Wilhelmstraße 49 Ein Berliner Haus mit Geschichte

Wilhelmstraße 49 Ein Berliner Haus mit Geschichte

Der Dienstsitz des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales öffnet seine Türen. In der Berliner Wilhelmstraße 49 trifft Vergangenheit auf Gegenwart. Der geschichtsträchtige Bau wird bis zum Jahr 2008 durch einen neuen Gebäudekomplex mit den Häusern in der Mohrenstraße sowie dem Kleisthaus verbunden. Monatelang war ein Abstands- messer befestigt, der prüfen sollte, ob die neue Verbin- dung Zukunft hat.

Bild rechts: Abstandsmessgerät in der Eingangshalle des Bundesministe- riums für Arbeit und Soziales, 2007.

Inhalt

6 Von Bonn nach Berlin 1990 bis 2008

18 Die Deutsche Demokratische Republik 1945 bis 1990

26 Die Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945

34 Die Weimarer Republik 1918 bis 1933

40 Das Kaiserreich 1871 bis 1918

50 Die preußische Epoche 1700 bis 1871

58 Das Kleisthaus Ein Bankhaus wird Teil eines Ministeriums

62 Kunst im Ministerium

68 Anhang 8 1990 bis 2008 1990 bis 2008 9

Von Bonn nach Berlin 1990 bis 2008

Am 20. Juni 1991 entscheidet der Deutsche Bundestag, gandaministeriums in der Wilhelmstraße 49. Für die dass Berlin Parlaments- und Regierungssitz wird. In Generalplanung der Herrichtung der Gebäude ist der der Folgezeit werden Umbau und Nutzung von Dienst- Architekt Prof. Josef Paul Kleihues, Berlin und Dülmen- gebäuden in Berlin festgelegt. Das Bundesministerium Rorup, verantwortlich. Die Bauarbeiten beginnen im für Arbeit und Sozialordnung nimmt seinen ersten August 1997, im Mai 2001 übernimmt Bundesminister Dienstsitz im Bürogebäude des ehemaligen NS-Propa- Walter Riester das bezugsfertige Gebäude.

Großes Bild: Blick in die glasüberdachte Eingangshalle, 2008. Kleines Bild: Nach der Wiedervereinigung beschließt der Deutsche Bundestag am 20. Juni 1991 den Umzug von Parlament und Regierung aus Bonn nach Berlin. 10 1990 bis 2008

Pläne: Lageplan der Gebäude des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, 1. Bauabschnitt; Grundlage des denkmalpflegerischen Gutachtens, 1997. Bild unten: Das alte „Hofbeamtenhaus“ mit den drei offenen sowie den drei weiteren, vermauerten Torbögen, die vor 1949 der Fassade vorgesetzt ­wurden, 1998. Die Bausubstanz: von historischem Wert Das denkmalpflegerische Gutachten zur Wilhelm- und zur Mauerstraße

Die für das Ministerium vorgesehenen Gebäude Wilhelmstraße 49, Mauerstraße 45–52 und Mauer- straße 53 (Kleisthaus) sind insgesamt in keinem zeit- gemäßen baulichen Zustand, tragen jedoch im Kern eine gute und erhaltenswerte Bausubstanz. Das Architekturbüro für Bau- & Kunstdenkmalpflege in Berlin kommt zu einer eindeutigen Empfehlung: Die Gebäude sind historisch wertvoll und erhaltenswert, auch wenn Sanierungen erforderlich sind. So heißt es in dem Gutachten unter anderem: „Der Bau des ‚Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda‘ war Sitz eines der größten und effek- tivsten staatlichen Beeinflussungsapparate der Welt. Als logistisches und repräsentatives Zentrum der nationalsozialistischen Herrschaft über die Köpfe, die zu Völkermord und Krieg führen sollte, kommt dem Bau hohe historische Bedeutung zu – auch wenn der Propagandaminister selbst seine Diensträume im zer- störten Prinz-Leopold-Palais hatte. Das Gebäude wird immer zur Auseinandersetzung mit der Geschichte auffordern.“ Auch für die Zeit der DDR sei es von historischer ­Bedeutung, da im zweiten Obergeschoss an der Mauer- straße sowohl der erste Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, als auch der Nationalrat der Nationalen Front residierten. 12 1990 bis 2008

Die Modernisierung der historischen Gebäude Der Architekt Prof. Kleihues gestaltet den Ort neu und schafft moderne Büros

Der Wilhelmstraßenflügel und das Schinkelpalais tete Gebäudekomplex wird in einem „großen archi- mit dem Ministerbüro des ehemaligen Propagan- tektonischen Wurf“ für die neue, heutige Nutzung daministeriums wurden im Krieg zerstört. Im Rest- umgeprägt. Die Umwandlung des Kleisthauses in ein gebäude arbeitet 1990 das Medienministerium der Informations- und Besucherzentrum unterstützt die ­Regierungen Modrow und de Maizière. In den folgen- neue Identität. den fünf Jahren dient es als Sitz von Teilen des Bundes- Prof. Kleihues schreibt 2001 in seinen Leitgedanken umweltamtes. 1997 beginnt die Herrichtung für das zu dem Vorhaben: „Die Auseinandersetzung mit Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, die der geschichtlich belasteten und atmosphärisch z.T. ersten Büros werden im Juni 1999 bezogen. bedrückenden Bausubstanz ist eine politische wie Es ist dem Architekten Prof. Josef Paul Kleihues auch eine architekturhistorische und künstlerische zu verdanken, dass Alt und Neu sich harmonisch Herausforderung, die man nur bestehen kann, indem ­zueinanderfügen. Die neue Eingangshalle, die archi- man eine architektonisch und atmosphärisch neue tektonische Durchgestaltung und Erneuerung des Identität schafft, ohne das Geschichtliche vergessen Gebäudeinneren geben den denkmalgeschützten zu machen. Eine kritische Auseinandersetzung ist und Altbauteneinen neuen Charakter. Der historisch belas- bleibt in diesem Sinne eine Gratwanderung.“ Die neu gestaltete Eingangshalle.

Bild oben: Die neue Eingangshalle, die den Eingangsbereich der „Drei-Bogen-Fassade“, die Büro­ gebäude und das Kleisthaus zusammenfügt. An der Rückwand ein 8 x 8 m großes Schachbrett aus ­farbigen Glasfeldern des Pariser Künstlers Daniel Buren als optischer Mittelpunkt. Bild Mitte: Prof. Josef Paul Kleihues verbindet das Kleisthaus, den Drei-Bogen-Eingang und die übrigen Bürogebäude­ durch eine große, hell und modern gestaltete Eingangshalle (im Plan gelb gekennzeichnet). Das offene Entree vermittelt dem Gebäudekomplex ein Stück neue Identität. Bild unten: Richtfest am 2. Juli 1999 im Hof des neuen Bundesministeriums für Arbeit und Sozial­ ordnung. 14 1990 bis 2008

2001 Umzug nach Berlin Arbeitsplätze für das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung

Am 18. Mai 2001 wird das neue Bürogebäude von dem Architekten Prof. Josef Paul Kleihues und dem Präsidenten des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, Florian Maubach, an Bundesarbeits- minister Walter Riester übergeben. Die Leitung des Ministeriums und mehr als ein Drittel der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ziehen zwischen 1999 und 2001 von Bonn nach Berlin um. Die restlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verbleiben in Bonn. Von 2002 bis 2005 wird das Gebäude vom Bundes- ministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung genutzt. Nach dem Regierungswechsel Ende 2005 und der erneuten Änderung des Aufgabenbereichs dient das Gebäude als Sitz des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Bild oben links: Eingang des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Wilhelmstraße 49, in Berlin. Dieses „Hofbeamtenhaus“ mit der „Drei-Bogen-Fassade“ ist der älteste Bauteil des Gebäude- komplexes, seine Geschichte geht zurück bis auf das Jahr 1883. Bild oben rechts: das Kleisthaus, Informations- und Besucherzen- trum des Ministeriums und Sitz der Beauftragten der Bundesre- gierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, in der Mauerstraße. Bilder links: Flur zu Zeiten der DDR (links). Flur nach dem Umbau (rechts). Bilder links: Flur zu Zeiten der DDR (links). Flur nach dem Umbau (rechts). 16 1990 bis 2008 Die Aufgaben des Ministeriums im Wandel der Zeit

Der Aufgabenzuschnitt des Ministeriums ändert sich Von 2002 bis 2005 werden die Bereiche Arbeitsför- im Laufe der Zeit. 1949 gegründet als Bundesminis- derung und Arbeitsrecht / Arbeitsschutz ausgeglie- terium für Arbeit, erfährt es 1957 eine Aufgabener- dert und dem neu geschaffenen Bundesministerium weiterung zum Bundesministerium für Arbeit und für Wirtschaft und Arbeit übertragen. Die übrigen Sozialordnung. Von kleineren Verschiebungen abge- Tätigkeitsfelder werden vom ebenfalls neu eingerich- sehen, bleibt dies so, bis es 1991 die Kranken- und 1998 teten Bundesministerium für Gesundheit und Soziale die Pflegeversicherung an das Bundesministerium für Sicherung übernommen. Im Herbst 2005 wird diese Gesundheit abgeben muss. Das Bundesministerium Aufteilung rückgängig gemacht. Es gibt nun wieder für Arbeit und Sozialordnung erhält dafür 1998 die ein Bundesministerium für Arbeit und Soziales, ein Zuständigkeit für die Sozialhilfe. Bundesministerium für Gesundheit und ein Bundes- ministerium für Wirtschaft und Technologie.

Linke Seite: Ein Büroraum im Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Berlin, 2008. Bild oben links: Hinweistafel auf die ersten Bundesministerien in Bonn, 1949. Bild oben rechts: Das Haus der Sitzungssäle im Ministerium in Bonn, Rochusstraße 1. Vor dem Umzug von Teilen des Ministeriums nach Berlin wird das Gebäude als Besucherzentrum genutzt. 18 1990 bis 2008

Die Erweiterungsbauten Vergangenheit trifft Gegenwart

Nach den Wahlen zum 16. Deutschen Bundestag im und Mitarbeiter müssen jedoch auf mehrere Gebäude September 2005 legt die Große Koalition aus CDU/ verteilt werden. Im Laufe des Jahres 2006 wird der CSU und SPD die Aufgaben des Ministeriums neu fest. Dienstsitz komplett in die Wilhelmstraße 49 zurück- Vizekanzler Franz Müntefering übernimmt das auf verlegt, wo er bereits von 1999 bis 2002 lag. Das die Schwerpunkte Arbeit und Soziales zugeschnittene Bundesministerium für Gesundheit, das bis dahin Ministerium. Der Berliner Dienstsitz des Bundesmini- noch in der Wilhelmstraße untergebracht war, wird steriums für Arbeit und Soziales befindet sich zu dieser in die Friedrichstraße verlegt. Schon während der Zeit in der Mohrenstraße 62. Die Mitarbeiterinnen Nutzung durch das Bundesministerium für Gesundheit

Bild oben: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales an der Wilhelmstraße, Ecke Mohrenstraße, 2008. Rechte Seite: Der Neubau in der Wilhelmstraße 50 mit neuen Büroarbeitsplätzen, einer Kindertagesstätte und einem Ausstellungsraum. 1990 bis 2008 19

wurde eine Erweiterung zwischen dem Haupthaus in zu beseitigen. So bleibt die Fassade nahezu original der Wilhelmstraße und der Ritterschaftsbank sowie erhalten. Der Haupteingang des Ministeriums bleibt der Ritterschaftsbank und der Thüringischen Landes- weiterhin auf der Wilhelmstraße. Besuchergruppen vertretung begonnen. werden im benachbarten Kleisthaus in der Mauer- Die Gebäude verfügen nicht über eine ausreichende straße empfangen. Anzahl von Büroräumen für alle Mitarbeiterinnen und Im April 2017 wird der Grundstein für einen Erwei- Mitarbeiter. Das Bundesministerium für Arbeit und terungsbau des Ministeriums gelegt. Der sechsge- Soziales übernimmt diese neuen Räumlichkeiten. Der schossige Neubau liegt in unmittelbarer Nähe in der Erweiterungsbau wird bis Juni 2008 komplett fertigge- Wilhelmstraße 50 und soll neben 95 Büroarbeits- stellt. Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung plätzen auch eine Kindertagesstätte und ein Besucher- übergibt Bundesminister Olaf Scholz den Schlüssel zentrum enthalten. Nach knapp acht Monaten Bauzeit für die neuen Gebäude. Alle Mitarbeiterinnen und wird im Dezember 2017 bereits Richtfest gefeiert. Mitarbeiter des Ministeriums sind wieder zentral in Verantwortlich für die Planung der Baumaßnahmen einem Gebäudekomplex untergebracht. Im Rahmen ist das Freiburger Büro K9 Architekten, welches 2013 der Baumaßnahme wird das ehemalige Gebäude aus einem anonymen offenen Realisierungswettbe- der Kur- und Neumärkischen Haupt- und Ritter- werb als Sieger hervorgeht. Beim Bau werden höchste schaftsbank (Mohrenstraße 66) saniert und moder- Standards in puncto Nachhaltigkeit und Barrierefrei- nisiert. Das Architekturbüro Kleihues + Kleihues hat heit gesetzt. damit die Ansprüche an ein modernes Bürogebäude erfüllt, ohne dabei die Spuren der Vergangenheit 20 1945 bis 1990

Die Deutsche Demokratische Republik 1945 bis 1990

Berlin wird 1945 in vier Sektoren aufgeteilt. Wilhelmplatz und Wilhelmstraße liegen im sowjetischen Sektor der Stadt. Viele Gebäude des ehemaligen Regierungsviertels sind zerstört, so auch die Gebäude am Wilhelmplatz. Einige Bürogebäude des ehemaligen NS-Propagandaministeriums werden wieder hergerichtet und bis 1989 vom Amt für Informationen der DDR und vom Nationalrat der Nationalen Front genutzt. 1989 beenden die Menschen in der DDR in einer friedlichen Revolution das SED-Regime. 1990 ist Deutschland wieder vereint.

Kleines Bild: Das Gebäude des Deutschen Volksrats am 7. Oktober 1949, dem Tag der DDR-Gründung. Das erhalten gebliebene ehemalige „Hofbeamtenhaus“ mit seiner „Drei-Bogen-Fassade“ sowie weitere Bürogebäude. Großes Bild: Der Besprechungsraum des ehemaligen Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, mit seinem imposanten Leuchter, 2008.

22 1945 bis 1990

Das geteilte Deutschland Das ehemalige Regierungsviertel in der Wilhelm- straße wird durch Luftangriffe und im Kampf um Berlin schwer beschädigt. Das Prinz-Friedrich- Leopold-Palais brennt völlig aus. Teile des ehema - ligen Propagandaministeriums, das Kleisthaus in der Mauerstraße und auch das Gebäude der Ritterschafts- bank bleiben – wenn auch beschädigt – erhalten. Der Ost-West-Konflikt führt zur Spaltung Deutschlands. Aus den Besatzungszonen der Briten, Amerikaner und Franzosen entsteht die Bundesrepublik Deutsch- land; am 14. August 1949 wählen die Deutschen im Westen in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl den Deutschen Bundestag. In der sowjetischen Besatzungszone wird am 7. Oktober 1949 ohne demokratische Wahlen die Deutsche Demokra- tische Republik (DDR) gegründet. Die politische und gesellschaftliche Entwicklung in der DDR bestimmt weiterhin die sowjetische Besatzungsmacht. Schritt für Schritt beseitigt die DDR auf dem Wilhelmplatz die Trümmer der ehemaligen Regierungsbauten.

Bild links: Staatsgründung: Der Deutsche Volksrat erklärt sich zur „Provisorischen Volkskammer“ und ruft die Deutsche Demokratische Republik aus. Sitzung des Deutschen Volksrats im Haus der Wirtschaftskommission, dem heutigen Bundesfinanzministerium in Berlin, Leipziger Straße, 7. Oktober 1949. Bild Mitte: Die Überreste der 1947 auf Befehl der Sowjets gesprengten Ruine des ehemaligen Prinz-Friedrich-Leopold-Palais. Im Hintergrund die erhaltenen Bürogebäude, die heute Teil des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sind. Bild rechts: Trümmerreste auf dem Wilhelmplatz. Links das Gebäude der Ritterschaft, heute Teil des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Rechts die Ruine des Hotels Kaiserhof, 1946. 1945 bis 1990 23

Zusammenbruchsgesellschaft

„Gutes Geld hatten wir verdient, indem wir Teile des Schrottes

verschoben, den ich mit einer ganzen Kolonne von Arbeitern gewann,

indem wir Ruinen ausschlachteten, die vor dem Abbruch standen,

manche Räume, die wir auf hohen Leitern erreichten, waren völlig

unzerstört gewesen, und wir hatten Badezimmer und Küchen gefunden,

in denen jeder Ofen, jeder Boiler, jede Schraube noch wie neu waren,

jeder emaillierte Wandhaken, Haken, an denen oft noch die Handtücher

hingen, Glasborde, auf denen Lippenstift und Rasierapparat noch

nebeneinander lagen, Wannen, in denen noch Badewasser stand, in dem

der Seifenschaum sich in kalkigen Flocken nach unten abgesetzt hatte,

klares Wasser, auf dem noch die Gummitiere schwammen, mit denen Kinder

gespielt hatten, die im Keller erstickt waren ... ich zog den Pfropfen aus der

Badewanne, das Wasser fiel vier Stockwerke tief, und die Gummitiere sanken

langsam auf den kalkigen Grund der Wanne.“

Eine literarische Schilderung des Alltags in der unmittelbaren Nachkriegszeit findet sich in einer Erzählung von Heinrich Böll, Brot der frühen Jahre. Aus: Heinrich Böll, Romane und Erzählungen Bd. 2, 1953–1959, 1977 (1987), ­Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, S. 655 ff.

1945 bis 1990 25

Die Vier-Sektoren-Stadt Berlin Berlin wird von den Alliierten in vier Sektoren aufge- teilt. Wilhelmplatz und Wilhelmstraße liegen im Aufräumen und aufbauen sowjetischen Ostsektor der Stadt. Gebäude, die nicht völlig zerstört sind, werden – zum Teil auf sowjetischen Befehl – wieder aufgebaut. Da es in Ost-Berlin an geeigneten öffentlich zunutzen­ den Räumlichkeiten fehlt, werden die historischen Verwaltungsgebäude für die spätere DDR-Verwaltung hergerichtet. Die Sowjetische Militäradministration nimmt nachhaltig Einfluss und regelt die Angelegen­ heiten per Befehl, so z. B. im Oktober 1947, um die Ruine des Prinz-Friedrich-Leopold-Palais zu sprengen. Bereits 1945 beginnen die Planungen für den Wieder- aufbau – damals noch Gesamt-Berlins. Der beginnende Ost-West-Gegensatz macht jedoch alle gemeinsamen Planungen zunichte. Die Entscheidungen über die Bautätigkeit an Wilhelmstraße und Thälmannplatz (vorher Wilhelmplatz) werden von den politischen Gremien der DDR und der Sowjetunion getroffen.

Linke Seite: Bericht aus der Zeitung „Neues Deutschland“ vom 29. November 1949 über die Umbenennung des Wilhelmplatzes in Thälmannplatz am 30. ­November 1949. Bild oben links: Die ehemalige Ritterschaftsbank, jetzt Gästehaus der DDR. Front zum Thälmannplatz. Die russische Aufschrift lautet: „Es lebe der Komsomol, die Avantgarde der demokratischen Jugend der Welt“. 31. Mai 1950. Bild oben rechts: Der geräumte Thälmannplatz. Auch die Fläche des gesprengten ehemaligen Prinz-Friedrich-Leopold-Palais ist in den Platz einbezogen. Früh- jahr 1950. Von rechts nach links: Gebäude, die heute zum Bundesministerium für Arbeit und Soziales gehören: Ritterschaftsbank, ehemalige amerikanische Botschaft, „Hofbeamtenhaus“ (heute Eingang BMAS), Bürogebäudeflügel (in der NS-Zeit Propagandaministerium). Grafik: Einteilung Berlins in die vier Sektoren der Besatzungsmächte. Verlauf der Berliner Mauer, 1986. 1945 bis 1990 27

Eine Randlage in Berlin Wilhelmstraße und Wilhelmplatz

Architekten, die in der Tradition des Bauhauses stehen, Das Ende aller Planungen in der Wilhelmstraße legen 1949 Grundsätze für die Neuplanung Berlins bringt der Aufstand der Arbeiter am 17. Juni 1953, vor. Schwerpunkte sind der Wohnungsbau und die die vor das Haus der Ministerien Ecke Wilhelm - Verbesserung des Lebensumfeldes. Repräsentations- straße / Leipziger Straße ziehen. Dieser Raum in bauten haben kein besonderes Gewicht. Große Fort- der Nähe der Sektorengrenze erscheint der DDR- schritte werden jedoch nicht erzielt, der DDR fehlt die Führung als nicht mehr sicher genug. Wichtige wirtschaftliche Kraft für einen umfassenden Wieder- Ministerien der DDR ziehen in das Zentrum Ost- aufbau. Die DDR-Führung forciert die Schaffung Berlins. Das ehemalige Propagandaministerium ist eines großen Aufmarschplatzes als neues Zentrum. bis 1989 Sitz des Amtes für Informationen und des Auch das ausgebrannte Berliner Schloss wird 1950 Nationalrates der Nationalen Front. gesprengt und das Gelände Bestandteil eines neuen Zentralplatzes.

Linke Seite: Karte mit dem Verlauf der Berliner Mauer, 1986. Der Kreis kennzeichnet den heutigen Standort des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Bild oben links: Der Ost-West-Konflikt führt 1949 zur Spaltung Deutschlands. In den Westzonen entsteht ein freiheitlicher Rechtsstaat, die Bundesrepublik Deutschland, in der Sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik (DDR) unter dem Führungsanspruch der SED. 1961 errichtet die DDR in Berlin die Mauer, um die Flucht der Deutschen von Ost nach West zu stoppen. Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 stoppt die Flüchtlingsströme aus der DDR in den Westen. Bild oben rechts: Die Montagsdemonstrationen der DDR-Bevölkerung und die Maueröffnung führen schließlich zum Zusammenbruch des SED-Regimes. 1990 tritt die DDR der Bundesrepublik Deutschland bei. Deutschland ist wieder vereint. Nach Beendigung der Ehrenparade zum 40. Jahrestag der DDR am 6. Oktober 1989 umarmt ein Soldat der Nationalen Volksarmee seine Freundin. Sie trägt bereits die Vorboten der neuen Zeit als Reklame-Tasche über der Schulter.

1933 bis 1945 29

Die Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945

Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propa- ganda übernimmt 1933 das Prinz-Friedrich-Leopold- Palais, Wilhelmplatz 8 / 9. 1934 entsteht in Nord-Süd- Richtung ein erster Büroneubau. Als das Ministerium weiteren Büroraum fordert, beginnen 1937 / 38 die Arbeiten für den Neubau an der Mauerstraße und des Nordflügels. Der Kriegsbeginn 1939 verzögert die Fertigstellung, der letzte Bauabschnitt ist erst 1942 bezugsfertig. In den Kämpfen um Berlin 1945 werden das Palais und die Bebauung an der Wilhelmstraße überwiegend zerstört. Erst 1947 wird mit der Instand- setzung der verbliebenen Gebäude begonnen.

Kleines Bild: Nach der Machtübernahme bereitet das nationalsozialistische Deutschland den Zweiten Weltkrieg vor. 1939 beginnt der Angriff auf Polen. 1945 endet der Krieg mit Deutschlands Niederlage und weltweit 55 Millio- nen Toten. Blick aus der Neuen Reichskanzlei auf das zerstörte Gebäude des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda entlang Wilhelm- straße / Wilhelmplatz, 1. März 1945. Großes Bild: Der Innenhof des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, 2008. 30 1933 bis 1945

Sitz des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda

Am 13. März 1933 bezieht Joseph Goebbels als Reichs- Mitte der 1930er Jahre wird der Wilhelmplatz zu minister für Volksaufklärung und Propaganda das einem nationalsozialistischen Aufmarschplatz herge- Prinz-Friedrich-Leopold-Palais (Ordenspalais). 1934 richtet. Die Grünanlagen werden beseitigt, ebenso wird die Reithalle im Garten abgerissen, an dieser die Umfassungsgitter der Denkmäler. Großforma- Stelle entstehen neue Büroräume in Nord-Süd-Rich- tige Platten mit Mosaiksteinpflasterung dienen als tung. Verbindungstrakte stellen den Anschluss an die Befestigung der Platzfläche. 1938 / 39 wird, an diese Mauerstraße und zum ehemaligen Hofbeamtenhaus Bebauung anschließend, in der Voßstraße die Neue her. Das Hofbeamtenhaus erhält eine Vorhalle mit Reichskanzlei errichtet. Der Wilhelmplatz mit seiner drei Arkaden, die heute den Eingang zum Bundesmi- Nähe zur Reichskanzlei ist einer der zentralen „politi- nisterium für Arbeit und Soziales bildet. Architekt des schen“ Plätze in Berlin. Umbaus ist Karl Reichle.

Bild unten: Der Wilhelmplatz als Aufmarschplatz der Nationalsozialisten. Links die Wilhelmstraße mit dem Palais Borsig, Ecke Voßstraße; folgend der Sied - lerbau der Reichskanzlei mit dem angebauten „Führerbalkon“, Wilhelmstraße 78, dann die alte Reichskanzlei, Wilhelmstraße 77. Im Hintergrund die Kuppel des Reichstages. Bildmitte das Propagandaministerium, Wilhelmplatz 8 / 9. Rechts in der Ecke das ehemalige Hofbeamtenhaus mit dem Drei-Bogen-Eingang. Ganz rechts das Ritterschaftsgebäude, Wilhelmplatz 6. Aufnahme um 1936. 1933 bis 1945 31 32 1933 bis 1945

Propaganda für das „Dritte Reich“ Der Erweiterungsbau des Ministeriums von 1938

Joseph Goebbels meldet im Sommer 1936 weite - bezogen. Dieses Grundstück reicht von der Wilhelm- ren Raumbedarf für sein wachsendes Ministerium straße (Nr. 62) bis an die Mauerstraße (Nr. 45). So wird an. In den Planungen legt der Architekt Reichle die es möglich, an der Grundstücksgrenze entlang in Baufluchtlinie in der Mauerstraße gegenüber dem Ost-West-Richtung einen Gebäudeflügel mit Büroräu- Kleisthaus um fünf Meter zurück gemäß der von men zu planen, der im Wesentlichen auch heute noch Hitler bevorzugten monumentalen Gestaltung im erhalten ist und vom Bundesministerium für Arbeit Inneren und Äußeren, um den Sitz einer obersten und Soziales genutzt wird. An der Wilhelmstraße Reichsbehörde deutlich zu machen. Richtfest wird am entsteht eine lange Fassade in zweigeschossiger Bau- 27. Januar 1938 gefeiert, der erste Bauabschnitt im Juli weise, die an die Architektur Schinkels angelehnt ist. 1938 bezogen. Kernstück der zur Wilhelmstraße gelegenen Innen- In das Bauvorhaben wird auch das Grundstück räume ist der neu gebaute Theater- und Filmsaal. ­Wilhelmstraße 62, das alte Kolonialministerium, ein-

Gleichschaltung von Kultur und Medien

Die Innenarchitektur der neuen Bürogebäude ist werden Verbindungen zwischen dem Palais und den sachlich gehalten und folgt ihrer Funktion. Ein in das neu zu erstellenden Büroräumen geschaffen. Gebäude integriertes Aufnahmestudio nutzt Goebbels Die Fertigstellung der weiteren Bauabschnitte bereitet für seine Reden und Proklamationen. Er selbst wohnt Probleme. Mit Deutschlands Überfall auf Polen am nicht in dem Gebäude und durchbricht so die Einheit 1. September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg. von Amts- und Wohnsitz. Das Ministerbüro verbleibt 200.000 Tonnen Eisenkontingent werden zurück­ im alten Prinz-Friedrich-Leopold-Palais (Ordens ­ gezogen, damit kommt der Bau fast zum Stillstand. palais). Zwar wird das Bauvorhaben nicht als „wehrpolitisch Insgesamt fordert das Propagandaministerium 100 wichtiger Bau“ eingestuft, Goebbels erreicht jedoch, Büroräume, Räume für Archive und Sitzungssäle dass die Gebäude in mehreren Bauabschnitten fertig- sowie eine Kantine. Da das alte Palais aus denkmalpfle- gestellt werden, damit alle Abteilungen des Ministe- gerischen Gründen nicht aufgestockt werden kann, riums geschlossen untergebracht werden können.

Karte: Die Regierungsmeile in der Wilhelmstraße. In die Karte eingefügt wurden die Neubauten des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda. Der eng schraffierte Teil stellt den Altbau mit seinen früheren Erweiterungen dar. Die Neubauteile sind schwarz angelegt.

34 1933 bis 1945

Zerstörung am Ende des Krieges

Während das Palais Wilhelmplatz 8 / 9 nicht im Sinne Obergeschosses des Palais, so dass auf dieser Höhe eine der nationalsozialistischen Architektur verändert stufenlose Verbindung durch die gesamte Bau­anlage werden kann, ist diese Rücksichtnahme in der Mauer- besteht. straße nicht notwendig. Die vorhandene Bebauung In den Endkämpfen um Berlin werden das Prinz- wird abgerissen. Ein kühler, sachlicher und eher Friedrich-Leopold-Palais, Wilhelmplatz 8 / 9, und die abweisender dreigeschossiger Neubau über einem Anbauten in der Wilhelmstraße schwer beschädigt, vollen Untergeschoss entsteht. Er soll in seiner außerdem der westliche Teil des Nordflügels (zur äußeren Gestaltung den Machtanspruch des Regimes Wilhelmstraße) mit vier Fensterachsen. Das Palais untermauern. Die Bauflucht wird um fünf Meter brennt völlig aus. Die nicht zerstörten Gebäudeteile zurückgesetzt, um mehr Straßenraum zur Verfügung werden in den unmittelbaren Nachkriegstagen von zu haben. Zwei mächtige Pylone, mit Adlern gekrönt, der Bevölkerung geplündert. Nach der Aufteilung begrenzen den Neubau. Der Fußboden des Hauptge- Berlins in vier Besatzungszonen gehört die Liegen- schosses erhält die gleiche Höhe wie der Fußboden des schaft zum sowjetischen Sektor von Berlin. 1933 bis 1945 35

1934

1945

Linke Seite: Der Ministeriumsneubau in der Mauerstraße. Rechts und links eingerahmt von zwei ­Pylonen, die jeweils einen Adler mit dem Hakenkreuz in den Fängen tragen, um 1936. Bild oben: Der Wilhelmplatz in seiner Neugestaltung als Aufmarschplatz. Rechts der 1934 errichtete­ Bau mit der Drei-Bogen-Fassade, dem heutigen Eingang des Bundesministeriums für Arbeit und So- ziales. Bild Mitte: Die Ruine des Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda Ecke Wilhelmstraße / Wil- helmplatz. Das Palais und die Bauteile an der Wilhelmstraße sind zerstört. Erhalten sind die Bauteile im Hof bis hin zur Mauerstraße. Bild unten: Bauplan des Gesamtgebäudes des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propa­ ganda. Der gelb gefärbte Teil wurde in den Kämpfen um Berlin 1945 zerstört. 36 1918 bis 1933

Die Weimarer Republik 1918 bis 1933

Auch nach der Revolution bleibt die Wilhelmstraße zentraler Standort von Reichsbehörden der neuen Republik. Im November 1919 bezieht der Reichsprä- sident das vom Deutschen Reich gekaufte Schwerini- sche Palais Wilhelmstraße 73. Bemühungen, das Palais des Prinzen Friedrich Leopold, Wilhelmplatz 9, als Sitz des Reichspräsidenten zu mieten oder zu kaufen, erteilt der sozialdemokratische Reichspräsident Ebert eine Absage. In das Palais zieht das Presseamt der Reichs­regierung ein.

Kleines Bild: Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs übernimmt Fried- rich Ebert am 9. November 1918 die Regierungsgeschäfte. 1919 wird Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten gewählt, ein Amt, das er bis zu seinem Tode 1925 innehat. Friedrich Ebert an seinem Schreibtisch im Schloss zu Weimar, 6. Februar 1919. Großes Bild: Blick in das vom Architekturbüro Kleihues + Kleihues umgestal- tete Haupttreppenhaus, 2008.

1919

Zentrum der Republik Die Wilhelmstraße

Nach Revolution und Zusammenbruch der Monar- chie übergibt Reichskanzler Max von Baden am 9. November 1919 die Macht in die Hände der Sozial- demokraten, die die stärkste Reichstagsfraktion stellen. Friedrich Ebert wird Reichskanzler. Philipp Scheidemann ruft am 10. November 1918 vom Balkon des Reichstages die „deutsche Republik“ aus. Der „Rat der Volksbeauftragten“ und der „Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte“ beschließen die Wahl einer Deutschen Nationalversammlung im Januar 1919. Erstmals dürfen auch Frauen wählen. Aufgrund der revolutionären Verhältnisse in Berlin tritt die Nati- onalversammlung in Weimar zusammen. Sie wählt Friedrich Ebert zum ersten Reichspräsidenten der neuen Republik. Die Wilhelmstraße bleibt auch in der Weimarer Repu- blik Sitz der zentralen Reichsbehörden. Hier soll auch der Reichspräsident seinen Sitz nehmen. Das Palais Wilhelmplatz Nr. 9, von 1885 bis 1918 Wohnsitz des Prinzen Friedrich Leopold, dient zunächst als Unter- kunft der Wachmannschaften für die Ministerien. Im August 1919 wird überlegt, das Palais als Dienst- sitz für den Reichspräsidenten Ebert anzumieten oder anzukaufen. Ebert verzichtet, unter anderem wegen des hohen Kaufpreises und aus Sicherheits- gründen – die Reichswehr schätzte die Verteidigungs- möglichkeiten des Gebäudes als gering ein. Statt- dessen wird das Gebäude Wilhelmstraße Nr. 73 als Reichspräsidentenpalais genutzt. 1918 bis 1933 39

Bild unten links: Ausrufung der Republik durch den SPD-Reichstagsabgeordne- ten Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstages aus am 9. November 1918. Bild unten rechts: Nach dem Ende der Monarchie wollen Revolutionäre die Macht übernehmen. Dabei kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen mit ­Polizei und Militär. Auf dem Weg zur Beisetzung von Revolutionsopfern vom 6. und 21. Dezember 1918 in Berlin. 40 1918 bis 1933 Über das von Reichsbehörden genutzte Palais Wilhelmplatz 8 / 9 (dem Land Preußen gehörend) wird 1931 festgelegt:

„Das Prinz Leopold Palais wird dem Reich gegen eine jährliche feste Miete in Höhe von 42.000 RM auf die Dauer von 20 Jahren überlassen mit der Verpflichtung, die Fassade und die inneren kunsthistorischen Räume nach den Grundsätzen der staatlichen Denkmalspflege zu erhalten. Über eine etwaige Bebauung des Hofes oder Gartengeländes bleiben besondere Verhandlungen vorbehalten. Preußen wird vor etwaigem Verkauf der das Palaisgrundstück begrenzenden Grundstücke und Baulichkeiten an der Mauerstraße dem Reich Gelegen- heit geben, etwaige Wünsche geltend zu machen.“ Sitz des Presseamtes der Reichsregierung

Im April 1919 fordert die Reichskanzlei, die Presseabtei- Am 27. März 1930 zerbricht infolge der Weltwirt - lung und die Propagandaabteilung des Demobilma­ schaftskrise die letzte Regierung, die noch eine parla- chungsamtes in einem Gebäude, dem Prinz-Friedrich-­ mentarische Mehrheit hat. Von nun an regiert der Leopold-Palais, Wilhelmplatz 8 / 9, unter der Leitung 1925 zum Nachfolger von Friedrich Ebert zum Reichs­ des Pressechefs zusammenzufassen. Am 22. September präsidenten gewählte Paul von Hindenburg 1919 entscheidet das Kabinett, das Palais anzumieten. mit Notverordnungen. Schließlich verfügen dieje- Eigentümer des Palais ist inzwischen der preußische nigen Parteien über die Mehrheit im Reichstag, die Staat. Das Presseamt der Reichsregierung zieht als die Demokratie ablehnen. Hindenburg ernennt am Mieter ein. Bemühungen des Finanzministers, an der 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. Wilhelmstraße weitere Gebäude für Ministerien anzu- kaufen, unter anderem für das Reichsarbeitsministe- rium, scheitern 1926.

Linke Seite: Der Wilhelmplatz Anfang 1933. Palais des Prinzen Friedrich Leopold, Wilhelmplatz 8 / 9. Rechts daneben, zurückgesetzt, der Anbau von 1827. Im rechten Winkel dazu das Hofbeamtenhaus (angeschnitten) aus den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Bild oben links: Das Gebäude der Botschaft der USA, Wilhelmplatz 7. Bis 1931 hatte die Botschaft hier ihren Sitz, danach im Blücher-Palais am Pariser Platz. Aufnah- me um 1920. Das Gebäude liegt auf dem Gelände zwischen der Ritterschaftsbank (heutiger Südflügel des Ministeriums) und dem dreibogigen Hofbeamtenhaus (heutiger Eingang des Ministeriums). Bild oben rechts: Paul von Hindenburg, Reichspräsident (1925–1934). Er verhilft den Nationalsozialisten 1933 an die Macht.

1871 bis 1918 43

Das Kaiserreich 1871 bis 1918

Das Kaiserreich umfasst die Zeitspanne von der festli- chen Kaiserkrönung Wilhelms I. 1871 bis zum schreckli- chen Ende mit zehn Millionen Toten und der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg. Nach der Reichsgrün­ dung 1871 werden in Berlin der Wilhelminische Dom und der Reichstag gebaut. Bismarck versucht, die Arbeiterbewegung zu unterdrücken. Als dies nicht gelingt, will er die Arbeiter durch die Einrichtung der Sozialversicherung mit dem Staat versöhnen. Das Prinz-Karl-Palais, Wilhelmplatz 9, erhält einen Anbau, das Hofbeamtenhaus (Wilhelmplatz 8). Das Ritter- schaftliche Creditinstitut und das Kleisthaus werden errichtet. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg muss der Kaiser abdanken, die Monarchie ist zu Ende. Das Palais fällt an das Land Preußen.

Großes Bild: Eingang zum Steinsaal, 2008. Kleines Bild: Nach dem Sieg im Krieg gegen Frankreich rufen die deutschen Fürsten am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles den preußischen König zum Deutschen Kaiser Wilhelm I. aus. Die Proklamierung des Kaiserreichs. Gemälde von Anton von Werner, 1885. 44 1871 bis 1918

Bild oben: Das Prinz-Karl-Palais nach der Frontverlängerung in der Wilhelmstraße, um 1883. Bild Mitte: Die 1883 ausgeführten Anbauten an das Prinz-Karl-Palais (ehemaliges Ordenspalais). Die „Drei-Bogen-Fassade“ am heutigen Haupteingang zum Bundesministerium für Arbeit und Soziales wurde erst 1934 gestaltet. Bild unten: Der Wilhelmplatz. Links die Ministerien in der Wilhelmstraße, Mitte im Hintergrund das Prinz-Karl-Palais, rechts das Ritterschaftsgebäude (heute der Südflügel des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales), Aufnahme von 1901. 1871 bis 1918 45

Machtkonzentration an der Wilhelmstraße Der Anbau des Hofbeamtenhauses

Mit der Reichsgründung 1871 wird Berlin Hauptstadt des Deutschen Reiches, Sitz des Reichstages, des Bundesrates und anderer Zentralbehörden. In der Wilhelmstraße befindet sich das Machtzentrum des neuen Reiches. Nacheinander entstehen mehrere Reichsämter und die Reichskanzlei. Am 18. Mai 1878 ergeht Kabinettsorder, die die „Errichtung des Central-­ Bureaus“ mit der Bezeichnung „Reichskanzlei“ befiehlt. 1879 entsteht das Reichsamt des Innern, dem auch die sozialen Angelegenheiten übertragen werden. Dazu gehören sowohl der Arbeitsschutz als auch die neu entstehenden Sozialversicherungsgesetze. Das Prinz-Karl-Palais am Wilhelmplatz wird 1883 / 84 in der Wilhelmstraße nach Norden um drei Fens - terachsen verlängert und erhält etwas zurückge - setzt nach Osten einen zweigeschossigen Anbau. Im rechten Winkel dazu entsteht ein dreigeschossiges Wohngebäude, das Hofbeamtenhaus. An der Grenze des inneren Teils des Grundstücks wird eine Reithalle errichtet. Das Gesicht des Wilhelmplatzes bestimmen Grünanlagen und Palaisfassaden, insbesondere die des Prinz-Karl-Palais. Mit seiner Nähe zum Reichskanz- leramt und den Reichsämtern wird der Wilhelmplatz zu einem Ort der Machtkonzentration und städtebau- licher Höhepunkt des Regierungsviertels. 46 1871 bis 1918

Ein Kreditinstitut für adlige Großgrundbesitzer Berlins Bankenviertel entsteht

1777 wird auf Anordnung Friedrichs des Großen das Kur- und Neumärkische Ritterschaftliche Creditins- titut gegründet. Durch günstige Kredite soll es einer Verschuldung der adligen Großgrundbesitzer entge- genwirken. Das Kreditinstitut finanziert sich über verzinsliche Pfandbriefe mit Zinscoupons, die zur Zinsausschüttung präsentiert werden. Pfandbriefe mit Couponbogen – in Brandenburg entwickelt – treten ihren Siegeszug auf den Kapitalmärkten der Welt an. 1890 bis 1892 wird das (heutige) Gebäude der Kur- und Neumärkischen Haupt-Ritterschafts-Direction am Wilhelmplatz / Ecke Zietenplatz an der Stelle eines kleineren zweigeschossigen Vorgängerbaus errichtet. Das neue Bankhaus ist Teil des seit 1870 um die Behren- und Jägerstraße entstehenden Banken- viertels. Mit dem Bau der U-Bahn-Station (1909) verliert der Wilhelm­platz seinen ruhigen Charakter. Das Ritterschaftliche Creditinstitut liegt jetzt an einer großstädtischen Verkehrsstraße. Der Stil des Gebäudes verweist auf Vorbilder florentinischer Palazzi. Die Straßenfassaden zeigen eine eindrucksvolle Präsenz, nicht auftrumpfend, sondern gemäßigt und eher einer schlüterschen oder schinkelschen Anmutung folgend.

Zeichnung: Das mächtige Eckgebäude der Ritterschaftsbank, das in der zeitgenössischen Literatur „wegen seiner imposanten Gesamtgestaltung wie wegen der vornehmen und kraftvollen Durchführung der Einzelteile zu den hervorragendsten unter den neueren öffentlichen Bauwerken Berlins“ gezählt wird, 1908. Rechte Seite: Der U-Bahnhof Kaiserhof, heute Mohrenstraße. Links die Ritterschaftsbank (heute Südflügel des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales), rechts das Hotel Kaiserhof (im Krieg zerstört). Im Hintergrund der Deutsche Turm am Gendarmenmarkt. Aufnahme von 1909. 1871 bis 1918 47 Gedenktafel am Kleisthaus:

„An dieser Stätte wohnte der Dichter Heinrich von Kleist vom Herbst des Jahres 1809 bis zu seinem Tode am 21. November 1811. Seinem Andenken die Stadt Berlin 1890.“ 1871 bis 1918 49

Das Kleisthaus Ein weiteres Bankhaus im Regierungsviertel

Das Kleisthaus steht an der Westseite der Mauerstraße. Bankhaus. Die Fassade des Kleisthauses ist in strengen Die Bebauung ist ein- bis dreigeschossig. Im Haus Formen gehalten, die sich vom „Gründerzeit-Neuba- Nr. 53 bewohnt Heinrich von Kleist von 1810 bis zu rock“ und der Leichtigkeit des Jugendstils in den ersten seinem Tode 1811 ein möbliertes Zimmer. Er schreibt Jahren des 20. Jahrhunderts abheben. Das Haus ist ein hier den „Prinzen von Homburg“ und die Endfassung Musterbeispiel für den Neoklassizismus um 1910. Der von „Michael Kohlhaas“. Bau wird um einige Meter zurückversetzt, um einer 1912 wird das Haus abgerissen. 1913 errichtet Carl möglichen späteren Straßenverbreiterung zu entspre- von der Heydt für seine 1895 gegründete Bank von chen. (Weitere Informationen zum Kleisthaus finden der Heydt & Co an dieser Stelle ein mehrgeschossiges Sie ab Seite 60.)

Bild oben: Das Bankhaus von der Heydt, von 1913 bis 1919 Firmensitz. Ab 1919 schließt die Bank sich mit der Bank Delbrück, Schickler & Co zusammen, in der sie nach Wirtschaftskrise und Inflation 1923 aufgeht. Bild unten: Gedenktafel am Kleisthaus. Belegt ist Kleists Ankunft in Berlin im Jahre 1809 nicht, erst ab Januar 1810 ist sie nachweisbar. 50 1871 bis 1918

Ein Reichsamt für sozialpolitische Angelegenheiten Die Geburtsstunde des Arbeitsministeriums

In den Staaten des Deutschen Bundes (1815–1866) sind Reichsamt des Innern während des Ersten Weltkriegs für „soziale Angelegenheiten“, d. h. in erster Linie immer mehr anwächst, werden die wirtschafts- und für den Arbeitsschutz, die inneren Verwaltungen sozialpolitischen Angelegenheiten 1917 dem neu zuständig. Auch nach der Reichsgründung (1871) gegründeten Reichswirtschaftsamt zugewiesen. Die ändert sich dies nicht. Das Reichskanzleramt, für die Forderungen nach einem eigenständigen Reichsamt innere Verwaltung zuständig, bearbeitet die sozi- für die sozialen Angelegenheiten bleiben aber auf alen Angelegenheiten. 1878 wird die Reichskanzlei dem Tisch. Am 4. Oktober 1918, einen Monat vor dem als Zentralbüro des Reichskanzlers eingerichtet. Das Zusammenbruch des Kaiserreichs, wird im Zuge einer bisherige Reichskanzleramt erhält ab 1879 die Bezeich- Verfassungsreform und der Bildung einer parlamen­ nung „Reichsamt des Innern“. 1880 wird die Abteilung tarisch legitimierten Regierung das Reichsarbeitsamt für „Handel und Gewerbe“ gebildet, zuständig unter unter dem der SPD-Reichstagsfraktion angehörenden anderem für die Sozialversicherungsgesetze und den ­Staatssekretär Gustav Bauer errichtet, die Geburts- Arbeitsschutz. stunde des Arbeitsministeriums. Das Reichsarbeits ­ Bestrebungen von Sozialreformern, Sozialdemokraten amt besteht zunächst nur aus drei Abteilungen: und Zentrumspartei, eine Zentralbehörde für „sozial- Abt. I Arbeiterangelegenheiten, Gewerbewesen; politische Fragen“ zu gründen, bleiben zunächst ohne Abt. II Versicherungswesen für Arbeiter und Ange- Erfolg. Als die Bearbeitung von Wirtschaftsfragen im stellte; Abt. III Wohnungs- und Siedlungswesen.

Bild oben links: Prinz Max von Baden, letzter Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs (3. Oktober – 9. November 1918). Die Regierung Max von Baden ist die erste parlamentarisch legitimierte Regierung des Kaiserreichs. Sie stützt sich auf die Reichstagsmehrheit aus Fortschrittspartei, Zentrum und SPD und leitet grundlegende Reformen ein. Bild oben rechts: Der SPD-Reichstagsabgeordnete Gustav Bauer übernimmt Anfang Oktober 1918 als Staatssekretär im Kabinett Max von Baden die Leitung des neu gegründeten Reichsarbeitsamtes. Rechte Seite: Die Errichtungsurkunde des Reichsarbeitsamtes.

52 1700 bis 1871

Die preußische Epoche 1700 bis 1871

Mit der Krönung des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. 1701 zum König Friedrich I. in Preußen beginnt Berlins preußische Epoche. Sie endet, als 1871 das Deutsche Reich gegründet wird. Es ist die Zeit Friedrichs des Großen, der französischen Revolution, der napoleonischen Kriege und der deutschen Revolution von 1848. Aber es ist auch die Zeit der industriellen Revolution und mit ihr die der „Sozialen Frage“ der Arbeiter und der ­Arbeiterbewegung. Bau­geschichtlich ist sie eine der großen Epochen der Stadt. 1737 beginnt Karl Ludwig Truchseß Graf zu Waldenburg mit dem Bau des Palais Wilhelmplatz 9. Als der Bauherr stirbt, übernimmt der Johanniter- orden das Palais und stellt es fertig.

Kleines Bild: König Friedrich Wilhelm I. schuf eine schlagkräftige Armee, führte aber keine Kriege. „Ich will der Generalfeldmarschall und Finanzminister des Königs von Preußen sein, das wird dem König von Preußen gut bekommen“, erklärte er über sich selbst. Gemälde von Antoine Pesne, um 1733. Großes Bild: Blick ins Treppenhaus der ehemaligen Ritterschaftsbank (heute Süderweiterung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales), 2008.

54 1700 bis 1871

Bild rechts: Eine Metropole mit bedeutenden Bauten entsteht: der Französische Dom (1705), das Zeughaus (1706), das Opernhaus (1743), der Deutsche Dom (1750), Prinz-Heinrich-Palais (1766), später Universität, das Schauspielhaus (1774), die Königliche Bibliothek (1780), Bran- denburger Tor (1791), die Neue Wache (1817), die Schlossbrücke (1819), das alte Museum (1823) auf der Museumsinsel. Der kolorierte Kupferstich zeigt mit Zeughaus und Prinz- Heinrich-Palais (rechts), Kronprinzenpalais und Opernhaus (links). Kupferstich von Jean Rosenberg, 1780. Karte rechts: Stadtplan .

Residenzstadt der preußischen Könige Aufstieg zur Metropole

König Friedrich I. vereinigt 1709 Berlin, Cölln, Fried- der Friedrichstadt nicht zügig vorangeht, übt der richswerder, Dorotheenstadt und Friedrichstadt zur König Druck auf den Adel aus, sich in der nörd - neuen Residenzstadt Berlin. Stadtplaner und Baumeis- lichen Wilhelmstraße anzusiedeln, die mit großen ter wie Andreas Schlüter, Carl Gotthard Langhans, Grundstücken als gehobene Wohnlage gilt. Er bietet Johann Gottfried Schadow und vor allem Karl Fried- „verschiedene Freyheiten in Gnaden“ an und wendet rich Schinkel prägen ein ebenso eindrucksvolles wie Geld und Baumaterial auf. 1737 beginnt der aus repräsentatives Zentrum. König Friedrich Wilhelm I. Süddeutschland stammende Karl Ludwig Truchseß (1713–40) legt das Stadtbild gestaltende Plätze an. Süd- Graf zu Waldenburg mit dem Bau des Palais Wilhelm- lich der Straße Unter den Linden beginnt bereits 1688 platz 9. Als der Bauherr stirbt, muss der Johanniter- die Bebauung der Friedrichstadt. orden 1737 das Palais übernehmen und stellt es fertig. Eine der neu angelegten Straßen ist die Wilhelm - Ihm verdankt es die Bezeichnung „Ordenspalais“. straße mit dem Wilhelmsmarkt. Als die Besiedelung

Vom Johanniterorden zum Prinz-Karl-Palais Schinkel gibt dem Haus ein neues Gesicht

Der Johanniterorden übernimmt das Waldenburg-­ Glanz und Höhepunkt der Stadtentwicklung fallen in Palais nicht freiwillig. König Friedrich Wilhelm I. die Zeit von Friedrich Wilhelm II. (1786–97) und Fried- verpflichtet den Orden, dem er selbst angehört, das rich Wilhelm III. (1797–1840). Die großen Baumeister, unfertige Palais als repräsentativen Sitz des Ordens allen voran Schinkel, verleihen der preußischen in Berlin fertigzustellen. Am 11. Mai 1738 ergeht die Hauptstadt einen eigenen, unverwechselbaren „Ordre“ des Königs an Markgraf Carl von Schwedt, den Charakter. Herrenmeister des Ordens: „Durchlauchtigster Fürst, 1762 geht das Ordenspalais an den neuen Herren - Freundlicher Lieber Vetter. Weilen Euer Liebden und meister Prinz Ferdinand von Preußen über, der es der Johanniterorden zu Berlin kein palais haben, so bis 1810 bewohnt. Der Orden wird 1810 aufgelöst, das habe ich gut gefunden, dass dazu des verstorbenen Palais fällt an König Friedrich Wilhelm III. 1826 über- General Majors Gr. Truchses Hauß auf der Friedrich­ nimmt der dritte Sohn, Prinz Karl, das Palais und stadt genommen und völlig ausgebaut werde.“ erwirbt das Grundstück an der Ostseite des Platzes.

Bild links: Zusammen mit dem Architekten von Knobelsdorff konzipiert Friedrich der Große nach seinem Regierungsantritt 1740 die Bebauung des östlichen Endes der Straße Unter den Linden mit Oper, Sankt-Hedwigs-Kathedrale, Prinz-Heinrich-Palais und Königlicher Bibliothek sowie einem neuen Königspalast, der aber nicht gebaut wird. Gemälde von Anton Graff, 1781. Bild Mitte: 1826 / 1827 wird das Palais des Prinzen Karl durch Schinkel umfassend umgebaut. Er lässt das hohe Dach mit dem Attika-Aufbau entfernen und gestaltet die Fassade in streng klassizistischer Form neu. Auch im Innern wird das Haus nach Schinkels Plänen umgebaut. Ansicht vor dem Umbau. Bild rechts: Stadtentwicklung Berlins bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. 1700 bis 1871 57

1738 58 1700 bis 1871

Wandel zum Regierungsviertel Aus den preußischen Palais werden Ministerien

Anfang des 19. Jahrhunderts beginnt die Entwick- näheren Umgebung umzubauen oder zu renovieren lung des Quartiers um die Wilhelmstraße zum Regie- und sie für die Regierung zu nutzen. Friedrich August rungsviertel. 1799 erwirbt der preußische Staat das Stüler wird zum meistbeschäftigten Architekten der Palais Nr. 74 als Dienstwohnung für den jeweiligen ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Berlin. Sein Lehrer Großkanzler. 1819 folgt das Palais Nr. 76 als Dienstsitz Karl Friedrich Schinkel entwarf mehrere Gebäude in für das Auswärtige Amt. Als die Räumlichkeiten der Wilhelmstraße, z.B. das Preußische Justizministe- nicht ausreichen, wechselt ein Teil des Amtes von rium. Die Wilhelmstraße wird zum zentralen, reprä- 1820 bis 1826 ins Ordenspalais Wilhelmplatz 9. Palais sentativen Ort preußischer Verwaltung und Behörden. Nr. 76 wird von mehreren, in schnellen Abständen Auch die ausländischen Vertreter am preußischen Hof ­wechselnden Außenministern bewohnt. 1862 bezieht suchen die Nähe zur Wilhelmstraße und siedeln sich als preußischer Ministerpräsident hier oder in der Umgebung (Tiergarten, Pariser Platz) und Minister der auswärtigen Angelegenheiten das an. Palais. Die preußischen Könige setzen die um 1800 begon- nene Politik fort, Palais in der Wilhelmstraße und in der

Bild unten: Das Diensthaus des Auswärtigen Amtes, Wilhelmstr. 76, Aufnahme aus den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Otto von Bismarck residierte hier von 1862 bis 1878 als Preußischer Ministerpräsident und späterer Reichskanzler. 1700 bis 1871 59

Freiheit, die ich meine Ein Ministerium für Arbeiter

Die Industrialisierung führt zu einer Vielzahl sozia- die jetzt bestehenden Gesetze sind nicht imstande, uns ler Missstände. Dazu zählen der Niedergang traditio- vor ihnen zu schützen. Wir wagen daher Ew. Majestät neller Wirtschaftsformen, ein sinkendes Lohnniveau untertänigst vorzustellen, ein Ministerium bestellen aufgrund des überbesetzten Arbeitsmarktes, Arbeits- zu wollen, ein Ministerium für Arbeiter, das aber nur zeiten von mehr als zwölf Stunden pro Tag, Nacht- von den Arbeitgebenden und Arbeitern zusammen- und Sonntagsarbeit. Es gibt keine Altersversorgung, gesetzt werden darf und dessen Mitglieder nur aus Unfallversicherung oder Schutz gegen Willkür durch beider Mitte selbst gewählt werden dürfen.“ Vorgesetzte. Die Arbeitsverhältnisse und Lebensbe­ Im Vorparlament zur Nationalversammlung in der dingungen der Lohnarbeiterschaft sind erbärmlich. Paulskirche in Frankfurt 1848 fordert der radikalde- Während der Märzrevolution 1848 fordern Arbeiter mokratische Abgeordnete Gustav Struve in seinem auf einer Versammlung im Tiergarten in Berlin in 15-Punkte-Programm: „Beseitigung des Notstandes einer Petition am 13. März: „Der Staat blüht und der arbeitenden Klassen und des Mittelstandes, Aus- gedeiht nur da, wo das Volk durch Arbeit seine Lebens- gleichung des Missverhältnisses zwischen Arbeit und bedürfnisse befriedigen und als fühlender Mensch Kapital mittels eines besonderen Arbeitsministeriums, seine Ansprüche geltend machen kann. Wir werden welches die Arbeit schützt und Anteil an dem Arbeits- nämlich von Kapitalisten und Wucherern unterdrückt; gewinn sichert.“

Bild links: Der preußischen König Friedrich Wilhelm IV. (1840–61) lehnt die ihm von der Nationalversammlung angetragene Kaiserkrone ab, „weil sie den Luder- geruch der Revolution“ trage. Bild rechts: Ausgelöst durch die revolutionären Unruhen in Frankreich im Februar 1848 wird auch in den deutschen Staaten der Ruf nach Freiheit und Einheit immer lauter. Im März 1848 kommt es zum Aufstand – in Berlin, Wien und vielen anderen deutschen Städten. Die Revolution scheitert. Doch der Ruf nach Freiheit und Einheit verhallt nicht. Die Barricade an der Kronen- und Friedrichstraße in Berlin am 18. März 1848. F.G. Nordmann, 1848.

Das Kleisthaus 61

Das Kleisthaus Ein Bankhaus wird Teil eines Ministeriums

Der Burgenbaumeister und Restaurator Bodo Ebhardt war um die Jahrhundertwende einer der erfolgreichsten Architekten Deutschlands. Nach seinen Plänen wurde das Kleisthaus von 1912 bis 1913 errichtet. Es steht für das Wiederaufleben des Neoklassizismus um 1910. An der Fassade befinden sich Reliefs von Georg Kolbe. Der mit Muschelkalk verkleidete Geschäftsbau war zunächst Sitz des ehemaligen Bankhauses von der Heydt am Rande des Berliner Bankenviertels. Das Gebäude wurde vom Architekten Prof. Kleihues, den Denkmalpflegern und den Bauausführenden wie ein Einzeldenkmal behandelt und in seiner architekturgeschichtlichen Bedeutung hoch eingeschätzt. Der vorgefundene Zustand aus DDR-Zeiten erforderte eine grundlegende Sanierung.

Großes Bild: Das glasüberdachte Foyer des Kleisthauses, 2008. Kleines Bild: Der Treppenaufgang im Kleisthaus, 2008.

Das Kleisthaus 63

Neuanfang hinter historischer Fassade

Im Zeitraum von 1997 bis 2001 wird das Kleisthaus komplett saniert und teilweise neu gestaltet. Das Kleisthaus ist heute Bestandteil des Gebäudekomplexes des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Hinter der historischen Fassade des Hauses richtete der Architekt Prof. Kleihues ein modernes Besucherzentrum ein. Das Kleisthaus ist seit 2001 außerdem Dienstsitz der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.

Der Ort für Kunst und Kultur „DA KANN JA JEDER KOMMEN!“

Das Motto „DA KANN JA JEDER KOMMEN!“ ist ernst gemeint und wird ernst genommen. Bei Kunstprojekten, Lesungen, Konzerten und Filmvorführungen begegnen sich im Kleisthaus Menschen jeden Alters mit und ohne Behinderungen. Hier wird Barrierefreiheit konsequent umgesetzt: Das Veranstaltungsprogramm ermöglicht auch Menschen mit Seh- oder Körperbehinderungen und gehörlosen Menschen mithilfe moderner Kommunikations­ technik den Zugang zu Kunst und Kultur. Zahlreiche Veranstaltungen und Ausstellungen zu Themen wie Vielfalt und Ausgrenzung tragen dazu bei, dass Menschen mit Behinderungen als selbstverständlicher Teil unserer Gesell- schaft verstanden und akzeptiert werden.

Großes Bild: Historischer Fahrstuhl im Kleisthaus, 2008. Kleines Bild: Konzertveranstaltung, 2008. 64 Kunst am Bau Kunst im Ministerium

Durch die staatliche Finanzierung von Kunst an öffent- und Kulturschaffende durch die Einbindung in neue lichen repräsentativen Gebäuden unterstreicht der öffentliche Bauprojekte zu unterstützen. 1934 wurde Staat seine kulturelle Verantwortung. Er ist damit die Beteiligung bildender Künstler und Handwerker Förderer von Kunst und Kultur. Kunst am Bau hebt an öffentlichen Bauten in einem Erlass erweitert und den nationalen kulturellen Mehrwert und kann so als konkretisiert. Diese Regelung wurde in der Bundes­ ­nationale Visitenkarte verstanden werden. republik Deutschland beibehalten. Kunst am Bau hat darüber hinaus eine kulturhisto- Aber erst die 1983 eingeführte Künstlersozialversiche- rische Bedeutung. Bereits die erste deutsche Demo- rung bietet allen selbstständigen Künstlerinnen und kratie verpflichtete sich 1928 aufgrund einer Initiative Künstlern sowie Publizisten Schutz in der Renten-, des Reichsverbandes bildender Künstler, Künstler Kranken- und Pflegeversicherung.

Bild: An der Rückwand der Eingangshalle befindet sich ein ×8 8 m großes Schachbrett aus farbigen Glasfeldern des Pariser Künstlers Daniel Buren als optischer Mittelpunkt. 66 Kunst am Bau

Diese Seite: Die Gemälde „Rest eines Traums“ und „K. im Glassaal“ des 1953 in Karls- ruhe geborenen Malers Peter Chevaliers gehören zu den zahlreichen Kunstwerken im Ministerium. Rechte Seite: Felix Droeses Bildreihe „Stiere“. Die Stiere wurden in unterschiedli- chen Farben und Auftragstechniken direkt an die Wände gemalt. Im erweiterten Sinne soll dieser das vereinte Europa darstellen. Kunst am Bau 67

Innerhalb des Gesamtkomplexes Wilhelmstraße 49 hat Kunst ihren festen Platz im Ministerium. Im glas- überdachten Innenhof des viergeschossigen, mit Muschelkalk verkleideten Massivbaus befindet sich die 2001 von Daniel Buren entworfene Stahlglasplastik „La Grande Fenêtre“. Der französische Künstler, der schon 1972 an der Documenta in Kassel teilnahm, errichtete damit einen einladenden Blickfang in der Eingangshalle des Ministeriums: Das 8 x 8 Meter große gläserne Schachbrett aus gelb-blauen Feldern soll den Betrachter mit seinen frischen Farben zur freien Inspiration anregen (siehe Seite 13). Im historischen Steinsaal ist heute das Kunstwerk „Sternenruhe“ von Peter Chevalier zu sehen. Die Werke Chevaliers sind vor allem durch eine surrealis- tische Darstellungsweise geprägt. Felix Droeses Bildreihe „Stiere“ beschäftigt sich mit der Arbeit des Ministeriums. Auf humorvolle Weise werden die Themen „Arbeit und Soziales“ hier mit der Darstellung ausdrucksstarker Tiere unterstrichen. Die Stiere wurden in unterschiedlichen Farben und Auftragstechniken direkt an die Wände gemalt. Ganz in der Tradition seines Lehrers Joseph Beuys wurde einer von ihnen aus Kuhmist, Lehm und Teerfarbe gefertigt; im erweiterten Sinne soll dieser das vereinte Europa darstellen. Symbolstark wird in Droeses Kunst- werk mit den Begriffen Kraft und Energie gearbeitet: Eine künstlerische Kraft soll positive Elemente ins ehemalige Gebäude des Propagandaministeriums tragen. „Die heutige Welt befindet sich in einem Ozean von Botschaften, deren Entzifferung immer eine ­Herausforderung an Logik und ­Kombination ist.“

Carsten Nicolai Kunst am Bau 69

Der Bibliotheksvorraum zeigt eine Arbeit aus mehre- erzeugt Barth eine spannende Komposition, die den ren Teilen von Carsten Nicolai. Der 1965 in Chemnitz Betrachter zu einer kontinuierlichen Reflexion der geborene Künstler und studierte Landschaftsarchitekt Welt einlädt. beschäftigte sich hierfür mit dem Thema Buch und Im Innenhof des Neubaus steht eine aus dem Lesen, um schließlich drei Wandbilder zu kreieren, die Zyklus „Mensch und Maß“ stammende lebensgroße auf der Verfremdung von Strichcodes basieren. Hin- Bronzefigur des Bildhauers Waldemar Otto aus dem tergrund ist die Gewichtung von Entschlüsselungsar- Jahr 2000. Der in Polen geborene und in Worps - beit als wesentlicher Bestandteil der Aufgaben von Lin- wede lebende Künstler und emeritierte Professor der guisten, Archäologen, Astronomen oder militärischen Hochschule für Gestaltung in Bremen wurde inter- Fachleuten. national bekannt durch viele Auszeichnungen und Die Werke von Thom Barth, die in direkter Anlehnung Aus­stellungen. Otto gilt als einer der bedeutendsten an die Begriffe „Arbeit“ und „Soziales“ entstanden ­figürlichen Bildhauer der Nachkriegszeit. In seinen sind, zeigen vor allem die neuere deutsche Geschichte. Werk nimmt das Verhältnis von Mensch und Umwelt Durch seine 186 kleinen und großen Zeichnungen einen zentralen Raum ein.

Bild links: Werk von Carsten Nicolai Bild rechts: Zeichnung von Thom Barth 70 Anhang

Anhang

Archiv für Kunst und Geschichte (akg): S. 25 rechts, S. 32, S. 34, S. 37 Landes- und Zentralbibliothek Berlin: S. 46 rechts, S. 41 Landesarchiv Berlin: S. 21 rechts, S. 42 unten, S. 53 Architekturbüro Kleihues+Kleihues, Berlin: S. 8 oben links, S. 8 oben Thomas Ludewig, Berlin. Geschichte einer deutschen Metropole, C. rechts, S. 11 Mitte Bertelsmann, München 1986: S. 55 Thom Barth: S. 67 Stefan Müller: S.13 oben rechts, S. 13 oben links, S. 13 unten rechts Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz (bpk): S. 33 Mitte, S, 37 links, S. 39 Neues Deutschland: S. 22 links, S. 42 oben, S. 45, S. 50, S. 52, S. 54 links, S. 56, S. 57 links, S. 57 rechts Carsten Nicolai: S. 66 Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung: S. 44 ullstein bild: S. 11 unten, S. 20, S. 25 links, S. 27, S. 39 rechts, S. 48 links, S. 48 Bundesarchiv: S. 23 links, S. 28–29, S. 38, S. 49 VEB Tourist-Verlag, Berlin / Leipzig (1986): S. 24 Bundesarchiv-Stiftung der Parteien und Massenorganisationen VG Bild-Kunst, Bonn (2019): S. 14, S. 16, S. 19, S. 26, S. 35, S. 40, S. 46, S. 51, S. der DDR: S. 23 rechts 58, S. 59, S. 60 Bundesbildstelle: S. 7, S. 15 oben links Zentralblatt der Bauverwaltung (9 / 1935): S. 31, S. 33 oben, S. 33 unten, Bundesministerium für Arbeit und Soziales: S. 15 oben rechts S. 42 Mitte, S. 54 rechts Peter Chevalier: S. 64 Romeo Deischl: S. 62-63 Der Herausgeber hat sich bis zum Produktionsschluss bemüht, alle Inhaber Felix Droese: S. 65 von Abbildungsrechten ausfindig zu machen. Personen und Institutionen, hiepler, brunier architekturfotografie: S. 6, S. 11 oben, S. 13 unten links die ­möglicherweise nicht erreicht wurden und Rechte an verwendeten Ab- Enno Hurlin, Berlin: S. 61 bildungen beanspruchen, werden gebeten, sich mit dem Herausgeber in André Kirchner: S. 65 Verbindung zu setzen. KOMPAKTMEDIEN Agentur für Kommunikation GmbH: S. 1 Eckehardt Kuntzsch, Berlin: S. 8 unten

Impressum

Herausgeber: Satz/Layout: KOMPAKTMEDIEN Agentur für Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Kommunikation GmbH, Berlin Referat Öffentlichkeitsarbeit, Internet Text: Hansen Kommunikation, Köln 11017 Berlin KOMPAKTMEDIEN Agentur für Kommunikation Stand: Oktober 2019 GmbH, Berlin

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