) dagegen zum ersten Ministerpräsidenten des PSI, dessen Politik mittlerweile kaum mehr als sozialistisch bezeichnet werden konnte. Denn die essentiellen Programmpunkte der Regierung Craxi beinhalteten unter anderem ein Dekret zur weiteren Kürzung der scala mobile, womit sie nicht nur den Gewerkschaften, sondern auch dem in sich uneinigen PCI weitere Probleme bescherte.

Der PCI antwortete auf diese Herausforderungen mit einem weiteren Rechtsruck, für den ein öffentlicher Angriff des Parteimitglieds Giorgio Amendola auf alle Ergebnisse des heißen Herbstes als representativ gesehen werden kann.

Die endgültige Ablösung vom Kurs der SU unter Enrico Berlinguer war nicht von einer klaren Formulierung des vom Eurokommunismus und hier besonders vom PCI vielbeschworenen "dritten Weges" begleitet, sondern 140 stattdessen bildeten sich alter italienischer Parlamentstradition folgend neue correnti aus, die anstelle einer neuen schlagkräftigen Strategie dem trasformismo huldigten.

Die Regierung Craxi befand sich jedoch vorläufig auf Erfolgskurs und erhöhte durch die neuen Lateranverträge im Jahre 1984, die die endgültige Trennung von Staat und Kirche bedeuteten, die eigene Manövrierfähigkeit. Auch die Wahlen im Juni 1987 brachten Wahlverluste für den PCI, der nur noch 26,6% der Wählerstimmen gegenüber 29,9% bei der vorhergehenden Wahl verbuchen konnte und Gewinne für den PSI, der sich von 11,4% auf 14,3% steigerte.

Die Reaktion des PCI hierauf bestand in einer Fortführung der Sozialdemokratisierung, die 1989 auch durch den neuen Parteinamen Partito Democratico della Sinistra demonstriert wurde und die Abspaltung des linken Flügels als Rifondazione Comunista unter der Führung von Armando Cossutta verursachte.

Ein erneuter Rechtsruck in PSI und DC führte zum »Regime« des unter dem Kürzel »Caf« in die Geschichte eingegangenen Triumvirats Craxi- Andreotti-Forlani. Die Bezeichnung »Regime« durch Gegner dieses Bünd- nisses sollte auf vermutete faschistoide Tendenzen hinweisen.

Während der Regierung des Caf wurde 1990 auch ein Gesetz verabschiedet, das den Aufstieg des aktuellen Ministerpräsidenten und Medienzars im Jahre 2001, Silvio Berlusconis, wesentlich beschleunigte. Zu verdanken hatte dieser es seinem Freund Craxi, auf dessen Betreiben hin festgelegt wurde, dass er nicht nur 25% der Sendefrequenzen, sondern darüber hinaus die Erlaubnis zur Emission von Live- und Nachrichtensendungen erhielt. Dieses Gesetz schuf die Plattform, auf der Berlusconi bekanntermaßen so erfolgreich agiert, dass er nun schon zum zweiten Male als Minister- präsident amtiert.

Die Wahl im Jahre 1992 signalisierte den Anfang vom Abstieg von DC und PSI und zeigte gleichzeitig bereits an, was die Zukunft bringen würde, denn die erstmals landesweit angetretene rechtspopulistische Lega Nord Umberto Bossis konnte auf Anhieb 8,8% der Wählerstimmen erreichen.

Nach der Erschütterung, die die Ermordung der beiden erfolgreichsten 141

Bekämpfer der Mafia auf seiten der Justiz, Giovanni Falcone und Paolo Borsellino am 23. Mai und 19. Juli 1992 ausgelöst hatte und nachdem die Verhaftungen der Mafia-Bosse Giuseppe Madonnia, Totò Riina und Nitto Santapaola zu Ermittlungen gegen Andreotti geführt hatten, konnte die alte classe politica keinen Skandal mehr verkraften. So besiegelte die Auf- deckung der tangentopoli-Affäre (*) durch die Operation Mani pulite (*), die zeigen konnte, dass keine der Parteien diese sauberen Hände für sich geltend machen konnte, das Ende der Ersten Republik.

II.1.5. Der Beginn der Zweiten Republik

Die Zweite Republik sollte einen Neuanfang gegenüber der Ersten de- monstrieren. Diese Hoffnung, wenn sich ihr überhaupt jemand ernstlich hingegeben haben sollte, ist inzwischen längst verflogen.

Schon die Schritte des ersten Ministerpräsidenten der Zweiten Republik, des Gouverneurs der Banca d'Italia Carlo Azeglio Ciampi, und seines "Professoren"-Kabinetts, die in der Privatisierung der Staatsindustrie und der endgültigen Beseitigung der scala mobile bestanden, können kaum als politische Kehrtwende verstanden werden.

Als wesentlichen Zäsurpunkt kann man das 1993 durchgeführte Referen- dum zugunsten einer Wahlrechtsreform betrachten, das als Resultat eine Stimmenmehrheit von 80% für ein neues Wahlrecht erbrachte. Ob der hierdurch ausgedrückte Wunsch der Bevölkerung nach einer anderen Politik in dem dann am 6. August desselben Jahres tatsächlich verabschiedeten Wahlgesetz umgesetzt wurde, muss allerdings bezweifelt werden. Es legte fest, dass 75% der Sitze der einfachen Mehrheit zukommen sollten, eine ideale Vorlage für Silvio Berlusconi, wie sich später herausstellen sollte.

Die erste allgemeine Wahl, bei der das neue Wahlrecht zur Anwendung kam, wurde am 27. März 1994 abgehalten. Angetreten waren vor allem zwei neue Wahlbündnisse: der »Polo delle libertà«, zu dem sich MSI, Lega Nord und die von Berlusconi neu gegründete rechtspopulistische Partei Forza Italia zusammengeschlossen hatten und eine Formation unter der Führung des PDS, die sich »Polo progressista« nannte. Das Ergebnis war ein absoluter Triumph des Ersteren, der im Parlament 366 von 630 Sitzen und 155 von 315 im Senat erlangen konnte. 142

Zwar brachten widersprüchliche Programme den »Polo delle libertà« zur Jahreswende 1994/95 erst einmal zu Fall, doch hat er sich bekanntermaßen inzwischen längst wieder die Macht erobert.

Nach diesem Exkurs, dessen Zweck es war, einen Überblick über die Prozesse innerhalb der Großfiguration Italien während der letzten beiden Jahrhunderte zu geben, komme ich nun zu meinem zentralen Anliegen, nämlich zur Klärung des ideologisch-machtpolitischen Hintergrundes der Prozesse, an dessen Anfang die Bestrebungen zur Gründung des italieni- schen Nationalstaates stehen und die sich, obwohl sie im Laufe der Zeit und aufgrund der sowohl internen als auch externen Dynamik des Netzwerkes, innerhalb dessen sie stattfanden, einige Transformationen erfahren haben, dennoch im Prinzip bis hin zur aktuellen Machtpolitik Berlusconis und seiner Bündnispartner fortsetzen.

143

II.2 Figurationen der Machttypen in Italien

Die im ersten Teil dargelegte Machtdynamik entsprechend der Figurationsanalyse nach Norbert Elias und die Typologie der Macht nach Michael Mann sollen nun miteinander verbunden auf die italienische Geschichte seit dem Risorgimento angewandt werden. Das Ergebnis dieser Kombination werde ich weiterhin als IEMP-Figuration bezeichnen. Eine IEMP-Figuration soll also ein Modell heißen, das in abstrahierender Form aktuelle Machtkonstellationen einer Gesellschaft oder Gesamtfiguration in überschaubarer Weise darstellt.

Zu diesem Zweck wird zu einer vornehmlich grafischen Darstellung gegriffen, die erstens die Veränderung der ideologischen Herrschafts- verhältnisse verdeutlicht und zweitens die Veränderungen die Allianzen- bildung betreffend sichtbar macht.

Die im vorangegangenen Kapitel gewonnenen Erkenntnisse über die jeweils konstitutiven Bedingungen der Dynamik der nationalen Ideologie können so in das prozessuale Gesamtgeschehen der italienischen Gesellschaft ein- geordnet werden, die hier in ihrem jeweiligen Stellenwert plastisch hervortreten und eine wesentliche Folie für alle künftigen gesellschafts- wissenschaftlichen Arbeiten der jeweils auf diese Weise beleuchteten Sozietät abgeben können bzw. zumindest berücksichtigt werden sollten, was gerade anhand der modellhaften Anschaulichkeit auch nicht schwer fallen sollte.

Der grafischen Darstellung wird hier nicht zuletzt auch deshalb der Vorzug gegeben, weil eine verbale Beschreibung der ideologischen Figurations- prozesse kaum einen über die geleistete Mythosanalyse hinausgehenden heuristischen Wert hätte. Die Stärke der Verbindung der Eliasschen Figurationsanaylse mit der Mannschen Machttypologie liegt m. E. gerade in ihrer leichten grafischen Umsetzbarkeit.

Sicher sähe die Handhabung dieses Instruments bei einer anderen Schwer- punktsetzung unter Umständen ganz anders aus, stellte man beispielsweise den Typus der politischen Macht in den Mittelpunkt der Betrachtung. Letzterer erfordert dann eine genauere Beschreibung der politischen Figurationsprozesse und rückte die ideologische Dynamik etwas mehr in den Hintergrund. 144

Legende: A: Ideologische Macht B: Wirtschaftliche Macht C: Politische Macht D: Militärische Macht gestrichelte Linie: nur latentes oder schwaches Machtpotenzial einfache Linie: einfaches Machtpotenzial doppelte Linie: große Machtpotenzial doppelte Verbindungslinie (horizontal): sehr feste Allianz durchgezogene Verbindungslinie (horizontal): feste Allianz gestrichelte Verbindungslinie (horizontal): lockere Allianz vertikale gestrichelte Verbindungslinie: Machtgegensatz

Kenner des IEMP-Modells Michael Manns wird vielleicht verwundern, warum die Reihenfolge hier streng genommen IEPM lautet. Diese Ver- tauschung der originären Reihenfolge - wobei eine Reihenfolge auch immer bis zu einem gewissen Grad eine hierarchische ist - wurde von mir für den Fall Italien so vorgenommen, weil die faktische militärische Macht Italiens immer die eigenen Ansprüche gravierend unterschritt.

II.2.1 Die inneren Figurationen des Risorgimento aus der Perspektive der Vertreter der italienischen Einheit197

Die Figuration des Italiens vor den napoleonischen Kriegen wurde durch 198 Prozesse geformt, die bereits während des Rinascimento gebildet wurden . Besonders hervorzuheben ist hier der Nord-Süd-Gegensatz.

Bereits im Mittelalter profitierte der Norden Italiens von dem Machtdifferenzial zwischen Kaiser und Kirche, die sich besonders in diesem 199 Gebiet gegenseitig blockierten . Aufgrund des hierdurch entstandenen

197 Bei den folgenden Betrachtungen stütze ich mich wesentlich auf das Werk von Ammon, Günther; Stemmermann, Klaus: Italien - Vom Kampf der Gesellschaft und der Wirtschaft gegen den Staat; München: Eberhard, 2000, da diese Autoren mit Figurationsanalyse und IEMP-Modell vertraut sind.

198 Vgl. Ammon/Stemmermann 2000, S. 65ff.

199 Hierzu Ammon-Stemmermann (2000, S. 36): 145

Machtvakuums konnte sich die Figuration der cento città, der hundert Städte bilden, die die zahlreichen Handelswege, die sich auf ihrem Territorium kreuzten, zu ihrem - in erster Linie wirtschaftlichen - Vorteil zu nutzen 200 verstanden .

Doch ohne Zugang zum Atlantik konnte Italien im Zeitalter des 201 Kolonialismus mit Spanien, Frankreich und England nicht mehr konkurrieren, was sich in den darauffolgenden Jahrhunderten gravierend auswirken sollte und einen der wesentlichen Gründe darstellt, warum Italiens staatliche Figurationen so große Reduktionen hinsichtlich ihres wirtschaftlichen Machtpotenzials hinnehmen mussten, was bis Napoleons Eintreffen so blieb.

a) IEMP-Figuration Italiens zu Beginn des Risorgimento:

+-----+ ¦ ¦ ¦ A ¦ ¦ ¦ +-----+ | | | | | | |------+ | +------+ | | | + - - + + - - + +- - -+

¦ B ¦ ¦ C ¦ ¦ D ¦

+ - - + + - - + + - - +

"Der Konflikt zwischen Reich und Kirche bzw. zwischen den nördlich der Alpen ansässigen Kaisern und den Päpsten in Rom nahm chronische Züge an. Zwischen diesen beiden gleichwertigen Machtpolen ergab sich nun eine Situation, die den weiteren Verlauf der europäischen und insbesondere der italienischen Geschichte grundlegend beeinflussen sollte. In Nord- und Mittelitalien, d. h. in den von den Päpsten und den Kaisern gleichermaßen umbuhlten und umkämpften Gebieten, neutralisierte sich der Einfluss der beiden Machtpole. Auf Dauer entstand ein Machtvakuum, das der hier lebenden Bevölkerung bis dahin ungeahnte Entfaltungs- und Entwicklungsspielräume gewährte."

200 Vgl. ebd., S. 65ff.

201 Z. Thema Kolonialismus vgl. a. BROCKHAUS - Die Bibliothek: Die Weltgeschichte in 6 Bänden; Leipzig; Mannheim: Brockhaus, 1997 - 1999, Bd. 3, Kp. VII: "Aufbruch zu neuen Horizonten", S. 420ff u. ebenfalls Osterhammel: Kolonialismus; Geschichte - Formen - Folgen; München: Beck, 1995.

146

Interpretation der Figuration:

Ein großes Machtpotenzial existiert nur als ideologische Macht (A), während wirtschaftliche (B), politische (C) und militärische Macht (D) nur latent vorhanden sind. Solange es allerdings nicht möglich ist, eine Allianz mit (B), (C) oder/und (D) einzugehen, bleibt (A) relativ wirkungslos.

Auch in der postnapoleonischen Epoche verblieb Italien unter der dominazione straniera, der Fremdherrschaft, d. h. die italienische Gesamt- figuration war politisch und militärisch weitgehend machtlos, lediglich mit Ausnahme Piemont-Sardiniens.

Nach Napoleons Cisalpiner Republik verstärken sich Tendenzen, die bereits Ende des 17. Jahrhunderts in der Arcadia, der übergreifenden kulturellen Bewegung angedeutet waren, wenn auch dort noch zaghaft mit der Betonung des Kulturellen, wobei sich politische Konsequenzen kaum er- ahnen ließen. Dennoch kann bereits die Arcadia als erste organisatorische Struktur verstanden werden, durch die sich eine Gruppe mit neuem ideologischem Machtanspruch zu Wort meldet.

Jedoch fiel jakobinisches Gedankengut in Italien nicht auf gleichermaßen fruchtbaren Boden wie in Frankreich selbst, dem Mutterland der ständischen Revolution. Dies lag nicht zuletzt an den spezifischen historischen und strukturellen Gegebenheiten der einzelnen italienischen Staaten, die im Gegensatz zum zentralistisch verwalteten Frankreich von Staat zu Staat stark variierten und eine einheitliche Organisation erschwerten. Darüber 202 hinaus existierte keine gesamtstaatliche Ständeorganisation .

Die Protagonisten innerhalb der ideologischen Figuration, die innerhalb der

202 S. hierzu Ammon/Stemmermann 2000, S. 95f: "Gerade in Italien, d. h. in den Staaten Italiens, hielt sich der Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Grenzen. Dafür zeichneten vielfältige Gründe verantwortlich. Zum einen war die Schicht des Bürgertums relativ dünn. Daneben lagen die ständische Ordnung und die feudalen Regelungen im öffentlichen Leben bei weitem nicht so drückend auf der Bevölkerung der Apenninenhalbinsel wie im Falle des zentralistischen Frankreichs. Natürlich gilt es auch hier wiederum stärker zu differenzieren, denn die Situation stellte sich in den aufgeklärten Staaten Nord- und Mittelitaliens anders dar als im Süden bzw. im Kirchenstaat. Hier hatten die feudalen Systeme die Bevölkerung derart im Griff, dass kaum Platz zur Formulierung und Verbreitung revolutionärer Forderungen blieb."

147

italienischen IEMP-Figuration vor dem Risorgimento als einzige überhaupt Raum für ihr Spiel hatte, waren Mazzini, Garibaldi und nicht zuletzt Graf Cavour, der schon frühzeitig begonnen hatte, die Fäden im einzigen Staat zu ziehen, der nicht der dominazione straniera unterlag, nämlich in Piemont- 203 Sardinien .

Dem katholisch beeinflussten Gedankengut Giobertis wird hier wenig Wirkung zugestanden, da die katholische Kirche insgesamt sich für die italienische Einigung doch eher als Hemmschuh denn als Impulsgeber 204 verstand .

b) IEMP-Figuration Italiens nach dem Risorgimento:

+-----+ +-----+ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ A +-----¦ D ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ +-----+ +-----+ | | | | | | + - - + +- - -+

¦ B ¦ - - ¦ D ¦

+ - - + + - - +

203 Nach Ammon/Stemmermann geht auch der Name "Risorgimento" auf Cavour zurück. S. ebd., S. 104: "So lief u. a. in der politischen Zeitschrift Il Risorgimento, an der der spätere Ministerpräsident von Sardinien-Piemont, Graf Cavour, als Herausgeber mitwirkte, eine Diskussion, wie man Italien einigen könne und welche Form die italienische Nation haben solle. Der Name der Zeitschrift machte Geschichte. Risorgimento wurde in Italien zum Synonym einer ganzen Zeitepoche, die vom Wiener Kongress (1815) bis zum Abschluss der Bildung des Königreichs Italien (1871) andauerte."

204 Dazu Ammon/Stemmermann (2000, S. 107): "Bis zur Revolution 1848 beeinflusste das primato Giobertis (Il primato morale e civile degli Italiani, Bruxelles 1843) stark das politische Denken in Italien. Das italienische Primat berief sich - nach den Vorstellungen Giobertis - auf die christlichen Ursprünge der italienischen Identität und die daraus resultierendende besondere Beziehung zwischen Kirche und Staat. Gioberti sah Italien an der Spitze einer Wiedergeburt Europas, wobei der Föderalismus den historisch gewachsenen Verhältnissen in Italien entsprach und die Führungsrolle des Papstes als grundlegender Baustein der nationalen Einheit verstanden wurde. Pius IX. zerstörte jedoch Giobertis Hoffnung. Der Papst wollte und konnte - angesichts der geopolitischen Lage in Europa - die ihm angetragene Position letztendlich nicht einnehmen."

148

Interpretation:

Cavour, der dominierende Spieler der ideologischen Figuration (A), dessen wahre Interessen jedoch keinesfalls mit denen der anderen Vertretern des Risorgimento-Mythos identisch sind, geht scheinbar eine Allianz mit den Repräsentanten der dominazione straniera in Oberitalien und damit den Inhabern der politischen und militärischen Macht (C und D) innerhalb der gesamtitalienischen IEMP-Figuration ein, versucht sie aber geschickt 205 gegeneinander auszuspielen .

Das Potenzial militärischer Macht (D) der Risorgimento-Vertreter hat sich durch die Rückkehr Garibaldis aus Südamerika mit seinen Kämpfern etwas erhöht, was Cavour aber rigoros für die Ziele Piemonts instrumentalisiert. Die durchgezogene horizontale Verbindungslinie zwischen (A) und (D) demonstriert, dass zwischen den Vertretern der ideologischen Macht (dominiert von Cavour) und der militärischen (Garibaldi im Verbund mit dem piemontesischen Heer) eine feste Allianz besteht, die allerdings in erster Linie die relative Macht des dominanten Partners dieser Allianz verstärkt. Die nachgeordnete Position von (D) verdeutlicht das geringere Machtpotenzial der militärischen Macht.

Das Potenzial wirtschaftlicher und politischer Macht der italienischen IEMP-Figuration ist nach wie vor gering, wie die durchgezogenen Linien um (B) und (C) verdeutlichen. Die Verbindungslinie zwischen beiden weist im Prinzip auf eine Allianz zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht hin, was aber nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass in Bezug auf diese in Italien kurz nach dem Risorgimento schon allein aufgrund des Wahlrechts de facto eine Personalunion bestand.

Innerhalb dieser IEMP-Figuration des gesamten Italiens nach dem Risorgimento steht praktisch Cavour oder vielmehr Piemont an Position (A), und zwar nicht nur als Inhaber der größten ideologischen Macht, sondern durchaus als Inhaber der Position A im Spielemodell Italien, denn diese Frühphase der Geschichte des modernen italienischen Staates ist vor allem gezeichnet von der bereits mehrfach konstatierten Piemontesierung206.

205 Zum diplomatischen Ränkespiel Cavours vgl. a. Ammon/Stemmermann 2000, S. 116ff.

206 Diese Spielstrategie der Piemontesierung beschreiben Ammon/Stemmermann (2000, S. 122) wie folgt: "Die administrative Struktur des neuen Italien folgt dem französischen Modell, das aus 149

Die Gegenüberstellung der Machtkomponenten (A) und (D) und der Komponenten (B) und (C) verdeutlicht die Dominanz der beiden Ersteren.

II.2.2 Figurationen des italienischen Staates a) zu Beginn des ersten Weltkriegs

+-----+ +-----+ + - - + + - - + ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ A ¦-----¦ C +-----¦ B ¦-----¦ D ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ +-----+ +-----+ + - - + + - - +

Interpretation:

Die ideologische Macht (A), wie sie beispielsweise von d'Annunzio und anderen Nationalisten repräsentiert wird, hat nicht zuletzt durch deren Aktivitäten stark an Potenzial zugenommen. Der Gegenmythos, reprä- sentiert durch die Sozialisten um Labriola und Turati, verfügt über zu gerin- ge wirtschaftliche und militärische Macht, um emanzipatorische Positionen benachteiligter Gruppen durchsetzen zu können.

Doch auch die Gruppe um d'Annunzio, der sich vor allem mit der überwiegend konservativen Regierung, die im Besitz der politischen Macht (C) ist, verbündet hat, verfügt in der Realität im europäischen Vergleich, i.e. im Vergleich mit den künftigen Kriegsgegnern und -alliierten nur über ein sehr geringes wirtschaftliches (B) und militärisches (D) Machtpotenzial, dessen tatsächliche Stärke einen krassen Gegensatz zur proklamierten bildet.

Piemont heraus auf ganz Italien übertragen wird. Getreu dem französischen Vorbild unterteilt man das Land in Provinzen. Die historisch gewachsenen Strukturen werden verwischt. Es entsteht ein starres, zentralistisches System, in dem die (piemontesische) Zentralgewalt über die Präfekten Zugriff bis auf die lokale Ebene hat. Der neue, zentralistische Staat steht dennoch von seiner Geburtsstunde an in einem nie zu überwindenden Gegensatz zu dem tief verwurzelten Regionalismus, zu der polyzentrischen Städtestruktur, die sich in Italien über Jahrhunderte ausgebildet hatte."

150

Denn obwohl in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg für die italienische Wirtschaft vor allem im Norden durchaus beachtliche Wachstumsraten zu verzeichnen waren, kann der Rückstand in Sachen Industrialisierung im Vergleich mit den anderen kriegführenden Mächten nicht aufgeholt werden207. Dementsprechend muss die Situation der militärischen Macht gesehen werden, die in modernen Nationalstaaten immer von deren 208 Rüstungskapazität bzw. -kapital abhängt .

Die Aneinanderreihung der Machtkomponenten soll in diesem Fall ihre hierarchische Nachgeordnetheit repräsentieren.

b) nach dem Marsch auf Rom:

+-----+ +-----+ +-----+ + - - + ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ A ¦-----¦ C ¦-----¦ B +-----¦ D ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ +-----+ +-----+ +-----+ + - - +

Interpretation:

207 S. hierzu ebd., S. 153: "Die Wirtschaftshistoriker verweisen noch auf einen weiteren Faktor, der ein bezeichnendes Licht auf die gesamtgesellschaftlichen Probleme Italiens wirft. Die expandierenden Industrieunternehmen sind auf den Zufluss von Investivkapital angewiesen. Dieses Kapital steht auch in ausreichender Menge zur Verfügung, wobei ein erheblicher Teil von jenen überwiegend süditalienischen Auswanderern stammt, die das Land aus blanker Not verlassen mussten und nun ihre Ersparnisse einem Industrialisierungsprozess zur Verfügung stellen, der ihre Herkunftsregionen nicht oder doch nur in sehr geringem Ausmaß erfasst. Die ersten vernünftigen Industriestatistiken aus dem Jahre 1911 belegen eindrucksvoll, wo diese beschleunigte Industrialisierung stattfindet. Zieht man die Industrieunternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten heran, so arbeiten im Jahre 1911 58,0 Prozent der Arbeiter in den drei nordwestlichen Regionen, in denen nur 21,6 Prozent der Bevölkerung leben. Selbst wenn man auch Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten dazunimmt, also im Wesentlichen Handwerksbetriebe, entfallen noch immer 49,16 Prozent auf diese drei Regionen."

208 Das Ergebnis des Ersten Weltkrieges für Italien kommentieren Ammon/Stemmermann (2000, S. 158) folgendermaßen: "Die latenten Spannungen innerhalb der einen und unteilbaren Nation schlagen um in eine akute Krise. Der Faschismus steht vor der Tür."

151

Mussolini und seine faschistische Gruppe haben ihr hohes ideologisches Machtpotenzial (A) mit der absoluten politischen Macht (C) kombiniert. Im Laufe der Zeit verstärkt sich dieser Effekt noch durch die Ämter, die Mussolini in Personalunion auf sich vereinigt. Schon bei seiner ersten Regierungsbildung formt Mussolini die Figuration, an deren Spitze er sich 209 setzt .

In Ermangelung eigener effektiver Strukturen können sich gegen dieses enorme doppelte Machtpotenzial Gegenmythen nicht durchsetzen. Die extreme Verbindung von ideologischer und politischer Macht, deren Bedeutung für die IEMP-Figuration Italiens durch die doppelte durchgezogene Umrandung hervorgehoben wird, verfügt jedoch nach wie vor nur über ein immer noch geringes militärisches (D) und noch geringeres wirtschaftliches Machtpotenzial (B), jedenfalls im Vergleich zu den 210 potenziellen Spielgegnern und -partnern Italiens. Und langfristig trug die faschistische Politik auch nicht dazu bei, dieses Bild wesentlich zu 211 verändern . Den kurzfristigen Erfolgen faschistischer Wirtschaftspolitik wird durch die durchgezogene Linie Rechnung getragen, während die trotz scheinbarer kurzfristiger Teilerfolge objektiv durchgehend bestehende 212 militärische Schwäche mit Hilfe einer gestrichelten Linie dargestellt wird .

209 S. Ammon/Stemmermann (2000, S. 165): "Als Mussolini mit der Regierungsbildung beauftragt wird, verhandelt er nicht im Stile des alten trasformismo mit den verschiedenen politischen Parteien, sondern er bildet sein Kabinett unter Einbeziehung von Einzelpersonen, die diesen Gruppierungen entstammen."

210 Zu den kurzfristigen Erfolgen faschistischer Wirtschaftspolitik Clark 1996, S. 264: "By 1929 had become self-sufficient in chemicals; and steel production was up to 2,122,000 tonnes, compared with 982,000 tonnes in 1922."

211 Zu den langfristigen Auswirkungen faschistischer Wirtschaftspolitik s. Clark 1996, S. 266: "By 1938 industrial production was back at 1929 levels. But the disadvantages were obvious. It was immensely expensive. The budget deficits were alarming - 12,750 million lire in 1938-39 - and the currency reserves were running out. Nobody liked paying the many extra taxes and capital levies of 1936-39, especially the 'forced loan' of 5 per cent of the value of housing. There was no future in being Germany's client State, whoever won the forthcoming war; and many bankers and businessmen were Jewish. People began shifting their capital abroad, always an easy feat in a country with a Swiss border. By 1939 economic policy was evidently leading to disaster. Whatever successes it had achieved in the past seemed about to be destroyed."

212 Zur militärischen Schwäche Italiens zieht Clark (1996, S. 287) Bilanz: "The army had too many senior officers: there were 600 generals in 1939. The military academies were years out of date. The British military mission in Greece was astonished by how poor Italian tactics were, and reported that the Italian field officers were clearly ill- trained and had no idea of what to do, other than advancing to cries of: 'A Noi!' There were, it seems, no plans drawn up for war in the Mediterranean. Military doctrine relied on numbers, i.e. the famous '8 million bayonets', which did not exist and would have made no 152

Mussolinis Aktionen sind jedoch von einer konsequenten Ignoranz gegenüber diesem Umstand geprägt. Wahrscheinlich ist es letztendlich diese Unfähigkeit, mit Fakten umzugehen, die den Untergang der faschistischen Figuration besiegelt.

Wie bei b) soll auch in diesem Fall die Aneinanderreihung der Macht- komponenten ihre Hierarchie verdeutlichen.

difference if they had. It also relied heavily on morale, or rather propaganda. In fact, the soldiers' morale was never high. Many of Italy's defeats, e.g. Greece and East Africa, were in the first year of the war. By the spring of 1941 the army was used to losing. Rations were low, below 3,000 calories a day, and clothing was far worse than in the First World War, for the Germans had little wool or cotton to spare. Most infantrymen were peasants, as in 1915-18. They were fighting and dying, far from home for a cause which very few of them understood. They fought, for the most part, with discipline and courage. Nearly 300,000 Italian troops lost their lives in the Second World War. But it was, all too obviously, to no purpose. But perhaps the essential Italian weakness was in equipment. Minniti has estimated that Italy could not arm more than thirty to thirty-five divisions properly, but she put seventy- five to eighty in the field, then left them to fight modern mechanized warfare without enough tanks or other vehicles. In 1939 the army had only 1,500 tanks, nearly all of them light (three-tonne). By the end of 1940 there were 100 tanks (of all types) a month being produced, and production reached a maximum of 185 in June 1942, but this was still totally inadequate. In any case, many weapons never reached the right combat zones. Italy's best artillery and anti-tank guns were sent to Russia rather than to Libya, where they might have made a big difference in 1942. Furthermore, supplies for Africa had to cross the Mediterranean, patrolled by British submarines and bombers. Losses were not considered excessive until the second half of 1942, but by then they were disastrous, and even in late 1941 General Cavallero estimated that one-third of the tanks and one-quarter of the artillery were being lost in transit. As for vehicles, the army had acquired about 25,000 wheeled vehicles in the four years before the war; another 83,000 were produced in the three years of 'full war' (June 1940 to July 1943), but these were still too few. All too often the Italian infantry in the Second World War moved just as Caesar's legions had done, on foot."

153

213 d) während des italienischen »Wirtschaftswunders« :

+-----+ +-----+ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ B ¦-----¦ C ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ +-----+ +-----+ | | | | | | + - - + +-----+ ¦ ¦ ¦ A +-----¦ D ¦ ¦ ¦ + - - + +-----+

Interpretation:

Die Repräsentanten der wirtschaftlichen Macht (B) gehen ein Bündnis mit der politischen Macht (C) ein, während die ideologische Macht (A) nach dem Zusammenbruch des faschistischen Regimes stark geschwächt ist und das Potenzial der militärischen Macht ebenfalls einen extremen Tiefpunkt erreicht hat.

Es gibt zwar ideologisch arbeitende Gruppen wie z. B. den PCI oder auf der extremen Rechten den MSI, jedoch gelingt keinem, dem Triumph des Kapitals ernstlich und langfristig etwas entgegenzusetzen, wobei der MSI 214 das auch sicherlich niemals beabsichtigte , sondern im Gegenteil stets für

213 Auch wenn dies manch einen verwundern mag, war Italien einer der wirtschaftlich erfolgreichsten Staaten der Nachkriegszeit. Hierzu Ammon/Stemmermann (2000, S. 199f): "Trotz des dargestellten politischen Schlingerkurses entwickelt sich Italien nach dem zweiten Weltkrieg zu einem bedeutenden Industriestaat, der sich mit Großbritannien, dem Mutterland der Industrialisiserung, um den fünften Platz unter den großen Industriestaaten streitet. Italien wird Mitglied der G7-Gruppe und gehört damit zu den ersten Adressen in der Welt der Wirtschaftsmächte. Diesen Tatbestand sollten gerade deutsche Beobachter nicht aus den Augen verlieren, neigen wir in Deutschland doch sehr dazu, aus einem tiefsitzenden Überlegenheitskomplex heraus systematisch die Leistungsfähigkeit der italienischen Volkswirtschaft zu unterschätzen."

214 S. hierzu a. Hausmann 1997, S. 40: "Die Gründung einer neuen Partei durch Exponenten des gerade besiegten Faschismus schon Ende 1946 war von den Christdemokraten nicht verhindert, sondern vielmehr unter Zuhilfenahme von Militär- und Kirchenkreisen unterstützt worden." 154

ihn günstige Allianzen einging.

Die doppelte Linie um (B) verdeutlicht die A-Stellung gemäß dem Eliasschen Spielemodell der Wirtschaftsvertreter in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb der italienischen IEMP-Figuration. Trotz schwieriger Umstände, wie z. B. Rohstoffmangel, gelang es der italienischen Nordregion, beachtliche ökonomische Erfolge zu erzielen, wobei der Marshall-Plan hier selbstverständlich ebenso hilfreich war wie in 215 Deutschland . Dies wurde von der Vertreibung der spielstärksten politischen Gegner von der A-Position der politischen Figuration begleitet, nämlich des PCI und des PSI, was auch häufig als amerikanische Bedingung 216 217 für den Marshall-Plan gewertet wird .

Durch ihr vorerst stabiles Bündnis, das von den Repräsentanten der wirtschaftlichen Macht dominiert wird, gelingt es diesen beiden Gruppen, aufkommende ideologische Machtpotenziale zu unterdrücken oder zumin- dest zu neutralisieren, bevor sie ihr eigenes Machtpotenzial schwächen 218 können .

215 Vgl. hierzu a. Clark (1996, S. 348): "Factories were soon able to resume production, if they could acquire fuel and raw materials, and here American aid provided invaluable. Italy received $ 2,200 million of aid, cheap loans, etc., between 1943 and 1948, mainly in the form of food and fuel; and Marshall Aid contributed another $ 1,500 million in the following four years. The State- owned banks, the state itself, and the relief organizations were all able to grant credit cheaply and readily in 1946-47, and there was no lack of borrowers."

216 Doch dieser "Wunsch" der Amerikaner, die Linken nicht an der Regierung zu beteiligen, lief De Gasperis (des damaligen Ministerpräsidenten) Strategie keineswegs zuwider. Vgl. hierzu bes. Hausmann 1997 (S. 45): "Überblickt man den Ablauf der Ereignisse, so war der Zeitplan perfekt: Im Januar 1947 reiste De Gasperi in die Vereinigten Staaten, im Februar wurden die Friedensverträge unterzeichnet, im März gab der amerikanische Präsident mit der später als >Truman- Doktrin< bezeichneten Rede den Startschuss für den Kalten Krieg, und im Mai nützte De Gasperi Meinungsverschiedenheiten innerhalb seiner Regierung über die Wirtschaftspolitik zur >Eröffnung der Krise<, die mit dem Ausscheiden von Sozialisten und Kommunisten und der Bildung von De Gasperis nunmehr vierter Regierung unter Einschluss von Liberalen und Unabhängigen (11 DC, 2 Liberale, 4 Unabhängige) endete."

217 Unterstützung holte man sich darüber hinaus bei einer anderen Figuration, nämlich bei der Mafia. Vgl. hierzu bes. Chotjewitz (1973, S. 172f), der den Aufstieg Salvo Limas beschreibt. Vgl ebenso Kap. 62 (ebd., S. 192ff): "Mafia und Hochfinanz".

218 S. hierzu ebenfalls Hausmann (1997, S. 45): "Bei den Regionalwahlen in Sizilien im April [1947] hatten die Christdemokraten eine empfindliche Niederlage hinnehmen müssen, und es deutete sich die Gefahr an, dass die geografisch-politische Blockbildung - der Süden den Christdemokraten, der Norden den Linken - aufgebrochen werden könnte. Den Geist der Resistenza einfach zu verabschieden, 155

Die militärische Macht (D) wird deshalb durch eine durchgezogene Linie dargestellt, weil zwar Italien trotz NATO-Mitgliedschaft international mili- tärisch über nur wenig Einfluss verfügt, aber seine Polizeitruppen verstärkt hat. Dennoch unterliegt die Polizei ohne Einschränkung der Kontrolle 219 politischer Macht und ist unterhalb von ihr angesiedelt .

Es zeigt sich hier, dass die ideologische Macht nicht umsonst von Michael Mann an erster Stelle genannt wurde, was einer hierarchischen Voranstellung - wie bereits erwähnt - prinzipiell gleichkommt. Da der Ter- minus ideologische Macht hier als synonym mit dem Begriff "Mythos" gesehen wird, liegt eine Untersuchung Ersterer nun recht nahe. Ich möchte aber betonen, dass dennoch ein anderer Fokus jederzeit möglich wäre, ja nicht nur möglich, sondern sogar wünschenswert zur weiteren Untersuchung der Unterfigurationen. Ich habe jedoch den ideologischen Fokus gewählt, und zwar nicht nur, weil mir aus Aufwandsgründen ohnehin kein anderer möglich gewesen wäre, sondern auch, weil aktuelle politische Geschehnisse mir diesen besonders interessant erscheinen ließen.

Die in Teil 1 entwickelte Komponente meines Instrumentariums, die Mythenanalyse nach Roland Barthes, soll nun zur Anwendung kommen. Nun gilt es zu entscheiden, welcher Mythos nun aus ideologischer Per- spektive zuerst zu untersuchen ist. Denn selbstverständlich arbeitet ideologische Macht immer mit mehreren mythischen Strategien gleichzeitig. Die italienische Geschichte legt es nach obiger Untersuchung jedoch nahe, mit dem nationalistischen Mythos zu beginnen, denn dieser begründete ja schließlich erst die Existenz der eigenständigen politischen Figuration Italiens.

blieb immer noch ein Wagnis. Die DC aber ging diesen Weg nun mit aller Entschiedenheit weiter. Der Innenminister Scelba nutzte die Tatsache, dass das faschistische Strafgesetzbuch, der berüchtigte codice Rocco, nicht außer Kraft gesetzt worden war und dass die meisten faschistischen Richter im Amt behalten worden waren. Mit einer im Laufe des Jahres von 30000 auf 50000 Mann verstärkten Polizei begann er die Jagd auf ehemalige Partisanen, auf Sozialisten und Kommunisten. Die Faschisten dagegen hatte man laufen lassen."

219 Von einer Analyse des Phänomens Berlusconi wurde hier abgesehen, da dieses - wie im Fall der Mafia - ebenso eine ausführlichere Beschäftigung mit empirischen Daten und der sich ständig erweiternden Literatur eine eigene Arbeit erforderlich macht. Hinweise zur Beschäftigung mit dem Thema finden sich jedoch in dem historischen Abriss, der Teil II dieser Arbeit vorangestellt wurde sowie im Literaturverzeichnis.

156

Bei all diesen oben betrachteten figurativen Transformationen bleibt eine mythische Struktur erkennbar, die diesen Prozessen insgesamt immanent ist, und zwar handelt es sich hier um den Mythos "Nationalismus". Um diese Struktur deutlicher herausarbeiten zu können, ist es unabdingbar, zunächst einmal eine Begriffsklärung vorzunehmen. 157

II.3. DIE BEGRIFFE NATIONALISMUS UND NATION

II.3.1. Der Begriff der Nation bzw. des Nationalstaats

220 Nach Gisela Riescher bezeichnet der aus dem Lateinischen kommende 221 Begriff »Nation« (von lat. natio = Geburt, Geschlecht, Art, Volk)

"eine Gemeinschaft von Menschen, die sich aus ethnischen/sprachlichen/kulturellen und/oder polit. Gründen zusammengehörig und von anderen unterschieden fühlen" (ebd.).

Zu berücksichtigen ist, dass alle Definitionskriterien in ihrem jeweiligen politischen Rahmen stets auf entsprechende Interpretationsmuster re- kurrieren.

222 Im »Wörterbuch der philosophischen Begriffe« wird darüber hinaus zwischen einer Staats- und einer Kulturnation unterschieden, wobei Erstere sich auf Faktoren wie "Abstammung, Sprache, kulturelle Tradition und gleiche Geschichte" beruft und Letztere sich als politische Einheit begreift, und zwar in Bezug auf

"die Gemeinschaft sowohl der gleichzeitig Lebenden untereinander wie die mit den vorhergehenden Geschlechtern (Volk)" (ebd.).

223 Ebenso unproblematisch erscheint die Definition Heinrich Schmidts . Für ihn bezeichnet eine Nation

"ein Volk, das eine geschichtlich, größtenteils auch eine sprachlich und gedanklich bindende Einheit darstellt, sich eine von ihm abhängige Regierung gegeben hat und über ein Territorium verfügt, dessen Grenzen von den anderen mehr oder weniger respektiert werden (Staatsvolk). Auch mehrere Völker oder Teile verschiedener Völker können eine N. bilden, [...]" (ebd.).

Während Gisela Riescher auf ein aus unterschiedlichen politischen Kon- stellationen und Interessen resultierendes Nationenverständnis hinweist, sind die beiden letzteren Begriffserklärungen mehr oder weniger ein- dimensional.

220 In: Nohlen 2001, S. 313.

221 Vgl. hierzu BROCKHAUS (Bd. 15, 1998, S. 388), wonach ">natio< in der Antike und noch lange im MA die Abstammung oder den Herkunftsort einer Person, v. a. in Bezug auf politisch nicht organisierte Bevölkerungen" bezeichnete.

222 1998, S. 438.

223 1982, S. 474.

158

224 Austeda erkennt dagegen immerhin drei Dimensionen, nämlich die der "Kulturnation, Sprachnation, Staatsnation" und räumt auch gleichzeitig ein, dass diese kaum einmal in der Realität kongruent sind.

225 Auch Sturm zweifelt an der Möglichkeit, dass sich ein auf reale Nationen zutreffender Merkmalskatalog verbindlich aufstellen lässt.

226 Die "moderne Nation" nimmt laut Bußmann ihren Anfang im 18. Jh. Diese "moderne Nation" basiert nicht zuletzt im Gegensatz zu älteren rein auf Abstammung und Herrschaft rekurrierenden Begriffen auf einem "Gefühl der Zugehörigkeit", das "die Grenzen des Territorialstaats überschreitet".

Dieser regional beschränkte »emotionale« Prozess verläuft in den verschiedenen Gebieten Europas unterschiedlich, und zwar kann man deutlich zwischen einer westeuropäischen und einer mitteleuropäischen Version der Nationenbildung unterscheiden. Die Vorstellung der "modernen Nation" generierte sich erst nach der Französischen Revolution im Gegen- satz zum vorrevolutionären Nationenverständnis mit seiner Hervorhebung des Prinzips der Repräsentation

"die gegenüber dem Monarchen den Anspruch erhebt, die Gesamtheit, d. h. die Nation zu vertreten, auch wenn soziale Unter- und Mittelschichten davon ausgeschlossen blieben" (ebd.).

Hier wird allerdings die Existenz einer Nation bereits vorausgesetzt, ebenso wie das Vorhandensein nationaler Verwaltungsinstitutionen, während sich diese woanders erst noch konstituieren mussten, was auch insbesondere für Italien gilt. Eben dieser Prozess konnte erst initiiert werden, nachdem ein »Nationalgefälle« oder die Notwendigkeit eines solchen als Mythos strukturiert und strategisch umgesetzt worden war. Funktionell zu nutzen versuchte man für diesen Zweck den Rekurs auf »kulturelle« und sprach- liche Gemeinsamkeiten. Denn

"im Prozess der Nationalisierung ist der Faktor der Sprache evident: So wie die Sprache als ein Mittel gegen nationale Minderheiten eingesetzt worden ist, so hat sie den »kleinen«

224 1989, S. 251.

225 1985, S. 593.

226 1987, Sp. 1265.

159

Völkern geholfen, ein modernes Nationalgefühl als Voraussetzung eines Nationalstaates zu entwickeln" (ebd., Sp. 1268).

Auf diese Art erzeugte man ein wachsendes "Bedürfnis nach Identität 227 zwischen Nationalsprache und Nationalstaat" .

Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass eine Nation keinesfalls etwas gleichsam »natürlich« Gewachsenes, sondern etwas von Menschen absichts- voll Geschaffenes, Konstruiertes darstellt, was wiederum vor Augen führt, wie unangebracht die Annahme einer Evolution in Bezug auf Staatsgebilde 228 ist .

Das erklärt auch die Schwierigkeit, mit der sich laut Sturm jeder konfrontiert sieht, der versucht, eine allgemeingültige Definition für das, was unter einer Nation zu verstehen sei, aufzustellen, denn

"Nationen entstehen ja nicht von allein, sondern werden erst durch Staaten und Nationalisten geschaffen" (David N. Gellner in: Gellner, Ernest: Nationalismus, 1999, S. 10).

Nach Ernest Gellner postulieren diejenigen, die wesentlich an der Schaffung einer »Nation« beteiligt sind, "dass soziale Bindung von kultureller Über- einstimmung abhängt" und

"welche Herrschaftsprinzipien ein Gemeinwesen auch immer bestimmen mögen, ihre Legitimität in der Tatsache begründet, dass die betroffenen Gruppenmitglieder dieselbe Kultur teilen [...]" (Gellner 1999, S. 17).

229 Abgesehen von Gellners wenig transparentem Kulturbegriff ist diese

227 Ebd., S. 1269.

228 Unangebracht ist eine evolutionäre Perspektive schon allein deshalb, weil sie durch die Aufstellung einer Hierarchie eine Wertigkeit eines jeweils diagnostizierten "Entwicklungsstands" mitbehauptet. Wie schon in TEIL I dieser Arbeit ausgeführt, setzen Systemtheoretiker stillschweigend im Rekurs auf Parsons voraus, dass die jüngste und damit höchstwertigste Entwicklung durch die Vereinigten Staaten von Amerika repräsentiert wird. Legt man allerdings den Maßstab der Eliasschen Ethik an, der eine Höherentwicklung wesentlich an der Abnahme von Gewaltanwendung misst, wird die Zuweisung dieser Spitzenposition an einen Staat, der sich nicht nur in Bezug auf andere, als minderwertig empfundene Staaten recht kriegslüstern gebärdet, sondern auch kein Problem damit hat, Minderjährige hinzurichten, ziemlich fragwürdig.

229 Z. Gellner Kulturbegriff vgl. a. Kuzmics/Blomert/Treibel 1993, S. 17f (in: dies.: Transformationen des Wir-Gefühls): "Aber das Höchstmaß der Annäherung an den >nationalen Habitus< stellt bei Gellner die nationale Kultur dar - diese ergibt sich aus dem staatlichen Bildungsmonopol, verlockt zwar zur Identifikation, benötigt aber bloß ein >schützendes politisches Dach<. Es gibt für Gellner statt nationaler Mentalitäten nur Sprachen und Kulturen (viel mehr, als sich dann in 160

Definition von Nation so nicht zu halten, und zwar insbesondere nicht im Hinblick auf Italien, dessen Fall deutlich herausstellt, dass es sich bei der gemeinsamen Kultur lediglich um etwas Behauptetes handelt, das an den tatsächlichen Verhältnissen völlig vorbeigeht.

Gellners Auffassung nach ist zwar die Verwendung der Definition des 230 Begriffs »Nation« "im Sinne einer gemeinsamen Kultur" etwas revisionsbedürftig, "um der Komplexität der realen Welt zu genügen", sie ist ihm aber trotzdem "ein geeigneter Ausgangspunkt" für das Verständnis des Phänomens. Da ich eine Kultur nicht für etwas Gegebenes oder gar 231 evolutionär Gewordenes , sondern für etwas in Figurationsprozessen aufgrund wechselnder Machtdifferenziale von Menschen Geschaffenes halte, kann ich Gellners Auffassung keinesfalls teilen.

Viel dienlicher für das Verständnis der Prozesse um das Werden einer 232 »Nation« erscheint mir dagegen der Ansatz Benedict Andersons zu sein. Anderson definiert eine »Nation« als

"eine vorgestellte politische Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän" (ebd.).

Nationen existieren also vor allem in den Köpfen der Menschen, d.h. eine Nation ohne konkreten materiellen Staat wäre denkbar, aber nicht eine real existierende Staatsnation ohne ideologische Voraussetzungen.

Anderson begegnet etwaigen Einwänden gegen seine Definition in Bezug auf die Verlagerung des Begriffs ins Reich der Ideologie, indem er auf die unbestreitbare Tatsache verweist, dass

"die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung

Nationalstaaten finden lassen). Kulturen sind vorwiegend kognitive Systeme; Gefühle werden bei den ländlichen Bewohnern von »Ruritanien« (als Teil eines österreichische oder osmanische Züge tragenden »Megalomanien«) nur in Form von Befreiungsmythen oder in jener Romantik wirksam, die Volksschullehrer zum Sammeln alter Volkslieder veranlasst."

230 Ebd., S. 18.

231 Aufgrund dieser prozesshaften Qualität, die "Kultur" grundsätzlich immanent ist, muss eine Auseinandersetzung mit ihr auch eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Kulturkritik einschließen. Vgl. hierzu BROCKHAUS (Bd. 12, S. 618): "Die Kulturkritik stellt eine teils konservative, teils progressive Überschreitung des jeweils entwickelten historischen Standes moderner Gesellschaften dar."

232 1998, S. 14.

161

ihrer Gemeinschaft existiert" (ebd., S. 14f).

Darüber hinaus kritisiert er die Definition Gellners, der laut ihm das 233 Vorhandensein »wahrer« Gemeinschaften postuliert, "die sich von 234 Nationen vorteilhaft absetzen" . Denn, so Anderson, nicht die "Authentizität" von Gemeinschaften taugt als Unterscheidungskriterium, sondern ihre Vorstellungsweise.

»Begrenzt« ist eine Nation gemäß Anderson nicht in erster Linie durch ihr Territorium, sondern in seinem Sinne konsequenterweise durch die Vorstellung eines bestimmten Kreises, der ihr angehört, der aber durchaus auch mit einem konkreten Territorium zusammenfällt, da auch eine riesige Nation

"in genau bestimmten, wenn auch variablen Grenzen lebt, jenseits derer andere Nationen liegen" (ebd.).

235 Der von Anderson gebrauchte Begriff der Souveränität hat historische Wurzeln, weil er in der Epoche von Aufklärung und Revolution entstand, als eine Freiheitsidee geboren wurde, die für einen lange nicht gekannten 236 religiösen Pluralismus eintrat . "Maßgabe und Symbol dieser Freiheit ist 237 der souveräne Staat" . Vor demselben Hintergrund generierte man auch die Vorstellung einer Nation als einer »Gemeinschaft«, weil sie, unabhängig von realer Ungleichheit,

233 Eine »wahre« Gemeinschaft im Sinne Gellners basiert auf der Vorstellung, "dass Staatsgebiet und Nation deckungsgleich sein sollten; nationale Gefühle sind darauf ausgerichtet, einen solchen Zustand herzustellen; nationale Bewegungen sind von solchen Gefühlen angetrieben" (Kuzmics/Blomert/Treibel 1993, S. 17).

234 Ebd., S. 15.

235 Zum Begriff der "Souveränität" s. a. Fuchs/Raab (1987, S. 760): "Der Ausdruck »Souveränität« wurde von Jean Bodin (1530-96) in seinen >Six livres de la république< (1576) in Abwehr gegen die Forderungen der franz. Stände, der Ansprüche von Kaiser und Papst geprägt. Souverän ist nach Bodin jener Fürst, der wie der König von Frankreich, über seine Untertanen die höchste Gewalt ausüben kann, ohne selbst an die von ihm erlassenen Gesetze gebunden zu sein (»summa in cives legibusque soluta potestas«). Nur an das göttl. Recht, das Naturrecht und an das Völkerrecht bleibt der souveräne Fürst gebunden".

236 Bzgl. d. Zus.hangs mit d. d. Aufklärung einhergehenden Säkularisation, die m. E. eine fast notwendig zu nennende Folge eines religiösen Pluralismus war, lassen sich für diese Prozesse noch frühere Anfänge ausmachen. Vgl. a. Geier (1997, S. 47): "Die Ursprünge eines veränderten Welt- und Menschenbildes, und damit auch die Notwendigkeit, neue Legitimationsmuster zur Absicherung politischer Herrschaft zu konstruieren, liegen bereits in der Renaissance."

237 Ebd., S. 16.

162

"als »kameradschaftlicher« Verbund von Gleichen verstanden wird" (ebd.).

Deutlich wird dieses epochale Verständnis der nationalen Idee beispielsweise in den Schlussworten Ernest Renans in seiner vielzitierten Rede: »Was ist eine Nation?«, die er am 11. März 1882 an der Sorbonne hielt und in denen noch die Begeisterung für die Werte der Französischen Revolution mitschwingt:

"Der Mensch ist weder der Sklave seiner Rasse noch seiner Sprache, seiner Religion, des Laufs der Flüsse oder der Richtung seiner Gebirgsketten. Eine große Ansammlung von Menschen, gesunden Geistes und warmen Herzens, erzeugt ein moralisches Bewusstsein, welches sich eine Nation nennt. In dem Maße, wie dieses moralische Bewusstsein seine Kraft beweist durch die Opfer, die der Verzicht des Einzelnen zugunsten der Gemeinschaft fordert, ist die Nation legitim, hat sie ein Recht zu existieren" (Renan 1995, S. 58).

Nach den Ereignissen des nunmehr vergangenen 20. Jahrhunderts erscheint eine »nationale Moral« doch als ein wesentlich fragwürdigerer Begriff. Doch auch im Jahr 1882 waren durchaus bereits problematische Aspekte der hier so emotional verteidigten nationalen Idee zutage getreten, wie sie allein schon der ihr implizite missionarische Geist bedingte, der schon im 19. Jahrhundert von expansionistischen Zügen durchdrungen war, was wie- derum zeigt, dass eine bestimmte Moral stets auf eine bestimmte politische 238 Perspektive zurückgeht .

Renans Pathos vermag ebenfalls nicht über die Schwierigkeit des zugrunde 239 gelegten Freiheitsbegriffs hinwegzutäuschen, der nur vage beschreibt, wessen Sklave der Mensch nicht sei, aber völlig offen lässt, wer mit »der Mensch« tatsächlich gemeint ist, ob also Tagelöhner und Frauen in diesem 240 Begriff auch enthalten sind . Selbstverständlich war dies

238 Wobei eine politische Perspektive nicht zuletzt durch die Sozialisation innerhalb einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe beeinflusst wird.

239 Zu d. völlig verschiedenen Auffassungen, was unter "Freiheit" zu verstehen ist, vgl. z. B. Prechtl (S. 183f) in: Prechtl, Peter; Burkard, Franz-Peter: Metzler-Philosophie-Lexikon: Begriffe und Definitionen; Stuttgart; Weimar: Metzler, 1999. Prechtls chronologische Aufzählung diverser Freiheitsbegriffe unterschiedlicher Epochen und Auffassungen beginnt bei den Sophisten und endet bei Heidegger. Er vermittelt einen Eindruck, wie weit die verschiedenen Weltbilder divergieren, die dem jeweiligen Begriffsverständnis zu Grunde liegen.

240 Die Frau als denkendes Wesen kam lange Zeit bei den vorwiegend männlichen Autoren in Wissenschaft und Literatur nur als Objekt vor. Rullmann (1998, S. 11) weist die Verantwortung für das Verdrängen des Weiblichen an die Peripherie des Geistigen in erster Linie der Durchsetzung der monotheistischen Religionen zu: "Der jüdische Gott schloss Verträge nur noch mit Männern". Und: "Analog gilt dies auch für die Errichtung des Symbolsystems »abendländische Philosophie«: Frauen kommen darin kaum vor" (ebd.). S. hierzu auch Weidinger (1998, S. 11), die bzgl. d. Entwicklung d. Begriffs "Nation" aus 163

schließlich im 19. Jahrhundert beileibe nicht und reale Herrschaftsverhältnisse werden so ausgeblendet. Der Verdacht kommt auf, dass diese Verschleierung durchaus beabsichtigt sein könnte. Doch selbst wenn nicht - fest steht, das diese romantischen Vorstellungen darüber, was eine Nation sei, inzwischen noch weitaus schlimmere Folgen gezeitigt haben, als sich selbst kritischere Zeitgenossen Renans hätten ausmalen können.

Verantwortlich für die Grausamkeiten, die auf der ideologischen Basis der nationalen Idee begangen werden, waren wesentlich Menschen in bestimmten Positionen, die für ihre Interessen den Nationalismus samt seiner Spielarten strategisch zu instrumentalisieren verstanden, eine Stra- tegie, die auch im neoliberalistischen Zeitalter durchaus effektiv zu sein scheint.

II.3.2. Der Begriff des Nationalismus241

242 Nach dem "Wahrig Fremdwörter-Lexikon" stammt der Begriff »Nationalismus« aus dem Französischen und bezeichnet ein "übersteigertes Nationalgefühl". Diese Übersteigerung wurde bereits bei obiger Auseinan- dersetzung mit Renans Position angedeutet. Denn schon hier wird die Idee der Nation durch subjektiv-emotionale Befindlichkeiten verstärkt und läuft so notwendig auf eine Ideologie hinaus, die immer auch durch Irrationales konstituiert und häufig auf pathetische Weise kommuniziert wird.

dem "Dritten Stand" im vorrevolutionären Frankreich ebenso feststellt: "Freilich waren unter den Vertretern des "Dritten Standes" praktisch keine Bauern, so dass diese Bevölkerungsschicht, die zudem vor der Französischen Revolution teilweise noch leibeigen war, sich nicht zur 'Nation' zählen konnte. Zu dieser gehörten unterbürgerliche und unterbäuerliche Bevölkerungsgruppen (Bedienstete, Knechte, Tagelöhner etc.) ebensowenig wie die Frauen."

241 Der Begriff verlangt m. E. einen interdisziplinären Kommunikationsprozess, wobei Ziel nicht eine Einigung auf ein einheitliches Begriffsverständnis sein sollte, sondern das Erforschen seiner vielfältigen Aspekte. Vgl. hierzu ebenso Weidinger (1998, S. 11), die die Geschichte des Begriffs der "Nation" resümiert, angefangen von seiner Ableitung vom lateinischen "nasci" über die Bezeichnung der "Stämme" der Völkerwanderungszeit als "nationes", der Verwendung des Begriffs im Mittelalter für Studenten, seiner Benennung für ständische Vertretungen im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, seiner Bezeichnung für die französischen Generalstände, bis hin zur Verwendung des Begriffs "als Bezeichnung der jeweils herrschenden Schicht eines Landes".

242 1999, S. 622.

164

Akzeptiert man aber für die Basiskategorie »Nation« die Definition Benedict Andersons, für den eine Nation in erster Linie ein gedankliches Konstrukt, etwas »Vorgestelltes«, darstellt, wie oben schon ausgeführt 243 wurde, entgeht man den beispielsweise von Roland Sturm befürchteten Schwierigkeiten und braucht aus vorgefertigten ideologischen Mustern generierte Terminologien nicht zu übernehmen. Denn Vorstellungen sind schon ihrer Natur nach subjektiv und die Gefahr einer "Falschbenennung" von Konkretem besteht so eigentlich nicht, setzte dies doch eine von allen 244 Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft akzeptierte Konvention voraus .

Auch eine Aufzählung von Merkmalen ist dann nicht nötig, spiegelt doch jeder Merkmalskatalog nur die jeweilige »nationale Vorstellung« im Sinne Andersons wider, und es wird ebenfalls die Konstruktion differenzierender Bezeichnungen wie »nationale Gruppe« überflüssig.

Unzulässig ist dann allerdings die Postulierung einer Synonymität von 245 »Staat« und »Nation« , denn bei diesen Begriffen handelt es sich, wie oben dargelegt, sehr wohl um voneinander gänzlich zu unterscheidende Dinge, die einerseits dem Reich des Konkreten, insofern ein Staat eine von konkreten Instrumenten begleitete Institution repräsentiert (wie etwa Militär oder Polizei), und andererseits dem Reich des Abstrakten angehören.

Es sollte auch nicht übersehen werden, dass der mit der "Verknüpfung von Staat und Nationalstaat" etwa erzielte "Zugewinn staatlicher Legitimität" ebenfalls nur ein vorgestellter sein kann. Vielleicht liegt es an Sturms Legitimitätsbegriff, der sich nicht mit dem hier zugrunde gelegten und bei 246 247 Wahrig definierten deckt, wonach unter »Legitimität« eine

243 1985, S. 593.

244 1985, S. 593.

245 Vgl. ebd., S. 593f.

246 1999, S. 534.

247 Vgl. hierzu den Legitimitätsbegriff Max Webers (1972, S. 17): "Die Legitimität einer Ordnung kann garantiert sein: I. rein innerlich und zwar 1. rein affektuell: durch gefühlsmäßige Hingabe; 2. wertrational: durch Glauben an ihre absolute Geltung als Ausdruck letzter verpflichtender Werte (sittlicher, ästhetischer oder irgendwelcher anderer); 3. religiös: durch den Glauben an die Abhängigkeit eines Heilsgüterbesitzes von ihrer Innehaltung; II. auch (oder: nur) durch Erwartungen äußerer Folgen, also: durch Interessenlage; aber: durch Erwartungen von besonderer Art." 165

Berechtigung bzw. der Nachweis einer solchen zu verstehen ist, dass er zu dem Schluss kommt:

"Erst die gedachte Aufhebung der Nation im Staat legitimiert Letzteren, an das Interesse aller Bürger an der Verteidigung der nationalen Interessen bis hin zur kriegerischen Auseinandersetzung zu appellieren und so den N. über ein Vehikel zur Staatswerdung hinaus zur Grundlage einer aggressiven staatlichen Politik gegenüber anderen Nationen zu machen" (Sturm 1985, S. 593f).

Dass sich ein Staat oder vielmehr die ihn aktuell regierende Gruppe mög- licherweise zu einer aggressiven Politik berechtigt fühlt, sei unbestritten, was aber schließlich niemals heißen kann, dass er bzw. sie dies auch objek- tiv gesehen ist248.

Auch Gellners Nationalismusverständnis ist problematisch. Ihm gemäß 249 konstituiert die "Verbindung von Organisation und Kultur" »den« Nationalismus. Fragwürdig ist nicht nur die in dieser Definition implizite Behauptung, es gäbe »den« Nationalismus, was hier bestritten wird, sondern auch die ebenfalls implizite Annahme, es gäbe eine »Kultur« an sich, d. h. Kultur sei eine für jedermann klar erkennbare und identifizierbare Sache, die nicht weiter erklärt zu werden braucht.

Eine derart axiomatische Behandlung eines global unterstellten Kulturbegriffs dient jedoch eher der Verdeckung herrschaftsideologischer Hintergründe, als dass sie zum Verständnis der sie generierenden Zusammenhänge beitragen könnte. Deshalb kann eine solcherart ver- schleiernde Definition eines Phänomens kaum die Basis eines im menschen- wissenschaftlichen Verständnis heuristisch ergiebigen Ansatzes sein, der verwendete Begriffe transparent zu machen sucht. So hätte Gellner darlegen müssen, was er unter Kultur verstehen will, sind doch bezüglich dieses Begriffs je nach ideologischer Perspektive recht konträre Sichtweisen möglich.

Die Problematik der Klärung des Nationalismusbegriffs wird von Anderson

Webers Definition zeigt, dass eine "Legitimität" stets von einer herrschenden Gruppen den Anderen aufoktroyiert wird, sei es auch häufig durch den Gebrauch von ideologischen Setzungen.

248 Interessant ist hierbei auch der Aspekt der "Territorialität des Menschen" (Dürrenberger 1989, S. 11). In ihr zeigt sich "das Wechselverhältnis von Natur und Kultur" (ebd.), das in eine solche aggressive Außenpolitik zweifelsohne mit hineinspielt.

249 1999, S. 20.

166

250 251 ebenso gesehen , der auch eine Hypostasierung »des« Nationalismus als wenig hilfreich ansieht. Andersons Definition, der die Nation als "vorgestellte Gemeinschaft" versteht, erscheint mir als Eingang in eine Analyse des Nationalismusphänomens am brauchbarsten.

Nationale Vorstellungen besitzen laut Anderson "eine starke Affinität zu 252 religiösen Vorstellungen" . Dieser Zusammenhang kann nicht verwun- dern, wenn man die von Michael Mann vorgenommene Gleichsetzung von 253 Religion, Ideologie und Mythos für gültig erachtet . Anderson erklärt das Aufkommen des Nationalismus, das zeitlich ins 18. Jh. fällt, mit dem gleichzeitigen Verfall traditioneller Religiosität:

"Der Zusammenbruch des Paradieses macht den Tod willkürlich und überführt jeden Erlösungsgedanken der Absurdität. Notwendig wurde somit eine Umwandlung des Unausweichlichen in Kontinuität, der Kontingenz zu Sinn" (ebd., S. 18).

Die nationale Idee konnte in die entstandene ideologische Lücke gesetzt werden und ließ sich gut funktionalisieren, denn

"auch wenn man Nationalstaaten weiterhin als »neu« und »geschichtlich« versteht, so kommen die Nationen, denen sie den politischen Ausdruck verleihen, immer aus unvordenklicher Vergangenheit und noch wichtiger, schreiten in eine grenzenlose Zukunft" (ebd., S. 18f).

Laut Anderson löste also im 18. Jh. ein Mythos einen anderen ab. Diese Ablösung war kein punktuelles Ereignis, sondern ein gradueller Prozess, wie es auch das Beispiel Italiens zeigt.

Man erleichtert sich den Denkprozess darüber hinaus, wenn man nicht außer Acht lässt, dass sowohl der Nationalismus einschließlich aller Spielarten als auch der Imperialismus Modelle im Sinne des in Teil I diskutierten 254 Verständnisses von Max Black sind, die von der Realität abstrahieren

250 Vgl. 1998, S. 14.

251 S. hierzu auch die Einleitung Otto Danns zu Schieders "Nationalismus und Nationalstaat" (1991, S. 11). Nach Dann glaubte Schieder "an ein »Europa der Nationen«; es ging ihm um die Bewahrung von nationalen und regionalen Kulturtraditionen. Gegenüber dieser großen humanen Aufgabe hatte der autonome, ideologische Nationalstaat versagt."

252 Ebd., S. 17.

253 Vgl. Teil I dieser Arbeit.

254 Dabei wird nicht übersehen, dass es bei aller Notwendigkeit der Reduktion zum Zwecke der größeren Anschaulichkeit darauf achtzugeben gilt, dass entscheidende Wesensmerkmale nicht dieser zum Opfer fallen. 167

müssen, sollen sie für menschenwissenschaftliche Erkenntnisprozesse im Sinne von Norbert Elias fruchtbar gemacht werden.

Aus diesem Grunde wird hier auf eine detailliertere Auseinandersetzung mit dem Imperialismusbegriff verzichtet - es sei lediglich an dieser Stelle auf die Position verwiesen, die den Begriff nur als historischen zur Bezeichnung einer bestimmten Epoche verwenden will und auf die umfangreiche Litera- tur zum marxistischen Imperialismusverständnis wie es u. a. von Rosa 255 Luxemburg, Lenin oder Bucharin vertreten wird .

Der Faschismus wird im Folgenden als eine besondere Form des italienischen Nationalismus gesehen, für den aber im Prinzip die Begriffsdefinition, die Benedict Anderson für den Nationalismus im Allgemeinen anbietet, ebenso Gültigkeit besitzt.

Zwischenfazit: Im Folgenden soll also unter einer Nation ein vorgestelltes und konstruiertes Gebilde - ein Mythos - verstanden werden, das im Falle Italiens näher betrachtet wird.

255 Auch Balibar/Wallerstein (1990) nehmen aus marxistischer Perspektive dazu Stellung.

168

II.4 Die Ausbildung nationaler Kriterien in Italien

Im Folgenden werde ich nun versuchen, die Basis eines nationalen Mythos in Italien festzustellen, um dann dessen historischen Wandel anhand des strukturalistischen Schemas von Barthes zu rekonstruieren.

II.4.1 Die territoriale Einheit Italiens

Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts bezog sich in seiner Entstehungs- phase wesentlich auf die Annahme einer territorialen Einheit. Trifft dies 256 auch auf Italien vor dem Risorgimento zu?

Auf dem Wiener Kongress hatte Metternich seinen vielzitierten Ausspruch getan, dass es sich bei dem Wort "Italien" nur um einen »geografischen 257 Begriff« handele . Noch hundert Jahre zuvor wäre einem konservativen Vertreter der Donaumonarchie wie Metternich nicht einmal die Notwendig- keit einer bloßen Erwähnung dieses »geografischen« Umstandes in den Sinn 258 259 260 261 gekommen . Zwar hatten bereits Dante , Petrarca und Machiavelli

256 Selbst Mussolini war sich in dieser Hinsicht nicht so ganz sicher, was sich auch auf seine Definition des Staates auswirkte. S. hierzu Weidinger (1998, S. 21): "Während in der theoretischen Grundlegung des deutschen Faschismus (Nationalsozialismus) vor allem die Rasse die Nation konstituierte, ist bei Benito Mussolini, dem Begründer des italienischen Faschismus, der Staat der Schöpfer der Nation. In seiner Doktrin des Faschismus erschafft sich der Staat die Nation, ist er das immanente Bewusstsein der Nation."

257 Vgl. z. B. Witz 1986, S. 22.

258 Metternich äußerte diese Einschätzung während des Wiener Kongresses (vgl. Witz 1986, S. 22).

259 Der Florentiner Dante sympathisierte bereits heftig mit der römischen Antike und betrieb in diesem Sinne einen legendenbildenden Ahnenkult: "Voller Stolz hat Dante später die Abstammung seiner Familie aus dem »heiligen Samen« eines alten Römergeschlechts hergeleitet, das in der Gründerzeit Florenz kolonisierte (vgl. Inf. 15,73-78)" (Hardt 1996, S. 78).

260 Petrarca "träumt sich in die Antike zurück" (Petronio 1992, Bd. 1, S. 108) und sympathisiert mit Cola di Rienzo, "dessen Ideal einer Wiederherstellung der römischen Republik er zu teilen schien, bevor er von den Umtrieben des Volkstribunen wieder abrückte" (ebd., S. 109).

261 In Bezug auf Machiavelli muss selbstverständlich betont werden, dass er "gegenüber der italienischen Wirklichkeit eine von Mal zu Mal wechselnde Haltung" (Petronio 1992, Bd. 1, S. 303) einnimmt.

169

die Begründung eines einheitlichen und unabhängigen Italien für wünschenswert erachtet, verstanden dies jedoch angesichts des zu dieser Zeit zersplitterten und zwischen den diversen europäischen Machtblöcken hin- und hergerissenen Daseins Italiens mehr als politische und kulturelle 262 Utopie .

Der Gedanke an ein italienisches »Reich« kam jedoch in der gesamten Zeit bis zur Französischen Revolution niemals ernstlich auf. Denn erst diese 263 schuf "die Voraussetzungen für ein politisches Nationalbewusstsein" und

"unter Napoleon erhielt die ganze Halbinsel erstmals für kurze Zeit eine einheitliche Rechtsordnung" (ebd., S. 5).

Die Bewohner des von Metternich 1815 gemeinten Territoriums machten also durch die napoleonische Besetzung desselben eine neue Erfahrung, und zwar die einer einheitlichen, für alle in ihm lebenden Menschen gültigen 264 Verfassung . Diese Erfahrung setzte nun einen Vorstellungsprozess in Gang, der laut Benedict Anderson die Voraussetzung für jede Generierung eines mythisch-nationalen Gebildes ist.

Auch in der Psychologie

"gilt als Vorstellung jeder als zusammenhängendes Ganzes erlebte Bewusstseinsinhalt, der - unabhängig von dem wirklich Vorhandenen - auf einen bestimmten Gegenstands-, Ereignis- oder Situationsbereich gerichtet ist" (Fröhlich 2000, S. 467),

wobei derartige "antizipierende" Vorstellungen auf "Erfahrungselementen aus der Vergangenheit" basieren und diese "mit den Mitteln des schluss- folgernden Denkens bzw. der Phantasie" ergänzen.

Man kann also davon ausgehen, dass nach dem Wiener Kongress »Italien« sehr wohl als "begrenzte territoriale Einheit", wenn auch nicht als real gegebener Staat, so aber doch in einigen Köpfen als Vorstellung, existierte. Da nun nach Benedict Anderson eine Nation immer nur eine vorgestellte

262 Vgl. del Prete 1997, S. 704.

263 Lill 1988, S. 4.

264 Deshalb empfand man die Zeit des napoleonischen Regimes in Italien nicht in dem Maße als drückend als anderswo. S. hierzu a. Lill (1988, S. 62): "Mehr noch als Deutschland ist Italien in das französische Hegemonialsystem einbezogen worden, welches die Revolution eingeleitet und Bonaparte vollendet hat. Trotzdem ist diese Periode in Italien weniger als Zeit der 'Fremdherrschaft' empfunden worden als in Deutschland."

170

265 Gemeinschaft sein kann, lag einigen an der Ausbildung einer Bewegung , die sich auch die politische Realisierung dieser sich stetig weiter ausgestaltenden Vorstellung zum Ziel setzte.

II.4.2 Die kulturelle Einheit Italiens

Behauptet wurde von den Nationalisten des 19. Jahrhunderts ebenfalls die 266 Existenz einer gemeinsamen kulturellen Charakteristik , für die als Beispiele Sprache, Sitten, Bräuche und Literatur genannt wurden. Eine detaillierte Untersuchung aller dieser Elemente würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sicherlich sprengen. Doch ein etwas genauerer Blick 267 auf den Prozess der Konstitution einer gemeinsamen Sprache und 268 Literatur verspricht doch interessante Aufschlüsse. Begonnen muss auch hier mit der Frage werden: Wie stand es damit in Italien vor dem Risorgimento?

265 Beispielsweise entstanden zu dieser Zeit die Carbonari. S. hierzu bes. d. Artikel "Carbonari" (S. 169) in: Lennhoff, Eugen; Posner, Oskar; Binder, Dieter A.: Internationales Freimaurerlexikon; München: Herbig, 2000. Dort heißt es u. a.: "Die C. wurden in den Zeiten der napoleonischen Herrschaft namentlich in Süditalien sehr stark und predigten in Hütten die Idee der Einheit und Unabhängigkeit Italiens. Ihre Riten, die ihrem ganzen Aufbau nach freimaurerischen Vorbildern nachgeahmt waren, ohne dass eine unmittelbare Verbindung zwischen Carboneria und Freimaurerei bestanden hätte, betonten sehr stark das religiöse Moment."

266 Z. Begriff der "Kultur" s. a. BROCKHAUS (1997, Bd. 12, S. 612): "In seiner weitesten Verbreitung kann mit dem Begriff K. alles bezeichnet werden, was der Mensch geschaffen hat, was also nicht naturgegeben ist. In einem engeren Sinn bezeichnet K. die Handlungsbereiche, in denen der Mensch auf Dauer angelegte und den kollektiven Sinnzusammenhang gestaltende Produkte, Produktionsformen, Verhaltensweisen und Leitvorstellungen hervorzubringen vermag. Deshalb betont dieser K.-Begriff nicht nur das Hervorgebrachte und Künstliche, sondern auch die Wertschätzung, die diesem zukommt." Demnach ist es der Kulturbegriff "in einem engeren Sinn", von dem hier die Rede ist.

267 S. hierzu a. Steinbach (1994, S. 156), nachdem "Staatssprachen" "noch keine Nationalsprachen" sind. Erstere können aber "durchaus als Landessprachen qualifiziert werden, die eine besondere Funktion für die Steuerung von Staaten und Gesellschaften erhalten. Ihre historische Bedeutung liegt darin, dass sie sich zu nationalen Schriftsprachen entwickeln und so die Entstehung einer objektivierbaren und dennoch imaginären Gemeinsamkeit begünstigen konnten."

268 Gerade der Literatur kommt eine nicht unbedeutende Rolle in Hinblick auf die italienische Staatsbildung zu. Mario Isnenghi (1994, S. 48ff) überschreibt beispielsweise die Schilderung des Beginns des Risorgimento: "Italien: eine Erfindung der Literaten?"

171

II.4.2.1 Die Generierung einer italienischen Sprache

II.4.2.1.1 Die sprachliche Situation im heutigen Italien

Dabei kann man zunächst von der aktuellen sprachlichen Situation in Italien ausgehen. Handelt es sich bei dem Kommunikationsmittel, das dem Italien- 269 interessierten unhinterfragt als »Italienisch« verkauft und beigebracht wird, tatsächlich um ein von allen nach aktuell gültigen politisch-büro- kratischen Regeln als »Italiener« eingestuften Menschen akzeptiertes und vorwiegend verwendetes Medium?

Abgesehen von der ohnehin regional stark divergierenden Handhabung von Dialekten spielt hierbei noch die für Italien typische Nord-Süd-Dicho- tomisierung eine wesentliche Rolle, wie die Sprachwissenschaftlerin Anna Laura Lepschy meint, obwohl sie einen Mangel an zuverlässigem statisti- schem Quellenmaterial konstatiert:

"Es gibt keine zuverlässigen Angaben darüber, wie viele Menschen heute a) eine Dialektvarietät, b) eine Varietät des Italienischen oder beides verstehen und/oder sprechen können und wodurch im letzten Fall ihre Entscheidung für das eine oder das andere bestimmt wird. Unser subjektiver Eindruck von der sprachlichen Situation in den norditalienischen Städten ist, dass die meisten dort lebenden Menschen sowohl das Italienische als auch den Dialekt verstehen und dass in der Regel hauptsächlich ausschließlich Ältere hauptsächlich Dialekt sprechen, während die Jüngeren zunehmend das Italienische bevorzugen. Allerdings scheint seit Anfang der siebziger Jahre vielerorts die Verwendung des Dialekts wieder zuzunehmen oder zumindest nicht weiter zurückzugehen" (1986, S. 36).

Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier gleich noch die Definition dessen angefügt, was man sich in Italien unter einem »Dialekt« vorzustellen hat, nämlich

"nicht verschiedene Varietäten des Italienischen: die italienischen Dialekte unterscheiden sich so stark voneinander und von der Standardsprache, dass sich Sprecher unter- schiedlicher Dialekte manchmal gegenseitig nicht verstehen können. Zwei Dialekte können sich so stark voneinander unterscheiden wie das Französische vom Spanischen, das Portugiesische vom Rumänischen oder sogar das Italienische vom Englischen. Der anfängliche Eindruck der Fremdheit und Unverständlichkeit kann derselbe sein" (ebd., S. 6).

Eine regionale Färbung des Italienischen ist von diesen Dialekten laut

269 Sprachpolitik ist oft Ausdruck einer Zwangsintegration von Minderheiten, die diese mittels der Schulen durchsetzen will. S. a. Steinbach (1994, S. 159): "Minderheiten, die Anspruch auf nationalstaatliche Konsolidierung oder zumindest ihre innerstaatliche Autonomie erheben, allerdings nicht mit anderen Nationalstaaten verbunden sind, werden vielfach marginalisiert."

172

Lepschy deutlich zu unterscheiden und ist demgemäß besser mit dem Begriff des »Akzents« zu bezeichnen. So wird in der Italianistik nach wie vor nicht lediglich zwischen Dialekt und Hochsprache unterschieden, sondern es gilt die folgende weithin akzeptierte Einteilung in: - italiano (letterario, o colto, o scritto) - italiano 'regionale' - dialetto 'regionale' - dialetto locale (nach Geckeler 1987, S. 18)

Es existiert also nicht nur eine lokale Färbung der Hochsprache, sondern sogar der Dialekt weist eine solche auf. Dies deutet auf eine tiefgehende italienische Sprachproblematik hin, die auf die aktuellen sozialen und 270 politischen Konflikte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss hat . Denn

"mehr als ein Jahrhundert nach der politischen Einigung Italiens scheint das Land von einer sprachlichen Einigung noch immer weit entfernt zu sein" (ebd., S. 158).

Die Frage nach den Entstehungsgründen eines solchen Grabens zwischen »Dialekt« und »Sprache« trifft am Ende auf eine historisch-politisch moti- vierte Antwort. Aber selbst eine Antwort aus linguistischer Perspektive müsste letztlich wieder auf politische Konstitutionskriterien zurückgreifen, den

"die Nationalsprache ist nichts anderes als ein ehemaliger Dialekt, der dank historischer Faktoren und mit Hilfe einer gezielten Sprachpolitik den Status eines Referenzmodells erlangt hat" (Blasco Ferrer 1994, S. 11).

Hinzu kommt noch die Ideologiebesetzung der beiden Begriffe, die "mit 271 272 außersprachlichen Werturteilen beladen" sind .

270 Der Einfluss einer italienischen Nationalsprache auf einen in der Folgezeit eskalatorischen Nationalismus kann nicht überschätzt werden. Vgl. a. hierzu Steinbach (1994, S. 157) im Anschluss an Benedict Anderson: "Die Schriftsprachen vor allem erlaubten es den Adressaten eines aufblühenden Buchmarktes, den gebildeten 'Mit-Lesern' in der als Bildungsbürgertum bezeichneten Mittelschicht, sich die durch Schrift und Sprache manifestierten und sich so augenscheinlich objektivierbaren Verbindungen zwischen einer unsichtbaren und dennoch ersichtlichen Gemeinschaft als Nation gleichartiger Mitbürger vorzustellen."

271 Ebd., S. 12.

272 "Ein Dialekt" ist nach Blasco Ferrer (1994, S. 12) "ein Sprachsystem mit eingeschränkter Funktionalität", während "im Falle des Italienischen" "der florentinische Dialekt (vor allem des Trecento = fiorentino aureo) die Grundlage der heutigen Nationalsprache" (ebd., S. 11) bildet.

173

II.4.2.1.2 Das historische Werden der italienischen Sprache

Ein Einfluss der Sprachpolitik auf alles übrige politische Geschehen innerhalb eines Territoriums ist wahrscheinlich. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, noch einen längeren Blick auf die italienische Sprach- 273 geschichte zu werfen .

274 Blasco Ferrer unterscheidet hierbei eine »interne« und eine »externe« Sprachgeschichte, wobei er unter der Ersteren "die interne Entwicklung der italienischen Hochsprache (die auf dem Toskanisch-Florentinischen beruht)" versteht. Wie kam nun ausgerechnet das Toskanische zu der Ehre, allgemeine italienische Hochsprache zu werden?

Bereits in antiker Zeit wurde keineswegs im ganzen römischen Reich ausschließlich das innerhalb des römischen Stadtgebiets gepflegte und in 275 Literatur und Verwaltung manifestierte und heute als »klassisch« geltende Latein gesprochen. Die Ausbreitung der lateinischen Sprache war vielmehr erst eine Folge der römisch-imperialistischen Expansion:

"Der Phase der politisch-militärischen Eroberung, zunächst in der Westhälfte des römischen Reiches - wegen seines Kulturprestiges nicht im griechisch-sprachigen Osten! -, die Phase der kulturellen Durchdringung, der Romanisierung, welche - nach Regionen verschieden - die frühere oder spätere Annahme der lateinischen Sprache bewirkte" (Geckeler 1987, S. 108).

276 Die Einflüsse dieser Latinisierung verschwanden jedoch in einigen

273 Z. Prozess der deutschen Sprachgeschichte vgl. z. B. Giesecke 1992, S. 73 ff: >Volkssprache< und >Verschriftlichung< des Lebens in der frühen Neuzeit. Kulturgeschichte als Informationsgeschichte.

274 Ebd., S. 114.

275 Der lateinischen Sprachgeschichte ist zu entnehmen, dass das Lateinische noch im 8. vorchristlichen Jahrhundert lediglich von einer regionalen Minderheit gesprochen wurde. Vgl. hierzu Rix, Helmut in: Canczik, Hubert; Schneider, Helmuth (Hrsg.): Der neue Pauly: Enzyklopädie der Antike; Stuttgart; Weimar: Metzler, 1999, Bd. 6, Sp. 1160: "Zu Beginn der Geschichte (8. Jh. v. Chr.) wurde Latein in Latium gesprochen (daher lingua Latina), also vom unteren Tiber bis zum Liris. Bevor die Etrusker Ende des 2. Jt. von der Küste her das spätere Faliskisch abtrennten, reichte das lat. Sprachgebiet über den Tiber nach Norden. Um 500 v. Chr. besetzten die sabell. Volsci große Teile Latiums. So war L. als Staatssprache auf Rom beschränkt."

276 S. a. ebd. Sp. 1161: "Mit der polit. Expansion Roms seit ca. 350 v. Chr. expandierte auch das L., zuerst durch die Gründung von coloniae, dann durch freiwilligen Sprachwechsel der abhängigen Gemeinden [...], dann auch der socii, die 90 v. Chr. röm. Bürger wurden; 70 n. Chr. waren in It. alle vorröm. Sprachen außer dem Griech. verschwunden." 174

Gebieten im Zuge der Völkerwanderung wieder, wie z. B. in England, 277 Nord-Afrika und Deutschland .

Darüber hinaus leuchtet es unmittelbar ein, dass sich während der Romanisierung nicht etwa ein einheitliches Idiom in den verschiedenen Gebieten etablierte, sondern eine Vielzahl lokaler Varianten, die jeweils aus der Vermischung authochtoner Sprachelemente mit der aufoktroyierten Verwaltungssprache hervorgingen. Daneben existierte aber schon zu dieser Zeit in Rom selbst neben der Schriftsprache eine Umgangssprache, das sogenannte Vulgärlatein, das nach Blasco Ferrer

"eine im engeren Sinne und medial und konzeptionell aufzufassende Nähesprache" (1994, S. 121)

darstellt. Dabei fand die Differenzierung in Vulgärlatein und Schriftsprache relativ spät statt und wurde erst zur Zeit des Höhepunkts der römischen Expansion im ersten vorchristlichen Jahrhundert real praktiziert, d. h. 278 seitens der Oberschicht erfolgte eine Deklassierung des Vulgärlateins , während "den volkstümlichen Phänomenen des Altlateins" keine feste literarische Form entgegengewirkt hatte. Diese soziale Entwicklung kann außerdem nicht unabhängig von den sprachlichen Prozessen in den eroberten Gebieten gesehen werden, blieb doch das Vulgärlatein

"besonders auf dem Land (sermo rusticus) und in den vom Zentrum abgelegenen Gebieten den zentrifugalen Kräften, regionalen Eigenentwicklungen und dem Druck der jeweiligen Substratsprache ausgesetzt" (ebd.).

Verdeutlicht wird dies auch durch den langen Zeitraum, der zwischen der ersten römischen Eroberung, nämlich Siziliens, die auf das Jahr 241 v. Chr. datiert wird, und der Einnahme der letzten, Daciens, die im Jahre 107 n. Chr. stattfand,

"denn es ist nicht anzunehmen, dass das Latein über diese lange Zeitspanne hinweg unverändert blieb" (Geckeler 1987, S. 113)279.

277 Für Deutschland vgl. hierzu z. B.: Schmidt, Wilhelm: Geschichte der deutschen Sprache; Stuttgart; Leipzig: Hirzel, 2000 (S. 68) u. Eggers, Hans: Deutsche Sprachgeschichte; Reinbek: Rowohlt, 1996 (S. 100).

278 Für Deutschland vgl. hierzu z. B.: Schmidt, Wilhelm: Geschichte der deutschen Sprache; Stuttgart; Leipzig: Hirzel, 2000 (S. 68) u. Eggers, Hans: Deutsche Sprachgeschichte; Reinbek: Rowohlt, 1996 (S. 100).

279 Vgl. hierzu auch o. Saussures Auffassung hinsichtlich eines ohnehin ständigen Wandels gesprochener Sprachen. Noch größerer Bedeutung kommt dem hinzu, wenn man bedenkt, 175

Mit der schwindenden Macht Roms als Zentrum wurden die regionalen 280 Einflüsse stärker :

"Besonders in spätlat. Zeit entfernten sich die aus Rom ausgestrahlte Norm und die sich allmählich verfestigenden Zentrifugalkräfte, die für die Entwicklung regionaler Normen verantwortlich waren, immer weiter voneinander weg" (Blasco Ferrer 1994, S. 123).

Das bedeutet, dass die Unterschiedlichkeit des in einer Provinz gesprochenen Vulgärlateins im Vergleich mit dem römischen Zentrum desto mehr zunahm, je weiter diese Provinz von Rom entfernt war. Gleiches gilt selbstverständlich für die periphären Provinzen untereinander: mit der geographischen Distanz nahm auch die sprachliche Differenz zwischen ihnen zu. So gab es also bereits in der Antike ein von der Hochsprache sich immer weiter entfernendes Vulgärlatein, das sich von Anfang an in verschiedenen Versionen in den eroberten Gebieten etablierte, wobei sich deren divergierender Charakter im Laufe der Zeit immer mehr bemerkbar machte. Diese Tendenz wurde dann noch durch die abnehmende Macht des 281 römischen Zentrums verstärkt .

Die im 5. Jahrhundert in Italien einfallenden germanischen Stämme waren 282 zu dieser Zeit noch nicht verschriftet . Aus diesem Grund ist ihr sprachlicher Einfluss kaum dokumentierbar, zwang dieser Umstand doch 283 284 auch dazu, die Zivildemokratie in römischen Händen zu belassen .

Besonders in der Toskana, die sprachhistorisch bedeutsamste Region 285 Italiens, ist der germanische Spracheinfluss eher gering zu veranschlagen.

dass mit einem abnehmenden Alphabetisierungsgrad evtl. grammatikalische Besonderheiten keiner strengen Regelung und somit Festschreibung unterworfen sind.

280 D. h. Eigenheiten d. Vulgärlateins wurden "in den roman. Sprachen regulär" (Rix, Helmut in: Canczik, Hubert; Schneider, Helmuth (Hrsg.): Der neue Pauly: Enzyklopädie der Antike; Stuttgart; Weimar: Metzler, 1999, Bd. 6, Sp. 1161).

281 Vgl. hierzu a. Haarmann, Harald: Lexikon der untergegangenen Sprachen; München: Beck, 2002, S. 120f.

282 Für d. Goten vgl. ebd., S. 80f.

283 Vgl. Witz 1986, S. 12.

284 S. hierzu a. Seidlmayer, Michael; Schieder, Theodor; Petersen, Jens: Geschichte Italiens : vom Zusammenbruch d. Römischen Reiches bis zum ersten Weltkrieg; Stuttgart : Kröner, 1989, insbes. Kap. "Die Herrschaft der Ostgoten" (S. 31ff).

285 Dazu kommt, "dass man für gewöhnlich kaum mehr als 10-15000 Krieger, oder 176

So hat das »Italienische« nur etwa 500 Wörter aus den germanischen 286 287 Sprachen aufgenommen .

Die Aufnahme anderssprachiger Elemente in das in einer bestimmten Provinz gesprochene Vulgärlatein hing jeweils von der Häufigkeit und der Intensität der fremden Einflüsse ab. Während sich im Norden eher keltische und germanische Sprachinfiltrationen durchsetzten, machte sich im Süden von jeher die Tatsache bemerkbar, dass diese Gebiete sich innerhalb einerseits der griechisch-byzantinischen und andererseits innerhalb der 288 289 arabischen Machtsphäre befanden .

Im Laufe der Jahrhunderte setzt sich das Vulgärlatein durch und wird schließlich zum »volgare«. Dieser Prozess wird wesentlich durch den graduellen Zerfall der Einheit des römischen Reiches im 5. Jahrhundert verursacht und bringt "die auch kulturelle Verselbständigung der 290 291 Provinzen" mit sich .

"Die Literatur wird regional in verschiedener Weise und mit ungleichmäßiger Kraft weiter gepflegt" (ebd.).

einschließlich der Frauen, Kinder und Sklaven, 50-70000 Köpfe annehmen darf" (ebd., S. 35). "Nur eine dünne Herrenschicht also bildeten die gotischen Eroberer in der nach Millionen zählenden einheimischen Bevölkerung. Das ganze innenpolitische System, auf dem Theoderich seine Herrschaft über Italien errichtete: Mischehenverbot, getrenntes Recht wenigstens in der zivilen Sphäre, Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses - katholische Römer, arianische Goten - ist darauf abgestimmt, die geringe gotische Volkssubstanz zu erhalten."

286 Vgl. Blasco Ferrer 1994, S. 132.

287 Was ebenfalls nicht zuletzt polit. Ursachen gehabt haben dürfte: "Von der höheren Bildung hielt Theoderich seine Goten grundsätzlich (wenn auch nicht ausnahmslos fern: Sie sollten Krieger bleiben. Und zu den charakteristischen Merkmalen der germanisch-arianischen Kirche gehört es, dass sie außer ihrem Verzicht auf missionarische Aktivität unspekulativ und literarisch so gut wie unfruchtbar war. So blieb die geistige Kultur tatsächlich Reservat der Römer" (ebd., S. 39).

288 Vgl. hierzu auch Geckeler 1987, S. 126ff u. Blasco Ferrer 1994, S. 132ff.

289 Vgl. hierzu a. Duggan 1994, S. 9f.

290 Büchner 1980, S. 542.

291 Das allmähliche Auseinanderdriften könnte die Autonomie der Provinzen gerade durch sein von Zeitgenossen sicherlich kaum wahrnehmbares Tempo befördert haben. S. hierzu a. Duggan (1994, S. 32): "The collapse of the Roman Empire in the west was gradual rather than sudden. The event traditionally seen as marking it - the deposition of the Emperor Romulus Augustulus by the barbarian Odoacer in 476 - brought no special comment from western chroniclers."

177

In der Tat geht die Pflege der lateinisch-klassischen Literatur im 5. Jahrhundert gegen Null und Büchner nennt Boethius' Texte, mit welchen er seine "römische Literaturgeschichte" ausklingen lässt, sogar "zeitfremd" und bezeichnet deshalb seinen Stil als "symbolischen Klassizismus" (S. 548).

Während im Norden die Langobarden eindringen, zeigen sich im römischen Zentrum die Folgen jener Politik, die dem Christentum den Vorrang vor allen anderen Religionen einräumt.

"Der Bischof von Rom, schon im 3. Jahrhundert weisungsberechtigt über die anderen Bischöfe, galt nunmehr als der 'geheime Kaiser'" (Senoner 1981, S. 136).

Neben Auswirkungen politischer Natur hatte dieser Prozess ebenfalls gravierende Folgen für die Kultur:

"So wurde im Übergang zwischen Altertum und Mittelalter die Kirche Vermittlerin römischer Tradition; mit der Klostergründung von Monte Cassino durch Benedikt von Nursia (529 v. Chr.) setzte ein Prozess ein, der vom römischen Reich zu einem romanisch- germanischen und christlichen Europa führte" (ebd.).

Für die Literatur bedeutet die Machtübernahme durch die christlichen Offizialen, die sich ebenfalls weiterhin der lateinischen Sprache bedienen, eine verstärkte Hinwendung zu religiösen Hymnen und Werken, die die 292 christliche Dogmatik verbreiten helfen sollen .

"Das Fundament der mittelalterlichen Kultur der romanischen Länder war die Verschmelzung von christlicher Religion mit dem Wesen der Antike" (Wittschier 1985, S. 23).

Diese "kulturelle Symbiose" ging allerdings nicht konfliktfrei vonstatten, sondern war von heftigen Auseinandersetzungen geprägt, die in den darauffolgenden Jahrhunderten vor allem zwischen dem römischen Stadt- 293 adel und dem Papsttum ausgetragen wurden , wobei besonders im hohen Mittelalter der deutsche Kaiser als dritter Machtfaktor und Koali- 294 tionspartner hinzukam .

292 So wird das Papsttum zum Machtinstrument, denn "mit Beginn des 10. Jahrhunderts aber schält sich in Rom aus diesem Kampf aller gegen alle doch eine Adelsfamilie heraus, die die Führung übernimmt und sich das Papsttum als Instrument und ausführendes Organ ihres Willens weitgehend unterordnet."

293 Z. d. Auseinandersetzungen zwischen Kaiser u. Kirche s. bes. Vollrath 1997, S. 45ff. Die Parteinahme div. Gruppen entweder für den Kaiser oder für den Papst führte besonders in den Städten d. mittelalt. It. zu einer Aufspaltung von Adel und Bürgerschaft in Ghibellinen u. Guelfen. S. hierzu a. Seidlmayer (1989, S. 137f).

294 Bei seiner Beurteilung muss nämlich bedacht werden, dass trotz der Uneinheitlichkeit 178

"Diese Spannung zwischen dem Kirchenstaat und den säkularen Machtträgern schuf zahlreiche Krisen, die seit dem hohen Mittelalter von der emanzipatorischen Entwicklung eines neuen Standes neben Adel, Klerus und Bauern, nämlich des Bürgertums, überlagert wurden, welches rasch zur kulturbewusstesten und literatur-produktivsten Bevölkerungs- schicht aufstieg" (ebd.).

Dieser Prozess war jedoch weder für die gesamte Apenninenhalbinsel ein einheitlicher noch einer, der sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche 295 hindurchzog .

Administrative Sprache blieb das Lateinische noch lange, auch aus dem Grund, dass das Vulgärlatein und später ebenso das »volgare« der erforderlichen Einheitlichkeit ermangelte, die für ein Kommunikations- medium in der Verwaltung prinzipiell vonnöten ist.

"Everywhere Latin remained the language of administration, learning and thought, not just for reasons of cultural prestige but because there was no other lingua franca" (Usher 1996, S. 3f).

Es existierte also zunächst überhaupt keine Alternative zur Verwendung der lateinischen Sprache, da alle anderen Kommunikationsmedien von einem Stadium der Verschriftung und einer mit dieser einhergehenden Verein- heitlichung von Grammatik und Orthografie, die erst eine überregionale Kommunikation ermöglichen, noch weit entfernt waren .

Am Ausgang der Antike existieren dann zwei lateinische Sprachformen, deren Verwendung nicht nur vom jeweiligen Zweck abhängt, sondern auch von der sozialen Lokation des jeweiligen Sprechers, denn die beiden Sprachformen - unabhängig von ihrer Regionalität - entsprechen "einer 296 bildungsmäßigen Schichtung" . Denn

dieses Prozesses durch ihn bestimmte Familien zu einem gewichtigen Machtfaktor wurden und diesen Status über Jahrhunderte hinweg aufrechterhalten konnten. "So stammt der 1730 verstorbene Papst Benedikt XIII. Orsini aus einer Familie, die schon von 1277 bis 1280 den Stuhl Petri besetzt und in den nachfolgenden fünfhundert Jahren nicht nur in Rom, sondern auch im südlichen Italien einen Machtfaktor ersten Ranges darstellt; sein im selben Jahr gewählter Nachfolger Klemens XII. Corsini konnte als Ruhmestitel nicht nur einen Heiligen des 14. Jahrhunderts (Andrea Corsini, gest. 1374), sondern noch viel weiter zurückreichende Ämtertraditionen in Florenz vorweisen" (Reinhardt 1999, S. 12).

295 Vgl. hierzu a. d. Artikel "Mittellatein" (S. 550f) in: Dinzelbacher, Peter (Hrsg.): Sachwörterbuch der Mediävistik; Stuttgart: Kröner, 1992.

296 Mit dem Einfluss von sprachlichen Prozessen auf andere gesellschaftl. Vorgänge beschäftigt sich ausdrücklich ein jüngerer Wissenschaftszweig der Linguistik, die sog. Soziolinguistik. Vgl. z. B. Hartig 1998 u. Schlieben-Lange 1991.

179

"die Veränderungen des Vulgärlateins, der Volkssprache in den Ländern der Romania, hatten mittlerweile ein solches Ausmaß erreicht, dass der romanischen Bevölkerung ohne besondere Unterweisung die lateinische Schriftsprache nicht mehr verständlich war" (ebd., S. 10).

Dieser Prozess hatte sich gegen Ende des achten Jahrhunderts bereits so weit vollzogen, dass die große Masse der Bevölkerung nicht mehr in der Lage war, amtliche Texte zu verstehen:

"Von nun an gab es kein Vulgärlatein mehr [...]" (ebd.).

Der Grad der Latinisierung spaltete die Bevölkerung künftig überall in zwei 297 Teile . Aber darüber hinaus konnten sich die unteren Schichten auch nicht mehr überregional verständigen, da die lokale Vielfalt der nun sich 298 herausbildenden Abarten des »volgare« dies erschwerte . Zusätzlich wurde die Kirche zur maßgeblichen Instanz für die weitere Entwicklung der lateinischen Sprache und machte von den damit einhergehenden 299 ideologischen Möglichkeiten reichlich Gebrauch . Anders formuliert: Fortan existierte neben der amtlichen, von der Kirche kontrollierten Hochsprache eine große Zahl nicht verschrifteter Idiome, die noch lange Zeit durch nichts am Auseinanderdivergieren gehindert wurden.

300 So muss die Sichtweise Wittschiers verworfen werden , der behauptet:

"[...] das Lateinische verlor allmählich seine alleinige Ausdruckskompetenz, während das volgare, d. h. das seinerzeit noch nicht uniformierte Italienisch, literaturfähig wurde, um dann immer mehr die Oberhand über das antike Idiom zu gewinnen".

Dazu ist zu sagen, dass es erstens »das« volgare zu keiner Zeit gab und zweitens deshalb das heutige »Italienisch« nicht durch eine »Unifor- mierung« desselben entstehen konnte. Doch Wittschier geht noch weiter:

297 Es sei darauf hingewiesen, dass mit der Abnahme von Kommunikationsmöglichkeiten auch der Organisationsgrad einer Gruppe geringer wird.

298 Vgl. hierzu a. Schlieben-Lange (1991, S. 26): "Während die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft über ein »naives« Sprachbewusstsein verfügen, ist es nur eine kleine Gruppe, die, methodisch geleitet, ihr theoretisches Sprachbewusstsein in Grammatiken und Wörterbüchern expliziert. Sprachpolitik, Sprachplanung, Kodifizierung werden von dieser Gruppe betrieben, die freilich auch auf einen breiten Konsens angewiesen ist."

299 Und dies durchaus nicht ohne ideologischen Hintergrund: vgl. a. Seidlmayer 1989, S. 273: "Die alte Romsehnsucht und Romromantik haben den Zugang zu dieser bis zur Selbstvergessenheit gesteigerten Hingabe an die Antike freigemacht; jetzt verdichtet sie sich überdies in der konkreten Ausdrucksform einer neuen wissenschaftlichen Disziplin [...]".

300 Wittschier 1985, S. 23.

180

"Natürlich befanden sich beide Sprachen noch lange Zeit in einem Wettstreit, der nicht nur im Werk Dantes, Boccacios und Petrarcas, sondern sogar - oder gerade - noch im Humanismus und in der Renaissance festzustellen war" (ebd.).

Das klingt so, als habe es lediglich eine Aufspaltung der lateinischen Sprache in zwei Varianten gegeben, deren eine Richtung dann zur Basis für die Sprache Dantes und Boccacios werden sollte, wovon allein aus den vorgenannten Gründen nicht die Rede sein kann. Dieses Beispiel sei hier vor allem deshalb genannt, weil es illustriert, welche falschen Schlüsse man ziehen kann, wenn man bei einer sprachhistorischen Betrachtung andere Implikationen grundsätzlich außer Acht lässt und bewusst oder unbewusst 301 zum Sprachrohr einer Ideologie wird .

Daneben möchte ich anmerken, dass es keineswegs als Besonderheit zu werten ist,

"dass die Anfänge der italienischen Literatur ganz besonders im Zeichen antik-, spät- oder mittellateinischer Prinzipien standen, was bedeutete, dass Bücher von überterritorialer Reichweite - wie theologische, philosophische oder philologische Werke - überhaupt nur in Latein verfasst wurden" (ebd.),

denn das galt bis ins Zeitalter der Aufklärung hinein für den gesamten westeuropäischen Kulturkreis - im Gegensatz zu der griechischen Tradition 302 Osteuropas . Das Spezifische Italiens ist dagegen, dass erst relativ spät, nämlich im 19. Jahrhundert, eine bestimmte Ausprägung des volgare, und zwar das klassische Florentinisch Dantes und Petrarcas, radikal zur 303 Hochsprache erhoben wurde .

301 Vgl. hierzu a. Brunhölzl (1991, Sp. 1722) in: Bautier, Robert-Henri (Hrsg.): Lexikon des Mittelalters; München; Zürich: Artemis, 1991: "Dass das Lat. über den Zusammenbruch des weström. Reiches hinaus auch in den neuen staatl. Gebilden, die im Verlauf der Völkerwanderung entstanden waren, weiterlebte und herrschend blieb, beruht v. a. auf dem Umstand, dass die Kirche als einzige aus der Römerzeit erhaltene Einrichtung, an der man sich zu orientieren vermochte, am Lat. als der Sprache ihrer Hl. Schrift und ihrer Liturgie festhielt."

302 Im Folgenden ist aufgrund obiger Ausführungen bei jeder Verwendung des Ausdrucks volgare dessen Erscheinungsvielfalt mitgemeint, weswegen nicht mehr ausdrücklich auf diese hingewiesen wird.

303 Gemeint ist hier, dass es wohl kaum nötig gewesen wäre, das Florentinische zur Nationalsprache zu erheben, wenn denn eine solche bereits existent gewesen wäre. Vgl. hierzu a. Raymond Grew: "Italian culture and the making of a nation" in: Davis, John A.: Italy in the Nineteenth Century 1796-1900; Oxford: University Press, 2000, S. 211ff. S. a. Michel (1997, S. 133): "Problematisch für die Zeit vom frühen Mittelalter bis etwa 1525 ist die Bezeichnung "Italienisch". [...] Dante beispielsweise gebraucht italico bzw. volgare italico oder parlare italico, womit er die Gesamtheit der in Italien existierenden volgari als lingua del sì meint, im Gegensatz zu den germanischen, aber auch zu den anderen romanischen Sprachen [...]." 181

An der einschlägigen Literatur zu kritisieren ist jedoch, dass ein solcher Hinweis häufig fehlt und oftmals von einem »Italienisch« des neunten 304 Jahrhunderts gesprochen wird . Angesichts der italienischen Ideologiegeschichte halte ich dies aber für unzulässig. Geckeler bezieht sich in diesem Fall auf ein dreizeiliges Manuskript eines Rätsels von der Hand eines vermutlich aus dem Veneto kommenden Schreibers, das in einem aus Spanien stammenden Gebetbuch aus dem achten Jahrhundert aufgefunden 305 wurde . Bei diesem kurzen Text handelt es sich um die erste literarische Spur, die in einer Form des volgare vorliegt.

Dokumentarische Spuren bleiben auch bis zum Ausgang des Hochmittel- alters weiterhin recht spärlich:

"More extensive, though still non-literary, evidence has to wait till the late eleventh century" (Usher 1996, S. 4).

Dabei ist allerdings weder die im Vergleich mit anderen europäischen 306 Regionen schwierige Quellenlage besonders erstaunlich noch der Umstand, dass die vorliegenden Dokumente fast alle in lateinischer Sprache abgefasst wurden. Interessanter ist das Zustandekommen von Schriftlichem im volgare überhaupt.

"Es lässt sich weiterhin auch fragen, unter welchen kommunikativen Voraussetzungen auf volgare abgefasste Dokumente zum ersten Mal entstanden. [...] Zwei Momente gab es, in denen schreibkundige Notare und Beamte in engen Kontakt mit Ungebildeten (illetterati) traten und die das Bemühen um direkte Übertragung durch Niederschrift oder um spontane Wiedergabe durch Vortragen mündlicher Äußerungen förderten: Wir bezeichnen sie als Protokoll (protocollo) und Vorlesen (lettura ad alta voce). Protokolliert wurden aus rechtlichen Gründen spontan erfolgte, mündliche Zeugenaussagen, die durch dieses Verfahren schriftlich fixiert wurden. Der umgekehrte Vorgang erfolgte, als das Geschriebene zum Zweck der Richtigkeitsüberprüfung vom Richter, Notar oder Beamten vorgelesen wurde" (Blasco Ferrer 1994, S. 137f).

Die jeweils gesprochene Variante des volgare in einer Region erfuhr so ihre 307 anfängliche schriftliche Fixierung durch Verwaltungsakte .

304 Vgl. z. B. Geckeler 1987, S. 142.

305 Vgl. ebd., S. 142f.

306 Dabei ist im 9. u. 10. Jh. Latein "die ausschließliche Sprache in der schriftlichen Kommunikation (abgesehen von kurzen volgare-Syntagmen)" (Michel 1997, S. 6).

307 Es sollte dabei nicht vergessen werden, "dass auch ein versierter Dichter des volgare wie Dante" "sich immer wieder genötigt" sah, "den Gebrauch seiner florentinischen Muttersprache anstelle der lateinischen Gelehrtensprache in seinen Schriften zu 182

Allerdings kann man davon ausgehen, dass die verschiedenen Ausprä- gungen des volgare zumindest im norditalienischen Raum erkennbar gemeinsame Grundelemente enthielten, denn sonst wäre Dante im 13./14. Jahrhundert wohl kaum auf die Idee gekommen, man könne aus dem 308 volgare eine neue, dem Lateinischen ebenbürtige Hochsprache kreieren . Dabei ging er von vierzehn ihm bekannten italienischen Dialekten aus, die 309 er anhand bestimmter Merkmale analysierte .

Dantes Aktivität erweckt so den Anschein, als sei bereits zu dieser Zeit eine literarische Vormachtstellung der Toskana erkennbar, eine Sichtweise, die die spätere Entwicklung fast als eine folgerichtige herausstellt. Tatsächlich aber spielte das volgare in der norditalienischen Literatur bis zum 14. Jahrhundert eine eher untergeordnete Rolle, da die dortigen Fürstenhöfe sich zu dieser Zeit eher nach Frankreich und zur provenzalischen Literatur 310 hinorientierten .

rechtfertigen" (Michel 1997, S. 132). Interessant ist an dieser Stelle auch, dass in Italien die Volkssprache "später als in anderen Ländern der Romania" (ebd.) eingesetzt wurde. "Die Konkurrenz zwischen Latein und Italienisch als Schriftsprache sollte in einigen Regionen wie z. B. in Sizilien noch bis ins 18. Jahrhundert dauern" (ebd.). Vgl. hierzu a. bes. Bruni, Francesco (1996, S.10): "C'è però una differenza tra cultura religiosa e cultura laica: mentre la prima trova nella società civile un prolungamento, sia pure semplificato e talora schematico, grazie all'attività divulgatrice di cui si è detto, la seconda rimane inevitabilmente chiusa entro ambienti limitati, privi di rapporti con gli strati più larghi della società: così, la corrente laica dell'aristotelismo circola quasi esclusivamente negli ambienti universitari." Der Bezug zum Lateinischen war aber sicherlich nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass vielerorts die Kirche im Besitz des Bildungsmonopols war und ihre Sprache, das mittelalterliche Latein, bereits den Elementarschülern nahebrachte, während - wie bereits erwähnt - nichtalphabetisierte Schichten von diesem Einfluss ohnehin ausgeschlossen blieben.

308 Dies sollte sich erst mit dem Erfolg der norditalienischen Städtekultur verändern: "Se nei generi ora ricordati il francese e il provenzale fanno concorrenza al volgare, questo si afferma saldamente nel campo della poesia ispirata ai temi dell'orgoglio municipale e del sentimento religioso, mentre il distacco della cultura settentrionale dal resto d'Italia riceve una correzione sensibile dai tanti scambi tra Bologna e le principali città toscane" (Bruni 1996, S. 33f).

309 Vgl. ebd., S. 143.

310 S. hierzu a. Michel (1997, S. 133): "Südlich von Rom bis Kalabrien regierten zur Zeit Dantes die französischen Anjou, während Sizilien ein politischer Bestandteil Aragons war. Zuvor regierten im Süden frankophone Normannen und nach ihnen die deutsche Dynastie der Staufer. Letztere bescherten Italien durch die "sizilianische Dichterschule" allerdings die erste italophone Lyrik.

183

Die literarische Entwicklung des volgare wurde im 13. Jahrhundert de facto in einer ganz anderen Region vorangetrieben, nämlich "vornehmlich am 311 süditalienischen Hof Friedrichs II." , wo man Lyrik im provenzalischen Stil in sizilianischer Sprache verfasste.

"Das z. T. entdialektisierte Sizilianisch wird auch von den (neben anderen) am Hofe lebenden toskanischen Dichtern verwendet, und so ist es kein Zufall, dass die Überlieferung der Scuola siciliana in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in toskanischen Händen liegt. Sie stellen das Bindeglied dar zu den »poeti siciliani«, deren literarische Produktion bald nach dem Zerfall staufischen Herrschaft (1268) abbrach, und dem ursprünglich von Bologna ausgehenden Dolce stil novo, dessen Liebeslyrik gegen Ende des 13. Jahrhunderts in der Toskana zur Blüte gelangte [...]" (ebd.; vgl. auch Usher 1996, S. 9ff, 14ff u. 26f u. Quaglio 1970, S. 172ff, S. 243ff u. 339ff).

Diese Tradition der Scuola siciliana312 wird in den toskanischen Kulturzentren Pisa, Lucca, Arezzo und Florenz als letteratura siculo- 313 314 toscana fortgeführt . Erst mit dem Dolce stil novo315 avancierte Florenz schließlich zum kulturellen Mittelpunkt, da er dort erst seine Blüte erlebte. Gleichzeitig nahm mit dem politischen Aufschwung von Florenz auch der Gebrauch des volgare in Verwaltungstexten zu, und zwar ab der Mitte des 316 317 13. Jahrhunderts .

Dies waren die Voraussetzungen für Dantes Werke, der insbesondere mit 318 seiner »Divina commedia« eine weite Verbreitung erreichen konnte,

311 Geckeler 1987, S. 14.

312 S. hierzu auch Hardt (1996, S. 31): "Trotz kurzer Blütezeit war der sizilianischen Dichterschule der »Curia Magna« in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine breite und vielfältige Nachwirkung auf der italienischen Halbinsel beschieden, und zwar insbesondere in der Toskana und, in etwas geringerem Maße, in der Emiglia."

313 Vgl. Geckeler 1987, S. 149f.

314 Diese auch stilnovismo genannte literarische Richtung wurde auch von Autoren vertreten, "die sich des Florentinischen bedienten, obgleich viele von ihnen nicht aus Florenz stammten, sondern aus anderen Orten der Toskana und Oberitaliens" (Michel 1997, S. 244).

315 Dies kann zweifellos nicht unabhängig von dem Erstarken bürgerlicher Kräfte gesehen werden.

316 Vgl. ebd., S. 150.

317 Es ist anzunehmen, dass diese weite Verbreitung von Dante durchaus von vornherein intendiert war. Vgl. a. Hardt, 1996, S. 103.

318 Jedoch war selbstverständlich nicht allein die literarische Bedeutung dieses toskanischen Dichterdreigestirns für die zunehmend kulturell herausragende Rolle des Florentinischen ausschlaggebend. Ein weiterer, in seiner Bedeutung nicht zu überschätzender Grund ist zu nennen, "der diese Entwicklung nicht unwesentlich beeinflusst hat, nämlich die Bedeutung 184

jedoch natürlich nur in gebildeten Kreisen, denn andere waren zu dieser Zeit schließlich von einer Alphabetisierung noch sehr weit entfernt:

"Die Verwendung eines toskanischen Dialekts ermöglichte eine weite Verbreitung der Divina commedia: die toskanischen Dialekte und in diesem Fall das Florentinische stehen dem Lateinischen sprachlich sehr nahe; so konnte jeder, der das Lateinische beherrschte, die Sprache Dantes verstehen" (ebd.).

319 Auf Dantes Vorreiterrolle konnten dann Boccaccio und Petrarca im 14. Jahrhundert aufbauen und so gewann das Toskanische als Schriftsprache 320 weiter an Bedeutung .

Das Florentinische wurde darüber hinaus vom 14. bis zum 16. Jahrhundert durch eine ganze Reihe einflussreicher Leute verbreitet, die aus dieser damals politisch mächtigen Region stammten, u. a. von Politikern, Päpsten, Bank- und Kaufleuten sowie von weiteren erfolgreichen Schriftstellern, deren bekanntester wohl Machiavelli sein dürfte.

Doch blieb das von den Tre Corone (der Beiname für das dichterische Trio Dante, Boccaccio und Petrarca) verwendete volgare illustre321 "isoliert vom 322 funktionalen Gebrauch in den unteren Schichten" und war weit davon entfernt, eine Volkssprache zu werden. Daneben hatte das Toskanische im 16. Jahrhundert auch ernstzunehmende Konkurrenz bekommen, denn

"im Norden der Apenninenhalbinsel war der Sprache der Tre Corone kein lang anhaltender Erfolg bei Hofe beschieden. Dort hatte sich schon seit dem Ausgang des Dugento allmählich eine überregionale, fast vollfunktionstüchtige und ausgebaute Verkehrssprache herausgebildet: die koiné padana ('del Po')" (ebd., S. 152f).

Der Aufstieg des Florentinischen war im 16. Jahrhundert nicht zuletzt durch

von Florenz als internationale Handelsmetropole, deren Sprache aus der normativen Kraft des Faktischen heraus sich eine Vormachtposition innerhalb der zahlreichen volgare- Varietäten Italiens sichern konnte" (Michel 1997, S. 245).

319 Dies ist auch im Zusammenhang mit der geringen Alphabetisierung zu sehen. S. hierzu Michel (1997, S. 330): "Mit anderen Worten: die Elite, die dazu imstande gewesen wäre, dem Florentinischen eine gewisse Standardisierung zu geben, interessierte sich mehr für die Normierung des Lateinischen, während eine un- bzw. halbgebildete Sprecherschaft der gesprochenen Sprache ihren Stempel aufgedrückt hat."

320 Vgl. ebd., S. 151.

321 Michel (1997, S. 212) meint sogar, man könne "beinahe von einer gesamtnordit. Schrifttradition sprechen."

322 Blasco Ferrer 1994, S. 150.

185

die

"humanistische Bildungsbewegung, die die Verkündigung einer bestimmten Lebensweise an den Primat des Lateinischen gekoppelt hatte" (ebd.)

ins Stocken geraten, weil diese Tendenz neben einer stärkeren, regionalen Zersplitterung des toskanischen Dialekts einer Funktionalisierung für alltägliche Zwecke entgegenwirkte. Modell einer handhabbaren über- regionalen Verkehrssprache war aus diesen Gründen eher die koiné 324 padana323 .

Geckelers Behauptung:

"Italien besaß also bereits im 16., spätestens im 17. Jahrhundert, eine auf der gesamten Halbinsel akzeptierte und verwendete Schrift- und Literatursprache" (1987, S. 151)

ist also mit Vorsicht zu genießen, vor allem weil er mit dieser Aussage kulturelle von wirtschaftlichen Prozessen abkoppelt, was m. E. niemals möglich ist. Bezieht man diese mit ein, verleiht dies der oben dargelegten Sichtweise Blasco Ferrers weiteres Gewicht, und auch Gramsci zufolge ging 325 die "Produktivität der [toskanischen] Sprache" vor allem deshalb zurück, weil die Produktivität der Märkte nachließ, was sich auch mit Michael Manns Machttypen-Theorie deckt.

Zu konstatieren bleibt eine wohl nicht in allen Gesellschaftsbereichen und Regionen einmütige Diskussion über das zu favorisierende Kommuni- kationsmittel, die später von den Machern des Risorgimento nur allzu gerne unterschlagen wurde, weil sie nicht in ihr ideologisches Raster passte.

Festzustellen ist auch, dass bereits im 14. bis 16. Jahrhundert eine Auseinandersetzung darüber stattfand, welcher Form des volgare ein 326 Dichter sich vorzugsweise zu bedienen hätte . Langfristig durchsetzen

323 Vgl. ebd., S. 155.

324 Vgl. im Gegensatz dazu Michels Betrachtung der florentinischen Sprachprozesse, die er auf alle Fälle im Zusammenhang mit ökonomischen Entwicklungen sieht. Vgl. a. Anm. (61).

325 1983, S. 38.

326 Zu Bembo vgl. a. Hardt (1996, S. 311): "Obwohl in seinen Schriften und Dichtungen kaum Originelles zu finden ist, wurde er vor allem durch seine Verbreitung der platonischen Liebeslehre, die Propagierung Petrarcas zum Modell der Dichtkunst und durch sein Plädoyer für die Gleichberechtigung bzw. Überlegenheit der Volkssprache zum großen Lehrmeister des literarischen Lebens."

186

327 konnte sich in diesem Diskurs Pietro Bembo , für den das Toskanische des Trecento die ideale Literatursprache repräsentierte, wie er es in seiner 328 Programmschrift Prose della volgar lingua, die 1525 erschien, darstellte . Die Wirkung Bembos zeigt sich nicht nur im Hinblick auf die Literatur, sondern hatte auch ideologische Konsequenzen:

"Bembos Kodifizierung des Toskanischen als mustergültige Sprache zielt auf die literatursprachliche Einigung Italiens, und das etwa zu der Zeit, als Machiavelli mit dem Gedanken spielte, ein mustergültiger Fürst solle Italien politisch einigen" (ebd., S. 115).

Mittlerweile hatte sich während der Sforza-Regierung in Mailand bereits in einigen Schriftbereichen das Florentinische durchgesetzt, so z. B. in der 329 Geschichtsschreibung .

"Als Bembo seine Grammatik vorstellte, war demnach der Weg zur Normierung in manchen Gegenden und Bereichen schon bereitet" (ebd.).

Von der Literatur- zur Wissenschaftssprache erhoben, wurde das volgare 330 schließlich von Sperone Speroni (1500 - 1588) in seinem Dialogo delle lingue331. Ideologisch von der Gegenreformation geprägt, favorisierte er das mittelalterliche Latein gegenüber dem klassischen,

"weil es in eine höhere moralische Ordnung, nämlich die des in der römischen Kirche institutionell geordneten Christentums, eingebunden war" (ebd.).

Hier gerät die Sprachempfehlung bereits zur Propaganda, verstand sich doch der Papst seit Jahrhunderten als Nachfolger der römischen Kaiser.

Einheitliche Herrschaft benötigt aber auch ein von allen Beherrschten zu 332 verstehendes Kommunikationsmedium . So sieht Speroni »das« volgare

327 Sperone Speronis "Dialogo sulle lingue" (1542) "reiterated Bembo's program of perfecting the modern languages by imitating works from classical antiquity in the vernacular literatures" in: Bondanella, Peter; Bondanella, Julia Conaway (Ed.): Dictionary of ; Westport (Connecticut): Greenwood, 1996, S. 555.

328 Vgl. Münkler/Mayer 1998, S. 114.

329 Vgl. Blasco Ferrer 1994, S. 154.

330 Dies war schon der Hintergrund der Latinisierung der von den Römern eroberten Provinzen gewesen.

331 Vgl. ebd., S. 115f.

332 Vgl. Elias, Norbert; Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter; Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993.

187

als Nachfolgemedium des mittelalterlichen Lateins und schweigt sich klugerweise darüber aus, welcher Version desselben denn nun der Vorzug gebühre. Wichtig ist ihm jedoch die Gemeinsamkeit einer Sprache auf dem Territorium, das er als Italien ansah. Zwar sah er auch den "Ursprung der Volkssprache" "bei den Barbaren",

"doch habe die seit Jahrhunderten andauernde Verwendung dieser Sprache daraus etwas Eigenes, wirklich Italienisches gemacht" (ebd.).

Bei Speroni wird schon deutlich, wie im 16. Jahrhundert Ideologien produziert wurden, auf deren Basis dann später ein nationaler Mythos kreiert werden konnte. Dabei "erfolgte die Identifikation zunächst offenbar über räumliche Zuordnungen". Doch die Einheit des Inneren bedingt stets eine Abgrenzung von Äußerem, also die Konstruktion einer Etablierten- 333 Außenseiter-Figuration nach Norbert Elias .

Um eine Definition des Außen vornehmen zu können, muss ein Bild des Fremden konstruiert werden. Gerade bei der Erhebung der Nation zum Mythos spielen immer positive Attribuierungen in Bezug auf das Innere und negative in Bezug auf das Außen eine große Rolle.

"Die Fremden kamen nicht mehr nur aus anderen Gegenden und hatten andere Vorfahren, sondern es waren auch andere Wesen: schmutzig, ungebildet, grausam usw." (Münkler/Mayer 1988, S. 117).

Italien war nun insbesondere gegen die Franzosen und die »Deutschen« jenseits der Alpen abzugrenzen, eben jene Mächte, die einer 334 Wiedererrichtung eines römisch-italienischen Reiches entgegenstanden . Während Dante noch auf eine italienische Einigung mithilfe des deutschen Kaisers gehofft hatte, hatte sich diese Hoffnung wenig später endgültig 335 zerschlagen . Umso schärfer gerieten die Konturen der »Barbaren«, vor deren Hintergrund das Gemälde der neuen Italiener entstand. Dabei berief

333 Dabei waren derartige Ambitionen innerhalb des römischen Stadtadels durchaus präsent. Man nehme nur die Regentschaft Alberichs als >Princeps et Senator< (932-954), der schließlich auch Papst Agapet II. dazu veranlasste, Otto I. die Kaiserkrönung zu versagen, mit der dieser dann bis nach Alberichs Tod warten musste (vgl. Seidlmayer 1989, S. 80ff).

334 S. hierzu Reinhardt (1999, S. 13): "Seit dem Tod Friedrichs II. im Jahr 1250 hat kein Kaiser mehr über längere Zeit unmittelbare Herrschaft in Italien ausgeübt - und doch bleibt das Reich als Legitimation und Recht stiftende Instanz, auch als indirekter Machtfaktor präsent."

335 Nicht unwesentlich geht das darauf zurück, dass das Florentinische nach d. 1. Drittel d. 16. Jh. "als Dachsprache in ganz Italien Funktionalität gewinnt" (Michel 1997, S. 9).

188

man sich auch auf klassische Quellen, - so auch schon Petrarca. Ergänzt wurden die antiken Überlieferungen durch Reiseberichte des neuerdings zunehmend wirtschaftlich erfolgreichen und so an Selbstbewusstsein gewinnenden Standes der Kaufleute:

"Gestützt auf die »Mächte des Geldes und des Intellekts« trat das Bürgertum gerade in Italien aus den traditionellen Bindungen heraus und suchte nach neuen Identifikationsmodellen. Die Erfahrung eigener Nicht-Zugehörigkeit verarbeiteten viele der Reisenden, indem sie die Erlebnisse und Beobachtungen in den fernen Städten als fremde Sitten beschrieben, die sie auf eine andere Wesensart der Fremden zurückführten. Dabei bedienten sie sich der in der klassischen Literatur überlieferten Topoi, die entsprechend den neuen Verhältnissen umgedeutet wurden, oder sie verwendeten für ihre Argumentation Passagen aus klassischen Texten, um aus ihnen Aussagen über die jeweiligen Vorfahren der Völkerschaften zu gewinnen. So wurden die Fremden von jenseits der Alpen zu Barbaren, kulturell rückständig und von zweifelhafter Abkunft, ganz so, wie die Humanisten die Fremden bei den römischen Autoren beschrieben gefunden hatten. Ihre abwertende Darstellung diente als Kontrastfolie für die legitimatorischen Selbstzuschreibungen eigener edler Herkunft. Da im Fall Italiens die Gegenwart keine hinreichende Grundlage für solche Unterscheidungen darstellte, wurde sie durch eine vorgestellte Vergangenheit untermauert" (ebd., S. 118).

So lässt sich die vorgestellte Nation Italien bereits in den Köpfen der Intellektuellen der italienischen Renaissance verorten. Das heißt aber keineswegs, dass es in der politischen Realität zu dieser Zeit etwas dieser Nationalität Entsprechendes gegeben hätte. Selbst die italienische Sprache, von der hier die Rede ist, existierte allenfalls als eine Art hypothetisches Konstrukt, das nur von einem gebildeten, zahlenmäßig recht gering zu veranschlagenden Teil der Bevölkerung des Raumes beherrscht wurde, während die überwiegende Mehrheit sich für die alltägliche Kommunikation 336 nach wie vor einer lokalen Variante des volgare bediente .

Den endgültigen Grundstein für eine »Nationalsprache« legte dann auch erst Alessandro Manzoni (1785 - 1873), der sich dabei in erster Linie am Toskanischen orientierte. Wie eng es tatsächlich dem toskanischen Vorbild verhaftet blieb, lässt sich schon bei einem Blick auf die Renaissanceliteratur erkennen, das jedem, der das moderne Italienisch gelernt hat, überraschend verständlich erscheint im Gegensatz zu der Fremdheit oder sogar Unverständlichkeit vergleichbarer deutscher oder französischer Texte aus 337 derselben Zeit .

336 Vgl. Geckeler 1987, S. 155.

337 Pasolini stand der Verwendung des friaulischen Dialektes dagegen recht positiv gegenüber: "A native of Bologna, Pasolini published his first volume of poetry in Friulian dialect in 1942, one of the first indications of a fascination with language and dialect that endured throughout his lifetime" (Dictionary of Italian Literature 1996, S. 430).

189

Doch Manzonis nicht zuletzt auch ideologischer Rückgriff auf die Sprache der florentinischen Vordenker stößt auch durchaus heute noch auf Widerspruch. Der bekannte Schriftsteller Pier Paolo Pasolini (1922 - 338 1975) lehnte es beispielsweise ab, "eine festgelegte, traditionelle 339 Literatursprache zu verwenden" , da seiner Meinung nach eine Nationalsprache "vom linguaggio padronale des Frühkapitalismus ab- rücken" und "die aktuelle technisch-wirtschaftliche sowie politisch-ökono- 340 mische Entwicklung Italiens berücksichtigen" muss .

Bevor Manzoni zur Konstruktion der italienischen Nationalsprache schritt, 341 hatte die Diskussion um die "Wurzeln des Italienischen" im Settecento stattgefunden. Jetzt machte sich jedoch der Einfluss der Französischen Revolution und des illuminismo342 bemerkbar. Denn maßgebliche Referenz für das Toskanische war das puristische Wörterbuch, crusca343 genannt, das ausschließlich toskanische Redewendungen und Formen enthielt, jedoch mittlerweile der von der Aufklärung geprägten neuen Weltanschauung nicht mehr gerecht wurde.

An die Auffassung des illuminismo knüpfte deshalb Manzoni bei der Ausarbeitung seines Konzepts der sprachlichen Italianisierung an. Es sollten Vokabelbücher auf florentinischer Grundlage erstellt werden und das

338 S. a. Hardt (1996, S. 454): "Für den geistesgeschichtlichen Aspekt der Aufklärung in Italien ist in Betracht zu ziehen, dass in der zweiten Jahrhunderthälfte das illuministische Denken stark mit klassizistischen, neoklassizistischen und schließlich mit frühromantischen Tendenzen durchsetzt wurde."

339 Ebd., S. 156.

340 Z. Pasolini s. a. Hösle 1990, S. 129ff.

341 Blasco Ferrer 1994, S. 163.

342 S. hierzu a. Bruni (1996, S. 73): "L'esempio più noto di una ribellione, per la verità piuttosto frettolosa e perciò destinata a rientrare almeno in parte, è la Rinunzia avanti notaio al Vocabulario della Crusca di Alessandro Verri, apparsa nel 1764 sul giornale milanese Il Caffè, diretto dai fratelli Verri. In questo periodo la cultura francese si afferme in Italia con conseguenze anche linguistiche."

343 Seine Konversion ging nicht unwesentlich auf den Einfluss seiner zuvor ebenfalls konvertierten Frau zurück und auf den Abbé Eustachio Degola, der an der Ideologisierung Manzonis entscheidenden Anteil hatte, wie auch bei dem konservativen italienischen Naturwissenschaftler Petronio nachzulesen ist, der die Konversion Manzonis als "eine konsequente und überzeugte Rückwendung zum ererbten [!] Glauben" (Petronio 1993, S. 318) bezeichnet.

190

Florentinische sollte im Schulunterricht die Hauptrolle spielen. Zu diesem Zweck dachte er an die Verteilung toskanischer Grundschullehrer über das ganze Land. Davon versprach er sich neben der Schaffung eines gesamtitalienischen Kommunikationsmittels "die Anhebung des Kultur- niveaus in Italien", denn

"der florentinische Dialekt zeichne sich durch besondere - historisch nachgewiesene - Qualitäten aus und besitze eine anerkannte zentripetale Kraft. Florenz sollte demnach die Funktion, die Paris für die Ausbreitung des Französischen in Frankreich hatte, übernehmen" (ebd., S. 166).

Der im Geist der französischen Aufklärung erzogene Alessandro Manzoni, der Neffe des lombardischen Aufklärers Alessandro Verri und der Enkel des bekannten florentinischen Strafrechtsreformers Cesare Beccaria, trat später zum Katholizismus über, was sowohl sein literarisches Schaffen wie auch 344 sein politisches Denken von da an wesentlich prägen sollte . Der Einfluss Manzonis muss jedenfalls in Bezug auf die Ausbildung des nationalen italienischen Mythos hoch eingeschätzt werden, wie überhaupt die gesamte Literatur des Ottocento:

"Ihr fiel in einer Zeit der politischen und gesellschaftlichen Umwälzung die Aufgabe zu, moralische Instanz und Orientierungspunkt zu sein" (Janowski 1994, S. 249).

Hinweis auf die starke ideologische Komponente der Epoche ist nicht zuletzt der Name, der ihr gegeben wurde, denn es

"empfinden die Zeitgenossen die Zeit zwischen 1815 - 1870 als eine Art Wiedergeburt der italienischen Nation und nennen sie deshalb »Risorgimento« (Wiedererstehung)" (ebd.).

Es ist nun deutlich geworden, dass die gemeinsame italienische Sprache eine konstruierte und damit zu Beginn des Risorgimento jedenfalls bezüg- lich ihrer Gemeinsamkeit auch nur vorgestellte war. Dennoch diente sie in nur wenig voneinander abweichenden Varianten der Kommunikation inner- halb der sich auf dem gesamten italienischen Territorium formierenden Gruppe der Gebildeten und wurde so von diesen zum Vehikel eines kulturellen »Panitalianismus« gemacht.

II.4.2.2 Gemeinsame wirtschaftliche und soziale Institutionen

Als Nächstes stellt sich die Frage nach gemeinsamen wirtschaftlichen und

344 Vgl. Hösle 1990, S. 16ff; ebenso Wittschier 1985, S. 149ff.

191

345 sozialen Institutionen vor dem Risorgimento .

Festzustellen ist diesbezüglich, dass Italien bzw. das Territorium, dessen kulturelle Prozesse oben betrachtet wurden, im Barock zunehmend nicht nur an kultureller Bedeutung innerhalb Europas verlor, sondern auch an 346 wirtschaftlicher , denn

"die Verlagerung des Handels in den Atlantik besiegelt den Niedergang der Handelsrepubliken" (Witz 1986, S. 21).

Was gemeinsame soziale Institutionen angeht, gewann der fürstliche 347 Absolutismus immer mehr die Oberhand, und während die Republiken 348 von Venedig, Genua und Lucca Oligarchien blieben, machte das 349 350 Reformpapsttum Rom zum Ausgangspunkt der Gegenreformation . Von

345 Da das Augenmerk hier vor allem auf der Analyse der ideologischen Macht liegt, kann auf diese Frage hier nur kurz eingegangen werden.

346 S. ebenso Seidlmayer (1989, S. 302).

347 S. hierzu bes. Reinhardt (1999, S. 56ff), der darlegt, wie die Ideologie des aufkommenden Humanismus gleichzeitig die politische Macht der Fürsten stützte: "Nicht mehr demütige Wiederannäherung an ein unübertreffliches Ideal, sondern Vollendung und Weiterführung, ja Krönung der antiken Kultur in einem Goldenen Zeitalter, dessen Morgendämmerung eben anhebt - so lauten jetzt hochgespannte Erwartungen. Ihre Einlösung brachte Herrscheraufgaben mit sich, welche die Humanisten den Fürsten ihrer Zeit vorzuhalten nicht müde wurden: die Pflicht zu gezielter Förderung der Talentierten und Tugendhaften, zu Großzügigkeit und Großartigkeit in Auftreten und Hofhaltung. Durch Antikisierung von Schlüsselbegriffen, ja selbst von Namen die historische Realität der eigenen Zeit nicht selten verunklärend oder gar verzerrend, lässt humanistische Geschichtsschreibung dafür Werte und Weltsicht ihrer Autoren ganz rein hervortreten: Herrschaft als Anleitung zu einem tugendhafteren Leben in einer durch gegenseitigen Nutzen vervollkommneten Gesellschaft, in der jeder durch Verdienst emporzukommen vermag" (ebd., S. 56f).

348 Diese städtischen Regimes konnten allerdings besonders in der Nordhälfte Italiens auf eine langjährige Tradition zurückblicken. S. hierzu a. Duggan 1994, S. 36: "The decline of urban civilisation at the end of the Roman Empire had never been more than partial. Of the one hundred or so municipia in northern and central Italy, over three-quarters were still functioning cities by the year 1000."

349 Schon "im 14. Jh. war eine ganze Tradition von R.schr.en entstanden, so dass die Traktate, die im Schisma geschrieben wurden, formal keine Neuerung brachten" (Miethke 1995, Sp. 547, Bd. VII, in: Angermann, Norbert: Lexikon des Mittelalters; München; Zürich: LexMA-Verl., 1995).

350 So reflektiert die römische Stadtgeschichte die gesamtitalienische Geschichte dieser Epoche. S. a. Reinhardt (1999, S. 74): "Italien 1560 bis 1700: Die charakteristischen Erscheinungen und Entwicklungen der Zeit - Bevölkerungswachstum, wirtschaftlicher Aufschwung und anschließende Krise, Staatsverschuldung und höfische Repräsentation, Staatsausbau und Grenzen der Innovation, soziale Verhärtung und Kulturblüte - finden sich brennpunktartig in der Geschichte Roms 192

gemeinsamen wirtschaftlichen und sozialen Institutionen konnte daher vor Napoleons Eintreffen auf der Halbinsel nicht die Rede sein, bestanden doch zwischen den einzelnen auf ihr angesiedelten Staaten bis dahin

"nur völkerrechtliche Beziehungen. Sie waren unterschiedlich strukturiert und nach sehr verschiedenen Gesichtspunkten ausgerichtet [...]" (Lill 1988, S. 4).

351 Dem Agrarkapitalismus , der sich im 16. Jahrhundert im Norden auszubreiten begann, stand die durch die spanische Herrschaft noch 352 353 verfestigte Latifundienwirtschaft im Süden entgegen .

Es ist an dieser Stelle nochmals darauf hinzuweisen, dass Italien eine gemeinsame Regierung nach langer Zeit erstmals wieder durch die 354 355 napoleonische Besetzung erhielt .

und seines Staates vereinigt." Vgl. a. Kirshner, Julius: The Origins of the State in Italy, 1300-1600; Chicago; London: The University of Chicago Press, 1995.

351 Dieser Agrarkapitalismus war jedoch nicht unbedingt innovativ. S. a. Procacci 1989, S. 142, der hier die toskanische Landwirtschaft dieser Epoche beschreibt: "In ihrem neuen Gewand als Grundherren erwiesen sich die herrschenden Schichten in Florenz und der Toskana ebenso arm an Initiative und Erfindungsgeist wie umgekehrt ihre Vorfahren im Bank- und Handelswesen reich an geistigen Energien gewesen waren."

352 S. hierzu Duggan 1994, S. 62: "The success of the French and Spanish kings in domesticating their nobility was accompanied by the acquisition of new lands and hence new revenues."

353 Vgl. ebd., S. 9; vgl. hierzu auch Procacci 1989, S. 171f.

354 Obwohl die napoleonische Besetzung die Einführung einer Verfassung mit sich brachte, kann dies keineswegs als demokratischer Vorgang gedeutet werden. S. hierzu Duggan 1994, S. 93: "These changes were made without any reference to the Italian people. As in the sixteenth and early eighteenth centuries, it seemed that Italy had no voice of its own and was just a pawn in the diplomatic and dynastic games of others."

355 Vgl. Procacci 1989, 226ff; Lill 1988, S. 78ff u. Witz 1986, S. 22.

193

II.4.2.3 Glaube an eine gemeinsame Geschichte

Dieser Punkt bezieht sich wieder auf den Prozess der Erzeugung ideologischer Macht, wie sie die Schaffung eines italienischen Nationa- lismus voraussetzte. Schon im Abschnitt über die Konstruktion einer gemeinsamen Kultur wurde anhand der sprachlichen Prozesse, die von einer gebildeten Minderheit initiiert worden waren, deutlich, dass das Gedanken- 356 gut des Humanismus hervorragend geeignet war, durch den Verweis auf 357 eine »gemeinsame Vergangenheit« ein neues Nationalgefühl zu stiften.

"Dabei wurden vormals als fremde empfundene Quellen nunmehr zu eigenen Zeugnissen, wie etwa Antigone, also heidnische Texte. [...] In den Vorstellungen von eigen und fremd erfolgte ein fundamentaler Wandel der epistemischen Ordnung: die Grenzen zum Fremden wurden aus der Zeit herausgenommen und in den Raum verlagert; das temporal Fremde wurde abgelöst durch das räumlich Fremde. Nicht so sehr der zeitliche als vielmehr der räumliche Abstand wurde zum Bestimmungsmerkmal der Fremdheit" (Münkler/Mayer 1998, S. 119).

Bei der nachfolgenden "Nationalisierung der inneritalienischen Konflikte" 358 spielte dann auch die nationale Idee im Sinne Petrarcas eine nicht unbedeutende Rolle. Trotz heftiger Machtkämpfe zwischen den nord- 359 italienischen Städten , die während der Renaissance in Italien eine

356 Der Humanismus brachte einen Machtzugewinn für die Intellektuellen Italiens ein (Procacci 1989, S. 88): "Am Ende des 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts nehmen die Intellektuellen und Gelehrten als Schicht in der italienischen Gesellschaft eine noch wichtigere Stellung ein als zur Zeit Dantes in den Stadtstaaten. Die Herausbildung von größeren Territorialstaaten mit einem komplexen Verwaltungsapparat, die Notwendigkeit, in den komplizierten Beziehungen zwischen den Staaten einen regen diplomatischen Verkehr aufrechtzuerhalten, und schließlich die Entstehung von regelrechten Hofstaaten der signorie als Instrument der politischen Repräsentation und Propaganda, all diese Elemente trugen zu einem wachsenden Bedarf an qualifiziertem intellektuellen Personal bei."

357 Z. Thema »Herkunftsmythen« vgl. a. Poliakov 1993: Der arische Mythos.

358 Ersichtlich ist diese besonders in seinem Werk "Africa", dass zwar in lateinischer Sprache verfasst ist, aber dennoch seine Haltung widerspiegelt. S. hierzu Stillers 1994, S. 61: "Der Stoff geht hauptsächlich auf Livius zurück, in den ersten Büchern auch auf Ciceros Somnium Scipionis. Ausgehend vom Sieg des Scipio Africanus über Karthago im 2. Punischen Krieg als dem zentralen Geschehen behandelt das Epos durch Rückwendungen und Vorausdeutungen die gesamte römische Geschichte und stellt die politische und moralische »virtus« des antiken Rom als Vorbild für ein zu erneuerndes gegenwärtiges Italien heraus."

359 Die mächtigsten Stadtstaaten waren Venedig, Genua, Mailand und Florenz. S. hierzu Procacci 1989, S. 45: "Auch wenn die Städte Italiens auf Grund ihrer wirtschaftlichen und politischen Gegensätze untereinander verfeindet waren und unterschiedliche politische Ordnungen besaßen, blieben sie doch immer und in erster Linie Städte."

194

360 herausragende wirtschaftliche Position eingenommen hatten, fehlte schon zu dieser Zeit der nationale Bezug nicht:

"Dabei zeigt sich, dass die Nationalstereotypen in der Literatur nicht nur verfestigt worden waren, sondern auch eine Generation nach Petrarca für die Verfolgung politischer Ziele fruchtbar gemacht werden konnten" (ebd., S. 120).

Es ging den städtischen Konkurrenten in der Renaissance um die Vorherrschaft auf der Halbinsel, wobei ihnen bereits die Zugehörigkeit zur gens Italica361 wichtig war und für die politisch-militärischen Auseinan- dersetzungen instrumentalisiert wurde.

So betonen schon die ersten Florentiner Chroniken die römische 362 363 Gründung , was auf die Mythisierung des römischen Reiches bereits zu 364 diesem frühen Zeitpunkt hinweist .

360 Bedingt war diese Stellung durch einen allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung im Mittelmeerraum. Vgl. a. Proccacci 1989, S. 40.

361 Hierzu Procacci (1989, S. 54): "Wollte man versuchen, den komplexen Prozess, um den es hier geht, in einer kurzen Formel zusammenzufassen, so könnte man sagen, dass in der differenzierten, im Einzelnen höchst unterschiedlichen und zersplitterten Gesellschaft im Zeitalter der Stadtstaaten die Intellektuellen eine gesellschaftliche Schicht darstellten, die eine Vision der Ganzheit und den Keim eines Nationalbewusstseins besaß. Oder besser: dass eine embryonale Form des panitalischen Bewusstseins mit der Entstehung einer neuen Schicht von Intellektuellen als Bewusstsein der eigenen Aufgabe geboren wurde. Man braucht lediglich an die Bedeutung zu denken, die die Sprache Dantes für die Kultur- und Sozialgeschichte und nicht nur für die Literatur Italiens gewonnen hat."

362 Vgl. a. Italien-BROCKHAUS (1983, S. 90): "F. geht zurück auf eine etrusk. Siedlung, an deren Stelle Veteranen Caesars 59 v. Chr. die röm. Kolonie Florentia anlegten."

363 Vgl. hierzu a. Steinbach (1994, S. 155), der zur Konstruktion eines "Nationalitätsgefühls" meint - übrigens durchaus in Übereinstimmung mit Benedict Anderson: "Der Bezugspunkt ihres politischen Handelns und Wollens ist nicht die gemeinsame nationalstaatliche Vergangenheit, sondern eine rekonstruierte, eine 'geschöpfte' Geschichte. Bewegungen konstruieren, so scheint es, eine - ihre - Geschichte, sie postulieren und propagieren diese, und schließlich glauben nicht nur die Adressaten der Propaganda, sondern auch die Propagandisten selbst daran, dass es diese Geschichte in der vergangenen Wirklichkeit tatsächlich gegeben habe. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einem subjektiven Nationalbewusstsein und ordnen es der Entscheidung Einzelner oder von Gruppen für eine Staatsnation zu. So gesehen, ist die Geschichte einer empfundenen, d.h. einer in der Vorstellung vorhandenen nationalen Gemeinsamkeit eindrucksvoller Beleg der Behauptung, dass nicht allein die Tatsachen, sondern auch der Glaube an eine angebliche Wirklichkeit realitätsverändernd seien und es deshalb für den Geistes- und Sozialwissenschaftler darauf ankäme, die Faktizität und Wirkungsmächtigkeit des Imaginären zu erfassen."

364 Vgl. ebd., S. 121.

195

365 Dies fand im Rahmen der »Arcadia« , eines Zusammenschlusses von Literaten im Jahr 1690 in Rom, die dort eine Akademie gegründet hatten, worauf in ganz Italien nach ihrem Muster Außenstellen, sogenannte 366 »colonie« , eingerichtet worden waren, verstärkt statt. Die Arcadia 367 proklamierte eine erneute Rückwendung (nach dem Rinascimento ) zur 368 klassischen Antike, zur Literatur der Renaissance und zum Petrarkismus 369 . Es liegt auf der Hand, dass die intensive Beschäftigung mit der antiken römischen Kultur auf dem Boden des ehemaligen Zentrums des römischen Hegemonialreiches ebenfalls eine Basis für eine Wiederbelebung dieses römischen Reiches werden konnte. Es kann dann nicht verwundern, dass sich im 19. Jahrhundert, nach der Erfahrung der napoleonischen 370 Besetzung , "die politische und soziale Problematik mit den Anliegen der 371 Literatur verknüpfen" sollte.

365 Vgl. hierzu d. entspr. Art. im "Grande Dizionario Enciclopedico" (Bd. II, 1985, S. 134): "L'A. fu accademia veramente italiana, non limitata a una sola città o regione: il suo gusto si diffuse in ogni luogo, nell'abbozzarsi di un'unità culturale di notevole portata storica [...]."

366 Vgl. hierzu d. entspr. Art. im "Grande Dizionario Enciclopedico" (Bd. II, 1985, S. 134): "L'A. fu accademia veramente italiana, non limitata a una sola città o regione: il suo gusto si diffuse in ogni luogo, nell'abbozzarsi di un'unità culturale di notevole portata storica [...]."

367 S. weiter Wittschier (ebd.): "Die nach der peloponnesischen Landschaft Arkadien benannte Gesellschaft gab sich eben jenes äußerliche und ideologische Pastoralgepräge, das den berühmten Schäferroman mit gleichem Titel des Quattrocento-Autoren Sannazaro kennzeichnete. Die Mitglieder trugen Schäfernamen und erschienen im Schäferkostüm, womit sie eine ausgesprochene Hinwendung zur Kultur der Antike und der sie wiederbelebenden Renaissance zu erkennen gaben."

368 Hierzu Wittschier (ebd.): "Hinter ihrem [d. Arcadia] sentimentalen und artifiziell- anachronistischen Zeremoniell lebte die Erkenntnis und Überzeugung, dass Italien während des Barocks den Anschluss sowohl an die eigene Hochkultur der weiter zurückliegenden Jahrhunderte als auch an die gegenwärtigen kulturellen Hochzeiten anderer europäischer Länder, wie England, Frankreich oder Deutschland, verloren hatten." Ein selbstverordneter Minderwertigkeitskomplex scheint nationale Ideologen geradezu zu beflügeln.

369 Vgl. Felten 1994, S. 233ff.

370 Es darf aber nicht vergessen werden, dass die napoleonische Besetzung durchaus nicht für alle vorwiegend positive Auswirkungen hatte: "Für die unteren Schichten aber ist das neue Regime trotz Aufhebung der Feudalrechte ein Modernisierungsschock: Steuerdruck, Ausplünderung durch das französische Militär, Zwangsaushebung zum Waffendienst, vor allem aber die als Blasphemie empfundene Enteignung und Entmachtung der Kirche lassen ein Widerstands- und Hasspotential anschwellen, das zu seiner Freisetzung nur noch einer günstigen Gelegenheit und eines geschickten Anführers bedurfte" (Reinhardt 1999, S. 94).

371 Janowski 1994, S. 249.

196

Die Hinwendung zur römischen Klassik brach dabei nicht ab, sondern es führte die während der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert proklamierten römischen Orientierungen trotz der vielbeschworenen Rationalität der 372 Aufklärung zur Begründung des »Neoclassicismo« am Ende des 18. Jahrhunderts, eine Tendenz, die sich auch noch im 19. Jahrhundert 373 fortsetzte . Dieser Neoklassiszismus war "vielfach durch reaktionäre Tendenzen gekennzeichnet" und bildete den Ausgangspunkt für die 374 italienische Romantik , in der nationalistische Schwärmereien innerhalb des Kulturbetriebs einen zunehmend größeren Raum einnahmen.

II.4.2.4 Konstruktion eines "Wir-Gefühls"

Der Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit entstand zunächst lediglich im 375 Adel und im gehobenen Bürgertum , wohingegen den Freiheitskämpfern 376 377 1830 "die Unterstützung breiter Unterschichten" fehlte. Auch die 378 italienische Bewegung von 1848 scheiterte

372 Z. Literatur d. Neoklassizismus vgl. a. Wittschier 1985, S. 143ff.

373 Vgl. Hardt 1996, S. 514.

374 S. hierzu a. Hardt (1996, S. 534): "In Italien jedoch, wo sich die Ideen der Romantik relativ spät durchsetzten, erhielt diese Bindung zwischen Literatur und Gesellschaft eine besondere, politisch relevante Profilierung: [...]."

375 Doch selbst innerhalb dieser Gruppen war man sich nicht darüber einig, was unter dieser zu verstehen war, so wie man auch die Vorstellungen der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit verkannte: "The absence of clearly defined goals was a major weakness of the liberal opposition. So, too, was a largely uncritical faith in 'the people' and a vague assumption that both sectarians and masses had similar interests at heart" (Duggan 1994, S. 104).

376 Hierzu Duggan (1994, S. 107): "When in 1831 a series of risings broke out in central Italy, inspired by the July revolution in Paris of the previous year, divisions among the leadership again undermined any chances of forming a strong united front. Moreover, the short-lived revolutionary governments were dominated by conservative landowners, and failed to attract popular support; and the Austrian troops sent to put down the risings advanced in places to cheers from the peasantry."

377 Ebd., S. 511.

378 S. hierzu a. Laven (2000, S. 73 in: Davis, John A.: Italy in the Nineteenth Century 1796- 1900; Oxford: University Press, 2000): "Finally, the ease with which the revolutionary republics had been crushed, combined with the propertied classes' fear of the social direction that many of the revolutions had taken, encouraged many former republicans and democrats to reject the very idea of revolution and to adopt the sort of principles that found articulation in the 1850s in the propaganda of the National Society and in the policies of 197

"nicht zuletzt wegen der Uneinigkeit der politischen Führung und der immer noch fehlenden Unterstützung durch das Volk" (ebd.).

Von einer nationalen Solidarität im Sinne eines Vorhandenseins eines alle 379 Bevölkerungsgruppen erfassenden Wir-Gefühls konnte also nicht die Rede sein.

So sind es auch an der Einwohnerzahl des damaligen italienischen Territoriums gemessen nur wenige, die sich dem nationalen Mythos des Risorgimento »hingeben« und nach errungener Einheit »stolz« auf die Erfolge der neu konstruierten italienischen Nation blicken. Diese Wenigen freilich befinden sich in den Schlüsselpositionen der Macht und nehmen immer wieder ihre vielbeschworenen Mythen in Dienst, die vom römischen Erbe und der hervorragenden Rolle künden, die allein aufgrund dessen 380 Italien zusteht .

Was die letzten beiden Kriterien der Liste betrifft, die Verachtung anderer Nationen und die Hoffnung auf den Ruhm der eigenen, so wurde auf den Beginn der ideologischen Abgrenzung vom »Barbarischen« bereits hingewiesen. Dass eine Gruppe von Menschen, die derart Wert legt auf eine Unterscheidung von Anderen, als nicht zur eigenen Gruppe zugehörig definierten, sich für eben diese eigene Gruppe Ruhm erhofft, kann auch am Beispiel Italiens demonstriert werden. Am deutlichsten fördert dies die Verfolgung expansionistischer Politik zu Tage, und zwar die Expansion einiger Weniger nach außen und nach innen.

Zusammenfassend kann nach obigen Untersuchungen jedenfalls festgestellt werden, dass Italien vor dem Risorgimento vielleicht nicht über die für ein faktisches Funktionieren notwendigen Institutionen verfügte, aber die Vorstellungen eine italienische Nation betreffend - also der "Mythos Italien"

Cavour." (1) Diese Romantik war aber ein nicht unwesentlicher Teil seiner Ideologie. S. a. Roberts (1989, S. 3) ü. Mazzinis Schrift Spain in 1829, Considered in Relation to : "There is from this period an early account of Mazzini which shows the extent to which his Romantic personality and mien attracted his contemporaries."

379 Die Betonung der italienischen Einheit fehlte ihm auch bei den Carbonari. Nach seinem Beitritt bei den Carbonari bekannte Mazzini "his disappointment that in the initiation ceremony nothing was said explicitly about Italian unity or federalism" (Roberts 1989, S. 2).

380 Vgl. a. Janowski 1994, S. 249f.

198

- im Denken der einflussreichen Schichten bereits vollständig vorhanden waren.

199

II.5 DER MYTHOS NATIONALISMUS IM BARTHESSCHEN SCHEMA

II.5.1 Der nationalistische Mythos Mazzinis

Geschaffen wurde der nationalistische Mythos - wie oben beschrieben - bereits während des Humanismus und wurde im Risorgimento im Prinzip genauso wieder aufgegriffen - jedenfalls äußerlich. Zu Beginn stellt sich, wie auch schon oben demonstriert, die nationalistische Bewegung des Risorgimento wesentlich als Emanzipations-Nationalismus dar:

"Der frühe Risorgimento-Nationalismus vereint die unterdrückten Völker gegen die Heilige Allianz der Fürsten" (Göhler/Klein 1993, S. 614).

Mazzinis nationalistisches Konzept war denn auch "ausgesprochen 381 382 romantisch" . Es war wesentlich getragen von dem Gedanken,

"dass Italien eine weltgeschichtliche Rolle zu spielen habe. Wie es schon in der Antike und wieder in der Renaissance Europa reich beschenkt habe, so falle ihm auch jetzt die Aufgabe zu, durch seine Wiedergeburt das Zeitalter der Nationen zu eröffnen und dabei die geistige Führung zu übernehmen" (ebd.).

Mazzinis Nationalismus vereinte also noch das gesamte »italienische Volk« 383 in seinem mythischen Programm . Einer seiner Glaubenssätze lautete:

"Das junge Italien ist republikanisch und unitarisch" (Mazzini in: v. d. Gablentz 1967, S. 153).

Er definiert auch, was er unter diesen Attributen versteht:

"Republikanisch: denn in der Theorie sind alle Menschen der gleichen Nation dazu berufen, nach dem Gesetz Gottes und der Menschheit frei, gleich und verbrüdert zu sein. Die republikanische Verfassung ist die einzige, welche diese Zukunft sichert. Die Souveränität liegt ausschließlich in der Nation, dem einzigen fortschrittlichen und höchsten Deuter des Gesetzes" (ebd.).

381 Fenske 1996, S. 476.

382 Diese Romantik war aber ein nicht unwesentlicher Teil seiner Ideologie. S. a. Roberts (1989, S. 3) ü. Mazzinis Schrift Spain in 1829, Considered in Relation to France: "There is from this period an early account of Mazzini which shows the extent to which his Romantic personality and mien attracted his contemporaries."

383 Die Betonung der italienischen Einheit fehlte ihm auch bei den Carbonari. Nach seinem Beitritt bei den Carbonari bekannte Mazzini "his disappointment that in the initiation ceremony nothing was said explicitly about Italian unity or federalism" (Roberts 1989, S. 2).

200

Die Berufung auf eine transzendente Größe wie die »Gesetze Gottes« kennzeichnet Mazzinis Konzeption des Giovine Italia384 bereits als Mythos.

Dasselbe gilt für die Interpretation der Nation als »ewigem Deuter«. Es gibt keine konkrete Instanz, die für die »republikanische Verfassung« verantwortlich zu machen wäre, wenn die verheißene Sicherung der Zukunft 385 nicht gelingt . Mazzini beruft sich auf keinen anderen Legitimationsgrund als die von ihm abgelehnten Monarchen »von Gottes Gnaden«, wenn er die Rechtmäßigkeit der Republik auf ein göttliches Gesetz zurückführt. Allerdings gibt er sich nicht mit dieser transzendenten Begründung zufrieden, sondern fügt noch eine spekulative hinzu:

"Das monarchische Element, das sich gegen das Volkselement nicht halten kann, ist gezwungen, als Zwischenglied die Aristokratie anzunehmen, eine Quelle der Ungleichheit und der Verderbnis der ganzen Nation. Ferner haben die Natur der Dinge und der Geschichte bewiesen, dass die gewählte Monarchie Anarchie, die ererbte Monarchie Despotismus gebiert. Da, wo sich die Monarchie nicht wie im Mittelalter auf den heute zerstörten Glauben des göttlichen Rechtes stützt, wird sie zu einem unsicheren Band von Einheit und Staatsautorität. Die fortschreitende Folge der europäischen Umwälzung führt unvermeidlich die Gesellschaft zur Einsetzung des republikanischen Prinzips, und die Erhebung des monarchischen Prinzips in Italien würde die Notwendigkeit einer anderen Revolution in wenigen Jahren mit sich bringen" (ebd.).

Das klingt sehr nach dem Begründungsmodell der Antike, wie es beispielsweise Polybios aufstellte, was angesichts der Wiederbeschwörung humanistischer Kultur in der italienischen Romantik kaum verwundern kann.

386 Der Katholik Mazzini verwendet die »Natur der Dinge« hier ebenfalls im Sinne einer transzendenten Größe, dergemäß sich eine Monarchie notwendig als repressives System entpuppen muss, wenn sie als Institution

384 Lt. Reinhardt (1999, S. 101) gründete Mazzini mit dieser Organisation "keinen politischen Club und keine Partei, sondern eine Glaubensgemeinschaft Gleichgesinnter, die unter der Führung ihres charismatischen Propheten einen vom Willen der Nation selbst gebahnten Weg zur Einheit auf ihre Fahnen schreibt."

385 Diese wenig konkrete Aufgabenzuweisung bei Mazzini ist nicht zuletzt in Zusammenhang mit der italienischen Romantik und ihren Auswirkungen zu sehen. Vgl. hierzu bes. Grew (2000, S. 211f): "Romanticism encouraged the growing artistic attention to family ties, religious experience, history, and the nation, but did not constitute the decisive shift in Italy that it brought to the literature and art of Germany and England."

386 Die Ideologie Mazzinis blieb immer von katholischen Dogmen beeinflusst und begrenzt. S. hierzu a. Rusconi (1995, S. 46): "Tutto deve rientrare nell'angusto santuario della «sua» religione."

201

erfolgreich sein will. Und im Fall eines Misserfolgs wird sie ohnehin zum Opfer einer anarchischen Bewegung. Auch führen die europäischen Revolutionen sozusagen automatisch und notwendig zur Einrichtung einer Republik, jedenfalls früher oder später, und man spart sich eine zweite 387 Revolution, wenn man denn die Republik sogleich errichtet .

Mazzini verzichtet auf Zahlen und Fakten, er argumentiert nicht unter Einbeziehung wirtschaftlicher Prozesse, sondern er verlässt sich ganz auf die Kraft des Mythos und beschränkt sich auf eine Argumentation mithilfe von Konjunktiven. Die Republik, so Mazzini weiter, ist für Italien unum- gänglich,

"denn praktisch besitzt Italien keinen monarchischen Elemente, keine Aristokratie, die geehrt und mächtig genug wäre, sich zwischen den Thron und die Nation zu stellen, keine Dynastie italienischer Fürsten, die aufgrund langen Ruhmes und bedeutender Verdienste um die Entwicklung der Nation, die Liebe und Sympathie aller Staaten, aus denen Italien besteht, auf ihrer Seite hätten" (ebd.).

Was die Dynastie italienischer Fürsten angeht, so hat Mazzini sicherlich Recht, habe ich weiter oben doch schon festgestellt, dass Vittorio Emmanuele II. keinesfalls als begeisterter italienischer Monarch gesehen werden kann, sondern als piemontesischer gelten muss, was ja schon die Beibehaltung der »II« hinter seinem Namen bezeugt, denn er verzichtete darauf, als italienischer König wieder mit der »I« zu beginnen, wie das in historisch vergleichbaren Fällen - z. B. in Deutschland - durchaus Usus 388 war .

Mazzini fährt jedoch fort:

"Die italienische Tradition ist republikanisch, und republikanisch sind alle ihre großen Erinnerungen, republikanisch auch der Fortschritt der Nation, in der sich bei Beginn unseres Niederganges die Monarchie eingeschlichen, die ihn vollendet hat, weil sie fortwährend die Sklavin der Fremden, Feindin des Volkes und der nationalen Einheit war" (ebd., S. 153f)389.

387 Nach Neumann (1995, S. 692 in: Drechsler, Hanno; Hilligen, Walter; Neumann, Franz: Gesellschaft und Staat; München: Vahlen, 1995) handelt es sich bei dem Begriff der Republik auch um eine wenig konkrete Bezeichnung, weil eine "heute meist bedeutungslose, weil nicht differenzierende Bezeichnung, für alle Staaten, die keine Monarchie sind."

388 Vgl. hierzu Duggan (1994, S. 133): "To many , it seemed to imply that Victor Emmanuel and Cavour felt that Piedmont had conquered the rest of Italy, and therefore felt justified in imposing their own terms. Very little was done to gainsay this impression. The king kept his royal title unchanged, and became Victor Emmanuel II of Italy."

389 Es sei von Mazzinis reaktionärer Geschichtsinterpretation hier abgesehen, die im Prinzip 202

Mazzini beschwört also die Befreiung des »Volkes« von der Fremd- herrschaft.

Nun gilt es, auch zu untersuchen, inwieweit hier die Kriterien vorhanden sind, die laut Roland Barthes einen Mythos kennzeichnen. Ein Mythos ist nach Barthes »ein Mitteilungssystem« und somit Form. Trifft dies auf den Nationalismus Mazzinis zu? Auffällig ist immerhin, dass er die konkrete Ausgestaltung der von ihm angestrebten Nation - wo er nicht gänzlich auf sie verzichtet - ziemlich vage hält und diejenigen, die von der Befreiung der Fremdherrschaft auch eine Besserung ihrer Lebensbedingungen erhoffen, werden herb enttäuscht. Mazzini geht nämlich im Folgenden keineswegs 390 etwa auf die Lage der Groß- und Kleinbauern ein, sondern kehrt unmittelbar im Anschluss an diese Einleitung übergangslos zu seiner Befreiungsideologie zurück, wobei er nicht einmal zu verschleiern versucht, dass es ihm einzig auf die nationale und souveräne Einheit Italiens ankommt und dass ihm das vielgepriesene »Volk« ohnehin nur Mittel zum Zweck ist:

"Es ist Zeit, den Menschen zu predigen, die die Freiheit des Vaterlandes erstreben, nicht, dass ihre Bemühungen nur zum Nutzen des Volkes unternommen werden sollen, denn darin sind sich alle einig, sondern dass sie das Ziel laut verkünden, dass sich das Volk erhoben hat, und dass sie ohne dasselbe nicht siegen werden" (ebd.).

Das Volk wird also benötigt, um das Ziel »Freiheit des Vaterlandes« zu erreichen. Sicher hätte es Mazzini empört abgestritten, hätte man ihm gesagt, dass er das Volk nur als verbündeten Mitstreiter missbrauche und 391 ansonsten an ihm gar nicht interessiert sei .

Mazzini räumte der nationalen Einheit als zu erreichendem Ziel unbedingte Priorität ein:

"Erst wenn diese erreicht sei, solle die 'soziale Frage' gelöst werden" (ebd.).

Diese Prioritätensetzung der Risorgimento-Kämpfer war für die

allein schon eine weitere Forschungsarbeit herausfordert.

390 Chotjewitz (1976, S. 19) berichtet beispielsweise über die sizilianischen Bauern des 19. Jh.s: "Soweit die Latifundien bewirtschaftet wurden, waren sie dem Gabellotto übertragen. Die Bauern waren Unterpächter. Es wurden zumeist nur kleine Flächen von vier oder fünf Hektar in Unterpacht vergeben und die Pachtverträge liefen nur auf ein Jahr. Oft musste der Bauer sich jedes Jahr ein neues Stück Land suchen."

391 Vgl. hierzu auch del Prete 1997, S. 484.

203

392 überwältigende analphabetische Mehrheit , die keinen Zugang zu Mazzinis Schriften hatte und darauf angewiesen war, was ihr irgendwie auf anderem Wege zugetragen wurde, nicht ersichtlich. In Barthesscher Terminologie ausgedrückt, heißt das: hinzugefügt wurde auf der Ebene der Sprache dem sinnentleerten Bedeuteten "Risorgimento", also Befreiung von der Fremdherrschaft - worunter das »Volk« auch Befreiung von den eigenen Bedrückern verstand, was die intellektuellen Köpfe des Risorgimento durchaus anders sahen, worüber sie aber tunlichst das »Volk« im Dunkel 393 ließen - das Bedeutete »Leitung der Massen« hinzugefügt, also Mazzinis wahre Intention, woraufhin auf der Mythos-Ebene sich das Zeichen "Nationalismus" generierte. In ein Barthessches Schema eingeordnet, ergibt dies zunächst folgendes Bild:

+------+ SPRACHE ¦1. Bedeutendes ¦2. Bedeutetes ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ Risorgimento ¦ Leitung ¦ ¦ ¦ der ¦ ¦ ¦ Massen ¦ +------¦ ¦ 3. Zeichen ¦ ¦ ¦ MYTHOS ¦ I. BEDEUTENDES ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ NATIONALISMUS ¦ +------+

Der italienische Nationalismus entsteht also wesentlich, indem den Massen zuerst als von allen gewünschtes Ziel ein missverständlicher Begriff, nämlich die zu erkämpfende Emanzipation von der bestehenden Fremdherrschaft im Sinne ihrer persönlichen Befreiung, suggeriert wurde, um ihr dann sogleich wieder eine Führung aufzunötigen, was ihr die Freiheit gleich wieder entzog. Die Person des Erzeugers - Mazzini - behält jedoch nicht während dieses ganzen Prozesses die Fäden in der Hand, sondern wird

392 "According to the 1871 census, 68.8 per cent of the Italian population aged six and over were illiterate (61.9 per cent of the men, 75.7 per cent of the women)" (Clark 1996, S. 35).

393 Hierzu Duggan (1994, S. 120): "Popular education was regarded with suspicion, and materialistic ideas, whether socialist, utilitarian, or even liberal, were seen as both inflammatory and immoral."

204

394 bald in dieser Rolle von Cavour abgelöst, der wesentlich die Richtung des 395 konstitutiven Prozesses bestimmte, an dessen Ende ein spezifisch 396 italienischer Nationalismus stand .

Betrachtet man Cavour als eigentlichen Erzeuger des italienischen 397 nationalistischen Mythos - was man mit einiger Berechtigung auch kann, denn schließlich hatte er allein die Leitung der Massen schließlich übernommen - so muss das Barthessche Schema entsprechend umgeändert werden:

+------+ SPRACHE ¦1. Bedeutendes ¦2. Bedeutetes ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ Risorgimento ¦ Piemonte- ¦ ¦ ¦ sierung ¦ ¦ ¦ der Massen ¦ +------¦ ¦ 3. Zeichen ¦ ¦ ¦ MYTHOS ¦ I. BEDEUTENDES ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ NATIONALISMUS ¦ +------+

Dies stellt auch keinen Widerspruch zum vorigen Schema dar, sondern lediglich eine Konkretisierung. Die »Leitung der Massen« erfährt durch die Konkretisierung »Piemontesierung« eine faktische Ausgestaltung. Dadurch kann auch Cavour als wesentlicher Erzeuger dieses Mythos entlarvt werden.

394 Cavours Strategie war nicht zuletzt auch deshalb so effektiv, weil er so wohl italienische als auch externe Faktoren berücksichtigte. S. hierzu bes. Duggan (1994, S. 133): "He needed to present a fait accompli to Europe and feared that a discussion of the constitutional alternatives would expose the ideological rifts between the moderates and the democrats, and invite the French or Austrian intervention."

395 S. hierzu Cardozo (2000, S. 130): "Cavour and the moderates simply imposed on Italy a centralized political structure from above, extending in a uniform manner the Piedmontese constitution, legal system, and bureaucracy to the rest of the country."

396 Vgl. Del Prete, S. 164f.

397 Die Auswirkungen dieses Mythos' werden sehr anschaulich in dem berühmten Roman von Tommaso de Lampedusa: »Il Gattopardo« beschrieben.

205

Denn selbstverständlich sah er das Bedeutende »Nationalismus« als ein Leeres an, das von ihm nun nach Belieben gefüllt werden konnte, d. h. konkret, dass das Ziel der Befreiung von der Fremdherrschaft nur durch Piemont realisierbar sei.

Was zu diesem Zeitpunkt bis auf ganz wenige Ausnahmen fehlt, ist ein Mythologe, der das Ganze durchschaut, also das »Bedeutende als erfüllt erkennt«, um es in der Sprache Roland Barthes zu formulieren. Dies scheint nicht zuletzt in der Rückständigkeit Italiens begründet, die wiederum wesentlich durch die jahrhundertelange Fremdherrschaft bedingt ist, mit der neben einer nur sehr dünnen alphabetisierten Schicht eine lediglich schwach erkennbare Strukturierung der Wirtschaft einhergeht.

II.5.2 Die zweite Stufe der Mythisierung: Der Transformationsprozess von der Ideologie des Nationalismus zum Imperialismus

Italien unternahm nach seiner Einigung große Anstrengungen, um im großen Spiel um Abgrenzung und Expansion der sich nunmehr als Staaten 398 verstehenden europäischen Nationen nicht vorzeitig ins Hintertreffen zu geraten. Diese Gefahr bestand insbesondere im Hinblick auf Italiens wirtschaftliche Rückständigkeit und offensichtliche militärische 399 Schwäche . Also galt es, den nationalistischen Mythos noch zu intensivieren, was im 19. Jahrhundert fast zwangsläufig in erschreckendem Maße in imperialistische Kriege mündete.

"Von König Humbert I. (Umberto: 1878-1900) an treibt Italien Großmachtpolitik und erstrebt den Aufbau eines Kolonialreiches, dessen Begründung darin gesehen wird, den Bevölkerungsüberschuss durch überseeische Siedlungsgebiete auszugleichen" (Witz 1986, S. 24).

400 Die Verschärfung des nationalen Mythos' war nicht zuletzt eine Folge

398 Ähnlich erging es Deutschland. Es konnte ebenfalls "eine imperialistische Politik aufgrund der später einsetzenden Industrialisierung und seiner späten nationalen Einigung erst seit 1880 betreiben" (ebd.).

399 Trotzdem war ein Krieg genau das, was die Risorgimento-Ideologen zur Festigung des zwangsvereinigten Italien brauchten. So z. B. Crispi: "If a vigorous foreign policy led to war, so much the better - provided, of course, Italy was on the winning side: a glorious war would be the affirmation of Italy's nationhood" (Duggan 2000, S. 177).

400 Nach Hobsbawm (1998, S. 42) ist die dem nationalen Mythos zugrundeliegende Geschichte "nicht die Erinnerung der Ahnen oder die Tradition eines Volkes", sondern "was man von 206

davon, dass die Integrationstechniken, die man nach Abschluss des Risorgimento anwandte, nicht den erhofften Erfolg gebracht hatten, was aber auch daran lag, dass die meisten Integrationsversuche nur halbherzig durchgeführt worden waren.

401 So beispielsweise Alphabetisierungsprogramme :

"Das Schulgesetz des Unterrichtsministers Coppino (1877) begnügte sich damit, die ersten beiden Volksschuljahre verpflichtend zu machen und den Eltern, die dieses Minimum unterliefen, Geldbußen anzudrohen; in der parlamentarischen Diskussion erhob sich die resignative, aber den »paese reale« spiegelnde Warnung, dass Vermehrung der Bildung ohne sozialen Fortschritt zur Revolution führen könne. Selbst zur vollen Durchführung der legge Coppino fehlten Geld und administrative Strukturen, im Süden weiterhin auch die sozialen Voraussetzungen. Ein Jahrzehnt später (Statistiken von 1888/89) gingen im Landesgesamtdurchschnitt 48 Prozent der sechs- bis zehnjährigen Kinder zur Schule; im Norden waren es 54 Prozent, in Mittelitalien 50 Prozent, im Süden aber nur 41 und auf den Inseln 36 Prozent" (Lill 1988, S. 209f).

Obwohl nicht ganz verständlich wird, welche »sozialen Voraussetzungen« denn gegeben sein müssten, um einen Schulbesuch auch für die süditalienischen Kinder zu ermöglichen, weist Lill hier darauf hin, dass nicht nur die finanzielle Problematik die italienischen Politiker davon abhielt, größere Aktionen für eine allgemeine Alphabetisierung durch- zusetzen, sondern offenbar auch die Furcht vor einer sozial benachteiligten großen Mehrheit, deren Bewusstseinserweiterung mittels Bildung es zu begrenzen galt, bevor sie ihrer Benachteiligung gewahr wurde und sich 402 ernsthaft gegen diese zur Wehr zu setzen begann . Der weitere Ausschluss des Großteils der Bevölkerung von den Wahlen war von Politikern dieser Denkart dann nur konsequent. Denn auch

"das neue, 1882 zum ersten Mal angewendete Wahlgesetz hielt daher an Zensus und »capacità« (Besitz und Bildung) als Voraussetzungen für die Zulassung zur Wahl grundsätzlich fest, änderte jedoch die aufzuweisende Steuersumme und bezeichnete einen

Priestern, Lehrern, den Autoren der Geschichtsbücher und den Leuten gelernt hat, die Zeitschriftenartikel schreiben und Fernsehsendungen produzieren".

401 Z. Schule und Pädagogik im Italien d. Risorgimento vgl. a. bes. Marchi, Demiro: La scuola e la pedagogia del Risorgimento; Torino: Loescher, 1985

402 Vgl. hierzu Reinhardt (1999, S. 109): "Nüchtern betrachte, erscheint der frisch erbaute Nationalstaat als Abbild der ihn tragenden Eliten. Die in den ersten anderthalb Jahrzehnten tonangebenden konservativen Liberalen nämlich wähnten sich von Feinden, von fanatischen Klerikern, unversöhnlichen Radikalen und ländlichen Banditen, umzingelt. In dieser Lager-, ja Belagerungsmentalität liegt eine Erklärung für die ausgeprägt autoritären Züge des liberalen Staates nach 1861. Die Präfekten der Provinzen nämlich handelten als Transmissionsriemen der Regierung, in deren Auftrag sie Oppositionelle schikanierten und Wahlen "kontrollierten" - bei (anfangs) einer halben Million Wahlberechtigten (etwa zwei Prozent) keine allzu schwierige Aufgabe."

207

zweijährigen Schulbesuch als ausreichende Bildungsgrundlage. Die Zahl der Wahlberechtigten stieg von 600.000 auf knapp 3 Millionen, d. h. von 2,2 Prozent auf knapp 7 Prozent der Bevölkerung" (ebd., S. 211).

Wem der Ausschluss von 93 Prozent der Bevölkerung von den Parlamentswahlen nützte, wird an diesen Zulassungskriterien überdeutlich: nämlich denen, die sie erfüllten, d.h. die über Besitz und Bildung in hierfür 403 ausreichendem Maß verfügten . Es ist kein Zufall, dass auch diejenigen, die diese Kriterien formulierten, zu Letzteren gehörten und macht deutlich sichtbar, wie wenig stets die Produzenten eines Mythos und in der Folge diejenigen, die ihn weiterstricken, am Aufkommen von Mythologen interessiert sind. Obige Zahlen verdeutlichen ebenso, dass eine Staatsform, die die Interessen aller Bevölkerungsgruppen berücksichtigt hätte, von vorne herein gar nicht intendiert war. Vertieft wurde diese Problematik noch durch den wirtschaftlichen und geographischen Graben, der das Land in zwei Hälften spaltete, die zwar im Prinzip schon bedingt durch die 404 bourbonische Herrschaft im Süden bereits vor dem Risorgimento be- standen hatte, nun aber richtiggehend zementiert worden war:

"Die innere Einigung Italiens geschieht zugunsten des Nordens, der allein dem industriellen Europa eingegliedert ist; dort führt der einheitliche Markt zu einer wirtschaftlichen Belebung, während der agrarische Süden unterentwickelt bleibt" (Witz 1986, S. 24).

Die Industrialisierung, die durch den Prozess der Arbeitsteilung wichtige gesellschaftliche Bewegungen anschob, fand zunächst nur im Norden statt, und auch dort vorläufig nur in verglichen mit anderen europäischen Nationen bescheidenem Ausmaß. Noch prägnanter bringt Hunecke diese Wurzel zahlreicher, auch heute noch aktueller Probleme, auf den Punkt:

"Die extreme Ungleichmäßigkeit, mit der sich die verschiedenen Landesteile entwickelten, und nicht minder die krassen wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede innerhalb einzelner Regionen sind bis zu einem gewissen Grad schon für das 18. Jahrhundert kennzeichnend, aber, statt sich mit der Zeit abzuschleifen und auszugleichen, bildeten sie sich zu einem strukturellen Dualismus der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, zu

403 Ein Vgl. m. d. dt. Bildungsgeschichte bietet sich hier an. S. hierzu insbes. Herrlitz et al. (1993, S. 51) zum Bildungsprogramm Ludolph v. Beckedorffs z. Beginn d. 19. Jh.: Bildung "muss vor allem die Bildungsmöglichkeiten der 'niederen Stände' so beschränken, dass sie in ihrem angestammten Berufs- und Lebenshorizont fest verankert bleiben."

404 Im agrarischen Süden, in dem die Barone weiterhin tonangebend waren, hatte die staatliche Einigung vollkommen andere strukturelle Konsequenzen als für den Norden. Vgl. hierzu bes. Chotjewitz (1976, S. 22): "Der Anschluss des Südens hatte vor allem den Sinn, die Entwicklung des Nordens weiter zu beschleunigen. Dazu war erforderlich, dass zwar die steuerlichen Mittel und Arbeitskräfte des Südens in den Norden gelangten, im Übrigen aber keine Entwicklung der süditalienischen Produktivkräfte stattfand und die soziale Situation des Südens mit der Landwirtschaft als wichtigstem und zugleich in sich unterentwickelten Erwerbsfaktor unverändert blieb."

208

einer Verschränkung von Entwicklung und Unterentwicklung aus, die ihrem Ausmaß und ihrer Intensität nach vielleicht in keinem anderen der hier zu vergleichenden Länder eine Entsprechung finden" (Hunecke 1979, S. 210)405.

Wie schon erwähnt, wurde Italien insgesamt traditionell vom agrikulturellen Sektor dominiert. Großgrundbesitzer und Agrarkapitalisten wiederum waren im Parlament extrem überrepräsentiert und so in der Lage, die Industrialisierung Italiens, die ihrer Meinung nach viele Gefahren für ihre eigene Position mit sich bringen würde, noch abzubremsen, was das ohnehin schon in dieser Hinsicht verspätete Land noch weiter zurückwarf.

Ursache für die Bremspolitik der Agrarier war ihre Furcht vor den benachteiligten Klassen, welcher sie bereits vor dem Risorgimento Ausdruck verliehen hatten. Selbst Cavour hatte bereits an die herrschenden Gruppen appelliert, soziale Reformen im eigenen Interesse auf den Weg zu 406 bringen , aber offenbar wenig Gehör gefunden. Dieses generelle Misstrauen gegenüber einer Industrialisierung führte zu einer Verfestigung italienischer Rückständigkeit in vielerlei Hinsicht:

"Bis zum Ende des Jahrhunderts blieb es aber so, dass die Furcht vor der »Heraufkunft der Arbeitermassen«, die den Kern der Sozialen Frage ausmachte, offen oder latent antiindustrielle Einstellungen erzeugte und verfestigte und dass diese ihrerseits eine reformerische »Lösung« der Sozialen Frage verhinderten oder zumindest erschwerten" (ebd., S. 42).

Private Anstrengungen wurden schließlich doch unternommen, um trotz dieser gewaltigen Hindernisse eine Industrialisierung durchzusetzen. Das 407 zeigt u. a. das Beispiel Pirellis , der eine Studienreise in die Schweiz, nach Frankreich und Deutschland unternahm, bei welcher Gelegenheit er auch 408 die Kruppwerke besichtigte, die sehr großen Eindruck auf ihn machten . Von seiner Reise nach Italien zurückgekehrt, versuchte er das Gesehene umzusetzen und gehörte später "zu den prominentesten Vertretern einer 409 neuen Unternehmergeneration" .

405 Bei den »zu vergleichenden Ländern« handelt es sich hier um England, Frankreich und Deutschland, die im vorliegenden Band ebenfalls im Hinblick auf die Ausbildung von Klassen untersucht werden.

406 Vgl. Hunecke 1978, S. 39.

407 Z. Geschichte d. it. Industrie vgl. bes. Rother/Tichy (2000, S. 242ff).

408 Vgl. ebd., S. 40f.

409 Ebd., S. 41.

209

Die Arbeiterbewegung folgt in der Regel dem Entstehen einer Industrie erst nach. Dies leuchtet ein, da erst in einem größeren Betrieb so viele Arbeiter auf engem Raum täglich zusammenkommen, dass dies die Idee der Bildung einer Organisation zur besseren Durchsetzung eigener Interessen überhaupt nahe legt, im Gegensatz zu den besonders in Süditalien eher vereinzelten Landarbeitern auf den verstreuten Gehöften, wo nicht einmal im mittel- 410 europäischen Sinn dörfliche Strukturen bestanden .

Hieraus geht schon hervor, dass eine Retardierung der Industrialisierung fast zwangsläufig ebenso eine der Arbeiterbewegung mit sich bringt. Nach wie vor war der nationale Mythos Mazzinis in den Köpfen wirksam, denn wie schon zuvor gesagt, gab es noch keine Mythologen im Barthesschen Sinne, die ihn zu analysieren und zu durchschauen tatsächlich in der Lage gewesen wären. Es waren also besonders schwierige

"Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die Bildung einer italienischen Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung vollzog und von denen man bei ihrer Betrachtung ausgehen muss. Denn nur von diesen Ausgangsbedingungen her lassen sich der italienische Weg der Industrialisierung, die Blockbildungen von Unternehmern und Arbeitern zur Verteidigung der »nationalen Arbeit«, das stets prekäre Verhältnis der Arbeiterschaft zum Staat usw. begreifen, und Gleiches gilt für das Verhältnis von Regierenden und Regierten im Hinblick auf die Soziale Frage" (ebd., S. 42).

D. h. bis heute wirken die Versäumnisse dieser Politik noch nach, während auf der anderen Seite der nationale Mythos des Risorgimento immer noch 411 nicht seine Wirksamkeit eingebüßt hat .

410 Das hängt mit der Tradition d. Latifundien zusammen. S. hierzu Chotjewitz (1976, S. 18f) für d. Strukturentw. d. sizilianischen Agrarwirtschaft: "Den größten Teil der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche bildeten die Latifundien - riesige Weideländer und Äcker, die entweder brachlagen oder dem extensiven Anbau von Getreide und Hülsenfrüchten dienten und in einer Tradition standen, die bis zu den Römern verfolgt werden kann und von den Normannen nach Vertreibung der Araber erneuert wurde. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Rechtstitel mit feudalen Sonderrechten des Grundherren verbunden, aber es ist bezeichnend, dass die Bezeichnung «Feudo» bis heute erhalten blieb. Kennzeichnend für diese Betriebsform war neben der immensen Ausdehnung der Latifundien und dem extensiven Anbau die Tatsache, dass zahlreiche Grundherren ihre Feudi nicht selber bewirtschafteten und oft fern von den Gütern in ihren Stadtpalästen, in Palermo oder auf dem Festland residierten, wo sie faul ihre Grundrente verzehrten und auch keine eigene Wirtschaftstätigkeit entfalteten. Soweit die Latifundien bewirtschaftet wurden, waren sie dem Gabellotto übertragen. Die Bauern waren Unterpächter. Es wurden zumeist nur kleine Flächen von vier oder fünf Hektar in Unterpacht vergeben und die Pachtverträge liefen nur auf ein Jahr. Oft musste der Bauer sich jedes Jahr ein neues Stück Land suchen."

411 So wurde auch das Programm der Lega Nord, das als einen Kernpunkt beinhaltete, eine Art Föderalismus in Italien einzuführen, teilweise als "Revolte gegen das Risorgimento" 210

Neben dem verzögerten Beginn der Industriellen Revolution in Italien, die das Entstehen von Arbeiterorganisationen ohnehin erst zu einem im europäischen Vergleich späten Zeitpunkt möglich machte, sorgte der Staat schließlich auch dafür, dass dieses Entstehen nur langsam vor sich gehen konnte. Es sei nochmals daran erinnert, dass dieser Staat am Ende des 19. Jahrhunderts nur einen minimalen Teil der italienischen Bevölkerung repräsentierte - und zwar den besitzenden, wobei der grundbesitzende Teil in der Mehrzahl war. Dementsprechend griff dieser Staat in das wirtschaftliche Geschehen auch nur dann ein, wenn Unternehmer attackiert 412 wurden und hielt sich ansonsten weitgehend zurück . Allerdings weiß man über die staatlichen Aktivitäten zum Nachteil der Arbeiter jener Zeit

"bis heute nur sehr viel weniger als über die endlosen sozialreformerischen Diskussionen und gescheiterten Gesetzesvorhaben, die zeitgenössische und neuere Untersuchungen mit einem unausrottbaren Euphemismus als Sozialgesetzgebung zu bezeichnen pflegen" (ebd.).

Hier kommt die deformatorische Kraft des Mythos deutlich zum Tragen. Das Verschweigen der historischen Fakten kann durchaus als Entfremdung im Sinne Roland Barthes' gedeutet werden. Weiter kann aus der Benachteiligung der Arbeiter durch den Staat geschlossen werden, dass die von einem Mythos Profitierenden in erster Linie Anstrengungen unternehmen, um die Identifikation mit ihm zu erleichtern und sich über die Interessen einzelner Gesellschaftsgruppen, ohne Ansehen ihrer Größe oder der existenziellen Bedeutung, die diese Interessen für sie haben, rigoros hinwegsetzen, wenn sie mit den Zielen des nationalen Mythos kollidieren.

So ist es nicht verwunderlich, dass unter diesen Umständen beispielsweise der Arbeiterschutz in der Lombardei - immerhin die industrialisierteste 413 italienische Region - sich zurückbildete. Als besonders gravierender Punkt dieser Rückbildung ist die Aufhebung des Kinderschutzes anzusehen, 414 ein »Überbleibsel« aus habsburgischer Zeit . Ebenso kennzeichnend für

interpretiert (vgl. Clark 1996, S. 425).

412 Vgl. ebd., S. 195.

413 Heute, da reine Industriezentren eher dazu tendieren, wirtschaftliche Krisenzentren zu werden, hat sich Mailand im Zeitalter des Shareholder-Kapitalismus' zum wichtigsten "Zentrum Italiens für Handel, Banken und verwandte Dienstleistungen" gewandelt - immer im Zenit wirtschaftl. Macht (vgl. Rother/Tichy 2000, S. 267).

414 Z. habsburgischen Reformaktivität vgl. bes. Procacci (1989, S. 199ff).

211

die Situation ist das Scheitern von Maßnahmen der Kommunen zugunsten 415 der Arbeiter , was ebenfalls auf den Widerstand der Regierung zurückzuführen war.

Dennoch regte sich eine Opposition, die in den 1880er Jahren stärker hervorzutreten begann. Um 1885 hatte sie allerdings erst in zwei Regionen 416 eine solide Basis, und zwar in der Romagna und in der Lombardei . In der Romagna war diese der Entstehung einer großen Landarbeiterschaft im Jahre 1881 geschuldet, während Mailand als industrielles Zentrum ohnehin 417 für die Herausbildung von Arbeiterorganisationen prädestiniert war . So kam es auch, dass die italienische Arbeiterpartei (Partito operaio 418 italiano) im Jahre 1882 hier gegründet wurde, die jedoch von der Regierung Depretis bereits 1886 wieder aufgelöst wurde, weil sie nach Ansicht dieser Regierung zu schnell an Einfluss gewann.

415 Vgl. ebd., S. 196.

416 Vgl. Procacci 1989, S. 307.

417 Es sei an dieser Stelle nochmals betont, welch großen Einfluss die Alphabetisierung für die Bildung von Arbeiterorganisationen hat. S. hierzu bes. Davis 2000, S. 255f: "At the time of unification 74% of Italians were illiterate, for example, but even within the North illiteracy rates had varied between 53% in Lombardy and 83% in Umbria in 1865, whereas in the Mezzogiorno they were rarely below 80% and in Sicily and Sardinia even exceeded 90%. Forty years later, the rates for Piedmont and Lombardy had fallen to 17% and 21%, but remained at 70% and higher in the rural South." Interessant ist an dieser Stelle auch ein Vergleich mit den Zahlen Danilo Dolcis, die dieser in den fünfziger Jahren in seiner berühmten "Umfrage in Palermo" veröffentlichte. Beispielhaft seien hier einige angeführt: "Der Prozentsatz der Analphabeten beträgt 46,36 Prozent. Nur 4,8 Prozent der Oberfläche [12000 Hektar] sind im Zuge der Bodenreform enteignet und 2714 Antragstellern in der Provinz zugewiesen worden. [...] Im Jahre 1951 wohnten 111131 Familien in 96414 Wohnungen; weitere 2807 Familien nit 12062 Personen wohnten in 2367 'Grotten' oder 'Baracken'. Im Jahre 1954 stiegen diese 'offiziellen' Zahlen auf 2461. Im Jahr 1951 war bei 3551 Eheschließungen die Frau in 101 Fällen noch nicht 16 Jahre alt; 30 Kinder wurden geboren, bevor die Mutter das 16. Lebensjahr vollendete."

418 S. a. Di Scala (1995, S. 153f): "In 1882 workers in founded the Partito Operaio Italiano (Italian Workers' party, POI), the Italian Socialist party's direct forerunner. This organization hoped to take advantage of the recently widened suffrage and signalled the shift in working-class influence from the artisan Romagna to what would become the Italian industrial heartland. Although socialist intellectuals around the Milanese newspaper La Plebe had a hand in founding the organization, the party distrusted 'bourgeois' socialists and restricted membership exclusively to workers, a policy that proved disastrous. In 1886 the government seized upon a dispute with Felice Cavallotti, popular leader of the Radical Democrats who feared POI competition, and dissolved the party. Although operaista leaders reorganized, their organization never recovered. It had reached a membership of 40.000."

212

Die neu organisierten Arbeiter waren jedoch noch weit davon entfernt, ausgesprochene Mythologen im Sinne Barthes zu werden, denn sie kümmerten sich lediglich um die Durchsetzung von Einzelinteressen oder organisierten Adhoc-Aktionen wie Streiks. Für eine Analyse der Mythen, denen sie ausgesetzt waren, wie ein Erkennen der Ziele des nationalen Mythos, zu dessen Opfer man sie gemacht hatte, fehlte es ihnen 419 offensichtlich an Hintergrundwissen . Dass sie nicht mehr Energie darauf verwandten, dieses - vor allem politische - Wissen, das sie im Grunde so dringend benötigt hätten, zu erwerben, lag nicht zuletzt daran, dass eben diese Art von Wissen zu jener Zeit innerhalb der Arbeiterschaft nicht eben in hohem Ansehen stand:

"Das tiefe Misstrauen gegen die bürgerlichen Politiker, von denen sie sich mit Mühe losgemacht hatten, führte nicht selten zu einem Misstrauen in die Politik an sich. Einen Streik zu organisieren, eine Liga zu bilden, Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen durchzusetzen - das waren die konkreten und ernsthaften Dinge, für die sich die Arbeiter einsetzen mussten. Hochtrabende Worte wie Demokratie, Republik und auch Sozialismus konnte man denen überlassen, die sie ständig im Munde führten, oft ohne genau zu sagen, was damit eigentlich gemeint sein sollte: so die alten Anarchisten wie Andrea Costa, die Republikaner und auch einige Konservative, die sich für die Entwicklung in Deutschland begeisterten" (ebd., S. 308).

II.5.3 Der Mythologe Labriola

Einen politischen Theoretiker gab es allerdings, der die Vorliebe der italienischen Konservativen für die deutsche Politik dieser Ära nicht 420 teilte , obwohl er andere Strömungen, die ihren Ursprung ebenfalls in Deutschland hatten, nämlich die marxistischen, sehr wohl schätzte. Es handelt sich um einen Menschen, der die zeitgenössische Aversion gegen die Politik per se nicht teilte, und der begriff, dass man die Produktion von Mythen nicht den Regierenden allein überlassen durfte, zumal wenn diese selbst die notwendigsten Bedürfnisse der Majorität mit Füßen traten. Die Rede ist hier von Antonio Labriola, der theoretisch stärker einzuschätzen ist und deshalb noch mehr als Mythologe gelten kann als der ebenfalls sehr 421 populäre Filippo Turati . Labriola hatte allerdings um der Einheit der

419 Ebenso erwies sich aufgrund fehlender Bildung auch die Entwicklung eigener linker Position als schwierig und Italien wurde zunächst zum Experimentierfeld ausländischer Sozialisten wie z. B. Bakunin (vgl. hierzu Di Scala 1995, S. 153).

420 Clark (1996, S. 425) hält d. dt. Einfluss auch heute noch für recht bedeutend.

421 Auch Turati hatte nach Clark (1996, S. 109) den Blick nach Deutschland gerichtet, als er mit anderen Sozialisten den PSI gründete: "For Turati - as for Crispi - the model was 213

italienischen Arbeiterorganisation willen 1892 in Genua "den die ökono- 422 mische Richtung der bestehenden Organisationen" bestimmenden Gruppierungen um Turati einige Zugeständnisse gemacht. Turatis 423 »Eklektizismus« stieß "auf die Ablehnung Labriolas", der aber letztendlich um der Ziele willen doch zur Zusammenarbeit bereit war,

"und so stellte sich zum ersten Mal in der italienischen Geschichte dem herrschenden industriell-agrarischen Block ein Oppositionsblock der Arbeiter und Bauern entgegen" (ebd.).

424 Antonio Labriola (1843 - 1904), den Claudio Pozzoli als ersten Marxisten Italiens bezeichnet, begegnete dem Sozialismus erst relativ spät, als er schon 425 Ende 40 war und längst als Professor tätig . Doch entsprach dieser wohl ohnehin seiner prinzipiellen Weltsicht, denn er schrieb in einem Brief an Friedrich Engels am 3. April 1890: "Als ich nach Rom als Professor kam, 426 war ich ein unbewusster Sozialist" und beschreibt, wie ihn "eine langsame und fortwährende Annäherung an die wirklichen Probleme des Lebens, der Ekel an der politischen Korruption" und schließlich "der Umgang mit den Arbeitern" ihn allmählich zu einem wirklichen Sozialdemokraten gemacht hätten. Diese eigene Einschätzung, er sei ein »Sozialdemokrat« und ein anderes Mal wieder ein »Sozialist« oder auch ein »Kommunist« braucht nicht weiter zu verwirren, waren damals diese Begriffe im Verständnis der italienischen Intellektuellen - und nicht nur dieser! - noch lange nicht klar voneinander geschieden, denn eine Abgrenzungsdebatte, wie sie zur selben Zeit bereits in Deutschland

Germany, where the SPD won 20 per cent of the vote at the 1890 Reichstag elections."

422 Ebd., S. 310.

423 Heute würde Turatis Position eher als »Realismus« bezeichnet. Der Labriola-Biograf Renzo Martinelli sieht das Gespann Labriola/Turati allerdings eher als ein sich ergänzendes denn ein grundsätzlich antipodisches (1988, S. 81): "In un certo senso, in una prospettiva piú lunga, che supera gli avvenimenti immediati, le azioni di Turati e di Labriola si completano e si integrano a vicenda: il primo disposto a transigere per ottenere un risultato positivo, anche a scapito della chiarezza teorica, per dare comunque una forma definita e unitaria a una realtà socialmente e politicamente assai complessa, per introdurre un fattore politico nuovo nella società italiana; il secondo convinto che, anche sul piano intellettuale, si doveva efficacemente contribuire allo stesso scopo."

424 1974, S. 7.

425 Vgl. ebd., S. 8.

426 Zit. n. Pozzoli 1974, S. 8.

214

427 stattfand , war im rückständigen Italien noch nicht denkbar. Wie er seinen politischen Standpunkt sah, definiert jedoch Labriola selbst an anderer 428 Stelle näher :

"Der kritische Kommunismus fabriziert keine Revolution, er bereitet keine Insurrektionen vor, er bewaffnet keine Revolten. Er verschmilzt sich mit der politischen Bewegung, aber er sieht und unterstützt diese Bewegung in voller Erkenntnis des Bandes, das sie mit der Gesamtheit aller Verhältnisse des sozialen Lebens verknüpft, verknüpfen kann und verknüpfen muss. Er ist mit einem Worte kein Seminar, worin man den Generalstab der proletarischen Revolution schult; er ist einzig das Bewusstsein dieser Revolution und vor allem das Bewusstsein ihrer Schwierigkeiten".

Diese proklamierte Sanftheit erscheint allerdings angesichts der Rigorosität des Gegners problematisch. Denn zur letztendlichen Durchsetzung ideologischer Ziele, soll nicht bei der Mythologentätigkeit stehen geblieben werden, gehörte - zumindest in dieser Zeit - auch immer militärische Macht, die zwar nicht notwendig zum Einsatz kommen, doch für den Gegner 429 deutlich erkennbar sein musste .

In jenem Brief an Engels schildert Labriola auch die Schwierigkeiten, mit 430 denen er als »italienischer Sozialdemokrat« zu kämpfen hatte :

"Die Studenten ließen sich einflüstern, ich hätte an den Arbeiterunruhen vom Februar vergangenen Jahres teilgenommen und kamen scharweise zu der Universität, um mich auszupfeifen. Meine Vorlesungen blieben zwei Monate lang suspendiert; und jetzt bin ich zu dem trockenen akademischen Tun zurückgekommen. Mein zahlreiches Auditorium ist verschwunden, so wie mein süßer Traum verschwunden ist, die akademische Jugend für die Interessen des Proletariats zu gewinnen. Liberale und Radikale sind sehr mutig gegen unbewaffnete Pfaffen und gegen schwache konstitutionelle Monarchen; sie träumen sehr gern von Giordano Bruno in den Freimaurerlogen; - nur das Eigentum ist für sie heilig, nur bürgerliche Minister, die Bank und der Militarismus sind für sie unverletzbar!"

Aus dem Brief Labriolas wird deutlich, dass die italienischen Intellektuellen 431 ebenso Partei ergriffen wie die Liberalen und Freimaurer - nämlich gegen

427 Z. dt. Revisionismus-Debatte vgl. bes. Meyer, Thomas: Revisionismus in: Meyer, Thomas et al. (Hrsg.): Lexikon des Sozialismus; Köln: Bund-Verlag, 1986, S. 527ff.

428 Zit. n. ebd.

429 Das Zur-Schau-Stellen potenzieller Macht lässt sich auch bei sog. "niederen" Tieren beobachten: "Der Revierinhaber verteidigt sein Revier am ausgeprägtesten und meist erfolgreich im Revierzentrum; er vertreibt den Eindringling durch Drohen und ggf. durch Kampf" (Scherf 1997, S. 400).

430 Zit. n. Pozzoli, S. 9.

431 Z. Geschichte d. italienischen Freimaurer s. bes. "La Massoneria in Italia" in: Troisi, Luigi: Dizionario Massonico; Foggia: Bastogi, o. J., S. 246ff.

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die Interessen der Mehrheit, da ihnen »nur das Eigentum« heilig war und darüber hinaus nur noch der Militarismus. Hier wurden bereits die heraufziehenden Schatten des Hegemonial-Nationalismus sichtbar, während der Konfrontations-Nationalismus in vollem Gange war und die Integration der Bevölkerungsmehrheit offensichtlich als gescheitert betrachtet werden musste. Den Mythologen Labriola und seine Kritik hörte dagegen kaum jemand, wie es die ihn auspfeifenden Studenten bewiesen.

Der wirtschaftliche Aufschwung Norditaliens führte nicht zu Versuchen der Regierung, die Lebensbedingungen des Großteils der Bevölkerung zu 432 433 mildern , was schließlich diverse Aufstände provozierte , deren größter 434 1898 in Mailand zustande kam , aber die furchtbaren Zustände, in denen so viele Menschen lebten, nicht entscheidend zum Positiven hin 435 beeinflussen konnten, wie Pozzoli berichtet:

"Das Fehlen jeglicher moderner Sozialgesetzgebung, jeglichen Arbeitsunfallschutzes verschlimmerte noch die Lage des Fabrikproletariats, während die Löhne absolut nicht ausreichten, Verpflegung, Unterkunft und sonstige Lebensbedingungen zu sichern, die über die Reproduktionskosten und Subsistenzmittel hinausgingen."

In Sizilien, wo die meisten Bauern in noch bedrückenderen Verhältnissen 436 lebten , wurden in diesen Jahren die Fasci dei Lavoratori gegründet, die

432 Z. Illustration d. Verhältnisse, unter denen die Bevölkerungsmehrheit lebte, vgl. Procacci (1989, S. 292f): "Mitten in der Agrarkrise [1887] wurde die 1877 von Stefano Jacini begonnene Enquête über die Lebensbedingungen der Bauern veröffentlicht; sie warf ein grelles Licht auf die Lage, in der sich die Mehrheit der italienischen Bevölkerung befand. Hier wurde offiziell dokumentiert, dass in großen Teilen des Landes Unterernährung an der Tagesordnung war, dass auf dem flachen Land im Süden die Malaria immer mehr zunahm, im Norden die Pellagra, eine Vitamin-B6-Mangelerkrankung, die durch einseitige Ernährung mit Mais entsteht, und deren Opfer jährlich Tausende wurden."

433 Bereits in den 1870er Jahren war es - angeregt durch Bakunin und seinen Kreis - zu kleineren Erhebungen gekommen, von den Initiatoren gedacht "to spark a nationwide revolution, but the police had little trouble suppressing their activities because of the lack of popular support" (Di Scala 1995, S. 153).

434 Ausgelöst worden war dieser durch die protektionistische Politik des Kabinetts von Rudiní, der die auf importierten Weizen erhobenen Schutzzölle nur ungenügend reduziert hatte, um einer durch enorme Preissteigerungen verursachten Hungersnot zu begegnen. Die Protestierenden erfuhren jedoch die ganze Härte des liberalistischen Staates, besonders in Mailand, wo die Empörung der Menschen ihren deutlichsten Ausdruck gefunden hatte: Der Aufstand "was sparked off by police attempts to arrest Socialist pamphleteers; and it was suppressed by the army. Official figures later gave 80 killed and 450 wounded, practically all of them 'insurgents'; these figures probably understated the facts by at least half" (Clark 1996, S. 104).

435 Ebd., S. 26.

436 Die sizilianischen Verhältnisse waren im wahrsten Sinne des Wortes 'bedrückend', kam 216

jedoch von den sizilianischen Hilfstruppen der Oberschicht, der Mafia, bald 437 wieder zerschlagen wurden .

Viele Italiener jener Zeit versuchten ihrer heimatlichen Misere durch Auswanderung zu entgehen, ein weiteres Indiz für eine erfolglos verlaufene 438 Integration . Die italienische Regierung dagegen versteifte sich immer mehr auf die Ausweitung hegemonial-nationalistischer Politik:

"Was tut denn die italienische Flotte seit Monaten im Orient? Man könnte meinen, sie sei der Fuchs, der in der Fabel die für ihn unerreichbaren Trauben für sauer erklärt; aber im Gegensatz zur Fabel befindet sich der Fuchs hier unter anderen Füchsen, die die Trauben, deren sie sich bemächtigt, oder die, auf die sie ein Auge geworfen haben, eifersüchtig bewachen! Und so wird der Fuchs zum Idealisten, weil er nichts zu beißen hat! Die italienische Bourgeoisie fühlte sich und fühlt sich gegenüber dem reaktionären oder demagogischen Absentismus des Klerus und aufgrund der schleppenden Entwicklung der proletarischen Opposition als Vertreterin der ganzen Nation, und in Ermangelung von Parteien, die die Gesellschaft aufspalten würden, nennt sie jene Cliquen Parteien, die sich um Hauptleute oder Prokonsuln oder um Unternehmer und Abenteurer aller Spielarten scharen. Als der Sozialismus zum ersten Mal auftrat, fiel sie aus allen Wolken" (Labriola 1974, S. 408).

Labriola erkennt den ideologischen Hintergrund der konfrontations- nationalistischen Politik Italiens und greift die Gruppen an, die den ungerechtfertigten Anspruch erheben, die italienische Nation zu vertreten. Er sieht ebenso, dass diese Ideologie versucht, den Umstand zu verwischen, dass in der italienischen Gesellschaft in der Tat scharfe Interessen- gegensätze existieren, indem sie Pseudo-Parteien schafft und die wirklichen Widersprüche ignoriert, was sich besonders deutlich im trasformismo439 zeigt.

schließlich dort noch die Tyrannei der Mafia hinzu, die - wie bekannt - bis heute nicht eingedämmt wurde. S. hierzu bes. Chotjewitz (1976, S. 22): "Als natürlicher Verbündeter der norditalienischen Bourgeoisie und der Politiker in Rom bot sich hierfür [i.e. die Stabilhaltung der sizilianischen Verhältnisse] in Sizilien das Vollzugsorgan der Großgrundbesitzer, die Mafia, an."

437 Z. d. sizilianischen Fasci vgl. bes. Clark (1996, S. 101ff).

438 Z. it. Emigration z. Zt. d. letzten Jahrhundertwende vgl. bes. Di Scala (1995, S. 140): "From 1900 to 1914 the emigration averaged almost 616,000 per year - bringing the annual population increase on the peninsula down to .7 percent during the nation's industrial takeoff and becoming an essential ingredient in its social and economic equilibrium."

439 Eine brauchbare, weil knappe und treffende, Definition des trasformismo findet sich bei Davis (2000, S. 271): Er beschreibt ihn als "term for the construction of cross-bench parliamentary majorities on the basis of political favours and patronage. The system developed most fully under Depretis (leader of the Sinistra, and prime minister between 1876 and 1887)."

217

Aus dieser Ignoranz heraus musste sie das Auftreten des Sozialismus allein schon deshalb erschrecken, weil der besitzenden Schicht bislang völlig entgangen war, dass die Besitzlosen begonnen hatten, sich ebenfalls zu organisieren. Labriola verweist aber auch auf den Stand, den der dynami- sche Prozess des nationalen Mythos mittlerweile erreicht hatte: wir befinden uns nun in der hegemonial-nationalistischen bzw. imperialistischen Phase, die mit dem Erwerb der Häfen Assab und Massaua in Eritrea beginnt und mit dem ersten Weltkrieg ihren ersten Höhepunkt erreicht.

II.5.4 Der Mythos Gabriele D'Annunzios

Weit über Manzini, Crispi und alle anderen hinaus, die am imperialistischen Mythos mitgestrickt hatten, ging der Mythos Gabriele d'Annunzios. D'Annunzio war ein sich ständig mit großem Aufwand selbst inszenierender Schriftsteller, der durch die Besetzung Fiumes dem irredentismo440 den letzten Höhepunkt verschaffte.

Die schillernde Persönlichkeit des Dichters war für überraschende Aktionen berühmt. Als Abgeordneter war er beispielsweise 1900 mitten in einer parlamentarischen Debatte ohne Vorwarnung plötzlich aufgestanden und von der äußersten Rechten zu den Sozialisten gewechselt, für die er dann im 441 gleichen Jahr auch kandidierte . Nach dieser Kandidatur und dem darauffolgenden Wahlmisserfolg kommentierte er diesen gegenüber einem Journalisten mit den Worten:

"Der Sozialismus ist in Italien eine Absurdität. Bei uns gibt es nur einen politischen Weg, zerstören" (zit. n. Salvatore 1992, S. 21).

Dieses zerstörerische Potenzial d'Annunzios spiegelte sich in seinen Werken 442 ebenso wider wie in seinen sonstigen Äußerungen .

440 Z. den Zielen d. irredenta s. Clark, 1996: "'Irredentism' meant, at the least, the 'national liberation' of Italians living in the Habsburg lands to the North or North-East of the Italian frontiers (Trent and Trieste); irredentists also sometimes laid claim to the Swiss canton of Ticino, to Nice and Savoy, and to Corsica."

441 Dieses Verhalten kommentierte d'Annunzio wie folgt: "The sentiment which drove me to enter the conclaves of my adversaries does not contradict in any way the doctrine to which I give life in my artistic work. [...] Among all human attitudes I love that of the one who bends the bow; among all manly enterprises I admire that of the one who breaks the law imposed by others to establish his own law" (zit. n. Woodhouse 2001, S. 169).

442 Ein gutes Beispiel hierfür ist seine Schrift: "Über den Einsatz von Bombergeschwadern in den kommenden Operationen" in: Gumbrecht, Hans Ulrich; Kittler, Friedrich; Siegert, 218

Nachdem er aus Frankreich in seine italienische Heimat zurückgekehrt war - wohin er wegen Schulden geflohen war, die er dort dann auch wieder auf- gehäuft hatte, beschloss d'Annunzio

"ein Held zu werden. Der Dichter fährt nach Italien zurück, aber auch in den Krieg" (ebd., S. 18).

Um dieses neugesteckte Ziel, ein Kriegsheld zu werden, auch erreichen zu können, trat er vehement für Italiens Aufgabe der Neutralität ein und hielt in 443 ganz Italien entsprechende flammende Reden . Eine sehr bekannt- gewordene Rede d'Annunzios, die er am 17. Mai 1915 von der Tribüne des Kapitols in Rom hielt, enthält besonders deutliche Hinweise auf die Funktionsweise des von ihm verkündeten Mythos. Er begann mit folgenden Worten:

"Römer, gestern gabt ihr der Welt ein erhabenes Schauspiel. Euer gewaltiger und geordneter Zug war getreues Abbild der antiken feierlichen Aufzüge, die sich hier im Tempel des Jupiter Maximus sammelten und die berühmten Statuen auf Wagen über den kapitolinischen Hügel geleiteten. Jeder Weg, über den solche Macht und Würde zogen, war eine Via Sacra. Ihr nun gabt dem Idealbild unserer Großen Mutter, getragen auf unsichtbaren Wagen, das Geleit" (D'Annunzio 1992, S. 7).

Bereits diese einleitenden Worte stecken neben dem imperialistischen Hauptmythos, dem sie dienen sollen, noch voller Nebenmythen, denn der 444 Bezug auf das antike Rom ist offensichtlich .

Den angesprochenen zeitgenössischen »Römern« wurde schon in der Anrede nahe gelegt, sich mit den Römern der Vergangenheit zu identi- fizieren. Das Bedeutende "Römer" - im Bartesschen »unschuldigen« und formalen Sinn von (zeitgenössischem) Bürger der Stadt Rom - wird entleert und neu gefüllt, und zwar mit dem Bedeuteten »Bürger des antiken Rom« im gar nicht mehr unschuldigen Sinn, woraus nun das Zeichen »römischer Bürger« entsteht. Dieses Zeichen verbirgt freilich seine Implikationen, nämlich den Anspruch auf »Weltherrschaft«, der vom antiken Rom bereits

Bernhard (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant; München: Fink, 1996, S. 27ff.

443 Flammende Reden liebte er überhaupt sehr. Das ist aus seinem Flugblatt "Im Himmel über Wien" v. 9. August 1918 deutlich anzumerken. (In: Gumbrecht, Hans Ulrich; Kittler, Friedrich; Siegert, Bernhard (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant; München: Fink, 1996, S. 38).

444 S. hierzu bes. in Scullard: "Römische Feste" (1985, S. 301ff) Kap. 3.1 "Triumphzüge und Ovationen".

219

erhoben und von den Päpsten im Mittelalter dann fortgeführt worden war. Unterstrichen wird dieser suggestive Eindruck noch durch die Erwähnung des Tempels des Jupiter Maximus, des Hauptgottes des siegreichen Roms 445 446 und der Bezug auf die kapitolinischen Hügel . Eine »Via Sacra« , einen »heiligen Weg«, hätte die Referenz auf die römischen Bürger aus jedem Weg gemacht, was auf die in d'Annunzios von Gott zugewiesene Rolle Roms als Beherrscherin der Völker anspielt und aktuell als Legitimation 447 gedacht ist, am Weltkrieg teilzunehmen .

Doch nicht nur der Rückgriff auf die Antike erscheint dem selbsternannten Helden als vielversprechend, auch weniger weit zurückliegende, doch bereits zur Legende gewordene Mythen sieht er als geeignet an, nationale Ideologien hochzuputschen:

"Vorgestern, als ich vom Besuche beim Ministerpräsidenten kam, der nun doch noch im Amte ist (zu unserem Glück, zum öffentlichen Wohle, den Nimmersatten und Betrügern zum Spott), welche Hoffnung, welch reiche Glut las ich da in den Augen der jungen Wachsoldaten! Ein blutjunger Offizier, höflich und kühn, wie Goffredo Mameli es gewesen

445 Interessant sind die Ausführungen Fritz Grafs (in: Canczik, Hubert; Schneider, Helmuth (Hrsg.): Der neue Pauly: Enzyklopädie der Antike; Stuttgart; Weimar: Metzler, 1999, Bd. 6, Sp. 78ff) zur Funktionalisierung Jupiters durch Augustus: "Zum Dank dafür, dass er einem Blitzschlag im Kantabrerkrieg knapp entronnen war, weihte Augustus im J. 22 v. Chr. einen Tempel des I[upiter] Tonans auf dem Kapitol. [...] Zentral ist die Verbindung von I. und staatlicher [...] Ordnung, wie sie bes. in der Rolle des I. Optimus Maximus (= I.O.M.) in seinem Tempel auf dem Kapitol zum Ausdruck kommt. Auf seinem Altar bringen die Beamten, die ihr Amt antreten, als Dankopfer weiße Stiere für die Hilfe im vergangenen Jahr und geloben neue in einem Jahr, wenn die Hilfe andauert [...]. Seit Augustus wird der Kaiser vor allem in den lit. Darstellungen an I. angenähert (Ansätze bei Horaz, ausgeführt bei Ovid)" (ebd., S. 78).

446 Nach Weeber (1995, S. 373ff) war der Triumph im antiken Rom "die höchste militärische Auszeichnung, die der Senat für einen siegreichen Feldherrn beschließen konnte. Voraussetzung war, dass in einem Krieg gegen ein anderes Volk mindestens 5000 Feinde gefallen waren (andernfalls kam nur die ovatio, der «kleine Triumph», in Frage; bezeugt seit dem 1. Jh. v. Chr.). In der Kaiserzeit blieb diese Ehrung dem Kaiser selbst vorbehalten. Ursprünglich eine rituell-magische Prozession (Reinigung des Heeres vom Krieg, verbunden mit Dank an die Götter), entwickelte sich der T. schon in republikanischer Zeit zu einer prunkvollen Demonstration römischer Macht."

447 Auch anlässlich seines Fiume-Abenteuers erinnert d'Annunzio an die Macht des antiken Roms und verdeutlicht, dass er Großmachtpläne für Italien immer noch für gerechtfertigt hält, während er einen Gegner - hier explizit die Engländer - als Feind aufbaut und als 'Barbar' diffamiert: "Wie der angelsächsische Barbar müssen wir Vertrauen haben und glauben, dass das materielle Eroberungswerkzeug den Geist zu einer gesunden und großzügigen Disziplin verfeinert. Wir müssen den mediterranen und bi-ozeanischen lateinischen Block zur Eroberung der Kontinente zwingen, um Rom die unabhängigen Mittel wiederzugeben, mit Kühnheit und Eleganz Europa zu überfallen" (zit. nach Gumbrecht, Hans Ulrich; Kittler, Friedrich; Siegert, Bernhard (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant; München: Fink, 1996, S. 48).

220

sein muss, trat auf mich zu und reichte mir schweigend zwei Blumen und ein Blatt: ein grünes Blatt, eine weiße Blume, eine rote Blume. Nie hat eine Geste mehr Grazie, mehr einfache Größe bewiesen. Das Herz sprang mir vor Freude und Dankbarkeit. Jene Blumen werde ich bewahren als wertvollstes Pfand. Ich werde sie bewahren für mich und für euch, für die Poesie und für das Volk Italiens. Grün, weiß und rot! Dreifacher Glanz unseres Frühlings!" (ebd., S. 9).

Hier wird der junge Wachsoldat als Repräsentant für das italienische Militär gesehen, das den Ruhm der Nation mehren soll. Er überreicht Blumen in 448 den italienischen Nationalfarben und wird von d'Annunzio mit Goffredo 449 Mameli verglichen, dem legendären Kämpfer an der Seite Garibaldis.

Nachdem er also das antike Rom beschworen hatte, um Italiens nationalen Herrschaftsanspruch zu legitimieren, erinnert er mittels Rückgriff auf den emanzipations-nationalistischen Mythos des Risorgimento an erst kurz zurückliegende militärische italienische Ruhmestaten. Indem die Nationalfarben hier poetisch verklärt dazu dienen, die Befreiung von der Fremdherrschaft zu glorifizieren, wird der Sinn, der dem Risorgimento ursprünglich innewohnte, entfremdet und das Symbol des Rot-Weiß-Grün wird zum Propagandamittel transformiert. Demgemäß formuliert er auch seine Erwartungen an den zeitgenössischen Italiener:

"Oh meine bewundernswerten Kameraden, jeder gute Bürger ist heute ein Soldat der italienischen Freiheit" (ebd., S. 10).

Die Füllung dessen, was unter einem »guten« Bürger laut d'Annunzio zu verstehen ist, wird explizit mitgeliefert: ein Soldat »der italienischen Frei- heit«. Gemeint ist damit in erster Linie Triest mit seinem Umland, das sich noch unter österreichischer Herrschaft befindet. Der Propaganda ist damit aber noch nicht Genüge getan. Theatralisch küsst er vor einer großen Menge 450 das Schwert Nino Bixios , eines weiteren »Helden« des Risorgimento, was

448 Die Tricolore "wurde 1796 von den lombardischen Truppen mit dem Einverständnis Napoleons, als er in Italien die Repubblica Cisalpina bzw. Cispadana gründete, eingeführt" (Roman del Prete in: Brütting, Richard (Hrsg.): Italien-Lexikon; Berlin: Erich Schmidt, 1997, S. 829).

449 Goffredo Mameli (1827-1849), genuesischer Dichter, "starb bei der Verteidigung Roms zur Zeit der Repubblica Romana. Er schrieb den Text des Lieds, das seit 1946 it. Nationalhymne ist und meist als Mameli-Hymne bezeichnet wird (Melodie von Michele Novaro, 1822-1885)" (ebd., S. 465).

450 Bei der Person des Gerolamo "Nino" Bixio (1821-1873) handelt es sich keinesfalls um einen unbefleckten Helden. Er "nahm als Freiwilliger am 1. Unabhängigkeitskrieg teil (1848) und verteidigte die Repubblica Roma (1849). Er war Garibaldis Anhänger und Statthalter während des militärischen Unternehmens der Mille (1860). Bixio genießt außer dem Ruhm des Patrioten auch den Ruf eines brutalen Unterdrückers: Am 4.6.1861 erstickte er bei Bronte durch Massenerschießungen und Verhaftungen eine der vielen 221

demselben Mythos zuzuordnen ist:

"Dieser Degen von Nino Bixio, des »Zweiten der Tausend«, stets des Ersten unter allen Kämpfern, dieser schöne Degen, den ein Stifter und Erbe der Helden dem Kapitol schenkt, oh Römer, ist ein schreckliches Pfand. Seht ihn zu Pferde, draußen vor der Porta San Pancrazio, den eisernen Legionär der Belagerung, der den feindlichen Kapitän an der Gurgel gepackt hält, ihn als Opfer mitten in dessen eigenes Bataillon zerrt und dabei mit lauter Stimme zur Kapitulation aufruft und allein, ganz allein, dreihundert Mann gefangen nimmt! Adlerklaue, Seele, durch eure Horaze geschmiedet und geprägt, kühne Seeräuber Liguriens, gewöhnt, zu erobern, als Held geboren, wie man als Prinz geboren wird: italienisches Beispiel für die Italiener, die zu den Waffen greifen. Ich wage es und küsse für euch die eingravierten Siegesnamen auf dieser Klinge" (ebd., S. 13).

451 Unter Erwähnung des antiken römischen Dichters Horaz appelliert er an die Italiener, um sie zum Krieg zu aufzuhetzen. Den Umstand, dass mittlerweile ein vereinigtes und unabhängiges italienisches Königreich seit Jahrzehnten existiert, lässt er beiseite und tut so, als gelte es dieses erneut zu befreien. Der Mythos Risorgimento wird dem Volk als aktueller Freiheitskampf suggeriert und der todbringende Krieg pathetisch zum Heiligtum erhoben, vorzeitig an Menschenopfer gemahnend.

Doch der Mythos funktioniert, das Volk applaudiert d'Annunzio begeistert:

"Der Schrei »Krieg! Krieg!« übertönte jeden anderen Lärm" (Salvatore 1992, S. 14).

Und nach weiteren Worten d'Annunzios:

"Der Tumult wächst. Einige kühne Bürger dringen in den Turm ein und läuten Sturm. Das ganze Volk bejubelt unter dem Dröhnen der Glocken den Krieg" (ebd.).

Besonders aus deutscher Sicht assoziiert man zu dieser Szene sofort eine 452 Parallele (»Wollt ihr den totalen Krieg ...«) , ein Beweis, dass ein Mythos

Bauernrevolten, die aufgrund von Garibaldis Versprechungen, den Großgrundbesitz unter den Bauern aufzuteilen, sich auf ganz Sizilien ausgedehnt hatten" (ebd., S. 131).

451 Horaz, Hofdichter von Augustus, avancierte zu dieser Stellung nach Verlust seines Vermögens "und arbeitete für seinen Lebensunterhalt bei der Staatskasse" (Kytzler, Bernhard, in: Canczik, Hubert; Schneider, Helmuth (Hrsg.): Der neue Pauly: Enzyklopädie der Antike; Stuttgart; Weimar: Metzler, 1999, Bd. 5, Sp. 720).

452 Interessant sind dazu Überlegungen innerhalb der Massenpsychologie. Vgl. hierzu z. B. Fröhlich (2000, S. 293). Masse dient hier als "Bezeichnung für eine Gruppe von Menschen, die temporäre Übereinstimmung in Fühlen und Handeln zeigt, weil die einzelnen Individuen sich demselben Gegenstand oder Ideal mit voller Aufmerksamkeit zuwenden. Wegen dieser Einheit - so wird in der Massenpsychologie angenommen - des Fühlens und Handelns kann es zu Reaktionen kommen, die im Vergleich zu individuellen Reaktionen primitiv erscheinen."

222

dieser Machart unter bestimmten Umständen eine Wirkung hat, unabhängig vom sozialen Habitus der Menschengruppe, auf die er angewandt wird. Der hier beschriebene Mythos erreichte das von seinen Produzenten intendierte Ziel: Italien erklärt Österreich am 23. Mai 1915 den Krieg und schlägt Warnungen wie die Giolittis in den Wind, der sicher war, dass Italien schon allein aus ökonomischen Gründen und so konsequenterweise auch 453 454 militärisch nicht für diesen Krieg gerüstet war .

Der 52jährige d'Annunzio meldet sich umgehend freiwillig, um als Leutnant in den Krieg zu ziehen, doch sein Heldentum ist mehr Inszenierung als Kampf, denn obwohl er sich gern hin und wieder unter die Soldaten mischt, lebt er in Venedig in seiner »Casa Rossa« am Canal Grande, wo er 455 rauschende Feste feiert und massenhaft Kokain konsumiert . Er meldet jedoch den Wunsch an, seinem Land als Flieger zu dienen, denn das Fliegen hatte er bereits vor dem Krieg gelernt, was er auch genehmigt bekommt. Am Schlachtengetümmel hat er jedoch kein Interesse:

"Aber er schießt nicht, er wirft auch kaum eine Bombe, er wirft Flugblätter ab. Seine Propagandamissionen erregen großes Aufsehen. Er ist ein genialer Werbemann. Es wird bis heute behauptet, dass er den Namen für die wichtigste Kaufhauskette Italiens erfunden hat: »La Rinascente«, die Wiedergeborene" (ebd., S. 31).

Trotz seiner Meidung direkter Gefechte kostete die Kriegsteilnahme d'Annunzio ein Auge. Doch nun war sein »Heldentum« erst so richtig erwacht, wie er es 1919 durch den Marsch auf Fiume, die »Marcia di 456 Ronchi« unter Beweis stellte, wieder eine seiner Inszenierungen und "ein 457 Modell für den faschistischen Marsch auf Rom" . Denn

"the poet is still the supreme artificer, the Übermensch capable of initiating the process leading to utopian fulfilment" (Dombroski 1996, S. 476).

458 Die Beschäftigung mit Nietzsche wird deutlich, die Auffassung von

453 Vgl. ebd., S. 14.

454 Als Giolitti sich aus diversen Gründen dennoch in diesen Krieg gedrängt fühlte, verkündete er, dass er höchstens drei Jahre dauern werde. Vgl. Procacci 1989, S. 341ff.

455 Vgl. ebd., S. 30f.

456 Zur Chronologie d. Kämpfe um Fiume vgl. Gumbrecht/Kittler/Siegert (1996, S. 11ff).

457 Hardt 1996, S. 623.

458 Z. Nietzsche-Lektüre D'Annunzios vgl. Valenti, Davide F.: D'Annunzio lettore di Nietzsche; Catania: Boemi, 1996. 223

459 dessen Werk ähnelt der Mussolinis : er selbst sieht sich als der Übermensch, als derjenige, der den Mythos kreiert, dem andere blind folgen sollen. Das Volk, zu dem er spricht, dem er seinen Mythos übermittelt, ist auch bei ihm nur Mittel zum Zweck, und zwar in noch viel stärkerem Maße als dies schon bei Mazzini der Fall war. Auch er kennt nichts weniger als die Sorgen und Nöte der Arbeiter und Bauern, ihre Realität kommt weder in seinen Werken noch in seinen politischen Reden und Schriften vor, im Gegenteil, er missbraucht sie lediglich für seine imperialistischen Inszenierungen auf der italienischen Politbühne, denn

"er ruft bereits zum Kampf gegen die Demokratie und die Volksmassen auf" (Petronio 1993, S. 133).

Besonders in Fiume wird der nationale Mythos dann mit Pomp in Szene 460 gesetzt .

Das Mythos-Schema nach Roland Barthes wurde also erweitert: die der bereits vorhandene mythische Ebene wurde nun um eine zweite Stufe ergänzt:

+------+ ¦¦1. Bedeutendes ¦2. Bedeutetes¦ ¦¦ ¦ ¦ SPRACHE ¦¦ Risorgimento ¦ Leitung ¦ ¦¦ ¦ der ¦ ¦¦ ¦ Massen ¦ +++------+------+ ¦¦¦ 3. Zeichen ¦ ¦ ¦¦¦ ¦ ¦ ¦¦¦ I. BEDEUTENDES ¦II. BEDEUTETES ¦ ¦¦¦ ¦ ¦ ¦¦¦ ¦ HERRSCHAFT ¦ ¦¦¦ NATIONALISMUS ¦ ÜBER DEN ¦ ¦¦¦ ¦ MITTELMEERRAUM¦ MYTHOS ¦++------¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ III. ZEICHEN ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ IMPERIALISMUS ¦ +------+

459 Z. Einfluss Nietzsches auf Mussolini vgl. insbes. Sternhell, Zeev et al.: Die Entstehung der faschistischen Ideologie; Hamburg: Hamburger Ed., 1999.

460 Vgl. hierzu Falasca-Zamponi, S. 6.

224

In der bereits oben zitierten Rede klingen ebenfalls fremdenfeindliche - in 461 diesem speziellen Fall deutschfeindliche - Motive an: beispielsweise vergleicht er die deutsche Politik mit einer Spinne, die Italien als Beutetier 462 mit ihren Fäden umgarnt . Aber auch hier nimmt er das Motiv der Antike wieder auf:

"Hier [gemeint ist das römische Kapitol], wo das Volk unter freiem Himmel seine Konzile hielt, wo jede Erweiterung des Imperiums ihre offizielle Weihe erhielt, wo die Konsuln die Aushebung und den militärischen Schwur vornahmen; hier an diesem Orte, von wo die Magistrate ausströmten, die Heere zu führen, die Provinzen zu beherrschen; hier, wo am Tempel der Fides Germanicus die Trophäen seiner Siege über die Germanen emporhob und der Sieger Oktavian die Unterwerfung des gesamten Mittelmeeres unter Rom verkündete, von diesem Nabel des Triumphs aus bieten wir uns selbst dem Vaterland dar, feiern wir das freiwillige Opfer, greifen wir die Verheißung auf und rufen: 'Es lebe unser Krieg!'" (ebd., S. 12).

In diesem Absatz treffen beide Mythen aufeinander. Unter Verwendung antiker Motive verweist er erneut auf den »uralten« Anspruch Italiens auf Beherrschung des Mittelmeerraums. Im gleichen Atemzug identifiziert er die Deutschen des 20. Jahrhunderts mit den Germanen der Zeitenwende und weist ihnen die Rolle der Unterlegenen und Besiegten zu, damit scheinbar Künftiges vorwegnehmend. Die Identifikation der zeitgenössischen Deut- schen mit den antiken »barbarischen« Germanen unterschiebt diesen implizit das Attribut einer generellen Minderwertigkeit.

Diese Attribuierung der Deutschen als Abkömmlinge eines unzivilisierten und unkultivierten Volkes, das zur eigentlichen Menschwerdung der italienischen Kultur als Nachfolgerin der römischen Zivilisation dringend bedarf, legitimiert von vorne herein jeden Krieg gegen eine Horde wilder Primitivlinge. Nun ist es endlich soweit: "Italien soll aus der Erniedrigung 463 erwachen" und endlich wieder den ihm gebührenden Platz einnehmen. Das obige Barthessche Schema ist deshalb durch ein weiteres zu ergänzen:

461 Das heimliche Abkommen mit der Entente, aufgrund dessen Italien schließlich in den I. Weltkrieg eintrat, stellte Trient, Südtirol, Triest und Dalmatien in Aussicht - zu dieser Zeit österreichische Gebiete (vgl. Procacci 1989,. S. 342). Die nun auf einmal an den Tag gelegte 'Deutschfeindlichkeit' richtete sich deshalb vor allem gegen Österreich.

462 Vgl. d'Annunzio 1992, S. 11.

463 Salvatore 1992, S. 26.

225

+------+ ¦¦1. Bedeutendes ¦2. Bedeutetes¦ ¦¦ ¦ ¦ SPRACHE¦¦ Risorgimento ¦ Leitung ¦ ¦¦ ¦ der ¦ ¦¦ ¦ Massen ¦ +++------+------+ ¦¦¦ 3. Zeichen ¦ ¦ ¦¦¦ ¦ ¦ ¦¦¦ I. BEDEUTENDES ¦II. BEDEUTETES ¦ ¦¦¦ ¦ ¦ ¦¦¦ ¦ HASS AUF ¦ ¦¦¦ NATIONALISMUS ¦ DIE DEUTSCHEN¦ MYTHOS¦++------¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ III. ZEICHEN ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ IMPERIALISMUS ¦ +------+

Die beiden Schemata sind also nicht als sukzessive Stufen zu verstehen, sondern als Parallelen, die sich aber durchaus aufeinander beziehen, indem sie jeweils füreinander einen Legitimationsgrund für extremes nationa- listisches Handeln bieten.

D'Annunzio kann als äußerst kompetenter Mythenproduzent angesehen werden, denn er verstand sich hervorragend auf heroische Inszenierungen. 464 Diese Fähigkeit des selbsternannten Kommandanten der "Arditi" , seiner Sondertruppe, die aus nationalistischen Fanatikern bestand, die er um sich geschart hatte, wurde besonders während der Zeit seiner Besetzung Fiumes sichtbar:

"Based on a dialogue with the crowd and drawing on his oratorical mastery, D'Annunzio's regency in Fiume exalted idealism and heroism, spiritual values and aesthetic gestures, social renewal and political rebirth. The poet delivered speeches that superseded the traditional division between religion, art, and politics and encouraged the audience to take up a heroic role. Songs, processions, meetings, military celebrations, and other ritualistic occasions dominated life at Fiume, where the general atmosphere was charged with enthusiasm, excitement, and gaiety" (Falasca-Zamponi 1997, S. 6).

Doch trotz dieser so effektiven und sorgfältig inszenierten Dramen konnte sich d'Annunzio nicht in der Position des mächtigsten italienischen

464 Zu der den 'Arditi' zugrunde gelegten Ideologie s. bes. D'Annunzio/Pfiffer: "Entwurf einer neuen Ordnung des Befreiungsheeres" in: Gumbrecht, Hans Ulrich; Kittler, Friedrich; Siegert, Bernhard (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant; München: Fink, 1996, S. 66ff).

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Mythosproduzenten halten, denn schon längst hatte er von Mussolini Konkurrenz bekommen. Dieser erwies sich auf Dauer als noch geschickter in der Kunst, Macht mit Mythen auf eine Weise zu verweben und d'Annunzio wurde an den Rand gedrängt:

"D'Annunzios Traum von Groß-Italien hat der Diktator Mussolini übernommen" (Salvatore 1992, S. 34).

Doch nicht nur die Träume d'Annunzios übernahm Mussolini, auch die Mythen-Produktion, obwohl Mussolinis Mythen keinesfalls neu, sondern eher extremere Wiederaufbereitungen derjenigen d'Annunzios waren, der ganze ideologische Vorarbeit geleistet hatte:

"Il rituale dannunziano, propedeutico o strumentale che fosse - noi siamo per il secondo significato - fu, consapevolmente o inconsapevolmente, appannaggio del fascismo; e fu forse quest'atteggiamento ad accreditare l'idea di un d'Annunzio fascista o precursore del fascismo, mentre nella realtà i due personaggi, d'Annunzio e Mussolini, furono agli antipodi" (Salierno 1988, S. 10).

In ideologischer Hinsicht kann d'Annunzio ohne weiteres als Vorläufer und Wegbereiter des italienischen Faschismus gelten, mag ihm dies auch nicht 465 so bewusst gewesen sein . Auch die Grausamkeiten des Faschismus hat er 466 in seinem Werk vorweggenommen . Mögen Mussolini und er in Hinsicht ihrer Persönlichkeiten Antipoden gewesen sein, wie Salierno meint - obwohl ich denke, dass sich ihr Verhältnis zueinander eher aufgrund ihrer Ähnlichkeit und dem daraus resultierenden jeweils persönlichen absoluten Machtanspruch so schwierig gestaltete: fest steht, dass d'Annunzio das ideologische Terrain Italiens in einer Weise vorgestaltet hatte, dass Mussolini schließlich leichtes Spiel hatte, seine Version des nationalistischen Mythos zu etablieren. Vielleicht war sich d'Annunzio nicht in letzter Konsequenz bewusst, zu welchem Ausmaß von Grausamkeit und Blutvergießen seine Ideologie führen würde, und dass weder Mussolini noch seine Anhänger nicht nur vor diesen Konsequenzen nicht zurückschrecken würden, sondern sie geradezu herausfordern sollten. Und doch war dies schon in seiner Version des Mythos angelegt. Gaston 467 Salvatore nennt ihn deshalb den »tauben Dichter« :

"Der taube Dichter spürt das Verlangen der entfremdeten Masse auf eine Verheißung, die

465 Vgl. Thoma/Wetzel 1994, S.311.

466 Vgl. Wittschier 1985, S. 162.

467 1992, S. 34ff.

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der Angst in der Dunkelheit ein Ende setzt. Der taube Jäger ist selber einsam und kennt die Panik gut. Er ahmt die Geräusche seiner Zeit nach. Er vergrößert sie. Er braucht die Zustimmung. Und endlich findet er den Weg, um aus jedem Geschändeten, aus jedem Gefolterten, aus jedem hundertfach Ermordeten einen Schinder, Folterer, Mörder zu machen. Der taube Dichter findet für die entfremdete Masse einen gemeinsamen Feind. Die neuen Übermenschen liegen dem tauben Dichter zu Füßen. Sie merken nicht, dass er sie in die Selbstzerstörung lockt. Und der Dichter nimmt die Liebe der plötzlichen Übermenschen an. Ich kenne keinen tauberen Dichter als Gabriele d'Annunzio" (1992, S. 37).

II.5.5 Der Mythos Mussolinis

"He came to power in a bloodless coup d'état occasioned by the collapse of representative government in Italy. But all during his twenty-one years of leadership of Italy, he ruled within the limits of the Italian constitution; his extraordinary powers were given to him and repeatedly endorsed by the king, to whom he reported weekly" (Hoyt 1994, S. 2).

"War, as potentially regenerative and also expressing the virility of the country, became another cultural myth of fascism. In general, violence signified rebirth and renewal for the fascists; thus, they mythicized the March on as a 'revolution', a bloody event with a purifying effect" (Falasca-Zamponi 1997, S. 7).

Diese beiden Zitate demonstrieren, wie verschieden man eine Schrift über die Epoche Mussolinis einleiten kann. Wie allerdings Hoyt dazu kommt, Mussolinis Machtergreifung als »unblutig« zu bezeichnen, ist vollkommen unverständlich. Denn die historischen Fakten, die keineswegs schwer zugänglich sind, belegen überdeutlich, dass der direkte Moment der Macht- übernahme kein »unblutiger« war und auch die Vorbereitungszeit keines- falls mit dem Attribut »unblutig« belegt werden kann.

Eindruck verschafft hatte sich Mussolini schon einige Zeit zuvor mit Hilfe seiner auf der am 23. März 1919 von ihm als politische Bewegung proklamierten Fasci Italiani di Combattimento, deren Mitglieder sich von da 468 an »fascisti« nannten . Dieser Eindruck auf die italienische Bevölkerung war auch gerade deshalb so nachhaltig, weil die Aktionen der Faschisten vor dem Marsch auf Rom alles andere als »bloodless« waren, wie z. B. im Herbst 1920:

"Als im Oktober 1920 die Sozialisten bei den Kommunalwahlen erneut Stimmen hinzugewannen und in Bologna eine rote Mehrheit die Stadtverwaltung übernahm, befahl Mussolini, ein abschreckendes Beispiel zu schaffen. 500 seiner schwerbewaffneten Squadristen überfielen Bologna, beschossen das Rathaus, töteten neun Bürger, verwundeten über 100 und zwangen die Stadtverwaltung zum Rücktritt. Fast ganz Nord- und Mittelitalien wurde danach von derartigen Terrorakten heimgesucht. Die SAF [Squadri di Azione Fascista] überfielen Arbeiterviertel, steckten Versammlungslokale der Sozialisten,

468 Vgl. Feldbauer 1996, S. 9 u. Falasca-Zamponi 1997, S. 1.

228

der Gewerkschaften und der Genossenschaften in Brand, misshandelten Funktionäre auf offener Straße und in ihren Wohnungen, erschlugen sie auf den Feldern und stellten ihre Leichen in den Städten zur Schau" (Feldbauer 1996, S. 11f).

Auch mutet es doch reichlich merkwürdig an, dass Hoyt ausgerechnet Mussolini als ein Musterbeispiel an Verfassungstreue herausstellt. Man rufe 469 sich hierzu nur einmal die Matteotti-Krise ins Gedächtnis, denn dieses Beispiel der »rule within the limits of the Italian constitution« demonstriert überdeutlich, wie man sich diese vorzustellen hatte. Erstens ging dieser Krise im Jahr 1924 eine keinesfalls wirklich legale, von Mussolini 470 inszenierte Scheinwahl voraus , und zweitens ist es verhältnismäßig einfach, sich an parlamentarische Formen zu halten und trotzdem die eigenen Ziele problemlos durchzusetzen, wenn politische Gegner zuvor ent- weder erschlagen oder massiv durch tatsächliche oder angedrohte brutale 471 Gewalt mundtot gemacht werden . Hoyt rückt sich und seine Arbeit durch eine derart euphemistische Einleitung in ein ideologisch äußerst bedenkliches Licht.

Als wesentlich realistischer kann dagegen die Einleitung Simonetta Falsaca- Zamponis gelten: sie unterstreicht die Vorherrschaft des Kriegslüsternheit proklamierenden Männlichkeitswahns der Faschisten, für deren Geschmack der Marsch auf Rom in der Tat zu »unblutig« war und ihrem waffenklirrenden maskulinen Ideal nicht genügen konnte, weshalb die historisch-faktischen Umstände der faschistische Machtübernahme auch eine blutige Verklärung erfuhren. Darüber hinaus erkennt Simonetta Falsaca-Zamponi auch das ideologische Erbe des Faschismus und die auf dieses zurückgehenden Ausgestaltungen seiner Mythen:

"With the aim of giving »style« back to Italy, Mussolini's movement appropriated many of D'Annunzios invented myths, cults, and ceremonies" (1997, S. 6).

469 "Matteotti war umgebracht worden, weil er versucht hatte, die Wahlen [1924] für ungültig erklären zu lassen" (Mack Smith 1983, S. 129).

470 Der Wahlkampf bestand auf seiten Mussolinis und seiner Anhänger hauptsächlich darin, "Veranstaltungen der Opposition zu stören und jede Kritik an der Regierung zu unterbinden" (Mack Smith 1983, S. 126). Dabei ging er nicht nur gegen Sozialisten und als klare politische Gegner einzuschätzende Leute vor: "Mit besonderer Härte wurde gegen Mitglieder der faschistischen Partei vorgegangen, die den Mut und die geistige Unabhängigkeit aufbrachten, die Ausschreitungen zu verurteilen. Zur Abschreckung wurden einige Dissidenten von Duminis Leuten am hellichten Tage vor dem Mailänder Bahnhof fast zu Tode geprügelt" (ebd., S. 127).

471 Vgl. ebd., S. 14f.

229

II.5.5.1 Die Ideologie Vilfredo Paretos

Diesen »Stil« pflegten auch die Mythenproduzenten, auf die Mussolini 472 473 wesentlich seine eigene Ideologie stützte . Da sie wesentliche Grundlagen für Mussolinis Ideologie lieferten, sei das mythische Gebäude eines von ihnen herausgegriffen, dem gemessen an seinem Einfluss auf die ideologische Dynamik des Faschismus in diesem Zusammenhang eine 474 besondere Stellung zukommt .

Es handelt sich um die Schriften Vilfredo Paretos. Warum gerade Pareto? Eine wesentliche Rolle spielte für mich bei dieser Auswahl, dass bei Pareto die spätere faschistische Herrschaftspraxis nicht nur angedeutet oder latent vorhanden, sondern bereits explizit formuliert ist.

Vilfredo Paretos Hauptgedanken sind in dem Werk "Trattato di Sociologia Generale - Allgemeine Soziologie" zusammengefasst. Seine Hauptbegriffe der »Residuen« und der »Derivationen« entnimmt er der Biogenetik und der 475 476 Kernphysik , was er aber keinesfalls als Verpflichtung zu besonderer Genauigkeit auffasst, sondern eher im Gegenteil bleiben beide Begriffe

472 Vgl. ebd., S. 16.

473 Vgl. hierzu insbes. Sternhell, Zeev et al.: Die Entstehung der faschistischen Ideologie; Hamburg: Hamburger Ed., 1999.

474 Vgl. hierzu de Luna 1978, S. 14. S. a. Bousquet in: Pietri-Tonelli, Alfonso de; Bousquet, Georges H.: Vilfredo Pareto; Basingstoke; London: MacMillan, 1994, S. 70, der hier überlegt, ob er Pareto als Faschisten einstufen solle und die Frage mit einem Zitat M. Volts aus der Maiausgabe 1923 des von Mussolini herausgegebenen Magazins Gerarchia beantwortet: "From a subjective point of view, Pareto is not an apostle of Fascism, but he has been its prophet." Damit soll keineswegs behauptet werden, Pareto selbst sei Faschist gewesen. Doch er wäre nicht der erste, dessen Denkvorgaben in der Praxis zu etwas führten, von dem er sich später zumindest teilweise etwas abzusetzen versuchte (vgl. hierzu ebd., S. 71).

475 Vgl. Brinkmann 1955, S. 3.

476 In der Biologie versteht man unter einem Residuum resp. Residualkörper die "Lyosomen, die nicht abbaubares Material enthalten" (Kompaktlexikon der Biologie in drei Bänden; Heidelberg; Berlin: Spektrum, Akad. Verl., 2001-2002, Bd. 3, S. 2). Ein Derivat ist in der Biologie die Bezeichnung "für ein Organ, Organteil oder Gewebe, das aus bestimmten Bereichen eines früheren Entwicklungsstadiums entsteht" (ebd., Bd. 1, S. 340). In: Freytag, K.: Fremdwörterbuch naturwissenschaftlicher und mathematischer Begriffe, Köln: Aulis-Verlag Deubner, 1982 findet sich dagegen für Residuum: "Erregungszustand im Nervensystem; Engramm; bleibende Spur eines geistigen Eindrucks" (S. 632) u. f. Derivat: "Chem.: Abkömmling einer chem. Verbindung; Biol.: aus dem entsprechenden Keimblatt entstandenes Organ" (S. 197).

230

sogar explizit gewollt unscharf.

Es entsprechen die Residuen einem konstanten Teil a einer Gesellschaftstheorie, während b den deduktiven Teil bezeichnet und c eine 477 Resultante aus beiden . Was sich auf den ersten Blick so systematisch ausnimmt, wirkt auf den zweiten, der der näheren Definition gilt, schon reichlich konturlos:

"Untersuchen wir nun gründlich die Elemente a und b. Das Element a entspricht vielleicht gewissen Instinkten des Menschen, oder besser gesagt der Menschen, weil a kein objektives Dasein hat und bei verschiedenen Menschen verschieden ist; und wahrscheinlich weil es diesen Instinkten entspricht, ist es in den Erscheinungen fast konstant. Das Element b entspricht der Arbeit, die der Geist leistet, um über a Rechenschaft zu geben. Deshalb ist es viel veränderlicher, denn es spiegelt die Arbeit der Phantasie wieder. Wir haben schon früher gesehen, dass der Teil b seinerseits untersucht werden muss, ausgehend von einem Extrem, wo er rein logisch ist, und endend bei einem anderen Extrem, wo er reiner Instinkt und Phantasie ist" (ebd., S. 53).

Die Residuen a sind also aufgrund ihrer individuellen Erscheinungsweisen nicht konkret bestimmbar, was nicht nur ihre quantitative Zuordnung erschwert, welche ich ohnehin in diesem Zusammenhang für nicht möglich halte, sondern auch ihre qualitative. Es kommt somit diesem Begriff etwas Beliebiges zu. Dieses a hat ja schließlich nach Pareto auch kein »objektives Dasein«. Doch wenn seine Existenz subjektiver Natur ist, kann seine Qualität auch nicht kommuniziert werden. Kommuniziert wird dann nur ein vom Sprecher selektierter Teil des a, der bei seinem Eintreffen beim Empfänger womöglich in etwas ganz anderes transformiert werden kann. Dieser Vorgang geschieht dann allerdings auf eine latente Weise, was möglicherweise durchaus intendiert ist. Es ist nicht schwer, hier im Prinzip den Barthesschen Mythos wiederzuerkennen, wenn er auch im Gewand Paretos eine andere ideologische Qualität erhält.

Ähnlich undeutlich ist die kommunikative Qualität der »Derivationen« b und der »Resultanten« als Elemente des Barthesschen Mythos zu identifizieren:

"Das konkrete Phänomen entsteht also aus diesem konstanten Element a und einem variablen Element b, das die zur Wiederherstellung der Unschuld gebrauchten Mittel und die zur Erklärung ihrer Wirksamkeit angeführten Gründe erfasst" (ebd., S. 58).

Die »Wiederherstellung der Unschuld« kann im Bereich des Mythos nur eine vorgestellte sein und keine faktisch zu erreichende, da sich das Rad der

477 Vgl. Pareto 1955, S. 52.

231

Geschichte niemals wirklich zurückdrehen lässt. Damit erhöht sich die Latenz des tatsächlich Kommunizierten und reduziert für den Leser des Mythos die Chancen, dessen vom Sender der Botschaft - i. e. vom Mythosproduzenten - ausgehenden Intentionen zu durchschauen. Die Zahl der Mythologen lässt sich so gering halten.

Ebenso ermangelt seine Gesellschaftsdynamik einer nachvollziehbaren Differenzierung. Die scheinbare Griffigkeit der hier eingesetzten Terminologie erleichtert den Transport latenter ideologischer Inhalte. Dem selben Zweck dient auch sein reduktionistisches Zwei-Elemente-Modell:

"Zumindest kann man die Gesellschaft in zwei Schichten einteilen: eine obere, zu der gewöhnlich die Regierenden gehören, und eine untere, die die Beherrschten zusammenfasst" (ebd., S. 226).

Nach Pareto ist also alles ganz einfach: es gibt nur oben und unten, Regierende und Beherrschte, entweder gehört man zur einen oder zur anderen Schicht, also nur Mythosproduzenten und Leser. Für Mythologen, die außerhalb eines solchen zweidimensionalen Schemas stehen, ist bei Pareto kein Platz. Es fehlen auch die Kräfte, die Michael Mann als interstitielle bezeichnet oder die gleichzeitig zu mehreren Gruppen Zugehörigen zu Gruppen, wie sie in Elias' Figurationsanalyse beschrieben werden.

Trotzdem gesteht er einer Gesellschaft dynamische Vorgänge zu, denn er registriert die "Tatsache des Kreislaufs der Individuen zwischen den beiden Schichten", wofür er einen Wechsel im "Verhältnis der Residuen von Klasse I und II" verantwortlich macht. Seine Erklärung, was er unter diesem Residuenwechsel verstehen will, lässt die Vermutung aufkommen, dass er die Funktionen gesellschaftlicher Mythen durchaus ahnte und dass seine »Residuen« nicht etwas völlig anderes als die Barthesschen Mythen meinen, denn "diese Wandlungen" - i. e. der Residuenwechsel -

"sind sehr bedeutungsvoll für die Bestimmung des Gleichgewichts [der Klassen]. Die landläufige Beobachtung hat sie in einer besonderen Form aufgefasst, dem Wandel der sog. »religiösen« Gefühle in der Oberschicht. Man hat bemerkt, dass diese zu bestimmten Zeiten schwächer, zu bestimmten anderen stärker werden, und dass diese Schwankungen bedeutungsvollen sozialen Veränderungen entsprechen. Genauer lässt sich diese Erscheinung beschreiben, wenn man sagt, dass in der Oberschicht die Residuen der Klasse II allmählich schwächer werden, bis eine aus der Unterschicht aufsteigende Strömung sie von Zeit zu Zeit verstärkt" (ebd., S. 226).

Pareto konstatiert zwar ein Zu- und Abnehmen der »religiösen« Gefühle, die er hier mit den Residuen gleichsetzt, wobei seine inhaltliche Füllung der 232

Residuen nicht immer die gleiche, sondern eine eklektische ist, und bringt diese »Schwankungen« auch in Zusammenhang mit solchen gesell- schaftlicher Art, doch versäumt er die Einordnung dieses dynamischen Geschehens in einen politisch-wirtschaftlichen Rahmen. Verantwortlich dafür macht er »Strömungen«, ein Begriff, dem allerhand Transzendentes anhaftet und der die tatsächlichen Prozesse eher verschleiert als benennt.

Immerhin erkennt er, dass seine Klassen I und II nicht aus einem Guss sind, sondern sich aus unterschiedlichen Teilen zusammensetzen. Diese Teile 478 nennt er »Aggregate« . Ein solches Aggregat bilden beispielsweise in der 479 Oberschicht - die er fortan mit »Elite« bezeichnet - die »Aristokratien« , denen er jedoch keine große Zukunft prophezeit, denn:

"Die Aristokratien haben keine Dauer. Was auch die Ursachen davon sein mögen, unbestreitbar ist, dass sie nach einer gewissen Zeit verschwinden. Die Geschichte ist ein Friedhof von Aristokratien. Das athenische Volk bildete gegenüber der übrigen Bevölkerung der Stadt, Metöken und Sklaven, eine Aristokratie. Sie verschwand ohne Nachfolge. So verschwanden die verschiedenen römischen Aristokratien. Wo sind in Frankreich die Nachkommen der fränkischen Eroberer? Die Stammbäume der englischen Lords sind sehr genau erforscht: es gibt nur wenige Familien, die von den Gefährten Wilhelms des Eroberers abstammen; die übrigen sind verschwunden. In Deutschland besteht die gegenwärtige Aristokratie großenteils aus den Nachkommen der Vasallen des alten Adels. Die Bevölkerung der europäischen Staaten ist seit einigen Jahrhunderten bis heute außerordentlich gewachsen. Es ist aber sicher, ganz sicher, dass ihre Aristokraten nicht im gleichen Verhältnis gewachsen sind" (ebd., S. 229).

Auffällig ist hier wieder seine Kommunikationsweise, die auf argumentative Begründungen seiner Behauptungen weitgehend verzichtet und dogmatische Aussagen mit eklektisch-selektiven Beispielen aus der Geschichte belegt, die auf anekdotenhafte Weise und weitgehenden Verzicht auf Konkretes und Nachprüfbares seinen Aussagen Nachdruck verleihen sollen. Durch Einfügen von Floskeln wie »unbestreitbar ist« oder »es ist aber sicher, ganz sicher« versucht er, diesen Nachdruck noch zu verstärken. Seine histori- schen Rundumschläge sind gerade aufgrund ihrer verblüffenden Simplizität 480 ein wirkungsvoller Appell an unbewusste, im Über-Ich angelegte Normen

478 Hier handelt es sich ebenfalls um einen den Naturwissenschaften entnommenen Begriff. Dort versteht man unter einem Aggregat einen "Zusammentritt ungleichartiger Moleküle zu größeren Komplexen" in: Freytag, K.: Fremdwörterbuch naturwissenschaftlicher und mathematischer Begriffe, Köln: Aulis-Verlag Deubner, 1982, S. 32.

479 Vgl. ebd., S. 228.

480 Z. Überich vgl. a. Trimborn, Winfried in: Mertens, Wolfgang; Waldvogel, Bruno: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe; Stuttgart; Berlin; Köln: Kohlhammer, 2000, S. 754ff.

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und deswegen so effektiv.

Der Aburteilung des Adels können viele zustimmen, vor allem das aufsteigende Bürgertum, legitimiert eine ohnehin verfallende Schicht 481 letztendlich auch ihre Beseitigung und Substituierung . Zumal dieses aristokratische Oberschichts-»Aggregat« laut Pareto nicht nur hinsichtlich seiner Mitgliederzahl, also quantitativ im Schwinden begriffen ist, sondern auch qualitativ:

"Nicht nur an Zahl verfallen bestimmte Aristokratien, sondern auch an Eigenschaften: ihre Tatkraft nimmt ab und es verschieben sich die Verhältnisse der Residuen, die ihnen ermöglichen, sich der Herrschaft zu bemächtigen und sie zu behaupten" (ebd.).

Der prophezeite Verfall der Aristokratien impliziert die Möglichkeit, deren Position in absehbarer Zukunft einnehmen zu können. Umsetzbar wird diese Machtübernahme für Gruppen, die die behauptete »Residuenverschiebung« ausnutzen können, ebenso wie die damit einhergehende Schwächung der aktuellen Machtinhaber. Hier wird erneut deutlich, dass Paretos »Residuen« dieselben dynamischen Prozesse meinen wie die Barthesschen Mythen, wenn auch aus völlig anderer ideologischer Perspektive.

"Die herrschende Klasse wird, nicht nur in der Zahl sondern, was wichtiger ist, auch in der Eigenschaft von solchen Familien fortgesetzt, die aus den Unterschichten kommen und die für die Behauptung der Macht nötige Tatkraft sowie die erforderlichen Proportionen von Residuen mitbringen. Durch den Verlust ihrer entartetsten Mitglieder wird die herrschende Klasse tüchtig erhalten" (ebd., S. 229f).

Mussolini musste sich hier geradezu persönlich angesprochen fühlen, klang dies doch fast wie eine Vorwegnahme seiner eigenen Biographie: die Beschreibung des sich von ganz unten nach ganz oben emporschwingenden Helden, der mit Energie und Charisma die Herrschaft an sich bringt. Außerdem wird - praktisch im Nebensatz - das Fallenlassen von nicht mehr nützlichen Mitstreitern nach Antritt der Herrschaft legitimiert, indem das Primat der »Tüchtigkeit« absoluten Vorrang erhält, bildet diese doch eine existenzielle Voraussetzung für den Machterhalt.

"Hört eine dieser Bewegungen oder, was schlimmer ist, hören beide auf, so nähert sich die herrschende Klasse ihrem Sturz, und der zieht oft die ganze Nation nach sich. Die

481 Vgl. hierzu Seiler 1998, S. 174, nach dem dieser Vorgang im Sinne Paretos nur konsequent sein kann: "Der Autor einer Derivation, kann nicht nur lediglich das äußern, was seine Kommunikationsgemeinschaft empfangen kann, er muss auch so vorgehen, was zwar nach Pareto im Sinne der Konsenssicherung schon in antiken Gesellschaften der Fall war, was aber unter den Bedingungen der modernen parlamentarischen Demokratie, zumal unter den Bedingungen ihrer Korruption, in einer ganz anderen Qualität hervortritt." Was Mussolini dann unter 'Konsenssicherung' verstand, ist bekannt.

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Ansammlung von überlegenen Elementen in den Unterschichten und umgekehrt die von unterlegenen Elementen in den Oberschichten ist eine mächtige Ursache von Gleichgewichtsstörungen" (ebd., S. 230). Mit diesen »Bewegungen« meint Pareto eben diesen im vorigen Abschnitt erwähnten Niedergang der Untüchtigen der Oberschicht und den Aufstieg Tüchtiger aus der Unterschicht. Wie ein Organismus abgestorbene Zellen abstößt und neue bildet, erhält die Gesellschaft sich am Leben. Die dichotomisierte Paretosche Gesamtgesellschaft scheint sich wie auf einer einsamen Insel zu befinden, völlig abgekoppelt vom dynamisch-pro- zessualen Geschehen etwaiger anderer, sie umgebender Gesellschaften und immun gegen von diesen ausgehende Einflüsse.

Daneben implizieren mögliche »Gleichgewichtsstörungen« die selbst- verständliche Existenz eines solchen »Gleichgewicht«. Anhand der Eliasschen Figurationsanalyse habe ich aber bereits dargelegt, dass eine Balance von Figurationen - und um eine solche handelt es sich auch bei Paretos simplifizierenden und reduktionistischen Modell - praktisch nicht zu erreichen ist, da sich alle beteiligten Elemente ständig in Bewegung befinden. Dies gilt schon in der Atomphysik in Bezug auf die unbelebte 482 Materie und angesichts des Freudschen Modells von Über-Ich, Ich und Es umso mehr, wenn es sich bei diesen Elementen um Menschen handelt, bei denen dynamische Bewusstseinsprozesse nicht wegzudiskutieren sind.

Darüber hinaus kann nach Pareto derjenige, der den Sturz einer Nation aufhält, der wiederum auf einen vorangegangenen Sturz einer bislang herrschenden Klasse folgt, sich als Retter der Nation fühlen, und diese »Rettung« als Legitimationsgrund für seinen eigenen Machtzuwachs benutzen. Wenn ein »Retter« nun durch sein Eingreifen den Sturz der herrschenden Klasse abwendet, kann er sich außerdem ihres Dankes und ihrer künftigen Unterstützung sicher sein. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Mussolini Pareto sehr gründlich gelesen hat wie auch unten anhand der Diskussion seiner eigenen ideologischen Ausführungen noch deutlich werden wird.

"Durch den Kreislauf der Eliten ist die herrschende Elite in einer beständigen langsamen Umbildung begriffen" (ebd.).

Der »Kreislauf der Eliten« ist im Prinzip der Schlüsselbegriff Paretoschen

482 S. hierzu a. "Elementarteilchen" (S. 189ff) in: Knerr, Richard: Bertelsmann Lexikon Physik; Gütersloh: Bertelsmann, 1995.

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Denkens. Demokratische Gesellschaften haben in diesem Denken keinen Raum. Nur Eliten vermögen zu herrschen, eine andere Machtverteilung ist für Pareto nicht vorstellbar. Es gibt nur eine von einer Oberschicht beherrschte Unterschicht, die Ersterer immer wieder - beständig, aber langsam - frische Zellen zuführt und sie dadurch am Leben erhält.

"Revolutionen entstehen, weil sich bei langsamer werdendem Kreislauf der Eliten oder aus anderen Ursachen Elemente mit unterlegenen Eigenschaften in den Oberschichten ansammeln. Diese Elemente besitzen nicht mehr die Residuen, die sie an der Macht halten können; sie meiden die Anwendung von Gewalt. Zugleich entwickeln sich in den Unterschichten Elemente von überlegener Beschaffenheit, die die zum Herrschen notwendigen Residuen besitzen und zur Gewaltanwendung entschlossen sind" (ebd.).

Was sofort ins Auge fällt, ist die postulierte Notwendigkeit von Gewalt bei der Ausübung von Herrschaft. Gewaltvermeidung gilt ihm als Schwäche, die unweigerlich zum Verlust von Macht führt. Die Residuen Paretos sind also nicht ausschließlich ideelle Mythen, die lediglich auf geistiger Ebene Anwendung finden, sondern durchaus von gewaltsamen Eingriffen begleitet, um den von ihr eingesetzten Ideologien Nachdruck zu verleihen. Wird die Gewaltanwendung nicht konsequent beibehalten, können sich dies Elemente oder Gruppen der Unterschichten zunutze machen und ihrerseits 483 mittels konsequenter Gewaltanwendung an die Herrschaft gelangen . Diese Eroberung der Herrschaft führt jedoch keinesfalls zu einer Veränderung des gesellschaftlichen Gesamtbildes, für das Pareto die Metapher eines strömenden Flusses verwendet, bei dem man zeitweise "plötzlich heftige Störungen, ähnlich den Überschwemmungen eines Flusses" beobachtet. Doch hat eine Gruppe wieder die Herrschaft an sich gebracht und diese stabilisiert, beruhigt sich die Strömung wieder:

"Dann beginnt auch die neue herrschende Elite sich langsam wieder umzubilden: Der Fluss ist in sein Bett zurückgekehrt und strömt wieder regelrecht" (ebd.).

Von wirtschaftlichen Prozessen wie Veränderungen hinsichtlich Kapitalentwicklung und fortschreitender Arbeitsteilung sowie sozialen Prozessen, die durch Phänomene wie Verstädterung oder verstärkte Migra- tion eingeleitet werden, ist dabei nicht die Rede. Wie in einem ehernen

483 Vgl. m. Tierreich sind m. E. insofern nützlich, als sie den Umstand vor Augen führen, dass Menschen in den meisten Fällen von den Möglichkeiten ihrer potenziellen Verhaltensflexibilisierung viel zu geringen Gebrauch machen. Ich bin auch der Ansicht, dass von spezifisch menschlichem Verhalten erst die Rede sein kann, wenn dieses Verhalten im Tierreich nicht anzutreffen ist. Zur Herrschaftsausübung bei Tieren s. z. B. d. Artikel "Rangordnung" (S. 192f) in: Immelmann, Klaus: Wörterbuch der Verhaltensforschung; Berlin; Hamburg: Parey, 1982 o. Schwerdtfeger, Fritz: Lehrbuch der Tierökologie; Hamburg; Berlin: Parey, 1978, S. 182: "Territorialverhalten".

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484 Zeitalter Hesiodscher Prägung bleibt der Fluss Paretos in seinem immergleichen Bett, dass seinerseits eine zirkuläre Form besitzt, und behält im Wesentlichen auch stetig seinen Lauf bei, gelenkt von - was wohl? In Frage zu kommen scheint hier nur eine transzendente, unfassbare Macht, die ein ewiges Gesetz, das als von Menschen unbeeinflussbar erscheint, unver- rückbar aufrechterhält.

485 Der Rückgriff auf antikes Denken führte offensichtlich auch hier, wie schon bei Mazzini, zur Übernahme des zirkulären antiken Geschichtsbildes. Deshalb ist Paretos »Kreislauf der Eliten« trotz seiner auf den ersten Blick scheinbaren Dynamik ein statisches Modell, eine »ewige Wiederkehr des Gleichen«.

Man darf diesen Kreislauf der Eliten auch keinesfalls als Chance für die Unterschicht im Sinne eines sozialistischen Denkens begreifen, ihrerseits bestehende Herrschaften ablösen zu können. Eine Revolution ist bei Pareto 486 eher ein Korrektiv, dass bei einer Störung der Statik zum Einsatz kommt, aber nicht, um die gesellschaftliche Figuration als solche zu verändern, sondern sie hat einzig den Zweck, den vorherigen Zustand prinzipiell wieder herzustellen.

"Im Allgemeinen werden bei Revolutionen die Menschen der Unterschichten von Menschen der Oberschichten geleitet, weil diese die für den Kampf nützlichen geistigen Fähigkeiten besitzen, nicht aber die Residuen, über die gerade die Menschen der Unterschichten verfügen" (ebd, S. 230f).

Dass Pareto den Unterschichten auf geistiger Ebene nicht viel zutraut, kann

484 Vgl. hierzu Hesiods Dichtung "Werke und Tage" (S. 43ff) in: Werke; Berlin; Weimar: Aufbau, 1994.

485 Z. Wandel d. Geschichtsbildes s. bes. Heckmann, Friedrich: Einführung in die Geschichte der Soziologie; Stuttgart: Enke, 1984.

486 In diesem Zusammenhang ist auch seine Einschätzung v. Mussolinis Machtergreifung zu sehen. S. hierzu bes. Bellamy 1987, S. 32f: "Pareto feared that Mussolini was simply doing Giolitti's dirty work for him, and that nothing would change as a result. His initial support, therefore, differed from that of Croce and other moderate conservatives, who hoped Mussolini would strengthen the liberal regime without destroying it. If fascism failed to establish itself as a new elite, which required fox-like cunning as well as leonine strength, violent anarchy would result. As he warned Pantaleoni, an earlier enthusiast of Mussolini than himself, 'There are growing signs in Italy, very slight it is true, of a worse future than one could have imagined. The danger of using force is of slipping into abusing it.' Unfortunately, Pareto had deprived himself of any grounds for isolating what was or was not an abuse."

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487 nicht verwundern , wurde doch alles ängstlich vermieden, was zu einem größeren Wachstum an geistigem Potenzial in diesen Unterschichten hätte führen können. Aus diesem Grund gesteht er - wie Mazzini - der Unterschicht nur eine Gefolgschaftsrolle zu.

"Die Änderungen vollziehen sich überraschend. Demnach folgt die Wirkung nicht unmittelbar auf die Ursache, die schon einige Zeit vor dem Schock vorhanden gewesen sein kann. Wenn eine herrschende Klasse oder eine Nation sich lange mit Gewalt behauptet und bereichert haben, können sie noch eine Weile ohne Gewaltanwendung bestehen, indem sie von ihren Gegnern Frieden erkaufen. Sie bezahlen ihn nicht nur mit Gold, sondern auch mit ihrer bisherigen Ehre und Reputation, die ein gewisses Kapital darstellen" (ebd., S. 231).

Im Klartext heißt dies erneut, dass eine Herrschaft langfristig ohne Gewaltanwendung ohnehin nicht möglich sei. Eine Demokratie ist demnach in Paretos Augen von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Angesichts seines rigiden dichotomen Gesellschaftsmodells ist diese Haltung jedoch nur konsequent, benötigt eine Gesellschaft, die mehr als eine Elite an der Herrschaft beteiligt, zu ihrer Beschreibung ein weiter gefasstes, differenzierter strukturiertes Modell, das auch dynamisch vielfältige Pro- zesse zu erfassen erlaubt.

II.5.5.2 Das Denkmodell Mussolinis

Paretos Modell und sein Mythos finden sich nun in Mussolinis Denken 488 weitgehend wieder , denn Mussolinis Italien besteht nun nicht mehr aus einem Kollektiv, das sich dem nationalistischen Mythos verpflichtet fühlt, sondern aus Individuen, die diesen Mythos bereits sozusagen genetisch in 489 sich verankert haben :

"Der Mensch des Faschismus ist ein Einzelwesen, welches Nationen und Vaterland und ein moralisches Gesetz in sich verkörpert, welches die Einzelwesen und Geschlechterfolgen in Überlieferung und Berufung zusammenkettet, ein Gesetz, welches den Instinkt des nur in einem kleinen Kreis von Lust beschlossenen Lebens unterdrückt, um dafür in der Pflicht ein höheres Leben zu verankern, frei von den Grenzen von Raum und Zeit: ein Leben, in

487 Wie es oben anhand der Bedenken der italienischen Oberschicht hinsichtlich eines über eine minimale Alphabetisierung hinausgehenden Bildungsangebotes für breite Schichten schon dargelegt wurde.

488 Ebenfalls beeinflusst wurde Mussolini von Sorel, "den Pareto würdigte, wegen seines Kampfes gegen 'den süßlichen und weichlichen Sozialismus und die demokratische Humanitätsduselei, die heutzutage so stark werden'" (Sternhell et al. 1999, S. 36). Humanitätsduselei war allerdings Mussolini nicht vorzuwerfen.

489 Mit 'genetischer Verankerung' ist hier eine traditionalistische Übernahme gemeint, die dem Mythos vorgängige Verhältnisse nicht mehr reflektiert.

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welchem das Einzelwesen durch Selbstverleugnung, durch Preisgabe seiner Sonderinteressen, selbst durch den Tod jenes durch und durch geistige Dasein verwirklicht, in dem sein Wert als Mensch beruht" (Mussolini 1967, S. 242).

490 Der faschistische Mensch , wie ihn Mussolini hier proklamiert, ist also kein Einzelwesen, das Individualität im Sinne von Einzigartigkeit seines Wesens und von anderen unterscheidbaren Eigenschaften besitzt, die durch seine besondere Biografie erworben wurden, sondern eine gleichgeschaltete Kreatur, die in erster Linie nationalen Traditionen verpflichtet ist, und zwar in einem selbstverleugnenden Maß. Versprochen wird ihm für diese Selbst- aufgabe ein höheres Leben in einer anderen Welt jenseits »von Raum und Zeit«, nur auf diese selbstverachtende Weise bekommt es im Faschismus Mussolinis überhaupt einen Wert. Er reduziert die Menschen, die er zu beherrschen wünscht, auf die Rolle bloßen Kanonenfutters. Denn ohne die Intention militärischer Aktionen wäre die Verherrlichung eines Todes für das »Vaterland« völlig überflüssig.

Die religiöse Ausrichtung des faschistischen Gedankengutes tritt durch den Verweis auf Transzendentes deutlich zutage, denn erst durch den Opfertod kann der faschistische Mensch dem Sinn seines Daseins gerecht werden. Mussolini folgt hier explizit den Ratschlägen Paretos, indem er starke 491 »Residuen« ins Feld führt . Der Mythos, mit dem Mussolini hier arbeitet, 492 ist der der »Freiheit« , deren Sinn völlig entleert und mit dem der »Pflicht« erfüllt wird, woraus dann das Zeichen »Wert als Mensch« entsteht. Der Mensch des Faschismus soll seinen Wert in der 493 Pflichterfüllung sehen , darin liegt die einzige ihm zugestandene Freiheit.

"Ihm ist das Leben ein Kampf, denn es ist dem Menschen aufgegeben, jenes Leben zu erobern, welches seiner wahrhaft würdig ist, indem er vor allen Dingen das Werkzeug (körperlich, geistig und sittlich) in sich selbst schafft, um dem Leben Gestalt zu geben. Das gilt für das Einzelwesen, das gilt für die Nation, das gilt für die Menschheit" (ebd.).

490 Dieser »faschistische Mensch« Mussolinis war vor allem von einem fanatischen Nationalgefühl beherrscht (vgl. Sternhell et al. 1999, S. 270).

491 Der Nationalismus Mussolinis gerät hier schon fast zum Instinkt.

492 Allerdings ist »Freiheit« schließlich auch kein eindeutiger Begriff. S. z. B. BROCKHAUS 1997, S. 661ff.

493 Ausdruck des 'Pflichtverständnisses' Mussolinis war auch das Bild, das von ihm verbreitet wurde. Es "wurde entpersönlicht, Symbol einer Macht, die nur teilweise seine eigene war. Die ewige Starrheit des Blicks, die wie eine Zwangsvorstellung von allen Wänden und Zeitungen des Landes ausging, war der Ausdruck einer grotesken Einbalsamierung seiner Gestalt als »Staatsroboter«" (de Luna 1978, S. 70).

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Vor allem »Werkzeug« soll der Mensch werden, ein Werkzeug in der Hand des Mythosproduzenten Mussolini, und nicht nur der Mensch, sondern darüber hinaus die Nation und am Ende sogar die gesamte Menschheit.

Um den einzelnen Menschen zum Werkzeug zu machen, muss dieser sogar selbst Hand anlegen. Er muss mit sich selbst kämpfen, sich selbst nieder- ringen, und zwar zuerst seinen Körper, dann seinen Geist und schließlich seine Sittlichkeit. Diese Reihenfolge ist keineswegs zufällig. Der über- beschäftigte Körper narkotisiert den Geist, der dadurch empfänglich für Indoktrination wird und sich ohne weiteres seine Sittlichkeit vorgeben 494 lässt . Was ist hier unter Sittlichkeit zu verstehen? Ohne Zweifel dasselbe wie stets: die Unterordnung unter vorgegebene Normen.

"Wer in der religiösen Politik der faschistischen Herrschaft bei Überlegungen bloßer Opportunität stehen geblieben ist, hat nicht verstanden, dass der Faschismus, abgesehen davon, dass er ein Regierungssystem ist, auch und zwar vor allem, ein ideelles System ist"(ebd.).

Nun wird es auch offen gesagt, dass die Politik des Faschismus 495 »religiös« , also ideologisch und mythifizierend wirkt und damit notwendig antiintellektuell, denn die Macht der Religion beruht auf Dogmen und kann deshalb an diesen keine Kritik gestatten, ohne sich selbst auszuhebeln. Die Annäherung der Kirche an Mussolini kann deshalb nicht verwundern, man erinnere sich des päpstlichen Ausspruches, dass Mussolini 496 497 ein Mann sei, "mit dem Uns die Vorsehung zusammenführte" . Schon aus diesem Grund musste der Liberalismus bekämpft werden, wobei wegen der engen Verbindungen Mussolinis zum italienischen Großkapital dieses

494 Z. faschistischen Menschenbild s. a. insbes. Böss, Brigitte: Benito Mussolini und der Faschismus; Puchheim: IDEA, 1988, S. 60ff.

495 Vielleicht machte diese 'Religiosität' Mussolini gerade zum idealen Verhandlungspartner der Kirche, so dass sich die beiden Mächte gegenseitig instrumentalisierten: "Stabilisierend wirkten nicht zuletzt die im Februar 1929 abgeschlossenen Lateranverträge, welche die Wiederherstellung des Kirchenstaats in den Grenzen der Vatikanischen Mauern nebst einigen kleineren Enklaven, beträchtliche Entschädigungszahlungen an den Papst und ein Konkordat zu einem propagandistisch wirkungsvollen Paket schnürten: Mussolini als Heiler fast sechzig Jahre alter Wunden" (Reinhardt 1999, S. 113). Vgl. hierzu a. Kuß, Stefan: Römische Kurie, italienischer Staat und faschistische Bewegung; Frankfurt: Lang, 1995.

496 Vgl. Feldbauer 1996, S. 15.

497 Nicht profitieren von dieser glücklichen Zusammenführung konnte die katholische Partei PPI, die von Luigi Sturzo gegründet worden war, denn "the Catholic left staunchly opposed fascism but found itself weakened by Pope Pius XI's support of the right wing" (Di Scala 1995, S. 220) - und dies bereits vor der faschistischen Machtergreifung.

240

498 499 hier nicht gemeint sein kann , sondern eher der Teil der Liberalen, der der Freiheit des Geistes in ihrem politischen Programm einen großen Raum zuwies.

"Der Liberalismus leugnete den Staat im Interesse des abgesonderten Einzelwesens; der Faschismus bejaht den Staat als wahre Wirklichkeit des Einzelwesens. Und wenn Freiheit ein Merkmal des wirklichen Menschen sein soll und nicht jenes wirklichkeitsfernen Gebildes, an das der individualistische Liberalismus dachte, so ist der Faschismus für Freiheit. Er ist für die einzige Freiheit, die ernst genommen werden kann, für die Freiheit des Staates und des Einzelwesens im Staate. Daher liegt für den Faschismus alles im Staate beschlossen, und es gibt für ihn nichts Menschliches und Geistiges, noch weniger besitzt dieses irgendeinen Wert außerhalb des Staates. In diesem Sinne ist der Faschismus allumfassend (ganzheitlich), und der faschistische Staat als Zusammenfassung und Einheit jeglichen Wertes gibt dem Leben des ganzen Volkes seine Deutung, bringt es zur Entfaltung und kräftigt es" (ebd., S. 243).

Der Staat wird zur einzig wirklich existenten Wesenheit hochstilisiert, alles außerhalb seiner Befindliche wird total negiert. Um überhaupt sein zu können, muss sich der einzelne diesem staatlichen Moloch vollkommen unterwerfen, oder er verliert das Anrecht auf sein menschliches Dasein. Ordnet er sich aber absolut unter, so wird ihm als Lohn dafür »Entfaltung« und »Kräftigung« versprochen. Die Praxis sah später freilich ganz anders 500 501 aus: zuerst sinkende und dann stagnierende Löhne waren die Realität . Inwiefern das zur »Kräftigung« beitrug, wurde von Mussolini selbstverständlich nicht expliziert.

502 Diese Politik der Annäherung an das Großkapital und der Ablehnung

498 Vgl. hierzu ebd., S. 13.

499 Mussolinis sozialistische Herkunft führte zu seinem 'syndikalistischen' Modell, "eine Art dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus, d.h. einen vom Staat garantierten nationalen Ausgleich zwischen Industrie und Gewerkschaften" (Reinhardt 1999, S. 114).

500 Vgl. Feldbauer 1996, S. 13.

501 Nach Duggan (1994, S. 230) war das Problem der Armut auch ein gravierendes Problem hinsichtlich des Versuchs der Faschisten, eine landesweit einheitliche Ideologie bei der Mehrheit der Menschen konsensfähig zu machen: "Reports of the South, particularly in the late 1930s, spoke of severe poverty."

502 Vgl. hierzu Mack Smith (1983, S. 187). Es "schenkte die Mehrheit - wohl aus Eigeninteresse - den Faschisten auch nach dem Mord an Matteotti ihr Vertrauen, denn aus der Sicht der Arbeitgeber waren die Jahre 1922 bis 1925 im Vergleich mit der Zeit davor das »vollkommene Paradies«: Es gab nur noch wenige Streiks, dafür aber beachtliche Steuererleichterungen für höhere Einkommensklassen, keine Mietkontrollen und relativ hohe Profitraten. Auch der Verzicht auf die Einziehung der rechtswidrig erzielten Kriegsprofite in Höhe von vielen hundert Millionen Lire wurde natürlich begrüßt. Die Zustimmung der Bankiers, der Industriellen und der Großgrundbesitzer war für Mussolinis Regime von unschätzbarem Wert, weil sie im Ausland der Ansicht Vorschub leistete, die Brutalitäten innerhalb Italiens seien unbedeutende Vorfälle, die ohne Weiteres übergangen 241

aller politischen Gedanken, die auch nur im Geringsten von der faschi- stischen Doktrin abwichen, brachte konsequenterweise auch eine vehemente Gegnerschaft in Bezug auf den Sozialismus mit sich.

"Es gibt keine Einzelwesen, es gibt keine Gruppen, politische Parteien, Vereine, Verbände und Klassen außerhalb des Staates. Daher ist der Faschismus gegen den Sozialismus, der die geschichtliche Bewegung im Klassenkampf erstarren lässt und die staatliche Einheit verneint, die die Klassen innerhalb der einzigen wirtschaftlichen und sittlichen Wirklichkeit miteinander verschmilzt. Die Einzelwesen gliedern sich gemäß der Art ihrer Sonderinteressen. Sie sind nach den verschiedenartigen wirtschaftlichen Tätigkeiten, an denen sie teilhaben, zu Verbänden zusammengefasst. Doch sind sie vor allem und über allem: Staat. Dieser ist keine bloße Zahl, als Summe der Einzelwesen, die die Mehrheit des Volkes ausmachen. Der Faschismus wendet sich daher gegen die Demokratie, welche das Volk mit Mehrheit gleichsetzt und es auf den Stand der Vielen herabdrückt" (ebd.).

Da nichts außerhalb des Faschismus existieren durfte, lag es nahe, die Elemente des Staates straff durchzuorganisieren, um eine ideologische Gleichschaltung zu gewährleisten. Formationen außerhalb stehender Figu- rationen konnten nicht zugelassen werden, auch deshalb wurde das Bestehen von Klassengegensätzen schlichtweg negiert. Die vorgebliche Wirklichkeit, in der alle wirtschaftlichen Interessen zu einem einzigen verschmelzen, wurde wohlweislich nicht näher ausgeführt. Denn es vermag nicht einzuleuchten, inwiefern die Interessen von schlecht bezahlten Landarbeitern, die kaum ihre leibliche Existenz zu bestreiten in der Lage 503 sind , mit denen von Großagrariern verschmelzen sollten, die nur ihre Gewinne erheblich steigern können, wenn sie die Löhne so niedrig wie möglich halten. Eine derartige »Interessenverschmelzung« kann nur zu Lasten des schwächeren Teils der zu amalgamierenden Elemente gehen, i. e. 504 der Landarbeiter .

werden könnten."

503 Die Situation verschärfte sich bes. im Süden, als 1921 "the Americans cut down the number of immigrants they were willing to admit. The USA had taken 233,000 Italian immigrants a year on average between 1901 and 1910, most of them Southerners; in the 1920s they took 42,000 p.a., and in the 1930s 11.500. Emigration to Europe fell off too, especially during and after the Depression. The Fascist government also did its best to keep its people in, by making the regulations more bureaucratic. So here was a dramatic and sudden change in Italian society. Total emigration fell from over 600,000 p.a. before the war, to below 50,000 (gross) in the late 1930s. The 'great safety-valve' had suddenly been closed. Economically, the period from the late 1920s to the late 1940s was perhaps the worst in recent Southern history: by 1950 income per head was about 60 per cent that of 1924."

504 Ähnlich merkwürdig finde ich das kürzlich versuchte »Bündnis für Arbeit« in Deutschland, denn ein Bündnis macht m. E. nur Sinn, wenn es zum Zweck der Erreichung eines gemeinsamen Zieles geschlossen wird. Wie können aber die Ziele von Unternehmern, die ihre Gewinnsteigerung durch Rationalisierung von Arbeitsprozessen maximieren wollen, und von Proletariern, die zur Aufrechterhaltung ihres Lebensstandards gezwungen sind, soviel ihrer Arbeitskraft wie möglich so teuer wie möglich zu verkaufen, identisch sein? Die Widersprüche des Kapitalismus bleiben offenbar unabhängig von der jeweils 242

Ein weiterer interessanter Punkt in diesem Absatz ist Mussolinis Auffassung vom »Volk«. Das Volk ist laut Mussolini keineswegs identisch mit der Mehrheit, ja es darf sogar keinesfalls auf den »Stand der Vielen« herabgedrückt werden. Die jubelnden Massen, Stimmvieh und Kanonenfutter zugleich, sind also nicht einmal »Volk«. Sie bestehen auch nicht aus einzelnen Menschen, sondern sind lediglich ein einzukal- kulierender Posten bei der Verfolgung der Interessen der Elite, um mit Pareto zu sprechen. Paretos Eliteverherrlichung scheint hier deutlich durch.

"Diese überragende Persönlichkeit ist aber Nation, insofern sie Staat ist. Die Nation erzeugt aber nicht den Staat, gemäß den veralteten, naturalistischen Anschauungen, die der Schriftstellerei der Nationalstaaten als Grundlage diente. Vielmehr wird die Nation vom Staate geschaffen, der dem Volke, welches sich seiner eigenen sittlichen Einheit bewusst ist, einen Willen und daher sein tatsächliches Dasein verleiht" (ebd.).

Die Nation ist nicht mehr lediglich eine Bezeichnung für eine Menschengruppe, sondern ein personifizierter Staat. Mussolini füllt den Nationenbegriff latent mit einem neuen Inhalt, der den Begriff »Staat« mit einer »Persönlichkeit« identifiziert und so die Gleichsetzung dieses Staates mit einer einzigen Person, nämlich seiner eigenen, wesentlich erleichtert. Nachdem er zuvor das »Volk« als Repräsentant einer Mehrheit in eine Elite transformiert hat, verkörpert nun der personifizierte Staat die oberste Autorität, denn er ist nicht nur Person, sondern auch noch »überragend«.

Dieser Staat Mussolinischer Prägung schafft nun die Nation und schwingt sich zum Willensgeber und zur existenziellen Voraussetzung des zuvor schon vereinheitlichten und entmachteten Volkes auf. Der Mythos nähert sich seiner höchsten Stufe.

"Die Nation als Staat ist sittliche Wirklichkeit, die vorhanden ist und lebt, sofern sie sich entwickelt. Stillstand ist Tod. Daher ist der Staat nicht nur Autorität, die führt und die dem Einzelwillen die Rechtsformen und den geistigen Lebenswert verleiht, sondern auch Macht, die nach außen hin ihren Willen wirksam werden lässt dadurch, dass sie dieser Macht Ansehen und Achtung verschafft, oder indem sie durch die Tat seine Allgemeingültigkeit in allen notwendigen Äußerungen seiner Entwicklung aufzeigt: daher Organisation und Ausdehnung, wenigstens der Anlage nach. Auf diese Weise kann der Staat sich der Natur des menschlichen Willens anpassen, der, in seiner Entwicklung, keine Schranken kennt und sich dadurch verwirklicht, dass er seine eigene Unendlichkeit beweist" (ebd., S. 243f).

Wiederum ganz nebenbei, in einem Nebensatz, wird der personifizierte Staat auch noch zur Rechtsnorm, was an sich mit der vorausgehenden

herrschenden politischen Klasse, dem sozialen Habitus der aktuell Beteiligten und der von ihr proklamierten Ideologie immer dieselben.

243

Totalentmachtung des Volkes schon vorweggenommen wurde und dieser 505 expliziten Formulierung überhaupt nicht mehr bedurft hätte .

Die nun sich mit dem Willen der sie führenden Autorität identifizierende Nation muss sich auch externe Geltung verschaffen, am besten durch »Ausdehnung«. Die expansionistische Intention des Staates wird hier zum ersten Mal vordergründig. Doch Mussolinis Staat will sich nicht nur zum Zwecke der Selbstbehauptung erweitern, sondern strebt darüber hinaus »Unendlichkeit« an. An dieser Stelle gerät der Mythos Mussolinis auch zur Bedrohung aller sich außerhalb seiner Nation befindlichen Existenzen, denn eine Unendlichkeit anstrebende Figuration will auch alle anderen sich einverleiben. Dabei steht nicht zur Debatte, inwieweit für Mussolini die Disposition der Mittel zur Erreichung seiner Ziele jemals realistisch war oder ob sich dieser eklatante Widerspruch zwischen diesen beiden stets 506 seiner Wahrnehmung entzog .

"Losgelöst von der Betrachtung der gegenwärtigen Politik, glaubt der Faschismus nicht an die Möglichkeit noch an die Nützlichkeit des ewigen Friedens. Er lehnt daher jede Politik, die einen Verzicht auf Kampf bedeutet, als Feigheit ab. Der Kampf allein bringt die menschliche Willenskraft auf die höchste Spannung und verleiht ihren Trägern die Würde des Adels, die den Mut und die Tugend (virtù) haben, dem Kampfe die Stirn zu bieten. Alle anderen Erprobungen sind Ersatz, weil sie den Mann nicht vor das Entweder-Oder des Lebens oder des Todes stellen" (ebd., S. 244).

Aufgrund der vorausgehenden Betrachtungen ist klar, dass »Frieden« kein 507 faschistischer Programmpunkt sein kann . Räumt man der Expansion einer Nation Priorität ein, so schließt dies von vornherein Friedensintentionen aus. Paretos Elitetheorie wird hier deutlich umgesetzt: die einer Aristokratie laut Pareto innewohnenden »Residuen«, die einen wesentlichen Teil ihrer Herrschaftsqualifikation ausmachen, müssen um des Machterhalts willen gepflegt werden. Möglich ist dies nur durch nationale Aggression, denn wenn der personifizierte Staat, der mit der Nation identifiziert und mit der Elite letztendlich gleichgesetzt wird, nicht korrodieren will, muss er Gewalt einsetzen. Denn wie oben bereits gezeigt wurde, hält Pareto die Herrschaft

505 Vgl. z. B. Kirkpatrick (1965, S. 223): "Im November 1925 begann Mussolini mit einem Gesetzgebungsprogramm, das dem italienischen Staat bis zum Ende des folgenden Jahres ein rein faschistisches Gepräge geben sollte. Durch eine Vielzahl neuer Gesetze entstand ein Polizeistaat unter der persönlichen Kontrolle des Ministerpräsidenten Mussolini."

506 Obwohl Mussolinis staatskapitalistisches Wirtschaftsmodell sicherlich darauf abzielte, einen "beschleunigten Kapitalkonzentrationsprozess" (de Luna 1978, S. 89) herbeizuführen.

507 Einer "expansiven Staats-Ideologie" (Böss 1988, S. 131) ist der Kriegswille m. E. prinzipiell immanent.

244

einer Elite ohne diesen Gewalteinsatz für langfristig unmöglich.

"Der Staat, wie ihn der Faschismus begreift, ist eine geistige und moralische Tatsache, ferner eine bestimmte politische, juristische und wirtschaftliche Veranstaltung, die in ihrem Ursprung und in ihrer Entwicklung wiederum eine Offenbarung des Geistes ist. Der Staat gewährleistet die innere und äußere Sicherheit, aber er ist auch der Hüter und Vermittler des Volksgeistes, so wie dieser jahrhundertelang in Sprache, Sitte und Glauben in Erscheinung getreten ist. Der Staat ist nicht nur Gegenwart, sondern auch Vergangenheit und vor allem Zukunft. Der Staat überschreitet die engen Grenzen des persönlichen Lebens und stellt das eigentliche Bewusstsein der Nation dar" (ebd., S. 244f).

Der elitär geführte faschistische Staat ist auf sämtlichen Ebenen 508 gegenwärtig . Er allein ist dazu berechtigt, psychische und moralische Bedürfnisse zu determinieren und sämtliche Angelegenheit seiner Mitglieder zu verwalten, seien sie politischer, rechtlicher oder ökonomischer Art. Legitimiert ist er dazu aufgrund seiner Herkunft aus einem nicht näher spezifizierten nebulösen »Geist«, also einer unklaren transzendenten Größe. Ob dieser sich im Staat offenbarende »Geist« mit dem »Volksgeist« identisch ist, der vom Staat »gehütet« wird, wird ebenfalls nicht deutlich. Jedoch wird nun dem Staat die Aufgabe zugewiesen, »die innere und äußere Sicherheit zu wahren«, wobei nicht explizit gesagt wird, um wessen Sicherheit es sich hier tatsächlich handelt. Aufgrund des Vorausgegangenen ist jedoch anzunehmen, dass hiermit lediglich die Sicherheit der herrschenden Elite gemeint sein kann, die mit dem faschistischen Staat identisch ist und keinesfalls die Sicherheit der nicht einmal mit dem »Volk« identischen Mehrheit. Eine Beschränkung der dabei legitim einzusetzenden Mittel wird schon hier nicht erwähnt, die faschistische Herrschaftspraxis zeigte dann in jeder Phase deutlich, dass eine solche ohnehin nicht vorgesehen war. Der faschistische Staat beschränkt sich nämlich überhaupt nicht, die Beherrschung des Raums ist ihm nicht genug, er will auch noch die Zeit für sich vereinnahmen und so zum einzig existenten Bewusstsein werden, und zwar in einer solchen Intensität, dass nicht nur alles gegenwärtig außerhalb ihm Existierende seine Berechtigung verliert, sondern darüber hinaus alles Vergangene ausgelöscht und alles Zukünftige negiert werden soll. Das Ziel ist also der totale Mythos, neben dem und vor dem nichts anderes je existiert hat, momentan und jemals existieren darf.

508 S. a. hierzu Böss 1988 (S. 128): "Ab 1925 hatte Mussolini auf königliche Bestätigung hin unumschränkte Vollmachten und sein Wirken war jeder parlamentarischen Kontrolle entzogen. Neben ihm stand - halblegal subversiv arbeitend - die italienische Geheimpolizei, ein Erbe der Geheimbünde des 19. Jahrhunderts. Die Partei wurde zumindest formal zur Einheitspartei und langsam wurde der Boden für eine straffere, genehmere Berichterstattung und Angleichung geschaffen."

245

"Der faschistische Staat ist Wille zur Macht und Herrschaft. Die römische Überlieferung ist ihm eine Idee des Antriebes. In der Lehre des Faschismus bedeutet Herrschaft (imperio) nicht nur Land, Soldaten oder Handel, sondern Geist. Man kann sich sehr wohl vorstellen, dass eine Nation andere unmittelbar oder mittelbar anführt, ohne dass es nötig wäre, einen einzigen Quadratkilometer Landes zu erobern. Im Faschismus ist die Neigung zum Imperialismus, das heißt zur nationalen Entfaltung, eine Offenbarung der Lebenskräfte. Sein Gegensatz ist Verfall: Völker, die steigen oder wieder aufsteigen, sind von imperialistischer Gesinnung, nur niedergehende Völker können verzichten. Der Faschismus ist die angemessenste Lehre für die Seelenstimmung eines Volkes, welches, wie das italienische, sich nach vielen Jahrhunderten der Ohnmacht und der Fremdherrschaft erhebt" (ebd., S. 245).

Jedoch verzichtet Mussolini zu keiner Zeit auf den Rückgriff auf den 509 antiken Mythos . Schon der Name »Faschismus« geht auf die Fasces zurück, die

"lederumschnürten Rutenbündel, aus denen ein Beil hervorragte und die von den altrömischen Liktoren als Zeichen der Gewalt über Leben und Tod vorangetragen wurden" (Feldbauer 1996, S. 9)510.

Hinsichtlich der Negation jeglicher Existenz anderer als faschistischer Staatlichkeit erscheint dieser Rückgriff auf die antike römische Republik zunächst einen Widerspruch zu beinhalten, den Mussolini allerdings zu 511 einer Affirmation des Imperio ummünzt . Der Begriff des »imperio« wird seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt und bezieht sich nun auf die absolute Gewalt über alles.

Die »Idee« des antiken Rom ist Mussolini Aufforderung zum imperiali-

509 Vgl. hierzu a. Scriba, Friedemann: Augustus im Schwarzhemd?; Frankfurt am Main: Lang, 1995.

510 Z. Aufgabe d. Liktoren im antiken Rom vgl. Greif, Beate in: Brodersen, Kai; Zimmermann, Bernhard: Metzler-Lexikon Antike; Stuttgart; Weimar: Metzler, 2000, S. 335. Liktoren waren "vom Staat gestellte, öffentl. Diener und Begleiter der höheren mit imperium versehenen Magistrate, die diesem die fasces (Rutenbündel mit Beilen) als Amts- und Hoheitszeichen vorantrugen. Sie mussten von freier Geburt sein, jedoch konnten auch Freigelassene L. werden. L. begleiteten die Magistrate bei Amtsgängen, verschafften ihnen Platz (plebem oder turbam summovere), hielten die Entgegenkommenden zur Ehrenbezeigung an, erledigten niedere Amtspflichten (Ladung, Verhaftung) und vollzogen die Strafurteile einschließlich von Kapitalstrafen."

511 In der Antike bezeichnete das "Imperium" "die außerhalb der Stadt Rom unumschränkte Amtsgewalt des röm. Befehlshabers. Sie kam den Konsuln und den diesen nachrangigen Beamten zu, so den Praetoren, ferner den Beamten mit konsular. oder praetor. Gewalt wie Provinzstatthaltern. Das I. erlaubte seinen Inhabern die Aushebung von Soldaten, die Kriegführung und (das Einverständnis von Senat und Volk vorausgesetzt) den Abschluss von Staatsverträgen, die Verfügung über Kriegsbeute sowie die Rechtsprechung in den Provinzen. Äußeres Zeichen des I. waren die fasces (Rutenbündel mit Beilen, Liktoren)" (Prack, Norbert in: Brodersen, Kai; Zimmermann, Bernhard: Metzler-Lexikon Antike; Stuttgart; Weimar: Metzler, 2000, S. 258).

246

stischen staatlichen Handeln, da sich staatliche Größe notwendig in Er- 512 oberungen manifestiert . Am Ende siegt der staatliche Geist so total, das militärische Eroberung unnötig werden könnte. Dass dieser staatliche Geist italienischer Provenienz ist, erscheint ihm gerade unter Berufung auf das antike römische Reich selbstverständlich. Der Faschismus soll nun das italienische Volk dahin führen, wo das römische einst war, denn anderthalb Jahrtausende Geschichte sind einfach hinwegzuwischen, wenn man Ge- schichte schlichtweg negiert. Gerade diese Negation nimmt der Geschichte ihre prozessuale Dynamik und lässt das antike Rom zu einem statischen Bild werden, das sich der Faschismus als eigene Verkörperung einverleibt.

"Ich behaupte heute, dass der Faschismus als Idee, als Lehre und in seiner Praxis universal ist; italienisch in seinen besonderen Einrichtungen ist er allgemeinwirkend im geistigen Sinne; es kann gar nicht anders sein, denn der Geist ist seiner Natur nach allumfassend. Man kann daher ein faschistisches Europa voraussehen, ein Europa, das seine Einrichtungen mit dem Geiste der Lehre und der Praxis des Faschismus durchtränkt" (ebd., S. 245).

Die Idee, Theorie und Praxis des Faschismus ist also sowohl universal als auch italienisch. Somit ist die Vision des faschistischen Europas Mussolinis die einer italienischen Herrschaft über den ganzen Kontinent.

Die Auswirkungen der legitimatorischen Berufung auf das antike Rom werden deutlich, dessen Herrschaft soll auf expansionistische Weise fortgesetzt werden, alle anderen Kulturen und geistigen Provenienzen ohne ihr Ansehen rigoros vergewaltigend.

Angesichts des damaligen Zustands italienischer Finanzen und des 513 italienischen Militärs wirken derartige Visionen einigermaßen lächerlich . Hitler allerdings, der sie für den Norden übernahm und zu germanischen 514 Visionen umstrickte , verfügte leider über weit mehr Mittel, die

512 Auch die Ideologie des Kapitalismus lehrt, das sein Ende mit dem Aufhören von wirtschaftlichem Wachstum unabwendbar verbunden ist.

513 Vgl. hierzu d. Tagebuchnotizen d. Grafen Ciano, Mussolinis Schwiegersohn, v. 6. August 1939, worin er schreibt: "Unsere Goldreserven sind praktisch erschöpft, ebenso unsere Vorräte an Stahl und Eisen, die wirtschaftlichen und militärischen Vorbereitungen noch längst nicht abgeschlossen. Wenn es zum Krieg kommt, müssen wir natürlich mitmarschieren, und sei es nur, um unser Gesicht zu wahren" (zit. n. Kirkpatrick (1965, S. 365).

514 Aus d. Zit. in Anm. (261) geht bereits hervor, dass genau dies die Crux des Stahlpakts war. Ein Regime, das sich auf eine nationalistische Ideologie beruft, kann seine militärische Schwäche nicht öffentlich machen.

247

gesamteuropäische Transformation wenigstens zu versuchen.

Mussolini hatte jedoch einige Vorstellungen, auf welche Weise er zumindest die minimalen disponiblen Ressourcen in seiner Hand konzentrieren könnte, nämlich mittels einer Strategie, die er »Korpo- 515 rativismus« nannte :

"Unser Staat ist nicht ein absoluter Staat und noch weniger ein absolutistischer, abseits von den Menschen und nur mit unbeugsamen Gesetzen bewaffnet, wie die Gesetze sein müssen. Unser Staat ist ein organischer, humaner Staat, welcher mit dem wirklichen Leben verwachsen sein will" (ebd.).

Diese Erklärung erstaunt nun doch. Hatte Mussolini nicht proklamiert, dass die Herrschaft des Staates allumfassend sein sollte? Und nun löscht er das bislang Konstatierte quasi aus, um Milde und Humanität zu loben. Der Zweck ist allerdings klar: er will beruhigen, damit die Tragweite des zuvor Dargelegten nicht das Bewusstsein der Menschen erreicht und so Wider- stand hervorruft. Deshalb versucht er sozusagen auf dem Wege einer 516 posthypnotischen Suggestion den vorausgegangenen Enthüllungen die Schärfe zu nehmen und wiegt das Volk, das er zu schlachten gedenkt, in Sicherheit.

Denn Widerstand ist gefährlich. Mussolini weiß, dass er im Ernstfall nicht über die Mittel verfügt, um seine Herrschaftsposition verteidigen zu können. Die Kontrolle über die Ressourcen ist daher für ihn von existenzieller Bedeutung:

"Korporativismus ist Wirtschaftsdisziplin und somit auch Wirtschaftsaufsicht, weil man sich keine Disziplin vorstellen kann, die ohne Kontrolle bleibt" (ebd.).

Der Korporativismus soll ihn also mit den ökonomischen Mitteln ausstatten, die zur Aufrechterhaltung einer Herrschaft in der Moderne unumgänglich

515 Z. d. Korporationen vgl. bes. Mack Smith 1981, S. 189: "Es gab eine einzige Reform des Faschismus, die man als Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte hervorheben kann: das System der Korporationen. Als Überwindung der überholten Ideologie des Liberalismus und des Sozialismus gefeiert, bildeten die Korporationen - ursprünglich eine Idee der Nationalisten und D'Annunzios in Fiume - Syndikate, in denen sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer organisiert waren. Ziel dieser Organisationen war es, dass jede Korporation den ihr entsprechenden Wirtschaftsbereich regulierte, die Streiks auf ein Minimum reduzierte und das Produktivvermögen im Interesse der gesamten Gesellschaft mobilisierte."

516 Innerhalb d. klinischen Hypnose wird eine posthypnotische Suggestion dem Patienten gegeben, um das auf die Hypnose folgende Verhalten zu beeinflussen (vgl. z. B. Kossak 1993, S. 330).

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sind. Seine Intention, dass der Korporativismus lediglich dazu dient, ihn mit der Kontrolle über die Wirtschaft auszustatten, wird nicht einmal verborgen, sondern offen ausgesprochen. In der Praxis wurde ein Verfügen über wirtschaftliche Ressourcen selbstverständlich nur durch eine Allianz mit der Wirtschaft möglich, deren konditionelle Ausgestaltung den Eignern des 517 Großkapitals sehr viel Einfluss einräumte , was sich jedoch im Angesicht 518 der Matteotti-Krise auszahlen sollte .

"Der Korporativismus überwindet den Sozialismus und überwindet den Liberalismus: er schafft eine neue Einheit" (ebd.).

Insofern präsentierte der Korporativismus auch einen gangbaren Weg für das Großkapital, in dem durch das Bündnis mit dem Faschismus ihre Interessen absoluten Vorrang eingeräumt bekamen und gleichzeitig geg- 519 nerische Kräfte wirkungsvoll neutralisiert wurden .

"Es ist ein bezeichnendes Ereignis, dem man vielleicht nicht genügende Beachtung geschenkt hat: dass der Verfall des Kapitalismus zusammenfällt mit dem Zusammenbruch des Sozialismus!" (ebd.).

Diese Behauptung stellt sich anhand der obigen Ausführungen als schlicht unwahr heraus, es sei denn, man bezeichnet einen nur auf die Interessen des Großkapitals zugeschnittenen schrankenlosen Kapitalismus, der konkur- rierende Kräfte, die ursprünglich im Kapitalismus eine wesentliche Antriebsfeder bilden sollten - wie behauptet wird - von vorneherein aus- 520 schaltet, als Faschismus und unterscheidet ihn so vom Ersteren .

Für den imperialistischen resp. nationalistischen Mythos bedeutet dies allerdings nicht, dass ihm eine weitere Stufe hinzugefügt worden wäre, sondern seine zweite Stufe hat lediglich eine intensivierende Transformation

517 Vgl. Feldbauer 1996, S. 13.

518 Vgl. ebd., S. 15.

519 Ein Resultat dieser Politik war eine immense Kapitalkonzentration: "By 1940 Italy had five private firms that were virtually monopolies in their sectors - Fiat, Pirelli, Montecatini, Snia Viscosa and Edison - as well as the largely State-owned steel plants and shipyards" (Clark 1996, S. 267).

520 "Wettbewerb (Konkurrenz) bezeichnet den Leistungskampf zwischen Wirtschaftseinheiten auf dem Markt und wird als dynamischer Prozess verstanden, in dem Unternehmen durch bessere Leistung (z. B. Preis, Qualität, Service) Nachfrage zu Lasten ihrer Konkurrenten gewinnen wollen. Als Leistungswettbewerb ist er das Ordnungs- und Organisationsprinzip der Marktwirtschaft" (Neumann, Christine in: Drechsler, Hanno; Hilligen, Walter; Neumann, Franz: Gesellschaft und Staat; München: Vahlen, 1995, S. 886).

249

erfahren:

+------+ ¦¦1. Bedeutendes ¦2. Bedeutetes ¦ ¦¦ ¦ ¦ SPRACHE ¦¦ Risorgimento ¦ Leitung ¦ ¦¦ ¦ der ¦ ¦¦ ¦ Massen ¦ +++------+------+ ¦¦¦ 3. Zeichen ¦ ¦ ¦¦¦ ¦ ¦ ¦¦¦ I. BEDEUTENDES ¦ II. BEDEUTETES ¦ ¦¦¦ ¦ ¦ ¦¦¦ ¦ VERACHTUNG ALLER¦ ¦¦¦ NATIONALISMUS ¦ NICHTITALIENER ¦ MYTHOS ¦++------¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ III. ZEICHEN ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ ¦ FASCHISMUS ¦ +------+

Die inneren Implikationen der Mussolinischen Mythen sind aus dem 521 Schema nicht zu ersehen, sind sie doch als latent zu begreifen .

Die Nachfolgeparteien des Partito Nazionale Fascista (PNF), nach dem Krieg zunächst der Movimento Sociale Italiano (MSI) und ebenso dessen aktuell an der Regierung beteiligte Nachfolgepartei, die Alleanza Nazionale (AN), deren Chef Fini Mitglied des aktuell regierenden Kabinetts Berlusconi ist, haben ausdrücklich die faschistische Ideologie nicht wider- rufen, insofern ist derselbe Mythos noch in Kraft. Auf eine Untersuchung des Mythos’ Berlusconis wird hier aus Gründen des Umfangs verzichtet. Der historische Verlauf ist dem Abriss der italienischen Geschichte zu entnehmen.

521 Hierbei handelt es sich nicht zuletzt um die Dynamik von Mussolinis persönliche Konstellation seiner Überich-Ich-Es-Figuration.

250

Bevor ich in einem Fazit zu einer Überprüfung meiner Untersuchungs- ergebnisse anhand der eingangs dieser Arbeit aufgestellten Thesen komme, möchte ich noch einen anderen Denker erwähnen, der sich mit dem Thema 522 Nationalismus eingehend beschäftigt hat, und zwar Etienne Balibar . Allerdings steht bei ihm Frankreich im Zentrum seiner theoretischen Ausführungen, weshalb er auch von einer völlig anders gelagerten histori- schen Basis ausgeht. Darüber hinaus bezieht er sein analytisches Instrumen- tarium aus der marxistischen Ecke, was zwangsläufig in einer stärkeren Betonung ökonomischer Inhalte resultiert, als dies bei einem auf der Folie der Eliasschen Figurationsanalyse gründenden Denken der Fall ist. Insofern Balibar nationale Ursprünge als Mythen begreift, kann ihm jedoch ohne weiteres zugestimmt werden.

II.7 FAZIT:

Am Ende dieser Arbeit gilt es ein Fazit zu ziehen. Dabei soll zunächst überprüft werden, ob sich die eingangs des ersten Teils aufgestellten Hypothesen halten lassen oder nicht.

Für die erste dieser Hypothesen kann dies ohne weiteres bejaht werden. Anhand der italienischen Geschichte konnte festgestellt werden, dass Mythos, Religion, Kultur und Ideologie tatsächlich verschiedene Bezeich- nungen für ein Wirkprinzip sind, auch wenn in der Regel von den Mächtigen versucht wird, dies zu verschleiern. Die Appelle an die Ideale des Risorgimento wurden auf die gleiche Weise funktionalisiert und instrumentalisiert wie die des Imperialismus und Faschismus.

Der in der zweiten Hypothese angenommene Zusammenhang bzw. der weitreichende Einfluss auf die anderen Machtquellen neben der ideologischen konnte mittels Schaubildern aufgezeigt werden, die die Figurationen darstellen, in denen sich die jeweils aktuelle Struktur der Machtquellen widerspiegelt. Die Schaubilder verdeutlichen, dass stets die ideologische Macht im Bündnis mit ökonomischen, politischen und/oder militärischen Kräften die Tendenz einer Figuration bestimmt. Kein Indivi- duum und keine Gruppe vermag das Machtdifferential innerhalb einer

522 Vgl. hierzu bes.: Balibar, Etienne; Wallerstein, Immanuel: Rasse, Klasse, Nation, Berlin: Argument, 1990, S. 107ff.

251

Figuration zum eigenen Vorteil ohne den Einsatz ideologischer Macht zu verschieben.

Dabei wurde deutlich, dass sich seit Beginn des Risorgimento Vertreter derselben Kräfte am positiven Ende der Skala des Machtpotenzials befinden und deren Distanz zum negativen Ende sich seither nur unwesentlich verschoben hat. Dies ist Auswirkung der bereits erwähnten erfolgreichen mythischen Verschleierung, wie sie für die Ausübung ideologischer Macht charakteristisch ist, was anhand der Anwendung des strukturalistischen Mythoskonzepts nach Roland Barthes auf die italienische Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte demonstriert werden konnte.

Die dritte Hypothese, die ich zu Beginn des theoretischen Teils aufgestellt habe, besagt, dass die in einer menschlichen Gruppe oder Figuration stets herrschende Dynamik wesentlich durch das Spiel um Macht determiniert wird, und zwar erstreckt sich dieses Wirkprinzip auch auf alle Teil- figurationen und ebenfalls auf die zwischen ihnen gebildeten Netzwerke, aus denen häufig interstitielle Kräfte im Sinne Michael Manns hervorgehen.

Ein Beispiel für solch eine interstitielle Kraft stellt im ideologischen Sinn auch Labriola dar, der einerseits wichtige ideologische Grundlagen für die Herausbildung einer Organisation der Arbeiterschaft lieferte und anderer- seits sich selbst mit anderen ähnlichen Kräften zu einer Teilfiguration zusammenfand, der es gelang, das Machtdifferenzial gegenüber den herrschenden Kräften wenigstens langfristig etwas zu verringern. Dabei kann nicht übersehen werden, dass auch diese Teilfiguration den dynamisch-prozesshaften Regeln des Spiels um Macht unterlag, wie dies auch der Kampf Labriolas um Einfluss innerhalb der eigenen Figuration der Sozialisten zeigt.

Die vierte Hypothese, die besagt, dass bereits im Inneren des Individuums figurative Kämpfe ausgetragen werden, kann im Rahmen dieser Arbeit nur unzulänglich belegt werden, machte dies doch umfangreichere Unter- suchungen von Einzelpersönlichkeiten notwendig, was hier sowohl aus Zeit- wie auch aus Raumgründen leider nicht möglich sind. Es kann jedoch festgestellt werden, dass eine Veränderung bezüglich der dynamisch- prozessualen Tendenz innerhalb der Figuration Über-Ich-Ich-Es u. U. zu Veränderungen der Spielstärke des betreffenden Individuums führt, beispielsweise kann so zumindest vorübergehend das Ich an Spielstärke 252 gewinnen und das Über-Ich, das hauptsächlich die von außen vorgegebenen Normen und Handlungsweisen repräsentiert, kann so etwas bezüglich seiner Determination zurückgedrängt werden. Gewöhnlich wird eine solche Ver- änderung durch äußere Einwirkungen begünstigt.

Tritt jedoch eine solche dynamische Veränderung bei mehreren Individuen derselben Gruppe gleichzeitig auf, so addiert sich diese, d.h. es erhöht sich das Handlungspotenzial derselben und damit die Spielstärke der gesamten Gruppe. Innerhalb der italienischen Geschichte sind Prozesse dieser Art ebenfalls immer dann aufgetreten, wenn ein »neuer« Mythos proklamiert wurde bzw. ein alter Mythos in neuer Gewandung präsentiert wurde. Dies gilt für Mazzini, dem es gelang, mit Garibaldi und dessen Anhängern eine neue Teilfiguration zu bilden, die durch den Mythos »Risorgimento« eine enorme Antriebskraft erfuhr. Ebenso gilt es für Mussolini, der sich auf Position A einer hochgradig differenziert organisierten neuen Figuration behaupten konnte, wobei er mithilfe des nationalistischen Mythos zusätzliche Anhänger aus diversen Gruppierungen gewann und zudem durch eine effiziente Allianzenbildung mit erfolgreichen ökonomischen Kräften an Stärke gewann.

Der gegenläufigen Figuration um die Kommunisten gelang es dagegen weder, sich ebenso effizient zu organisieren noch einen derart wirksamen Mythos zu produzieren, der erst eine Veränderung der individuellen Figurationsdynamik der Persönlichkeiten der in Frage kommenden Gruppen hätte bewirken können, noch konnten sie starke Bündnispartner gewinnen.

Die transfigurative Wirkung der Mythen verdeutlichen die in Hypothese 5 genannten dynamischen Prozesse, die sich auf allen Ebenen permanent überschneiden. Zu einer Zeit, da ein neuer oder neu gewandeter alter Mythos etabliert werden soll, können besonders viele kreuzweise Inter- aktionen über mehrere Ebenen hinweg registriert werden. Ein gutes Beispiel für dieses Phänomen liefert erneut der Universitätsprofessor Labriola, der durch seine Interaktionen die Gruppe der Industrie- und Landarbeiter unterstützt. Individuen aus der Gruppe der Intellektuellen bilden Netzwerke über die Ebenen hinweg gemeinsam mit der Arbeiterschaft und verdichten sich zu einer neuen Figuration, deren Dynamik zu der dominierenden Figuration im italienischen Raum gegenläufig ist.

Mit der Eroberung der Regierungsgewalt durch die faschistische im Bündnis 253 mit der ökonomischen Figuration, d. h. der Allianz aus industrieller und Agrarbourgeoisie, verdünnte sich die Interaktionsdichte, auch deshalb, weil die faschistische Figuration sich nunmehr neben den Repräsentanten der ökonomischen Macht auch noch mit der militärischen vereinigt hatte.

Dem hatte die kommunistische Figuration wenig entgegenzusetzen, denn erstens war es aus diversen Gründen in Italien für die antistaatlichen Kräfte schon immer äußerst schwierig gewesen, einen höheren Organisationsgrad zu erreichen, und zwar nicht allein aus ökonomischen, sondern auch aus logistischen Gründen und nicht zuletzt aufgrund des niedrigen Alphabeti- sierungsgrades besonders der süditalienischen Landarbeiter. Außerdem besaß der kommunistische Mythos weniger Kraft, denn er wies stets nur einen relativ geringen Grad an Transzendenz auf und konnte so die hypnotische Wirkung der faschistischen Doktrin auf die Über-Ichs nicht ausreichend in Schach halten.

Hypothese 6 besagt, dass sich diese Prozesse in allen Dimensionen menschlicher Existenz stets widerspiegeln, jedoch auf der sprachlichen Ebene am leichtesten zu erfassen sind. Bei der Betrachtung historischer Prozesse wird die sprachliche Repräsentation menschlicher Prozesse bevorzugt - neben der visuellen Ebene durch künstlerisches Material, das in späteren Epochen durch audiovisuelle Möglichkeiten ergänzt wurde. Die sprachliche Ebene ist aufgrund ihrer schriftlichen Überlieferbarkeit momentan noch die dominierende Form, die auch mit dem gegenüber anderen Möglichkeiten geringsten technischen Aufwand durchführbar ist, und die nicht zuletzt aus Kostengründen hier ausschließlich berücksichtigt werden kann. Angesichts der rasanten technischen Entwicklung sind bereits in naher Zukunft Arbeiten denkbar, die einfach und ebenso kostengünstig multimedial aufgebaut werden können, was ihre Darstellung interessanter und aussagekräftiger machen wird.

Doch vermittelt auch die verschriftete Sprache allein bereits die Strukturen psychischer, gesellschaftlicher und mythischer Phänomene, wie es mir oben - so hoffe ich - zu demonstrieren gelang. Bedauerlicherweise muss so auf eine Berücksichtigung körpersprachlicher Kodifizierungen verzichtet werden, die sprachliche Äußerungen entweder verdeutlichen oder rela- tivieren, ja unter Umständen sogar entlarven können. Doch diesbezüglich liegen momentan leider auch nur wenige ausgereifte Theorien vor, wenngleich interessante Ansätze innerhalb der psychologischen Forschung 254

bereits erkennbar sind, die jedoch derzeit eher einem Sammelsurium von Einzelfragen gleichen, wohingegen brauchbare Modelle mit entsprechen- dem theoretischem Instrumentarium noch Mangelware sind. Auf diesem Gebiet sehe ich aber für die Zukunft gerade im Zusammenhang mit der multimedialen technischen Entwicklung große wissenschaftliche Perspek- tiven, wobei der Erkenntniswert, den die Ausweitung der Forschung in Bezug auf körpersprachliche Phänomene mit sich brächte, an sich gar nicht erwähnt werden muss. Hinsichtlich älterer historischer Prozesse wird man jedoch weiter auf Schriftliches angewiesen bleiben.

Das im ersten Teil dieser Arbeit entwickelte Instrumentarium wurde im zweiten Teil dergestalt "praktisch" angewandt, als nach einem Resümee der italienischen Geschichte dieses prozessuale Geschehen anhand einer Folge von IEMP-Figurationen dargestellt wurde. Dabei wurde aufgrund spezi- fischer Erfordernisse in diesem besonderen Fall, den Italien darstellt, die Reihenfolge der Machttypen angepasst. Es kristallisierte sich die wichtige Rolle heraus, die der ideologisch-nationalistische Mythos in Italiens figurativen Prozessen stets spielte, woraufhin dieser mithilfe der Barthes- schen Mythenanalyse unter die Lupe genommen wurde.

Die so in Erfahrung gebrachten Hintergründe der Prozesse hinsichtlich der Entwicklung des italienischen Nationalismus verweisen nun auf die Wurzeln desselben. Nach meinem Dafürhalten dürfte dies für das Verständ- nis der aktuellen ideologischen Prozesse in Italien äußerst hilfreich sein. Die vor Jahrhunderten einsetzende Nationalisierung des Denkens kann nicht zuletzt die Hintergründe so manchen Wahlergebnisses der letzten Jahre erhellen.

Der wesentliche Wert dieser Arbeit liegt nach meinem Ermessen allerdings darin, dass das entwickelte Instrumentarium für ein großes Spektrum von Fragestellungen innerhalb der gesellschaftlichen Analyse angewandt werden kann. Dies war nicht zuletzt mein Bestreben. Die IEMP-Figuration aus den 523 Modellen Michael Manns und Norbert Elias' , deren Komponenten jederzeit gemäß einer anderen Hierarchie angeordnet werden, kann beispielsweise auch der Klärung eher wirtschaftliche Probleme

523 Sicher kann man nach der Beschäftigung mit Norbert Elias und Michael Mann auch zu anderen Anwendungen kommen, auch in Bezug auf Italien, wie dies Ammon/Stemmermann (2000) gezeigt haben. S. hier bes. S. 298ff. Allerdings wurde hier der wirtschaftliche Fokus gewählt.

255 fokussierenden Fragestellung dienen oder auch Machtverschiebungen im militärischen Bereich verdeutlichen. Auch innerhalb dieser Bereiche kann ein bewusst reduktionistisches Modell tatsächliche Machtdifferenzen er- hellen.

Doch auch die hier präsentierte Ausrichtung, d. h. Herausarbeiten der IEMP-Figurationen an Punkten neuer Allianzenbildungen und nachfolgende Untersuchung des sich herauskristallisierten Hauptmythos, könnte ohne weiteres für andere Länder oder Epochen durchgeführt werden. Ich persönlich fände eine derartige USA-Analyse aus aktuellem Anlass recht spannend.

Sämtliche hier angeführten Originaltexte aus der Feder italienischer Mythenschöpfer waren von großer ideologischer Effektivität. »Mythische Wirkung« war auch das von mir angestrebte Selektionskriterium. Aber diese kann sich nur in einem Klima verdichteter transfigurativer Interaktion entwickeln. Welche großfigurativen Bündnisstrukturen hierfür die Voraus- setzungen bieten, habe ich mittels der Darstellung der Veränderung der aus den Mannschen Machttypen gebildeten Kräftefigurationen verdeutlicht. Diese Schaubilder bzw. ihr Wandel zeigen/zeigt, dass erst Interaktions- verdichtungen zwischen den Hauptrepräsentanten der Machttypen bzw. - figurationen interstitiellen Kräften im Sinne Michael Manns zur Verän- derung prozessualer Dynamiken und zur Installation ihrer Mythen innerhalb einer Gesellschaft verhelfen. Nur so gelingt es diesen interstitiellen Kräften immer wieder, strategisch günstige Positionen zu erobern und sich dort auch zu etablieren.

Genau darin liegt aber meiner Ansicht nach auch die Chance für benachteiligte Gruppen und Individuen in gesellschaftlichen Außenseiterpositionen. Die Figurationssoziologie kann dazu dienen, die Dynamik gesellschaftlicher Prozesse deutlich und bewusst zu machen. In einem weiteren Schritt müsste dann die Bildung von Teilfigurationen erfol- gen, die erstens den Grad der inneren Organisation erhöhen, zweitens Aus- schau nach geeigneten Bündnispartnern halten und drittens interstitielle Positionen zwischen den vorhandenen Machtblöcken erobern, von denen aus sich dann neue Netzwerke, auch unter Einbeziehung anderer Gruppen und Individuen erschließen lassen.

Verfolgen alle Gruppen innerhalb einer Großfiguration derartige Strategien, 256 so könnte dies - wenn es sich um bewusste Prozesse handelt - langfristig zu einer weitgehenden Reduzierung der zwischen den Teilfigurationen be- stehenden Machtdifferenziale führen. Unter solchen Umständen wäre dann eine weitgehende Annäherung an eine Machtbalance denkbar, wenn diese auch, wie Norbert Elias stets betonte, allein aufgrund der permanenten Dynamik, die sozialen Prozessen stets innewohnt, niemals ganz erreicht werden kann. Dabei muss stets beachtet werden, dass immer wieder neue Figurationstypen entstehen werden. Eine Reduzierung des dadurch sich möglicherweise erhöhenden Konfliktpotenzials innerhalb einer Gesellschaft kann nur durch demokratische Kommunikationsstrukturen, die auf der Mitsprache und Teilhabe aller Betroffenen basieren, erreicht werden.

257

GLOSSAR

Die folgenden Erklärungen zu Schlüsselbegriffen und Hauptpersonen der italienischen Geschichte 524 wurden dem von Brütting herausgegebenen »Italien-Lexikon« auszugsweise entnommen . Näheres zu den einzelnen Ereignissen und Personen bitte ich den zahlreichen, im Literaturverzeichnis und den Anmerkungen erwähnten Werken zu entnehmen.

Adua (K.-E. Lönne, S. 60):

"Die Niederlage von Amba Alagi (1895) und v. a. die von A am 1.3.1896 gegen Negus Menelik II. (1844-1913; abessinischer Kaiser seit 1889) bedeutete das vorläufige Ende einer ersten expansiven, sozial-imperialistischen Phase it. Kolonialpolitik, auf die F. Crispi nach 1888 zunehmend eingeschwenkt war und die er bei Beginn seiner erneuten Ministerpräsidentschaft 1893 sogleich wieder aufgenommen hatte. Die Niederlage hatte ihre Ursache im übereilten und ungeschickten Vorgehen führender it. Funktionäre, die Äthiopien teilweise oder ganz als Kolonie zu gewinnen versuchten. Aus nationalem und persönlichem Prestigestreben unterstützte Crispi dieses Vorgehen. 1895 wurde A von it. Expeditionstruppen erobert und der Tigre, die Kernlandschaft Abessiniens, annektiert. Die dadurch ausgelöste Kolonialbegeisterung trug mit zu Crispis hohem Wahlsieg im gleichen Jahr bei. Der Widerstand der Äthiopier verstärkte sich jedoch unerwartet. Bei A büßte das it. Expeditionskorps von 16.000 Mann schließlich 6.600 Tote, 1.500 Verwundete und 1.800 Gefangene ein. Crispi musste zurücktreten, und Italien verzichtete im Friedensschluss von Addis Abeba 1896 auf seine Ambitionen gegenüber Äthiopien, behauptete aber Eritrea".

Alternativa di Sinistra (Linksalternative) (A. Hampel, S. 77):

"Eine von den Linksparteien wiederholt propagierte Möglichkeit zur Ablösung der DC als Regierungspartei. Nachdem es dem PC unter dem Generalsekretär E. Berlinguer nicht gelungen war, mit der Formel des Compromesso storico die DC zu einer gemeinsamen Regierungsbildung zu bewegen, versuchte er 1983 nochmals vergeblich durch die AdS einen Zugang zur Regierungsgewalt zu erreichen".

ARMIR/Armata Italiana in Russia (K.-E. Lönne, S. 96):

"Auf Mussolinis Angebot hin nahmen schon bald nach seinem Beginn it. Einheiten von rund 60.000 Mann am deutschen Russlandfeldzug teil. Im Febr. 1942 stellte Mussolini sechs weitere Divisionen, die ARMIR, für den Kampf gegen Russland zur Verfügung, um dem Prestigeanspruch des faschistischen Italien zu genügen und um sein Gewicht auf einer künftigen Friedenskonferenz zu erhöhen. Die Schwächung der Front in Nordafrika nahm er dabei in Kauf. Die ARMIR wurde am Don nordwestlich von Stalingrad eingesetzt. Im Dez. 1942 wurde sie von der sowjetrussischen Gegenoffensive erfasst. In den Kämpfen, die durch die infernalische Kälte und durch unzulängliche Transportmittel zusätzlich erschwert wurden, verlor die ARMIR gegen 160.000 Mann an Toten und Verwundeten. Nur etwa 80.000 Soldaten konnten sich in Sicherheit bringen und kehrten nach Italien zurück [...]".

524 Brütting 1997, s. lit. Verz. 258

Aventino (Secessione dell'A) (K.-E. Lönne, S. 108):

"Die oppositionellen it. Parlamentsabgeordneten von den Kommunisten (PCI) bis zu den Katholiken (PPI) boykottierten ab Juni 1924 das Parlament und zogen sich - unter Anspielung auf den Auszug der Plebejer auf den Aventin, einen der sieben Hügel Roms, im Jahre 494 v. Chr. - aus dem Abgeordnetenhaus zurück. Die Aventin-Opposition reagierte damit auf die Verwicklung Mussolinis und mehrerer seiner vertrautesten Mitarbeiter in die Matteotti-Affäre [...] und auf deren Behandlung durch Regierung, Behörden und im Parlament. Als eindrucksvolle moralische Geste brachte der Auszug auf den Aventin die Regierung Mussolini zwar in äußerste Bedrängnis. Auf längere Sicht blieb er jedoch erfolglos, da die beteiligten Parteien kein weiteres gemeinsames Aktionsprogramm zu entwickeln vermochten und auch nicht die Unterstützung der Liberalen gewannen. Diese setzten lieber auf die vage Hoffnung der Rückkehr des bedrängten Faschismus zur Verfassungskonformität, als mit dem Sturz des Faschismus das Risiko eines erneuten Machzuwachses von Kommunisten [...] und Sozialisten [...] einzugehen. Als sich die faschistische Regierung gegenüber der A-Opposition behauptete, kehrten als erste die Kommunisten ins Parlament zurück, nachdem die A-Opposition ihren Vorschlag eines antifaschistischen Gegenparlaments abgelehnt hatte. Ende 1925 wurden Demokraten und Katholiken von den faschistischen Abgeordneten am Wiedereintritt in das Parlament gehindert. Die A-Opposition wurde danach nominell fortgesetzt, blieb aber zur Wirkungslosigkeit verurteilt, bis die sie tragenden Parteien Ende 1926 offiziell aufgelöst wurden".

Berlinguer, Enrico (G. Trautmann, S. 121ff):

"B stammte aus einer adligen Familie, in der Intellektuelle und Rechtsanwälte seit dem 19. Jahrh. eine große Rolle spielten. Im offiziellen it. Adelsbuch war der PCI-Vorsitzende als Don Berlinguer eingetragen. Seinen Vorfahren die um 1500 nach Sizilien auswanderten, wurde 1773 der Adelsbrief verliehen, weil sie auf der Insel die ersten Mühlen zur Olivenverwertung errichtet hatten. B's Großvater war ein Freund Garibaldis und Mazzinis. Sein Vater, ein fortschrittlicher Rechtsanwalt, den das faschistische Italien verfolgte, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Abgeordneter der Costituente [der verfassunggebenden Versammlung] und Jahre später sozialistischer Senator [...]. Die Berlinguers sind mit bekannten christdemokratischen Familien Sardiniens wie den Segni oder den Cossiga [...] nahe verwandt. B's Frau Letizia war eine praktizierende Katholikin, die drei Töchter und einen Sohn zur Welt brachte. Die kommunistische und kath. Welt berührten sich in dieser traditionsreichen Großfamilie, lange bevor Enrico B unter dem Eindruck des reaktionären Putsches in Chile und gegen starke Widerstände in seiner Partei 1973 den Vorschlag des Compromesso storico unterbreitete. [...] In der weltkommunistischen Bewegung kämpfte B, der als erster PCI-Chef nicht russisch sprach, für einen unabhängigen Kurs der nationalen Parteien von Moskau. Er war entscheidend an der Entstehung des demokratisch orientierten Eurokommunismus [...] in Italien, Spanien, Frankreich und anderen Ländern Westeuropas beteiligt. Für sein Land erstrebte B 1973 bis 1979 einen 'Historischen Kompromiss' zwischen Kommunismus und Katholizismus an. Die Rolle von Religion, Kirche und Christdemokratie wurde von B neu bewertet, um den PCI bündnisfähig für die kath. Welt zu machen".

Borghese, Junio Valerio (M. Schulz, S. 138):

"B trat schon früh in die königliche it. Marine ein. Er gehörte im Zweiten Weltkrieg [...] der U- 259

Bootwaffe an, die er als Fregattenkapitän befehligte. Unter seinem Kommando stand eine Einheit aus Ein-Mann-Torpedos und Froschmännern, die sog. X Mas, die als U-Bootjägereinheit bekannt war. Diese Truppe drang 1940 in den Hafen von Gibraltar und am 18.12.1942 in den Hafen von Alexandria ein. Dort wurden zwei englische Kriegsschiffe versenkt. In Malta sprengte sich einer der Offiziere B's mit einem britischen Schiff in die Luft. B wurde für diese Taten, die er mit seinem U- Boot Shire durchführte, auch von Churchill in dessen geheimen Reden Anerkennung gezollt. Während sich die Hochseeflotte der Italiener nach dem Waffenstillstand [...] am 8.9.1943 in Malta mit den Engländern verbündete, schloss sich B Mussolinis Repubblica Sociale Italiana (RSI) und damit Hitler an. Dort kämpfte B in dem von ihm selbst entwickelten Kampfverband Decima (X) Mas gegen Partisanen und bei Gestapo-Unternehmungen. B wurde 1945 verhaftet und von einem römischen Gericht zu zwölf Jahren Kerker verurteilt. Da auf diese Strafe aber die dreijährige Untersuchungshaft angerechnet wurde und die restlichen neun Jahre unter die Togliatti-Amnestie fielen [...], hatte das Urteil praktisch keine Auswirkungen. B erhielt sogar eine Pension. Im Dez. 1951 schloss sich B zunächst der neofaschistischen Partei des Movimento Sociale (MSI) an und wurde dessen Ehrenvorsitzender. Nach der Trennung vom MSI, die seinen radikalen Ideen nicht genügte, gründete er 1967 den Fronte Nazionale (FN), eine neofaschistische parlamentarische Gruppe, die sich zum Ziel gesetzt hatte, diktatorische Schutzwälle zu errichten, den Kommunismus, Drogen [...], und Pornografie zu bekämpfen sowie Parlament und Parteien aufzulösen. Ein für die Nacht vom 7. zum 8.12.1970 geplanter Putschversuch scheiterte jedoch an der Konfusion und Unfähigkeit der militärischen Kommandanten. Er wurde schließlich von B wegen eines Lungenleidens abgesagt, obwohl schon 40 - 50 Putschisten in das Innenministerium eingedrungen und hohe Militärs sowie der Chef des SID [Servizi di sicurezza: Sicherheits- und Nachrichtendienste] in den Plan eingeweiht waren. Ein neuer, auf Ende März festgelegter Putschversuch scheiterte an der Flucht des erst seit Febr. 1971 steckbrieflich gesuchten B nach Spanien".

Carboneria (L. Roman del Prete, S. 158):

"Der berühmteste unter den it. Geheimbünden war die C, die in Kalabrien bereits zum Kampf gegen Napoleons Italienpolitik gegründet worden waren und sich nach 1814 im Kirchenstaat und in den anderen Regionen Italiens fortpflanzte. Ab dieser Zeit waren die Mitglieder der C Patrioten aus allen politischen Lagern, die sich gemeinsam für die Vereinigung Italiens einsetzten. Auf die C gingen die Aufstände in Neapel (1820), im Piemont (1812) und in der Emilia (1831) zurück. Filippo Buonarroti und gehörten der C an, die 1831 von der Giovine Italia (Mazzini) abgelöst wurde."

Cavour (L. Roman del Prete, S. 164):

"Vorgeworfen wird C, den Anschluss der südlichen Regionen voreilig betrieben zu haben, ohne der Bevölkerung das Recht einer Mitsprache einzuräumen, d. h. seine Ignoranz gegenüber den großen Problemen dieser Regionen, v.a. Banditentum (Brigantaggio), Armut, Analphabetismus und Großgrundbesitz (Latifondo), wodurch in der südlichen Gesellschaft mittelalterliche Züge konserviert wurden, für welche die europäisierten Piemontesen wenig Verständnis hatten".

Centrismo (M. Grassi, S. 171): 260

"Als am 18.4.1948 die Christdemokraten (DC) die Wahlen gegen das Linksbündnis von Kommunisten und Sozialisten (Fronte Popolare) gewannen und die absolute Mehrheit der Parlamentssitze erreichten, stand Ministerpräsident De Gasperi unter dem massiven Druck breiter Kräfte seiner Partei, die eine 'Klerikalisierung' (clericalizzazione) des it. Staates forderten. Als Drahtzieher dieser Bestrebungen gilt der damalige Papst Pius XII.[...], der sich von de Gasperi eine streng kath. ausgerichtete Politik gewünscht haben soll. De Gasperi, der sich als kluger Taktiker erwies, erfand als Ausweg die politische Formel des C als Zweckbündnis mit den kleineren bürgerlichen Parteien des Zentrums, d. h. dem PRI und dem PLI, das ihm u. a. mehr Bewegungsfreiheit gegenüber den ultraklerikalen Kräften in seiner eigenen Partei versprach. In Wirklichkeit hatten die zwei kleineren Bündnispartner eher eine Alibifunktion, die der DC bei ihrer Eroberung des Staatsapparates behilflich sein sollte. Die Strategie des C reduzierte einerseits die verbündeten Parteien zu reinen Wasserträgern der DC und legte andererseits die Grundlage für die hemmungslose 'occupazione del potere' (Besetzung von Machtpositionen im Staatsapparat) durch die DC".

CLN/Comitato di Liberazione Nazionale (K.-E. Lönne, S. 190f):

"Aktionsausschuss der sich reaktivierenden antifaschistischen Parteien. Zum CLN schlossen sich am 9.9.1943, einen Tag nach dem Waffenstillstand (Armistizio), Kommunisten (PCI), Sozialisten (PSI), Aktionspartei (Partito d'Azione), Christdemokraten (DC) und Liberale (PLI) zusammen. Ihr gemeinsames Ziel war die Befreiung von der deutschen Besetzung, die Beseitigung der Überbleibsel des Faschismus [...] und die politische Neuordnung. [...] (S. 191) Auf seinem Höhepunkt Anfang 1944 aktivierte der CLN mehrere hunderttausend Kämpfer und konnte mit den Sympathien einer großen Mehrheit der Bevölkerung rechnen. Der Trend des CLN zu schneller tiefgreifender Erneuerung wurde nicht nur von den Regierungen Badoglio, sondern auch von den Alliierten aus Furcht vor einem sich entwickelnden revolutionären Potenzial gebremst. Wenn der CLN sich nicht in den von ihm getragenen Regierungen Bonomi und Parri und schon gar nicht im ersten Kabinett de Gasperi durchsetzte, dann lag das allerdings v. a. an inneren Spannungen der Parteienkoalition, die mit Ende des Befreiungskampfes (Liberazione) im Hinblick auf die Aufgaben der Neuordnung zunahmen. Während Liberale und Christdemokraten eine politisch-soziale Erneuerung unter Anknüpfung an die vorfaschistische Zeit betrieben, wurde eine forcierte, ja revolutionäre Erneuerung von Sozialisten und Aktionspartei angestrebt. Opportunistisch passten die Kommunisten (Togliatti) sich der zunehmend von der DC bestimmten Konsolidierungspolitik an. Mitte 1946 löste sich der CLN auf".

Compromesso storico (Historischer Kompromiss) (A. Hampel, S. 207):

"Aus dem Scheitern des sozialistischen Modells Allendes in Chile zog der Führer des PCI, Enrico Berlinguer, 1973 die Lehre, dass zur Veränderung der Gesellschaft in Italien ein Cs, d. h. eine Allianz der großen Massenparteien PCI und DC notwendig sei. [...] Obwohl der PCI die Minderheitsregierung der DC 1976 unterstützte und mit der DC, den Sozialisten [...] und Republikanern [...] 1977 eine 'Programmatische Übereinstimmung' über die Grundlinien der Politik getroffen hatte, wurde ihm die Einbeziehung in die volle Regierungsverantwortung versagt. Auf dem 15. Parteikongress 1979 musste Berlinguer das Scheitern des Compromesso storico bekennen, ohne eine 'Linke Alternative', ein Bündnis mit den Sozialisten, in Aussicht stellen zu können".

261

Corrente (M. Caciagli, S. 227f):

"Der it. Ausdruck C bezeichnet eine typische Gliederung der politischen Parteien. Gruppen, Tendenzen und Fraktionen bestehen in allen Parteien, auch wenn deren Statuten dies verbieten. Das Phänomen springt bei den it. (S. 228) Parteien jedoch besonders ins Auge. Die C können ideologischer Natur sein, d. h. auf Unterschiede in den Prinzipien und Programmen basieren, oder zur Teilung der Macht dienen. Auch sehr kleine Parteien, z. B. der PLI, hatten immer zwei oder drei C. Im PSI in der Zeit vor Craxi waren die C sehr stark und standen derart im Widerstreit zueinander, dass sie verschiedene Parteispaltungen provozierten. [...] Auch in der DC gehorchten die C formal den ideologischen und programmatischen Prinzipien und den Perspektiven des Regierungsbündnisses [...], sie waren aber vornehmlich Machtgruppen, die der Verteilung von Ressourcen dienten [...]".

Depretis (K.-E. Lönne, S. 258):

"D war in der Zeit der 1848er Revolution (Quarantotto) Anhänger Mazzinis. Als Prodiktator machte Garibaldi ihn im Juli 1860 gegen den Willen Cavours zu seinem Statthalter in Sizilien [...]. Er ersetzte D aber schon im Sept. durch einen anderen seiner Anhänger, als D auf einer sofortigen Durchführung eines Plebiszits über den Anschluss Siziliens am Piemont [...] beharrte. D wurde später Exponent einer Mittelgruppe innerhalb der von U. Rattazzi geführten Linken. Nach dem Tode Rattazzis wurde D mehr und mehr zum neuen Repräsentanten der Linken, ohne dass er alle deren verschiedenen Untergruppierungen hätte fest miteinander verbinden können. In einer berühmten Rede in Stradella entwarf D 1875 sein Reformprogramm. Seit 1876 bildete er bis zu seinem Tode acht Regierungen, in denen er behutsamer als der ihn mehrfach ablösende Benedetto Cairoli sein Reformprogramm verwirklichte: Abschaffung der drückenden Mahlsteuer, Erweiterung des Wahlrechts [...] und Hebung der Volksbildung. Eine Dezentralisation der Verwaltung und eine lokale Autonomie wurden nicht realisiert. D bediente sich meisterhaft der Praktiken des Trasformismo und machte ihn sich 1882 explizit zu eigen".

Destra Storica (K.-E. Lönne, S. 260):

"Liberal-konservative politische Gruppierung der bürgerlich-adeligen Führungsschicht des Risorgimento, deren Anfänge im Piemont [...] lagen. Sie umfasste die gemäßigteren Liberalen (Moderati), auf die Cavour seine Politik stützte. Zur Partei entwickelte sich die D nicht, obwohl sich ihr gegenüber seit Mitte der 1850er Jahre die Sinistra Storica als konstitutionelle Opposition herausbildete. Die D behielt den Charakter einer lockeren Gruppierung, in der persönliche und regionale Differenzierungen mit ihren wirtschaftlichen Implikationen stark wirksam blieben, nicht zuletzt wegen des oligarchischen Wahlrechts (knapp 2% der Bevölkerung), das kein Bedürfnis nach einer festeren Organisation und einer enger umrissenen Programmatik aufkommen ließ [...]".

Fasci di Combattimento (Kampfbünde) (K.-E. Lönne, S. 313f):

"Die F wurden von Mussolini in Mailand am 23.3.1919 gegründet. Unter den etwa 300 262

Teilnehmern der Gründungsversammlung an der Piaza San Sepolcro stachen hervor: ehemalige Anhänger des revolutionären Syndikalismus, Stoßtruppkämpfer des Weltkrieges (Arditi) und Futuristen [...] - sie alle Interventionisten [...]. die F richteten sich gegen Bolschewismus und Sozialismus, forderten aber auch grundlegende Verbesserungen der Arbeitsbedingungen der Arbeiterschaft (Arbeitszeitverkürzung, Mindestlohn, Beteiligung an der technischen Leitung der Betriebe, Invaliden- und Altersversorgung). Sie verlangten scharfe Besteuerung der Kriegsgewinne und die Übergabe unbebauter Ländereien an Genossenschaften. Unter Hinweis auf die Leistungen Italiens im Krieg betonten sie dessen territoriale Ansprüche [...]. Mit den Forderungen auf Abschaffung der Monarchie [...] und des Senats und auf Einrichtung eines berufsständischen Nationalrats artikulierten sie ihren Willen auch zu revolutionärer politischer Erneuerung. Die F blieben bis Ende 1920 ohne größere Bedeutung. Erst als sich infolge des Scheiterns der Fabrikbesetzungen [...] das politisch-soziale Klima Italiens zu Ungunsten der Sozialisten wandelte und die F mittels ihrer Squadre d'Azione von der Emilia aus in direkten terroristischen Aktionen den beherrschenden Einfluss der (S. 314) Sozialisten in den Agrargebieten Norditaliens bekämpften und ihn schnell erschütterten und niederwarfen, nahm die Bewegung eine schnelle Aufwärtsentwicklung, zumal die Faschisten 1921 von Giolitti durch Aufnahme in die liberalen Wahlblocks als Bundesgenossen akzeptiert wurden. Die Entwicklung lässt sich in Mitgliederzahlen der F jeweils zum Ende der Jahre fassen: (1920) 20.615, (1921) 249.036, (1922) 299.876. Die agrarischen F verstärkten die bald nach der Gründung beginnende schleichende Verlagerung der Bewegung nach rechts. Vor allem jugendliche Angehörige aller Schichten des Bürgertums strömten den F zu. Im Nov. 1921 setzte Mussolini ihre Umwandlung in den Partito Nazionale Fascista (PNF) durch".

Fiume (K.-E. Lönne, S. 340):

"Bewaffnetes Unternehmen unter Führung G. D'Annunzios zur Eroberung F's für Italien nach dem Ersten Weltkrieg [...]. Die bedeutende Hafen- und Industriestadt F (heute Rijeka) am äußersten nordöstlichen Zipfel der Adria gehörte vor dem Krieg zu Ungarn [...] und besaß mehrheitlich it. Bevölkerung, in der sich schon vor der Jahrhundertwende nationalistische und irredentistische Ideen ausbreiteten [...], war jedoch umwohnt von einer slawischen Landbevölkerung [...]. Im Londoner Vertrag (1915 [...]) wurde die Stadt Kroatien zugeteilt. Bei den Pariser Friedensverhandlungen (Trianon) erhob die it. Delegation unter dem Druck einer breiten Agitation zunächst in F, dann auch im gesamten Italien, Ansprüche auf die Stadt, fand dabei aber v. a. bei dem amerikanischen Präsidenten Wilson hartnäckigen Widerstand. Als Ministerpräsident F. S. Nitti nach Konflikten zwischen französischen Besatzungstruppen und it. Bevölkerung die Reduzierung der it. Besatzungstruppen in F anordnete, kam es zu der von nationalistischen Militärs lange vorbereiteten Besetzung F's durch rebellierende it. Truppen und durch Freiwilligenverbände, die sich dem Kommando des zur Leitung des Unternehmens herbeigeeilten D'Annunzio unterstellten (12.9.1919). D'Annunzios persönliche Herrschaft, die Regentschaft am Carnaro, wurde getragen von einer Zustimmung in der Stadt und in Italien, die durch immer neue Appelle d'Annunzios mobilisiert wurde. D'Annunzio griff bei der Organisation des Freistaates u. a. (S. 341) syndikalistische Anregungen auf, doch war das bestimmende Element seine exzentrische, aber suggestive Persönlichkeit. Die it. Regierung verurteilte D'Annunzios Unternehmen, aber erst Giolitti traf mit Jugoslawien im Vertrag von Rapallo [...] Vereinbarungen, die er, gestützt auf sein Prestige, auch durch die gewaltsame Liquidierung von D'Annunzios Herrschaft durchsetzte, nachdem Verhandlungen gescheitert waren. In der sog. 'Blutweihnacht' von 1920 (Natale di Sangue) bereiteten it. Truppen der Unternehmung D'Annunzios mit Waffengewalt ein Ende".

263

Giolitti (K.-E. Lönne, S. 374):

"G's Bereitschaft zu kriegerischem Zugriff auf Libyen [...] brachte seine Widersacher auf dem linken Flügel des PSI unter B. Mussolini zu herrschendem Einfluss in ihrer Partei und bedeutete mindestens für den Augenblick ein Scheitern seiner Bemühungen um Integration der Sozialisten in das politische System Italiens".

Giovine Italia (L. Roman del Prete, S. 483, in: Mazzini):

"Aufgrund der eigenen bitteren Erfahrungen gelangte Mazzini zur Überzeugung, dass sektiererische Geheimbünde nicht mehr im Stande seien, den Kampf für die Befreiung Italiens fortzuführen. Dies veranlasste ihn 1831 zu der Gründung des Bündnisses Giovine Italia, dessen programmatisches Ziel die Gründung eines republikanischen Einheitsstaates war."

Irredentismo (Irredenta-Bewegung) (G. Pallaver, S. 422f)

"Allgemein versteht man unter I das Bestreben eines Volkes, die außerhalb der Grenzen des Nationalstaates unter 'fremdnationaler Herrschaft' lebenden 'unerlösten Brüder' (fratelli irredenti) durch territoriale Angliederung dem Muttervolk einzuverleiben. Der it. I umfasst die Periode von 1866 bis 1918. Nach dem Krieg von 1866 (Indipendenza) waren im Norden und Nordosten der Halbinsel noch verschiedene Gebiete mit ausschließlich bzw. überwiegend italienischsprachiger Bevölkerung unter österreichischer Herrschaft geblieben. Die von den Irredentisten beanspruchten Gebiete waren: das Trentino, das adriatische Küstenland mit Triest und Görz-Gradisca, Istrien [...] und Dalmatien mit Zara. In diesen Gebieten lebten allerdings nicht nur Italiener, sondern auch Deutsche, Ladiner, Slowenen, Kroaten, Serbokroaten und Ungarn [...]. Die Grundkomponente des I war also trotz seiner sonstigen politisch-ideologischen Wandlungen bis 1918 antiösterreichisch, seine Hauptforderungen in der Parole 'Trento e Trieste' [...] zusammengefasst. Der Begriff selbst wurde erstmals 1877 in einer Rede von Matteo R. Imbriani vor triestinischen Patrioten verwendet. Bis zur Jahrhundertwende blieb der I weitgehend von der republikanisch-unitarischen und demokratischen Linken zugehörigen Gedankenwelt G. Mazzinis und G. Garibaldis sowie deren Nachfolger geprägt. Aus diesem innenpolitischen Grund und infolge der außenpolitischen Einbindung Italiens in den Dreibund (Patto Tripartito) seit 1882 stand die offizielle Regierungspolitik den Bestrebungen des I skeptisch und reserviert gegenüber, wenngleich vereinzelte Politiker des Regierungslagers zeitweilig mit den Bestrebungen des I sympathisierten. Zu einer der wichtigsten politischen Leitfiguren des I wurde der Triestiner G. Oberdan, der 1882 beim offiziellen Besuch von Kaiser Franz Joseph in Triest ein Attentat geplant hatte und daraufhin hingerichtet worden war. Seit 1900 geriet der I immer mehr ins Fahrwasser nationalistisch- futuristischer Kreise [...] der politischen Rechten [...], v. a. der 1910 gegründeten Associazione Nazionalista Italiana. Die Vertreter des I forderten (S. 423) 1914/15 vehement den Eintritt Italiens in den krieg gegen die Mittelmächte [...] und waren führend beteiligt bei der nach imperialistischen Kriterien erfolgten Grenzziehung von 1919 [...]. Infolge ihrer antislawischen und seit der Jahrhundertwende auch offen antidemokratischen und antiparlamentarischen Ausrichtung bildete die Bewegung des I in der politischen Kultur [...] Italiens das eigentliche Bindeglied und die Überleitung zwischen dem Risorgimento des 19. Jahrh. und dem Faschismus [...]".

264

Kampf um Rom (L. Roman del Prete, S. 409f):

"1867-70 findet der Kampf um Rom statt [...]. Frankreich unterstützt das päpstliche Beharren auf einer Territorialmacht in Rom [...]. Nach wiederholten Versuchen des it. Königs, mit Papst Pius IX. in Verhandlung zu treten, wird Rom während des Deutsch-Französischen Kriegs am 20.9.1870 vom Königreich Italien besetzt (Bresche an der Porta Pia), der Papst erklärt sich zum "Gefangenen im Vatikan. Am 15.5.1871 wird dem Papst durch ein 'Garantiegesetz' (Legge delle Guarantigie) neben der Unverletzlichkeit seiner Person und einer Dotation von 3.225.000 Lire ausschließlich die Ausübung der geistlichen Macht zuerkannt. Der Vatikan wie der Lateran und die Sommerresidenz Castel Gandolfo erhalten den Status der Exterritorialität. Im Sinne Cavours soll nun eine freie Kirche in einem freien Staat« koexistieren. Der Papst lehnt das vom neuen it. Staat verabschiedete Gesetz jedoch ab. Als Reaktion gebietet er den Katholiken, sich weder aktiv noch passiv am politischen Leben zu beteiligen (Non expedit,1874; Patti Lateranensi)."

Legge truffa (K.-E. Lönne, S. 448f):

"Gesetz zur Abänderung des Wahlrechts für das Abgeordnetenhaus (Camera) vor den Wahlen von 1953. Das Gesetz ermöglichte Parteibündnisse und sprach der Partei (bzw. dem Parteibündnis), die mindestens 50,01% der Stimmen erhielt, eine Wahlprämie zu, die ihren Sitzanteil auf 65% erhöhte. Mit dem Gesetz wollte De Gasperi die Fortsetzung der zentristischen Koalitionspolitik [...] seiner DC mit dem PSDI, dem PRI und dem PLI sichern, die seit dem großen Wahlerfolg der DC (1948) an Popularität eingebüßt hatte. Das Gesetz wurde von der Opposition wegen seines undemokratischen Charakters als Wahlbetrug (S. 449) charakterisiert und mit allen Mitteln bekämpft. Es war besonders provozierend, da es faschistischen Wahlrechtsmanipulationen glich [...]. Da das Bündnis der genannten Parteien den Mindestanteil der Stimmen unerwartet nicht erreichte, verfehlte das Gesetz sein Ziel."

265

Lotta continua ('Fortwährender Kampf) (A. Hampel, S. 457):

"Linksradikale Bewegung, die 1969 in Turin entstanden war und bis 1976 neben anderen linken Gruppierungen revolutionäre Kräfte links vom PCI um sich scharte. Die gleichnamige Zeitung, die von 1969 bis 1972 zweiwöchentlich, von 1972 bis 1982 täglich erschien, überlebte die Bewegung als Sprachrohr der aus dem Studentenprotest von 1968 [...] hervorgegangenen Strömungen. LC unterstrich die zentrale Bedeutung des Arbeitskampfes und des spontanen antikapitalistischen Protestes gegen das 'Kompromisslertum' des PCI und der organisierten Gewerkschaft [...]. Die Haltung zur terroristischen Gewalt war häufiger Gegenstand interner Auseinandersetzungen und Anlass zu Verdächtigungen und Verhaftungen einzelner Mitglieder. Im Wesentlichen führte LC gewaltlose Aktionen durch".

Mani pulite ('Saubere Hände') (R. Brütting, S. 470f):

"Am 17.2.1992 wurde Mario Chiesa, der Direktor der Mailänder wohltätigen Stiftung Pio Albergo Trivulzio, auf frischer Tat beim Empfang von Bestechungsgeldern ertappt und verhaftet. Er hatte jahrelang von seinen Auftragnehmern eine zehnprozentige Summe für sich abgezweigt und sich mit diesen Geldern eine einflussreiche Stellung im Mailänder PSI aufgebaut. Als Chiesa nach der Festnahme sofort von seiner Partei fallengelassen wurde, 'packte' er gegenüber dem rasch populär gewordenen Staatsanwalt Antonio Di Pietro aus und gab wichtige Hinweise auf ein verzweigtes Netz politischer Protektion für u. a. Unternehmer aus dem Bau- und Dienstleistungssektor. Aufgrund ihrer Zahlungen wurden sie bei öffentlichen Aufträgen bevorzugt und konnten sich außerdem ungestraft Minderleistungen, Verzögerungen bei der Vertragsabwicklung, Preiserhöhungen u.ä. erlauben; Chiesa dagegen schuf sich mit den Schmiergeldern eine klientelistische Gefolgschaft für seine politische Karriere. Dieser relativ unbedeutende Fahndungserfolg löste die umfassende, Mani pulite genannte Untersuchungsaktion der Mailänder und anderer Staatsanwaltschaften aus, die zahlreichen Ministern, Parlamentariern, Parteigrößen, Managern, Bankiers, aber auch Angehörigen der Justiz und Journalisten Anklagen einbrachte, wenn sie nicht sogar hinter Schloss und Riegel kamen. Erstmals wurde durch Mani pulite das System der bereits hinreichend bekannten, aber meist ergebnislos verfolgten Korruption der höchsten Repräsentanten des öffentlichen Lebens Italiens deutlich fassbar und die politische Landkarte des Landes in ihren Grundzügen verändert. Es zeigte sich nämlich, dass die Schmiergelder hauptsächlich zur illegalen Parteienfinanzierung, daneben auch zur persönlichen Bereicherung verwendet worden waren."

Chronologie (nach Brütting):

17.2.92 Festnahme des auf frischer Tat ertappten Mario Chiesa 12.5.92 Rücktritt der Regierung der Lombardei und des Bürgermeisters von Mailand 14.7.92 Ermittlungen gegen Ex-Außenminister Gianni De Michelis wegen Bestechlichkeit 10.12.92 Gianni De Michelis verliert die parlamentarische Immunität 15.12.92 Erste staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen den ehemaligen Ministerpräsidenten Bettino Craxi Febr./März 93 Rücktrittswelle: Justizminister Claudio Martelli (PSI), Finanzminister Giovanni Goria (DC), Gesundheitsminister Francesco De Lorenzo (PLI), PRI-Chef Giorgio La Malfa; Carlo Ripa die Meana (PSI); PLI- 266

Sekretät Renato Altissimo; Landwirtschaftsminister Gianni Fontana (DC). 11.2.93 Rücktritt von Bettino Craxi als Chef des PSI 5.-16.3.93 Misslungener Versuch, mit dem 'Schwamm-drüber'-Dekret die Aktion Mp 'politisch' zu beenden. Verweigerung der Gegenzeichnung durch Staatspräsident Scalfaro 9.3.93 Verhaftung von Gabriele Cagliari, dem Chef des ENI 27.3.93 Antrag der Staatsanwaltschaft von Palermo, die Immunität von Giulio Andreotti aufzuheben: Verdacht der Verwicklung in Mafia-Aktivitäten April 93 Korruptionsvorwürfe gegen Arnaldo Forlani (DC-Generalsekretär) 29.4.93 Das Parlament hebt Craxis Immunität nur teilweise auf; Regierungskrise Mai 93 Eröffnung eines Verfahrens gegen Paolo Berlusconi wegen des Verdachts von Schmiergeldzahlungen an die DC 12.5.93 Verhaftung von IRI-Chef Franco Nobili 25.5.93 Korruptionsverdacht gegen Ex-Ministerpräsident Ciriaco De Mita 7.6.93 Antonio Gava (Ex-Finanz-/Innenminister) wird der Unterschlagung von Wiederaufbaugeldern für Erdbeben-geschädigte verdächtigt 20./23.7.93 Selbstmorde von Gabriele Cagliari und Raul Gardini (Enimont) 4.8.93 Aufhebung der Immunität Craxis 3.9.93 Verhaftung des Richters Diego Curtò wegen Verwicklung in den Enimont-Skandal 28.10.93 Beginn des Prozesses gegen Sergio Cusani, der als Finanzberater Gardinis 150 Mrd. Lire Schmiergelder weitergeleitet haben soll 28.4.94 Sergio Cusani wird zu acht Jahren Haft und zu Schadenersatz gegenüber dem Ferruzzi-/Montedison-Konzern verurteilt. 13.7.94 Justizminister Alfredo Biondi will mit einem Dekret die Voraussetzungen für Untersuchungshaft verschärfen, v. a. bei Korruptionsverdacht; das Dekret wird nach zahlreichen Protesten zurückgezogen (19.7.) 29.7.94 Paolo Berlusconi stellt sich den Justizbehörden 22.11.94 Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen den amtierenden Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi wegen Beihilfe zur Bestechung 6.12.94 Antonio Di Pietro, der die entscheidenden Ermittlungen von Mp geleitet hatte, verlässt nach zahlreichen Pressionen sein Amt 13.12.94 Stundenlanges Verhör von Silvio Berlusconi. Beginn des Korruptionsprozesses gegen Ex-Gesundheitsminister Francesco De Lorenzo; Paolo Berlusconi, der Bruder des amtierenden Ministerpräsidenten, wird wegen illegaler Parteispenden an die ehemalige DC zu sieben Monaten Haft verurteilt.

267

Marcia su Roma (K.-E. Lönne, S. 475f):

"Bewaffneter Marsch der faschistischen Squadre d'Azione zur Besetzung Roms. Ein Marsch auf Rom zum Sturz der Regierung spielte 1920 eine Rolle in den Überlegungen von Persönlichkeiten um D'Annunzio, die von der Enttäuschung über die für unzulänglich gehaltene Vertretung nationaler Interessen inspiriert wurden [...]. Die M wurde für Mussolini und die Faschisten aktuell und von ihnen organisatorisch und politisch vorbereitet, nachdem sie mit ihrem erfolgreichen Eingreifen gegen den von Sozialisten ausgerufenen Generalstreik im Aug. 1922 ihre illegale Machtstellung erneut unangefochten gesteigert hatten und sie nun durch den Griff nach der Regierungsmacht konsolidieren und legalisieren wollten. Weder über den günstigsten Zeitpunkt der Unternehmung noch über die konkreten Ziele bestand unter den faschistischen Führern Übereinstimmung. Mit Hilfe eines verwickelten Intrigenspiels neutralisierte Mussolini mögliche Rivalen um die Macht und hielt sich gleichzeitig die Beteiligung an den verschiedensten Regierungskoalitionen offen. Die am 16.10. beschlossene und am 24.10. in ihrem genauen Ablauf festgelegte M war begleitet von zahlreichen Besetzungen öffentlicher Gebäude, Nachrichteneinrichtungen und Verkehrsmittel. Eine Behinderung des Aufmarsches und eine erfolgreiche militärische Verteidigung Roms gegen die in Ausbildung und Bewaffnung unterlegenen Squadristen wäre jedoch durchaus möglich gewesen. Der Verhängung des Ausnahmezustandes, mit der die Regierung (S. 476) Facta nach allzu langer Untätigkeit der M entgegentreten wollte, verweigerte Vittorio Emanuele III in letzter Minute die Unterzeichnung. Mussolini konnte so ohne die gefürchtete Konfrontation mit Militär und Monarchie die M auf eine Drohgebärde beschränken, durch deren geschickten Einsatz er seine formal legale Einsetzung als Ministerpräsident eines Faschisten, Liberale und Katholiken umfassenden Koalitionskabinetts erreichte."

Matteotti, Giacomo (K.-E. Lönne, S. 481f):

"[...] er gehörte dem reformistischen Flügel der Partei [i.e. d. PSI] an, der sich 1922 als Partito Socialista Unitario (PSU) verselbständigte, und wurde als Parteisekretär ihr führender Repräsentant. Früher als andere Sozialisten trat er für den unbedingten Vorrang des Kampfes gegen den Faschismus [...] ein, den er selbst mit vollem Einsatz persönlich führte, propagierte und organisierte. Nach einer Rede in der Abgeordnetenkammer, in der er den Faschismus und Mussolini aufs Schärfste wegen Wahlfälschung, Korruption und Machtmissbrauch angegriffen hatte, wurde M in Rom auf offener Straße verschleppt und getötet".

Monarchia (K.-E. Lönne, S. 501):

"Am 2.6.1946 wurde die M durch ein Referendum mit 54,3 % der gültigen Stimmen zugunsten der Republik [...] abgeschafft (bei einer Mehrheit in Süditalien und auf den Inseln für die Erhaltung der M). In den folgenden Jahren wurde die Restauration der M zum Kristallisationskern monarchistischer Parteien [...]".

268

Moro, Aldo (K.-E. Lönne, S. 510):

"[...] M versuchte, in dezidierter Bereitschaft zu sozialen Reformen den Beitrag der it. Katholiken zur politischen und sozialen Gestaltung Italiens auf den jeweils gegebenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemhorizont hin zuzuspitzen, und dies unter ständigem Ausbalancieren der divergierenden Parteiströmungen. M förderte dabei die in Gang befindliche Lösung der DC aus dem Einflussbereich der Kath. Kirche, realisierte entschlossen, wenn auch behutsam, die durch das Zweite Vatikanische Konzil bewirkte Öffnung des Katholizismus zur Welt durch die Zusammenarbeit der DC mit dem PSI und befürwortete auch die vorsichtige Zusammenarbeit der DC mit den Kommunisten, als dies in den 70er Jahren durch die Entwicklung der it. Politik und Gesellschaft unvermeidlich zu werden schien [...]. M's Entführung am 16.3.78 und seine Ermordung durch die Brigate Rosse [...] sollte vermutlich gerade diese Lösungsmöglichkeit der Krisensituation des it. Staates Ende der 70er Jahre verbauen. Auch die Prozesse zur Klärung des Mordes und seiner Hintergründe stellten ein die it. Öffentlichkeit über Jahre tief aufwühlendes Politikum dar.

Der PSI und Teile der DC waren zu Verhandlungen mit den BR bereit gewesen, hatten sich aber nicht durchsetzen können. In der Öffentlichkeit wurde gegen sie v. a. die Wahrung von Autorität und Sicherheit des Staates ins Feld geführt. Briefe M's aus seiner Zeit in der Gewalt der BR - sie wurden erst 1990 entdeckt - belasten die DC mit dem Vorwurf, eine Lösung des Konflikts nicht gewollt zu haben. - Auch heute kann der Fall M keineswegs als vollständig aufgeklärt gelten".

Movimenti studenteschi (Studentenbewegungen) (G. Folliero-Metz, S. 512ff):

G. Folliero-Metz unterteilt die italienische Studentenbewegung in drei Phasen: (S. 512) "1. Sessantotto (68er-Bewegung). Ihr gelang ein scharfer Bruch mit dem gesamten vorherigen it. Bildungssystem (Reform der Reifeprüfung und der Zulassungsbedingungen zur Universität; [...]). [...] Die Studentenbewegung setzte in Italien Ende 1967 ein, als der Versuch von Kultusminister Luigi Gui scheiterte, ein Reformgesetz für die it. Universitäten vom Parlament verabschieden zu lassen. Im Nov. 1967 erfolgten die ersten 'Universitätsbesetzungen' in Mailand und Trient, ab Jan. 1968 u. a. in Turin, Padua, Pisa, Florenz, Lecce, Siena, Rom, Neapel, Pavia und Bologna. [...] (S. 513) 2. Settantasette (77er-Bewegung). [...] Die 77er-Bewegung hat sich a posteriori nicht als eine Studentenbewegung gesehen, sondern als 'Bewegung des sich befreienden jugendlichen Proletariats', das prinzipiell eine Autonomie von der politischen Macht erstrebte. Als Phänomene dieser Bestrebungen gelten die sog. 'freien Sender' (Onde Rosse) und die 'Alternativpresse' (Controinformazione; Stampa alternativa). [...] 3. La Pantera (1990) bezeichnet den sichtbaren Protest einer neuen Studentengeneration nach zehnjähriger Ruhe an den Hochschulen und teilweisem 'Konformismus'. Der allgemeine Wunsch richtete sich gegen das übermäßige Wachstum der Hochschulen und nach einer menschlicheren Universität mit unmittelbaren Beziehungen zwischen Professoren und Studenten, in der nicht nur die Forschung, sondern auch die Didaktik im Vordergrund steht".

269

Mussolini (K.-E. Lönne, S. 518ff):

S. 519: "Die Einbeziehung der konservativen Führungsgruppen von Verwaltung, Wirtschaft und Kirche in Mussolinis Verknüpfung von faschistischer Massenbewegung und traditionellen Eliten stärkte die Stellung M's zusätzlich. Der Demonstration des Massenkonsenses (Listone) wurde durch die Matteotti-Krise die stabilisierende Wirkung genommen. Zur Machtbehauptung gegen die erstarkende Opposition (Aventino) stützte M sich in entscheidenden Situationen auf den Squadrismus [...], geriet aber auch in eine gewisse Abhängigkeit von ihm. Ab 1925 baute er eine totalitäre Einparteiendiktatur auf, der er ungeachtetet ihres bleibenden Repressionscharakters durch die Aufwertung des internationalen Prestiges Italiens durch die Überspielung sozialer Konflikte mit Hilfe von Korporationssystem und ideologischer Massenmobilisierung [...] und durch den Friedensschluss mit dem Vatikan [...] einen breiten Konsens in der Bevölkerung zu schaffen wusste. Die Bedeutung M's für das faschistische Regime fand ihren Ausdruck in einer Ämterhäufung, da M als Ministerpräsident nicht nur immer wieder mehrere Fachministerien übernahm, sondern auch als Duce des Partito Nazionale Fascista (PNF), als Präsident des Faschistischen Großrats (Gran Consiglio del Fascismo) und des Nationalrats der Korporationen (Corporazioni) und als Kommandant der Miliz (Milizia Volontaria) wichtige Schlüsselstellungen besetzte. Die persönliche Macht M's, die zu einer weitestgehenden Abhängigkeit seiner Mitarbeiter führte, fand ihre Grenze nur in den Führungsschichten der traditionellen politisch-gesellschaftlichen Kräfte, mit denen er sich seit Beginn seiner Herrschaft arrangiert hatte. Hierin Hitler nicht unähnlich, entwickelte er ein it. (S. 520) Sendungsbewusstsein, für dessen weltgeschichtliche Verwirklichung im Kampf mit den bisher führenden westlichen Nationen er die Italiener u. a. durch die Schaffung einer neuen faschistischen Elite ideologisch, moralisch und physisch zu rüsten versuchte. Wenn M Italien auch zunächst vom Weltkrieg fernhielt [...], so machten es ihm sein Sendungsbewusstsein und sein Prestigebedürfnis doch unmöglich, dem Krieg auf Dauer fernzubleiben. Schnell verwickelte er Italien in mehrere militärische Unternehmen [...], die bald zu solchen Rückschlägen führten, dass M's Ansehen nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in der faschistischen Partei und bei den ihn bisher stützenden traditionellen Eliten schwand".

Nenni, Pietro (K.-E. Lönne, S. 527):

"N wurde schon im jugendlichen Alter im Partito Repubblicano Italiano [...] tätig, dessen linkem Flügel er sich immer mehr näherte. Als Interventionist [...] teilte er mit Mussolini die Erwartung, dass der Krieg zur Revolution führen werde, und arbeitete auch an dessen Zeitung Il Popolo d'Italia mit. In der Nachkriegszeit zunächst nach Orientierung suchend, engagierte sich N 1919 kurzfristig in den damals linkstendierenden Fasci di Combattimento, wandte sich dann dem PSI zu und wurde zunächst Korrespondent, dann Chefredakteur des Avanti, des Zentralorgans der Partei. N's betontes Eintreten für die Aventin-Opposition [...] führte zum zeitweiligen Konflikt mit dem PSI. Nach seiner Flucht aus dem faschistischen Italien nach Frankreich war N 1934 führend am Zustandekommen eines Bündnisses zwischen dem PSI und dem PCI beteiligt [...]. Nach dem Sturz des Faschismus [...] war N 1945 unter Parri und im ersten Kabinett De Gasperis als Repräsentant des 1943 vorübergehend in PSIUP umbenannten PSI stellvertretender Ministerpräsident. Nach Jahren der zeitweise engen Zusammenarbeit mit dem PCI [...] führte N den PSI Anfang der 60er Jahre in die Mitte-Links-Koalition (Centrosinistra) mit der DC, dem PSDI und dem PRI. N war 1963 bis 1968 Stellvertretender Ministerpräsident und 1968 Außenminister. In seinem letzten Lebensjahrzehnt war N Präsident des PSI".

270

Neoguelfismo (Neuwelfische Bewegung) (A. Hampel, S. 528):

"Als N werden die politisch-kulturellen Tendenzen bezeichnet, die zwischen der Französischen Revolution und dem Schicksalsjahr 1848 (Quarantotto) die Einigung und Freiheit Italiens mit der nationalen Mission des Papsttums [...] verbanden. Wie der Name sagt, knüpfte der N an die Guelfen des Mittelalters an, die die Partei des Papstes im jahrhundertelangen Konflikt mit dem deutschen Kaiser bildeten. Inspiriert und geführt von Vincenzo Gioberti und Antonio Serbati Rosmini erhoffte sich der N eine kulturelle und politische Erneuerung Italiens unter der Führung des Papstes. [...]"

Partitocrazia (Parteienherrschaft; abwertend: Parteienklüngel) (G. Trautmann, S. 564f):

"Monopolisierung und Missbrauch politischer Macht durch die Parteien bzw. die Parteizentralen. Wenn es zur Vorherrschaft einzelner Parteifraktionen (Correnti) kommt, spricht man von correntocrazia. Entstehen konnte die P durch das jahrzehntelange Regierungsmonopol der Christdemokraten [...], die einen normalen Machtwechsel zwischen Regierungsparteien und Opposition (alternanza) verhinderten. In der Verfassungspraxis heißt P insbesondere: fehlende innerparteiliche Demokratie; größte Distanz zwischen Volk und Parteienstaat; Beherrschung der Massenmedien durch die Parteien; Regierungsbildungen am Parlament vobei durch nicht kontrollierbare Spitzenabsprachen der Parteizentralen; Besetzung hoher und mittlerer Posten in öffentlichen und parastaatlichen Institutionen nach dem reinen Parteienproporz (lottizzazione) sowie große Korruptionsanfälligkeit der Parteipolitiker [...]. [...]"

Patti Lateranensi (Hampel, A., S. 569):

"Zwei miteinander verbundene Verträge sowie die Zusage einer Entschädigung (1,75 Mrd. Lire) für den verlorengegangenen Kirchenstaat bilden das gesamte Vertragswerk: 1. Der Staatsvertrag zur Sicherstellung der Souveränität des Vatikanstaates [...], des Schutzes der Person des Papstes sowie der uneingeschränkten diplomatischen Tätigkeit und der Unabhängigkeit und Immunität der kirchlichen Zentralbehörden, die sich außerhalb des Vatikanstaates befinden. Die Kath. Kirche erkannte ihrerseits den it. Staat mit der Hauptstadt Rom an [...]. 2. Das Konkordat zur Gewährleistung der kirchlichen Tätigkeit in Italien, einschließlich der Anerkennung der kirchlichen Ehegesetzgebung [...] und der Pflicht des schulischen Religionsunterrichts."

Patto d'Acciaio (K.-E. Lönne, S. 570):

"Der Vertrag verpflichtete die Partner uneingeschränkt zum gegenseitigen Beistand, wie auch immer die Verwicklung in einen kriegerischen Konflikt zustande gekommen sein sollte. Konsultationen und politisches Zusammenspiel, ferner militärische und kriegswissenschaftliche Zusammenarbeit sollten ein enges, kontinuierliches Zusammenwirken herbeiführen. Für Hitler diente der Pakt, dessen Formulierung Ciano weitgehend der deutschen Seite überließ, der konkreten Kriegsvorbereitung, während Italien auf einen Krieg weder militärisch noch wirtschaftlich gerüstet 271 war und ihn nicht zuletzt deswegen zu verhindern trachtete, wenn es sich dafür im Vertragstext auch keine Handhabe gesichert hatte. Ciano setzte 1939 den Beschluss zur Nicht-Kriegführung (Nonbelligeranza) Italiens mit dem Hinweis auf die unerfüllte Konsultationspflicht Deutschlands durch und sucht die Entscheidung dem deutschen Partner durch einen riesigen kriegswirtschaftlichen Fehlbedarf Italiens plausibel zu (S. 570) machen".

Pentapartito (Fünferkoalition) (G. Trautmann, S. 582):

"Mit Pp wird die Fünf-Parteien-Koalition auf DC, PSI, PSDI, PRI und PLI bezeichnet, die Italien 1981 bis 1991 überwiegend regierte. Im Rahmen des Pp traten mit G. Spadolini (PRI) und B. Craxi (PSI) zum ersten Mal keine DC-Ministerpräsidenten an die Spitze der Regierung [...]. Das führte 1981-1992 zu koalitionspolitischen Instabilitäten des Pp".

Potere operaio/Potop ('Arbeitermacht') (G. Trautmann, S. 603f):

"Der Autunno caldo (1968/69) radikalisierte periphere Teile der Arbeiter- sowie der Studentenbewegung [...]. Dadurch entstanden eine 'Neue Linke' (Nuova Sinistra) und linksextremistische (S. 604), u. a. Potop. Als der PCI 1973 zum 'Historischen Kompromiss' (Compromesso storico) zwischen der kath. Welt und dem kommunistischen Lager überging, wurde die neue Strategie von ultralinken Gruppierungen als politischer Verrat an der Arbeiterklasse gewertet. Die 70er Jahre ließen daher eine große Zahl kleiner linksextremer marxistisch- leninistischer, maoistischer, trotzkistischer und anarchistischer Organisationen entstehen, die den revolutionären Kampf ausriefen und auf die Arbeiterklasse als politisches Subjekt setzten. Unter ihnen war der u. a. von Toni Negri aufgebaute Potop die radikalste Gruppe. Sie agierte mit klassenkämpferischen Parolen bes. in den FIAT-Werken und sah sich im Sinne Lenins als Avantgarde einer revolutionären Arbeiterbewegung. [...]"

Prima Guerra Mondiale (K.-E. Lönne, S. 396f):

"Bei Ausbruch des Krieges Anfang Aug. 1914 sah Italien seine Bündnispflicht aus dem Dreibund (Triplice Alleanza) als nicht gegeben an, da es von Österreich in dem Konflikt mit Serbien nicht konsultiert worden war und da der Vertrag defensiven Charakter habe. Es erklärte am 3.8.1914 seine Neutralität. In den folgenden Monaten kam es zu erbitterten innenpolitischen Auseinandersetzungen um Beibehaltung der Neutralität [...] oder Kriegseintritt auf der Seite der Entente [...]. Kompensationsansprüche Italiens für eventuelle Gewinne Österreichs auf dem Balkan führten zu Verhandlungen mit den Mittelmächten über die Abtretung Welsch-Tirols, Istriens [...] mit Triest [...] und weiterer Territorien und Städte [...]. Zustande kam dann aber der Londoner Geheimvertrag [...] mit der Entente, in dem Italien gegen die Garantie eines umfangreichen Gebietserwerbs seinen baldigen Kriegseintritt zusagte. Innenpolitisch wurde der Kriegseintritt durch den zum Kriege drängenden Ministerpräsidenten Salandra, gestützt auf eine das Parlament überspielende Massenagitation, durchgesetzt gegen Giolitti und die ihm zuneigende Kammermehrheit. Am 23.5.1915 erfolgte die it. Kriegserklärung an Österreich, erst am 28.8.1916 diejenige an Deutschland. Frontlinien wurden die Kärntner und die Tiroler Grenze und die Isonzo- Linie. In elf Schlachten an der Isonzo-Front errangen die Italiener in harten Kämpfen nur Geländegewinne. der durch deutsche Truppen im Okt. 1917 erkämpfte Durchbruch bei Caporetto 272 im heutigen Slowenien brachte Italien an den Rand des militärischen und politischen Zusammenbruchs. Mühsam gelang die Stabilisierung der Front an der Piave-Linie. Durch die Konzentration aller Kräfte wurde auch die innere Stabilität wiederhergestellt. Aufgrund des schnell voranschreitenden Zerfalls der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie errang Italien Anfang Nov. 1918 den Sieg von Vittorio Veneto. Trotz des Erwerbs von (S. 397) Trient und Südtirol, von Triest und Istrien und von weiteren Gebietsteilen in Krain, Kärnten und Dalmatien im Frieden von Saint-Germain wurde der Sieg wegen weiterer unerfüllter Forderungen von nationalistischer und faschistischer Seite bald als Vittoria mutilata ('verstümmelter Sieg') charakterisiert. Diese Kritik verstärkte die schon ohnehin tiefgehende Systemkrise und förderte damit zugleich das Emporkommen des Faschismus".

Quarantotto (L. Roman del Prete, S. 653):

"Die Welle der Aufstände nahm ihren Anfang in Sizilien [...], wo am 12.1.1848 das Volk unter der Führung von Patrioten gegen die erstarrte Politik von König Ferdinando II [...] die Stadt eroberte. Die Flamme des Aufstandes verbreitete sich bald mit Ausnahme von Messina auf der gesamten Insel. Nachdem die Aufstände sich auf ganz Süditalien ausgeweitet hatten, sah sich Ferdinando II am 29. gezwungen, die Verabschiedung einer neuen Verfassung zu versprechen. Auch in Florenz, Turin und Rom mussten sich die jeweiligen Herrscher dem Willen der Aufständischen beugen. Die Nachrichten aus dem Ausland, dass es in Paris, Wien und Budapest Volksaufstände gegeben habe, ermunterten it. Freiheitskämpfer in Mailand nach fünf Tagen gegen die österreichische Armee unter Radetzky zu marschieren; am 23.3. war Mailand nach fünf Tagen härtester Kämpfe frei. Am 22.3. kapitulierte Österreich auch in Venedig [...]. Der König von Piemont [...], Carlo Alberto, begann noch am Tag der Befreiung Mailands den Krieg gegen Österreich (Erster Unabhängigkeitskrieg [...]). Jedoch gelang es Ferdinando II von Neapel am 15.5., die Situation erneut unter Kontrolle zu bringen. Carlo Alberto musste im Norden vor der Übermacht der österreichischen Armee weichen; der Krieg endete mit einer Niederlage der Piemontesen bei Custoza und mit einem Waffenstillstand. Im Okt. 1848 bekam die Toskana eine neue demokratische Verfassung, während in Rom nach der Ermordung des Ministers Pellegrino Rossi und der Flucht von Papst Pius IX. nach Gaeta sich die Situation in eine demokratische Richtung entwickelte: Es wurden Wahlen abgehalten und eine Verfassungskommission gebildet, die im Febr. 1849 das Ende des Papststaates und die Gründung der Republik beschloss."

Ras (K.-E. Lönne, S. 670f):

"Die lokalen Führer der Fasci di Combattimento wurden benannt nach den Gebietsfürsten des Königreichs Abessinien [...]. Sie begründeten ihre Macht zumeist in der schnellen Expansionsphase des Faschismus 1920/21 als skrupellose Organisatoren der örtlichen Terroraktionen der Squadre d'Azione. Ihr rücksichtsloser Gewalteinsatz (Spedizioni punitive), dem sich die staatlichen Behörden nur gelegentlich ernsthaft entgegenstellten und der daher in ihrem lokalen Bereich praktisch eine diktatorische Willkürherrschaft ermöglichte, gab der faschistischen Bewegung, Mussolini und schließlich auch dem PNF ihren Machtrückhalt, verschaffte den R in der Gesamtentwicklung des Faschismus [...] aber auch ein Eigengewicht, das sie in Schlüsselsituationen zu wichtigen Entscheidungsfaktoren werden ließ. So zwangen sie Mussolini 1921 zum Verzicht auf den Friedensschluss mit den Sozialisten [...]. An (S. 671) Vorbereitung und Durchführung des Marsches auf Rom (Marcia su Roma) hatten die R führenden Anteil. Gegen die offene oder versteckte Opposition der R konnte die Regierung Mussolini sich in vielen Fällen nicht durchsetzen. Sie 273 konnte sich andererseits gegen ihre Gegner auf die terroristische Macht der R in den Provinzen stützen, auch als sie durch die Matteotti-Affäre in äußerste Bedrängnis geriet. Wenn Mussolini auch nie dem Drängen der R auf eine zweite große Welle der Gewaltanwendung nachgab, so machte er sich dieses Verlangen doch immer wieder zur Einschüchterung von Gegnern und Sympathisanten zunutze. Mussolinis Entscheidung zur unverhüllten Diktatur im Jan. 1925 erfolgte nicht ohne starken Druck von Seiten der R. Es war aber dann die Verwirklichung des Polizeiregimes (OVRA) der faschistischen Diktatur in der zweiten Hälfte der 20er Jahre mit ihrer Zentralisierungs- und Bürokratisierungstendenz, die den R zunehmend Einfluss und auch ihre lokale Eigenständigkeit nahm".

Regno d'Italia (K.-E. Lönne, S. 686):

"Ohne dass Cavour ein RI von Anfang an als Nahziel erstrebte, brachte seine Politik v. a. in den Jahren 1859-1861 zunächst in engster Zusammenarbeit mit Napoleon III. [...] immer weitere Teile Italiens zum plebiszitären Anschluss an das Königreich Piemont-Sardinien, so dass ein gesamtitalienisches Parlament im März 1861 in Turin das RI proklamieren konnte. Als Verfassung übernahm das RI das Statuto Albertino Piemonts. In der Verwaltung wurde ebenfalls der piemontesische Einfluss institutionell und personell bestimmend, und zwar mit einem starken zentralistischen Akzent".

Repubblica Sociale Italiana (K.-E. Lönne, S. 713f):

"Mussolinis faschistische Herrschaft in Norditalien von Sept. 1943 bis April 1945 gegen das sich vom Faschismus abwendende Süditalien. Schon von ihrer Gründungssituation her musste die RSI ein Satellit des nationalsozialistischen Deutschland werden. Sie wurde von Mussolini geführt, der nach seiner Befreiung aus der Haft der Badoglio-Regierung nur noch geringes Eigengewicht und eine schrumpfende Gefolgschaft besaß. Die RSI war auf das deutsche Besatzungsgebiet nördlich der Front gegen die alliierten Landungstruppen beschränkt, musste auf die zu deutschen Operationszonen erklärten Provinzen Bozen, Trient, Belluno, Görz und Triest verzichten und konnte sich nur auf eine schmale Gefolgschaft stützen. Auch die Verurteilung und Hinrichtung der am Sturz Mussolinis beteiligten Faschistenführer - unter ihnen Mussolinis Schwiegersohn Ciano - konnten keine Konsolidierung der Republik und des Partito Fascista Republiccano (PFR) bringen".

274

Scala mobile ('Rolltreppe', gleitende Lohnskala) (C. Cedrone):

"Die Sm ist das Instrument, das zur automatischen Anpassung der Löhne an die Steigerung der Lebenshaltungskosten dient. Sie stellt die erste der drei Ebenen der Lohnverhandlungen [...] dar, durch welche der Inhalt der Lohntüte eines Arbeiters festgelegt wird - die beiden anderen sind branchenspezifische Verhandlungen auf nationaler Ebene und innerbetriebliche bzw. räumlich begrenzte Verhandlungen [...]. Die Sm ist eine für die it. Gewerkschaftsgeschichte charakteristische Einrichtung, die im Laufe der Zeit zahlreiche Änderungen erfahren hat".

Sindona, Michele (G. Trautmann, S. 748ff):

"Der am 11.5.1920 im sizilianischen Patti geborene S wurde in den 79er Jahren als betrügerischer Bankier mit internationalen Verbindungen bekannt. Er hatte enge Beziehungen zur italo- amerikanischen Mafia und stand der Geheimloge P2 [...] sowie Teilen der DC, v. a. Giulio Andreotti, nahe. 1973 bezeichnete die Times S noch als 'den erfolgreichsten Italiener nach Mussolini'. Im selben Jahr feierte ihn Andreotti auf einem Bankett in New York - gegen besseres Wissen - als 'Retter der Lira' (1972 hatte S nach Rom 'gemeldet', dass ein internationales Finanzkonsortium gegen die Lira spekulieren wolle; vermutlich hatte S aber selbst diese Währungsspekulation in die Wege geleitet). Aber schon 1974 brach das Finanzimperium S (Banca Privata Italiana) schnell zusammen. Mailänder Richter erließen einen Haftbefehl, und S setzte sich in die Vereinigten Staaten ab, wo er ebenfalls bankrottierte (Franklin National Bank, Manhattan). Von den USA aus unternahm S alle möglichen Schritte (Ehrenerklärungen z. B. durch Licio Gelli; Bedrohungen und beispielsweise gegen Roberto Calvi gerichtete Erpressungen), um eine gerichtliche Verfolgung in Italien zu verhindern und eine Sanierung seiner dubiosen Geschäfte zu erreichen. Der S zur Last gelegte Mord an Konkursverwalter Giorgio Ambrosoli in der Nacht vom 11. auf den 12.7.1979 stellte den Höhepunkt dieser Machenschaften dar. S's Tätigkeit erstreckte sich bes. auf den Bereich der Banken und internationalen Finanzaktionen, auf Spekulationen im Industriesektor sowie auf die Vermittlertätigkeit bei der Zuweisung öffentlicher Aufträge (Appalto). S war auch auf dem Gebiet des Erdöl- und Waffenhandels tätig. Er agierte an den Schnittstellen dubioser Finanzgeschäfte und rechtsautoritärer Kräfte mit der offiziellen Politik, der Mafia, der P2 und einigen Rechtskonservativen der internationalen Szene, v. a. in den USA. S war von Ende der 60er bis 1974 mit den Aktien-, Bau- und Immobiliengeschäften des Vatikans [...] betraut, was diesem große Verluste bescherte. Insbesondere der amerikanische Erzbischoff Paul C. Marcinkus, Präsident der Vatikan-Bank Istituto per le Opere Religiose [...], stand mit S in enger Verbindung.

Wegen des Zusammenbruchs der Franklin National Bank ließ ein amerikanisches Gericht S Anfang 1979 festnehmen. Er wurde jedoch gegen Kaution vorläufig auf freien Fuß gesetzt. Anfang August 1979 floh S nach einer vorgetäuschten Entführung, die den Verdacht an der Ermordung Ambrosolis auf die angeblichen Entführer lenken sollte, mit Hilfe der Mafia nach Sizilien. Von dort ging er am 16.10.79 mit gefälschten Papieren nach New York zurück. 1980 ließ S die von ihm selbst inszenierte Entführungsgeschichte als unwahr fallen und behauptete nunmehr, er sei nach Sizilien gegangen, um gegen die Verbreitung des Kommunismus zu kämpfen (vermutlich hatte S sich dort jedoch wegen der Veruntreuung von Mafia-Geldern zu verantworten). Im Frühjahr 1980 wurde S wegen des Zusammenbruchs der Franklin National Bank zu 25 Jahren Freiheitsentzug verurteilt und musste seine Strafe im amerikanischen Gefängnis antreten.

1990 wurde die parlamentarische S-Kommission eingesetzt, welche die Verflechtungen zwischen S 275 und der offiziellen Politik aufklären sollte. Wegen des Vorwurfs, die finanziellen Machenschaften S's politisch gedeckt zu haben, wurde Andreotti 1984 vor dem Untersuchungsausschuss verhört (caso Andreotti-Sindona), der wichtige Materialien zutage förderte, ohne aber durchschlagende Beweise vorzulegen. Teilweise wurden jedoch die Beziehungen zwischen DC, Mafia und P2 aufgedeckt: Schon 1974 hatte S das DC-Sekretariat mit über 2 Mrd. Lire unterstützt. S's Parteihilfe zahlte sich nicht voll aus. Vermutlich setzte sich Andreotti zwar Ende der 70er Jahre für eine staatliche Sanierung des S-Finanzimperiums ein. Er versuchte wohl auch, Druck auf die Banca d'Italia auszuüben. Dieser Versuch scheiterte aber an Paolo Baffi und v. a. Mario Sarcinelli, den integren Repräsentanten der Banca d'Italia, gegen die kurz darauf willkürliche Strafverfahren eingeleitet wurden, sowie an den Widerständen von PRI-Finanzminister Ugo La Malfa. - Im Okt. 1984 stimmte der römische Senat über einen Antrag des PCI ab, der Andreotti vorwarf, als Ministerpräsident S protegiert zu haben. Auch die Mailänder Untersuchungsrichter kamen zu dem Urteil, Andreotti habe S in dem Glauben gelassen, er genieße seinen politischen Schutz. Das habe S stark gemacht, so stark, dass er selbstständig seine kriminellen Ziele habe verfolgen können. Da sich der PCI im Okt. 1984 bei dem Antrag gegen Andreotti aber vollkommen überraschend der Stimme enthielt, verhinderte die Kommunistische Partei weitreichende politische Konsequenzen aus dem caso Andreotti-Sindona. Der Fall S erschütterte die Stellung Andreottis und der DC daher nicht so stark wie der Skandal um Licio Gelli bzw. die P2 drei Jahre zuvor.

Seit Juli 1979 bestand aufgrund der Selbstbeschuldigung des italo-amerikanischen Killers William Joseph Arco der dringende Verdacht gegen S, die Ermordung des Konkursverwalters Ambrosoli - da auch dieser S's Sanierungspläne ablehnte - in Auftrag gegeben zu haben. Im Sept. 1984 wurde S aufgrund eines neuen Vertrags von den USA an Italien ausgeliefert und am 15.3.85 zu zwölf Jahren Gefängnis wegen Bankbetrugs verurteilt. Außerdem erhielt er am 18.3.86 vom Schwurgericht [...] in Mailand wegen Mordes eine lebenslange Freiheitsstrafe [...]. S starb zwei Tage später im Hochsicherheitsgefängnis von Voghera (Lombardei) an einem mit Zyankali vergifteten Morgenkaffee. [...]"

Spedizione dei Mille (L. Roman del Prete, S. 496):

"Nach dem Ausbruch der patriotischen Revolte von April 1860 in Palermo, die zwar in der Stadt unterdrückt wurde, sich aber auf dem Land halten konnte, übernahm die Initiative und bereitete, u. a. nach expliziter Aufforderung durch F. Crispi, der später mehrmals Regierungschef im Königreich Italien [...] wurde, eine militärische Expedition vor. Er sammelte um die tausend Freiwillige bei dem ligurischen Küstenort Quarto und stach von da aus mit zwei Schiffen in See. Piemonts [...] Minister Cavour versuchte ihn vergebens davon abzuhalten, während König Vittorio Emanuele II Garibaldis Unternehmen guthieß. Nach einer Zwischenlandung in Talamone, wo sich einige Männer von der Gruppe trennten, um im Kirchenstaat eine Revolte zu organisieren, kam Garibaldi am 11.5.1860 in Marsala auf Sizilien [...] an. Am 13.5. übernahm er durch die 'Erklärung von Salemi' im Namen von Vittorio Emanuele II für Piemont die Diktatur über die ganze Insel. Nach dem Kampf um Calatafimi wurde Garibaldi als Befreier gefeiert, und nach der Eroberung von Salemi war die Insel fest in den Händen der Patrioten. Heute freilich wird die Besetzung Siziliens durch die Truppen Garibaldis oft mit kritischen Augen beurteilt und ein Teil der Verantwortung für die Entstehung der 'süditalienischen Frage' [...] dieser Zeit zugesprochen".

Statuto Albertino (K.-E. Lönne, S. 786f):

276

"Das S wurde ausgearbeitet von einem erweiterten Ministerrat unter Rückgriff v. a. auf die französische Verfassung von 1830, die allerdings 1848 durch die dortige Februarrevolution, Auftakt zu der wenig später auf Deutschland und das übrige Kontinentaleuropa übergreifenden neuen revolutionären Welle, beseitigt wurde. Es folgte, wenn auch unter gewissen Einschränkungen, dem Prinzip der Gewaltenteilung. Rechtsgleichheit, individuelle Freiheit, Unverletzlichkeit von Wohnung und Eigentum sicherten die individuelle Rechtssphäre der Staatsbürger. Die prinzipiell zugesicherte Presse- und Versammlungsfreiheit konnte durch Gesetzgebung eingeengt werden. Die Vereinigungsfreiheit blieb vorenthalten. Der Katholizismus wurde als Staatsreligion bekräftigt, die Ausübung anderer Kulte jedoch toleriert. [...] Eine möglichst große Handlungsfreiheit des Königs, des Souveräns [...], versuchte das S mit einem (S. 787) Repräsentativsystem zu verbinden, das aufgrund eines Zensuswahlrechts einer dünnen Schicht von Adel und Großbürgertum ein Mitbestimmungsrecht gab. Vorgesehen war ein Senat, dessen Mitglieder, soweit sie nicht wie z. B. die königlichen Prinzen geborene Mitglieder waren, vom König auf Lebenszeit ernannt wurden, und ein Abgeordnetenhaus, das nach einem vom Gesetz zu regelnden Modus gewählt werden sollte. Mitglieder des Senats mussten das 40., Mitglieder des Abgeordnetenhauses das 30. Lebensjahr vollendet haben. Die Exekutive lag beim König, der sie durch von ihm berufene und politisch nur ihm verantwortliche Minister ausübte. Zur Gesetzgebung war die Mitwirkung des Königs und beider periodisch tagender Kammern des Parlaments erforderlich. Die Kammern tagten öffentlich und beschlossen mehrheitlich, je nach dem Gegenstand, auch in geheimer Abstimmung. Ihre Mitglieder besaßen außer bei flagranter Rechtsverletzung die Immunität, die nur von der jeweils betroffenen Kammer selbst aufgehoben werden konnte. Sie erhielten keinerlei finanzielle Zuwendungen. [...] Der König war oberster Gerichtsherr; allerdings waren die Richter nicht absetzbar. Der König entschied auch über Verträge, über Krieg und Frieden und war Oberbefehlshaber des Militärs".

Statuto dei lavoratori (C. Cedrone, S. 787f):

"Als Sl wird gewöhnlich das Gesetz Nr. 300 vom 20.5.1970 bezeichnet. Die Bedeutung dieses Gesetz liegt darin, dass mit ihm die Prinzipien der Verfassung [...] im Bereich der Arbeit erhalten haben; [...]. (S. 788) Das Gesetz markiert den Übergang von einem absolutistischen zu einem durch Statuten geregelten Regime. Es ist sicher die Frucht der Mobilisierung und der Arbeiterkämpfe der vorhergehenden Jahre, besonders des Autunno caldo von 1969".

Tangenti (wörtlich: 'Anteile am Ertrag einer Firma'; Schutzgelder bzw. Schmiergelder) (G. Trautmann, S. 799ff):

"Mit dem euphemistischen Ausdruck T werden (1) durch die Mafia von Geschäftsleuten erpresste Schutzgelder sowie (2) die von Privatpersonen - meistens Unternehmern - auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene an Journalisten, Beamte, Parlamentarier, Minister und Parteipolitiker gezahlten Schmiergelder bezeichnet, die auch 'bustarelle' ('kleine Briefkuverts') heißen. Die T, die seit den 50er Jahren in horrenden Summen erpresst oder gezahlt werden, sind fester Bestandteil der älteren Mafia-Ökonomie, des christdemokratischen Machtsystems (DC), der illegalen Parteienfinanzierung, der wirtschaftlichen Interessendurchsetzung kleiner, mittlerer und großer Unternehmer sowie der privaten Bereicherung von Journalisten, Beamten und Politikern [...]. Die Staatsskepsis als Teil der politischen Kultur förderte die Akzeptanz des systematischen, weit verzweigten Bestechungssystems ('tangentopoli'). Erst als 1992 Mailänder Untersuchungsrichter serienweise die Schmiergeldaffären aller Parteien, insbesondere der DC und 277 des PCI, sowie zahlreiche Bestechungs-, bzw. Bereicherungsfälle einzelner Politiker aufdeckten und die populäre Bewegung Mani pulite ('Saubere Hände') ins Leben riefen, wurden die T zum Ausgangspunkt einer Strukturkrise der Parteien und des pervertierten Parteienstaats [...]".

(1) Als von der Mafia erpresste Schutzgelder, die in Form einer festen Abgabe (tangente) auf Wirtschaftsumsätze erhoben werden, spielten die T zunächst in Sizilien [...] eine zentrale Rolle. Die Cosa Nostra verlangt den traditionellen 'pizzu' (Schutzgeld) als Gegenleistung für eine ungestörte Geschäftsausübung. [...] Mitte der 80er Jahre ergab eine Umfrage, dass etwa 80% der Einzelhändler in Palermo regelmäßig oder unregelmäßig T zahlen. - Auf niedrigerem Niveau werden T auch im übrigen Italien erpresst. In Rom ist etwa ein Fünftel der Händler davon betroffen, Ähnliches gilt für Mailand, Turin und andere oberitalienische Städte. Schätzungen der Einzelhandelsverbände gehen davon aus, dass 20% aller it. Geschäftsleute T zahlen müssen. Die Cosa Nostra ging wegen der weitverzweigten Einnahmen dazu über, die Eintreibung von Schutzgeldern der organisierten Klein- und Bandenkriminalität 'in Kommission' zu überlassen. Die T haben in einigen Wirtschaftsbereichen die ursprüngliche Funktion erpresster Schutzgelder zur Bereicherung von Mafiosi verloren. Indem die Erpresser immer höhere Zahlungen fordern, entwickelten sich die T zu einem Instrument des mafios dominierten 'Wettbewerbs': Entweder gehen die extrem hoch erpressten kleineren und mittleren Unternehmer bankrott, und die Firma wird von einem Mafioso übernommen, oder der Erpresste akzeptiert wider Willen eine mafiose Teilhaberschaft. Die erpressten Aufkäufe und Teilhaberschaften werden von der Cosa Nostra v. a. über T betrieben. Für die ältere Mafia-Ökonomie, die sich auf weit geringerem Umsatzniveau bewegte als die heutige Drogen- und Waffen-Mafia, stellten die T einen wichtigen Posten dar. Das renommierte Institut CENSIS [Centro Studi Investimenti Sociali - Studienzentrum für soziale Investitionen] schätzte für das Jahr 1984, dass 10% des Bruttosozialprodukts auf Wirtschaftsaktivitäten der Mafia mit rund einer Mill. Beschäftigten (= 5% der Erwerbstätigen) beruhten. Für die Jahre 1982-1984 wies CENSIS 150-250 Mrd. DM (sic!) aus, was von Kennern als zu niedrig eingeschätzt wird, da u.a. die 'legalen' Aktivitäten der Mafia nicht eingerechnet wurden. Unter der CENSIS-Kategorie 'Übertragungen' wurden Erpressungsgelder, Lösegelder für Entführungen, Schutzgelder (T), Raub, Diebstahl, illegaler Handel mit gestohlenen Kunstwerken, Dokumenten-, Banknoten-, Kreditkartenfälschungen, Betrug unterschiedlichster Art usw. aufgeführt. Unter 'Dienstleistungen' ordnete CENSIS Drogenhandel [...], illegales Glücksspiel, Waffenschmuggel, Fälschung von Kunstwerken, Prostitution usw. ein. Insgesamt sind T für die moderne 'Unternehmermafia' (R. Uesseler) nur noch eine Nebenerwerbsquelle.

(2) T werden nicht nur an die Mafia (Schutzgelder), sondern auch an Journalisten, Beamte, Parlamentarier und Parteipolitiker gezahlt (Schmiergelder), um an öffentliche Aufträge und staatliche Subventionen heranzukommen, um die Investitionen der staatlichen und öffentlichen Unternehmen mitzulenken, um wirtschaftliche (Steuer-)Vorteile zu erlangen oder um parlamentarische Entscheidungen zu beeinflussen. Diese Tatsache war seit Jahrzehnten ein offenes Geheimnis, das Politiker und Bürger nicht sonderlich beunruhigte. Erst 1992 wurde durch unbestechliche Untersuchungsrichter der volle Umfang der politisch eingesetzten Schmiergelder deutlich. Das System der T ist in Italien bedeutend weiter verzweigt und stärker verankert als in anderen modernen Industriegesellschaften. Schon 1983 erklärte der Geschäftsmann A. Zampini in einem Interview mit G. Pansa unverblümt, das große Geld mache man in Italien, wo es öffentliche Gelder gibt und Politiker, die verantwortungslos damit umgehen. T waren für Zampini keine Schmiergelder, sondern Provisionen oder, besser gesagt, Investitionen, die ein erfolgreicher Unternehmer schweigend zahlen muss. Ohne T laufe in Italien geschäftlich schon seit Jahrzehnten nichts mehr. Für 90 von 100 öffentlichen Aufträgen müssten Unternehmer Schmiergeld zahlen. Alle Parteien, neuerdings auch die Kommunisten, hielten die Hand auf. Anfangs seien die Gelder an die Partei abgeführt worden, inzwischen werde aber ein wachsender Teil für persönliche Zwecke abgezweigt. Dieses allgegenwärtige System der T und der Korruption werde erst aufhören, wenn 278 große Schmiergeldskandale der Parteien zu massiven Wählereinbrüchen führten. Dieser Punkt wurde 1993 erreicht. [...]

Das System der illegalen Parteienfinanzierung durch Industrielle kam Anfang 1993 durch den Gardini-/ENI-Skandal [Enimont - it. Chemiekonzern] voll ans Tageslicht. Der Skandal belegte, dass die jahrzehntelange christdemokratische Pfründenwirtschaft in den aufgeblähten, hochverschuldeten öffentlichen Unternehmen sowie das ungebrochene DC-Regierungsmonopol T und Korruption zum festen Bestandteil des politischen Systems auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene werden ließen. Als die Schmierglder und illegalen Parteispenden seit 1992 ausblieben, standen einige Parteien kurz vor dem finanziellen Bankrott. Im Juli 1993 leitete die Mailänder Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen den korruptionsverdächtigen R. Guardini ein, um die Hintergründe des finanziellen Zusammenbruchs der Ferruzzi-Unternehmensgruppe zu durchleuchten. Verhört wurden neben dem ehemaligen Chef des Ferruzzi-Chemie-Konzerns, G. Garofano, vier weitere Top-Manager, gegen die Haftbefehle ergingen. ENI-Chef Gabriele Cagliari und Gardini begingen daraufhin Selbstmord. Die Beschuldigungen gegen Ferruzzi und ENI reichten von der Korruption über illegale Parteienfinanzierung bis hin zur Bilanzfälschung. Die Mailänder Staatsanwaltschaft leitete gegen Craxi (PSI), gegen den bereits 18 andere Verfahren wegen des Verdachts der Korruption, illegaler Parteienfinanzierung und anderer Delikte anhängig waren, sowie gegen den DC-Chef A. Forlani, die früheren Minister C. Martelli (PSI), Cirino Pomicino (DC), die vormaligen Chefs der kleineren Regierungsparteien, R. Altissimo (PLI), C. Vizzini (PSDI) und G. La Malfa (PRI) Ermittlungen ein. Durch die Aufdeckung der immensen T gingen die Einnahmen der Parteien drastisch zurück. Das Defizit des PSI betrug allein 1992 über 21 Mrd. Lire (Gesamtschuldenstand 1993: 130 Mrd. Lire); die DC kam mit 19 Mrd. Lire in die roten Zahlen. Während die etablierten Parteien durch ihre Abhängigkeit von den T voll in die Krise gerieten, konnte die rechtspopulistische Lega Nord politischen Profit aus der fundamentalen Krise des Parteiensystems ziehen".

Terza Guerra d'Indipendenza (Dritter Unabhängigkeitskrieg, 1866-71) (L. Roman del Prete, S. 409):

"1866 verbündet sich Italien mit Preußen gegen Österreich-Ungarn. Am 16.6. erfolgt die Kriegserklärung an Österreich. Italiens Streitkräfte erleiden wiederholt Niederlagen (Custoza; Seeschlacht von Lissa), bis der in der Zwischenzeit nach dem Deutschen Krieg vereinbarte Waffenstillstand zwischen Preußen und Österreich auch Italien dazu zwingt, den Waffenkonflikt zu beenden. Im Frieden von Wien (3.10.1866) verzichtet Österreich auf die Region Venetien zugunsten von Napoleon III., der sie nach einer Volksbefragung an das Königreich Italien abtritt".

Togliatti, Palmiro (A. Hampel, S. 820):

"Während Gramsci, Scoccimarro, Terracini und andere Parteifunktionäre in faschistischen Gefängnissen waren, gelang es T, sich zum eindeutigen Führer der it. Kommunisten zu profilieren. Dafür nahm er die Entfremdung von Gramsci und bedingungslosen Gehorsam gegenüber Stalin in Kauf. In den Phasen der Säuberungen war T nie auf Seiten der Opfer zu finden. Als enger Mitarbeiter Molotows entwarf er die für die westlichen kommunistischen Parteien verbindliche Nachkriegsstrategie: Auflösung der Komintern, Fusion mit den sozialistischen Parteien, kommunistische Führung eines antifaschistischen Blocks. Nach der Rückkehr nach Italien im März 1944 versuchte T diese Grundsätze in Anpassung an die spezifischen Verhältnisse Italiens zu 279 realisieren: Angebot der Zusammenarbeit mit der Regierung Badoglio [...], Angebot an die Sozialisten [...] zur Bildung einer vereinigten Arbeiterpartei, Angebot an die DC zu einem gemeinsamen Aktionsprogramm 1944, Absage an eine antiklerikale Politik durch Befürwortung der Patti Lateranensi als Teil der republikanischen Verfassung [...], baldige Einstellung der Epurazione [antifaschistische Säuberung].

Der sich anbahnende Kalte Krieg erschütterte T's parteiinterne Position, so dass er sich am 6. Parteikongress 1948 zu einer umfassenden Selbstkritik genötigt sah und die Führung der Partei mit Longo und Secchia teilen musste. Erst der Tod Stalins ermöglichte es ihm, Secchia auszuschalten und die Partei auf seine neue Linie der Entstalinisierung und des Polyzentrismus [von Togliatti entwickelte Strategie einer national ausgerichteten Politik kommunistischer Parteien innerhalb des globalen Kommunismus]. Während eines Kuraufenthaltes in Jalta entwarf er ein an Chruschtschow gerichtetes Memoriale, das als sein geistiges Testament gilt.

Aus in Moskau 1992 aufgetauchten Dokumenten geht hervor, dass T es ablehnte, während des Krieges und nach dem Krieg bei den sowjetischen Stellen zugunsten der it. Kriegsgefangenen in der Sowjetunion zu intervenieren [...]".

Trasformismo (K.-E. Lönne, S. 822f):

"Übergang von Persönlichkeiten und Gruppen zwischen der Rechten (Destra storica) und der Linken (Sinistra storica) zum Gewinn bzw. zur Behauptung der Regierungsmacht aufgrund persönlicher und sachlicher Motivierung und unter Übernahme von Ideen und Interessen der konkurrierenden Gruppierung. Cavours sog. Connubio mit Rattazzi (1851) lässt sich als T begreifen. [...] Der T war eine Auswirkung der lockeren Fügung und der personellen und regionalen Differenzierungen der Liberalen in Destra und Sinistra, trug zu ihr aber auch noch zusätzlich bei. Gefördert wurde er durch die zentralistische Staatsverwaltung, die der Regierung jede Einwirkung auf regionaler Ebene ermöglichte und so die Abgeordneten darauf verwies, von der Regierung Begünstigungen ihrer Wähler zu erreichen. Der T stärkte langfristig die Tendenz zum Klientelismus (Clientelismo) im parlamentarischen Stil Italiens". 280

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