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Arthur Russell EINSCHLAUFEN Betrifft: Diesel im Sound-Ozean Impressum Nº 02.11 DER MUSIKZEITUNG LOOP 14. JAHRGANG Ich bin neu hier. In all den vergangenen Jahren Gitarristen und damaligen Produzenten Gary hat sich unsereiner mit der roten Deppenmütze Lucas – zusammen mit dem unfähigen Rapper P.S./LOOP Verlag auf dem Kopf die Zeit mit Riesen-Panda-Erfor- Mark Sinclair eingespielt hat. «This guy just Postfach, 8026 Zürich schungen im chinesischen Urwald vertrieben, could not fi nd the beat», erinnert man sich an Tel. 044 240 44 25, Fax. …27 man hat das Monster «aus eisen und glas mit den Sprechsänger, der im Studio das Marimba [email protected] kugeln in den gelenken und den worten ja und mit einem Hammer malträtierte und später in www.loopzeitung.ch nein im mund» in die Schranken verwiesen, den Hollywood als Actionheld-Tor unter dem Pseu- schillernden Jaguarhai entdeckt und die wun- donym Vin Diesel eine XXX-Karriere hinlegte. Verlag, Layout: Thierry Frochaux derbare Aussicht vom melancholischen Hügel Eine XXX-Karriere hat der elegante Stuntman genossen, da dass solitäre Beobachten nicht die Russell nach diesem Duett glücklicherweise Administration, Inserate: Manfred Müller schlechteste Tätigkeit in diesen Tagen ist. nicht hingelegt, weil der Ruhm zu Lebzeiten ge- Während diesen vielseitigen Forschungstätigkei- mäss den Herrendichtern eine fragwürdige Sa- Redaktion: Philippe Amrein (amp), ten tauchte in den Tiefen des weltumspannenden che sei. Und so bleibt es den Nachmusikern der Benedikt Sartorius (bs), Koni Löpfe Sound-Ozeans – abghenkt von Trends, Zeit und Gegenwart wie dem Universalisten Panda Bear, Raum – ein Herr mit einem Cello und einem dem Mathematiker Caribou, den zarten Disco- Mitarbeit: Reto Aschwanden (ash), Thomas Farmerhemd auf, sein Gesicht vernarbt von ei- Königen Hercules & Love Affair oder der or- Bohnet (tb), Pascal Cames (cam), Roman ner hartnäckigen Akne. Arthur Russell hiess der chestralen Folk-Kommune der Hidden Cameras Elsener, Christian Gasser (cg), Michael Gasser Sonderbare. Arthurs Klang-Forschungen ent- vorbehalten, auf den indirekten, verwirrenden (mig), Nino Kühnis (nin), Albert Kuhn, standen im Trockenen – erfüllt vom Blubbern Spuren von Arthur Russell zu wandeln. Einige Hanspeter Künzler (hpk), Tony Lauber (tl), Tim seines Aquariums – und wenn er denn auf See dieser Spuren sind in der vorliegenden Ausgabe Lawrence, Philipp Niederberger, Sarah Stähli, stach, dann geschah dies mit der orangefarbe- umrissen, die von der «nichtobligatorischen» Matt Wolf, Diana Zucca (zuc) nen Staten Island Ferry. Sein Walkman spielte New-Yorker-Disco durch die Kornfelder Iowas auf diesen Reisen die verschiedensten Versionen und, zum Schluss, auf die Fähre nach Staten Is- Druck: Rotaz AG, Schaffhausen seines eigenen Schaffens wie auch abseitige Mix- land führt. Tapes – von Bubblegum-Pop über Disco bis hin Ich ziehe vorderhand die rote Mütze, verneige Das nächste LOOP zu Free Jazz und Hip Hop. mich tief vor dem Werk, das Arthur Russell hin- erscheint am 31. März 2011 Gut möglich, dass er eines Tages auf der schwär- terlassen hat – und tauche ins Meer, fl iege zum Redaktions-/Anzeigenschluss: 24.03.2011 merischen Reise in den fünften Stadtteil New Mond und wieder zurück. Yorks auch den gescheiterten Roh-Track anhör- Titelbild: Arthur Russell te, den er – im Auftrag des Captain-Beefheart- Guido Zissou
Ich will ein Abo: (Adresse) 10 mal jährlich direkt im Briefkasten für 30 Franken (in der Schweiz). LOOP Musikzeitung, Langstrasse 64, Postfach, 8026 Zürich, Tel. 044 240 44 25, [email protected] DER GRENZENLOSE positions-, Rock-, Tanz- und Hip-Hop-Szene der Siebzi- Quer zu seiner Zeit, riss der Komponist ger- und Achtzigerjahre, die sich in Downtown New York bildete. New Wave, Disco, Hip Hop, straighter Pop, ver- und Multi-Instrumentalist Arthur Russell drehter Folk, intimer Voice-Cello-Dub: Russell bewegte sich innerhalb und zwischen Stilrichtungen und Szenen si- die Grenzen zwischen Disco und süssem multan und lotete wie kein anderer seiner Zeitgenossen das Potenzial einer befreiten, utopischen Musik aus. Als ihm Pop, minimalistischer Komposition und sein Ex-Freund und Manager Donald Murk ein stromli- nienförmigeres und kommerzielleres Profi l nahe legte, Folk nieder. Ein einführendes Porträt von meinte Russell: «Ich werde mich niemals festlegen.» Tim Lawrence, dem Autor der bisher ein- FLUCHT AUS DER PROVINZ zigen Arthur-Russell-Biographie «Hold Der Wert der Freiheit wurde Russell, der das Cellospiel sportlichen Aktivitäten vorgezogen hatte, bereits während On to Your Dreams». seiner Kindheit in Oskaloosa, Iowa bewusst. Der 1951 geborene Arthur war ein Aussenseiter in der Schule und Arthur Russell war ein Komponist und Multi-Instrumen- als seine Drogenexperimente zu Streitereien mit den Eltern talist, der während des kreativen Höhepunkts der Down- führte – sie entdeckten allerdings nur das Marihuana und town-Ära in New York lebte und arbeitete. Russell war ein nicht das LSD –, fl üchtete er nach San Francisco. Arthur skurriler Typ, der quer zu seiner Zeit stand. Während sich war erst 16 Jahre alt. seine Zeitgenossen – in schwarzes Leder gekleidet – auf das Nach einiger Zeit, in der Arthur ziellos herumlungerte, zog jüngste Gericht vorbereiteten und die Grenzen des Noise er mit seinem Cello in eine äusserst disziplinierte buddhis- erkundeten, trug Arthur Holzfällerhemden und kompo- tische Kommune. Russell besuchte nebenbei das Konserva- nierte esoterische, hymnische Musik, um buddhistische Er- torium und das Musik-College des indischen Meisters Ali leuchtung zu erlangen. Vernarbt von Akne, vertieft in seine Akbar Khan und entwickelte dort allmählich seine ätheri- Mehrspur-Aufnahmegeräte und permanent mit fi nanziellen sche Spielart des Folk. Auch bahnte sich eine Freundschaft Problemen kämpfend, rang Russell um Aufmerksamkeit, mit Allen Ginsberg an. Ginsberg war es auch, der Arthur bis er 1992 an den Folgen seiner AIDS-Erkrankung starb. 1972 für eine Aufnahme-Session mit Bob Dylan erstmals Russell war weit mehr als nur ein charmanter Aussenseiter nach Manhattan lockte. Russells New-Yorker-Odyssee und Sonderling, dessen unschuldige, geheimnisvolle Auf- nahm mit diesen Aufnahmen ihren Anfang. nahmen voller Schönheit noch immer nachhallen. Seine Werke entstanden im Herzen der bahnbrechenden Kom- bitte umblättern erhofft – Pop und buddhistische Empfi ndsamkeit in orches- trale Arrangements einführte. Philip Glass, der das Kon- zert besuchte, meinte später: «Arthurs Verständnis, dass die Mauern zwischen Konzertmusik, populärer Musik und Avantgardemusik illusionär waren und diese Mauern gar nicht existieren mussten, war anderen weit voraus. Russell lebte in einer Welt, in der es diese Mauern nicht gab.» Russell führte seine Erforschungen von unwahrscheinli- chen Grenzüberschreitungen fort und lud die Modern Lo- vers um Jonathan Richman für eine Serie von Konzerten in die Kitchen ein. Arthur fand im Proto-Punk der Mo- dern Lovers eine Ästhetik vor, die sich in Entwicklungen der Minimal-Music widerspiegelte. Zu diesem Zeitpunkt lehnte Russell das Angebot ab, das vierte Mitglied der Talking Heads zu werden. Er bevorzugte vielmehr eine explizitere und ehrliche Form von fröhlichem Pop, die Russell als Mitglied der Band The Flying Hearts umsetz- te. Ein paar Jahre später schloss sich Arthur einer New- Wave-Band namens The Necessaries an, sprang jedoch – unterwegs zu einem Konzert in Washington – aus dem Tourbus, als ihm der Gedanke, sich nur auf eine Grup- pe und einen Stil zu konzentrieren, unerträglich wurde. REIN IN DIE INTIME DISCO
Angezogen vom ekstatischen Potenzial der repetitiven Mu- sik, war Russell bereit für Disco. Seine wechselnde sexuelle THE MODERN LOVERS IM KUNST-CLUB Ausrichtung zog ihn in das dynamische Milieu des Down- town Dance. Nach angeblich erfüllenden Beziehungen zu Im Herbst 1973 kehrte Russell nach New York City zu- Frauen begann sich Arthur immer mehr für Männer zu inte- rück, um an der Manhattan School of Music Komposition ressieren. Nach Kürzestaffären mit Ginsberg ging Russell mit zu studieren. Doch die institutionelle Starrheit und Strenge dem Coiffeur Louis Aquilone aus, der eng mit Nicky Siano missfi el ihm; er schlief eine Zeitlang auf dem Fussboden von befreundet war. Siano war DJ in der Gallery, einer vorwie- Ginsbergs Wohnung im East Village und schmiedete lieber gend von schwarzen Homosexuellen besuchten Privatdisco. Freundschaften mit Komponisten der Downtown-Szene. Inspiriert von der Mischung aus ästhetischem Abenteuer Innerhalb von 18 Monaten wurde Russell zum musikali- und sozialer Fortschrittlichkeit des Clubs, bahnte Russell schen Leiter der Kitchen ernannt, damals ein bedeutendes mit Veröffentlichungen wie «Kiss Me Again», «Is It All Over Zentrum für experimentelle Musik und Video. Dort führte My Face?» und «Go Bang! #5» den Weg für den späteren er sein Stück «Instrumentals» auf, das – wie von Arthur Mutant-Disco-Sound. Der Dancefl oor wurde in diesen und anderen Tracks wie «Pop Your Funk» und «Clean On Your Arthur Russell wollte mehr als nur eines sein. Als sich Arthur Bean» mit damals ungewöhnlichen, verwirrenden Details bei einer unbedeutenden Affäre mit HIV ansteckte, wurde und Anspielungen unterfüttert, während Kollaborationen diese Diskussion schlagartig beendet. Russell schrieb kurz mit prominenten Produzenten wie Walter Gibbons, François nach der Diagnose «A Sudden Chill» und nahm bis kurz vor Kevorkian und Larry Levan sein Interesse an der grenzenlo- seinem Tod weiter Musik auf. 1992 starb Arthur Russell. Er sen Veränderbarkeit der Musik bestätigte. wurde 41 Jahre alt. Die letzte Person, die – abgesehen von In dieser Zeit genoss Russell einen gewissen kommerziellen Lee – an Arthurs Totenbett sass, war Allen Ginsberg. Erfolg in den Disco- und Dance-Kreisen und wurde zudem eingeladen, die Musik für Robert Wilsons Avantgarde-Oper POSTUMER RUHM «Medea» zu komponieren. Aber Arthur verpulverte das Geld, sobald er ein wenig Zaster auf der Seite hatte – sein en- Der Tod von Arthur Russell rief ein respektvolles, doch ger Freund und Mitmusiker Steven Hall nannte ihn «Studio begrenztes Echo hervor – und die Veröffentlichung des Junkie» – und wurde emotional und fi nanziell zunehmend postumen Albums «Another Thought» auf Philip Glass’ abhängig von seinem Partner Tom Lee. Lee gab Arthur die Label Point Music 1994 schien die letzte Wegmarke einer emotionale und ökonomische Geborgenheit, die er für seine letztlich vereitelten Karriere darzustellen. Doch zehn Jah- unberechenbaren Projekte benötigte. Zusätzlich halfen Rus- re später veröffentlichten die Labels Audika und Soul Jazz sells Eltern aus – in erster Linie dann, wenn ihr einziger Sohn mit «Calling Out of Context» und «The World of Arthur zusätzliche Instrumente und Equipment brauchte. Freilich Russell» zwei weitere Compilations, die ein riesiges Me- hielt diese Unterstützung nicht mit den Anzahlungen mit, dienecho auslösten und zum beispiellosen Interesse an Rus- die Russell von Labels wie Sire und West End erhalten hat- sells Musik beigetragen haben. te. Als die lukrativen Aufträge versiegten, wurden Russells Der grosse postume Ruhm bedeutet für Arthur Russells akustische Songs, sein unorthodoxer Dance und sein funky, Werk kein Comeback, sondern ein später, zu Lebzeiten elektronischer Pop elementarer und intimer. Das gefeierte Al- kaum möglicher Durchbruch. Denn Russell war ein be- bum «World of Echo» bleibt das herausragende Werk dieser scheidener Trendsetter, der seine Zeitgenossen gelegentlich späten Phase. verwirrte, ein Verdammter innerhalb der kommerziellen Musikindustrie. Arthur hätte sich sicherlich vom Kult um MEHR ALS EINES seine Person und der ikonischen Überhöhung distanziert, betonte er doch immer wieder, dass seine Musik auf Zu- Heterosexuelle Freunde und Musiker erkannten Russells sammenarbeit basiere. Vielleicht ist es gerade wegen die- Homosexualität erst sehr spät. «Ich hatte keine Ahnung», ser Spannung – die Spannung zwischen dem Individuellen sagt der afroamerikanische Perkussionist Mustafa Ahmed. und dem Globalen, dem Leichten und dem Seriösen – dass «Da, wo ich herkam, war eine schwule Person eine extrava- Russells Leben und Werk eine so unwahrscheinliche Lei- gante Tunte. Arthur benahm sich überhaupt nicht so.» Der denschaft weckt. Posaunist und Komponist Peter Zummo, ein weiterer enger Tim Lawrence Weggefährte, erinnert sich, dass Russell ihm anvertraut habe, Übersetzung aus dem Englischen: Sarah Stähli er sei ein «closet heterosexual». Russell bestand darauf, dass er mit seinem Leben als Schwu- Tim Lawrence ist Autor der überaus lesenswerten Biographie «Hold On to ler glücklich war, doch ähnlich wie in seiner Musik, wollte er Your Dreams. Arthur Russell and the Downtown Music Scene, 1973 – 1992» sich auch in seiner Sexualität eine gewisse Freiheit erhalten: (Duke University Press), die 2009 erschienen ist. SZENE F R I - S O N
- MÄRZ 2011 - MARS 2011 FR 4.3. 22h Balkan Elektro, 11.03.11 | FRIDAY |DOORS 22H | 5.- Balkan Beats In Concert From oldies to hip hop NATIONAL FANFARE SA 5.3. 22-5h OF KADEBOSTANY Breaks, Electro, Ghetto Funk (GE) UND TRUBACI FEATURECAST BEAT BATTLE SOUNDSISTEMA (BOMB STRIKES/UK) 18.03.2011 | FRIDAY | DOORS 20H | 24.- SUPPORT: PLUSHGRIZZLY (ZH) Hip Hop: Master of Ceremonies DI 8.3. 20h AI TRICKS BEAT (BE) The Return Of The Ladies US British Folk Rock BUSDRIVER AND ALL BECAUSE FR 11.3. 21h THE LADY LOVES (GB) Folk Noir, Voodoo, Wienerlied BLAKE WORRELL In Concert FROM PUPPETMASTAZ - US SA 12.3. 21.30h WENDY MCNEILL (CAN), 19.03.11 | SATURDAY | DOORS 21H | 10.- Discorock, Casiopop In Concert DIE STROTTERN (AUT), HERR BITTER (SG) DJ POSITIVE Swiss Rock a lot better CASIOFIEBER (SH/ZH) CHAOS-GIRLS-DJ-TEAM CHÂTEAU RÖSTI DO 17.3. 21h ALVIN ZEALOT | MRS. BURROUGHS & SPECIAL GUEST FR 18.3. 22h Giovedi Incasinato: Soul Shalom! Synthiepop, HipHop, Elektro 23.03.11 | WEDNESDAY | DOORS 20H | 16.- Sweet Soul, Northern Soul, ROCKRAINER (D) Funk, Afro-Funk Cinéma: Festival International DJS SOUL RABBI (D) DO 31.3. 21h de Films de Fribourg & Fri-Son présentent: NATTY B Doomfolk, Grunge & DOUBLECHIN In Concert HUSTLE & FLOW ARBOURETUM US, 2005 (BALTIMORE/USA) 29.03.11 | TUESDAY | DOORS 20H | 24.-
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CH sa 05.03. Totenmond (de) death metal THE YOUNG GODS Valborg (de) Quaedt (ch) 26.04.11 OWEN PALLETT CA mi 09.03. please.me (ch) beatles meets 04.05.11 mando diao thE DorKs (ch) ERLAND AND THE fr 11.03. 15 Jahre Gaswerk UK Favez (ch) rock CARNIVAL The GLIM Project (ch) vvk: starticket
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mi 23.03. Black Rainbows (it) 1981 bis 2011 stoner Zippo (it) Vinyl- und CD-Import Black Music & Electronica fr 01.04 Honey For Petzi (ch) Duara (ch)
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Die Liner Notes seines Freundes Tom Lee zu «Love Is Overtaking Me» sind ein zärtlicher Nachruf: «Die Songtexte von Arthur ent- standen aus Erinnerungen und Beobachtungen, kom- biniert mit Gedanken über Liebe und Hoffnung. Er schafft das mit einer Mi- schung aus Behutsamkeit und Humor. Arthurs Note- books sind gefüllt mit Phra- sen und Ideen, die er, der Country Boy aus dem Mit- telwesten, auf seinen Wan- derungen in und um New York gesammelt hat. Bruch- stücke von Gesprächen in einem Restaurant, Kinder- rufe, Werbesprüche und TV- Dialoge.» Steve D’Acquisto, prickelnde Sache. Disco, House und erst recht Techno ver- DJ in der Gallery und Au- Prickelnd und befreiend: Das Landei mitteln in aller Regel rabiate Tanzbefehle. Das kann häufi g tor der Lyrics von «Is It All cool sein, kann lange gut gehen – aber eine ganze Nacht Over My Face» meinte über Arthur Russell erfand in New York die unter dem selben Marschbefehl ist ein Graus. Irgendwann eine gemeinsame Aufnah- erwacht man aus der Dance-Trance und realisiert: Bin ich me-Session: «Wir glaubten, nichtobligatorische Disco, die einlädt, Marionnette? Bin ich Hampelmann? Ist der Sound unsere wir nehmen das ‘White Al- gnadenlose Peitsche? Das böse Erwachen nach stundenlan- bum’ auf, füllten vierzehn weil sie nie ganz fertig ist. gem, glücklichem Armeverrenken, Achselrollen, Hüftenro- Rollen 24-Track-Tape! Wir tieren, Beckenkreisen, die Beine je nach Stil und Tagesform spielten einen Song um den Versucht das mal, Männer: Die Augen rollen und weit auf- fest im Boden verankert oder im Gegenteil: die Füsse nervös anderen ein, dauernd ka- sperren wie ein besoffener König, dann tief aus der Gurgel auf der Lauer wie ein unberechenbarer Mittelfeldfussballer. men neue dazu. Es waren hinaus ein röhrendes Grunzen starten, das sich zu einem Nun aber die minimalistische Disco von Arthur Russells neun Leute im Studio für langsam aufsteigenden, bebenden Schrei bis in quiekende Gnaden: Sie lässt Gefühle von Anonymität, Einsamkeit und die Basic Tracks und in der Mezzosopranlage hinaufjauchzt. Wobei man sich für die Leere kaum oder gar nicht aufkommen. Es ist Musik, die zweiten Session waren es letzte Oktaven des Gelingens von einer Frau begleiten darf. einlädt, weil sie nie ganz fertig ist. Ein Sound, in den man gar dreizehn. Das Band lief Es ist der hormonelle Schrei des puren Wohlbefi ndens, ein sich einbringen kann wie ein Weihnachtsgeschenk. Denn Du fast Tag und Nacht.» Mixdrink aus Testosteron und Östrogen. Wie Mann weiss, bist das Weihnachtsgeschenk, der Sound wird Dir die Ge- Schliesslich – und retrospek- erzeugen Hoden verwirrlicherweise auch Östrogen und dito schenkbänder öffnen, Dich aus dem Seidenpapier schälen tiv wie immer – erfanden ist Östrogen umgewandeltes Testosteron. Arthur Russell ist und alle rund um Dich herum werden Ah und Oh raunen. und isolierten Musikstu- sowas aber piepegal, denn er ist nicht nur Cellist, Buddhist, «Keepin’ Up» ist so ein Ding. Eine Frau und ein Mann denten den Russell-ism als Sänger, Musiker, Komponist und Produzent, sondern auch singen umeinander herum, gestützt nur durch einen Bass, performative Kulturtech- schwul, gay und homosexuell. wenig Perkussion und zuckende Cello-Striche. Sowas gefällt nik. Dessen Umfeld bilde- Charles Arthur Russell ist im Mai 1951 in Oskaloosa im Arthur Russel. Dem Musikjournalisten David Toop verriet ten «andere Verfahren zur US-Staat Iowa geboren, gestorben 1992 in New York. Als er seine Privattheorie: «Nach einer Musik mit Schlagzeug, Erzeugung von Sichtbarkeit Landei und geschulter Cellist mit einem Background in wird eine ohne Schlagzeug kommen. Vielleicht bin ich ein oder Atmosphäre wie etwa klassisch-indischer Musik in der Disco-Welt eine Haupt- Exzentriker, ich weiss es nicht, aber das ist ja eine ganz ein- das Sampling nach Kod- rolle zu spielen – das ist schon sehr exklusiv. Mit einigen fache Idee. Wenn du etwas ohne Schlagzeug hörst, ist das wo Eshun, das Rendering Underground-Disco-Hits wurde Arthur etwas bekannt, einfach sehr aufregend. In den Weltraum nimmt man nicht nach Chion, der Groove aber einen Namen hatte er nur in New York. Erst nach sei- sein Schlagzeug mit, man nimmt nur seinen Geist mit. DJs in Diedrich Diederichsens nem Tod wurde die Musikwelt via Anthologien auf Russel sagen mir, niemand würde je mein ‘Let’s Go Swimming’ auf- Defi nition oder auch die aufmerksam. legen. Ich aber glaube, dass so ein Zeug eines Tages alltäg- Idee der Artikulation in der lich sein wird.» Netzwerktheorie von Bruno NICHTOBLIGATORISCHES TANZEN Arthur mochte den Gallery-DJ Nicky Siano und war eine Latour». Das kann nun er- Weile mit dem Star-Hairdresser Louis Aquilone zusammen, googeln, wer Zeit hat. Arthur Russell steht für etwas, das ich hier mal «die nicht- einem hervorragenden Tänzer. Russell wollte sich von Aqui- obligatorische Disco» nenne – eine sehr befreiende und lone auch tänzerisch inspirieren lassen, was offenbar hölzern Albert Kuhn UMKREISENDES PORTRÄT thurs Soundtrack – drehen wollte, einem biographischen Der berührende Film «Wild Combina- Faden. Chuck und Emily, die Eltern von Charles Arthur Russell Jr., zeichnen zunächst die Kindheit ihres verlore- tion» des Regisseurs Matt Wolf legt nen Sohnes nach, illustriert mit Super-8-Aufnahmen und Bildern aus dem Familienalbum: Die Mitgliedschaft in der Facetten der fragmentierten Persönlich- Oskaloosa Municipal Band, den träumenden Buben – «a different kid», wie ihn der Vater nennt –, der starke Akne- keit Arthur Russells frei und vermisst Befall, die Flucht in die Lektüre, die von John Cage bis zu Timothy Leary reichte, die Drogenexperimente und 1967 seinen tiefen Sound-Ozean. die Flucht nach San Francisco. Arthurs Vater erinnert sich unter Tränen an die Schläge, die er nach dem Auffi nden Ein Kassetten-Band dreht im Ozean Schlaufen, aus dem eines Marihuana-Depots seinem Sohn verpasst hat. Schlä- Off ertönen verzerrte Celloklänge und meditatives Sum- ge, die zum frühen Verlassen des Elternhauses und den 16- men, die sich zum zarten, suchenden Lied «Rabbit‘s Ear» Jährigen in eine buddhistische Kommune geführt haben. verbinden. Schnitt. Eine Plattennadel ritzt das Disco-Vinyl, Der Beat-Poet Allen Ginsberg berichtet in einem Video, das Freunde der Nacht tanzen in der mit Ballons verzierten kurz nach Russells Tod entstanden ist, von seinem ersten New-Yorker-Disco The Loft und kontrastieren die gegen- Treffen mit Arthur, der damals eine seltsame, halb-mili- geschnittenen, verwackelten Handkamerabilder, die Trak- tärische, halb-mongolische Buddhisten-Uniform getragen tore und weite Kornfelder zeigen. Schliesslich stellt der eng- haben soll: «I had a certain crush on Arthur». Die Mant- lische Musikjournalist David Toop, der für die Verbreitung ras, die Ginsberg und Russell zusammen eingespielt haben, von Russells Werk Mitte der Nullerjahre zentral war, die verschwinden nun von der Tonspur, die Hippie-Bilder ge- Einstiegs-Frage zum Werk von Arthur Russell, auf die es hören der Vergangenheit – und der Proto-Punk-Song «She keine Antwort gibt: «If you listen to Arthur‘s music and Cracked» der Modern Lovers zeigt den Wechsel der Zeiten, you‘re not familiar with it, you think, well, how can one das Ende der Episode San Francisco an. «Wild Combinati- single person work in all these different ways?» on» erklärt mit der fl iessenden, unaufgeregten Bildsprache Derart steckt der Film «Wild Combination – A Portrait of auch dem Russell-Neuling, dass Arthur alle diese Strömun- Arthur Russell» gleich in den ersten Minuten assoziativ die gen in sich aufgesogen und keine Widersprüche zwischen Koordinaten der Welten ab, die Arthur Russell zeitlebens scharfem Punk und ausufernden Mantras gesehen hatte. erschaffen und nie fertig gebaut hat. Hier der tiefe, echo- getränkte «Ocean of Sound» seiner intimen Songs, dort OHNE DRESSCODE die verspielte Disco und mittendrin, als Ursprung und als Missing-Link seines Werkes, die Country-Kornfelder Io- New York City. Arthur spielt mit Gitarre «folky Songs», was, Arthurs Herkunft. aufgezeichnet von einer statischen Kamera in einem leeren Raum. Man erlebt ihn als deplatzierten Gastmusiker bei «A DIFFERENT KID» den jungen Talking Heads, für die er mit seinem Cello eine alternative Version von «Psycho Killer» eingespielt hat. Ein Das Porträt folgt trotz dem experimentellen Hintergrund bleibendes Bild: Arthur spielt sitzend Gitarre und markiert des jungen amerikanischen Regisseurs Matt Wolf, der ur- mit seiner Nicht-Frisur und dem unmodischen Pullover Di- sprünglich nur einen kurzen Kunst-Film – unterlegt mit Ar- stanz zur sorgfältig codierten Band.
fährten wie Ernie Brooks halfen mir, Arthurs Sicht zu oder Steven Hall, Arthurs verstehen und seine Musik ZUM URSPRUNG Eltern und vielen anderen tiefer zu interpretieren. gesprochen hatte, erkannte Während der Arbeit am «Bevor ich Arthurs Musik Arthurs Musik expressio- ich das Bedürfnis nach ei- Film lernte ich von Ar- zum ersten Mal hörte, war nistisch wiederzugeben und nem biographischen Film, thur viel über das Dasein ich bereits fasziniert von den Film auf der Staten-Is- der den kulturellen Hin- als Künstler und über die dieser Figur. Mein Freund land-Fähre, bei den Piers der tergrund, die persönlichen Verwirklichung der eige- erzählte mir von einem lan- West Side oder in den Korn- Geschichten von Arthur nen Projekte – gegen alle ge vergessenen, schwulen feldern Iowas zu drehen. Russell und seinen Songs er- Widerstände. Denn Arthur Disco-Produzenten in einem Ich fand die Adresse von forschen sollte. rackerte sich ab: Er baute karierten Farmer-Hemd, der Arthurs Lebenspartner Tom Für das fi lmische Porträt Hindernisse in seinen Weg obsessiv Mixtapes seiner ei- Lee im Internet und bat verfolgte ich Arthurs Fuss- und frustrierte Mitarbeiter genen Musik auf der Fähre ihn um Erlaubnis, Arthurs stapfen, fuhr immer wieder und seine Freunde. Aber nach Staten Island hörte. Musik in meinem geplan- auf der Fähre nach Staten ich denke, Arthur erschuf, Allein dieses Bild reichte mir ten Experimental-Film zu Regisseur Matt Wolf Island und rannte mit einer ungleich anderen Personen, aus. Als ich schliesslich die verwenden. Monate später Videokamera durch Korn- eine Verbindung zu einem emotionale Intensität und rief mich Tom an und ich Offenheit, seiner Grosszü- felder. Ich interviewte Tom ursprünglichen, kindlichen komplexe Schönheit in Ar- traf ihn im Appartement gigkeit und der Verbindung, Lee im kleinen Apparte- und unschuldigen Ort. Und thurs Musik entdeckte, war im East Village, das er einst, die er noch immer zu Arthur ment, in dem Arthur obses- ich liebe es, mit ihm an die- es um mich geschehen. in Nachbarschaft zu Al- fühlt – so dass ich mich ent- siv gearbeitet hatte und traf sen Ort zu gehen.» Als Filmer mit einem ex- len Ginsberg, mit Arthur schied, den ursprünglich Chuck und Emily Russell in perimentellen Hintergrund bewohnt hatte. Ich war so geplanten Kurzfi lm auszu- der Idylle von Oskaloosa, Matt Wolf war mein erster Gedanke, inspiriert von Tom – seiner bauen. Als ich mit Wegge- Iowa. Diese Erfahrungen Enge Weggefährten wie der Modern-Lovers-Bassist Ernie Brooks, der später mit Arthur die Pop-Band The Flying Hearts unterhalten sollte, der Posaunist Peter Zummo, der auf dem Disco-Hit «Go Bang!» zu hören ist, der Kompo- nist Philip Glass und Steven Hall erinnern sich an den frem- den Neuankömmling in New York, während Ginsbergs Stimme aus dem Off von Russells «Buddhist Bubblegum» berichtet. So geht der Film immer weiter im Freilegen der Facetten und Schichten, im Umkreisen des Werkes von Ar- thur Russell. Allmählich wird der Ton der Freunde enttäuschter und frustrierter, etwa wenn Ernie Brooks über den abrupten Absprung Arthurs aus der höchst hoffnungsvollen Band The Necessaries berichtet und mit seinem Ausstieg die Hoffnungen auf das Pop-Startum für immer zerstörte. Auch Russells Zusammenarbeit mit dem Theaterregisseur Robert Wilson scheiterte letztlich, da Arthur den Zeitplan nicht einhalten konnte. Vielmehr splittete sich Arthurs Cha- rakter immer mehr auf und sein Werk versteckte sich hinter Disco-Pseudonymen wie Dinosaur L oder Loose Joints. «ARTHUR WAS ALL MUSIC»
Immer wieder sehen wir in «Wild Combination» Arthur beim Spielen des Cellos und beim Singen – in Video-Auf- nahmen, die der Perfektionist von sich selber fabriziert hat. Die fi lmischen Selbstporträts zeigen einen Musiker, der nach weiteren, verborgenen Schichten in seinem Werk sucht, ja, nach neuen Ausdrucksformen der Musik über- haupt forscht. «Arthur was all music,» wie seine Eltern er- zählen. Besonders diese denkwürdigen, intimen Momente erinnern an Auftritte von Gegenwartsmusikern wie dem Animal-Collective-Mitglied Noah Lennox alias Panda Bear, der in einem Interview mit der Zeitschrift «The Wire» seiner Bewunderung für Arthur Russell Ausdruck verliehen hat. Dank diesen Aufnahmen wird klar, wieso das Univer- sum Russell einen ebenfalls suchenden und forschenden Musiker wie Lennox so immens anspricht. «Wild Combination» ist auch das private Porträt der gros- sen Freundschaft zwischen Arthur und seinem Partner Tom Lee. Lee kümmerte sich rührend um seinen Freund Arthur, der einen Grossteil seines Spätwerkes im gemeinsamen Appartement eingespielt hat – begleitet nur vom Blubbern eines Aquariums, das Arthur eines Tages angeschleppt hat- te und ihm ein ozeanisches Gefühl beim Aufnehmen ver- mittelte. Lee erzählt vom begeisterten Jogger Arthur, der mit der eigenen Musik in seinem Walkman die Stadt, die niemals schläft, durchmessen hat. Tom Lee ist es auch, der nach Arthurs AIDS-Tod Tausende von Tonbändern noch immer auswertet, die Russell in seinem Elternhaus hinter- lassen hat und die nun Stück für Stück postum auf dem Label Audika erscheinen. AUF DEM OZEAN
Matt Wolf gelingt in seinem 70-minütigen, melancholisch stimmenden Porträt mehr als nur eine Annäherung an die fragmentierte Persönlichkeit und vermeidet – das ist wohl das grösste Verdienst – mit behutsamer Sensibilität eine Genie-Ikonisierung von Arthur Russell. Zum Schluss verlässt «Wild Combination» die pulsieren- de Stadt, durchschreitet noch einmal die Kornfelder Iowas und landet auf der Staten Island Ferry – ein Lieblingsort Russells, der als Chiffre für sein nie ankommendes Werk gelten darf. Auf der Fähre sehen wir einen Mann, alleine mit seinem Walkman an der Reling, während die Skyline New Yorks zum freundlichen, versöhnlichen Track «Wild Combination» vorübergleitet und der Blick unter die schäumende Wasseroberfl äche führt. Dort, wo Russells Sound-Ozean noch immer liegt.
Benedikt Sartorius
DVD: «Wild Combination – A Portrait of Arthur Russell» (Plexi). SZENE