Die drei Pfeiler des Zen Lehre — Übung — Erleuchtung

Herausgegeben und kommentiert von Philip Kapleau

Otto Wilhelm Barth Verlag Zehnte Auflage 1994 Übersetzt aus dem Englischen von Brigitte D'Ortschy. Titel der Originalausga- be: «The Three Pillars of Zen». Published by arrangement with John Weather- hill, Inc.,. Copyright ©1965 by Philip Kapleau. Gesamtdeutsche Rechte beim Scherz Verlag, Bern und München, für das Otto Wilhelm Barth Pro- gramm. Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotomecha- nische Wiedergabe, Tonträger jeder Art und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Meinen Lehrern,

YASUTANI Rôshi, dem Meister des Tempels Taihei,

HARADA Rôshi, dem verstorbenen Abt des Klosters Hosshin, und

NAKAGAWA Rôshi, dem Abt des Klosters Ryutaku,

in Verehrung und Dankbarkeit gewidmet. Sie alle haben selbstlos die Wahrheit des Dharma zum Wohl der Menschen in Ost und West gelehrt. Inhalt

Vorwort von Huston Smith 13 Allgemeine Einführung 19

Erster Teil: LEHRE UND ÜBUNG I. Yasutani Rôshis einführende Unterweisungen zur Übung des Zen Einführung 27 Biographische Notizen über Yasutani Rôshi 53 Die Unterweisungen: 1. Stunde: Theorie und Praxis des Zazen 56 2. Stunde: Vorkehrungen beim Zazen 66 3. Stunde: Täuschende Erscheinungen und Empfindungen 71 4. Stunde: Die fünf Arten des Zen 75 5. Stunde: Die fünf Arten des Zen (Fortsetzung) 78 6. Stunde: Die drei Ziele des Zen 81 7. Stunde: Dokusan (individuelle Unterweisung) 85 8. Stunde: Shikantaza 89 Die Parabel von Enyadatta 91 9. Stunde: Ursache und Wirkung sind Eins 94 10. Stunde: Die drei wesentlichen Voraussetzungen zur Übung des Zen 96 l1.Stunde: Angestrebte Ziele 99

II. Yasutani Rôshis Kommentar zum Kôan Mu Einführung 103 Der Kommentar 113 III. Yasutani Rôshis Dokusan mit zehn Menschen des Westens Einführung 129 Die Dokusan: Schülerin A (60 Jahre alt) 145 Schüler B (45 Jahre alt) 157 Schüler C (43 Jahre alt) 159 Schülerin D (40 Jahre alt) 177 Schüler E (44 Jahre alt) 179 Schülerin F (45 Jahre alt) 180 Schüler G (25 Jahre alt) 182 Schülerin H (37 Jahre alt) 193 Schüler I (30 Jahre alt) 194 Schülerin J (33 Jahre alt) 197

IV. Bassuis Dharma-Worte und Briefe an seine Schüler Einführung 221 Dharma-Worte 228 Die Briefe: 1. An einen Mann aus Kumasaka 233 2. An die Äbtissin des Shinryu-ji 236 3. An Fürst Nakamura, Gouverneur der Provinz Aki 241 4. An einen Sterbenden 245 5. An den Laien Ippô (Homma Shôken) 246 6. An einen Mönch in der Shôbô-Einsiedelei 252 7. An die Nonne Furusawa 253 8. Erster Brief an den Zen-Priester Iguchi 256 9. Zweiter Brief an den Zen-Priester Iguchi 257 10. Dritter Brief an den Zen-Priester Iguchi 258 11. Vierter Brief an den Zen-Priester Iguchi 259 12. An eine Nonne 261

Zweiter Teil: ERLEUCHTUNG V. Acht Erleuchtungserlebnisse zeitgenössischer Japaner und Menschen des Westens Einführung 265 Die Erlebnisse: 1. Herr K. Y., Japaner, Direktor einer großen Firma 285 2. Herr P. K., Amerikaner, ehemaliger Geschäftsmann 290 3. Herr K. T., Japaner, Gartengestalter 317 4. Herr C. S., Japaner, Regierungsangestellter im Ruhestand 322 5. Frau A. M., amerikanische Lehrerin 329 6. Herr A. K., japanischer Versicherungsangestellter 337 7. Frau L. T. S., amerikanische Künstlerin 343 8. Frau D. K., Kanadierin, Hausfrau 349

VI. Yaeko Iwasaki — Briefe der Erleuchtung an Harada Rôshi und seine Anmerkungen Einführung 369 Biographischer Abriß über Harada Rôshi 374 Die Briefe und Anmerkungen: 1. Zeugnis für Kenshô 377 2. Zeugnis großer Erleuchtung 379 3. Zeugnis vertiefter Erleuchtung 383 4. Zeugnis für das unmittelbare Erleben des Großen Weges des Buddhismus 385 5. Zeugnis für das Erlangen von Fugens unbeugsamem Geist 387 6. Zeugnis von Freude und Frieden über das Eins-Sein mit dem Dharma 390 7. "Weiteres Zeugnis von Frieden und Freude über das Eins- Sein mit dem Dharma 392 8. Vorahnung des Todes 395

Dritter Teil: ERGÄNZUNGEN VII. Dôgen über «Sein-Zeit» 401 VIII. Die Zehn Ochsenbilder mit Kommentaren und Lobsprüchen 407 IX.. Körperhaltungen beim Zazen, mit Illustrationen 421 X. Wort- und Begriffserklärungen 427 Nachwort zur deutschen Übersetzung 478 Zu den dekorativen Zeichen

Die vor jedem Kapitel stehenden Zeichen sind hundert bis fünfhun- dert Jahre alte kao, phantasievolle, mit dem Pinsel geschriebene «Signaturen» oder persönliche Chiffren, wie sie oft von Zen-Priestern und anderen kultivierten Japanern für ihre literarischen oder künstle- rischen Nebenbeschäftigungen benutzt wurden. Kao haben eine nur schwache Verbindung mit der Orthographie. Sie wurden hier nicht ihrer inhaltlichen Bedeutung wegen verwendet, sondern abstrakt auf Grund ihrer dekorativen Eigenschaft. Das Kao auf dem Schutzumschlag und auf dem Titelblatt stammt von BUTCHÔ KOKUSHI, einem Zen-Meister des siebzehnten Jahrhunderts. Zur Aussprache der japanischen Wörter

Die Aussprache japanischer Wörter ist einfach: Die Konsonanten werden englisch ausgesprochen und die Vokale deutsch. Davon gibt es ein paar Ausnahmen: Das «w» wird deutsch ausgesprochen. Bei «ei» werden «e» und «i» getrennt ausgesprochen. Das «u» wird manchmal gesprochen und manchmal nicht, was allein aus den Schriftzeichen zu erklären ist, die hier nicht erörtert werden können. Wir geben der Einfachheit halber nachstehend die wenigen Wörter an, bei denen das «u» nicht oder fast nicht ausgesprochen wird: dokusan = dok'san katsu = kats' kotsu = kots' takuhatsu = takuhats' Tokusan = Tok'san Yasutani = Yas'tani

11 Vorwort

Der Überlieferung nach soll der Zen-Buddhismus im sechsten Jahr- 1 hundert mit der Reise des BODHIDHARMA von Indien nach China zum ersten Mal nach Osten gezogen sein. Sechshundert Jahre später, im zwölften Jahrhundert, wanderte er wiederum nach Osten, nach . Wird er jetzt, nachdem mehr als weitere sechs Jahrhunderte verstrichen sind, einen dritten riesigen Schritt ostwärts tun, diesmal in den Westen? Niemand weiß es. Das derzeitige Interesse des Westens an Zen zeigt sich in der Art einer Modeerscheinung, was es zum Teil auch ist. Das Interesse geht jedoch auch tiefer. Ich möchte hier anführen, welchen Eindruck Zen im Westen auf drei Männer von beträchtlichem Anse- hen gemacht hat: auf einen Psychologen, einen Philosophen und einen Historiker. Das Buch, das C. G. JUNG auf seinem Sterbebett las, war Ch'an and Zen Teachings: First Series von CHARLES LUK, und er bat seine Sekretärin ausdrücklich, dem Autor mitzuteilen, daß «er begei- stert sei... Als er las, was Hsu YUN gesagt hatte, hatte er manchmal das Gefühl, daß er selbst genau dasselbe gesagt haben könnte! Das 2 genau war ,Es'! » Auf dem Gebiet der Philosophie wird MARTIN 3 HEIDEGGERS Ausspruch zitiert: «Wenn ich (Dr. SUZUKI) recht ver- stehe, so ist es das, was ich in all meinen Schriften zu sagen ver-

1. Siehe alle hervorgehobenen Namen und Fremdwörter im 10. Kapitel. 2. Aus einem unveröffentlichten Brief von Dr. MARIE-LOUISE VON FRANZ an CHARLES LUK vom 12. September 1961. 3. Aus WILLIAM BARRET (ed.) Zen Buddhism: Selected Writings of D. T. SUZUKI, Doubleday, Garden City; Anchor Books, 1956, p. XI.

13 suchte.» LYNN WHITE ist zwar kein solcher Bildner moderner Denk- weise wie JUNG und HEIDEGGER, aber er ist ein Historiker von Rang, und er sagt voraus: «Es mag wohl sein, daß die Veröffentlichung von D. T. SUZUKIS ersten Essays in Zen Buddhismus, 1927, von künftigen Generationen als ebenso großes geistiges Ereignis angesehen wird wie WILLIAM OF MOERBEKS lateinische Übersetzung des ARISTOTELES im dreizehnten Jahrhundert oder die des PLATO durch MARSIGLIO FICINO im fünfzehnten. 4» Warum aber sollte der Westen, der zurzeit in derart hohem Maße von wissenschaftlicher Denkweise beherrscht wird, bei Anschauungen, die vor dem Anbruch neuzeitlicher Wissenschaft gebildet wurden, in die Lehre gehen? Einige meinen, die Antwort darauf liege in dem Aus- maß, in welchem die buddhistische Kosmologie das vorwegnahm, was die zeitgenössische Wissenschaft empirisch entdeckt hat. Die Paralle- len sind eindrucksvoll. Astronomische Zeit und astronomischer Raum, die das bisherige Weltbild des Westens unwiderruflich zertrümmert haben, fügen sich glatt in die Falten buddhistischer Kosmologie. Wenn wir uns vom Makrokosmos zum Mikrokosmos, vom unendlich Großen zum unendlich Kleinen wenden, so finden wir das gleiche unheimliche Vorherwissen. Während die Griechen Atome setzten, die ewig, weil nicht zusammengesetzt (a-tomas = unteilbar; das, was nicht zerlegt werden kann) waren, lehrten die Buddhisten, daß alles Stoffliche nicht von Dauer (anicca) sei, weil es aus dharmas, gleich winzig an Dauer wie an räumlicher Ausdehnung, gebildet sei - bemer- kenswert ähnlich den flüchtigen Spuren, die die Partikel auf den Oszillographen der Wissenschaftler verzeichnen. Um noch einmal auf den Makrokosmos zurückzukommen: Es sind nicht allein seine Dimensionen nach wissenschaftlicher Kosmologie, die der Buddhismus vorausahnte, sondern auch seine Gestalt. Wir kennen die Debatte um GEORGE GAMOWS «Urknall» und FRED HOY- LES «Dauerzustand» (steady state). Der erste stellt die These auf, daß das Universum die fortdauernde Folgeerscheinung der Explosion eines einzigen Ur-Atoms sei, und der zweite, daß sich das Universum schon

4. Frontiers of Knowledge in the Study of Man, Harper and Brothers, New York, 1956, pp. 304-5.

14 immer in dem uns bekannten Zustand befunden habe, wobei dauernd frischer Wasserstoff erzeugt werde, um den zu ersetzen, der durch die Rezession der Sterne, sobald sie die Lichtgeschwindigkeit überschrei- ten, entnommen wird. Die letzte Nachricht von Mount Palomar lau- tet, daß diese beiden Theorien falsch zu sein scheinen. Die Rotver- schiebungen auf den spektrographischen Aufnahmen entfernter Milchstraßen weisen darauf hin, daß diese ihren Lauf verlangsamen. Dadurch entsteht die Hypothese, daß sich das Universum, nachdem es sich eine Zeitlang ausgedehnt hat, wieder zusammenzieht, nur um diesen Zyklus endlos zu wiederholen. Anstelle der Theorien des «Ur- knalls» und des «Dauerzustands» erhalten wir die «knall... knall... knall. . .»-Theorie, wie der Harvard-Astronom HARLEY SHAPLEY es formuliert. «Sehr interessant», sagt der Buddhist, denn das ist genau das, was seine Kosmologie ihn von jeher gelehrt hat. Der Westen mag solche Beispiele der wissenschaftlichen Vorausschau des Buddhismus verblüffend finden, das aber kann die Anziehungs- kraft des Buddhismus nicht erklären. Einmal kann der Westen nicht das Gefühl haben, daß er auf dem Gebiet der Wissenschaft irgend etwas vom Buddhismus zu lernen hätte; er kann in diesem Feld den Buddhisten höchstens gute Zensuren für einige frühreife Ahnun- gen geben. Zudem ist es nicht der Buddhismus im allgemeinen, der den Westen so sehr fesselt, als vielmehr jene besondere Schule des Buddhismus, die Zen heißt. Wir verstehen die besondere Anziehungs- kraft des Zen-Buddhismus, wenn wir uns vergegenwärtigen, in wel- chem Ausmaß der Westen zurzeit von «prophetischem Glauben» belebt wird, dem Gefühl der Heiligkeit des Sollte, dem Sog der Ahnung, welcher Art die Dinge sein könnten und sein sollten, jedoch noch nicht sind. Solch ein Glaube ist von offensichtlichem Wert, aber wenn sich ihm nicht als Gegengewicht ein Sinn für die Heiligkeit des Ist zugesellt, gerät er aus dem Gleichgewicht. Wenn unsere Augen stets auf das «Morgen» gerichtet sind, so schlüpft das «Heute» unbe- merkt vorbei. Zum Westen, der bei seinem Anliegen, Himmel und Erde umzugestalten, in Gefahr ist, sich die Gegenwärtigkeit des Lebens - des einzigen Lebens, das wir wirklich haben - durch die Finger schlüpfen zu lassen, kommt Zen als Mahner und erinnert uns,

15 daß wir den Wert keines Lebens und keiner Stunde gewahr werden, wenn wir nicht Geheimnis und Schönheit unseres gegenwärtigen Lebens, unserer gegenwärtigen Stunde gewahr werden lernen. Weiterhin steht fest, daß sich der Westen durch den Zusammenbruch der Metaphysik, der natürlichen Theologie und der objektiven Offen- barung zum ersten Mal als Zivilisation dem Problem gegenüber sieht, ohne objektiv überzeugende absolute Werte zu leben - mit einem Wort: ohne Dogmen. So wie Christus über die Wasser schritt, so soll der Mensch des Westens heutzutage über das Meer des Nichts gehen, unbekümmert angesichts des Fehlens nachweislich sicherer Stützen. Während sich nun der Mensch des Westens dieser heiklen Aufgabe gegenüber sieht, hört er von Menschen jenseits des Meeres, die seit Jahrhunderten ihren Aufenthalt in der Leere genommen haben, sich darin zu Hause fühlen und ihre Freude darin finden lernten. Wie ist das möglich? Der Westen versteht das nicht, aber das Nichts, von dem er von jenseits des Meeres hört, klingt wie etwas, mit dem man zu Rande kommen muß. Zen sagt uns, daß das «Ist» heilig und die Leere Heimat ist, aber sol- che Versicherungen sind nicht Zen. Zen ist vielmehr eine Methode, um zur unmittelbaren Erfahrung der Wahrheit dieser Versicherungen zu gelangen. Und damit kommen wir zum vorliegenden Buch, denn ich kenne kein anderes, das dem Leser ein so volles Verständnis dessen vermittelt, was diese Methode ist. Es bringt erstmals auf Englisch YASUTANI Rôshis Einführende Unterweisungen zur Übung des Zen, die mit Recht in Japan höchstes Lob gewannen, da sie nach den Wor- ten eines Kommentators «die beste Einführung in den Zen-Buddhis- mus, die bisher geschrieben wurde 5», darstellen. Aber das Buch bietet noch einen anderen Gewinn, der sogar noch auffallender ist. Bis jetzt war es für jene, die sich nicht selber der Zen-Schulung unterzogen, ganz unmöglich, irgendeinen Hinweis auf das zu bekommen, was bei einem wichtigen Vorgang auf diesem Wege vor sich geht, nämlich beim dokusan - jener Reihe feierlicher, gehei- mer Begegnungen, durch die der Rôshi die Meditation des Schülers

5. RUTH FULLER SASAKI, Direktorin des First Zen Institute of America in Japan, Kyoto.

16 auf das Ziel der Erleuchtung hinführt. Man hielt den Inhalt dieser Begegnungen für zu persönlich, als daß man ihn hätte bekannt machen dürfen. Jetzt hat ein Rôshi, der davon überzeugt ist, daß unser heutiges Zeitalter neue Verfahrensweisen erfordert, gestattet, daß eine Reihe dieser Begegnungen veröffentlicht wird. Eine solche Schrift ist bisher noch nicht einmal auf Japanisch erschienen. Es bedeutet einen wichtigen Durchbruch, daß sie hier erscheinen darf. Niemand außer PHILIP KAPLEAU hätte dieses Buch schreiben können. Er kennt Zen durch zwölf Jahre intensivster Übung, von denen er drei Jahre in Soto- und Rinzai-Klostern verbrachte. Er kennt die Japaner, die ihm dabei halfen, dieses wenig bekannte Material fehler- los zu übersetzen. Er beherrscht die japanische Sprache so gut, daß er seinem Rôshi bei den Dokusan mit westlichen Schülern als Dolmet- scher dienen konnte. Durch seine jahrelangen Erfahrungen als Bericht- erstatter an Gerichtshöfen war er imstande, jene Gespräche schnell in Kurzschrift zu notieren, sobald sie zu Ende waren. Seine Schreib- weise ist klar und reizvoll. Diese Kombination verschiedener Fähig- keiten ist einzigartig. Sie hat ein bemerkenswertes Buch hervorge- bracht, das mit Sicherheit einen festen Platz in der Bibliothek der Zen-Literatur in westlichen Sprachen einnehmen wird.

HUSTON SMITH Professor für Philosophie Massachusetts Institute of Technology, USA

17 Allgemeine Einführung

Zen ist, kurz gesagt, eine Religion mit einer einzigartigen Methode der Körper-Geist-Schulung, deren Ziel sattori, also Selbst-Wesensschau1 ist. In diesem Buch habe ich versucht, den wesentlich religiösen Charak- ter und Geist von Zen zu vermitteln - ja, seine Rituale und Sym- bole, seine Anziehungskraft auf Herz wie Verstand -, denn als buddhistischer Weg zur Befreiung ist Zen mit größter Bestimmtheit eine Religion. Es gründet sich auf die höchsten Lehren des Buddha. Von Indien wurde es nach China gebracht, wo die für Zen charakte- ristischen Methoden und Techniken entwickelt wurden. Im Lauf der Jahrhunderte wurden diese Methoden dann in Japan weiter ausgebil- det. Der Zen-Buddhismus stellt somit das Ergebnis der geistigen Erfahrungen dreier großer asiatischer Kulturen dar. Im heutigen Japan ist diese Tradition noch sehr lebendig; in Zen-Tempeln, -Klö- stern und Privathäusern kann man Männer und Frauen jeden Berufes und Standes finden, die sich aktiv mit Zazen, dem Hauptgebiet des Zen, befassen. Wie jede andere große Religion geht Zen auf seiner höchsten Ebene über seine eigenen Lehren und Übungen hinaus; andererseits aber gibt es kein von diesen Übungen abgelöstes Zen. Der Versuch des Westens, Zen in ein intellektuelles Vakuum hinein zu isolieren, abgeschnitten von eben den Übungen, die seine raison d'être sind, hat ein Pseudo-Zen erzeugt, das kaum mehr als ein den Verstand kitzelnder Zeitvertreib für Intellektuelle und ein Spielzeug für «Beatniks» ist.

1. Siehe auch unter «Kenshô» im 10. Kapitel.

19 Um diese Verzerrung zu berichtigen, schien es mir am besten, ein Buch zusammenzustellen, in dem die authentischen Lehren und Übun- gen des Zen mit den Worten der Meister selbst dargelegt werden - wer denn sollte diese Methoden besser kennen als sie? - und dabei auch zu zeigen, wie sie in Geist und Leib heutiger Männer und Frauen lebendig werden. Ich habe das hauptsächlich durch einen zeitgenössi- schen Sôtô-Meister, YASUTANI Rôshi, getan; weiterhin auch durch einen Rinzai-Meister des vierzehnten Jahrhunderts, BASSUI Zenji, und durch die Berichte von japanischen und amerikanischen Zen-Anhän- gern über ihre Erleuchtung. YASUTANI Rôshis einführende Unterwei- sungen zur Übung des Zen, seine Darlegung (teishô) über das Kôan Mu und seine Einzelunterweisungen (Dokusan) für zehn seiner Schü- ler aus dem Westen bilden eine Einheit, die den gesamten Aufbau der Zen-Schulung in ihrer traditionellen Abfolge umfaßt. Wer keinen Zugang zu einem vertrauenswürdigen Rôshi finden kann, sich aber im Zen schulen will, der wird in diesen Texten ein Handbuch zum Selbst-Unterricht finden. Hier werden - wohl zum ersten Mal in einer europäischen Sprache, wie wir glauben - sowohl Sôtô- als auch Rinzai-Methoden dargelegt als ein Gesamtorganismus der Zen-Lehre, und zwar nicht akademisch, sondern aus lebendiger Erfahrung heraus. Bisher weiß der Westen wenig über Sôtô. Die bekannten Interpreten des Zen für den Westen haben in ihrer Begeisterung für Rinzai den Methoden und Lehren DÔGEN Zenjis, des Vaters des japanischen Sôtô-Zen, der nach Ansicht vieler der fruchtbarste Geist ist, den der japanische Buddhismus her- vorgebracht hat, kaum Beachtung geschenkt. Es ist daher nicht erstaunlich, daß shikantaza, der Kern von DÔGENS meditativer Schu- lung, einer großen Zahl von dem Zen zugewandten Menschen des Westens ein ziemliches Rätsel geblieben ist. In diesem Buch werden die Ziele und Methoden von Shikantaza ebenso wie die des Kôan- Zazen, der Hauptstütze der Rinzai-Sekte, von YASUTANI Rôshi, der beides in seinem eigenen Lehrsystem verwendet, maßgebend erläutert. In den Einführungen habe ich Begründungen und Ergänzungen ge- bracht, von denen ich annahm, daß sie dem Leser zum Verständnis des Inhalts helfen würden. Ich habe aber der Versuchung widerstan-

20 den, die Lehren der Meister zu interpretieren. Das hätte den Leser nur zu weiteren Interpretationen meiner Interpretationen ermutigt, und schließlich würde er sich wohl oder übel in den Treibsand von Spekulationen und Ich-Vergrößerungen hineingezogen sehen, aus dem er sich eines Tages, wenn er ernsthaft Zazen übt, schmerzhaft wieder herausziehen müßte. Aus eben diesem Grunde haben Zen-Meister stets das «Ideen-Hökern» mißbilligt. Dieses Buch verdankt vielen Menschen vieles. Zuerst und vor allem trägt es eine ungeheure Dankesschuld YASUTANI Rôshi gegenüber, dessen Lehren mehr als die Hälfte davon ausmachen und der mir gütigerweise erlaubte, sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Meine Mitarbeiter und ich, die wir alle seine Schüler sind, sind voll tiefer Dankbarkeit für seinen weisen Rat und seine groß- mütige Gesinnung, die uns all die Zeit über inspirierten. Mein besonderer Dank gilt Dr. CARMEN BLACKER von der Universi- tät Cambridge. Ihre Übersetzungen vieler Lehrvorträge von YASU- TANI Rôshi über die Zen-Übung, die sie mir an Ort und Stelle lieferte, wurden von mir in dieses Buch eingearbeitet. Zudem habe ich mir die Freiheit genommen, ohne Änderungen verschiedene Abschnitte aus ihrer Übersetzung von Teilen des gleichen Stoffes, die in der britisch- buddhistischen Zeitschrift The Middle Way veröffentlicht wurden, zu übernehmen, da ihre Ausdrucksweise derart treffend war, daß ich kaum hoffen konnte, etwas daran zu verbessern. Ich bin Dr. HUSTON SMITH, Professor für Philosophie am Massachu- setts Institut of Technology und Autor des Buches The Religions of Man, überaus dankbar für seinen unschätzbaren Rat und alle Ermu- tigungen in einem frühen Stadium des Manuskripts, wie auch für sein Vorwort. Ich erkenne dankbar die Hilfe an, die mir durch BRIGITTE D'ORTSCHY, Schülerin von YASUTANI Rôshi und Yamada Rôshi, zuteil wurde. Ihr aufmerksames Lesen des gesamten Manuskripts ver- anlaßte mich dazu, mehrere Abschnitte neu zu schreiben, was dem Buch zugute kam. Außerdem hat sie in sehr sorgfältiger Weise mein englisches Buch ins Deutsche übertragen. MEREDITH WEATHERBY und RALPH FRIEDRICH, beide bei JOHN WEA-

21 THERHILL Inc., Tokyo, zeigten sich während der Vorbereitung dieses Buches als äußerst verständnisvolle Verleger, und ich bin dankbar für ihre Hilfe. Meine Dankesschuld meiner Frau DELANCEY gegenüber ist nicht klein. In allen Stadien des Schreibens hat sie mit mir zusammenge- arbeitet, und ihre Hilfe war von großem Wert. Mehrere Jahre lang machten diese Arbeiten den größten Teil ihrer Zazen-Übung aus. Ich bin ihr auch für die Zeichnungen der Zazen-Haltungen zu Dank ver- pflichtet. Die Zehn Ochsenbilder im 8. Kapitel wurden mit freundlicher Geneh- migung des Künstlers GYOKUSEI JIKIHARA verwendet. Er ist ein hoch- geschätzter zeitgenössischer Maler in Kyoto und Laienschüler von SHIBAYAMA Rôshi, dem früheren Abt des Nanzen-Klosters, unter dem er sich mehrere Jahre lang der Zen-Übung widmete. Besondere Erwähnung behalte ich den Namen meiner beiden Mit- arbeiter bei den Übersetzungen aus dem Japanischen ins Englische vor: KYÔZÔ YAMADA und AKIRA KUBOTA. YAMADA Rôshi hat sich etwa zwanzig Jahre lang im Zen geschult. Er ist YASUTANI Rôshis Dharma-Nachfolger und vertritt ihn oft. Er hat die etwa sechs- hundert Kôans, die ihm von YASUTANI Rôshi gegeben wurden, schon vor langer Zeit gelöst und von ihm inka (das Siegel der Bestätigung) erhalten. Wir arbeiteten an folgenden Übersetzungen zusammen: an BASSUIS Dharma-Worten und den Briefen an seine Schüler; Teilen der IWASAKI-Briefe; den Kommentaren zu den Zehn Ochsenbildern; den Zitaten von Dôgen und anderen alten Meistern und dem Ab- schnitt aus DÔGENS Shôbôgenzô. Ohne seinen weisen Rat und seine großzügige Hilfe wäre meine gesamte Aufgabe unendlich viel schwie- riger, wenn nicht gar unmöglich gewesen, und ich bin ihm außer- ordentlich dankbar. AKIRA KUBOTA, mein zweiter Mitarbeiter, hat etwa fünfzehn Jahre lang unter YASUTANI Rôshi Zazen geübt und ist einer seiner Haupt- schüler. Wir übersetzten zusammen den Vortrag über das Kôan Mu, Teile der IWASAKI-Briefe und den vierten und sechsten Bericht im Kapitel über Erleuchtungs-Erlebnisse. Ich bin ihm für seine gewissen- haften Arbeiten sehr dankbar.

22 Bei unseren Übersetzungen haben wir uns bemüht, die beiden Übel einer zu freien, phantasievollen Wiedergabe wie auch einer zu exakt wörtlichen zu vermeiden. Hätten wir der ersten Versuchung nach- gegeben, so hätten wir wohl eine größere stilistische Eleganz erreicht, die hier fehlt. Das wäre aber auf Kosten jener kraftvollen Geradheit und wohlberechneten Wiederholungen gegangen, die charakteristische Züge der Zen-Lehre sind. Wenn wir uns anderseits sklavisch an den Buchstaben des Textes geklammert hätten, so hätten wir dem Sinn Gewalt angetan und damit die tiefere innere Bedeutung entstellt. Unsere Übersetzungen sind insofern interpretierend, als alle Über- setzungsarbeit stets die Wahl desjenigen Ausdrucks einschließt, den der Übersetzer unter verschiedenen möglichen Ausdrücken für den geeignetsten hält, um den Sinn des Originals zu vermitteln. Ob diese Wahl, die der Übersetzer trifft, angemessen ist oder nicht, das hängt bei einer gewöhnlichen Übersetzung von dessen sprachlicher Wendig- keit und seiner Vertrautheit mit dem Gegenstand ab. Zen-Texte fal- len jedoch in eine besondere Kategorie. Da sie ausnahmslos kurz und bündig sind und die Schriftzeichen, in denen sie geschrieben wurden, eine Vielfalt von Deutungen zulassen, wobei ein Schlüssel-Zeichen oft ganze Spektren von Vorstellungen vermittelt, wird bei der Auswahl der Bedeutungsnuancen, die einem bestimmten Zusammenhang ent- spricht, vom Übersetzer mehr verlangt als philologische Genauigkeit und ein umfassendes akademisches Wissen über Zen. Nach unserer Ansicht ist dazu nichts Geringeres erforderlich als die Ausübung des Zen und das Erlebnis der Erleuchtung. Wo beides fehlt, wird der Übersetzer fast mit Sicherheit die Klarheit verwischen und die Kraft des Originals in wichtigen Beziehungen schwächen. Es mag daher nicht unangebracht sein, darauf hinzuweisen, daß alle Übersetzer eine beträchtliche Zeit unter einem oder mehreren Mei- stern Zen geübt und ihr «Geistiges Auge» in gewissem Ausmaß geöff- net haben. Bei der Schreibweise der Namen alter japanischer Meister habe ich mich an den herkömmlichen japanischen Brauch gehalten und den buddhistischen Hauptnamen vorangesetzt. Im Falle zeitgenössischer Japaner, ob Meister oder Laien, bin ich jedoch der westlichen Sitte

23 gefolgt, nach der es gerade umgekehrt ist. Das ist auch die Art, wie sie selbst ihre Namen auf Englisch schreiben. Wo ein Titel unmittel- bar auf einen Namen folgt, wie bei YASUTANI Rôshi oder DÔGEN Zenji, habe ich um des Wohlklangs willen Namen und Titel in her- kömmlichem japanischem Stil, wie hier gezeigt, geschrieben. Für Fachausdrücke und Namen des Zen und besondere buddhistische Bezeichnungen, die im Text nicht definiert werden, findet man Erklä- rungen im Wörterverzeichnis, 10. Kapitel. Während das Buch dem natürlichen Gang von Lehre, Übung und Erleuchtung folgt, kann doch jedes Kapitel, da es in sich selbst voll- ständig ist, herausgegriffen und nach Wahl des Lesers für sich gele- sen werden. Alle Fußnoten, außer den von Frau D'Ortschy eingefügten (bezeich- net mit: D. Übers.) stammen von mir.

Kamakura, 8. Dezember 1964 PHILIP KAPLEAU

24 Erster Teil Lehre und Übung Erstes Kapitel Yasutani Rôshis einführende Unterweisungen zur Übung des Zen

Einführung

Menschen des Westens, die gerne Zen üben möchten, jedoch keinen Zugang zu einem fähigen Meister haben, haben sich stets einem erschwerenden Hindernis gegenüber gesehen: der Spärlichkeit schrift- licher Anweisungen über das, was Zazen ist, und wie man damit beginnen soll und es durchführen kann1. Dieser Mangel beschränkt sich nicht allein auf Englisch und andere europäische Sprachen. In den Schriften alt-chinesischer und -japanischer Zen-Meister, die auf uns gekommen sind, findet sich nur wenig über die Theorie des Zazen oder über die Beziehung von Zazen und Erleuchtung. Es gibt weiterhin auch kaum detaillierte Unterweisungen über so grund- legende Dinge wie Sitzhaltungen, Regelung des Atems, Konzentration des Geistes, sowie genaue Angaben hinsichtlich des Auftretens von täuschenden Erscheinungen und Empfindungen. Daran ist nichts Sonderbares. Zazen-Sitzen und Meditation waren in ganz Asien als bewährter Pfad zu geistiger Befreiung derart aner- kannt, daß kein Zen-Buddhist zuerst einmal hätte überzeugt werden müssen, daß er dadurch seine Konzentrationskraft entwickeln, Sammlung und Ruhe des Geistes erreichen und schließlich, falls sein Streben rein und stark genug war, zur Selbst-Wesensschau (Kenshô) kommen könne. Deshalb bekam ein Suchender einfach ein paar

1. Zazen ist keine Meditation; deshalb haben wir durchwegs das japanische Wort beibehalten. Seine genaue Bedeutung wird im Verlauf des Buches klar werden.

27 mündliche Anweisungen, wie er seine Beine zu verschränken, seinen Atem zu regeln und seinen Geist zu konzentrieren habe. Im Verlauf schmerzhafter Prüfungen und Irrtümer und periodischer Dokusan mit seinem Lehrer lernte er schließlich auf reinem Erfahrungswege nicht allein richtig sitzen und atmen, sondern auch innere Bedeutung und Absicht des Zen verstehen. Da dem heutigen Menschen aber, wie YASUTANI Rôshi hervorhebt, der Glaube und brennende Eifer seiner Vorgänger im Zen fehlen, braucht er eine Wegkarte, der sein Verstand vertrauensvoll folgen kann, und die ihm seine ganze geistige Reise vorzeichnet, ehe er zu- versichtlich an die Sache herangehen kann. Aus diesem Grunde ver- faßte HARADA Rôshi, YASUTANI Rôshis eigener Lehrer, vor etwa vierzig Jahren eine Reihe einführender Anleitungen zur Zen-Übung, und es ist jener Stoff, der die Grundlage für YASUTANI Rôshis Unter- weisungen bildet. Die vorliegende Übersetzung ist eine Zusammenstellung einiger sol- cher Unterweisungen, wie YASUTANI Rôshi sie in den letzten Jahren, ohne schriftliche Unterlagen, für Anfänger gehalten hat. Kein neuer Schüler wird zum Dokusan angenommen, ehe er sie nicht alle gehört hat. Diese Vorträge (teisho) sind mehr als nur Anweisungen über die for- malen Seiten des Zazen, also Sitzweise, Atmung und Konzentration. Sie enthalten vielmehr eine gültige Darlegung der fünf Ebenen des Zen, seiner Ziele, seines wesentlichen Gehalts und der überaus wich- tigen Beziehung von Zazen und Erleuchtung (satori). Mit ihnen als Karte und Kompaß an der Hand braucht der ernsthaft Suchende nicht auf den gefährlichen Nebenwegen des Okkulten, des Spiritisti- schen oder des Aberglaubens herumzutappen; er vergeudet damit nur seine Zeit, und diese Nebenwege erweisen sich oft als schädlich. Er kann vielmehr direkt einem sorgfältig abgesteckten Kurs folgen, sicher im Wissen um sein letztes Ziel. Hier wird man keinen Bericht über Geschichte und Entwicklung des Zen finden, keine Interpretation des Zen vom Standpunkt der Philo- sophie oder Psychologie aus und keine Erwägungen über den Einfluß von Zen auf Bogenschießen, , Haiku-Dichtung oder irgendeine

28 andere japanische Kunst. Solche am Rande liegenden Tatsachen wer- den von YASUTANI Rôshi wohlweislich weggelassen, da sie keinen rechtmäßigen Platz in der Zen-Übung einnehmen und nur den Sinn des Übenden unnötig mit Ideen belasteten, die ihn hinsichtlich seiner Ziele verwirren und von seinem Drang zu üben ablenken würden. Yasutani Rôshi betont nachdrücklich die religiöse Seite des Zen, also den Glauben als Vorbedingung zur Erleuchtung. Das dürfte für west- liche Leser, die durch Gelehrte ohne wirkliche Einsicht in Zen vor- wiegend an «intellektuelle Vorstellungen» von Zen gewöhnt sind, eine Überraschung bedeuten. Zum größten Teil leitet sich diese betont religiöse Haltung aus den Lehren von DÔGEN Zenji ab, einer der wahrhaft imponierenden religiösen Gestalten der japanischen Ge- schichte. Er brachte die Lehren der Sôtô-Sekte des Zen-Buddhismus von China nach Japan. Ohne wenigstens in Umrissen etwas über DÔGENS Lebensumstände zu wissen, die ihn veranlaßten, Mönch zu werden, sich Zen anzuschließen und nach China zu reisen, wo er schließlich tiefe Erleuchtung erlangte, dürfte es schwer sein, die Leh- ren des Sôtô-Zen, die den Kern von YASUTANI Rôshis eigenen Lehren ausmachen, zu verstehen. DÔGEN, in aristokratischer Familie geboren, gab schon als Kind Beweise seines glänzenden Geistes. Es wird berichtet, daß er als Vier- jähriger chinesische Dichtung und als Neunjähriger eine chinesische Abhandlung über den Abhidhamma las. Die Trauer, die er beim Tode seiner Eltern empfand - sein Vater starb, als er drei, seine Mutter, als er acht Jahre alt war -, prägte zweifellos seiner empfänglichen Seele eindrucksvoll die Vergänglichkeit des Lebens ein und veranlaßte ihn, Mönch zu werden. Er begann sein Noviziat auf Hieizan, dem Zentrum des scholastischen Buddhismus im mittelalterlichen Japan. Er studierte dort in den folgenden Jahren die Tendai-Lehren des Buddhismus. Als er fünfzehn Jahre alt war, wurde ihm eine brennende Frage zum Kernpunkt, um den all seine geistigen Anstrengungen kreisten: «Wenn, wie die Sûtras sagen, unser Wesenskern Bodhi (Vollkommenheit) ist, warum mußten dann alle Buddhas um Erleuchtung und Vollkommen- heit ringen?»

29 Seine Unzufriedenheit mit den Antworten, die er auf Hieizan erhielt, führten ihn schließlich zu EISAI Zenji, der die Lehren der Rinzai- Sekte des Zen-Buddhismus von China nach Japan gebracht hatte. EISAIS Antwort auf DÔGENS Frage lautete: «Kein Buddha ist sich der Existenz dessen (d. h. des Wesenskerns) bewußt, während die Tier-Ähnlichen (d. h. die in völliger Verblendung Lebenden) sich dessen bewußt sind.»

Mit anderen Worten: Buddhas, gerade weil sie Buddhas sind, denken nicht mehr daran, ob sie Wesensvollkommenheit haben oder nicht; nur die Verblendeten denken in solchen Bezeichnungen. Bei diesen Worten erlebte DÔGEN eine innere Wesensschau, die seinen tief wur- zelnden Zweifel löste. Aller Wahrscheinlichkeit nach fand dieses Gespräch bei einem in aller Form abgehaltenen Dokusan zwischen EISAI und DÔGEN statt. Man muß sich dabei vergegenwärtigen, daß dieses Problem DÔGEN seit langem umgetrieben und ihm keine Ruhe gelassen hatte, so daß es nur der Worte EISAIS bedurfte, um in seinem Innern einen Zustand der Erleuchtung auszulösen. Daraufhin begann DÔGEN unter EISAI seine Schulung, die jedoch nur kurz sein sollte. EISAI starb noch innerhalb des gleichen Jahres, und sein ältester Schüler MYOZEN wurde sein Nachfolger. In den acht Jahren, die DÔGEN mit MYOZEN verbrachte, löste er eine beträcht- liche Anzahl Kôans und erhielt schließlich Inka. Trotz all des Erreichten fühlte sich DÔGEN geistig noch immer unbe- friedigt, und diese Unruhe veranlaßte ihn, die damals gefahrvolle Seereise nach China zu unternehmen, auf der Suche nach vollkom- menem Seelenfrieden. Er verweilte in all den bekannten Klöstern, übte sich unter vielen Meistern, aber sein Verlangen nach vollstän- diger Befreiung blieb ungestillt. In dem berühmten T'ien-t'ung-Klo- ster, das gerade einen neuen Meister erhalten hatte, errang er schließ- lich volle Erleuchtung, also Befreiung von Leib und Seele, durch folgende, von seinem Meister NYOJÔ geäußerten Worte: «Ihr müßt Leib und Seele2 fallen lassen.»

2. englisch «mind», japanisches Äquivalent: shin - kokoro.

30 NYOJÔ soll diese Worte zu Beginn einer nach allen Regeln durchge- führten, tagelangen Zazen-Übung (sesshiri) am frühen Morgen geäu- ßert haben, als er seine Inspektionsrunde machte. Als NYOJÔ einen Mönch erblickte, der am Einschlafen war, wies er ihn seiner mangeln- den Hingabe wegen zurecht: «Ihr müßt euch mit aller Macht anstrengen, ja sogar euer Leben dabei aufs Spiel setzen. Um vollkommene Erleuchtung zu erleben, müßt ihr Leib und Seele fallen lassen.» (d. h. leer werden von allen Vorstellungen des Leibes und der Seele3.) Als DÔGEN diese letzten Worte hörte, weitete sich sein Geistiges Auge in einer Flut von Licht und Verstehen. Später erschien DÔGEN dann in NYOJÔS Raum, zündete ein Räucher- stäbchen an (eine zeremonielle Geste, die wichtigen Gelegenheiten vorbehalten ist) und warf sich der Sitte gemäß vor seinem Meister nieder. «Warum zündet Ihr ein Räucherstäbchen an?» fragte NYOJÔ. Es ist klar, daß NYOJÔ, der ein erstklassiger Meister war, DÔGEN viele Male beim Dokusan empfangen hatte und deshalb den Zustand seines Inne- 4 ren genau kannte, sofort aus DÔGENS Gang, seinem Kniefall und dem begreifenden Ausdruck seiner Augen wahrnehmen konnte, daß er Große Erleuchtung erfahren hatte. Zweifellos aber wollte NYOJÔ sehen, was für eine Erwiderung seine so unschuldig klingende Frage hervorrufen würde, damit er das Ausmaß von DÔGENS Satori fest- stellen konnte. «Ich habe das Abfallen von Leib und Seele erlebt», entgegnete DÔGEN. NYOJÔ rief aus: «Ihr habt Leib und Seele fallen lassen; Leib und Seele sind fürwahr abgefallen!»

3. Über die Bedeutsamkeit eines einzigen Wortes oder Satzes zum Durchbruch von Satori siehe auch S. 139. 4. Bei diesem Kniefall läßt man sich auf die Knie nieder, neigt den Oberkörper vor, so daß man mit der Stirn den Boden zwischen den aufruhenden Ellbogen berührt. Aus dieser Stellung hebt man die Hände, Handflächen nach oben gekehrt, ein wenig an, was bedeutet, daß man die Füße des Buddha in Empfang nimmt.

31 DÔGEN aber hielt ihm entgegen: «Gebe der Rôshi mir seine Bestäti- gung nicht so leichthin!» «Ich bestätige Euch nicht so leichthin.» DÔGEN aber beharrte: «Zeige der Rôshi mir, daß er mich nicht leicht- hin bestätigt.» Und NYOJÔ wiederholte: «Dies heißt Leib und Seele fallen lassen», indem er es demonstrierte. Daraufhin warf DÔGEN sich wiederum vor seinem Meister nieder zum Zeichen der Verehrung und Dankbarkeit. «Das heißt ,Fallenlassen' fallengelassen», fügte NYOJÔ hinzu. Es ist beachtenswert, daß DÔGEN sogar mit dieser tiefgreifenden Erfahrung noch zwei weitere Jahre seine Zazen-Übungen in China fortsetzte, ehe er nach Japan zurückkehrte. 5 Zur Zeit seiner Großen Erleuchtung übte DÔGEN Shikantaza , eine Art des Zazen, die weder ein Kôan, noch das Zählen oder Verfolgen der Atemzüge einschließt. Nun ist die eigentliche Grundlage von Shikantaza der unerschütterliche Glaube, daß es die Verwirklichung und Entfaltung des uns allen innewohnenden Bodhi-Geistes ist, zu sitzen, wie der Buddha saß, den Sinn leer von allen begrifflichen Vor- stellungen, von allen Ansichten und Gesichtspunkten. Außerdem unter- nimmt man mit diesem Sitzen im Glauben, daß es eines Tages ganz plötzlich im unmittelbaren Gewahrwerden des wahren Wesens dieses Geistes, mit anderen Worten, in der Erleuchtung kulminieren wird. Deshalb ist es ebenso unnötig wie unerwünscht, bewußt nach Satori oder irgendeinem anderen Vorteil durch Zazen zu streben. Ja der bewußte Gedanke «Ich muß Erleuchtung finden» kann ebenso zum Hindernis werden wie alles andere, was einem durch den Sinn geht. Beim echten Shikantaza kann man keins dieser beiden Elemente des Glaubens entbehren. Wollte man die Satori-Erfahrung von Shikan- taza ausschließen, so würde das besagen, daß man die außerordent- lichen Anstrengungen des Buddha, Erleuchtung zu erreichen, als bedeutungslos oder gar masochistisch brandmarkt und die qualvollen Bemühungen DÔGENS und der Patriarchen in gleichem Sinne bestrei-

5. Siehe YASUTANI Rôshis Beschreibung von Shikantaza auf S. 89-91.

32 tet. Dieser Zusammenhang von Satori und Shikantaza ist von größ- ter Bedeutung. Unglücklicherweise ist das oft mißverstanden wor- den, besonders von Menschen des Westens, denen das schriftliche Gesamtwerk DÔGENS unzugänglich ist. So geschieht es des öfteren, daß jemand aus dem Westen als Schüler zu einem Sôtô-Tempel oder -Kloster kommt, in dem man im Rahmen der Lehre Kôans anwendet. Er macht dann dem Rôshi Vorstellungen darüber, daß er ihm ein Kôan zugewiesen hat, weil das Ziel der Kôans doch Erleuchtung sei; da nun aber alle von Anbeginn erleuchtet seien, so argumentiert er, bestehe kein Anlaß, Satori anzustreben. Deshalb bittet er, Shikantaza üben zu dürfen, das, wie er meint, das Erlebnis der Erleuchtung nicht einschließe6. Solche Haltung zeigt nicht allein Mangel an Vertrauen in das Urteil des Lehrers, sondern auch eine grundsätzlich falsche Auffassung vom Wesen und von den Schwierigkeiten des Shikantaza, ganz zu schwei- gen von den in Sôtô-Tempeln und -Klöstern angewandten Lehr- methoden. Wenn man die einführenden Unterweisungen und die Dokusan zwischen YASUTANI Rôshi und zehn seiner westlichen Schü- ler aufmerksam liest, wird einem klar, warum echtes Shikantaza von einem gänzlichen Neuling nicht erfolgreich durchgeführt werden kann. Er muß ja erst noch lernen, mit Festigkeit und Gleichmut zu sitzen; sein Eifer muß immer wieder durch gemeinschaftliches Sitzen und durch Ermutigungen seitens des Lehrers angefeuert werden; und vor allem fehlt ihm oft noch der starke Glaube an seinen eigenen Bodhi-Geist und damit auch die hingebungsvolle Entschlossenheit, dessen Realität im täglichen Leben zu erfahren. Da heutige Gläubige, wie Zen-Meister behaupten, im großen und gan- zen mit weit geringerem Eifer die Wahrheit suchen, und weil die Hin- dernisse, die dem Üben entgegenstehen, durch die vielfältigen Ver- flechtungen moderner Lebensweise weit zahlreicher sind, weisen fähige Sôtô-Meister einem Anfänger nur selten Shikantaza zu. Sie ziehen es vor, ihn zunächst durch Konzentration auf das Zählen der Atemzüge zu innerer Sammlung zu bringen, oder aber, wenn er den

6. Siehe solche Einstellung eines Anfängers auf S. 189.

33 brennenden Wunsch nach Erleuchtung hat, seinen diskursiven Intel- lekt durch Auferlegen eines Zen-Problems (d. h. eines Kôans) zu erschöpfen und so den Weg zum Kenshô zu bahnen. Das Kôan-System ist also beileibe nicht auf die Rinzai-Sekte be- schränkt, wie viele meinen. YASUTANI Rôshi ist nur einer aus einer Anzahl von Sôtô-Meistern, die im Rahmen ihres Unterrichts Kôans verwenden. GENSHU WATANABE Rôshi, der frühere Abt des Sôji-Ji, eines der beiden Haupttempel der Sôtô-Sekte, benutzte beständig Kôans, und im Kloster Hosshin-Ji, dessen Abt der erlauchte HARADA Rôshi war, werden Kôans ebenfalls viel angewendet. Auch DÔGEN selbst schulte sich, wie wir gesehen haben, acht Jahre lang am Kôan-Zen, ehe er nach China fuhr und dort Shikantaza übte. Und obgleich DÔGEN nach seiner Rückkehr nach Japan ausführlich über Shikantaza schrieb und es dem engsten Kreis seiner Schüler empfahl, so darf doch nicht vergessen werden, daß es sich bei diesen Schülern um hingebungsvolle Wahrheitsucher handelte, für die es nicht der Kôans bedurfte, um sie zur Weiterführung ihrer Übungen zu ermutigen. Ungeachtet des Nachdrucks, den DÔGEN auf Shikan- taza legte, stellte er doch eine Sammlung von dreihundert bekannten Kôans7 zusammen, deren jedes er mit seinem eigenen Kommentar versah. Daraus dürfen wir ebenso wie aus seinem Hauptwerk Shôbô- genzô (Schatzkammer des Auges des wahren Dharma), das eine Anzahl Kôans enthält, schließen, daß er bei seinem Unterricht wirk- lich Kôans anwandte. Satori-Erwachen war nach DÔGENS Auffassung nicht das Ein und Alles, das einen Abschluß bedeutet. Er sah es vielmehr als die Grund- lage für ein großartiges Bauwerk an, dessen vielstöckiger Aufbau der Vervollkommnung von Charakter und Persönlichkeit des geistig ent- wickelten Menschen entspricht, des Menschen von hoher Moral und allumfassender Barmherzigkeit und Weisheit. Nach DÔGENS Lehre kann solch eindrucksvolles Bauwerk nur auf der festen Grundlage eines unwandelbaren inneren Wissens, wie es Satori vermittelt, durch jahrelang getreulich geübtes Zazen errichtet werden.

7. Nempyo Sambyaku Soku (Dreihundert Kôans mit Kommentaren).

34 Was also ist Zazen, und in welcher Beziehung steht es zu Satori? DÔGEN lehrte, daß Zazen «der Torweg zu vollkommener Befreiung» sei und KEIZAN Zenji, einer der großen japanischen Sôtô-Patriarchen, erklärte, daß allein durch Zen-Sitzen der «Geist des Menschen er- 8 leuchtet» wird. DÔGEN schrieb an anderer Stelle: «Sogar der Buddha, der ein geborener Weiser war, saß bis zu seiner höch- sten Erleuchtung sechs Jahre lang Zazen, und eine geistig so überragende Gestalt wie BODHIDHARMA saß neun Jahre lang, das Gesicht der Wand zugekehrt 9.»

Genau so machten es DÔGEN und all die anderen Patriarchen. Wenn sich nämlich Füße, Beine, Arme, Hände, Rumpf und Kopf geordnet und unbeweglich in der herkömmlichen Lotushaltung10 befinden, der Atem geregelt ist, die Gedanken methodisch zur Ruhe gebracht werden, wenn Kontrolle über die Empfindungen und Stär- kung des Willens entwickelt und tiefe Stille im innersten Bereich der Seele erzeugt wird - mit anderen Worten: wenn man Zazen übt -, dann sind die besten Vorbedingungen geschaffen, um den Herzgeist zu schauen und das wahre Wesen des Daseins zu entdecken. Obgleich Sitzen die Grundlage von Zazen ist, so handelt es sich dabei doch nicht einfach um irgendeine Art des Sitzens. Es genügt nicht, daß der Rücken gerade aufgerichtet, die Atmung richtig geregelt, die Gedanken gestillt werden und der Geist durch besondere Konzentra- tion gesammelt wird, sondern man muß auch, nach DÔGEN, mit einem Gefühl der Würde und Hoheit sitzen, in sich ruhend wie ein Berg oder eine riesige Kiefer und mit dem Gefühl der Dankbarkeit dem Buddha und den Patriarchen gegenüber, die den Dharma offenbarten. Und wir sollen für unseren menschlichen Körper dankbar sein, der uns das Erlebnis der Wirklichkeit des Dharma in all seiner Tiefe ermöglicht. Dieses Gefühl von Würde und Dankbarkeit ist zudem nicht auf das Sitzen beschränkt, es soll vielmehr jede Tätigkeit besee-

8. In seinem Tukan Zazengi (Ratschläge zu Zazen für die Allgemeinheit). 9. BODHIDHARMAS Beispiel folgend, sitzen Sôtô-Anhänger mit dem Gesicht zur Wand oder zum Vorhang. In der Rinzai-Tradition sitzt man sich, durch die Weite des Raumes getrennt, in zwei Reihen gegenüber, den Rücken der Wand zugekehrt. 10. Siehe S. 61 und 9. Kapitel.

35 len; denn sofern jede Handlung aus dem Bodhi-Geist heraus geschieht, hat sie die der Buddhaschaft eigene Reinheit und Würde. Diese ange- borene Würde des Menschen zeigt sich physiologisch an seinem auf- rechten Rücken, denn von allen Geschöpfen hat allein der Mensch die Fähigkeit, seine Wirbelsäule senkrecht zu halten. Es gibt noch andere wichtige Zusammenhänge zwischen einem aufrechten Rücken und richtigem Sitzen, die in diesem Kapitel an anderer Stelle erörtert werden. Zazen im weitesten Sinn umfaßt also mehr als richtiges Sitzen allein. Es ist ebenfalls Zazen, sich jeder Handlung mit voller Aufmerksam- keit und klarer Bewußtheit zu widmen. Nach einem frühen Sûtra hat der Buddha selbst Anweisung gegeben, wie das zu erreichen sei: «Bei dem, was gesehen wird, darf es nur das Gesehene geben; bei dem, was gehört wird, darf es nur das Gehörte geben; bei dem, was empfunden wird (wie bei Geruch, Geschmack, Berührung), darf es nur das Empfundene geben; bei dem, was gedacht wird, darf es nur das Gedachte geben 11.» Die Bedeutung ,geistigen Eingerichtetseins' und ungeteilter Aufmerk- samkeit wird an folgender Anekdote klar: Eines Tages sagte ein Mann aus dem Volk zu Zen-Meister IKKYÛ: «Meister, wollt Ihr mir bitte einige Grundregeln der höchsten Weisheit auf- schreiben?» IKKYÛ griff sofort zum Pinsel und schrieb: «Aufmerksamkeit.» «Ist das alles?» fragte der Mann. «Wollt Ihr nicht noch etwas hinzufügen?» IKKYÛ schrieb daraufhin zweimal hintereinander: «Aufmerksamkeit. Auf- merksamkeit.» «Nun», meinte der Mann ziemlich gereizt, «ich sehe wirklich nicht viel Tiefes oder Geistreiches in dem, was Ihr gerade geschrieben habt.» Daraufhin schrieb IKKYÛ das gleiche Wort dreimal hintereinander: «Auf- merksamkeit. Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit.» Halb verärgert begehrte der Mann zu wissen: «Was bedeutet dieses Wort ,Aufmerksamkeit' überhaupt?» Und IKKYÛ antwortete sanft: «Aufmerksamkeit bedeutet Aufmerksam- keit 12.»

11. Udāna I, 10 (Übersetzung ins Englische von Nyanaponika Thera). 12. Aus Zensô Mondô (Dialoge von Zen-Meistern), ins Englische übersetzt von Kuni Matsuo und E. Steinilber-Oberlin.

36 Für den Durchschnittsmenschen, dessen Geist ein Schachbrett voll kreuz und quer laufender Überlegungen, Meinungen und Vorurteile ist, ist ungeteilte Aufmerksamkeit im Grunde unmöglich. Sein Leben ist also nicht in der Wirklichkeit selbst verankert, sondern in seinen Vorstellungen davon. Indem nun der Sinn voll und ganz auf jedes einzelne Ding, auf jede einzelne Handlung gerichtet wird, entkleidet Zazen ihn aller abseitigen Gedanken und erlaubt ihm, mit dem Leben in vollen Einklang zu kommen. Zazen im Sitzen und Zazen in Bewegung sind zwei gleich dynamische Funktionen, die sich wechselseitig stärken. Demjenigen, der täglich mit Hingabe Zazen sitzt, den Geist frei von allen unterscheidenden Gedanken, fällt es leichter, sich seinen täglichen Aufgaben rückhaltlos zu widmen; und demjenigen, der jede Tätigkeit mit voller Aufmerk- samkeit und klarer Bewußtheit vollzieht, fällt es beim Sitzen weniger schwer, Leere des Geistes zu erreichen. Der Schüler beginnt Zazen mit dem Zählen der ein- und ausgehenden Atemzüge, während er bewegungslos in der Zazen-Haltung sitzt. Das ist der erste Schritt zur Beruhigung der Körperfunktionen wie des diskursiven Denkens und zur Stärkung der Konzentration. Diese Übung wird deshalb als erste gegeben, weil beim Zählen der in natür- lichem Rhythmus mühelos ein- und ausgehenden Atemzüge der Geist sozusagen eine Stütze hat. Wenn die Konzentration auf die Atmung so gut geworden ist, daß sie zu klarem, bewußtem Zählen geführt hat und man dabei nicht den Faden verliert, dann kommt der nächste Schritt: Eine etwas schwierigere Zazen-Art wird angewiesen; dabei folgt man der Ein- und Ausatmung, wiederum im natürlichen Rhyth- mus, mit dem geistigen Auge. Der glückselige Zustand, der sich aus der Konzentration auf den Atem ergibt, und der Wert des Atems im 13 Hinblick auf die geistige Entwicklung werden von Lama GOVINDA klar dargelegt: «Aus diesem Zustand völligen geist-körperlichen Gleichgewichts und der daraus resultierenden inneren Harmonie erwächst jene innere Heiterkeit

13. LAMA ANAGARIKA GOVINDA, Grundlagen tibetischer Mystik, O. W. Barth Verlag, München, 41975, S. 174 f.

37 und Beseligung, die - ebenso wie eine Quelle in einem Bergsee das ganze Wasser mit erfrischender Kühle durchdringt - den ganzen Körper mit Glücksgefühl erfüllt... Hier wird also der Atem zum Träger seelischer Empfindung, zum Vermittler zwischen Psychischem und Physischem ... Dies ist der erste Schritt zur Erhebung des Körpers aus dem Zustand eines mehr oder weniger passiven, unbewußt funktionierenden grob-stofflichen Organismus zu einem Vehikel und Werkzeug vollkommener Geistesentfal- tung, wie es in der Vollkommenheit des strahlenden Buddhakörpers an- schaulich demonstriert wird... Die wichtigste Erkenntnis, die sich für uns aus der Ausübung des ânâpâna-sati14 ergibt, ist die Tatsache, daß die Atmung das Bindeglied zwischen bewußten und unbewußten, grobstoffli- chen und feinstofflichen, automatischen und willentlichen Funktionen ist und damit der vollkommene Ausdruck der Natur alles Lebendigen.» Bis jetzt haben wir über ein Zazen ohne Kôan gesprochen. Kôan- Zazen umfaßt sowohl bewegungsloses Sitzen, bei dem der Geist mit aller Intensität das Kôan zu durchdringen sucht, wie auch Zazen in Bewegung, bei dem die Versunkenheit in das Kôan weitergeht, wäh- rend man arbeitet, spielt oder gar schläft. Durch intensive Selbst- Erforschung - z. B. indem man sich fragt «Was ist Mu?» - wird der Geist allmählich aller täuschenden Vorstellungen entkleidet, die anfangs seine Bemühungen, mit dem Kôan eins zu werden, behindern. Wenn diese abstrakten Vorstellungen wegfallen, erstarkt die Kon- zentration. Man mag fragen: «Wie kann man sich denn hingebungsvoll über ein Kôan befragen und gleichzeitig den Sinn auf eine Arbeit, die Genauig- keit erfordert, richten?» Nun geschieht es im Lauf der Übung in Wirklichkeit jedoch, daß das Nachforschen im Unterbewußtsein un- ablässig weitergeht, sobald das Kôan von Herz und Geist Besitz ergriffen hat, wobei seine Kraft, sich in uns festzusetzen, der Stärke unseres Dranges nach Befreiung entspricht. Solange Verstand oder Gefühl mit einer bestimmten Aufgabe beschäftigt sind, verschwindet die Frage aus unserem Bewußtsein, sie kommt aber sofort wieder zum Vorschein, wenn die Tätigkeit beendet ist, ganz ähnlich einem fließen- den Strom, der hier und da im Boden verschwindet und dann wieder

14. ânâpâna-sati (Pāli) = bewußte Achtsamkeit hinsichtlich des Atmens. D. Übers.

38 hervorkommt und im Freien seinen Fortgang nimmt, ohne daß dabei sein Dahinfließen unterbrochen würde. Zazen darf nicht mit Meditation verwechselt werden. Meditation schließt zumindest anfangs ein Fixieren des Geistes auf eine Idee oder ein Objekt ein. Bei einigen Arten buddhistischer Meditation stellt sich der Meditierende bestimmte Urformen vor, er sinnt darüber nach oder analysiert sie, wobei er sie unter Ausschluß alles anderen im Geist festhält. Er kann sich auch auf die von ihm selbst geschaffene bildhafte Vorstellung eines Buddha oder Bodhisattva konzentrieren oder über so abstrakte Eigenschaften wie liebende Freundlichkeit oder Erbarmen meditieren. Im buddhistisch-tantrischen Meditationssystem stellt man sich Mandalas vor, die verschiedene Keimsilben des Sanskrit Alphabets enthalten, und sinnt in der vorgeschriebenen Weise darüber nach. Es werden auch Mandalas, auf denen sich Buddhas, Bodhisattvas und andere Gestalten in bestimmter Anord- nung finden, zu Meditationszwecken benutzt. Die Einzigartigkeit von Zazen liegt in folgendem: Der Geist wird dabei aus der Knechtschaft aller und jeglicher Gedankenformen, Visionen, Dinge und Vorstellungen befreit, wie heilig und erhaben sie auch sein mögen, und in einen Zustand vollkommener Leere versetzt, aus dem allein heraus er eines Tages seines eigenen wahren Wesens oder des Wesens des Weltalls innewerden kann. Man kann daher, genau genommen, solch einführende Übungen wie das Zählen oder Verfolgen der Atemzüge nicht als Meditation bezeichnen, da sie keine bildhafte Vorstellung eines Dings, noch die Kontemplation über eine Idee einschließen. Aus dem gleichen Grunde kann man auch das Kôan-Zazen nicht als Meditation ansprechen. Ob sich nun jemand bemüht, mit seinem Kôan eins zu werden, oder sich intensiv fragt «Was ist Mu?» - in keinem Fall handelt es sich dabei um eine Meditation im eigentlichen Sinn des Wortes. Zazen, das zur Selbst-Wesensschau führt, ist weder müßige Träumerei noch leere Tatenlosigkeit, sondern ein intensives inneres Ringen um Beherrschung des Geistes, den man dann nach Art eines geräusch- losen Wurfgeschoßes benützt, um damit die Schranke der fünf Sinne und des diskursiven Intellekts (d. h. des sechsten Sinnes) zu durch-

39 brechen. Das verlangt Entschlossenheit, Mut und Tatkraft. YASUTANI Rôshi nennt es «eine Schlacht zwischen den widerstreitenden Kräften der Verblendung und der Bodhi15.» Die folgenden Worte, die der Buddha ausgesprochen haben soll, als er in höchster Bemühung unter dem Bo-Baum saß, schildern anschaulich diese Geistesverfassung; sie werden oft im zendô bei einem Sesshin zitiert: «Mögen auch nur noch Haut, Sehnen und Knochen von mir übrigbleiben und mein Blut und Fleisch verdorren und dahinwelken, so werde ich mich doch nie von diesem Sitz erheben, solange ich nicht volle Erleuchtung errungen habe.» Einerseits erhält der Drang nach Erleuchtung durch das qualvolle Gefühl innerer Knechtschaft seinen Antrieb - das Gefühl, mit dem Leben zerfallen zu sein, die Furcht vor dem Tode oder auch durch beides - und andererseits durch die Überzeugung, daß man durch Satori Befreiung finden kann. Aber es geschieht durch Zazen, daß die Energien und Kräfte des Körpers und Geistes ausgeweitet und zum Durchbruch in die neue Welt der Freiheit mobilisiert werden. Ener- gien, die bisher durch zwanghafte Triebe und ziellose Tätigkeit ver- geudet wurden, werden nun durch richtiges Zen-Sitzen bewahrt und zur Einheit geleitet. Und in dem Maße, in dem man durch Zazen den Geist in einen Punkt sammeln lernt, hört man auf, geistige Kraft auf die unbeherrschte Vermehrung müßiger Gedanken zu verschwenden. Das gesamte Nervensystem entspannt sich und kommt zur Ruhe, innere Spannungen werden aufgehoben, und der Tonus aller Organe kräftigt sich. Kurz, indem Zazen durch richtige Atmung, durch Kon- zentration und rechtes Sitzen die körperlichen, verstandesmäßigen und seelischen Energien wieder in Reih und Glied bringt, stellt es ein neues Körper-Geist-Gleichgewicht her, dessen Schwerpunkt im vita- len hara16 liegt. Wenn Körper und Geist geeint, auf einen Brennpunkt gerichtet und mit Energie aufgeladen sind, so wachsen im Gefühlsbereich Sensitivi-

15. Diese Worte wurden vom Standpunkt des Übens und der Schulung aus gesagt; vom Standpunkt des zugrunde liegenden Buddha-Geistes gibt es weder Verblen- dung noch Bodhi. 16. Über die Bedeutung des Hara bei der Zen-Schulung siehe S. 108 ff.

40 tät und Reinheit entsprechend an, und der Wille müht sich mit größe- rer Zielkraft. Wir werden nicht mehr auf Kosten des Gefühls vom Intellekt beherrscht, noch von Gefühlen, die weder durch Vernunft noch durch den Willen kontrolliert sind, umgetrieben. Am Ende führt Zazen zur Umwandlung von Charakter und Persönlichkeit. Trocken- heit, Härte und egoistische Haltung weichen überströmender Wärme, Elastizität und Mitgefühl, während Eigenliebe und Furcht in Selbst- beherrschung und Mut umgewandelt werden. Da japanische Meister aus jahrhundertelanger Erfahrung diese Um- wandlungskraft von Zazen kennen, haben sie sich stets mehr auf die Förderung des moralischen Verhaltens ihrer Schüler durch Zazen ver- lassen, als auf Gebote, die von außen her aufgezwungen werden. In Wirklichkeit unterstützen die Gebote und Zazen einander wechsel- seitig, da sie beide in ein und derselben Buddha-Natur, die die Quelle aller Reinheit und Güte ist, wurzeln. Auch der festeste Entschluß, die Gebote zu halten, wird bestenfalls nur gelegentlich erfolgreich sein, wenn er nicht durch Zazen gestützt wird. Und ein Zazen, das von einer disziplinierten Lebensweise getrennt ist, kann nur schwach und unsicher sein. Auf jeden Fall sind die Gebote, entgegen den Hinweisen der Hīnayana-Lehren, nicht nur einfach Moralvorschriften, die jeder- mann leicht verstehen und einhalten kann, wenn er es nur will. Ihr bedingt-unbedingter Sinn kann in Wirklichkeit nur nach langjähri- gem, hingebungsvollem Zazen als lebendige Wahrheit begriffen wer- den. Deshalb gibt man Zazen-Schülern im allgemeinen das Buch der Probleme, Jujukinkai genannt, das sich vom Standpunkt der Hīna- yâna-Lehren, des Mahâyâna, des Buddha-Wesens selbst und aus der Sicht von Bodhidharma und Dôgen mit den zehn Hauptgeboten auseinandersetzt, nicht vor dem Abschluß ihrer Schulung, also erst dann, wenn ihre Erleuchtung und Zazen-Kraft sich vertieft haben und gereift sind. Ja, japanische Meister betonen, daß man erst nach voller Erleuchtung wahrhaft Gut und Böse unterscheiden und durch die aus Zazen erwachsende Kraft solche Weisheit ins Alltagsleben umsetzen kann. YASUTANI Rôshi hat in seiner Antwort auf eine Frage, die ihm in Amerika von einer Gruppe von Universitätsstudenten gestellt wurde,

41 klargestellt, daß der Freiheit eines Satori-Menschen ein starkes Gefühl für Verantwortung eignet. Jene fragten: «Wenn, wie man uns gelehrt hat, Satori die Unwirklichkeit von Vergangenheit und Zukunft enthüllt, hat man dann nicht die Freiheit, hier und jetzt zu leben, wie man will, ohne Bezug auf die Vergangenheit und ohne Gedanken an die Zukunft?» Als Antwort zeichnete YASUTANI Rôshi einen Punkt an die Tafel und erklärte, daß dieser isolierte Punkt ihren Begriff von «hier und jetzt» darstelle. Um die Unvollständigkeit solcher Ansicht zu zeigen, setzte er einen weiteren Punkt auf die Tafel, durch den er eine hori- zontale und eine vertikale Linie zog. Dann erklärte er, daß die hori- zontale Linie die Zeit aus anfangsloser Vergangenheit in eine endlose Zukunft hinein repräsentiere, die vertikale aber den unbegrenzten Raum. Der «gegenwärtige Augenblick» des Erleuchteten, der an ihrem Schnittpunkt steht, umfaßt, wie er betonte, all diese Dimensio- nen von Zeit und Raum. Somit also bringt die Satori-Erkenntnis, daß man der Brennpunkt von Vergangenheit und Zukunft ist, unvermeidlich ein Gefühl der Brüderlichkeit und ein Verantwortungsgefühl für seine Familie und die Gesellschaft im Ganzen mit sich. Die Freiheit eines befreiten Zen- Menschen ist himmelweit entfernt von der «Freiheit» eines «Zen- Dilettanten», der von unbeherrschtem, eigennützigem Verlangen getrieben wird. Die unzerreißbare Verbindung, die der wahrhaft Erleuchtete seinen Mitmenschen gegenüber empfindet, schließt jegli- ches egozentrisches Benehmen, wie das eines Dilettanten, aus.

Zazen bereichert nicht allein die Persönlichkeit und stärkt den Cha- rakter, es wirft auch Licht auf die drei Charakteristika des Daseins, wie der Buddha sie verkündet hat. Erstens: Alle Dinge (einschließ- lich unserer Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen) sind unbeständig; sie entstehen, wenn besondere Ursachen und Bedingungen sie ins Leben rufen, und vergehen beim Auftauchen neuer Kausalfaktoren. Zweitens: Das Leben ist Leiden. Und drittens: Letzten Endes existiert nichts aus sich selbst, alles Gestalthafte ist seinem eigentlichen Wesen nach leer, d. h. es handelt sich dabei um voneinander abhängige, sich

42 ständig verändernde Energiestrukturen, die jedoch gleichzeitig von einer provisorischen und begrenzten Wirklichkeit in Zeit und Raum in Besitz genommen werden, in ganz ähnlicher Weise wie die Hand- lungen in einem Film, die eine Wirklichkeit im Hinblick auf den Film haben, sonst aber gegenstandslos und unwirklich sind. Durch Zazen wird die erste Lebenswahrheit - daß alle «Dinge» ver- gänglich sind, sich von einem Augenblick zum anderen nicht mehr gleichen, flüchtige Manifestationen im Strom unaufhörlicher Wand- lung sind - eine Sache unmittelbarer Erfahrung. Wir lernen die Ver- kettung unserer Gedanken, Gefühle und Stimmungen sehen, wie sie entstehen, wie sie für einen Augenblick blühen und wieder vergehen. Wir lernen erkennen, daß dieses «Sterben» das Leben eines jeden Dings ist, genau wie die alles verzehrende Flamme das Leben einer Kerze ausmacht. Wer durch Zazen gezwungen wird, sich selbst nackt gegenüberzutre- ten, dem wird klar, daß unsere Leiden in selbstsüchtiger Habgier, in Angst und Schrecken wurzeln, die aus unserer Unwissenheit über das wahre Wesen von Leben und Tod entstehen. Aber Zazen macht uns gleichermaßen klar, daß das, was wir «Leiden» nennen, unsere Bewer- tung eines Schmerzes ist, von dem wir uns für getrennt halten, und daß ein Schmerz, wenn man ihn mutig auf sich nimmt, ein Mittel zur Befreiung ist, da er unser natürliches Wohlwollen und Erbarmen frei- legt und uns zudem in die Lage versetzt, Vergnügen und Freude mit neuer Tiefe und Reinheit zu empfinden. Schließlich bringt Zazen uns durch Erleuchtung zu der Erkenntnis, daß das Substrat aller Existenz eine Leere17 ist, aus der heraus alle Dinge unablässig hervorgehen und in die sie unaufhörlich zurück- kehren, und daß diese Leere positiv und lebendig ist, in ihrer Leben- digkeit tatsächlich nicht anders als ein Sonnenuntergang oder die Har- monien einer großen Symphonie. Dieser Durchbruch zum Bewußtsein des strahlenden Buddha-Wesens ist das «Verschlucken» des Weltalls, das Auslöschen jeglichen Gefühls von Gegensätzen und von Vereinzelung. In diesem Zustand bedin-

17. Genauere Beschreibung siehe S. 117.

43 gungsloser Subjektivität bin ich, ich selbstloses Ich18 all-erhaben. So konnte SHAKYAMUNI-Buddha ausrufen: «Über den Himmeln und unter den Himmeln bin Ich allein erhaben.»

Da aber Erleuchtung auch ein Ende allen Besessenseins von der Vor- stellung eines Ich bedeutet, ist es gleichzeitig eine Welt reiner Objek- tivität. Daher konnte DÔGEN schreiben: «Den Weg des Buddha erfahren, heißt, sich selbst erfahren, Sich selbst erfahren, heißt, sich vergessen, Sich vergessen, heißt, die Welt als reines Objekt erleben. Die Welt als reines Objekt erleben, heißt, den eigenen Leib und Geist und den ,selbst-ander' Leib und Geist fallen lassen19.» Zen-Meister benutzen noch eine andere Art Zazen, um uns zu helfen, zur Welt des Buddha-Wesens zu erwachen, nämlich das Rezitieren der dhāranī und Sûtras. Nun ist eine Dhāranī beschrieben worden als «eine mehr oder weniger sinnlose Kette von Wörtern, die magische Kraft haben sollen, dem zu helfen, der sie in einer Zeit höchster Not wiederholt20». Zweifellos haben die Dhāranī durch die phonetische Umschreibung der Sanskritwörter, zufolge der unvermeidlichen Änderung des ursprünglichen Klanges, viel von ihrer Bedeutung ver- loren. Aber sie sind in ihrer Wirkung auf die Seele alles andere als bedeutungslos, wie jeder weiß, der sie einmal längere Zeit hindurch rezitiert hat. Wenn sie voll Aufrichtigkeit und innerster Anteilnahme rezitiert werden, so prägen sie Seele und Geist die Namen und wirk- samen Kräfte der Buddhas und Bodhisattvas ein, die darin aufge- zählt werden, sie räumen Hindernisse, die Zazen im Wege stehen, fort und festigen unser Herz in der Haltung von Ehrfurcht und Andacht. Dhāranī sind aber auch in Klang und Rhythmus ein symbolischer Ausdruck der essentiellen Ur-Wahrheit des Weltalls, die jenseits des

18. Mit «ich» wird in diesem Buch das kleine, täuschende «Ich» bezeichnet. Bei dem selbstlosen «Ich» handelt es sich um das «Selbst». D. Ü. 19. Shôbôgenzo, 1.Kapitel, Genjo Kôan genannt. 20. A Buddhist Bible, herausgegeben von DWIGHT GODDARD, DUTTON, New York, 1952, S. 662.

44 Bereichs des unterscheidenden Intellekts liegt. Die Dhāranī werden in dem Maße, in dem diskursives Denken während des Rezitierens in Schach gehalten wird, auch zu einer weiteren wertvollen Übung, den Geist vom Haften an dualistischen Gedankengängen zu befreien. Das Intonieren der Sûtras, ebenfalls eine Art des Zazen, erfüllt noch einen weiteren Zweck. Da es sich dabei um die schriftlich überliefer- ten Worte und Predigten des Buddha handelt, haben sie bis zu einem gewissen Grad eine unmittelbare Anziehungskraft auf den Verstand. Bei Menschen, deren Glaube an den Weg des Buddha oberflächlich ist, führt das wiederholte Rezitieren der Sûtras schließlich zu einem gewissen Verständnis und dient dazu, ihren Glauben an die Wahrheit von Buddhas Lehren zu stärken. Mit wachsendem Glauben wird jedoch die Notwendigkeit, sie zu rezitieren, geringer. In einem anderen Sinn kann man das Rezitieren der Sûtras mit einem orientalischen Tuschbild, sagen wir dem einer Kiefer, vergleichen, bei dem der größte Teil des Bildes aus weißem Raum besteht. Dieser leere Raum entspricht den tieferen Bedeutungsschichten der Sûtras, die von den Worten angedeutet werden. Genau wie unser Geist bei dem Bild durch das Vorhandensein des Baumes dazu gebracht wird, sich des weißen Raums in erhöhtem Maße bewußt zu werden, so können wir durch das Rezitieren der Sûtras dazu geführt werden, die Wirklich- keit, die jenseits von ihnen liegt, zu spüren, jene Leere, auf die sie hinweisen. Während des Rezitierens von Sûtras und Dhāranī, die alle im Tempo verschieden sind, kann man sitzen oder stehen, knien oder sich immer wieder niederwerfen, oder man macht wiederholte Umgänge im Tem- pel. Häufig wird das Intonieren vom stetigen Klopfen auf das mokugyo begleitet oder von dem sonoren Widerhall des keisu inter- punktiert. Diese Kombination von Sprechgesang und dem Pochen der Schlaginstrumente kann, wenn Herz und Geist wahrhaft eins damit sind, tiefste Gefühlsschichten aufrütteln und zu einem vibrierenden Gefühl erhöhter Bewußtheit führen. Zuallermindest aber bringt es Abwechslung in das Zen-Sitzen, das sonst zu einer düsteren und strengen Zucht ohne jede Erleichterung würde. Bei einem Sesshin von einer Woche könnten nur wenige das bloße Sitzen Stunde um Stunde

45 aushalten. Und selbst wenn sich das nicht als unerträglich schwer erweisen sollte, so würde es doch allen, mit Ausnahme der am inbrün- stigsten Übenden, dabei langweilig werden. Zen-Meister vermindern nicht allein die Gefahr der Langeweile, indem sie verschiedene Zazen- Arten vorschreiben - nämlich Sitzen, Gehen, Rezitieren und körper- liche Arbeit -, sondern sie steigern dadurch auch die Wirkung jeder einzelnen Zazen-Art. DÔGEN legte großen Wert auf richtige Haltung, Gebärden und Kör- perbewegungen beim Rezitieren wie auch bei allen ändern Arten des Zazen, da sie in der Seele Widerhall finden. Im Shingon-Buddhismus werden von den Gläubigen besondere Eigenschaften der Buddhas und Bodhisattvas durch bestimmte Handstellungen (mudrās) und Körper- haltungen hervorgerufen. Es ist wahrscheinlich, daß sich diese Seite von DÔGENS Lehre vom Shingon ableitet. Auf jeden Fall bringen die vorgeschriebenen Stellungen entsprechende Geistesverfassungen hervor. So erweckt das Rezitieren der Vier Gelübde im Knien, die Hände zum gasshô erhoben (Handflächen gegeneinander gelegt), wie es bei der Sôtô-Sekte gehalten wird, eher eine ehrfürchtige, demütige Stimmung, als wenn man die gleichen Gelübde im Stehen rezitiert, wie es bei der Rinzai-Sekte geschieht. In ähnlicher Weise erzeugt die leichte Berührung beider Daumenspitzen beim Zazen im Sitzen ein Gefühl von Gleichgewicht und Lauterkeit, das mit fest verschränkten Händen nicht so leicht erreicht werden kann. Umgekehrt lockt auch jede Geistesverfassung eine ihr eigene, be- stimmte Körperreaktion hervor. So kann man sich nur unter dem Antrieb von Ehrfurcht und Dankbarkeit demütig vor dem Buddha niederwerfen. Solch ein «Horizontalisieren des Ich-Mastes» läutert den Herzgeist, macht ihn biegsam und weitet ihn aus und öffnet so dem Verständnis und der Hochachtung für den erhabenen Geist und die mannigfachen wirksamen Kräfte des Buddha und der Patriarchen den Weg. So erwächst in uns das Verlangen, unserer Dankbarkeit Ausdruck zu geben und ihnen unsere Hochachtung durch entspre- chende Rituale vor ihren personifizierten Gestalten zu bezeigen. Sol- che Andachtsübungen, wenn sie gesammelten Geistes vorgenommen werden, erfüllen die Buddhagestalt mit Leben. Was zuvor ein bloßes

46 Abbild war, wird nun zu lebendiger Wirklichkeit, mit der einzigarti- gen Kraft, im Augenblick des Niederwerfens in uns das Bewußtsein eines Ich und eines Buddha auszulöschen. Und wir fühlen uns erfrischt und erneuert, weil in dieser ich-losen, gedanken-losen Gebärde unser makelloser Bodhi-Geist hell aufleuchtet. Im Lichte solcher Beobachtungen einer Wechselwirkung zwischen Körper und Geist können wir nun bis ins Einzelne die Gründe erwä- gen, aus denen heraus Zen-Meister stets die Wichtigkeit eines auf- rechten Rückens und der klassischen Lotushaltung betont haben. Es ist wohlbekannt, daß ein gebeugter Rücken unseren Geist seiner Span- nung beraubt, so daß zufällige, flüchtige Gedanken und Bilder leicht Einlaß finden, und daß ein gerade aufgerichteter Rücken unsere Kon- zentration stärkt, das Aufkommen von wandernden Gedanken ver- ringert und solchermaßen samâdhi beschleunigt. Und umgekehrt: Wenn der Geist von Vorstellungen frei wird, so führt das dazu, daß sich der Rücken ohne bewußte Anstrengung aufrichtet. Bei einer durchsackenden Wirbelsäule und der damit verbundenen Vervielfältigung der Gedanken wird die harmonische Atmung oft von beschleunigter oder ruckweiser Atmung verdrängt, je nach Art der Gedanken. Das schlägt sich bald in einer Spannung von Nerven und Muskeln nieder. In seinen Unterweisungen macht YASUTANI Rôshi darauf aufmerksam, wie ein krummer Rücken dem Geist Kraft und Klarheit aussaugt und Stumpfheit und Langeweile hervorruft. Diese überaus wichtige aufrechte Haltung der Wirbelsäule und die entsprechende geistige Straffheit kann man längere Zeit hindurch leichter durchhalten, wenn die Beine sich in der halben oder vollen Lotushaltung befinden und die Aufmerksamkeit auf eine Stelle vier Finger breit unterhalb des Nabels21 konzentriert wird. Versuche mit Elektrokardiographen und anderen Mitteln haben gezeigt, daß Herz- schlag, Puls und Atmung verlangsamt und beruhigt werden, wenn der Körper zu einer geschlossenen Einheit verschmolzen wird, wie bei der vollen Lotushaltung - d. h. wenn die Hände auf den Fersen ruhen, wobei sich die Daumenspitzen leicht berühren.

21. Siehe «Hara», S. 108 ff.

47 Da der Körper der materielle Aspekt des Geistes ist und der Geist der immaterielle Aspekt des Körpers, erleichtert es überdies die gei- stige Sammlung, wenn Hände und Arme, Füße und Beine an einem zentralen Punkt beisammen sind wie bei der vollen Lotushaltung, wo- bei die zusammengelegten Hände auf den Fersen der verschränkten Füße ruhen. Und schließlich erzeugt die Lotushaltung, wenn auch unfaßbar, ein Gefühl des Verwurzeltseins in der Erde und gleichzeitig ein Gefühl allumfassender Einheit, leer von allen Empfindungen eines Innen und Außen. Das trifft jedoch nur dann zu, wenn man diese Haltung ohne Unbehagen einnehmen und durchhalten kann. Aus all diesen Gründen ist man im Zen, das die Verkörperung der wesentlichen Lehren und Praktiken des Buddha ist, im Laufe seiner langen Geschichte stets der Sitzweise des Buddha gefolgt, als dem direktesten und praktischsten Wege, Leere des Geistes und schließlich Erleuchtung zu erlangen. Das soll jedoch nicht heißen, daß man Zazen nicht üben oder Satori nicht erreichen kann, wenn man nicht in halber oder voller Lotus- haltung sitzt. Zazen kann vielmehr sogar auf einem Stuhl, einer Bank oder auch im Knien wirksam sein, solange nur der Rücken gerade aufgerichtet ist22. Was letzten Endes bei der Suche nach Erleuchtung den Erfolg sichert, das ist nicht irgendeine bestimmte Haltung, son- dern einzig das intensive Verlangen nach Wahrheit um ihrer selbst willen. Das allein bringt uns dazu, auf irgendeine Weise regelmäßig zu sitzen und alle Angelegenheiten des täglichen Lebens mit Hingabe und klarer Bewußtheit zu vollziehen. Aber Zazen wurde stets als die Grundlage jeder Zen-Schulung angesehen, einfach weil jahrhunderte- lange Erfahrungen bewiesen haben, daß es der leichteste Weg ist, den Geist zu Stille und geballter Sammlung zu bringen, so daß er als Instrument zur Selbst-Entdeckung benutzt werden kann. In der lan- gen Geschichte des Zen haben Tausende und Abertausende durch Zazen Erleuchtung gefunden, während nur wenige ohne Zazen echte

22. Siehe die verschiedenen richtigen Haltungen im 9. Kapitel. Bei YASUTANI Rôshis kürzlicher Reise nach Amerika fand ein Schüler Erleuchtung, als er Zazen auf einer Klavierbank übte. In Japan üben viele Frauen in der herkömmlichen japanischen Sitzweise kniend Zazen, wobei das Gesäß auf den Fersen ruht.

48 23 Erleuchtung erlebten . Wenn es sogar für den Buddha und BODHI- DHARMA notwendig war zu sitzen, so kann gewiß kein Suchender auf Zazen verzichten. Kenshô (oder Satori) ist nur ein erster Anblick der Wahrheit, und er kann, einerlei, ob es sich dabei nur um einen flüchti- gen Blick oder um einen scharfen und tiefen Einblick handelte, durch Zazen ausgeweitet werden. Man denke auch daran: Wenn die Schau des Eins-Seins, wie sie durch Erleuchtung erreicht wird, nicht durch Jôriki24, jene besondere, durch Zazen entwickelte Kraft, gefestigt wird, so umwölkt sie sich nach und nach, besonders wenn sie von vornherein nur schwach war, und verblaßt schließlich zu einer ange- nehmen Erinnerung, statt eine allgegenwärtige Wirklichkeit zu blei- ben, die unser Alltagsleben gestaltet. Wir dürfen jedoch auch nicht aus den Augen verlieren, daß Zazen mehr ist als ein bloßes Mittel, Erleuchtung zu erreichen, oder eine Technik, sie aufrechtzuerhalten oder auszuweiten; es ist vielmehr die Vergegenwärtigung unseres Wahren Wesens. Somit hat es einen absoluten Wert. YASUTANI Rôshi macht diesen Punkt sowohl in den vorliegenden Unterweisungen, als auch bei seinen Dokusan mit zehn Menschen aus dem Westen klar. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß es für die meisten Men- schen aus dem Westen körperlich und geistig qualvoll ist, beim Zazen vollkommen still zu sitzen, und sei es selbst auf einem Stuhl, da sie von Natur aus viel aktiver und ruheloser als Asiaten zu sein scheinen. Ihre mangelnde Bereitschaft, solche Schmerzen und solches Unbeha- gen auch nur für kurze Zeit auszuhalten, stammt zweifellos aus der tiefsitzenden Überzeugung, daß es nicht nur sinnlos, sondern geradezu masochistisch sei, Schmerzen mit Vorbedacht auf sich zu nehmen, wenn es Mittel und Wege gibt, ihnen zu entkommen oder sie zu mil- dern. Es ist daher nicht erstaunlich, daß manche Kommentatoren, die ganz offenbar Zazen nie geübt haben, zu zeigen versuchen, daß das Sitzen keineswegs unerläßlich für die Zen-Schulung sei. In

23. Der Sechste Patriarch ENÔ (638-713) ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür. In seiner Autobiographie berichtet er, wie er in seiner Jugend Erleuchtung erreichte, als er hörte, wie ein Mönch das Diamant-Sûtra rezitierte. Offenbar hatte er vorher niemals richtig Zazen geübt. 24. Siehe die Erörterung von Jôriki auf S. 81—82.

49 The Way of Zen, S. 101, 103 (deutsch: Zen-Buddhismus, Rowohlt, RDE Nr. 129/30, Hamburg) versucht ALAN WATTS nachzuweisen, daß die Zen-Meister selbst das Sitzen angefochten hätten, indem er Teile eines bekannten Kôans zitiert. Nachstehend geben wir unsere Übersetzung des Kôan in seiner Gesamtheit:

BASO saß täglich Zazen im Dempo-In. NANGAKU, der ihn beobachtete, dachte: Er wird ein großer Mönch werden, und er fragte ihn: «Mein Werter, was wollt Ihr durch Sitzen erreichen?» BASO erwiderte: «Ich will ein Buddha werden.» Daraufhin hob NANGAKU ein Stück Dachziegel auf und begann es an einem Felsen vor sich zu schleifen. «Was macht Ihr da, Meister?» fragte BASO. «Ich schleife ihn, um daraus einen Spiegel zu machen», sagte NANGAKU. «Wie könnte das Schleifen einen Ziegel zu einem Spiegel machen?» «Wie könnte das Sitzen im Zazen einen Buddha machen?» BASO fragte: «Was soll ich dann tun?» NANGAKU erwiderte: «Wenn Ihr einen Karren führt, und er bewegte sich nicht, würdet Ihr dann den Karren peitschen oder den Ochsen?» BASO gab keine Antwort. NANGAKU fuhr fort: «Übt Ihr Euch im Zazen? Strebt Ihr danach, ein sitzender Buddha zu werden? Wenn Ihr Euch im Zazen übt, (so laßt Euch sagen, die Substanz des) Zen ist weder Sitzen noch Liegen. Wenn Ihr Euch darin schult, ein sitzender Buddha zu werden, (laßt Euch gesagt sein), daß Buddha keine Form hat (wie z. B. das Sitzen). Das Dharma, das keine feste Stätte hat, erlaubt keine Unterscheidungen. Wenn Ihr ein sitzender Buddha zu werden versucht, so bedeutet das nichts anderes, als den Buddha zu töten. Wenn Ihr Euch an die Form des Sitzens klammert, werdet Ihr die Ur-Wahrheit nicht erreichen.» Als Baso das hörte, fühlte er sich so erfrischt, als hätte er den köstlichsten Trunk genossen.

Mr. WATTS fügt seiner eigenen Übersetzung ins Englische (S. 113) hinzu: «Das scheint die übereinstimmende Lehre aller T'ang-Meister von HUI-NENG (dem Sechsten Patriarchen) bis zu LIN-CHI (RINZAI) zu sein. Nirgends habe ich in ihren Lehren irgendwelche Anweisungen oder Empfehlungen zu jener Art von Zazen finden können, wie sie heute die Hauptbeschäftigung der Zen-Mönche ausmacht.» Offenbar

50 hat er The Zen Teachings of HUANG Po (in der Übersetzung von JOHN BLOFELD) übersehen. Darin finden wir, daß HUANG Po, der 850 starb, rät (S. 131): «Wenn ihr Geist-Beherrschung (Zazen oder dhyâna) übt, so sitzt in der richtigen Haltung, verhaltet euch vollkommen still, und laßt nicht zu, daß ihr durch die geringste Bewegung des Geistes gestört werdet.»

Das ist gewiß ein klarer Beweis, daß Zazen, wie es heute in Japan weitergeführt wird, auch in der T'ang-Zeit eine festgelegte Übung war, wie selbst schon zu Zeiten des Buddha. Überdies heißt es dem Geist des Kôan Gewalt antun, wenn man den oben zitierten Dialog als Verdammung von Zazen auslegt. NANGAKU ist weit davon entfernt, damit zu sagen, daß Zazen so nutzlos sei wie das Schleifen eines Ziegels zu einem Spiegel - obgleich es für jemanden, der niemals Zen geübt hat, leicht ist, zu solcher Schlußfolgerung zu kommen. Er versuchte vielmehr, BASO zu lehren, daß, da wir alle von allem Anfang an Buddhas sind, das Buddhatum nicht außerhalb seiner selbst als ein Ding existiert, nach dem man streben kann. Offenbar war BASO, der später ein großer Meister wurde, damals in der Täuschung befangen, daß die Buddhaschaft etwas von ihm Verschiedenes sei. NANGAKU sagte in Wirklichkeit: «Wie könntet Ihr durch Sitzen ein Buddha werden, wenn Ihr nicht von Anfang an ein Buddha wärt? Das wäre ebenso unmöglich, wie der Versuch, durch Schleifen einen Dachziegel zu einem Spiegel zu machen25.» Mit anderen Worten: Zazen erteilt nicht Buddhaschaft; es deckt vielmehr ein Buddha-Wesen auf, das von jeher da war. Zudem zeigt NANGAKU durch das Schleifen des Ziegels BASO anschaulich, daß das Polieren selbst ein Ausdruck des Buddha-Wesens ist, das alle Formen übersteigt, einschließlich derer des Sitzens, Stehens oder Liegens. Um ihre Schüler davor zu bewahren, daß sie an der Sitz-Haltung haf- ten, nehmen Zen-Meister Bewegungs-Zazen in ihren Unterricht auf.

25. Der Sechste Patriarch stellt in seinem Tribünen-Sûtra fest: «Wenn man den Buddha-Geist nicht in sich hätte, wo wollte man dann nach dem wahren Buddha suchen?»

51 Es ist durch und durch falsch, wenn Mr. WATTS behauptet, daß die Hauptbeschäftigung der Zen-Mönche heute das Sitzen sei. Japanische Zen-Mönche bringen bei ihrer Schulung den größten Teil der Zeit mit Arbeit, nicht mit Sitzen zu, abgesehen von den etwa sechs Wochen im Jahr, während derer sie im Sesshin sind. Im Hosshin-Ji, das in dieser Hinsicht mehr oder weniger typisch für die meisten japanischen Zen- Klöster ist, sitzen die Mönche gewöhnlich morgens anderthalb Stun- den und abends etwa zwei bis drei Stunden. Sie schlafen normaler- weise sechs bis sieben Stunden; die übrigen zwölf bis dreizehn Tages- stunden bringen sie mit Arbeit, z. B. auf den Reisfeldern oder im Gemüsegarten zu, mit Holzspalten und Wasserpumpen, Kochen, dem Servieren von Mahlzeiten, dem Sauberhalten des Klosters und dem Fegen und Unkraut-Jäten. Zu anderer Zeit pflegen sie die Gräber auf dem an das Kloster angrenzenden Friedhof, rezitieren Sûtras und Dhāranī für die Toten, sowohl in den Häusern der Gläubigen als auch im Kloster. Außerdem verbringen die Zen-Mönche viele Stun- den damit, auf den Straßen um Essen und andere notwendige Dinge zu bitten; dadurch lernen sie im Rahmen ihrer religiösen Erziehung Demut und Dankbarkeit. All diese Tätigkeiten werden als Übungen im Bewegungs-Zazen angesehen, da sie achtsam und mit voller An- teilnahme ausgeführt werden müssen. Der berühmte Ausspruch von HYAKUJÔ: «Ein Tag ohne Arbeit ist ein Tag ohne Essen», belebt den Geist der Zen-Klöster heute genau so stark wie eh und je. Wo es kein Zazen gibt, mag es sich nun um die bewegungslose oder um die bewegte Art handeln, kann man nicht von einer Zen-Schulung sprechen. Das NANGAKU-Kôan deutet ebenso wie alle anderen auf den uns innewohnenden Buddha-Geist hin, aber sie alle lehren uns nicht, wie wir die Wirklichkeit dieses Geistes verwirklichen sollen. Die Ver- wirklichung der Höchsten Wahrheit verlangt Hingabe und anhal- tende Anstrengung, was soviel heißt wie reine und gläubige Ausübung des Zazen. Der Versuch, Zazen als unwichtig abzutun, ist im Grunde nichts anderes als eine rationale Erklärung für die Unwilligkeit, sich um der Wahrheit willen anzustrengen, wobei der tiefere Sinn offen-

52 sichtlich der ist, daß in Wirklichkeit gar kein echtes Verlangen nach der Wahrheit besteht. DÔGEN erteilt im Shôbôgenzô all denen einen Verweis, die sich mit den höchsten Idealen des Buddha identifizieren, jedoch vor der Mühe zurückschrecken, die es erfordert, sie in die Pra- xis umzusetzen: «Der Große Weg des Buddha und der Patriarchen schließt auch äußerste Anstrengung ein, die pausenlos in Stufenfolgen weitergeht vom ersten Dämmern der religiösen Wahrheit über die Prüfungen bei Schulung und Übung bis zu Erleuchtung und Nirvana. Das bedeutet ununterbrochene Anstrengung, von Stufe zu Stufe fortschreitend . .. Diese ununterbrochene Anstrengung ist nichts, was die Weltmenschen gemeinhin lieben oder begehren; sie ist jedoch die letzte Zuflucht aller. Nur durch die Anstrengungen aller Buddhas in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden die Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zur Wirklichkeit... Durch diese Anstrengung wird die Buddha- schaft verwirklicht, und die, welche keine Anstrengungen machen, wenn Anstrengungen möglich sind, sind die, die den Buddha hassen, die es hassen, dem Buddha zu dienen, und es hassen, sich anzustrengen. Sie wollen nicht mit Buddha leben und sterben, sie wollen ihn nicht zum Lehrer und Gefährten haben 26...

Biographische Notizen über Yasutani Rôshi

27 Mit achtzig Jahren ist Zen-Meister HAKUUN YASUTANI im Begriff, sich für einen längeren Aufenthalt in Amerika einzuschiffen, um den Dharma des Buddha auszulegen. Damit ruft er den Geist des ehrfurchtgebietenden BODHIDHARMA hervor, der in seinen späteren Lebensjahren seinem Heimatland den Rücken kehrte und sich fernen Gestaden zuwandte, um dort den lebendigen Samen des Buddhismus zu säen. Für YASUTANI Rôshi ist das jedoch nur eine weitere bemer-

26. Zitiert in Sources of Japanese Tradition, herausgegeben von WLLIAM THEO- DORE DE BARY, Columbia University Press, New York, 1961, S. 250 ff. 27. Ein Zen-Name, der «Weiße Wolke» bedeutet. Siehe «Wolken und Wasser» im 10. Kapitel.

53 kenswerte Begebenheit in einem Leben, das durch einzigartige Lei- stungen gekennzeichnet ist. Seit seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag hat er fünf vollständige Bände von Kommentaren über die Kôan-Sammlungen, die als Mu- mon-kan, Hekigan-roku, Shôyô-roku und Denkô-roku bekannt sind, und eine Abhandlung über die Fünf Grade des Tôzan (japanisch: Go-i) geschrieben. Diese Serie als Ganzes stellt eine in der neuzeitli- chen Geschichte des Zen einzigartige Großtat dar. Seine Schriften sind jedoch nur eine Facette seiner ausgedehnten Lehrtätigkeit. Er hält nicht allein jeden Monat in seinem eigenen Tempel in einem Vorort von Tokyo ein Sesshin von drei bis sieben Tagen und von Zeit zu Zeit weitere Sesshin in Kyushu und Hokkaido, dem äußersten Süden und Norden , er leitet auch jede Woche verschiedene Eintags-Sesshin (zazen-kai) im Gebiet von Groß-Tokyo. Unter anderem gehören eine große Universität, mehrere Fabriken, die Selbstverteidigungs-Akademie und eine Reihe von Tempeln zu den Veranstaltungsorten. Er ist zweimal in den Westen gereist. Bei seiner ersten Amerikareise 1962 hielt er in Honolulu, Los Angeles, Clairmont/California, Wal- lington/Pennsylvania, New York, Boston und Washington/D.C. Sesshin von vier bis sieben Tagen. Im folgenden Jahr wiederholte er seine Sesshin in Amerika und dehnte seine Tätigkeit auch auf Vor- träge über Zen in England, Frankreich und Deutschland aus. HAKUUN YASUTANI war Gatte, Vater, Lehrer und schließlich Zen- Meister; er hat seine gegenwärtige Würde also nicht dadurch erreicht, daß er den dem Leben des gewöhnlichen Menschen eigenen Leiden und Freuden auswich, sondern indem er sie durchlebte und dann transzendierte. Damit spiegelt sein Leben das Mahâyâna-Ideal wider: Selbst-Wesensschau ist nicht weniger Sache des Hausvaters als des Mönchs im Zölibat. YASUTANI Rôshi wurde als Kind einer frommen buddhistischen Mut- ter und eines Vaters geboren, der einen Kuchenladen in einem kleinen Dorf besaß. Als er fünf Jahre alt war, wurde ihm der Kopf gescho- ren, was seinen Eintritt in das buddhistische Mönchstum kennzeich- nete. Danach schickten ihn seine Eltern, dem Brauch frommer Fami-

54 lien damaliger Zeit folgend, in einen Tempel, auf daß er die religiöse Atmosphäre in sich aufnehme und auf das Priestertum hingelenkt werde. Er blieb in diesem Tempel, bis er zwölf war, verrichtete dort die All- tagsarbeiten eines Novizen, besuchte die Grundschule und wurde vom Oberpriester in den Grundlagen des Buddhismus unterwiesen. An seinem dreizehnten Geburtstag wurde er Novize eines großen Sôtô- Tempels. Es folgten zwei weitere Jahre an einer öffentlichen Schule, fünf Jahre an einem von der Sôtô-Sekte geleiteten Seminar und schließlich vier Jahre an einer Lehrer-Bildungsanstalt. HAKUUN YASUTANI heiratete mit dreißig und gründete eine Familie, die mit der Zeit fünf Kinder zählte. Nominell war er Priester; da ihm aber damals kein Tempel zur Verfügung stand, nahm er eine Stelle als Grundschullehrer an, um seine wachsende Familie zu unter- halten. Er unterrichtete dort sechs Jahre lang. Nachdem er Direktor geworden war, diente er der gleichen Schule noch weitere vier Jahre. Trotz der Belastungen durch die Familie, das Aufziehen der fünf Kinder und die Anforderungen seines Berufes fuhr er all die Jahre hindurch unter verschiedenen Lehrern fort, Zazen zu üben, mit dem er viele Jahre vorher - genau gesagt, als Fünfzehnjähriger - begonnen hatte. Obgleich man diese Lehrer allgemein für einige der besten Meister der Sôtô-Sekte erachtete, ließ doch die Tatsache, daß sie Satori in vagen, allgemeinen Äußerungen behandelten, die tatsächli- che Verwirklichung von Satori als entlegen und phantastisch erschei- nen. HAKUUN YASUTANI spürte immer, daß ihm ein echter Meister fehlte, eine buddhaähnliche Gestalt, jemand, der seine Füße auf den wahren Weg lenken könnte. Mit vierzig fand er ihn schließlich in HARADA Rôshi, und mit dieser Begegnung nahm sein Leben eine ent- scheidende Wendung. Er gab seine Arbeit als Schuldirektor auf, wurde ein Tempelpriester, in Wirklichkeit wie dem Namen nach, und begann, regelmäßig die Sesshin in HARADA Rôshis Kloster, Hosshin-Ji, zu besuchen. Bei sei- nem allerersten Sesshin erlangte er Kenshô mit dem Kôan Mu. YASUTANI Rôshi war achtundfünfzig, als HARADA Rôshi ihm das Siegel der Bestätigung (inka shômei) erteilte und ihn zu seinem

55 Dharma-Nachfolger ernannte. Diese außerordentliche Ehrung besagte, daß seine geistige Schau tief, sein Charakter moralisch hochstehend und seine Fähigkeit zu lehren erwiesen war. YASUTANI Rôshi ist ebenso einfach und ungekünstelt wie sein beschei- dener Tempel. Seine zwei täglichen Mahlzeiten enthalten weder Fleisch, noch Fisch, noch Eier, noch Alkohol. Man kann ihn oft in schäbigem Gewand und Segeltuchschuhen auf seinem Weg zu einem Zazen-Treffen durch Tokyo trotten oder auch in der überfüllten zweiten Klasse der innerstädtischen Züge stehen sehen, seine Lehr- bücher in einer Stofftasche über die Schulter gehängt. In seiner voll- kommenen Schlichtheit, seiner Gleichgültigkeit allem Putz, Reichtum und Ruhm gegenüber wandelt er in den Fußstapfen einer langen Reihe hervorragender Zen-Meister.

Die Unterweisungen

1. Unterrichtsstunde: Theorie und Praxis des Zazen

Meine Ausführungen hier beruhen auf den Lehren meines verehrten 28 Lehrers, DAIUN HARADA Rôshi. Obgleich er selbst der Sôtô-Sekte angehörte, war es ihm doch unmöglich, in dieser Sekte einen fähigen Meister zu finden. So ging er in zwei Rinzai-Klöster, zuerst ins Sho- gen-Ji und dann ins Nanzen-Ji, um sich dort zu schulen. Im Nanzen- Ji begriff er schließlich unter der Führung von DOKUTAN Rôshi, einem hervorragenden Meister, das innerste Geheimnis von Zen. Obgleich es eine unleugbare Wahrheit ist, daß man sich selbst der Zen-Schulung unterziehen muß, um die Wahrheit des Zen zu verste- hen, meinte HARADA Rôshi jedoch, daß es Sinn habe, Anfängern als Einführung in die Praxis solche Lehrvorträge zu halten, da der moderne Mensch geistig weitaus wacher ist. Er verband das Beste bei- der Sekten und schuf eine einzigartige Lehrmethode des Zen. Nir-

28. Ein Zen-Name, der «Große Wolke» bedeutet. Siehe unter «Wolken und Wasser» im 10. Kapitel.

56 gends in Japan wird man die Zen-Lehre so gründlich und knapp und der modernen Geistesart so angepaßt dargelegt finden, wie in seinem Kloster. Ich war zwanzig Jahre lang sein Schüler und konnte dank seiner Güte mein Geistiges Auge in gewissem Ausmaß öffnen. Ehe HARADA Rôshi mit seinen Unterweisungen begann, gab er zur Einleitung gewöhnlich einen Rat, wie man richtig zuhört. Der erste Punkt dabei war, daß man mit offenen und auf ihn gerichteten Augen zuhören solle - mit anderen Worten: mit dem ganzen Wesen -, denn ein Eindruck, den man nur mit dem Gehör aufnimmt, ist ziemlich oberflächlich, ähnlich wie beim Radiohören. Zweitens solle jeder Ein- zelne die Unterweisungen so anhören, als ob sie für ihn allein gehalten würden, wie es im Idealfall auch wirklich sein sollte. Die menschliche Natur ist so beschaffen, daß sich, wenn zwei zuhören, jeder der beiden nur halb verantwortlich fühlt, und wenn zehn Menschen zuhören, jeder nur ein Zehntel der Verantwortung empfindet. Da jedoch das, was ich zu sagen habe, für Sie alle ganz das Gleiche ist, habe ich Sie gebeten, als Gruppe zu kommen. Sie müssen nichtsdestoweniger zuhö- ren, als wenn Sie vollkommen allein hier wären, und sich für alles, was gesagt wird, voll verantwortlich fühlen. Dieser Lehrvortrag gliedert sich in elf Abschnitte, die innerhalb von etwa zehn Unterrichtsstunden vorgetragen werden. Der erste Ab- schnitt behandelt die rationale Grundlage von Zazen und die genauen Übungsmethoden, der nächste bestimmte Vorkehrungen und die wei- teren gewisse Probleme, die sich aus Zazen ergeben, sowie deren Lösung. Die Kenntnis von Theorie und Prinzipien des Zazen ist eigentlich keine Vorbedingung zum Ausüben von Zazen. Wer unter einem wirk- lich befähigten Lehrer übt, wird sowieso diese Theorien Schritt für Schritt begreifen, wenn seine Übungen reifer werden. Schüler der heutigen Zeit werden jedoch Anweisungen nicht vorbehaltlos folgen, da sie intellektuell viel anspruchsvoller sind als ihre Vorgänger im Zen. Sie wollen zuerst die Gründe kennen, die dahinter stecken. Daher fühle ich mich verpflichtet, diese hier theoretisch darzulegen. Das Schwierige an jeder Theorie ist jedoch, daß sie kein Ende nimmt. Buddhistische Schriften, buddhistische Lehren und buddhistische Phi-

57 losophie sind nichts anderes als intellektuelle Formulierungen des Zazen, während Zazen als Übung deren praktische Demonstration ist. Aus diesem weiten Gebiet will ich nun das herausgreifen, was für Ihre Schulung am wichtigsten ist. 29 Wir beginnen mit Buddha SHAKYAMUNI . Wie Sie wohl alle wissen, begab er sich zuerst auf den Weg der Askese, wobei er sich vieler Martern und Entbehrungen, einschließlich überlangen Fastens, unter- zog, wie es niemand vor ihm je versucht hatte. Aber Erleuchtung erlangte er mit all diesen Mitteln nicht. Als er halbtot war vor Hun- ger und Entbehrungen, wurde ihm klar, wie vergeblich es war, einem Weg zu folgen, der nur in den Tod münden konnte. So trank er denn die Milch, die man ihm darbot, stellte allmählich seine Gesundheit wieder her und entschloß sich, einen mittleren Weg zwischen Selbst- quälerei und Selbstverwöhnung zu beschreiten. Von da an widmete er sich sechs Jahre lang30 ausschließlich Zazen und erlangte endlich am Morgen des achten Dezember in eben dem Augenblick, da der Venusstern am östlichen Himmel glitzerte, vollkommene Erleuchtung. Wir glauben, daß all das auf historischer Wahrheit beruht. Die Worte, die der Buddha in jenem Augenblick unwillkürlich äußerte, werden in den buddhistischen Schriften verschieden wieder- gegeben. Dem Kegon-Sûtra nach rief er im Augenblick der Erleuch- tung spontan aus:

«Wunder über Wunder! Ihrem innersten Wesen nach sind alle Geschöpfe Buddhas, begabt mit Weisheit und Vollkommenheit, da aber ihr Geist von verblendeter Unwissenheit verkehrt wurde, können sie dessen nicht inne- werden.»

Der erste Ausruf des Buddha bei seiner Erleuchtung scheint ein Aus- druck von Ehrfurcht und Erstaunen gewesen zu sein. Ja, wie wahr-

29. Die traditionelle japanische Bezeichnung lautet: O-Shaka-Sama, was ebenso liebevoll wie ehrerbietig ist. Sama und O sind Ehrenbezeichnungen, und es dürfte besser sein, die übliche deutsche Wiedergabe zu wählen, als eine willkürliche Über- setzung zu versuchen. Siehe auch im 10. Kapitel unter «Buddha». 30. Anderen Berichten zufolge sollen zwischen dem Verlassen seines Hauses und seiner vollkommenen Erleuchtung nur sechs Jahre verstrichen sein.

58 haft wunderbar ist es, daß alle Menschen, ob klug oder dumm, männ- lich oder weiblich, häßlich oder schön, so wie sie sind, ganz und voll- kommen sind! Das besagt, daß das Wesen aller Geschöpfe an sich makellos ist, vollkommen, nicht anders als das des Amida oder irgendeines anderen Buddha. Diese erste Erklärung des Buddha SHAKYAMUNI ist zugleich die letzte Schlußfolgerung des Buddhismus. Der Mensch jedoch, ruhelos und geängstigt, führt ein halb verrücktes Dasein, weil sein Geist, mit Verblendung überkrustet, völlig durch- einander ist. Wir müssen deshalb zu unserer ursprünglichen Vollkom- menheit zurückkehren, das falsche Abbild unserer selbst als unvoll- ständig und sündhaft durchschauen und zu unserer immanenten Rein- heit und Ganzheit erwachen. Das beste Mittel, das zu erreichen, ist Zazen. Nicht allein SHAKYA- MUNI Buddha selbst, sondern auch viele seiner Jünger erlangten Erleuchtung durch Zazen. Darüber hinaus haben in den 2500 Jahren seit Buddhas Tod unzählige Gläubige in Indien, China und Japan für sich selbst die tiefschürfendste aller Fragen «Was sind Leben und Tod?» gelöst, indem sie den gleichen Schlüssel ergriffen. Selbst heut- zutage gibt es viele, denen es durch Zazen gelang, Angst und Sorge abzuschütteln und ihre Freiheit zu erringen. Zwischen einem Nyorai (d. h. einem zu höchster Vollkommenheit gelangten Buddha) und uns gewöhnlichen Menschen besteht der Wesenheit nach kein Unterschied. Diese «Wesenheit» kann man dem Wasser vergleichen. Eines der auffallendsten Merkmale des Wassers ist seine Anpassungsfähigkeit: Gießt man es in ein rundes Gefäß, so wird es rund, gießt man es aber in ein eckiges, so wird es eckig. Wir besitzen die gleiche Anpassungsfähigkeit. Da wir aber in Unkenntnis unseres wahren Wesens in Banden und Fesseln leben, haben wir diese Freiheit verwirkt. Verfolgen wir diese Metapher weiter, so können wir sagen, daß der Geist des Buddha gleich einem ruhigen, tiefen und kristallklaren Wasser ist, in dem der «Mond der Wahrheit» sich ganz und vollkommen spiegelt. Der Geist des gewöhnlichen Menschen hin- gegen gleicht trübem Wasser, das, dauernd von den heftigen Winden verblendeten Denkens aufgewühlt, nicht mehr imstande ist, den Mond der Wahrheit zu spiegeln. Nichtsdestoweniger scheint der

59 Mond unwandelbar auf die Wogen. Da aber die Wasser aufgerührt sind, vermögen wir seine Spiegelung nicht zu sehen. So führen wir ein Leben, das sinnlos und voller Vereitelungen ist. Wie können wir es dahin bringen, daß der Mond der Wahrheit unser Leben und unsere Persönlichkeit voll erleuchtet? Zuerst müssen wir das Wasser reinigen, die aufwallenden Wogen glätten, indem wir dem Wind der diskursiven Gedanken Einhalt gebieten. Mit anderen Wor- ten: Wir müssen unseren Geist von dem entleeren, was das Kegon- Sûtra «begriffliches Denken des Menschen» nennt. Die meisten Men- schen werten abstraktes Denken sehr hoch, aber der Buddhismus hat klar nachgewiesen, daß das unterscheidende, urteilende Denken an der Wurzel aller Verblendung sitzt. Einmal hörte ich jemanden sagen: «Das Denken ist die Krankheit des menschlichen Geistes.» Vom buddhistischen Standpunkt aus ist das ganz richtig. Sicher ist abstrak- tes Denken nützlich, wenn es weise angewandt wird - d. h. wenn sein Wesen und seine Grenzen recht verstanden werden -, aber solange die Menschen Sklaven ihres Intellekts sind, von ihm gefesselt und über- wacht werden, solange kann man sie mit Recht als krank bezeichnen. Alle Gedanken, seien sie nun erhebend oder niederziehend, sind ver- gänglich und ohne Bestand. Sie haben Anfang und Ende, wie sie auch nur flüchtig bei uns verweilen. Das gilt ebenso für den Gedanken eines Zeitalters wie für den des Einzelnen. Im Buddhismus wird das Den- ken als «Strom von Leben-und-Tod» bezeichnet. In diesem Zusam- menhang ist es wichtig, flüchtige Gedanken von festen Begriffen zu unterscheiden. Flüchtige Gedanken sind verhältnismäßig harmlos, aber Ideologien, Glaubensanschauungen, Meinungen und Standpunkte werfen jene Schatten, die uns das Licht der Wahrheit verdunkeln, ganz zu schweigen von all dem Tatsachen-Wissen, das wir seit unserer Geburt angehäuft haben und an das wir uns klammern. Solange die Winde des Denkens fortfahren, die Wasser unserer Eigent- lichen Natur, unseres Selbst-Wesens aufzurühren, können wir Wahr- heit nicht von Unwahrheit unterscheiden. Deshalb ist es dringend nötig, diese Winde zu beschwichtigen. Sobald sie sich legen, beruhigen sich die Wellen, das trübe Wasser klärt sich, und wir erkennen unmit- telbar, daß der Mond der Wahrheit niemals aufgehört hat zu scheinen.

60 Der Augenblick solcher Erkenntnis ist Kenshô, d. h. Erleuchtung, das Innewerden der wahren Substanz unseres Selbst-Wesens. Während moralische und philosophische Begriffe wandelbar sind, ist wahre Ein-Sicht unvergänglich. Nun können wir zum ersten Mal in innerem Frieden und mit Würde leben, frei von Verwirrung und Unruhe und in Harmonie mit unserer Umwelt. Ich habe über all diese Dinge hier nur kurz zu Ihnen gesprochen, aber ich hoffe, daß es mir gelungen ist, Ihnen ein Gefühl für die Bedeutung von Zazen zu vermitteln. Sprechen wir nun über die Übung selbst. Zuerst muß man sich einen ruhigen Raum zum Sitzen suchen. Legen Sie eine nicht zu weiche Polstermatte, etwa neunzig Zentimeter im Quadrat groß, auf den Boden und darauf ein kleineres rundes Polster mit einem Durchmesser von etwa dreißig Zentimetern, oder stattdes- sen ein flaches quadratisches Kissen, das Sie einmal in der Mitte fal- ten. Darauf setzen Sie sich. Am besten ist es, dabei keine langen Hosen und keine Socken zu tragen, da sie uns beim Verschränken der Beine und der richtigen Lagerung der Füße behindern. Aus man- cherlei Gründen ist es am besten, in der vollen Lotushaltung zu sitzen. Um den vollen Lotussitz einzunehmen, legt man den rechten Fuß auf den linken Schenkel und den linken Fuß auf den rechten Schenkel. Das Wichtigste bei dieser besonderen Sitzweise ist, daß man durch die verschränkten Beine, die mit beiden Knien die Polstermatte berühren und eine breite und feste Basis bilden, absolute Festigkeit und Gelassenheit erzielt. Wenn der Körper solchermaßen unbeweglich geworden ist, werden auch keine Gedanken mehr durch Körperbewe- gungen zur Tätigkeit angeregt, und man kommt geistig leichter zur Ruhe. Wenn es für Sie zu schmerzhaft und dadurch zu schwierig ist, in der vollen Lotushaltung zu sitzen, so nehmen Sie die halbe Lotushaltung ein, wobei der linke Fuß auf dem rechten Schenkel ruht. Wer an das Sitzen mit verschränkten Beinen nicht gewöhnt ist, dem wird es sogar noch schwerfallen, auch nur diese Stellung durchzuhalten. Sie werden wahrscheinlich auch feststellen, daß es schwierig ist, die beiden Knie unten auf der Matte zu halten; man wird wieder und wieder eines oder auch beide Knie hinunterdrücken müssen, bis sie schließlich dort

61 bleiben. Bei der halben wie bei der vollen Lotushaltung kann man die Lage der Füße wechseln, wenn sie ermüden. Wer diese beiden herkömmlichen Zazen-Haltungen höchst unbequem findet, kann auf die traditionelle japanische Sitzweise zurückgreifen, bei der man kniend auf den Fersen und Waden sitzt. Diese Haltung kann man länger aushalten, wenn man ein Kissen zwischen die Fer- sen und das Gesäß legt, noch besser, wenn man im Knien auf einem festen Polster rittlings sitzt. Diese Haltung hat den Vorteil, daß man dabei den Rücken gut aufrecht halten kann. Sollten sich jedoch all diese Stellungen als zu schmerzhaft erweisen, so benutzen Sie einen Stuhl31. Als nächstes legt man die rechte Hand, Handfläche nach oben, in den Schoß und die linke, ebenfalls mit der Handfläche nach oben, in die Handfläche der rechten. Dabei berühren sich die Daumenspitzen leicht, so daß von Handflächen und Daumen ein abgeflachter Kreis gebildet wird. Die rechte Seite des Körpers ist die aktive, die linke die passive. Um das höchste Maß an Stille zu erreichen, unterdrückt man daher die aktive Seite, indem man den linken Fuß und die linke Hand auf die rechten Gliedmassen legt. Wenn Sie eine Buddha-Statue betrachten, so werden Sie jedoch bemerken, daß die Haltung der Gliedmassen gerade umgekehrt ist. Das bedeutet, daß ein Buddha zum Unterschied von uns allen aktiv darauf hin wirkt, andere zu retten. Wenn Sie die Beine verschränkt haben, beugen Sie sich nach vorn, wobei gleichzeitig das Gesäß nach hinten gedrückt wird, und bringen den Rumpf dann langsam wieder in eine aufrechte Stellung. Der Kopf muß gerade gehalten werden. Von der Seite gesehen, sollen sich die Ohren in einer Linie mit den Schultern und die Nasen- spitze in einer Linie mit dem Nabel befinden. Der Körper soll von der Taille an aufwärts schwerelos und frei von Druck oder Anspannung sein. Halten Sie die Augen offen und den Mund geschlossen. Die Zungenspitze soll hinten an den Oberzähnen leicht anliegen. Wenn man die Augen schließt, fällt man leicht in einen dumpfen und träu- merischen Zustand. Der Blick soll gesenkt sein, ohne auf etwas

3l. Siehe die Skizzen all dieser Haltungen, einschließlich der in den buddhistischen Ländern Südost-Asiens vielfach geübten, im 9. Kapitel.

62 Bestimmtes gerichtet zu sein. Die Erfahrung hat gelehrt, daß der Geist am ruhigsten und am wenigsten müde oder angespannt ist, wenn die Augen in dieser Weise gesenkt werden. Die Wirbelsäule muß jederzeit aufrecht gehalten werden. Diese Ermahnung ist besonders wichtig. Wenn der Körper zusammensackt, werden nicht nur die inneren Organe einem unzulässigen Druck aus- gesetzt und ihre Funktionen behindert, sondern die Wirbel können auch durch Druck auf die Nerven Überanstrengungen verschiedener Art hervorrufen. Da Körper und Geist eins sind, wirkt sich jegliche Schwächung der Körperfunktionen auch auf den Geist aus. Die zu wirksamer geistiger Konzentration so wesentliche Klarheit und die Fähigkeit, den Geist in einem Punkt zu sammeln, werden beeinträch- tigt. Vom rein psychologischen Standpunkt aus gesehen, ist eine steife Haltung, aufgerichtet wie ein Ladestock, ebenso unerwünscht wie eine schlaffe Haltung. Die eine ergibt sich aus unbewußtem Stolz, die andere aus innerer Schwäche, und da beide im Ich begründet sind, bilden beide gleichermaßen ein Hindernis auf dem Wege zur Erleuch- tung. Achten Sie darauf, den Kopf aufrecht zu halten; wenn er sich nach vorn, nach hinten oder zur Seite neigt und geraume Zeit in sol- cher Stellung verharrt, kann man leicht einen Krampf im Nacken bekommen. Wenn Sie sich in der richtigen Haltung zurechtgesetzt haben, holen Sie tief Atem, halten ihn einen Augenblick an und atmen dann lang- sam und gleichmäßig wieder aus. Wiederholen Sie das, stets durch die Nase atmend, zwei- bis dreimal. Dann atmen Sie in ganz natürlicher Weise. Wenn Sie sich an die Haltung gewöhnt haben, genügt ein einziger tiefer Atemzug zu Beginn. Nun beugen Sie den Körper zuerst so weit als möglich nach rechts, dann nach links, etwa sieben bis acht mal, zuerst in großen Bögen, dann in immer kleineren, bis der Rumpf auf der vertikalen Mittelachse von selbst zur Ruhe kommt. Jetzt kann man mit der inneren Konzentration beginnen32. Von unseren Vorgängern im Zen sind uns viele gute Konzentrationsmetho-

32. Siehe weitere Angaben über geistige Konzentration (oft besser: «Sammlung» oder «Versenkung») auf S. 186-187 und besonders S. 480.

63 den überliefert worden. Für Anfänger ist es am leichtesten, die Atem- züge beim Ein- und Ausatmen zu zählen. Der Wert gerade dieser Übung liegt darin, daß alle Überlegungen ausgeschaltet werden und das unterscheidende Denken zur Ruhe gebracht wird. So werden die Wogen der Gedanken geglättet, und man erreicht allmählich, daß der Geist sich auf einen Punkt sammelt. Am Anfang zählen Sie die Atem- züge sowohl beim Einatmen wie beim Ausatmen. Wenn Sie einatmen, so konzentrieren Sie sich auf «eins», wenn Sie ausatmen, auf «zwei» usw. bis zehn. Dann beginnen Sie wieder mit «eins» und zählen wie- der bis zehn und wiederholen das immer wieder. Es ist ganz einfach. Wie ich schon vorhin betont habe, bilden flüchtige Gedanken, die uns ganz selbstverständlich durch den Sinn gehen, an sich kein Hindernis. Darüber ist man sich leider im allgemeinen nicht klar. Sogar unter Japanern, die fünf und mehr Jahre lang Zen geübt haben, gibt es viele, die die Zen-Übung irrtümlicherweise für ein Ausschalten des Bewußtseins halten. Es gibt zwar wirklich eine Art Zazen, die gerade das anstrebt33, aber dabei handelt es sich nicht um das herkömmliche Zazen des Zen-Buddhismus. Sie müssen sich darüber klar sein, daß Sie, wie intensiv Sie auch die Atemzüge zählen mögen, immer noch wahrnehmen werden, was in Ihrer Blickrichtung liegt, da Ihre Augen ja geöffnet sind, und Geräusche um sich her hören werden, da Ihre Ohren ja nicht verstopft sind. Und da Ihr Gehirn gleichfalls nicht schläft, werden sich allerhand Gedanken in Ihrem Kopf tummeln. Aber sie bedeuten an sich keine Hemmung und werden die Wirksam- keit von Zazen nur dann herabsetzen, wenn man sie als «gut» oder «schlecht» wertet und sich dementsprechend an sie klammert oder versucht, sie loszuwerden. Sehen Sie all diese Wahrnehmungen und Empfindungen nicht als Behinderung für Zazen an, versuchen Sie aber andererseits auch nicht, ihnen nachzuhängen. Das möchte ich betonen. Solches «Nachhängen» besteht einfach darin, daß Ihr Blick beim Sehvorgang an den Objekten hängen bleibt, beim Hören die Aufmerksamkeit bei den Geräuschen verweilt und beim Denkvor- gang Ihr Verstand sich an Ideen heftet. Wenn man sich auf solche

33. Siehe S. 79-80.

64 Weise ablenken läßt, wird die Konzentration auf die Atemzüge beeinträchtigt. Also noch einmal: Lassen Sie Gedanken kommen und gehen, wie sie wollen; liebäugeln Sie nicht damit, und versuchen Sie auch nicht, sie abzuweisen; konzentrieren Sie sich vielmehr mit aller Energie auf das Zählen der Atemzüge beim Ein- und Ausatmen. Wenn Sie Ihre Zazen-Übung beenden, so stehen Sie nicht jählings auf, sondern beginnen Sie damit, sich von einer Seite zur anderen zu wie- gen, zuerst in kleinen Schwingungen, dann in immer größeren, ins- gesamt etwa sechsmal. Wie Sie sehen, werden diesmal die Bewegungen in umgekehrter Reihenfolge wie am Anfang vorgenommen. Erheben Sie sich langsam, und gehen Sie mit den anderen in jener Zazen-Gang- art, die wir kinhin nennen, herum. Beim Kinhin legt man die rechte Faust mit eingeschlagenem Daumen vor die Brust und bedeckt sie mit der linken Handfläche. Dabei bil- den die Ellbogen einen rechten Winkel. Halten Sie die Unterarme so, daß sie miteinander eine horizontale Gerade bilden, den Körper auf- recht und die Augen auf einen Punkt knapp zwei Meter vor den Füßen gerichtet. Dabei fahren Sie fort, Ihre Atemzüge beim Ein- und Ausatmen zu zählen, während Sie langsam im Raum umhergehen. Machen Sie den ersten Schritt mit dem linken Fuß, und gehen Sie so, daß der Fuß gleichsam in den Boden einsinkt. Dabei setzen Sie den Fuß mit der Ferse auf und rollen ihn zu den Zehen hin ab. Schreiten Sie ruhig und gleichmäßig mit Haltung und Würde dahin. Sie dürfen nicht geistesabwesend herumgehen, sondern müssen sich gespannten Geistes auf das Zählen konzentrieren. Es ist ratsam, diese Geh-Übung jedesmal mindestens fünf Minuten lang zu machen, wenn man zwan- zig bis dreißig Minuten gesessen hat. Sie müssen dieses Schreiten als Zazen in Bewegung auffassen. Die Art des Kinhin weicht bei Rinzai und Sôtô beträchtlich voneinander ab. Nach der Rinzai-Methode geht man lebhaft und energisch herum, während man nach traditionellem Sôtô-Stil langsam und gemächlich schreitet, wobei man bei jedem Atemzug nur einen kleinen Schritt von etwa fünfzehn Zentimetern macht. Mein eigener Lehrer, HARADA Rôshi, befürwortete eine Gangart, die etwa in der Mitte zwischen die- sen beiden liegt, und das ist diejenige, die wir hier üben. Außerdem

65 bedeckt man bei der Rinzai-Sekte die rechte Hand mit der linken, bei der orthodoxen Sôtô-Sekte liegt hingegen die rechte Hand oben- auf. HARADA Rôshi hielt die Rinzai-Methode, bei der die linke Hand zuoberst liegt, für geeigneter, und so übernahm er sie in seine eigene Lehre. Nun lockert sich zwar beim Gehen die Steifheit in den Beinen, aber das sollte nur als Nebenergebnis und nicht als Hauptzweck des Kinhin erachtet werden. Daher sollen jene unter Ihnen, die die Atem- züge zählen, das beim Kinhin weiterführen, und jene, die an einem Kôan arbeiten, sollen damit fortfahren. Damit sind wir am Ende unserer ersten Unterrichtsstunde angekom- men. Zählen Sie weiterhin die Atemzüge in der angegebenen Weise, bis Sie wieder vor mir erscheinen.

2. Stunde: Vorkehrungen beim Zazen

Nun möchte ich, daß Sie Ihre Atemübung ein wenig ändern. Heute morgen wies ich Sie an, beim Einatmen «eins», beim Ausatmen «zwei» zu zählen usw. Von jetzt ab sollen Sie nur beim Ausatmen «eins» zählen, so daß ein voller Atemzug (Ein- und Ausatmung) «eins» ergibt. Kümmern Sie sich nicht um die Einatmung; zählen Sie einfach beim Ausatmen «eins», «zwei», «drei» usw. Es ist ratsam, beim Zazen einer Wand, einem Vorhang oder etwas Ähnlichem gegenüberzusitzen. Setzen Sie sich nicht zu weit von der Wand entfernt hin und auch nicht so, daß Sie die Wand dicht vor der Nase haben; am besten ist eine Entfernung von sechzig bis neun- zig Zentimetern. Setzen Sie sich nicht dorthin, wo Sie einen weiten Blick haben, denn das lenkt Sie ab, und auch nicht an einen Platz, von dem aus man auf eine hübsche Landschaft blickt, denn das bringt Sie nur in Versuchung, Zazen zu unterbrechen und die Landschaft zu bewundern. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich ins Gedächtnis zu rufen, daß die Augen zwar offen sind, doch nicht, um etwas zu sehen. Aus all diesen Gründen ist es am weisesten, sich mit dem Gesicht zur Wand zu setzen. Wenn Sie jedoch einmal an einer regelrechten Zazen-Übung in einem Rinzai-Tempel teilnehmen, so

66 bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als den anderen Teilnehmern gegen- über zu sitzen, wie das der feste Brauch bei dieser Sekte ist. Suchen Sie sich am Anfang wenn irgend möglich einen Raum, der nicht allein ruhig, sondern auch sauber und ordentlich ist, einen Raum, den Sie als heilig ansehen können. Man mag sich fragen, ob es angeht, Zazen auf einem Bett zu üben, solange nur der Raum sauber und still ist. Für einen normalen, gesunden Menschen lautet die Antwort: Nein. Es gibt vielerlei Gründe, warum es schwierig ist, auf einem Bett die rechte innere Spannung aufrechtzuerhalten. Ein Kranker hat natürlich keine andere Wahl. Sie werden wohl bald herausfinden, daß natürliche Geräusche wie die von Insekten, Vögeln oder fließendem Wasser Sie nicht stören, ebensowenig wie das rhythmische Ticken einer Uhr oder das Surren eines Motors. Plötzliche Geräusche hingegen, wie das Aufheulen eines Düsenflugzeuges, gehen einem auf die Nerven. Aber rhythmische Geräusche können einem von Nutzen sein. Einer meiner Schüler fand tatsächlich Erleuchtung, indem er sich das stetige Geräusch des Reis- dreschens zunutze machte, während er Zazen übte. Die nachteiligsten Laute sind die der menschlichen Stimme, ob sie nun unmittelbar oder über Radio und Fernsehen zu uns dringen. Deshalb soll man sich als Anfänger einen Raum suchen, der von solchen Geräuschen abgelegen ist. Wenn Sie später im Zazen weiter fortgeschritten sind, werden Sie sich von keinerlei Geräusch mehr gestört fühlen. Sie sollten Ihren Raum nicht nur sauber und ordentlich halten, son- dern ihn auch mit Blumen schmücken und Räucherwerk dort anzün- den, da all das ein Gefühl von etwas Reinem und Heiligem ver- mittelt und es Ihnen leichter macht, sich in Zazen hineinzufinden und damit schneller zu Ruhe und Sammlung zu kommen. Tragen Sie ein- fache, bequeme Kleidung, die Ihnen ein Gefühl von Würde und Rein- heit gibt. Übt man am Abend, so ist es besser, nicht schon Nachthemd oder Schlafanzug zu tragen. Wenn es aber bei Hitze die Frage ist, entweder im Schlafanzug Zazen zu üben oder überhaupt nicht zu üben, dann tragen Sie nur den Schlafanzug. Aber richten Sie sich sauber und ordentlich her. Der Raum sollte weder zu hell noch zu dunkel sein. Wenn er zu

67 hell ist, kann man einen dunklen Vorhang vors Fenster ziehen, und wenn es Nacht ist, kann man eine kleine Glühbirne brennen lassen. Ein dunkler Raum hat die gleiche Wirkung wie das Schließen der Augen: er stumpft einen ab. Das Beste ist ein gedämpftes Licht. Denken Sie daran, daß man beim buddhistischen Zazen nicht danach strebt, das Bewußtsein außer Tätigkeit zu setzen, sondern danach, es inmit- ten aller Tätigkeit zur Ruhe zu bringen und zu einen. Ideal ist ein Raum, der weder zu heiß im Sommer, noch zu kalt im Winter ist. Es geht beim Zazen nicht darum, den Körper zu züchti- gen; daher ist es überflüssig, gegen außerordentliche Hitze oder Kälte anzukämpfen. Die Erfahrung hat jedoch gelehrt, daß man Zazen bes- ser üben kann, wenn es etwas kühl ist. In einem zu warmen Zimmer wird man leicht schläfrig. Je mehr sich Ihre Hingabe an Zazen ver- tieft, desto gleichgültiger werden Sie natürlich Hitze und Kälte gegen- über. Es ist indessen weise, auf die Gesundheit achtzugeben. Sprechen wir nun als nächstes über die Tageszeit, die zum Üben von Zazen am geeignetsten ist. Für den, der voller Eifer und Entschlos- senheit ist, sind alle Tages- und Jahreszeiten gleich gut. Für diejenigen aber, die beruflich arbeiten, ist die beste Zeit morgens oder abends oder noch besser beides. Versuchen Sie, jeden Morgen zu üben, mög- lichst vor dem Frühstück, und abends kurz ehe Sie zu Bett gehen. Wenn Sie aber nur einmal am Tag sitzen können — und einmal sollten Sie es mindestens tun -, dann müssen Sie die jeweiligen Vorteile von Morgen und Abend gegeneinander abwägen. Beide haben sowohl Vor- als auch Nachteile. Wenn Ihnen Morgen und Abend für Ihre Übun- gen gleich geeignet erscheinen, Sie aber nur einmal sitzen können, so möchte ich Ihnen den Morgen empfehlen, und zwar aus folgenden Gründen: Frühmorgens kommen keine Besucher, abends hingegen lau- fen Sie Gefahr, unterbrochen zu werden. Zudem ist es am Morgen viel ruhiger als am Abend, zumindest in der Großstadt, da der Straßen- verkehr dann schwächer ist. Und schließlich sind Sie morgens aus- geruht und etwas hungrig, in einer guten Verfassung für Zazen, wäh- rend Sie am Abend, wenn Sie müde sind und gegessen haben, in einem dumpferen Zustand sein dürften. Da es schwierig ist, mit vollem Magen Zazen zu üben, ist es für Anfänger besser, nicht unmittelbar

68 nach einer Mahlzeit zu sitzen. Vor einer Mahlzeit hingegen ist es recht günstig zu üben. Wenn sich Ihr Eifer steigert, dann ist es gleich, wann Sie Zazen sitzen: vor, nach oder auch während einer Mahlzeit. Wie lange sollte man jeweils ohne Unterbrechung Zazen sitzen? Dafür gibt es keine allgemein gültige Regel, denn die Zeitdauer richtet sich nach dem Eifer des Einzelnen und nach dem Reifegrad seines Übens. Für Anfänger ist eine kurze Zeitspanne besser. Wenn Sie ein bis zwei Monate lang täglich fünf Minuten hingebungsvoll Zazen üben, wird in Ihnen mit wachsendem Eifer der Wunsch erwachen, die Übungs- dauer auf zehn oder mehr Minuten auszudehnen. Wenn Sie fähig sind, etwa dreißig Minuten lang gespannten Geistes ohne Schmerzen und Unbehagen zu sitzen, werden Sie das Gefühl von Ruhe und Wohlsein, wie Zazen es hervorruft, schätzen lernen, und Sie werden den Wunsch haben, weiterhin regelmäßig zu üben. Aus diesen Grün- den empfehle ich Anfängern kurze Zeitspannen. Würden Sie sich hin- gegen von Anfang an zu einem längeren Zeitraum zwingen, könnten die Schmerzen in Ihren Beinen, noch ehe Sie zu geistiger Stille gekom- men sind, unerträglich werden. Sie würden des Zazen schnell über- drüssig werden und das Gefühl bekommen, daß Sie damit nur Ihre Zeit vertrödeln, oder auch dauernd auf die Uhr sehen. Schließlich bekämen Sie einen Widerwillen gegen Zazen und hörten mit dem Sit- zen überhaupt auf. Das geschieht recht häufig. Wenn Sie nun aber jeden Tag nur etwa zehn Minuten sitzen, so können Sie die Kürze der Zeit dadurch ausgleichen, daß Sie sich besonders intensiv auf das Zählen jedes Atemzuges konzentrieren und dadurch die Wirksamkeit steigern. Sie dürfen keinesfalls geistesabwesend oder mechanisch zäh- len, als sei das alles nur eine lästige Pflicht. Auch wenn Sie eine Stunde oder noch länger mit einem Gefühl köst- lich heiterer Ruhe sitzen können, ist es doch vernünftiger, die Sitz- dauer auf jeweils dreißig bis vierzig Minuten zu beschränken. Es ist gemeinhin nicht ratsam, Zazen noch länger ohne Unterbrechung zu üben, da die geistige Spannkraft nachläßt und damit der Wert des Sitzens abnimmt. Ob man es nun spürt oder nicht, die Intensität der geistigen Konzentration wird doch allmählich schwächer. Aus diesem Grunde ist es besser, abwechselnd dreißig bis vierzig Minuten zu

69 sitzen und eine Runde Zazen zu gehen. Ja, wenn man dieser Methode folgt, kann man einen ganzen Tag oder gar eine Woche lang mit guten Ergebnissen Zazen üben. Je länger man jedoch Zazen sitzt, desto mehr Zeit sollte man auf das Zazen-Gehen verwenden. Ja, es ist gut, sogar Zeiten körperlicher Arbeit einzuschieben, wie man es seit alters in den Zen-Tempeln tut. Es ist klar, daß man solche Arbei- ten mit wacher Aufmerksamkeit durchführen muß und nicht nach- lässig oder stumpf dabei werden darf. Ein Wort über das Essen. Es ist besser, nicht mehr als achtzig Prozent dessen zu essen, was man essen könnte. Ein japanisches Sprichwort sagt, daß bei gefülltem Magen acht von zehn Teilen den Menschen erhalten, die anderen beiden Teile den Arzt. Im Zazen Yôjinki (Vor- kehrungen beim Zazen), das vor rund 650 Jahren zusammengestellt wurde, heißt es, daß man nur zwei Drittel des Fassungsvermögens essen solle, und weiterhin, daß man nahrhafte Gemüse wählen solle (natürlich entspricht es der Tradition des Buddhismus, kein Fleisch zu essen, und es war ganz tabu, als das Yôjinki geschrieben wurde), z. B. Gebirgskartoffeln, Sesam, saure Pflaumen, schwarze Bohnen, Pilze und Lotuswurzeln. Es empfiehlt auch verschiedene Arten von Seealgen, die sehr nahrhaft sind und zudem einen alkalischen Rück- stand im Körper hinterlassen. Nun bin ich zwar kein Fachmann auf dem Gebiet der Vitamine, Mineralien und Kalorien, aber es steht fest, daß die Speisenwahl der meisten Menschen von heute zuviel Säure im Blut erzeugt. In dieser Hinsicht richtet vor allem das Fleisch viel Schaden an. Essen Sie mehr Gemüse der schon erwähnten Arten, die alkalisch wirken. In alter Zeit gab es eine yang-yin-Diät. Dabei war Yang das Alkalische, Yin das Saure; und die alten Bücher warnen vor einer Diät, die zu sehr yang oder zu sehr yin ist. Es ist gut, beim Sitzen ein Notizbuch und einen Bleistift vor sich zu haben, denn mancherlei Einsichten werden in Ihrem Bewußtsein auf- leuchten, und Sie werden denken: «Das muß ich mir aufschreiben, ehe ich es vergesse.» Beziehungen, die bislang unbegreiflich waren, werden Ihnen plötzlich klar, und schwierige Probleme werden plötz- lich gelöst sein. Wenn Sie sich dergleichen nicht notieren, wird es Sie beunruhigen und Ihre Konzentration beeinträchtigen.

70 3. Stunde: Täuschende Erscheinungen und Empfindungen

Ehe ich beginne, möchte ich Ihnen eine neue Konzentrationsaufgabe geben. Anstatt wie bisher die Atemzüge beim Ausatmen zu zählen, zählen Sie von nun an «eins» beim ersten Einatmen, «zwei» beim nächsten usw. bis zehn. Das ist schwieriger, als beim Ausatmen zu zählen, da alle geistige und körperliche Tätigkeit beim Ausatmen durchgeführt wird. So atmen z. B. Tiere kurz vor dem Ansprung ein. Dieses Prinzip ist beim kendô (= Weg des Schwertes) und beim judô recht bekannt. Dabei lernt man, daß man den Angriff des Gegners voraussehen kann, wenn man genau auf dessen Atmung achtet. Obgleich die neue Übung schwierig ist, müssen Sie doch versuchen, sie als weitere Förderung geistiger Sammlung durchzuführen. Ehe Sie wieder vor mir erscheinen, zählen Sie also die Atemzüge beim Ein- atmen und zwar nicht hörbar, sondern still für sich. Wer Zazen übt, der erlebt in einem bestimmten Stadium seiner Praxis leicht gewisse Phänomene, die man makyô nennt: Gesichte, Halluzina- tionen, phantastische Vorstellungen, Offenbarungen oder täuschende Empfindungen. Ma heißt «Teufel» und kyô «die objektive Welt». Makyô sind also die störenden oder «teuflischen» Phänomene, die uns beim Zazen erscheinen. An sich sind diese Phänomene nicht böse. Sie werden nur dann zu einem ernsten Hindernis beim Üben, wenn man ihr wahres Wesen nicht kennt und sich von ihnen bestricken läßt. Man wendet das Wort Makyô in einem allgemeinen und in einem besonderen Sinn an. Ganz allgemein gesagt, ist das gesamte Leben der gewöhnlichen Menschen nichts als Makyô. Sogar Bodhisattvas wie MONJU und KANNON haben bei all ihrer hohen Entfaltung doch noch Spuren von Makyô an sich; sonst würden sie ja erhabene Buddhas sein, völlig frei von Makyô. Auch wer an dem haftet, was er im Satori geschaut hat, verweilt noch in der Welt der Makyô. Sie sehen also, daß sogar noch nach der Erleuchtung Makyô auftreten. Auch die Zahl der im besonderen Sinn des Wortes als Makyô bezeich- neten Erscheinungen ist schier unbegrenzt. Sie sind je nach Persönlich- keit und Temperament des Übenden verschieden. Im Ryogon (Śūran-

7l gama)-Sûtra warnt der Buddha vor fünfzig verschiedenen Arten, wobei er natürlich nur die üblichsten erwähnt. Wenn Sie an einem Sesshin von etwa fünf bis sieben Tagen teilnehmen und voll und ganz darin aufgehen, werden Sie vermutlich am dritten Tage Makyô von verschiedener Intensität erleben. Außer Makyô in Form von Gesich- ten gibt es viele, die Geruchs-, Gehör- oder Tastsinn betreffen. Andere wieder veranlassen den Körper zu Bewegungen; so wiegt er sich z. B. von Seite zu Seite, oder vor und zurück, oder man lehnt sich nach einer Seite, oder man hat das Gefühl zu sinken oder in die Höhe zu steigen. Seltener kommt es vor, daß man einen besonders aromati- schen Duft zu riechen vermeint. Es gibt auch Fälle, da man, ohne sich dessen bewußt zu sein, etwas aufschreibt, was sich später als prophe- tisch wahr erweist. Visuelle Halluzinationen sind besonders häufig. Während man Zazen mit offenen Augen übt, fangen plötzlich die Ränder der Strohmatten vor einem an, sich wogenartig auf und ab zu bewegen. Oder es wird alles vor Ihren Augen gänzlich unvermittelt schwarz oder weiß. Eine Aststelle im Holz einer Tür mag einem plötzlich als Tier, Dämon oder Engel erscheinen. Einer meiner Schüler hatte oft Gesichte von Masken und zwar von Teufels- oder Narrenmasken. Ich fragte ihn, ob er einmal ein besonderes Erlebnis mit Masken gehabt hätte. Es kam dabei heraus, daß er sie als Kind bei einem Fest in Kyushu34 gesehen hatte. Ein anderer wurde bei seinen Übungen durch Visionen des Buddha und seiner Jünger äußerst beunruhigt; sie umschritten ihn und rezitierten Sûtras dabei. Er konnte diese Halluzinationen nur dadurch loswerden, daß er für ein bis zwei Minuten in eine Wanne mit eiskaltem Wasser stieg. Viele Makyô betreffen das Gehör. Man hört vielleicht den Ton eines Klaviers oder ein lautes Geräusch, wie das einer Explosion (das aber sonst niemand hört), so daß man buchstäblich hochfährt. Einer mei- ner Schüler hörte beim Zazen immer den Ton der Bambusflöte. Viele Jahre zuvor hatte er einmal gelernt, Bambusflöte zu spielen, hatte es aber schon lange aufgegeben. Dennoch tauchte der Klang beim Sitzen immer wieder in ihm auf.

34. die südlichste der großen Inseln Japans.

72 Im Zazen Yôjinki finden wir folgendes über Makyô: «Der Körper kann sich heiß oder kalt, glasartig, hart, schwer oder leicht anfühlen. Das tritt ein, weil die Atmung nicht in rechter Harmonie (mit dem Geist) ist; sie muß sorgfältig geregelt werden.» Und weiterhin: «Man mag das Gefühl des Sinkens oder Dahintreibens haben; man kann sich auch abwechselnd benebelt und höchst wach fühlen. Der Schüler mag auch wohl die Fähigkeit entwickeln, durch feste Gegenstände hindurchzu- sehen, als ob sie durchsichtig wären. Er mag auch den eigenen Körper als durchscheinende Masse empfinden. Er kann Buddhas und Bodhisattvas sehen. Durchdringende Einsichten mögen ihm plötzlich kommen, oder ein besonders schwer verständlicher Abschnitt aus einem Sûtra wird ihm mit einem Male leuchtend klar. All diese ungewöhnlichen Erscheinungen und Empfindungen sind lediglich Symptome einer Beeinträchtigung, wie sie sich aus einem mangelhaften Zusammenspiel von Geist und Atmung ergibt.» Andere Religionen und Sekten messen solchen Erfahrungen, die Visio- nen von Gott, Hören himmlischer Stimmen, Wunder-Tun, Empfan- gen göttlicher Botschaften oder Läuterung durch mancherlei Riten einschließen, großen Wert bei. So ruft z. B. der Gläubige der NICHI- REN-Sekte den Namen des Lotus-Sûtra wieder und wieder mit lauter Stimme an, was er mit heftigen Körperbewegungen begleitet, und er hat dann das Gefühl, sich dadurch von seinen Verfehlungen gereinigt zu haben. Solche Praktiken rufen zwar in verschiedenem Ausmaß ein Gefühl des Wohlseins hervor; vom Standpunkt des Zen aus sind das jedoch alles nur krankhafte Zustände, bar jeder wirklich religiösen Bedeutung und daher nichts als Makyô. Was ist nun die eigentliche Natur dieser störenden Phänomene, die wir Makyô nennen? Es handelt sich dabei um vorübergehende men- tale Zustände, die sich beim Zazen dann einstellen, wenn sich unsere Fähigkeit zur Sammlung bis zu einem gewissen Grade entwickelt hat und unsere Übungsweise an Reife gewinnt. Wenn Gedankenwellen, die an der Oberfläche der sechsten Bewußtseinsebene kommen und gehen, schon teilweise geglättet sind, tauchen plötzlich Rückstände vergangener Erlebnisse, die sich auf der siebenten und achten Bewußt-

73 seinsebene «aufgehalten» haben, hier und da an der Oberfläche des Bewußtseins auf und vermitteln uns das Gefühl einer größeren und ausgedehnteren Wirklichkeit. So sind also Makyô ein Gemisch aus Wirklichem und Unwirklichem, ähnlich wie gewöhnliche Träume. Nun kommen Träume nur dann vor, wenn man halb schläft, halb wach ist, aber nicht, wenn man im Tiefschlaf liegt; ebenso kommen Makyô nicht zu dem, der sich in tiefer Konzentration oder im samâdhi befindet. Lassen Sie sich nie dazu verführen, solche Phäno- mene für wirklich zu halten oder zu glauben, daß diese Gesichte an sich irgendeine Bedeutung hätten. Wenn Sie eine schöne Vision von einem Bodhisattva haben, so bedeutet das durchaus nicht, daß Sie näher daran sind, selbst einer zu werden, wie ja auch der Traum, daß man ein Millionär sei, durchaus nicht bedeutet, daß man beim Auf- wachen etwa reicher wäre. Es liegt also kein Grund vor, sich durch ein derartiges Makyô erhoben zu fühlen. Desgleichen gibt es keinen Grund zur Bestürzung, wenn Ihnen Ungeheuer erscheinen, mögen sie auch noch so schrecklich sein. Lassen Sie sich vor allen Dingen von Visionen von Buddhas oder Göttern, die Sie segnen oder Ihnen gött- liche Botschaften übermitteln, nicht verführen und ebensowenig von Makyô prophetischen Inhalts, der sich als wahr erweist. Damit wür- den Sie nur Ihre Kräfte auf der törichten Jagd nach Nebensächlich- keiten verschwenden. Indessen sind solche Visionen gewiß ein Zeichen dafür, daß Sie im Zazen an einem entscheidenden Punkt angekommen sind und mit Sicherheit Kenshô erleben können, wenn Sie sich aufs äußerste an- strengen. Der Überlieferung nach hat sogar SHAKYAMUNI Buddha kurz vor seinem eigenen Erwachen unzählige Makyô erlebt, die er «versperrende Teufel» nannte. Wann auch immer Makyô auftreten, nehmen Sie keine Notiz davon, sondern fahren Sie mit aller Kraft im Zazen fort.

74 4. Stunde: Die fünf Arten des Zen

Ich werde Ihnen nun die verschiedenen Arten des Zen darlegen. Wenn Sie nicht lernen, sie zu unterscheiden, dürften Sie sich in ent- scheidenden Punkten irren, so z.B. hinsichtlich der Frage, ob beim Zen Satori notwendig sei oder nicht, ob Zen das gänzliche Feh- len alles diskursiven Denkens bedeute, und dergleichen mehr. Die Wahrheit ist, daß es unter den vielen Arten des Zen einige gibt, die tiefgründig sind, und andere, die seicht sind, einige, die zur Erleuchtung führen, und andere, die das nicht tun. Man sagt, daß es zu Buddhas Zeiten neunzig oder fünfundneunzig Schulen der Philosophie und Religion gegeben habe. Jede dieser Schulen hatte ihren besonderen Zen-Modus, wobei jeder ein wenig von den anderen abwich. Alle großen Religionen haben gewisse Züge mit Zen gemeinsam, da jede Religion des Gebets und jedes Gebet geistiger Sammlung bedarf. Die Lehren von KUNG-TZE und MENG-TZE, LAO-TZE und CHUANG-TZE, sie alle enthalten eigene Zen-Elemente. So erstreckt sich Zen auch auf verschiedene Gebiete des Lebens, und wir finden es bei der Tee- zeremonie (cha-dô = Weg des Tees), beim Nô-Spiel, Ken-dô oder Ju-dô. In Japan sind seit der MEIJI-Restauration, also seit knapp hun- dert Jahren, eine Reihe von Lehr- und Schulungsmethoden entstan- den, die Zen-Elemente enthalten. Diese Entwicklung setzt sich bis zum heutigen Tage fort. Ich erinnere unter anderem an OKADAS System ruhigen Sitzens und EMMAS Methode zur Schulung von Geist und Körper. Vor kurzem hat ein gewisser eine Art indisches -Zen propagiert. All diese verschiedenen Konzentra- tionsmethoden, schier unbegrenzt an Zahl, finden sich unter dem umfassenden Titel: Zen. Ich will hier nicht versuchen, auf alle im einzelnen einzugehen, sondern vielmehr über die fünf wichtigsten Kategorien des Zen sprechen, wie sie von KEIHO Zenji, einem der frühen Zen-Meister in China, klassifiziert wurden, und die meiner Ansicht nach noch immer gültig und nützlich sind. Äußerlich gesehen, unterscheiden sich diese fünf Zen-Arten kaum voneinander. Es gibt vielleicht geringe Abweichungen beim Verschränken der Beine, dem

75 Ineinanderlegen der Hände oder der Regelung des Atems. Aber allen sind folgende drei Grundelemente gemeinsam: aufrechte Sitzhaltung, Regelung des Atems und geistige Konzentration. In Gehalt und Ziel dieser verschiedenen Arten gibt es jedoch ausgesprochene Unter- schiede, die sich besonders Anfänger merken sollten. Diese Unter- scheidungen sind wichtig für Sie, denn sie werden Ihnen helfen, Ihr Ziel klar zu definieren, wenn Sie einzeln vor mir erscheinen und mir sagen sollen, was Sie anstreben. Ich kann Ihnen dann umso besser die Übung zuweisen, die Ihnen angemessen ist. Die erste dieser Arten nennen wir bonpu oder gewöhnliches Zen, im Gegensatz zu den vier anderen, von denen jede als eine besondere Art des Zen aufgefaßt werden kann, die in ihrer jeweiligen Eigenart den besonderen Zielen des Einzelnen entspricht. Bonpu-Zen ist für alle und jeden, da es frei von jeglichem philosophischen und religiösen Gehalt ist. Dieses Zen übt man einzig und allein in dem Glauben, daß es die körperliche und geistige Gesundheit fördern kann. Da es fast mit Sicherheit keine nachteiligen Wirkungen hat, kann jedermann es üben, welche Glaubensanschauungen er auch haben mag, und selbst dann, wenn er gar keine hat. Durch Bonpu-Zen werden auf jeden Fall Krankheiten psychosomatischer Art verschwinden, und der all- gemeine Gesundheitszustand wird sich heben. Wenn man Bonpu-Zen übt, so lernt man sich konzentrieren und die seelisch-geistigen Vorgänge überwachen. Die meisten Menschen kom- men gar nicht auf den Gedanken, auch nur den Versuch einer solchen seelisch-geistigen Kontrolle zu machen. Leider gehört diese grund- sätzliche Schulung nicht zu unserem heutigen Erziehungssystem, da es nicht unter das, was wir «Erwerben von Kenntnissen» nennen, fällt. Doch ohne diese Schulung können wir nur schwer behalten, was wir lernen, da wir es auf unrichtige Weise lernen, wobei wir viel Kraft unnütz vergeuden. Ja, wir sind im Grunde genommen Krüppel, solange wir unsere Gedanken nicht zu zügeln, uns geistig nicht zu sammeln wissen. Wenn Sie diese ausgezeichnete Methode geistiger Schulung üben, werden Sie auch merken, daß Sie in zunehmendem Maße Versuchungen widerstehen können, denen Sie bislang erlegen sind, und sich von Bindungen lösen können, denen Sie lange hörig

76 waren. Bereicherung der Persönlichkeit und Stärkung des Charak- ters folgen unausweichlich, da sich die drei geistig-seelischen Grund- elemente, Verstand, Gefühl und Wille, in Harmonie miteinander ent- wickeln. Bei dem quietistischen Sitzen, wie man es im Konfuzianis- mus geübt hat, scheint man vor allem auf diese Wirkungen geistiger Sammlung Gewicht gelegt zu haben. Es steht jedoch fest, daß Bonpu- Zen, obgleich es sich weit segensreicher auf die geistige Entwicklung auswirkt als das Lesen zahlloser Bücher über Ethik und Philosophie, die Grundprobleme des Menschen und seiner Beziehung zum Weltall nicht lösen kann. Warum? Weil es die verblendete Grundvorstellung des Menschen, daß er selbst etwas gänzlich anderes sei als das Weltall, nicht auflösen kann. Die zweite der fünf Zen-Arten wird gedô genannt. Gedô heißt wört- lich übersetzt «Weg außerhalb», d. h. Lehren folgend, die außerhalb der buddhistischen liegen. Hier haben wir es mit einem Zen zu tun, das zwar in einer Beziehung zu Philosophie und Religion steht, jedoch kein buddhistisches Zen ist. Hindu-Yoga, das quietistische Sitzen im Konfuzianismus und christliche Kontemplationsübungen könnte man auch zur Kategorie des Gedô-Zen zählen. Ein anderes Charakteristikum von Gedô-Zen besteht darin, daß es oft geübt wird, um mancherlei übernatürliche Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln, oder um gewisse, außerhalb der Reichweite des nor- malen Menschen liegende Künste zu meistern. Ein gutes Beispiel dafür bietet TEMPU NAKAMURA, den ich schon vorhin erwähnt habe. Man sagt, daß er Menschen zum Handeln veranlassen kann, ohne daß er selbst auch nur einen Muskel bewegte oder ein Wort spräche. Das Ziel der EMMA-Methode ist es, Kunststücke, wie z. B. das Barfuß- gehen auf scharfen Schwertschneiden fertigzubringen, oder das Anstarren von Spatzen, so daß sie gelähmt werden. All diese wunder- baren Heldentaten kommen durch die Entwicklung von Jôriki zustan- de, jener besonderen Kraft oder Macht, die sich durch angestrengtes Üben geistiger Konzentration einstellt. Ich werde darüber später noch im einzelnen sprechen. Hier möchte ich nur daran erinnern, daß ein Zen, das einzig und allein die Ausbildung von Jôriki um solcher Ziele willen anstrebt, kein buddhistisches Zen ist.

77 Ein weiteres Ziel des Gedô-Zen ist die Wiedergeburt in verschiedenen Himmeln. Gewisse Hindu-Sekten üben Zen, um im Himmel wieder- geboren zu werden. Das ist nicht das Ziel des Zen-Buddhismus. Obgleich der Zen-Buddhismus an der Vorstellung verschiedener Him- melssphären nichts auszusetzen hat und ebensowenig an dem Glau- ben, daß man dort auf Grund der zehn Arten verdienstvoller Werke wiedergeboren werden kann, verlangt ihn selbst doch nicht nach Wie- dergeburt im Himmel. Die Bedingungen dort sind bei weitem zu angenehm und bequem, und so kann man nur allzu leicht dazu ver- führt werden, von Zazen abzulassen. Im übrigen kann man, wenn unsere Verdienste im Himmel abgegolten sind, nur allzu leicht wieder in der Hölle landen! Deshalb halten es Zen-Buddhisten für erstre- benswerter, in die Welt der Menschen hineingeboren zu werden und dort Zazen zu üben mit dem Ziel, ein Buddha zu werden. Damit möchte ich für heute schließen; in der nächsten Stunde werde ich das Thema der fünf Zen-Arten zu Ende führen.

5. Stunde: Die fünf Arten des Zen (Fortsetzung)

Ehe ich zu den anderen drei Arten des Zen übergehe, möchte ich Ihnen eine weitere Methode zur Konzentration geben: das Verfolgen des Atems mit dem geistigen Auge. Hören Sie einstweilen damit auf, die Atemzüge zu zählen, und folgen Sie stattdessen den ein- und aus- gehenden Atemzügen mit gespannter Aufmerksamkeit. Dabei ver- suchen Sie, sich die Atemzüge anschaulich vorzustellen. Üben Sie das, bis Sie wieder zu mir kommen. Die dritte Art des Zen ist shôjô, was wörtlich übersetzt «Kleines Fahrzeug» (Hīnayâna) heißt. Bei dieser Lehre handelt es sich um das «Fahrzeug», das Sie aus einer Geistesverfassung, der Verblendung, zu einer anderen, der Erleuchtung, bringen soll. Man nennt es «Klei- nes Fahrzeug», da es so angelegt ist, daß es nur einen selbst «unter- bringen» kann, etwa einem Fahrrad vergleichbar. Das «Große Fahr- zeug», Mahâyâna, hingegen ist eher einem Auto oder einem Bus zu vergleichen, die beide zusätzlich noch andere Menschen aufnehmen

78 können. Somit ist shôjô eine Form des Zazen, bei der man nur auf den eigenen inneren Frieden bedacht ist. Hier haben wir es also mit einem Zen zu tun, das zwar buddhistisch ist, sich aber nicht in Übereinstimmung mit den höchsten Lehren des Buddha befindet. Es ist vielmehr ein Notbehelf für jene, die die tiefste Bedeutung von Buddhas Erleuchtung nicht erfassen können, die nicht zu erkennen vermögen, daß alles Seiende ein untrennbares Ganzes ist und daß ein jeder von uns das Weltall in seiner Ganzheit umschließt. Da das die Wahrheit ist, so folgt daraus, daß wir zu keinem echten in- neren Frieden gelangen können, wenn wir nur unsere eigene Erleuch- tung suchen und dabei dem Wohl anderer gleichgültig gegenüberstehen. Es gibt jedoch Menschen, die sich einfach nicht dazu aufraffen kön- nen, an die Wirklichkeit der Welt als eines untrennbaren Ganzen zu glauben. Wie oft man sie auch lehren mag, daß die Welt der Relati- vität und Unterscheidungen, an die sie sich klammern, eine Täu- schung, das Produkt ihrer irrigen Sicht ist, so können sie doch nur das Gegenteil davon glauben. Solchen Menschen kann die Welt nur als durch und durch böse erscheinen, voller Sünde, Kampf und Leiden, erfüllt von Töten und Getötet-Werden. In ihrer Verzweiflung ver- suchen sie, all dem zu entrinnen. Ja, selbst der Tod scheint ihnen besser als solch ein Leben. Nun ist die schlimmste aller Sünden die Vernichtung des Lebens, in welcher Form und unter was für Umstän- den auch immer, da es einen nach dem unausweichlichen Gesetz des Karma zu grenzenlosen Leiden verurteilt, wie zur Wiedergeburt als Tier oder Dämon in zahllosen künftigen Existenzen. Der bloße Tod ist also noch kein Ende. Sie suchen daher einen Weg, um jeglicher Wiedergeburt zu entgehen, eine Art und Weise zu sterben, ohne wie- dergeboren zu werden. Shôjô-Zen bietet eine Lösung dieses Problems. Sein Ziel ist es, alle Gedanken anzuhalten, so daß der Geist gänzlich verödet und in einen Zustand übergeht, den man mushinjô nennt, eine Verfassung, bei der alle Sinneswahrnehmungen ausgelöscht sind und das Bewußtsein aus- setzt. Durch Übung kann jeder diese Fähigkeit entwickeln. Wenn kein Wunsch zu sterben besteht, so kann man sich auf begrenzte Zeit in diesen trance-ähnlichen Zustand versetzen - sagen wir, für ein bis

79 zwei Stunden oder auch für ein bis zwei Tage. Man kann aber auch unbegrenzt darin verweilen; dann tritt der Tod natürlich und schmerzlos ein und vor allem ohne Wiedergeburt, was das Wichtigste dabei ist. In dem buddhistisch-philosophischen Werk Kusharon wird der gesamte Vorgang dieses Sterbens ohne Wiedergeburt in allen Ein- zelheiten erörtert. Die vierte Art des Zen nennt man daijô, «Großes Fahrzeug» (Mahâ- yâna). Das ist wahrhaft buddhistisches Zen, denn sein zentrales Anliegen ist Kenshô-godô, d. h. Schau ins eigene innerste Wesen und Verwirklichung des Großen Weges im Alltag. Der Buddha lehrte diese Art des Zen für jene, die imstande sind, die Tragweite seiner eigenen Erleuchtung zu begreifen, und die voll Verlangen sind, ihre eigene trügerische Auffassung vom Weltganzen zu durchbrechen und zur absoluten, unzerteilten Wirklichkeit durchzudringen. Der Bud- dhismus ist seinem Wesen nach eine Religion der Erleuchtung. Nach seinem eigenen Satori-Erlebnis verbrachte der Buddha etwa fünfzig Jahre damit, die Menschen zu lehren, wie auch sie zur Erkenntnis ihres eigentlichen Wesens gelangen könnten. Seine Methoden wurden vom Meister auf den Schüler übermittelt, bis zum heutigen Tag. Somit kann man sagen, daß ein Zen, das Satori unbeachtet läßt oder herab- setzt, kein wahres Daijô-buddhistisches Zen ist. Bei der Übung des Daijô-Zen ist das erste Ziel, zum eigenen Wahren Wesen zu erwachen. Nach der Erleuchtung aber begreift man, daß Zazen mehr ist als ein Mittel, Erleuchtung zu erlangen. Es ist viel- mehr selbst schon die Vergegenwärtigung des uns innewohnenden Wahren Wesens. Bei dieser Art des Zen, das Satori-Erwachen zum Ziel hat, kann man leicht Zazen einzig als Weg und Mittel ansehen. Ein weiser Lehrer wird von Anfang an auf diese Gefahr hinweisen. Wäre Zazen nichts als eine Technik, Erleuchtung zu erlangen, so würde daraus folgen, daß nach Satori Zazen überflüssig ist. Aber das Gegenteil trifft zu, wie DÔGEN Zenji dargelegt hat: Je tiefer man Satori erlebt, desto mehr begreift man die Notwendigkeit zu üben35. Saijôjô, die letzte der fünf Arten des Zen, ist das höchste Fahrzeug,

35. Siehe S. 384.

80 Höhepunkt und Krönung des buddhistischen Zen. Dieses Zen wurde von allen Buddhas der Vergangenheit geübt, so von SHAKYAMUNI und auch AMIDA -, und es ist der Ausdruck des Absoluten Lebens, des Lebens in seiner reinsten Form. Es ist jenes Zazen, für das DÔGEN Zenji vor allem eintrat. Hier gibt es kein Ringen um irgend etwas, nicht einmal um Satori. Wir nennen es Shikantaza. Ich werde in einer der nächsten Stunden näher darauf eingehen. Bei dieser höchsten Form der Übung sind Weg und Ziel in eins ver- schmolzen. Daijô-Zen und Saijôjô-Zen ergänzen einander. Die Rin- zai-Sekte stellt Daijô an die Spitze und Saijôjô darunter, während die Sôtô-Sekte es umgekehrt hält. Beim Saijôjô-Zen sitzt man, wenn man es richtig übt, in der festen Überzeugung, daß Zazen die Vergegen- wärtigung des eigenen makellosen Wahren Wesens ist, und gleich- zeitig sitzt man im festen Glauben, daß der Tag kommen wird, da man mit dem Ausruf «Ach, das ist es!» dieses Wahre Wesen klar erkennt. Man braucht daher nicht im Bewußtsein seiner selbst um Erleuchtung zu ringen. Heutzutage sind viele Anhänger der Sôtô-Sekte der Ansicht, daß Satori überflüssig sei, da wir alle von Natur Buddhas sind. Das ist ein ungeheuerlicher Irrtum, und er hat Shikantaza, das eigentlich die höchste Form des Zazen darstellt, zu nichts als Bonpu-Zen, der ersten der fünf Arten, degradiert. Damit schließe ich die Darstellung der fünf Arten des Zen. Aber meine Darlegung wäre unvollständig, besonders hinsichtlich der letz- ten beiden Arten, wollte ich Ihnen nicht zudem über die drei Ziele des Zen berichten.

6. Stunde: Die drei Ziele des Zen

Zazen hat drei Ziele: 1. Entwicklung der Kraft der Konzentration (Jôriki), 2. Satori-Erwachen (Kenshô-godô) und 3. Verwirklichung des Erhabenen Weges im täglichen Leben (mujôdô-no taigen). Diese drei bilden eine unauflösliche Einheit. Zum Zweck der Erörterung jedoch muß ich sie einzeln behandeln.

81 Jôriki ist die Macht oder Stärke, die dann erwächst, wenn der Geist durch Konzentration geeint und in eine Spitze gesammelt ist. Das ist mehr als Konzentrationsfähigkeit im üblichen Sinn des Wortes. Es ist eine dynamische Kraft, die uns, einmal in Bewegung gesetzt, dazu befähigt, in gänzlich unvorhergesehenen Situationen blitzschnell zu handeln, wie es den Gegebenheiten am besten entspricht, ohne erst nachsinnend innezuhalten. Wer Jôriki entwickelt hat, ist nicht länger ein Sklave seiner Leidenschaften, noch ist er der Umwelt preisgege- ben. Stets Meister über sich und die Umstände seines Lebens, vermag er sich mit völliger Freiheit und Gelassenheit zu bewegen. Durch Jôriki ist auch die Ausbildung gewisser übernatürlicher Kräfte mög- lich, wie auch das Eintreten in jenen Zustand, da der Geist gleich klarem, stillem Wasser ist. Die ersten beiden der fünf Arten des Zen, über die ich gesprochen habe, sind ganz und gar von Jôriki abhängig, ebenso der Zustand des Mushinjô beim shôjô-Zen - jene Verfassung, bei der die Bewußtseins- funktionen bis zu völliger geistiger Verödung erlöschen. Während nun die Kraft des Jôriki durch regelmäßiges Üben endlos anwachsen kann, nimmt sie doch ab und verschwindet schließlich, wenn wir Zazen vernachlässigen. Und obgleich viele außerordentliche Kräfte aus Jôriki hervorgehen, so können wir durch Jôriki allein doch nicht unsere trügerische Weltschau mit den Wurzeln ausrotten. Die Kraft der Konzentration allein ist für die höchsten Arten des Zen nicht ausreichend; das Satori-Erwachen muß hinzukommen. In einem wenig bekannten Dokument, das uns vom Patriarchen SEKITÔ KISEN, dem Gründer einer der ersten Zen-Sekten, überliefert wurde, steht folgendes: «In unserer Sekte steht die Verwirklichung des Buddha-Wesens an der Spitze und nicht bloße Andachtsübungen oder Konzentrationskräfte.» Das zweite Ziel ist Kenshô-godô, die Schau des eigenen Wahren Wesens und gleichzeitig die Schau in den Wesensgrund des Weltalls mit «all den zehntausend Dingen» darin. Es ist die plötzliche Erkenntnis: «Ich bin von allem Anbeginn an ganz und vollkommen. Wie wunderbar, wie voller Wunder!» Wenn es sich um echtes

82 Kenshô handelt, ist es seiner Substanz nach immer gleich, wer immer es auch erleben möge, sei es nun SHAKYAMUNI Buddha, Buddha Amida oder irgendeiner von Ihnen, die Sie hier im Tempel versammelt sind. Das bedeutet jedoch nicht, daß wir alle Kenshô auch im gleichen Aus- maß erleben können; an Klarheit, Tiefe und Vollständigkeit gibt es große Unterschiede. Stellen Sie sich zur Veranschaulichung einen von Geburt an Blinden vor, der ganz allmählich seine Sehkraft erlangt. Zuerst kann er nur ganz verschwommen einige Gegenstände in sei- ner Nähe wahrnehmen. Wenn seine Sehkraft sich weiter bessert, ist er fähig, Dinge zu unterscheiden, die ungefähr einen Meter von ihm entfernt sind, später Dinge auf zehn Meter Entfernung, dann auf hundert Meter, und schließlich kann er alles bis auf eine Entfernung von tausend Metern erkennen. In jedem dieser Stadien ist die Welt der Erscheinungen, die er sieht, die gleiche, aber die Unterschiede an Klarheit und Genauigkeit seiner Sicht sind so groß wie die zwischen Schnee und Kohle. Genau so ist es mit den Unterschieden an Klar- heit und Tiefe bei dem Erlebnis des Kenshô. Das letzte der drei Ziele ist Mujôdô-no Taigen, die Verwirklichung des Erhabenen Weges mit unserem gesamten Sein in all unseren täg- lichen Verrichtungen. Auf dieser Stufe unterscheiden wir nicht mehr Zweck und Mittel. Diesem Stadium entspricht Saijôjô, über das ich als fünfte und höchste der fünf Zen-Arten gesprochen habe. Wenn Sie gemäß den Unterweisungen eines befähigten Meisters ernsthaft und «ichlos» sitzen, den Sinn frei von Gedanken, so daß er gleichsam ein reines, weißes, von keinem Flecken verunstaltetes Blatt Papier darstellt - jedoch bei vollem Bewußtsein -, entfaltet sich Ihr von Natur reines Buddha-Wesen, ob Sie nun Satori erlebt haben oder nicht. Hier muß jedoch betont werden, daß Sie nur durch echte Erleuchtung der Wahrheit Ihres Buddha-Wesens unmittelbar inne- werden können. Damit auch begreifen Sie erst ganz, daß Saijôjô, die reinste Form des Zen, sich nicht von dem unterscheidet, was alle Buddhas übten. Da diese drei Ziele in Wechselwirkung stehen, sollte die Ausübung von buddhistischem Zen alle drei umfassen. So gibt es z. B. eine wich- tige Verbindung von Jôriki und Kenshô. Kenshô ist die «sich Jôriki

83 natürlich zugesellende Weisheit», d. h. jenes Wissen, das aus Versen- kung erwächst. Jôriki ist noch auf andere Weise mit Kenshô ver- bunden. Viele Menschen könnten niemals Kenshô erreichen, wenn sie nicht vorher ein gewisses Maß von Jôriki entwickelt hätten, da sie sonst zu rastlos, zu nervös und unsicher sind, um beharrlich mit Zazen fortzufahren. Zudem wird eine einzige Kenshô-Erfahrung keine nen- nenswerte Wirkung auf unser Leben haben und zu bloßer Erinne- rung verblassen, wenn sie nicht durch Jôriki gestützt wird. Obgleich Sie durch das Kenshô-Erlebnis die dem Kosmos zugrunde liegende Einheit mit Ihrem geistigen Auge geschaut haben, sind Sie doch ohne Jôriki nicht imstande, mit der ganzen Kraft Ihres Seins im Sinne dessen zu handeln, was Ihre innere Schau Ihnen offenbart hat. So gibt es auch eine Wechselbeziehung zwischen Kenshô und dem dritten der Ziele, Mujôdô-no Taigen. Wenn Kenshô sich in all Ihren Handlungen auswirkt, so ist es Mujôdô-no Taigen. Durch vollkom- mene Erleuchtung (anuttarā samyak-samhodhi) begreifen wir auch, daß unsere Begriffsvorstellung von einer Welt der Zweiheit und Gegensätze falsch ist, und gleichzeitig offenbart sich uns die Welt der unbedingten Einheit, echter Harmonie und wahren Friedens. In der Rinzai-Sekte ist man geneigt, das Satori-Erwachen zum End- zweck von Zazen zu machen, und man gleitet flüchtig über Jôriki und Mujôdô-no Taigen hinweg. Damit wird die Notwendigkeit, auch nach der Erleuchtung zu üben, auf ein Mindestmaß beschränkt. Die Arbeit an einem Kôan wird, anstatt zur Ausweitung und Stärkung des Satori zu dienen, im Wesentlichen zu einem intellektuellen Spiel, da sie nicht von Zazen getragen wird und mit dem Alltag kaum in Verbindung steht. Andererseits tritt man in den offiziellen Kreisen der Sôtô-Sekte für eine Übungsweise ein, bei der die Betonung auf Mujôdô-no Taigen liegt, was in Wirklichkeit jedoch nur auf eine Anreicherung von Jôriki hinausläuft, das, wie ich schon gesagt habe, «leck» ist, abnimmt und schließlich ganz verschwindet, wenn man Zazen nicht regel- mäßig weiterführt. Die Behauptung der Sôtô-Sekte, daß Kenshô unnötig sei und daß man nichts weiter zu tun habe, als die täglichen Verrichtungen im Geist des Buddha zu erledigen, ist trügerisch, da Sie

84 ohne Kenshô nie wirklich wissen können, was denn dieser Buddha- Geist ist. Diese mangelnde Ausgewogenheit innerhalb beider Sekten 36 hat leider in jüngster Zeit den Wert der Zen-Lehre beeinträchtigt.

7. Stunde: Dokusan (individuelle Unterweisung)

Fahren Sie mit der Übung fort, die ich Ihnen das letzte Mal gab; konzentrieren Sie sich also weiterhin auf die ein- und ausgehenden Atemzüge, und bemühen Sie sich, jeden Atemzug deutlich zu sehen. Die heutige Unterweisung befaßt sich mit Dokusan. Dokusan bietet Ihnen die Möglichkeit, allein vor dem Rôshi alle Probleme vorzubrin- gen, die die Übung betreffen. Dieser Brauch der individuellen Unter- weisung nahm mit dem hochverehrten SHAKYAMUNI selbst seinen Anfang und wurde ununterbrochen bis zum heutigen Tage fort- geführt. Das ist uns bekannt, da einer der großen Tendai-Meister, CHISHA DAISHI, in seiner systematischen Einteilung aller Sûtras in Acht Lehrweisen und Fünf Zeitabschnitte die Geheime Belehrung auf- führt, die dem Dokusan entspricht. Ohne diese individuelle Anleitung kann man die Zazen-Übung nicht als authentisch ansprechen. Leider ist Dokusan seit der MEIJI-Zeit vor etwa hundert Jahren in der Sôtô-Sekte praktisch ausgestorben; sie lebt nur noch in der Rinzai-Sekte weiter. Wenn wir Zazen mit einer Wanderung vergleichen, bei der einige am Anfang eilen und später ihr Tempo verlangsamen, andere langsam beginnen und später ihren Schritt beschleunigen, bei der einigen ein Abschnitt des Weges gefähr- licher vorkommt als ein anderer, und bei der alle verschieden schwe-

36. Folgendes aus einem unveröffentlichten Manuskript des verstorbenen NYOGEN SENZAKI mag als poetische Beschreibung der Unterschiede von Rinzai und Sôtô von Interesse sein: «Unter Zen-Schülern heißt es: ,Die Rinzai-Lehre ist wie der Frost im Spätherbst, der einen frösteln macht, während die Sôtô-Lehre dem Früh- lingswind gleicht, der die Blumen liebkost und ihnen zum Blühen verhilft.' Ein anderes Sprichwort lautet: ,Die Rinzai-Lehre ist einem tapferen General gleich, der sein Regiment unverzüglich in Marsch setzt, während die Sôtô-Lehre einem Bauern gleicht, der sein Reisfeld versorgt - geduldig, Halm für Halm.'»

85 res Gepäck (d. h. vorgefaßte Meinungen) tragen, dann verstehen wir allmählich, warum man auf individuelle Anleitung durch Dokusan nicht verzichten kann. Man mag fragen, warum es denn nötig sei, Dokusan geheim zu hal- ten. Da nichts Unmoralisches im Spiele ist, warum kann es nicht offen und öffentlich sein? Erstens einmal sind wir, da wir gewöhnliche, ich- behaftete Menschen sind, geneigt, uns in Gegenwart von anderen bes- ser zu machen, als wir sind. Wir können unsere Seele nicht ent- blößen und sozusagen nackt dastehen. So zögern wir auch, die volle Wahrheit zu sagen, aus Furcht, ausgelacht zu werden. Wenn der Rôshi uns schilt und dabei harte Worte gebraucht, kümmern wir uns mehr um den Eindruck, den das auf die anderen macht, als daß wir ihm offenen Sinnes zuhörten. Es gibt noch einen weiteren Grund für die Zurückgezogenheit beim Dokusan. Nach Ihrer ersten Kenshô-Erfahrung schreiten Sie mit wachsendem Verständnis von Kôan zu Kôan fort. Wären nun andere zugegen, wenn Sie diese Kôans demonstrieren, dann würden sie viel- leicht, wenn sie die Antworten des Rôshi hören, denken: ,Ach, das ist also die Antwort!' ohne die Tragweite des Kôans ganz zu ver- stehen. Es ist klar, daß das ihrem Üben schaden würde; denn anstatt selbst den inneren Sinn zu erfahren und ihn vor dem Rôshi darzu- legen, würden sie sich erinnern, daß die eine Antwort annehmbar war, die andere aber nicht, und so würde ihre Kôan-Schulung zu ihrem eigenen Nachteil auf einen bloßen Denkvorgang herabsinken. Aus all diesen Gründen sollten Sie Schweigen wahren, wenn jemand Sie nach einem Kôan fragt, das er selbst noch nicht bewältigt hat. Unverantwortliches Reden kann noch andere schädliche Folgen haben. So können sich z. B. Gerüchte verbreiten, daß man beim Dokusan grausam geschlagen wird, was Zen in unverdient schlechten Ruf brächte. Diskutieren Sie also mit niemandem über Ihr Kôan, auch nicht mit Ihren besten Freunden oder Familienangehörigen. Eben diese Verletzung der Geheimhaltung, wie sie früher das Kôan- System umgab, hat bei der Rinzai-Lehre zu einem allmählichen Zer- fall geführt. Was ich jetzt sagen möchte, betrifft keine Laien, da sie im allgemeinen ihr Üben ernst nehmen. Es wird aber ein ernstes Pro-

86 blem in den Klöstern, in denen sich Mönche finden, die über die ganze Schulung grollen und die hauptsächlich dort sind, um die Zeit abzudienen, die erforderlich ist, um einen Tempel als dort ansässiger Priester zu erben. In Klöstern mit mangelhafter Disziplin wird oft ein älterer Mönch zu einem jüngeren sagen: «An welchem Kôan arbeitest du?» Hat er das erfahren, so fährt der ältere fort: «Ver- stehst du es? » «Nein.» «Gut, ich sage dir die Antwort, und du kaufst mir dafür Kuchen», sagt der ältere Mönch. Der Rôshi kann unter- scheiden, ob eine Antwort echt ist oder nicht. Wenn er aber aus irgendeinem Grunde selbst lau geworden ist, so akzeptiert er vielleicht eine Antwort, die nicht wirklich die des Mönchs ist. So etwas wird keinen besonderen Schaden anrichten, wenn ein Mönch nur zwei bis drei Jahre in einem Kloster verbringt, ehe er als Tempelpriester einen Tempel fest übernimmt, da seine Pflichten dort nicht erfordern, daß er das Satori eines anderen bewertet. Es kann aber geschehen, daß kein Tempel frei ist, wenn er seine Grundausbildung beendet hat, so daß er vielleicht acht oder zehn Jahre im Kloster bleibt und das ganze Kôan-System mit Antworten absolviert, die nicht seine eigenen sind. Schließlich erhält er nach dem Brauch bei der Rinzai-Sekte den Titel eines Lehrers. Auf diese Art und Weise wird jemand, der keinerlei echtes Verständnis besitzt, für befähigt erklärt, andere zu leiten. Diese heimtückische Praxis untergräbt die Zen-Lehre. Sôtô-Gelehrte, die Zen auf akademische Weise studieren, greifen auf eben dieser Grund- lage das Kôan-System an, und mit Recht. Der nächste Punkt betrifft die Fragen, die beim Dokusan angemessen sind. Alle Fragen sollten sich auf Probleme beziehen, die unmittelbar aus Ihrer Übung erwachsen. Das schließt naturgemäß persönliche Probleme aus. Sie mögen vielleicht denken, daß das Abgesondert-Sein beim Dokusan eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Erörterung pri- vater Probleme biete; aber Sie müssen bedenken, daß andere warten und daß Sie ihnen zum Hindernis werden, wenn Sie von Ihrer Übung abliegende Probleme aufgreifen. Es ist angebracht, wenn Sie z. B. eine Frage Ihren Magen betreffend stellen, wenn er knurrt, oder über Ihre Zähne, wenn sie so wehtun, daß Sie nicht essen können, oder auch über Visionen, die Sie vielleicht haben. Sie sollten jedoch keine Fra-

87 gen über die buddhistische Lehre, vergleichende Philosophie oder den Unterschied zwischen zwei Sûtras stellen. Fragen Sie indessen alles, was sich unmittelbar aus Ihrem Üben ergibt. Es ist üblich, daß ein Schüler dem Rôshi Geld für Räucherwerk über- reicht, ehe er zum ersten Mal Dokusan empfängt. Man mag fragen: Wozu solche Formalität? Man kann nicht genug betonen, daß Doku- san keine geringfügige Angelegenheit ist. Während es in jedermanns Belieben steht, Zazen zu üben und die Kommentare des Rôshi bei einem Sesshin zu hören, besteht das Wesen des Dokusan darin, ein karmisches Band zwischen Lehrer und Schüler entstehen zu lassen, was im Buddhismus von tiefer Bedeutung ist. Darum darf Dokusan nicht leicht genommen werden. Da weiterhin alles, was beim Dokusan zwischen dem Rôshi und dem Schüler vorgeht, Probleme tiefer und letzter Art betrifft, darf dabei zwischen ihnen nur die Wahrheit gesprochen werden. Bei gesellschaftlichen Zusammenkünften zögert man oft, Dinge zu sagen, die einen anderen verletzen könnten. Das ist beim Dokusan ganz anders. Hier muß ständig vollkommene Wahrheit herrschen. Aus diesem Grunde dürfen die Anstandsformen, die diese Beziehung herstellen, nicht geringschätzig übergangen werden. Wenn man zum Dokusan geht, ist es gut, zeremonielle Kleidung zu tragen. Da man aber heute nicht mehr unbedingt darauf besteht, dür- fen Sie alles tragen, wenn es nur in anständigem Zustand ist. Wenn Dokusan angekündigt wird, dann nehmen Sie außerhalb der Zazen- Halle der Reihe nach hinter der Glocke Ihren Platz ein. Sind Sie an der Reihe, und hören Sie meine Handglocke, dann schlagen Sie zwei- mal die Glocke vor Ihnen an, und kommen zu meinem Raum. Stürzen Sie nicht herein, denn das würde Verwirrung verursachen, und Sie wären nicht in der Geistesverfassung, um einen Gewinn von Dokusan zu haben. Sie sollten aber auch nicht allzu gemächlich daherkommen, denn andere warten. Ursprünglich war es Sitte, sich je dreimal an der Schwelle, vor dem Rôshi und dann wieder beim Weggehen an der Tür niederzuwerfen. Das ist aber jetzt abgekürzt worden: Man wirft sich insgesamt nur dreimal nieder, je einmal an den erwähnten Stellen. Wenn Sie sich niederwerfen, sollen Sie die Tatami (Strohpolstermat- ten) mit der Stirn berühren, wobei Ihre Unterarme dem Boden anlie-

88 gen, die Hände mit aufwärts gekehrten Handflächen vor dem Kopf. Dann heben Sie von den Ellbogen her die Hände in gleicher Haltung etwas über Kopfhöhe an. Diese Geste bedeutet, die Füße Buddhas in Empfang zu nehmen, und symbolisiert Demut und die dankbare Auf- nahme des Buddha-Weges in Ihr Leben. Solange Sie Ihr Ich nicht untergetaucht haben, können Sie das nicht tun. Denken Sie daran, daß der Rôshi nicht nur ein Abgesandter des Buddha ist, sondern tat- sächlich an seiner Stelle steht. Indem Sie sich auf solche Weise nieder- werfen, erweisen Sie in Wirklichkeit dem Buddha Ihre Verehrung, als säße er selber dort, und ebenso auch dem Dharma. Danach nehmen Sie etwa 30 Zentimeter vor mir Platz und sagen mir, was Sie üben. Sagen Sie einfach: «Ich zähle die Atemzüge», «Ich arbeite an Mu» oder «Ich übe Shikantaza». Stellen Sie alle Fragen kurz und sachlich. Sollte ich Ihnen etwas zu sagen haben, so werde ich es sagen, sobald Sie geendet haben. Aber kommen Sie nicht herein, ohne zu wissen, was Sie sagen wollen - damit vergeuden Sie nur Zeit. Denken Sie daran, daß andere darauf warten, mit mir zu sprechen. Wenn ich die Handglocke läute, ist es für Sie das Zeichen, sich zu verneigen und hinauszugehen. Wenn Ihnen danach noch etwas ein- fällt, müssen Sie es beim nächsten Dokusan vorbringen.

8. Stunde: Shikantaza

Bisher haben Sie sich darauf konzentriert, den Atemzügen mit Ihrem geistigen Auge zu folgen, und dabei versucht, die Einatmung einzig als einziehenden Atem, die Ausatmung einzig als ausströmenden Atem lebendig zu erfahren. Ich möchte, daß Sie von nun an Shikantaza üben, das ich Ihnen kurz im einzelnen beschreiben werde. Es ist im allgemeinen weder üblich noch wünschenswert, die verschiedenen Übungsweisen so schnell zu wechseln. Um Ihnen jedoch hier einen Vorgeschmack der verschiedenen Konzentrationsarten zu geben, bin ich dieser Methode gefolgt. Wenn diese einführenden Unterweisungen abgeschlossen sind und Sie einzeln vor mir erscheinen, werde ich jedem von Ihnen eine Übung zuweisen, die sowohl der Art Ihres

89 Strebens als auch dem Grad Ihrer Entschlossenheit angemessen ist, also Zählen oder Verfolgen des Atems, Shikantaza oder ein Kôan. Der heutige Unterricht betrifft Shikantaza. Shikan heißt «nichts als» oder «nur», während tat «treffen» heißt und za «sitzen» bedeutet. Somit ist Shikantaza also eine Übung, bei der die Aufmerksamkeit vom Sitzen allein intensiv beansprucht wird. Da es hierbei keine stüt- zenden Hilfsmittel mehr gibt, wie das Zählen der Atemzüge oder ein Kôan, kann bei dieser Art des Zazen die Aufmerksamkeit nur allzu leicht abgelenkt werden. Die rechte Geistesverfassung ist dabei also doppelt wichtig. Beim Shikantaza darf man nicht gehetzten Sinnes sein, sondern muß so fest verwurzelt und massiv in sich gesammelt sein wie, sagen wir, der Fujiyama. Dabei aber müssen Sie geistig wachsam sein und gespannt wie eine Bogensehne37. So ist Shikantaza ein Zustand erhöhter, konzentrierter Geistes-Gegenwart, in dem man weder überspannt noch in Eile und natürlich niemals schlaff ist. Es ist die Geisteshaltung eines Menschen angesichts des Todes. Stellen Sie sich vor, Sie nähmen an einem Duell im Schwertkampf jener Art teil, wie er einst im alten Japan geübt wurde. Angesichts Ihres Gegners sind Sie jeden Augenblick auf der Hut, entschlossen und bereit. Wenn Sie auch nur eine Sekunde in Ihrer Wachsamkeit nachließen, so wür- den Sie augenblicklich niedergestochen. Eine Menge Volks sammelt sich, um den Kampf zu sehen. Da Sie nicht blind sind, sehen Sie die Volksmenge aus dem Augenwinkel, und da Sie nicht taub sind, hören Sie sie. Aber Ihre Aufmerksamkeit wird von solchen Sinneswahrneh- mungen nicht einen einzigen Augenblick gefangen genommen. Diese Haltung kann man nicht lange durchhalten. Sie sollten Shikan- taza also nicht länger als eine halbe Stunde hintereinander üben. Ste- hen Sie nach dreißig Minuten auf, und gehen Sie im Kinhin. Danach nehmen Sie Ihre Sitzübung wieder auf. Wenn Sie Shikantaza wirklich und wahrhaftig üben, so werden Sie selbst im Winter in einem unge- heizten Raum nach einer halben Stunde ins Schwitzen kommen, durch die in der intensiven Sammlung entwickelte Hitze. Wenn Sie zu lange sitzen, verlieren Sie an geistiger Spannkraft, werden

37. Siehe auch S. 178.

90 körperlich müde, und Ihre Anstrengungen bringen weniger ein, als wenn Sie Ihre Sitzzeiten auf dreißig Minuten beschränkt hätten. Im Gegensatz zu einem ungeschulten Fechter gebraucht ein Meister sein Schwert mühelos. Aber auch bei ihm war das nicht immer so; auch er mußte sich einmal aufs äußerste anstrengen, um bei seiner noch mangelhaften Technik sein Leben zu wahren. Mit Shikantaza ist es nicht anders. Anfangs ist eine übermäßige Anspannung unver- meidlich, aber mit zunehmender Erfahrung geht dieser allzu ge- spannte Zustand in einen ausgeglichenen über, wobei man jedoch mit voller Aufmerksamkeit Zazen sitzt. Und ebenso wie ein Fechtmeister sein Schwert im Notfall mühelos zieht und zielbewußt angreift, so sitzt auch ein im Shikantaza Erfahrener ohne Anstrengung, wach und voller Aufmerksamkeit. Aber glauben Sie ja nicht, daß solches Sitzen erreicht werden kann, ohne daß man lange und hingebungsvoll übt.

Die Parabel von ENYADATTA

Heute will ich noch die Geschichte von ENYADATTA, die aus dem Ryogon-Sûtra stammt, behandeln. Wir haben hier eine außerordent- lich treffende Parabel vor uns. Sie wird Ihnen über viele schwer ver- ständliche Punkte des Buddhismus Klarheit verschaffen, wenn Sie aufmerksam darüber nachsinnen. Diese Begebenheit soll sich zu Lebzeiten des Buddha zugetragen haben. Ich weiß nicht, ob sie wahr oder legendär ist. Jedenfalls war ENYADATTA eine schöne Jungfrau, die nichts mehr erfreute, als sich allmorgendlich im Spiegel zu betrachten. Eines Tages, als sie in den Spiegel sah, gab es darin kein Spiegelbild ihres Kopfes. Warum gerade an diesem Morgen nicht, das sagt das Sûtra nicht. Auf jeden Fall war der Schrecken so groß, daß sie ganz außer sich geriet, herum- raste und zu wissen verlangte, wer ihren Kopf weggenommen habe. «Wer hat meinen Kopf? Wo ist mein Kopf? Ich sterbe, wenn ich ihn nicht finde!» jammerte sie. Obgleich jedermann ihr sagte: «Sei doch nicht töricht, dein Kopf sitzt dir auf den Schultern, wo er immer war», weigerte sie sich, das zu glauben. «Nein, das stimmt nicht!

91 Nein, das stimmt nicht! Jemand muß ihn mir weggenommen haben!» schrie sie und fuhr in ihrer wahnsinnigen Suche fort. Schließlich schleppten ihre Freunde, die glaubten, sie sei verrückt geworden, sie nach Hause und banden sie an einen Pfosten, um sie daran zu hin- dern, daß sie sich Schaden antäte. Das Angebundensein kann man der Zazen-Übung vergleichen. Durch die Stillegung des Körpers erlangt auch der Geist ein gewisses Maß an Ruhe. Und obgleich er noch immer verwirrt ist, wie ENYA- DATTAS Geist im Glauben, daß sie keinen Kopf habe, so wird doch wenigstens der Körper davor bewahrt, seine Kräfte zu vergeuden. Ihre guten Freunde redeten ihr geduldig zu, daß sie doch noch immer ihren Kopf habe, und allmählich kam sie so weit, es halb und halb zu glauben. Ihr Unterbewußtsein begann, die Tatsache zu akzeptieren, daß sie womöglich verblendet war in der Meinung, sie habe ihren Kopf verloren. Man kann ENYADATTA, während sie die Versicherungen ihrer Freunde empfängt, mit denen vergleichen, die die Erläuterungen (Teishô) des Rôshi hören. Anfangs sind diese Lehren schwer zu verstehen; wenn man sie aber aufmerksam anhört, sinkt jedes Wort ins Unterbewußt- sein, und Sie kommen zu dem Punkt, da Sie denken: «Ist das wirklich wahr?... Ich möchte wohl wissen, ob ... Ja, es muß schon stimmen.» Plötzlich versetzte einer ihrer Freunde ihr einen Hieb auf den Kopf, und sie schrie vor Schmerz und Schrecken auf «Au!» «Das ist dein Kopf! Da ist er!» rief ihr Freund aus, und augenblicklich sah ENYA- DATTA ein, daß sie sich einer Täuschung hingegeben hatte in der Mei- nung, daß sie ihren Kopf verloren habe, während sie ihn doch die ganze Zeit über gehabt hatte. In gleicher Weise ist das Schlagen beim Zazen von höchstem Wert. Körperliche Schläge genau zur rechten Zeit - wenn es zu früh ist, haben sie keine Wirkung - können Selbst-Wesensschau herbeiführen, einerlei, ob sie durch den kyosaku (Stock) oder unmittelbar von einem einfühlsamen Lehrer ausgeteilt werden. So liegt der Wert des Kyosaku also nicht allein darin, Sie anzuspornen, sondern ein har- ter Schlag damit kann, wenn Sie einen entscheidenden Punkt im Zazen erreicht haben, Ihren Geist jählings ins Bewußtsein seines

92 Wahren Wesens stürzen - mit anderen Worten: zur Erleuchtung bringen. Als das ENYADATTA geschah, fühlte sie sich derart freudig erhoben, daß sie herumlief und rief: «Ach, ich habe ihn! Ich habe doch noch meinen Kopf! Ich bin so glücklich!» Das ist die Verzückung beim Kenshô. Wenn es eine tiefe Erfahrung ist, können Sie vor lauter Freude zwei bis drei Nächte nicht schlafen. Indessen ist es ein halb verrückter Zustand. Es ist, vorsichtig ausge- drückt, zumindest wunderlich, wenn man vor Freude überströmt, weil man einen Kopf gefunden hat, den man von Anbeginn an hatte. Es ist auch nicht weniger wunderlich, wenn Sie voller Freude über die Entdeckung Ihrer Wesens-Essenz sind, die Sie ja nie verloren hatten. Diese Ekstase ist zwar durchaus echt, aber man kann Ihren Geisteszustand nicht als natürlich bezeichnen, solange Sie sich die Vorstellung «Ich habe Erleuchtung gefunden» nicht völlig aus dem Kopf schlagen. Achten Sie gut auf diesen Punkt, denn er wird häufig mißverstanden. Als ihre Freude allmählich verebbte, erholte sich ENYADATTA von ihrem halb-verrückten Zustand. Genau so ist es beim Satori. Wenn sich das Delirium des Entzückens langsam legt und dabei alle Gedanken über diese Wesensschau mit sich fortnimmt, finden Sie sich in eine wahrhaft natürliche Lebens- weise hinein, und es gibt dabei nichts Wunderliches mehr. Ehe Sie jedoch diesen Punkt nicht erreicht haben, ist es Ihnen unmöglich, in Harmonie mit Ihrer Umwelt zu leben und auf dem Wege wahrer gei- stiger Schulung fortzufahren. Ich werde nun die Bedeutung des ersten Teils dieser Geschichte im einzelnen erläutern. Da die meisten Menschen der Erleuchtung gleich- gültig gegenüberstehen, ist ihnen auch die Möglichkeit eines solchen Erlebnisses unbekannt. Sie sind wie ENYADATTA, als sie sich des Vor- handenseins ihres Kopfes gar nicht bewußt war. Dieser «Kopf» ent- spricht natürlich dem Buddha-Wesen, unserer eingeborenen Vollkom- menheit. Den meisten Menschen kommt noch nicht einmal der Gedanke, daß sie überhaupt ein Buddha-Wesen besitzen, bis sie hören:

93 «Shujô honrai hotoke nari.» Alle Geschöpfe sind von Urbeginn an [dem Wesen nach] Buddha.) Dann rufen sie plötzlich aus: «Dann muß auch ich Buddha-Wesen haben! Aber wo ist es?» Und so beginnen sie ihre Suche nach ihrem Wahren Wesen gleich ENYADATTA, als sie zum ersten Mal ihren Kopf vermißte und auf der Suche nach ihm herumraste. Sie fangen damit an, verschiedene Teishô zu hören, die ihnen wider- spruchsvoll und rätselhaft scheinen. So hören sie, daß ihr Ur-Wesens- kern sich nicht von dem des Buddha unterscheidet - ja sogar, daß die Substanz des Weltalls an Umfang und Dauer ihrem eigenen Buddha- Wesen gleicht. Da aber ihr Geist von Verblendung umwölkt ist, sehen sie sich selbst einer Welt von einzelnen Wesenheiten gegenüber. Sobald sich der feste Glaube an die Wirklichkeit dieses Buddha- Wesens in ihnen festgesetzt hat, werden sie dazu getrieben, es mit der ganzen Kraft ihres Seins zu suchen. Gerade so, wie ENYADATTA nie- mals ohne ihren Kopf war, so sind auch wir niemals von unserem essen- tiellen Buddha-Wesen getrennt, ob wir nun erleuchtet sind oder nicht. Wir sind uns dessen jedoch nicht bewußt. Wir gleichen ENYADATTA, der ihre Freunde sagten: «Sei doch nicht albern; du hast doch immer noch deinen Kopf. Du täuschst dich, wenn du das nicht glaubst.» Die Entdeckung unseres Wahren Wesens kann man mit ENYADATTAS Entdeckung ihres Kopfes vergleichen. Und was haben wir entdeckt? Nur, was wir niemals verloren hatten! Indessen sind wir so begeistert wie sie, als sie ihren Kopf gefunden hatte. Wenn die Begeisterung ver- ebbt, wird uns klar, daß wir gar nichts Außerordentliches errungen haben und erst recht nichts Seltsames. Nur ist jetzt alles vollkommen natürlich.

9. Stunde: Ursache und Wirkung sind Eins

Man wird die Erhabenheit von Zen nicht begreifen, wenn man diesen Vortrag über inga ichinyo, was besagt, daß Ursache und Wirkung eins sind, nicht versteht. Dieser Ausdruck Inga Ichinyo stammt aus

94 HAKUIN Zenjis Preisgesang des Zazen. Denken Sie daran, daß diese Unterweisung keine Erklärung von Ursache und Wirkung im weite- sten Sinne ist, sondern sich nur auf die Zazen-Übung bezieht. Genau genommen, sollten Sie beim Zazen nicht in Zeitbegriffen den- ken. Es trifft zwar im allgemeinen zu, daß Zazen die den Anstren- gungen eines Jahres entsprechenden Wirkungen zeitigt, wenn man es ein Jahr lang übt; und wenn man es zehn Jahre lang übt, so hat es eine Wirkung, die den zehnjährigen Bemühungen entspricht. Die Ergebnisse von Zazen in bezug auf die Erleuchtung können jedoch nicht an der Übungsdauer gemessen werden. Einige Übende haben nach nur wenigen Jahren der Ausübung tiefe Erleuchtung gefunden, während andere sogar zehn Jahre lang übten, ohne Erleuchtung zu erfahren. Auf klar unterschiedenen Stufen, die man sich als eine Leiter von Ursache und Wirkung vorstellen kann, steigt man von Beginn des Übens an aufwärts. Das Wort «Inga», das Ursache und Wirkung bedeutet, schließt sowohl Grade als Verschiedenheit ein, während «Ichinyo» Gleichheit, Identität, Eins-Sein bezeichnet. Obgleich es nun viele Stufen gibt, die der Übungsdauer entsprechen, so ist doch auf jeder der Stufen die geistige Substanz der des Buddha gleich. Folglich sagen wir, daß Ursache und Wirkung eins sind. Vor dem Satori-Erwachen können Sie jedoch nicht damit rechnen, Inga wirk- lich zuinnerst zu begreifen. Ich möchte das jetzt in Beziehung setzen zu der Parabel von ENYA- PATTA. Als ENYADATTA keinen Kopf im Spiegel sah und auf der wil- den Suche danach herumraste - das versinnbildlicht den ersten Schritt, die Triebfeder. Dann banden ihre Freunde sie an einen Pfo- sten und bestanden darauf, daß sie einen Kopf habe. Sie begann zu denken: Vielleicht ist es wirklich so; dann schlugen sie sie, und sie schrie «Au!» und wurde gewahr, daß sie doch einen Kopf hatte. Sie freute sich über diese Entdeckung; dann verebbte die Freude allmäh- lich, und es kam ihr ganz natürlich vor, einen Kopf zu haben, so daß sie gar nicht mehr daran dachte. All das sind verschiedene Stufen oder Grade des Fortschreitens - das heißt, wenn man sie rückblickend überschaut. Sie war natürlich auf jeder einzelnen Stufe nicht ohne

95 Kopf, aber das wurde ihr erst klar, nachdem sie ihn «gefunden» hatte. In gleicher Weise wird auch uns erst nach der Erleuchtung klar, daß wir von Anbeginn an nie ohne Buddha-Wesen waren. Und ebenso, wie es für ENYADATTA notwendig war, all diese verschiedenen Pha- sen zu durchlaufen, um zu begreifen, daß sie stets einen Kopf hatte, so müssen auch wir die aufeinander folgenden Stufen des Zazen ersteigen, um unseres Wahren Wesens unmittelbar innezuwerden. Die aufeinander folgenden Stufen stehen in einer Kausalbeziehung. Die Tatsache aber, daß wir dem Wesen nach Buddha sind (in der Parabel ENYADATTAS Kopf, den sie stets hatte) - das ist Gleichheit und Nicht- Unterschiedenheit. So stellt DÔGEN Zenji im Shôbôgenzo fest: «Sogar das Zazen eines Anfängers manifestiert seine Wesens-Substanz in ihrer Gesamtheit.» Damit sagt er, daß rechtes Zazen die Verwirklichung des Bodhi-Gei- stes ist, jenes Herz-Geistes, mit dem wir alle begabt sind. Dieses Zazen ist Saijôjô, bei dem der Weg des Buddha Ihr ganzes Sein durchströmt und die Gesamtheit Ihres Lebens durchzieht. Obgleich wir uns zuerst all dessen gar nicht bewußt sind, so kommen wir doch mit fortschrei- tender Übung allmählich zu Verständnis und Einsicht und erwachen schließlich im Satori zu der Erkenntnis, daß Zazen selbst die Ver- wirklichung des uns innewohnenden Buddha-Wesens ist, ob wir erleuchtet sind oder nicht.

10. Stunde: Die drei wesentlichen Voraussetzungen zur Übung des Zen

Was ich jetzt sagen möchte, betrifft vor allem Daijô-Zen, das ganz besonders auf Satori hin gerichtet ist. Es schließt jedoch auch Saijôjô- Zen ein, wenn auch in geringerem Maße. Die erste dieser drei wesentlichen Voraussetzungen für die Zen-Übung ist ein starker Glaube, dai-shinkon. Das ist mehr als ein bloßes Für-

96 Wahr-Halten. Das Schriftzeichen für kon bedeutet «Wurzel» und das für shin «Glaube» (dai = groß). So bedeutet das Wort also einen fest und tief verwurzelten Glauben, so unerschütterlich wie ein riesi- ger Baum oder ein gewaltiger Felsblock. Es handelt sich zudem um einen Glauben, der von keinerlei Aberglauben oder Hängen an Über- natürlichem vergiftet ist. Man hat den Buddhismus sowohl als ratio- nale Religion wie auch als Religion der Weisheit dargestellt. Jeden- falls aber ist er eine Religion, und was ihn dazu macht, das ist das Element des Glaubens, ohne welches er nur eine Philosophie wäre. Mit der Erleuchtung des Buddha, wie er sie nach erschöpfenden Anstrengungen erlangte, nimmt der Buddhismus seinen Anfang. Unser tiefster Glaube gehört deshalb Buddhas Erleuchtungs-Erlebnis, als dessen Kern er verkündete, daß die menschliche Natur und alles Dasein von Anbeginn ganz, makellos, allmächtig seien - mit einem Wort: vollkommen. Ohne den beharrlichen Glauben an diesen Kern von Buddhas Lehre ist es unmöglich, mit der Übung weit zu kommen. Die zweite unentbehrliche Voraussetzung ist das Gefühl eines starken Zweifels, dai-gidan38. Es geht hier nicht um einen landläufigen Zwei- fel, wohlgemerkt, sondern um eine ganze «Zweifel-Masse», wie sie sich unvermeidlich aus starkem Glauben ergibt. Dieser Zweifel läßt uns fragen, warum wir und die Welt so unvollkommen zu sein scheinen, so voller Angst und Leiden, wenn unser tiefer Glaube uns doch sagt, daß in Wahrheit das Entgegengesetzte zutrifft. Das ist ein Zweifel, der uns keine Ruhe läßt. Es ist, als wüßten wir sehr genau, daß wir Millionäre sind, und fänden uns doch unerklärlicherweise in schreck- licher Not, ohne einen Pfennig in der Tasche. Die Stärke des Zweifels steht also im Verhältnis zur Stärke des Glaubens. Diese Geistesverfassung kann ich durch ein einfaches Beispiel veran- schaulichen. Stellen Sie sich einen Mann vor, der dasitzt und raucht, und plötzlich merkt, daß die Pfeife, die er noch einen Augenblick zuvor in der Hand gehalten hat, verschwunden ist. Er beginnt, danach zu suchen, in der völligen Gewißheit, daß er die Pfeife finden wird. Sie war vor einem Augenblick noch da, niemand war in der

38. Im Zen begreift «Zweifel» keinen Skeptizismus ein, sondern bedeutet einen Zustand der Bestürzung, sondierenden Forschens, der intensiven Selbst- Erforschung.

97 Nähe; sie kann nicht verschwunden sein. Je länger seine vergebliche Suche dauert, desto größer werden seine Energie und Entschlossen- heit, mit der er alles danach absucht. Aus diesem Gefühl des Zweifels erwächst also ganz natürlich die dritte wesentliche Voraussetzung: feste Entschlossenheit, dai-funshi. Es ist die überwältigende Entschlossenheit, diesen Zweifel mit aller Energie und aller Kraft unseres Willens zu beheben. Da wir mit jeder Pore unseres Seins an die Wahrheit von Buddhas Lehre glauben, näm- lich, daß wir alle mit dem makellosen Bodhi-Geist begabt sind, haben wir uns entschlossen, die Wirklichkeit dieses Herz-Geistes zu ent- decken und selber zu erleben. Vor kurzem fragte mich jemand, der völlig mißverstanden hatte, was für einen Geisteszustand diese drei wesentlichen Voraussetzungen erfordern: «Handelt es sich bei dem Glauben, daß wir Buddhas sind, um mehr, als daß wir es einfach als Tatsache hinnehmen, daß die Welt vollkommen ist, so wie sie ist - daß der Weidenbaum eben grün, die Nelke rot ist?» Der Trugschluß hierbei ist augenscheinlich. Wenn wir nicht die Frage stellen, warum es Habgier und Hader gibt, warum der gewöhnliche Mensch in seiner Handlungsweise alles andere eher als ein Buddha ist, so erhebt sich in uns auch nicht die Entschlußkraft, die offensichtlichen Widersprüche zwischen dem, was wir auf Grund des Glaubens für richtig halten, und dem, was uns als dessen glattes Gegenteil erscheint, zu lösen. Mithin ist unser Zazen seiner wichtigsten Kraftquelle beraubt. Ich will nun diese drei wesentlichen Voraussetzungen zu Daijô- und Saijôjô-Zen in Beziehung setzen. Zwar finden wir beim Daijô alle drei, aber der Zweifel ist hier am stärksten, der Hauptansporn zum Satori, denn er gönnt uns keine Ruhe. Und so erleben wir Satori und die Lösung dieses Zweifels schneller mit Daijô-Zen. Beim Saijôjô-Zen andererseits ist das Glaubenselement am stärksten. Uns ficht hier kein so grundsätzlicher Zweifel der erwähnten Art an, und so werden wir auch nicht dazu getrieben, uns davon zu befreien. Beim Saijôjô, das, wie Sie sich erinnern werden, die reinste Form des Zazen ist, gibt es im Unterschied zum Daijô-Zen kein begieriges Streben nach Erleuchtung. Bei diesem Zazen findet ein natürlicher

98 Reifeprozeß statt, der in der Erleuchtung seinen Höhepunkt erreicht. Dabei ist Saijôjô von allen Zen-Arten die schwierigste und erfordert entschlossenes und hingebungsvolles Zazen.

11. Stunde: Angestrebte Ziele

Obgleich wir alle Zazen üben, so sind doch die von den Einzelnen angestrebten Ziele keineswegs die gleichen. Diese Ziele gliedern sich in vier Hauptgruppen oder -ebenen. Die erste und niedrigste Ebene begreift weder Glauben an den Zen- Buddhismus, noch auch nur die flüchtigste Kenntnis davon ein. Man hört irgendwann einmal zufällig davon und kommt dahin, daß man gern mit einer Zazen-Gruppe oder in einem Sesshin sitzen möchte. Daß jedoch von Millionen verblendeter Menschen, die alle gar nichts vom Buddhismus wissen, gerade dieser eine Mensch dieser seit 2500 Jahren ununterbrochen fortdauernden Lehre zugeführt wird, ist nach buddhistischer Auffassung kein Zufall, sondern eine karmische Gege- benheit und daher von ungeheurer geistiger Bedeutung. Auf der zweiten Ebene reicht das Streben nicht tiefer als bis zu dem Wunsch, Zazen zu üben, um die körperliche oder geistige Gesundheit oder auch beides zu heben. Wie Sie sich erinnern werden, fällt das unter die erste der fünf Arten des Zazen, nämlich unter Bonpu, gewöhnliches Zen. Auf der dritten Ebene finden wir Menschen, die sich nicht damit zufrieden geben, nur ihr körperliches oder geistiges Wohlsein zu stei- gern, sondern den Weg des Buddha beschreiten wollen. Sie erkennen die Erhabenheit buddhistischer Kosmologie, welche das Dasein nicht auf eine Lebensspanne beschränkt, sondern in einer endlosen Evolu- tion von Leben zu Leben sieht, wobei sich der Kreis menschlicher Bestimmung einzig durch Erlangen der Buddhaschaft vollendet. Zudem hat sich in ihnen der Glaube an die Wirklichkeit des Erleuch- tungs-Erlebnisses festgesetzt, und obgleich in ihnen noch nicht der Entschluß erwacht ist, das auch zu erreichen, ist doch der Wunsch, dem Weg des Buddha zu folgen, klar und echt.

99 Zu der vierten Ebene gehören jene, die entschlossen sind, ihr Wahres Selbst zu erkennen. Sie wissen, daß dieses Erlebnis eine lebendige Wirklichkeit ist, denn sie sind Menschen begegnet, die dieses Erlebnis hatten, und sie sind überzeugt, daß auch sie es erreichen können. Wenn sie vor ihrem Lehrer erscheinen, kommen sie mit offenem Sinn und einfältigem Herzen, bereit, jedem Weg zu folgen, den er ihnen weist, sicher in dem Wissen, daß sie auf diese Weise ihr Ziel in kür- zester Zeit erreichen können. Hier noch einmal in Kürze die vier Arten der Suchenden: jene, die durch glückliche karmische Umstände zum Zazen kommen, ohne dabei besonders an Zen zu glauben; jene, die Zazen in dem Wunsch üben, lediglich ihren körperlichen oder geistigen Gesundheitszustand oder auch beides zu heben; jene, die Zazen im Glauben an die Erha- benheit buddhistischer Lehren üben, und jene, die fest entschlossen sind, Erleuchtung zu finden. Sie werden nachher einzeln vor mir erscheinen, und ich werde Sie fragen, welcher Art das von Ihnen angestrebte Ziel ist, d. h. in wel- che der vier Gruppen Sie fallen. Sagen Sie mir aufrichtig, was Sie meinen. Fügen Sie nichts aus Stolz hinzu, und verringern Sie nichts aus falscher Bescheidenheit. Ich werde Ihnen auf Grund dessen, was Sie mir sagen, dasjenige Zazen zuweisen, das am geeignetsten für Sie ist. Es gibt keine bestimmte Übung, die für alle paßt. Doch ganz allge- mein kann man sagen: Dem, der sich selbst in die erste Kategorie einreiht, wird die Übung des Zählens der Atemzüge zugewiesen; dem der zweiten Kategorie das Verfolgen der Atemzüge, dem der dritten Kategorie Shikantaza und dem der vierten ein Kôan, im allgemei- nen Mu. Wenn Schüler zum ersten Mal einzeln vor mir erscheinen, geben sie alle möglichen merkwürdigen Antworten. Einige sagen: «Ich glaube, ich gehöre zwischen die erste und die zweite Kategorie.» Andere wie- der erzählen mir: «Ich habe einen chronisch schwachen Magen; würde der Rôshi mir bitte eine Art des Zazen zuweisen, die dem abhilft?» Manchmal sagt jemand auch: «Ich bin etwas neurotisch; welche Zazen-Art wäre dagegen wohl gut?»

100 Je nach dem Typ des Menschen und der Kraft seiner Entschlossenheit weise ich ihm die Übung zu, die ich für geeignet halte. Bei einem schwerfälligen Menschen ist es im allgemeinen angebracht, ihn mit dem Kyosaku anzuspornen, wohingegen ein etwas nervöser und fein- fühliger Mensch Zazen besser ohne das üben kann. Ich kann für Sie nur dann die wirksamste Übung auswählen, wenn Sie Ihre Gefühle freimütig bekennen.

101 Zweites Kapitel Yasutani Rôshis Kommentar zum Kôan Mu

Einführung

Seit JÔSHÛ, einer der großen chinesischen Zen-Meister der T'ang-Zeit, auf die Frage eines Mönchs, ob ein Hund Buddha-Wesen habe, ver- setzte: «Mu!1», widerhallen all die Jahrhunderte hindurch die Räume der Zen-Klöster und -Tempel vom Echo dieses Vorfalls. Auch heut- zutage wird kein anderes Kôan Anfängern so oft aufgegeben. Japa- nische Zen-Meister sind sich allgemein darüber einig, daß dieses Kôan unübertroffen ist, um den Geist der Unwissenheit aufzubrechen und das Auge der Wahrheit zu öffnen. Wenn man dieses Kapitel und das dritte und vierte Kapitel aufmerksam liest, hat man die Erklärung dafür. Bis jetzt ist noch keine Übersetzung eines in aller Form gehal- tenen Kommentars (Teishô) zum Kôan Mu auf Deutsch oder Englisch erschienen. Der vorliegende Kommentar wurde 1961 von Zen-Meister YASUTANI bei einem Sesshin vor etwa fünfunddreißig Laien frei gehalten. Er wird in der Übersetzung genau so wiedergegeben, wie der Meister ihn gehalten hat, von kleinen Überarbeitungen ungeschickter Ausdrücke und Wiederholungen, wie sie sich unvermeidlich in einen Stegreifvor- trag einschleichen, abgesehen. Er bietet in seiner Klarheit und Prä- zision dem Neuling ebenso wie dem Fortgeschrittenen Anregung, Ermutigung und Führung und kann als Meister-Kommentar zu die- sem alt-ehrwürdigen Kôan betrachtet werden.

1. Wörtlich: «nein», «nicht», «hat nicht» und «nichts».

103 2 Im Mumon-Kan (Torlose Schranke), zusammengestellt von MUMON EKAI, der selber Zen-Meister war, steht Mu an erster Stelle von acht- undvierzig Kôans. Es sind zwar einige deutsche und englische Über- setzungen des Mumon-Kan erschienen, aber sie lassen viel zu wünschen übrig. Nur allzu oft verdunkeln sie den eigentlichen Sinn des Kôan, anstatt ihn zu enthüllen. Jedes Kôan ist ein einzigartiger Ausdruck des lebendigen, unteilbaren Buddha-Wesens, das man mit dem zwiegeteil- ten Intellekt nicht erfassen kann. Kôans scheinen all jenen Menschen verwirrend, die den Buchstaben höher schätzen als den Geist. Jene aber, die ihren geistigen Gehalt begreifen, wissen, daß Kôans trotz der Ungereimtheit ihrer verschiedenen Elemente einen tiefen Sinn haben. Alle Kôans weisen auf das Ur-Antlitz3 des Menschen, auf sein Wahres Selbst hin. Ziel eines jeden Kôan ist es, unseren Geist aus den Fallstricken der Sprache zu befreien, «in der jede Erfahrung wie in einer Zwangsjacke sitzt4». Kôans sind so formuliert, daß sie uns absichtlich Sand in die Augen streuen, um uns dadurch zu zwingen, unser Geistiges Auge zu öffnen und die Welt mit allem, was darin ist, unverzerrt zu sehen. Kôans nehmen greifbare, handfeste Dinge, wie einen Hund, einen Baum, ein Gesicht, einen Finger zum Gegenstand, um uns einerseits sehen zu lehren, daß ein jedes Ding seinen absoluten Wert hat, und um andererseits die Neigung des Intellekts, sich an abstrakten Begrif- fen festzuhaken, zum Stillstand zu bringen. Aber der Sinn aller Kôans ist der gleiche: nämlich, daß die Welt ein zusammenhängendes Ganzes ist und daß jeder Einzelne von uns eben dieses Ganze ist. Die chinesischen Zen-Meister, jene Genies des Geistes, die diese para- doxen Dialoge schufen, trugen kein Bedenken, in ihren erstaunlichen Schöpfungen über Logik und gesunden Menschenverstand die Nase zu rümpfen. Indem diese Kôans den Verstand beschwatzen, Lösungen

2. Deutsch: Zu den Quellen des Zen, die Kôan des Meisters Mumon, O. W. Barth Verlag, München, 1976. 3. Auf japanisch: honrai-no memmoku. Es wurde im Englischen als «Face before one's parents' birth» wiedergegeben. Siehe im 10. Kapitel unter «Ur-Antlitz», «Ur-Angesicht». 4. Zitat von WILLIAM GOLDING, angeführt in Watcher on the Hills von RAYNOR C. JOHNSON, Harper, 1959, S. 27.

104 zu versuchen, die ihm unmöglich sind, offenbaren sie uns die Grenzen des logischen Verstands, wenn er als Instrument zur Erkenntnis letz- ter Wahrheit dienen soll. Durch diesen Vorgang reißen sie uns von unseren Dogmen und Vorurteilen los, berauben uns unserer Neigung, Gut und Böse zu unterscheiden, und machen uns leer von unseren falschen Vorstellungen eines Ich-und-Anderen, mit dem Ziel, daß wir eines Tages innewerden können, daß die «Welt der Vollkommenheit» tatsächlich keine andere ist, als jene, in der wir essen und ausscheiden, lachen und weinen. Das große Verdienst der Kôans, die sich über das ausgedehnte Gebiet der Mahâyâna-Lehren erstrecken, liegt darin, daß sie uns auf geniale und oft dramatische Weise zwingen, diese Lehren nicht einfach nur mit dem Kopf zu lernen, sondern mit unserem ganzen Sein zu erfas- sen; sie nehmen uns die Möglichkeit, uns zurückzulehnen und in ab- strakter Weise endlos darüber zu theoretisieren. Was HEINRICH ZIM- MER über gewisse Arten der Meditation sagt, das trifft besonders auf Kôans zu, muß doch deren geistiger Gehalt vor dem Rôshi demon- striert und nicht nur erklärt werden: «Erkenntnis ist der Lohn der Tat... Das Tun ist es, was verwandelt. Indem man eine symbolische Gebärde ausführt, indem man eine besondere Rolle bis an ihre Grenze ganz ausfüllt, wird man die in der Rolle eingeschlossene Wahrheit erkennen. Indem man sie mit all ihren Konsequenzen durchleidet, schöpft man ihren Inhalt restlos aus . . .5» Die vollständige Lösung eines Kôans bringt eine Entwicklung mit sich, die aus dem Zustand der Unwissenheit (Verblendung) zu pulsie- render innerer Bewußtheit der Lebendigen Wahrheit führt. Das bedeutet, daß man sich zur Bewußtseinsebene des makellosen Bodhi- Geistes erhebt, der die Umkehrung des Geistes der Verblendung ist. Der Entschluß, überhaupt das Ringen mit einem Kôan aufzunehmen, wird durch den Glauben an die Wirklichkeit des Bodhi-Geistes bewirkt, wobei das Ringen selber die Bemühung eben jenes Herz- Geistes ist, die Fesseln der Unwissenheit abzuwerfen und zur Erkennt- nis-seiner-Selbst zu gelangen. 5. Philosophie und Religion Indiens von HEINRICH ZIMMER, Rhein-Verlag, Zürich, 1961, S. 483-484.

105 Worin nun liegt die Quelle der Kraft von Mu? Was hat Mu dazu befähigt, über tausend Jahre lang unter allen Kôans den ersten Rang zu halten? Während Kôans wie «Was ist der Ton einer klatschenden Hand?» oder «Was ist dein Ur-Antlitz?» das diskursive Denken rei- zen und die Phantasie anregen, hält sich Mu kühl von beidem, dem Intellekt wie der Vorstellungskraft, fern. Mit verstandesmäßigen Überlegungen kann man, wie man es auch anstellen mag, Mu keinen Fußbreit Boden abgewinnen. Ja, die Meister sagen uns, Mu auf ratio- nalem Weg lösen zu wollen, sei so, als «versuchte man, mit der Faust eine eiserne Wand zu durchstoßen». Da Mu aller Logik und Vernunft gegenüber vollkommen unzugänglich ist und man es außerdem leicht stimmhaft aussprechen kann, hat es sich als außerordentlich hand- liches Skalpell erwiesen, um aus dem tiefsten Unterbewußtsein das bösartige Gewächs von «Ich» und «Nicht-Ich» herauszuschneiden, jenes Gewächs, das die dem Geist eigene Reinheit vergiftet und die ihm zugrundeliegende Ganzheit beeinträchtigt. Ein lebendiger, eindringlicher Kommentar (zusätzlich zu dem Kom- mentar, der das Kôan begleitet) ist für jeden Suchenden, der ein Kôan zu geistiger Übung anwenden möchte, von unschätzbarem Wert. Solch ein Kommentar macht ihn nicht allein mit den Hintergründen der dramatis personae bekannt und erläutert in zeitgenössischer Spra- che unverständliche Ausdrücke und metaphorische Anspielungen, wie sie in der Volkssprache des alten China gang und gäbe waren, son- dern er drängt ihm auch den geistigen Gehalt des Kôan in bündiger, kraftvoller Sprache auf. Ein Kôan dürfte dem, dem solche Anleitung fehlt, leicht fremdartig, wenn nicht gar grotesk erscheinen. Da ein Teishô keine gewöhnliche Vorlesung oder Predigt ist, die sich an Hinz und Kunz wendet, sondern ein integrierender Bestandteil der Zen-Schulung, wird es im allgemeinen nur bei einem Sesshin gehalten und im wesentlichen zum Wohle derer, die zum Üben von Zazen kommen6. In einem Kloster, wo das Teishô täglich mindestens ein- mal, oft auch zweimal gehalten wird, wird es durch feierliche Glok-

6. Gelegentlich wird Gläubigen erlaubt, das Teishô zu hören, obgleich sie nicht am Sesshin teilnehmen. In einigen Klöstern wird auch außerhalb des Sesshin Teishô gehalten, jedoch hauptsächlich für die zum Kloster gehörenden Mönche.

106 kenschläge der hansho angekündigt, die unter den Glocken, Trom- meln und Gongs, wie sie in Zen-Klöstern gebräuchlich sind, zu den größten gehört. Auf ihr Zeichen hin gehen alle in einer Reihe hinter- einander aus der Zazen-Halle in die Haupthalle, teilen sich hier in zwei Gruppen, die sich im rechten Winkel zum Hauptaltar einander gegenüber aufstellen. Sie setzen sich in halber oder voller Lotus-Hal- tung oder in der traditionellen japanischen Sitzweise auf die Tatami. Dann erscheint der Rôshi, von einem Gefährten begleitet, der das Buch der Kôans7 trägt, das zeremoniell in ein Seidentuch eingeschla- gen ist, aus Achtung sowohl als auch zum Schutz. Alle Anwesenden neigen die Köpfe in Demut vor ihrem Lehrer, während er zum butsu- dan (Altar) schreitet, um dort ein Räucherstäbchen anzuzünden und es vor das Bild des Buddha zu stellen. Dann erheben sich alle und werfen sich unter Führung des Rôshi dreimal nieder, das Gesicht dem Butsudan zugewandt. Nach dieser Andachtsübung der Verehrung, Dankbarkeit und Demut für den Buddha und die Patriarchen nimmt der Rôshi auf einem großen Kissen auf dem Podium dem Butsudan gegenüber Platz, verschränkt die Beine zum Lotussitz und führt die Gruppe beim Rezitieren eines kurzen Sûtra-Abschnittes an. Nun ist er bereit, mit seinem Teishô zu beginnen. Ebenso wie das vorangegangene Rezitieren des Sûtra ist auch das Teishô eine Opfergabe an den Buddha. Aus diesem Grunde sitzt der Rôshi mit dem Gesicht dem Butsudan und nicht den Hörern zuge- kehrt da, während er seinen Kommentar gibt. Indem sich der Rôshi an den Buddha wendet, sagt er im Grunde: «Dies hier ist meine Aus- sage der Wahrheit deiner Lehren. Ich biete sie dir dar in der Hoff- nung, daß du damit zufrieden bist.» Ein Teishô ist keine gelehrte Abhandlung über die «Bedeutung» eines Kôan, denn der Rôshi weiß, daß Erklärungen, wie knifflig und scharfsinnig sie auch sein mögen, doch niemals jenes innere Verständ- nis herbeiführen können, das allein uns befähigt, den geistigen Gehalt eines Kôan mit Sicherheit und Überzeugung zu demonstrieren. Ja, Zen-Meister sehen bloße Definitionen und Erklärungen als trocken

7. Die Namen dieser Bücher siehe unter «Kôan» im 10. Kapitel.

107 und leblos und sogar irreführend an, da beide ihrem Wesen nach begrenzt sind. Das eine Wort «närrisch!», von den Eingeweiden her- ausgestoßen, vermittelt mehr als Hunderte von Worten, die es defi- nieren. Der Rôshi belastet seine Hörer auch nicht mit einer rein philo- sophischen Vorlesung über die buddhistische Lehre oder über die metaphysische Natur der letzten Wirklichkeit. Die Absicht des Rôshi ist vielmehr, Geist und Dramatik des Kôan nachzuerleben und durch seine kraftgeladenen Worte und Gebärden die den Rollen der verschiedenen Hauptpersonen eigene Wahrheit lebendig werden zu lassen. Da er sich der verschiedenen Grade des Auffassungsvermögens seiner Hörer bewußt ist, legt er seinen Kom- mentar so an, daß jeder das erhält, was seiner Auffassungskraft ent- spricht. Er bringt dabei den geistigen Gehalt des Kôan auch in Bezie- hung zu den alltäglichen Lebenserfahrungen seiner Hörer. In der Zen-Sprache heißt das: Der Rôshi «schlägt gegen» das Kôan von seinem Hara aus, und er vertraut darauf, daß die aufsprühenden Fun- ken der Wahrheit den Geist seiner Hörer erleuchten werden. «Hara» bedeutet eigentlich Bauch und Unterleib und die Verdauungs- funktionen, Aufnahme und Ausscheidung, die damit verbunden sind. Gleichzeitig aber hat das Wort eine seelisch-geistige Bedeutung. Den Yoga-Systemen von Hindus und Buddhisten zufolge gibt es eine Anzahl von psychischen Zentren im Körper, durch die vitale kosmi- sche Kraft oder Energie fließt. Eines von zwei derartigen Zentren innerhalb des Hara steht in Verbindung mit dem Sonnengeflecht, dessen Nervensystem die Verdauungs- und Auscheidungsorgane diri- giert. Hara ist somit ein Quell vitaler, psychischer Energien. Wenn 8 HARADA Rôshi , einer der gefeiertsten Zen-Meister seiner Zeit, seine Schüler dazu drängte, ihr Geistiges Auge 9, d. h. die Aufmerksamkeit, die Zusammenballung des gesamten Seins, im Hara zu konzentrieren, so pflegte er zu sagen: «Sie müssen realisieren - d. h. wirklich machen -, daß Ihre Bauchhöhle der Mittelpunkt des Weltalls ist!»

8. Weiteres über ihn siehe Seiten 374-377. 9. Siehe unter «Geist» im 10. Kapitel.

108 Um dem Anfänger im Zen das Erlebnis dieser Ur-Wahrheit zu erleichtern, lehrt man ihn, seine Aufmerksamkeit auf Hara, genauer gesagt, auf die Stelle handbreit unterhalb des Nabels zu richten und alle geistige und körperliche Aktivität von dort her ausstrahlen zu lassen. Schafft man im Hara einen Mittelpunkt geist-körperlichen Gleichgewichts, so bildet sich dort allmählich ein Sitz des Bewußt- seins, ein Brennpunkt vitaler Energie, der den gesamten Organismus beeinflußt. Lama GOVINDA zeigt, daß das Bewußtsein keineswegs nur auf das Gehirn beschränkt ist; er schreibt:

«Während nach westlicher Anschauung das Gehirn der ausschließliche Sitz des Bewußtseins ist, erweist die yogische Erfahrung, daß unser ‚Hirn- bewußtsein‘ nur ein Sonderfall unter einer Anzahl möglicher Bewußtseins- formen ist, und daß diese je nach ihrer Funktion und ihrer Natur in ver- schiedenen Organen des Körpers lokalisiert oder konzentriert werden kön- nen. Diese auf der Vertikalachse des Körpers liegenden ,Organe', welche die durchströmende Energie sammeln, transformieren und verteilen, werden als ,Cakras' oder Kraftzentren bezeichnet, von denen strahlenförmig, den Spei- chen eines Rades oder den Rippen eines Schirms vergleichbar, zahlreiche sekundäre Ströme psychischer Kraft ausgehen oder in das Zentrum zurück- führen. Diese Cakras sind in anderen Worten die Punkte, in denen Seelisches und Körperliches ineinander übergehen, einander durchdringen. Sie sind die Punkte, in denen das Seelische sich zum Körperlichen kristallisiert und in denen das Körperliche sich wiederum in Seelisches auflöst, oder richtiger, zurückverwandelt10.»

Wenn man den Schwerpunkt des Körpers auf die Stelle unterhalb des Nabels verlagert, d. h. wenn man ein Bewußtseinszentrum im Hara schafft, so lockern sich sofort die Spannungen, wie sie aus gewohnheitsmäßig hochgezogenen Schultern, Anspannung des Nak- kens oder einem gedrückten Magen entstehen. Wenn diese Steifheit verschwindet, bekommt man in jeder Hinsicht körperlich und geistig ein neuartiges Gefühl von Freiheit und gesteigerter Lebenskraft,

10. Lama ANAGARIKA GOVINDA, Grundlagen tibetischer Mystik, O. W. Barth Verlag, München, 41975, S. 154.

109 wobei Körper und Geist mehr und mehr als Einheit empfunden werden. Zazen hat klar erwiesen, daß das Wuchern wahllos auftauchender Ideen abnimmt, wenn man sein Geistiges Auge im Hara zentriert; auf diese Weise kann man schneller zu geballter Sammlung gelangen, da der Blutandrang aus dem Kopf abgezogen und dem Unterleib zugeführt wird, wodurch das Gehirn «abkühlt» und das vegetative Nervensystem beruhigt wird. Das wiederum führt zu größerer see- lisch-geistiger Stabilität. Wer vorn Hara her wirkt, regt sich daher auch nicht so leicht auf. Zudem ist er imstande, im Notfall schnell und entschlossen zu handeln, da sein im Hara verankerter Sinn nicht ins Straucheln gerät. Wird das Bewußtsein in den Hara verlagert, so treten Großmut und ein weiter, offener Blick an die Stelle von engem, egozentrischem Denken. Das kommt daher, daß ein Denken vom Hara, dem lebens- kräftigen Zentrum, aus, das von allen Überlegungen eines von Begrif- fen eingeengten Verstandes frei ist, spontan und allumfassend ist. Die intuitive Erkenntnis vom Hara her führt eher zu Integrierung und Einung als zu Teilung und Zersplitterung. Kurz, es ist ein Denken, das die Dinge sicher und ganz erfaßt. Die Gestalt des auf dem Lotusthron sitzenden Buddha - heiter, fest, allwissend, allumfassend, eine grenzenlose Fülle von Licht und Erbar- men ausstrahlend - gibt das beste Beispiel dafür, wie Hara nach voller Erleuchtung zum Ausdruck kommt. «Der Denker» von Rodin hingegen charakterisiert den entgegengesetzten Zustand: eine einsame Gestalt in Gedanken «verloren», der Körper gekrümmt, vereinzelt und von seinem Selbst getrennt. Es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, daß die Fähigkeit, vom Hara her zu denken und zu handeln, ebenso wie Jôriki nur in indirekter Beziehung zu Satori steht und damit nicht gleichbedeutend ist. Satori ist ein «Umstülpen» des Geistes, ein seelisches Erlebnis, das inneres Wissen vermittelt, während Hara nicht mehr als das oben Gesagte ist. Die Meister der traditionellen japanischen Künste leisten alle Vorzügliches in diesem Denken und Handeln vom Hara aus - wenn sie das nicht könnten, würden sie den Titel «Meister» nicht ver-

110 dienen -, aber nur wenige, wenn überhaupt welche, erreichten Satori ohne Zen-Schulung. Und warum nicht? Die Ausbildung des Hara dient im Wesentlichen der Vervollkommnung ihrer Kunst und nicht Satori; zu dessen Erlangung ist der Glaube an die Wirklichkeit von Buddhas Erleuchtung und an das eigene makellose Buddha-Wesen Voraussetzung, wie YASUTANI Rôshi in seinen einführenden Unter- weisungen dargelegt hat. Der Rôshi muß seinen Kommentar also vom Hara aus halten, wenn er von Geist und Kraft seines gesamten Seins durchglüht sein soll. In ähnlicher Weise müssen auch seine Zuhörer den Hara zum Brenn- punkt ihres Geistes machen, wenn sie die pulsierende Wahrheit, die er ihnen zuschleudert, unmittelbar und ganz erfassen sollen. Ja, das Zuhören beim Teishô ist eigentlich eine andere Art von Zazen, also ein Zustand ununterbrochener Aufmerksamkeit, der bis zu völliger Versunkenheit führt. Aus diesem Grunde darf die Konzentration nicht dadurch unterbrochen werden, daß man Notizen macht oder sonst die Augen aus ihrer «Sitz-Stellung» abgleiten läßt. In Klöstern, in denen strenge Disziplin herrscht, erteilen die Mönchs-Ältesten Anfängern einen Verweis, wenn diese sich etwas aufschreiben wollen oder wenn ihre Augen in der Halle umherwandern, um andere Sit- zende anzusehen. Besonders für jenen Gläubigen, dessen Übung ein Kôan ist, stellt das Teishô eine unvergleichliche Gelegenheit dar, unmittelbar Ein-Sicht in den wesentlichen Gehalt des Kôans zu gewinnen, bietet es doch zahl- reiche Anhaltspunkte. Wenn es ihm gelungen ist, seine Gedanken durch zielbewußte Konzentration zu erschöpfen, und er so weit gekommen ist, daß er mit seinem Kôan absolut eins ist, so kann eine Redewendung des Rôshi für ihn zum goldenen Pfeil werden, der plötzlich und unversehens sein Ziel findet, die innerste Hülle der Dunkelheit in Stücke reißt und den Geist mit Licht und innerem Begreifen durchflutet. Für den, dessen Geist dazu noch nicht reif ist - mit anderen Worten: noch in verblendetes Denken eingehüllt ist - bietet das Teishô eine Fülle von Fingerzeigen für seine weitere Übung. Allen aber, wie immer auch ihre Geistesverfassung sein mag, dient ein klares, kraftvolles Teishô als Inspiration und Ermutigung.

111 Ist das Teishô beendet, so schließt der Rôshi unauffällig das Buch der Kôans, während alle mit ihm in das Rezitieren der Vier Gelübde ein- stimmen. Nie, weder während des Teishô, noch danach, fordert er zu Fragen auf oder ermutigt dazu. Bei der Zen-Lehre blickt man stirn- runzelnd auf alle theoretischen Fragen, da sie dem unmittelbaren Erlebnis der Wahrheit nicht förderlich sind. Diese Einstellung läßt sich bis auf den Buddha zurückverfolgen, der in «edlem Schweigen» verharrte, wann immer ihm Fragen gestellt wurden wie «Sind Weltall und Seele endlich oder unendlich?» «Existiert der Heilige nach dem Tode oder nicht?». Und der Zen-Buddhismus, der die Quintessenz von Buddhas Lehre darstellt, weigert sich gleichermaßen, Fragen zu behandeln, auf die es letzten Endes keine Antwort gibt, oder auch Fragen, die Antworten zur Folge haben, die nur von jemandem ver- standen werden können, dessen Geist im Lichte vollen Bewußtseins gebadet ist, also nach vollkommener Erleuchtung. Wenn beim Doku- san abstrakte, theoretische Fragen gestellt werden, wie es manchmal geschieht, dann wirft der Rôshi sie auf den Fragenden zurück, um zu versuchen, ihm den Ur-Quell sichtbar zu machen, aus dem sie her- vorgehen, und um ihn mit eben diesem Ur-Quell in Verbindung zu bringen. Abstrakte Fragen werden jedoch noch aus anderen Gründen mit Miß- fallen betrachtet. Wenn solche Fragen zum Hauptanliegen werden, so treten sie nur allzu leicht an die Stelle von Zazen und drängen jenes Innere Begreifen ab, zu dem allein Zazen führen kann. Indem sie den Verstand kitzeln, erschweren sie auch die für Kenshô so wesentliche Stillung und Entleerung des Geistes erheblich. Die klassische Antwort, die der Buddha einem Mönch gab, der drohte, seine religiöse Lebens- weise aufzugeben, wenn der Buddha nicht seine Frage, ob ein Heiliger nach dem Tode existiere, beantworten würde, verdient, hier angeführt zu werden: «Das ist genau so, als wäre jemand von einem Pfeil, der dick mit Gift beschmiert war, verwundet worden, und seine Freunde und Gefährten, seine Sippe und Familie wollten ihm einen Arzt oder Chirurgen verschaffen; und der Kranke würde sagen: ,Ich will nicht, daß man mir diesen Pfeil heraus- zieht, ehe ich nicht erfahren habe, ob der Mann, der mich verwundet hat,

112 zur Kriegerkaste oder zur Brahmanenkaste gehörte, ... ob er groß, klein oder von mittlerem Wuchs war, schwarze, braune oder gelbe Haut hatte; aus dieser oder jener Ortschaft, Stadt oder Großstadt stammte; ... ob es ein gewöhnlicher Pfeil war oder einer mit einem Widerhaken ...‘ Jener Mann würde sterben, ohne all das jemals erfahren zu haben11.» Und in einem anderen Dialog stellte der Buddha fest: «Das religiöse Leben hängt nicht von dem Glaubenssatz ab, daß die Welt ewig ist oder nicht, unendlich oder endlich, daß Seele und Leib identisch oder verschieden sind; oder von dem Glaubenssatz, daß der Heilige nach dem Tode existiert oder nicht... Das bringt keinen Gewinn, noch hat es etwas mit den Grundwahrheiten der Religion zu tun, noch ist es auf Lei- denschaftslosigkeit gerichtet. . . oder auf Weisheit und Nirvana 12.»

Der Kommentar

Heute will ich das erste Beispiel im Mumon-Kan behandeln, das den Titel «JÔSHÛ (über das dem) Hund (eigene Wesen)» trägt. Ich werde das Kôan genau vorlesen und danach MUMONS Erläuterung:

Ein Mönch fragte JÔSHÛ in allem Ernst: «Hat ein Hund Buddha-Wesen oder nicht?» JÔSHÛ versetzte: «Mu!» MUMONS Erläuterung: Bei der Übung des Zen müßt ihr durch das Schran- ken-Tor 13 hindurchgehen, das die Patriarchen aufrichteten. Um jenes wun- dersame Ding, das man Erleuchtung nennt, zu erfahren, müßt ihr in den Ursprung eurer Gedanken Einblick gewinnen und sie dadurch ausrotten. Wenn ihr nicht durch die Schranke hindurchgehen könnt, euch also der aufsteigenden Gedanken nicht entledigen könnt, seid ihr Gespenstern gleich, die sich an Bäume und Gräser klammern.

11. Majjhima Nikāya 63. 12. Majjhima Nikāya 72. 13. Im alten China gab es auf den großen Straßen, die zu einer Ortschaft oder Stadt führten, Schlagbäume, an denen man kontrolliert wurde, ehe man die Er- laubnis erhielt, die Stadt zu betreten - ähnlich also wie bei den Stadtmauern im mittelalterlichen Europa.

113 Was denn ist diese von den Patriarchen aufgerichtete Schranke? Es ist Mu, die eine Schranke der erhabenen Lehre. Letzten Endes ist es eine Schranke, die keine Schranke ist. Wer hindurch gegangen ist, kann nicht allein JÔSHÛ von Angesicht zu Angesicht sehen, sondern er kann auch Hand in Hand mit der ganzen Reihe der Patriarchen gehen. Ja, er kann Augenbraue an Augenbraue stehend mit den gleichen Ohren hören und mit den gleichen Augen sehen. Wie wunderbar! Wer wünschte nicht, durch diese Schranke zu gehen? Dafür müßt ihr euch Tag und Nacht konzentrieren und euch mit jedem eurer 360 Knochen und jeder eurer 84 000 Poren erforschen. Legt Mu nicht fälschlich als Nichts aus und faßt es nicht als Dasein oder Nicht-Dasein auf, (ihr müßt jenen Punkt erreichen, da es euch vorkommt) als hättet ihr eine rot-glühende Eisenkugel verschluckt, die ihr trotz aller Anstrengung nicht ausspeien könnt. Wenn ihr all eure Verblendung aufgelöst habt und im Verlaufe vieler Jahre zur Reinheit herangereift seid, so daß Innen und Außen wie Eines sind, dann werdet ihr eure (hehre) Geistesverfassung voll auskosten; aber wie ein Stummer, der einen Traum gehabt hat (werdet ihr nicht darüber sprechen können). Wenn ihr einmal zur Erleuchtung durch- brecht, so werdet ihr den Himmel in Bestürzung setzen und die Erde in 14 Bewegung bringen. Als hättet ihr das scharfe Schwert von General KUAN erbeutet, werdet ihr imstande sein, den Buddha zu erschlagen, solltet ihr ihm begegnen (und er wollte euch aufhalten), und alle Patriarchen, die ihr trefft, zu töten (falls sie euch hindern wollten). Frei von (den Fesseln von) Geburt-und-Tod, werdet ihr euch in den Sechs Bereichen des Daseins und den Vier Arten von Geburt in einem samâdhi unschuldigen Entzückens bewegen. Wie nun haltet ihr ausschließlich an Mu fest? Alle eure Lebenskraft erschöpfend, sammelt Euch auf Mu. Wenn ihr unterwegs nicht aufgebt, werdet ihr erleuchtet werden, gleich wie eine Dharma-Kerze durch einen einzigen Funken entzündet wird. MUMONS LOBSPRUCH: Hund! Buddha-Wesen! Darstellung des ganzen, unabdingbaren Gebots! Wer zu denken beginnt, «hat» oder «hat nicht», hat (den Einklang mit dem) Leben verloren.

14. Siehe S. 125.

114 Die Hauptperson in diesem Kôan ist JÔSHÛ, ein berühmter chinesi- scher Meister. Ich meine, es wäre besser, ihn als den Patriarchen JÔSHÛ zu bezeichnen. Da mein Kommentar zum heutigen Kôan ziem- lich lang sein wird, sehe ich davon ab, JÔSHÛS Lebenslauf zu erzählen. Es mag genügen zu sagen, daß er, wie Sie alle wissen, ein großer Patriarch des Zen war. Obgleich zahlreiche Kôans ihn zum Mittel- punkt haben, ist doch dieses zweifellos das bekannteste. Meister MUMON rang sechs Jahre lang damit und kam schließlich zur Selbst- Wesensschau. Das Kôan machte offenbar tiefen Eindruck auf ihn, denn er stellte es unter seinen achtundvierzig Kôans an erste Stelle. Es gibt eigentlich keinen besonderen Grund dafür, daß gerade dieses Kôan das erste sein sollte - jedes andere hätte ebenso gut an den Anfang gestellt werden können - aber MUMONS Beziehung dazu war derart innig, daß er es ganz selbstverständlich an die Spitze stellte. Die erste Zeile lautet: «Ein Mönch fragte JÔSHÛ in allem Ernst...» Das heißt, seine Frage war weder leichtfertig noch beiläufig, sondern wohldurchdacht. Im folgenden wird durch «Hat ein Hund Buddha-Wesen?» die Frage erhoben: Was ist Buddha-Wesen? Eine bekannte Stelle im Nirvana- Sûtra besagt, daß jedes Geschöpf Buddha-Wesen habe. Der Ausdruck «jedes Geschöpf» bedeutet: alles Dasein. Nicht allein die Menschen, sondern auch die Tiere und sogar die Pflanzen sind Geschöpfe. Daher haben laut dem Nirvana-Sûtra ein Hund, ein Affe, eine Libelle und ein Wurm gleichermaßen Buddha-Wesen. Im Zusammenhang mit die- sem Kôan können Sie diesen Ausdruck jedoch so verstehen, als bezöge er sich nur auf Tiere. Was also ist Buddha-Wesen? Kurz gesagt: Das Wesen von allem ist so beschaffen, daß es Buddha werden kann. Einige von Ihnen mögen sich nun, da sie meinen, daß es da verborgen in uns etwas gibt, das man das Buddha-Wesen nennt, nach dem Aufenthalt dieses Buddha- Wesens erkundigen. Vielleicht sind Sie geneigt, es dem Gewissen gleichzusetzen, das jeder, selbst der Böse, besitzen soll. Sie werden die Wahrheit von Buddha-Wesen nie begreifen, solange Sie derart trügeri- sche Ansichten hegen. Der Patriarch DÔGEN legte diesen Ausdruck im Nirvana-Sûtra dahin aus, daß das, was das Wesen aller Geschöpfe

115 ausmacht, eben Buddha-Wesen ist, und nicht, daß alle Geschöpfe etwas haben, das man das Buddha-Wesen nennt. Für DÔGEN gibt es also überhaupt nur Buddha-Wesen und sonst nichts. Im Buddhismus ist Buddha-Wesen eine intime Bezeichnung, Dharma- Wesen hingegen eine unpersönliche. Ob wir nun aber Buddha-Wesen oder Dharma-Wesen sagen, der Gehalt bleibt der gleiche. Wer zum Dharma erwacht ist, ist ein Buddha, und demzufolge erhebt sich Buddha aus dem Dharma. Das Diamant-Sûtra sagt, daß alle Buddhas und ihre Erleuchtung aus diesem Dharma hervorgehen. Daraus folgt, daß der Dharma Mutter der Buddhaschaft ist. In Wirklichkeit jedoch gibt es weder Mutter noch Sohn, und es ist, wie ich schon gesagt habe, ganz gleich, ob Sie Buddha oder Dharma sagen. Was ist der Dharma von Dharma-Wesen? Dharma bedeutet Erschei- nungen, Phänomene. Was wir gemeinhin als Phänomene bezeich- nen - also das, was mit den Sinnen wahrnehmbar ist -, wird im Buddhismus Dharma genannt. Das Wort «Phänomen» hat, da es sich nur auf Wahrnehmbares bezieht und nicht auch auf das, was ihr Erscheinen bewirkt, eine beschränkte Bedeutung. Diese Phänomene werden Dharma (oder Gesetz) genannt, weil sie weder durch Zufall, noch durch den Willen einer besonderen Instanz, die das Weltall überwacht, hervorgerufen werden. Alle Phänomene sind das Ergebnis des Gesetzes von Ursache und Wirkung. Sie entstehen, wenn die Ursachen und Bedingungen, von denen sie beherrscht werden, aus- gereift sind. Wenn sich eine dieser Ursachen oder Bedingungen ändert, so wandeln sich die Phänomene entsprechend. Wenn sich die Kombi- nation von Ursachen und Bedingungen völlig auflöst, so verschwindet auch die Form selbst. Da alles Dasein Ausdruck dieses Gesetzes von Ursache und Wirkung ist, sind alle Phänomene ebenfalls dieses Gesetz, dieser Dharma. Und da es mannigfaltige Daseinsformen gibt, gibt es auch mannigfaltige Dharma, die diesen Daseinsformen ent- sprechen. Die Substanz dieser mannigfachen Dharma nennen wir Dharma-Wesen. Ob wir nun Dharma-Wesen sagen, oder die persön- lichere Bezeichnung Buddha-Wesen benutzen, so beziehen sich doch beide Ausdrücke auf ein und dieselbe Wirklichkeit. Anders ausge- drückt: Alle Phänomene sind Transformationen von Buddha- oder

116 Dharma-Wesen. Alles unterliegt seinem Wesen nach dem Vorgang unendlicher Wandlungen - das ist sein Buddha- oder Dharma-Wesen. Was ist die Substanz dieses Buddha- oder Dharma-Wesens? Im Buddhismus nennt man es ku (śûnyatâ). Ku ist jedoch nicht bloße Leerheit. Es ist vielmehr etwas Lebendiges, Dynamisches, frei von Masse, beweglich, jenseits von Individualität und Persönlichkeit - der Mutterboden aller Phänomene. Hierin haben wir das Grundprinzip, die grundlegende Lehre und Philosophie des Buddhismus. Für den Buddha SHAKYAMUNI war das keine bloße Theorie, sondern die Wahrheit, deren er unmittelbar innewurde. Durch das Erlebnis der Erleuchtung, das der Ursprung aller buddhistischen Lehren ist, begreift man die Welt von Ku. Diese Welt - beweglich, frei von Masse, jenseits von Individualität und Persönlichkeit - liegt außer- halb des Bereichs unserer Vorstellungskraft. Demzufolge ist die wahre Substanz der Dinge, also ihr Buddha- oder Dharma-Wesen, unbe- greiflich und unerforschlich. Da alles Vorstellbare etwas von Form oder Farbe an sich hat, muß alles, was man sich als Buddha-Wesen vorstellt, notgedrungen unwirklich sein. Was man sich vorstellen kann, ist nur ein Abbild von Buddha-Wesen, nicht aber Buddha- Wesen selbst. Aber obgleich Buddha-Wesen jenseits aller Begriffe und Vorstellungen liegt, ist es uns doch möglich, dazu zu erwachen, da wir selbst ureigentlich Buddha-Wesen sind. Wir können jedoch nur durch das Erlebnis der Erleuchtung die Bestätigung dafür im Herzen finden. Erleuchtung ist daher alles. Wenn Sie einmal dieser Welt von Ku innegeworden sind, werden Sie das Wesen der Erscheinungswelt sogleich begreifen und aufhören, sich daran zu klammern. Was wir sehen, ist trügerisch, ohne Substanz, gleich den Possen von Puppen in einem Film. Fürchten Sie sich davor zu sterben? Das brauchen Sie nicht. Der Tod hat nicht mehr substan- tielle Wirklichkeit als die Bewegungen der Puppen. Oder anders aus- gedrückt: Er ist nicht wirklicher als das Schneiden der Luft mit einem Messer oder das Platzen von Blasen, die immer aufs neue erscheinen, wie oft sie auch zerplatzen. Sind wir einmal der Welt von Buddha-Wesen gewahr geworden, so sind wir dem Tod gegenüber gleichgültig, da wir wissen, daß wir wie-

117 dergeboren werden durch die Affinität zu einem Vater und einer Mutter. Wir werden wiedergeboren, wenn unsere karmischen Zusam- menhänge uns dazu treiben. Wir sterben, wenn unsere karmischen Zusammenhänge bestimmen, daß wir sterben. Und wir werden getö- tet, wenn unsere karmischen Zusammenhänge dazu führen, daß wir getötet werden. Wir sind in jedem Augenblick die Manifestation unserer karmischen Zusammenhänge, und wir wandeln uns, wenn sie sich ändern. Was wir Leben nennen, ist nichts mehr als eine Abfolge von Umwandlungen. Wenn wir uns nicht wandeln, sind wir leblos. Wir wachsen und altern, weil wir leben. Unser Sterben ist der Beweis dafür, daß wir gelebt haben. Wir sterben, weil wir leben. Leben bedeutet Geburt und Tod. Schöpfung und Vernichtung bedeuten Leben. Wenn Sie dieses Grundprinzip wahrhaft begreifen, werden Sie sich um Leben und Tod keine Sorge machen. Sie werden unerschütterlichen Sinnes werden und in Ihrem alltäglichen Leben glücklich sein. Selbst wenn bei Himmel und Erde das Oberste zuunterst gekehrt würde, werden Sie doch keine Furcht haben. Und wenn eine Atom- oder Wasserstoffbombe explodierte, so würden Sie nicht vor Entsetzen beben. Wenn Sie mit der Bombe eins werden, was sollte es da zu fürchten geben? «Unmöglich!» sagen Sie. Aber ob Sie es wünschen oder nicht, Sie würden doch gewaltsam mit ihr eins werden, nicht wahr? Desgleichen würden Sie, wenn Sie in ein Großfeuer gerieten, unweigerlich verbrennen. Werden Sie also eins mit dem Feuer, wenn es kein Entkommen gibt! Wenn Sie in Armut geraten, so leben Sie darin, ohne zu grollen; dann wird Ihnen die Armut keine Bürde sein. Und ebenso: Wenn Sie reich sind, so leben Sie mit Ihren Reichtümern. All das ist das Wirken von Buddha-Wesen. Kurz gesagt: Buddha- Wesen ist von unendlicher Anpassungsfähigkeit. Wenn wir nun auf unser Kôan zurückkommen, müssen wir uns der Frage «Hat ein Hund Buddha-Wesen?» mit Vorsicht nähern, da wir nicht wissen, ob der Mönch wirklich unwissend ist oder nur Unwis- senheit heuchelt, um JÔSHÛ zu prüfen. Würde JÔSHÛ antworten «Er hat» oder «Er hat nicht», würde er niedergestochen. Wissen Sie, warum? Weil das, worum es hier geht, gar nicht eine Sache von

118 «haben» oder «nicht haben» ist. Da sowieso alles Buddha-Wesen ist, wäre jede der beiden Antworten sinnwidrig. Das hier ist ein «Dharma-Gefecht». JÔSHÛ muß den Stoß parieren. Das tut er, indem er scharf versetzt «Mu!» Hier endet der Dialog. Anderen Versionen des gleichen Kôan zufolge fährt der Mönch fort zu fragen: «Warum hat ein Hund nicht Buddha-Wesen, wenn es im 15 Nirvana-Sûtra doch heißt, daß alle Geschöpfe es besitzen ?» JÔSHÛ parierte: «Er hat sein eigenes Karma.» Das bedeutet, daß des Hundes Buddha-Wesen nichts anderes als Karma ist. Handlungen, die in Ver- blendung ausgeführt wurden, rufen schmerzhafte Folgen hervor. Das ist Karma. Einfacher ausgedrückt: Ein Hund ist ein Hund auf Grund seines vergangenen Karmas, das ihn dazu bestimmt hat, ein Hund zu werden. Das ist das Wirken von Buddha-Wesen. Man rede also nicht, als gäbe es ein besonderes Ding, das «Buddha-Wesen» genannt wird. Das ist der tiefere Sinn von JÔSHÛS «Mu». Somit ist klar, daß Mu mit dem Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Buddha- Wesen nichts zu tun hat, sondern selber Buddha-Wesen ist. Die scharfe Entgegnung «Mu!» legt Buddha-Wesen bloß und drängt es uns zugleich voll auf. Obgleich Sie vielleicht nicht ganz verstehen können, was ich sage, werden Sie doch nicht irregehen, wenn Sie Buddha-Wesen in dieser Weise auffassen. Buddha-Wesen kann mit dem Verstand nicht erfaßt werden. Um es unmittelbar zu erleben, müssen Sie mit äußerster Hingabe in Ihrem Innern suchen, bis Sie von seiner Existenz unbedingt überzeugt sind, denn schließlich sind Sie ja selber dieses Buddha-Wesen. Wenn ich vorhin sagte, daß Buddha-Wesen Ku ist - unpersönlich, frei von Masse, beweglich und endloser Verwandlung fähig -, so habe ich Ihnen damit nur ein Bildnis davon gegeben. Es ist zwar möglich, in solchen Begriffen an Buddha-Wesen zu denken, es muß Ihnen aber klar sein, daß alles, was Sie erdenken oder sich vorstellen können, notgedrungen unwirklich ist. Es gibt daher keine andere Möglichkeit, als die Wahrheit im eigenen Geist zu erleben. Den Weg dazu hat MUMON in größter Güte gewiesen.

15. Der Mönch deutete offenbar JÔSHÛS «Mu!» irrtümlich als «hat nicht!»

119 Wir wollen jetzt MUMONS Erläuterung betrachten. Zu Beginn sagt er: «Bei der Übung des Zen...» Zazen, Dokusan (individuelle Unter- weisung) zu empfangen, das Teishô anzuhören - all das ist Zen- Übung. Aufmerksamkeit bei allen Einzelheiten Ihres täglichen Lebens - auch das ist Schulung im Zen. Wenn Ihr Leben und Zen eins gewor- den sind, dann leben sie wahrhaft Zen. Wenn Zen nicht mit Ihren alltäglichen Verrichtungen übereinstimmt, ist es lediglich eine Verzie- rung. Sie müssen darauf bedacht sein, Zen nicht zur Schau zu tragen, sondern es Ihrem Leben bescheiden einzufügen. Ein konkretes Bei- spiel für Aufmerksamkeit: Wenn Sie im Vorraum aus den Holzschu- hen oder vor der Toilette aus den Pantoffeln schlüpfen, müssen Sie darauf achten, sie säuberlich hinzustellen, so daß der Nächste sie selbst im Dunkeln leicht anziehen kann. Solche Achtsamkeit ist eine praktisch-anschauliche Darstellung von Zen. Wenn Sie Pantoffeln oder Schuhe geistesabwesend anziehen, sind Sie nicht aufmerksam. Wenn sie gehen, müssen Sie achtsam auftreten, um nicht zu stolpern oder zu fallen. Werden Sie nicht nachlässig! Aber ich schweife ab. Fahren wir fort: «... müßt Ihr durch das Schranken-Tor hindurchgehen, das die Patriarchen aufrichteten.» Mu ist solche Schranke. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß es von Anbeginn an gar keine Schranke gibt. Da alles Buddha-Wesen ist, gibt es kein Tor, durch das man ein- und ausgehen könnte. Um uns aber zu der Wahrheit, daß alles Buddha-Wesen ist, zu erwecken, haben die Patriarchen widerwillig Schranken errichtet und feuern uns an, hindurchzugehen. Sie verurteilen unser mangelhaftes Üben und weisen unsere unvollständigen Antworten zurück. Wenn Sie stetig an Lauterkeit zunehmen, werden Sie eines Tages plötzlich zur Selbst- Wesensschau kommen. Wenn das geschieht, werden Sie mühelos durch das Schranken-Tor hindurchgehen. Mumon-Kan ist ein Buch, das achtundvierzig solcher Schranken enthält. Die nächste Zeile beginnt: «Um jenes wundersamen Dinges, das man Erleuchtung nennt, innezuwerden ...» Beachten Sie das Wort «wun- dersam». Erleuchtung wird als wundersam bezeichnet, da sie uner- klärlich und unbegreiflich ist. «... müßt ihr in den Ursprung eurer Gedanken Einblick gewinnen und sie dadurch ausrotten.» Das heißt,

120 daß es nutzlos ist, sich Zen vom Standpunkt der Logik und bestimm- ter Voraussetzungen aus zu nähern. Man kann durch Schlußfolgerun- gen, Kenntnisse oder Begriffsbildungen niemals zur Erleuchtung kom- men. Hören Sie auf, sich an irgendwelche Gedankenformen zu klam- mern! Ich betone das, da es der Mittelpunkt der Zen-Übung ist. Hüten Sie sich auch ganz besonders davor zu denken, Erleuchtung müsse dieses oder jenes sein! «Wenn ihr nicht durch die Schranke hindurchgehen könnt, euch also der aufsteigenden Gedanken nicht entledigen könnt, seid ihr Gespen- stern gleich, die sich an Bäume und Gräser klammern.» Gespenster erscheinen nicht am hellichten Tage, sondern kommen verstohlen bei Dunkelheit hervor, so sagt man, schmiegen sich an die Erde oder klammern sich an Weidenbäume. Sie bedürfen zu ihrer bloßen Exi- stenz dieser Stützen. In gewissem Sinne sind auch die Menschen gespensterartig, da die meisten von uns nicht unabhängig von Geld, sozialem Rang, Ehren, Gesellschaft und Ansehen wirken können. Oder aber wir haben das Bedürfnis, uns mit Organisationen und Ideo- logien zu identifizieren. Wer ein Mensch von wahrem Wert und nicht nur ein Phantom ist, der muß fähig sein, aufrecht dahinzuschreiten, allein und von allem unabhängig. Wenn Sie philosophische Begriffe oder religiöse Glaubensanschauungen, Ideen oder Theorien irgend- welcher Art hegen, so sind Sie gleichfalls ein Gespenst, denn Sie werden unausweichlich davon festgehalten. Nur wenn Ihr Sinn von solchen Abstraktionen leer ist, sind Sie wahrhaft frei und unab- hängig. Die nächsten beiden Sätze lauten: «Was denn ist diese von den Patriarchen aufgerichtete Schranke? Es ist Mu, die eine Schranke der erhabenen Lehre.» Die erhabene Lehre ist kein Moralsystem, sondern das, was an der Wurzel all solcher Systeme sitzt, nämlich Zen. Als Wurzel aller Lehren und daher als erhaben kann man nur das bezeich- nen, was von lauterster Reinheit ist, frei von allem Abergläubischen und Übernatürlichen. Im Buddhismus ist Zen die einzige Lehre, die in gar keiner Weise von Elementen des Übernatürlichen vergiftet ist. So kann man Zen allein als erhabene Lehre bezeichnen und Mu als eine Schranke dieser erhabenen Lehre. Sie können «eine Schranke»

121 als «einzige Schranke» auffassen, oder auch als eine von vielen. Letz- ten Endes gibt es keine Schranke. «Wer hindurch gegangen ist, kann nicht allein JÔSHÛ von Angesicht zu Angesicht sehen ...» Da wir in einem anderen Zeitalter leben, können wir natürlich JÔSHÛ nicht leiblich sehen. « JÔSHÛ von Ange- sicht zu Angesicht sehen» heißt, seinen Geist begreifen. «... er kann auch Hand in Hand mit der ganzen Reihe der Patriarchen gehen.» Die Reihe der Patriarchen beginnt mit MAHÂ KĀSHYAPA, der auf den Buddha folgte; sie führt weiter zu BODHIDHARMA, dem achtundzwan- zigsten Patriarchen, und setzt sich bis zum heutigen Tage fort. «Augenbraue an Augenbraue» ist eine Redewendung, die große Ver- traulichkeit besagt. «... mit den gleichen Ohren hören und mit den gleichen Augen sehen», kennzeichnet die Fähigkeit, die Dinge vom gleichen Gesichtspunkt aus zu betrachten wie der Buddha und BODHIDHARMA. Das besagt natürlich, daß wir die Welt der Erleuch- tung klar erfaßt haben. «Wie wunderbar!» Ja, wunderbar fürwahr! Einzig jene, die die Kost- barkeit des Buddha, des Dharma und der Patriarchen anerkennen, wissen einen derartigen Ausruf zu würdigen. Ja, wie wahrhaft wun- derbar! Jene, die nicht nach dem Buddha und dem Dharma fragen, dürften alles andere als ein Wunder darin sehen; aber das läßt sich nicht ändern. «Wer wünschte nicht, durch diese Schranke zu gehen? Dafür müßt ihr euch Tag und Nacht konzentrieren und euch mit jedem eurer 360 Knochen und jeder eurer 84 000 Poren erforschen.» Diese Zahlen geben die Vorstellung der Alten wieder, die glaubten, daß der Körper in dieser Weise aufgebaut sei. Jedenfalls beziehen sie sich auf das ganze Sein des Menschen. Alles an Ihnen muß zu einer einzigen Masse von Zweifel und Fragen werden. Versenken Sie sich in Mu, und durchdringen Sie es ganz! Mu zu durchdringen bedeutet, zu unbeding- ter Einheit mit ihm zu gelangen. Wie kann man diese Einheit errei- chen? Indem Sie sich hartnäckig Tag und Nacht an Mu halten! Tren- nen Sie sich unter gar keinen Umständen davon! Machen Sie es unablässig zum Brennpunkt Ihres Geistes. «Legt Mu nicht fälschlich als Nichts aus und faßt es nicht als Dasein

122 oder Nichtdasein auf.» Mit anderen Worten: Sie sollen nicht an Mu als an ein Problem denken, das Dasein oder Nicht-Dasein von Buddha-Wesen zum Gegenstand hat. Was also sollen Sie tun? Hören Sie auf zu grübeln, und konzentrieren Sie sich voll und ganz auf Mu - Mu allein! Trödeln Sie nicht, üben Sie mit jeder Faser Ihrer Kraft. «(Ihr müßt jenen Punkt erreichen, da es euch vorkommt,) als hättet ihr eine rot- glühende Eisenkugel verschluckt...» Es ist natürlich eine Übertrei- bung, wenn von dem Verschlucken einer rot-glühenden Eisenkugel die Rede ist. Wir schlucken jedoch oft achtlos einen heißen Reisknö- del, der uns in der Kehle stecken bleibt und uns beträchtliches Unbe- hagen verursacht. Wenn Sie Mu einmal verschluckt haben, werden Sie sich gleichermaßen höchst unbehaglich fühlen und versuchen, es zu entfernen. «.. . die ihr trotz aller Anstrengung nicht ausspeien könnt.» - Das charakterisiert den Zustand jener, die an diesem Kôan arbeiten. Da die Aussicht auf Selbst-Wesensschau wahre Tantalus- qualen hervorruft, können sie nicht aufgeben; ebensowenig aber kön- nen sie die Bedeutung von Mu leicht erfassen. Es gibt also für sie keinen anderen Weg, als sich auf Mu zu konzentrieren, bis sie «blau im Gesicht werden». Der Vergleich mit einer rot-glühenden Eisenkugel ist angemessen. Sie müssen Ihre Verblendung zusammen mit der rot-glühenden Eisen- kugel Mu, die Ihnen in der Kehle steckt, einschmelzen. Ihre Ansich- ten, an denen Sie festhalten, und Ihr weltliches Wissen machen Ihre Verblendung aus. Dazu gehören auch philosophische und moralische Begriffe, wie hehr sie auch sein mögen, und religiöse Glaubensan- schauungen und Dogmen, ganz zu schweigen von unschuldigen, all- täglichen Gedanken. Kurz, man bezeichnet mit «Verblendung» alle nur vorstellbaren Ideen, die Hindernisse für die erkennende Schau unserer Wesens-Essenz sind. Schmelzen Sie sie also mit der Feuer- kugel Mu ein! Sie sollten Zazen nicht nach Lust und Laune üben. Sie werden niemals Erfolg haben, wenn Sie Zazen nur dann üben, wenn Ihnen gerade der Sinn danach steht, und es dann schnell wieder aufgeben. Sie müssen unerschütterlich ein, zwei, drei oder gar fünf Jahre lang durchhalten,

123 ohne nachzulassen, beständig auf der Hut sein. Auf diese Weise wer- den Sie allmählich an Reinheit gewinnen. Anfangs werden Sie sich nicht von ganzem Herzen in Mu ergießen können. Es wird Ihnen schnell entwischen, da Ihr Sinn zu wandern beginnt. Sie müssen sich schärfer konzentrieren - einzig und allein «Mu! Mu! Mu!» Und wie- derum wird es sich Ihnen entziehen. Und wiederum versuchen Sie, es scharf in den Blick zu fassen, und wieder schlägt es Ihnen fehl. Das ist in den ersten Stadien der Übung das Übliche. Selbst wenn Mu nicht davonschlüpft, wird Ihre Konzentration durch mancherlei geistige Verunreinigung unterbrochen. Diese Verunreinigungen verschwinden mit der Zeit; da Sie aber noch kein Eins-Sein mit Mu erreicht haben, sind Sie noch weit von jeder Reife entfernt. Unbedingtes Eins-Sein mit Mu, gedankenfreie Versenkung in Mu - das ist Reife. Wenn Sie die- ses Stadium der Lauterkeit erreicht haben, verschmelzen Innen und Außen ganz naturgemäß. Die Bedeutung von «Innen und Außen» hat verschiedene Schattierungen. Man kann darunter Subjektivität und Objektivität verstehen oder auch Seele und Leib. Wenn Sie sich voll und ganz in Mu versenken, verschmelzen Äußeres und Inneres zu einer völligen Einheit. Aber unfähig, darüber zu sprechen, werden Sie sein «wie ein Stummer, der einen Traum gehabt hat». Wer stumm ist, kann über den Traum, den er vergangene Nacht hatte, nicht sprechen. So werden auch Sie den Geschmack des samâdhi für sich allein aus- kosten, anderen aber nicht davon erzählen können. Auf dieser Stufe wird sich jählings Selbst-Wesensschau ereignen. Urplötzlich! Das «Durchbrechen zur Erleuchtung» erfordert nur einen Augenblick. Es ist, als hätte eine Explosion stattgefunden. Wenn das geschieht, werden Sie so viel erleben! Sie werden «den Himmel in Bestürzung setzen und die Erde in Bewegung bringen». Alles wird so verwandelt erscheinen, daß Sie meinen, Himmel und Erde hätten umstürzend die Plätze getauscht. Natürlich kommt es nicht dazu, daß sie buchstäblich umstürzen. Durch Erleuchtung sehen Sie die Welt als Buddha-Wesen, das heißt aber nicht, daß alles so strahlend wird wie ein Glorienschein. Vielmehr nimmt jedes Ding genau so, wie es ist, einen völlig neuen Sinn und Wert an. Wunderbarerweise ist alles von Grund auf verändert und bleibt dabei doch, wie es ist.

124 MUMON beschreibt das also: Es ist, «als hättet ihr das scharfe Schwert von General KUAN erbeutet». General KUAN war ein tapferer Gene- ral, der mit seinem Schwert «Blauer Drache» im Nahkampf unbesieg- bar war. Deshalb sagt MUMON, ihr werdet so mächtig werden, wie einer, der das Schwert «Blauer Drache» von General KUAN erbeutet hat. Das heißt, daß Ihnen nichts Widriges geschehen kann. Durch Selbst-Wesensschau erwirbt man Selbstvertrauen und ein eindrucks- volles Gebaren. Erscheint solch einer vor dem Rôshi, so drückt sein Benehmen aus: «Prüft mich, wie immer Ihr wünscht», und seine Sicherheit ist derart, daß er den Meister sogar prügeln könnte. «... werdet ihr imstande sein, den Buddha zu erschlagen, solltet ihr ihm begegnen, und alle Patriarchen, die ihr trefft, zu töten.» Die Furchtsamen werden starr vor Schrecken sein, wenn sie das hören, und Zen als ein Werkzeug des Teufels brandmarken. Andere, die weniger zimperlich, wenn auch genau so unfähig sind, den Geist die- ser Worte zu erfassen, werden in Verlegenheit geraten. Seien Sie überzeugt, daß der Buddhismus uns die allergrößte Hochachtung für alle Buddhas einflößt. Gleichzeitig aber ermahnt er uns, daß wir uns schließlich davon befreien müssen, ihnen verhaftet zu sein. Wenn wir den GEIST von SHAKYAMUNI Buddha erkannt haben und seine unver- gleichlich wirksamen Kräfte entwickeln, dann verwirklichen wir das höchste Ziel des Buddhismus. Dann sagen wir dem Buddha Lebewohl und nehmen die Aufgabe, seine Lehren zu verbreiten, auf uns. Ich habe niemals von einer derartigen Haltung bei jenen Religionen, die den Glauben an Gott lehren, gehört. Während es das Ziel des Buddhi- sten ist, ein Buddha zu werden, kann er doch, grob gesagt, den Buddha und alle Patriarchen erschlagen. Diejenigen von Ihnen, die Erleuchtung finden, werden sagen können: «Wenn der verehrte SHA- KYAMUNI oder der große BODHIDHARMA erschiene, würde ich sie augenblicklich niederschlagen und sie anherrschen: «Warum kommt ihr dahergetorkelt? Ihr werdet nicht mehr gebraucht!» Solcher Art wird Ihre Entschlossenheit sein. «Frei von (den Fesseln von) Geburt-und-Tod, werdet ihr euch in den Sechs Bereichen des Daseins und den Vier Arten von Geburt in einem Samâdhi unschuldigen Entzückens bewegen.» Sie werden Tod und

125 Wiedergeburt furchtlos ins Angesicht sehen können. Die «Sechs Bereiche» sind die der Māyā, nämlich die Hölle, die Welt der preta (hungrigen Geister), der Tiere, der asura (kämpfenden Dämonen), der Menschen und der deva. (himmlischen Wesen). Die «Vier Arten von Geburt» sind folgende: Geburt durch den Schoß, Geburt aus dem Ei durch Brüten, Geburt aus Feuchtigkeit und Geburt durch Metamor- phose. In Himmel oder Hölle wird man durch Metamorphose gebo- ren, da dort keine leiblichen Vorfahren dazu erforderlich sind. Wer hätte je von einem himmlischen Wesen gehört, das das Geburtstrauma durchmachen muß? In Himmel und Hölle gibt es weder Hebammen noch Geburtshelfer. Wo immer und wie immer Sie dann geboren werden mögen, Sie werden mit der Ungezwungenheit und Freude von spielenden Kin- dern leben können. Das ist mit «einem samâdhi unschuldigen Ent- zückens» gemeint. samâdhi ist vollkommene Versunkenheit. Haben Sie einmal Erleuchtung gefunden, können Sie voller Freiheit und Entzücken zur tiefsten Hölle fahren oder zum höchsten Himmel auf- steigen. «Wie aber konzentriert man sich auf Mu?» Durch Zazen. «Gebt euch ihm mit aller Kraft und ganzem Herzen hin.» Fahren Sie mit aller Kraft von Leib und Seele beharrlich damit fort. «Wenn ihr ohne Unterlaß also fortfahrt...» Sie dürfen nicht damit anfangen und es dann aufgeben. Sie müssen bis zum Ende durchhalten wie eine Henne, die auf ihren Eiern sitzt, bis sie sie ausgebrütet hat. Sie müssen sich auf Mu konzentrieren, ohne zurückzuweichen, entschlossen, nicht aufzugeben, bis Sie Kenshô erreichen. «... wird euer Geist plötzlich strahlend werden, einem Licht gleich, das im Dunkeln aufflammt. Wunderbar fürwahr!» Durch Erleuchtung wird der Geist, erlöst von der Dunkelheit seiner endlosen Vergangenheit, augenblicklich auf- leuchten. «Wunderbar führwahr!» wird hinzugefügt, da nichts wun- derbarer sein kann. Die erste Zeile von MUMONS Vers lautet: «Hund, Buddha-Wesen» - «Wesen» ist unnötig. «Hund ist Buddha» - «ist» ist überflüssig. «Hund, Buddha» - immer noch weitschweifig. «Hund!» - das genügt! Oder einfach «Buddha!» Man hat zu viel gesagt, wenn man sagt

126 «Hund ist Buddha». «Hund!» - das ist alles. Das ist vollkommen Buddha. (Das ist die) «Darstellung des ganzen, unabdingbaren Gebots!» Das bedeutet: Es ist die authentische Verfügung von Buddha SHAKYA- MUNI - es ist der rechte Dharma. Sie sind dieser Dharma in aller Voll- kommenheit. Er wird Ihnen nicht vorenthalten - er ist vollkommen offenbart! «Wer zu denken beginnt, ,hat' oder ,hat nicht', hat das Leben ver- loren.» Was heißt das: «Hat das Leben verloren»? Einfach, daß Ihr kostbares Buddha-Leben (des Eins-Seins) zergeht.*

* Das heißt, daß sie Dessen nicht gewahr sind. D. Übers.

127 Drittes Kapitel Yasutani Rôshis Dokusan mit zehn Menschen des Westens

Einführung

Die weit verbreitete Neugier und das praktische Interesse, das der Zen-Buddhismus seit dem Zweiten Weltkrieg hervorgerufen hat - ein Interesse, das mit Sicherheit eines der bedeutsamen kulturellen und religiösen Phänomene unserer Zeit ist - haben eine stattliche Literatur in verschiedenen europäischen Sprachen hervorgebracht. Einige der bekannteren in englisch geschriebenen Bücher hat ALAN WATTS im Vorwort zu seinem Buch The Way of Zen zusammengestellt. Er weist zunächst darauf hin, daß nicht einmal Professor SUZUKI «einen um- fassenden Bericht über Zen» erstattet habe, «der dessen historischen Hintergrund und seine Beziehungen zu chinesischer und indischer Denkweise einschließt», noch habe er über «die Beziehung des Zen zum chinesischen Taoismus und indischen Buddhismus» geschrieben. Weiterhin stellt er fest, daß es in R. H. BLYTHS Zen in English Litera- ture and Oriental Classics «an Angaben über die Hintergründe fehlt», und daß der Verfasser «keinen Versuch macht, eine geordnete Dar- stellung des Themas (Zen) zu geben»; und weiter, daß CHRISTMAS HUMPHREYS in seinem Zen Buddhism «nicht wirklich damit beginnt, Zen in seine kulturellen Zusammenhänge zu stellen». Daraufhin kommt er zu dem Schluß, daß die Verwirrung, die im Hinblick auf Zen im Westen herrscht, diesem Mangel an einem «grundsätzlichen, geordneten und umfassenden Bericht über dieses Thema» zuzuschrei- ben sei. Nichts könnte irreführender sein. So anregend eine theoretische Stel-

129 lungnahme zu Zen für den akademisch Gesinnten und den intellek- tuell Neugierigen auch sein mag, so ist sie doch mehr als unnütz, ja geradezu gefährlich für den ernsthaft Suchenden, der nach Erleuch- tung strebt. Wer nach der Lektüre solcher Bücher ernstlich versucht hat, Zazen zu üben, weiß, daß sie ihn nicht allein schlecht darauf vor- bereitet haben, sondern daß sie ihm sogar zum Hindernis wurden, da sie ihm den Kopf mit Splittern von Kôans, mit belanglosen Brocken von Philosophie, Psychologie, Theologie und Dichtung vollgestopft haben. All das schwirrt nun in seinem Hirn herum und macht es ihm maßlos schwierig, geistig zur Ruhe zu kommen und den Zustand des samâdhi zu erreichen. Die chinesischen und japanischen Zen-Meister haben nicht ohne guten Grund vor der Nutzlosigkeit gewarnt, einen Zugang zum erleuchtenden Erlebnis des echten Satori auf künstlichem Weg über das Gehirn zu suchen. Was zur Selbst-Wesensschau führt, das ist nicht die Kenntnis der chinesischen, indischen oder irgendeiner anderen Denkweise, sondern es sind richtige Übungsmethoden, die sich auf die authentischen Leh- ren der Meister gründen. Das Herz der Zen-Schulung ist Zazen. Reißt man das Herz heraus, bleibt nur eine Leiche übrig. Dennoch ent- halten weder die von ALAN WATTS aufgezählten Bücher noch seine eigenen Bücher über Zen mehr als nur oberflächliche Angaben zu diesem höchst wichtigen Thema - und manche noch nicht einmal das. Diese Parteinahme für einen philosophischen, theoretischen Zugang zu Zen wird nur allzu deutlich an einer jüngst erschienenen Antho- 1 logie der Werke von Professor SUZUKI . In diesem Buch von annä- hernd 550 Seiten kann man nur zwei Hinweise auf Zazen finden; einer davon ist eine Fußnote, der andere macht kaum drei Zeilen aus. Gewisse Interpreten des Zen, Asiaten ebenso wie Europäer und Ame- rikaner, haben ihre Leser noch auf andere Weise irregeführt. In ihrem Wohlgefallen am Dramatischen haben sie die Hiebe und Fußtritte der alt-chinesischen Meister unverhältnismäßig stark betont und zudem ihre Leser durch solch bestürzende, paradoxe Zitate gequält wie «Ihr müßt den Buddha töten!» und «Obgleich du dazu etwas sagen

1. DAISETZ T. SUZUKI, The Essentials of Zen Buddhism, herausgegeben von BER- NARD PHILIPS, Dutton & Co. Inc., New York, 1962.

130 kannst, gebe ich dir dreißig Stockhiebe; und wenn du nichts dazu sagen kannst, gebe ich dir dreißig Stockhiebe!» "Wollen sie damit versuchen, ihre Leser durch einen Schock zur Annahme eines bilder- stürmenden und esoterischen Zen zu bringen, zu den innersten Geheimnissen, in die allein wenige Auserwählte eingeweiht sind? Und zu welchem Zweck, so mag man fragen, graben einige Verfasser, die wohl weniger dramatisch, aber von ebenso verfehlter Begeisterung sind, Kôans aus, die bis dahin auf Englisch noch nicht erschienen waren, und «lösen» sie zur Erbauung ihrer weniger erleuchteten Leser? Über das Zen, das heute wirklich geübt wird, insbesondere darüber, wie der Meister in den alltäglichen, undramatischen und gelegentlich öden und entmutigenden Augenblicken der Zen-Schulung seine Schü- ler und Anhänger lehrt und leitet, und auch über die Art der Pro- bleme, mit denen heutige Schüler zum Meister kommen - darüber sind diese Verfasser merkwürdig schweigsam. Es ist diese Verzerrung von Zen und nicht der Mangel an «einer gelehrten, systematischen Darstellung», was der gegenwärtigen Ver- wirrung zugrunde liegt. Nicht wenige Menschen des Abendlandes wurden von den rätselhaften und anscheinend unsinnigen Formulie- rungen der Kôans und dem scheinbar grausamen und sinnlosen Beneh- men der chinesischen Zen-Meister abgestoßen, da sie von diesem aka- demischen Stoßtrupp zu einem hypothetischen Zen, dem Produkt der Theorie und Spekulation und nicht dem persönlicher Erfahrung, irre- geführt worden waren. Das Ergebnis war, daß diese Menschen Zen als eine unheimliche und fremdartige Zuchtübung, die der westlichen Gesinnung nicht geistesverwandt ist, von sich wiesen. Andere wieder, schnell bei der Hand, die angepriesene Freiheit des Zen als Sanktion für ausschweifende Sitten auszunutzen, wurden infolge der wahllosen und unverantwortlichen Veröffentlichung von Kôans in die Lage ver- setzt, Zen zu solchen Zwecken herabzuwürdigen und zu pervertieren. Es ist zu hoffen, daß die Enthüllung dessen, was zwischen einem Zen- Meister und seinen Schülern tatsächlich vor sich geht, nicht allein die völlig irrige Ansicht beseitigt, daß Zen fremdartig und «mystisch» sei oder doch höchstens ein interessantes, wenn auch bizarres Kulturstu-

131 dium abgebe, sondern Zen auch als eine ausnehmend unmittelbare und praktische Lehre erweist, die, recht verstanden und geübt, den Menschen von seiner tiefsitzenden Furcht und seinen Ängsten befreien kann, so daß er in Frieden und mit Würde leben und sterben kann - in unserem thermonuklearen Zeitalter nicht weniger als in der Ver- gangenheit. Die vorliegende Zusammenstellung über die individuelle Unterwei- sung und Führung, wie sie zehn Schülern aus dem Westen - Amerika- nern und Europäern - zuteil wurde, und über deren Antworten und Fragen dürfte die erste zusammenfassende Darstellung der Lehr- methoden und -techniken eines Zen-Meisters bei der Zen-Schulung sein, die in einer europäischen Sprache erscheint. Sie umfaßt insge- samt fünfundachtzig Dokusan. Das Material wurde im Laufe von zwei Jahren gesammelt; die Zahl der Dokusan für den Einzelnen schwankt zwischen einem und vierundzwanzig. Der Dialog, der jeweils zwischen zwei Sternchen gesetzt ist, entspricht einem vollstän- digen Dokusan beim Rôshi von dem Zeitpunkt an, da der Schüler den Raum betrat, bis er hinausging. Im allgemeinen werden Dokusan ein und desselben Schülers in der Reihenfolge wiedergegeben, in der sie stattfanden; sie geben aber keinen lückenlosen Bericht jeder Begegnung mit dem Rôshi. Dokusan, die nur aus ein paar Worten der Ermutigung bestanden, oder solche, die nicht allgemeines Interesse finden, wurden ausgelassen. Zwischen den verschiedenen Dokusan mit dem gleichen Schüler kann gelegentlich eine Zeitspanne von ein bis zwei Monaten liegen. All diese Dokusan fanden während einer Übungszeit in voller Zurück- gezogenheit, Sesshin genannt, statt. Obgleich die meisten notwendi- gerweise kurz sind, da oft den Bedürfnissen von fünfunddreißig bis vierzig Menschen dreimal täglich entsprochen werden muß, richtet sich ihre Länge letzten Endes doch nach dem, was für den Einzelnen erforderlich ist, und wird nicht nach Willkür zeitlich begrenzt. Bis auf eine Ausnahme 2 waren alle Schüler Anfänger, d. h. keiner von ihnen hatte sein erstes Kôan gelöst, keiner hatte also ein Satori-Erleb-

2. Schülerin H; das wurde aufgenommen, damit der Leser die andersartige Stellung des Rôshi einem fortgeschritteneren Schüler gegenüber zum Vergleich hat.

132 nis gehabt. Alle hatten Zen für eine Zeitdauer von mehreren Wochen bis zu zwei Jahren in Japan geübt. In einzelnen Fällen ist es möglich, eine Zunahme des Verständnisses wahrzunehmen, jedoch noch nicht so weit, daß es bis zur Erleuchtung gereift wäre. Das Material spricht für sich selbst. Jeder Versuch, zu analysieren oder zu erklären, wäre überflüssig und anmaßend. Jene Leser jedoch, die keinen Zugang zu einem befähigten Zen-Meister haben, dürften einige grundsätzliche Angaben über die Handhabung des Dokusan im heutigen Japan, besonders soweit es Menschen aus dem Westen be- trifft, als hilfreich empfinden, werden sie doch dadurch in die Lage gesetzt, Rat und Unterweisungen des Rôshi, wie sie sich bei diesen Dokusan zeigen, bei ihren eigenen geistigen Übungen aufs beste zu nutzen. Zazen, Teishô und Dokusan bilden zusammen den «Dreifuß», auf dem die traditionelle Zen-Schulung ruht. Für den Anfänger kann die Begegnung mit dem Rôshi von Angesicht zu Angesicht in der Zurück- gezogenheit seines Raumes alles mögliche bedeuten: von einem inspi- rierenden, ihn wundervoll bereichernden Erlebnis, das ihm für sein Üben Impulse gibt und ihm die Richtung weist, bis zu einer schreck- lichen Heimsuchung, die ihn mit wachsender Verzweiflung erfüllt. All das hängt von der Kraft und Art seiner Inbrunst ab, von der Stufe, bis zu der sein Zazen gereift ist, und vor allem von der Per- sönlichkeit und den Lehrmethoden des Rôshi. Hat der Schüler einmal das Privatgemach des Rôshi betreten und sich zum Zeichen seiner Verehrung und Demut niedergeworfen, so kann er völlig frei alles sagen oder tun, solange es nur echter Ausdruck seiner Wahrheitssuche ist und mit seiner Übung in wohlbegründetem Zusammenhang steht. Anfangs, wenn er seine widerspenstigen Gedan- ken noch nicht im Zaum halten kann und seiner egozentrischen Ein- stellung noch nicht Herr geworden ist, wird er gewöhnlich ver- suchen, mit dem Rôshi abstrakte, theoretische Diskussionen zu führen, besonders wenn er philosophisch gesinnt ist. Aber im Lauf der Zeit, wenn er durch anhaltendes Üben von Zazen geistig ruhiger und tiefer geworden ist und seine Aufmerksamkeit besser auf einen Punkt sammeln kann, verliert er das Interesse an leeren Diskussio-

133 nen und wird im Ganzen empfänglicher für den Rôshi und seine Anweisungen. Durch weitere Zazen-Übungen wird er allmählich, wenn auch nur für Augenblicke, eine zugrundeliegende Harmonie und ein Eins-Sein verspüren (besonders nach Zeiten des samâdhi), die nach und nach an die Stelle der Befremdung und Verwirrung treten, die er anfangs empfand. Wenn er nun vor dem Rôshi erscheint und von ihm befragt wird, wird er kraftvoll und lebhaft reagieren, während seine frühe- ren Antworten verwirrt und zögernd waren. Es kann sogar sein, daß er den Rôshi anschreit, anbrüllt, nicht aus Gereiztheit oder Empö- rung, sondern weil er weitgehend von den Verstandes- und gefühls- mäßigen Hemmungen, die ihn bisher eingeengt haben, befreit ist und in zunehmendem Maße die physischen und psychischen Kräfte, die in ihm geschlummert haben, aufbieten kann. Wenn sein Zazen sich vertieft und sein Sinn von falschen Werten und Vorstellungen geläu- tert wird, wird er vielleicht plötzlich den Meisterstab des Rôshi packen und als Antwort auf eine zugespitzte Frage damit auf die Tatami schlagen. Wenn er dazu aufgefordert wird, sein Verständnis eines Kôan konkret zu demonstrieren, wird er vielleicht spontan Bewegungen machen, als schlüge er den Rôshi3. Wer gedankenfrei solcherart reagieren kann, schwebt am Rande des Satori, obgleich er es selbst nicht weiß. Allein der Rôshi kann aus seiner jahrelangen Erfahrung heraus mit seinem Scharfblick genau den Grad seines Ver- ständnisses beurteilen und ihm an diesem entscheidenden Punkt die notwendigen Anweisungen und Ermutigungen geben. Ein tüchtiger Rôshi wird kein Bedenken tragen, jedes Mittel und jeden Kunstgriff, Schläge mit seinem allgegenwärtigen Meisterstab (kotsu) nicht ausgeschlossen, anwenden, wenn er meint, daß er damit den Geist des Schülers aus dem Schlaf der Unbewußtheit aufrütteln und zur plötzlichen Erkenntnis seines wahren Wesens erwecken kann. Es ist nicht selten, daß ein Anfänger bei einem Sesshin zögert, auch nur zu einem der täglichen Dokusan zu erscheinen. Anstatt beim Klang der Glocke mit lebhaftem Schwung zu der Stelle zu eilen, wo

3. Aus Hochachtung wird kein Schüler den Rôshi wirklich schlagen, sondern er wird kurz vor der körperlichen Berührung einhalten.

134 man sich anreiht4, sitzt er wie festgeklebt auf seinem Kissen, aus Furcht, zurechtgewiesen zu werden, wenn er keine fertige Antwort zu seinem Kôan hat. Wenn er von den Mönchs-Ältesten (in einem Kloster) oder von den Mahnern (in einem Tempel) seiner Wider- willigkeit wegen, durch die er sich sogar ermutigender Schläge als unwert erweist, nicht einfach kalt übersehen wird, so wird er in einem streng geführten Kloster höchst wahrscheinlich von seinem Sitz hochgerissen und zum Dokusan geschleift und geschoben. Wenn er schließlich ganz niedergeschlagen vor dem Rôshi erscheint, mag der Rôshi ihn wohl seiner Verzagtheit wegen züchtigen und ihn dann kurz und bündig entlassen, ohne eine Frage zu stellen oder eine Bemerkung zu machen. Vielleicht schlägt er den Schüler auch mit sei- nem Meisterstab, während jener sich gerade niederwirft, schickt ihn dann durch Läuten seiner Handglocke hinaus und überläßt ihn in quälender Verwirrung dem Nachdenken über die Gründe für diese gebieterische Abweisung. Diese Taktik, den Schüler in eine verzweifelte Lage zu treiben, indem man ihn von rückwärts unnachsichtig antreibt und von vorn ener- gisch zurückweist, entwickelt oft einen solchen Überdruck in ihm, daß er zu jener inneren Explosion führt, ohne die sich echtes Satori selten ereignet. Solche extremen Maßnahmen sind jedoch keineswegs das Übliche. Im allgemeinen sind sie bei der Rinzai-Sekte verbreiteter als bei der Sôtô-Sekte, seltener in Tempeln als in Klöstern, in denen die äußere Disziplin streng, ja oft hart ist. Immerhin ist ein Tempel-Sesshin sel- ten, in dem es nicht von den wilden Anfeuerungsrufen der Mahner und dem Dreschen des Kyosaku widerhallt. Menschen aus dem Westen, denen der Gedanke fremd ist, daß Stockschläge Kenshô her-

4. Amerikaner und Europäer, die ihr erstes Sesshin besuchen, geraten bei diesem Anblick oft in Verlegenheit und Verwirrung und legen es als Teil eines vorgeschrie- benen Rituals aus. In Wirklichkeit handelt es sich um nichts Derartiges. Der plötz- liche Klang der Dokusan-Glocke bringt Erlösung von der durch die intensive Anstrengung der Konzentration angestauten Spannung. Gleichzeitig erhebt sich ein unbezwingbares Verlangen, um die Wette zu laufen, um nur schnell vom Rôshi geprüft zu werden. Gelegentlich wird ein Schüler, der die Glocke zuerst erreicht, nicht auf das Zeichen vom Rôshi warten, sondern sofort in dessen Zimmer eilen.

135 beiführen können, sind immer erstaunt, wenn sie erfahren, daß der Kyosaku bei jenen Japanern, die beim Sesshin Satori erreichten, nicht allein unnachsichtig gebraucht worden war, sondern daß jene sogar darum gebeten hatten. Entgegen der Ansicht vieler ist die Anwendung solcher Gewaltmittel kein nur auf Japan beschränkter Ausdruck des Buddhismus. Wie wir in einem der folgenden Kapitel sehen werden, stammt der Kyosaku selbst aus China, nicht aus Japan, ebenso wie viele andere Gewalt- mittel, die im Zen angewandt werden. DÔGENS Schüler Ejo führt an, daß sein Meister, während er in China war, folgendes von einem chine- sischen Zen-Meister hörte:

«... Als ich jung war, pflegte ich die Leiter der verschiedensten Klöster aufzusuchen, und einer von ihnen erklärte mir: ,Früher schlug ich schla- fende Mönche so hart, daß mir schier die Hand brach. Jetzt bin ich alt und schwach und kann sie daher nicht hart genug schlagen. Deshalb ist es schwierig, gute Mönche zu erziehen. In vielen Klöstern legen die Oberen heutzutage nicht genug Nachdruck auf das Sitzen, und so befindet sich der Buddhismus im Niedergang. Je mehr ihr sie schlagt, desto besser', riet er mir5.»

Alle großen Meister haben gelehrt, daß für die ungeheure Anstren- gung, Erleuchtung zu erreichen, intensive innere Kräfte aufgerüttelt werden müssen, sei es von außen durch den Stock, sei es von innen durch reine Willenskraft. Das wurde vom Buddha selbst in einem frühen Sûtra betont:

«Man muß mit zusammengebissenen Zähnen, die Zunge an den Gaumen gepreßt, den Geist durch den Geist bezwingen, niederschmettern und über- wältigen, gleich wie ein Starker, der einen Schwachen an Kopf und Schul- tern gepackt hält, ihn bezwingt, niederschmettert und überwältigt. Dann werden die bösen, schädlichen Gedanken, die mit Begier, Haß und Ver- blendung verbunden sind, aufhören, verschwinden6.»

5. Sources of Japanese Tradition, herausgegeben von WLLIAM THEODORE DE BARY, S. 254. 6. Satipatthāna Sûtra des Majjhima Nikāya, ins Englische übersetzt von SOMA MAHĀ THERA, in seinem Büchlein Foundations of Mindfulness, S. III.

136 Die Tatsache, daß es in Japan Rinzai-Meister gibt, die den Kyosaku selten anwenden, und Sôtô-Meister, die ihn hartnäckig gebrauchen, beweist nur, daß es letzten Endes die Persönlichkeit des Rôshi und dessen eigene Ausbildung sind, die seine Methoden bestimmen, und nicht die Gegebenheiten der Sekte, zu der sein Tempel gehört. Ein echter Rôshi, der fähig ist, den Dharma des Buddha mit jener Überzeugung auszulegen, wie sie aus seinem eigenen tiefen Erlebnis der Wahrheit geboren wird, verkörpert die Weisheit und Macht von Zen. Solch ein Rôshi ist ein Führer und Lehrer, dessen Herz-Geist- Sinn mit dem des Buddha und der Patriarchen identisch ist, mögen sie zeitlich auch durch Jahrhunderte getrennt sein. Ohne ihn ist die Vergangenheit von Zen leblos und seine Zukunft «unfähig, geboren zu werden». Zen, als Übermittlung von Herzgeist-zu-Herzgeist, liebt die pulsierende, lebendige Wahrheit - Wahrheit im Wirken. Der Musik gleich, die, auf einer Schallplatte eingefangen, elektrische Ener- gie und ein Wiedergabe-Gerät braucht, um leben zu können, bedarf der Herz-Geist des Buddha, der in den Sûtras vergraben ist, einer Lebendigen Kraft in Gestalt eines erleuchteten Rôshi, um wieder- erschaffen zu werden. Beim Dokusan erfüllt der Rôshi die Doppelrolle, wie sie von alters her Vater und Mutter zugeschrieben wird. Er ist abwechselnd der strenge, tadelnde Vater, der anspornt und straft, und die sanfte, liebende Mutter, die tröstet und ermutigt. Läßt der Schüler in seinen Anstrengungen nach, wird ihm gut zugeredet, oder er wird angetrie- ben; zeigt er Stolz, wird er gescholten; und umgekehrt, wenn er von Zweifeln befallen wird oder in Verzweiflung gerät, so wird er ermu- tigt und aufgerichtet. Ein tüchtiger Rôshi verbindet solchermaßen strenge Abgelöstheit mit warmer Anteilnahme, Geschmeidigkeit und einer Ichlosigkeit, die niemals mit Schwäche oder Schlaffheit ver- wechselt werden kann. Zudem verfügt er über Selbstvertrauen und ist von gebieterischer Haltung. Da seine Worte mit der Kraft und Unmittelbarkeit seiner befreiten Persönlichkeit aufgeladen sind, hat das, was er sagt, die Macht, den erschlafften Sinn des Schülers zu beleben und seine Suche nach Erleuchtung trotz aller Schmerzen, Enttäuschungen und zeitweiser Langeweile von neuem zu stärken.

137 Worauf aber der Schüler am lebhaftesten reagiert, das ist der sicht- bare Beweis für den befreiten Geist des Rôshi: seine kindliche Unge- zwungenheit und Einfachheit, seine Strahlkraft und sein Erbarmen, seine völlige Identifikation mit den von ihm, dem Schüler, angestreb- ten Zielen. Wenn ein Anfänger seinen achtundsiebzigjährigen Rôshi beobachtet, wie er mit blendender Geschwindigkeit ein Kôan demon- striert und dabei völlig darin aufgeht, oder wenn er die fließende, mühelose Anmut sieht, mit der er sich jeder Situation und allen Menschen anpaßt, dann weiß er, daß er eine der edelsten Schöpfun- gen eines einzigartigen Systems zur Entwicklung von Geist und Cha- rakter vor sich hat, und er muß sich in Augenblicken der Verzweif- lung sagen: «Wenn ich durch das Üben von Zazen lernen kann, das Leben mit gleicher Unmittelbarkeit und Bewußtheit zu erleben, so ist kein Preis zu hoch.» Die einzigartige Geschicklichkeit des Rôshi und sein Erbarmen kom- men dann voll ins Spiel, wenn er spürt, daß der Geist des Schülers reif ist, d. h. bar allen unterscheidenden Denkens und von klarer innerer Bewußtheit, mit anderen Worten: im Zustand unbedingten Einsseins. Das zeigt sich auf mancherlei Weise: an der Art, wie der Schüler die Dokusan-Glocke anschlägt, wie er den Raum des Rôshi betritt, wie er sich niederwirft und wie er beim Dokusan aussieht und handelt. Der Rôshi wird diesen Geist mit den verschiedensten Mitteln anspornen und ihm jeden Anstoß geben, damit er selbst den letzten Sprung ins Satori macht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Rôshi haupt- sächlich darum bemüht, den Schüler zu überreden und zu inspirieren, daß er sich mit Energie und Zielstrebigkeit seiner Konzentration widme und keiner Müdigkeit oder Mutlosigkeit nachgäbe. Jetzt aber schlägt er einen anderen Weg ein. Er feuert scharfe Fragen auf ihn ab und fordert augenblickliche Antworten, oder er versetzt ihm plötzlich mit seinem Meisterstab einen Hieb, oder er schlägt auf Matte oder Tisch - alles im Bemühen, den verblendeten Geist des Schülers auf- zubrechen. Diese Eingebungen des Rôshi wirken auf den Geist des Schülers wie Sturzregen auf vertrocknetes Erdreich oder wie Strahlenbündel von Licht in einem dunklen Raum. Sie dienen dazu, den Schüler geistig

138 zum nächsten kritischen Punkt zu befördern, jener Stufe, da er das Gefühl hat, als sei er in einen «Eisblock» eingeschlossen oder in einen «Kristall-Palast7» eingemauert. Jetzt sieht er die Wahrheit dem Wesen nach, aber er kann nicht ausbrechen und ihrer habhaft werden. Der Schüler weiß, daß der Rôshi nicht den genauen Zeitpunkt des Satori voraussagen kann, ebensowenig wie er ihm Satori «erteilen» kann. Auch er selbst kann nicht mehr tun, als mit aller Gewalt darum zu ringen, sein Denken zu erschöpfen und einen Zustand kind- licher Absichtslosigkeit (d. h. Leere des Geistes8) zu erreichen. Doch irgendwie muß sich der endgültige Durchbruch, der plötzliche, ent- scheidende «Salto» des Geistes, der das Zeichen der Erleuchtung ist, ereignen. Zu diesem kritischen Zeitpunkt wird die Versuchung, die stets latent vorhanden ist, unwiderstehlich: vorauszuahnen, wann Satori wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf Gedeih und Verderb 9 einschlagen wird. Das ist das letzte verzweifelte Manöver des zurück- weichenden Ich, den konzentrierten Sinn zu sprengen, ihn mit Gedan- ken zu plagen und den letzten Sprung in die Freiheit, der volle und ganze Selbstaufgabe bedeutet, zu verhindern. Der Rôshi, der weiß, daß der Geist des Schülers nur dann durch einen Schlag, ein Wort oder ein Geräusch zu diesem Sprung aufgerüttelt werden kann, wenn er leer ist, wird sich bemühen, den Schüler auf diese Versuchung hin- zuweisen, und ihn gemahnen, daß sich die leichteste Abweichung von seinem Kôan (oder einer anderen geistigen Übung) verhängnisvoll gegen sein Satori-Erwachen auswirken kann. Erleuchtung kann sich überall ereignen, nicht allein im Dokusan- Raum. Ja, einige Schüler erleben sie, während sie das Teishô des Rôshi hören. Ihr Geist heftet sich an eine bestimmte Redewendung,

7. Es ist möglich, an diesem Punkt wochenlang, monatelang und sogar jahrelang steckenzubleiben. Diese Metaphern werden bei Zen oft gebraucht, um dieses Sta- dium des «Vorgeschmacks» zu beschreiben. 8. Mit aller Gewalt darum zu ringen, Absichtslosigkeit zu erreichen, das scheint ein Widerspruch zu sein. Aber dieser Widerspruch ist nur ein logischer, kein existentieller. 9. Manche haben ein unbewußtes Grauen vor Satori, da sie meinen, daß es einen verderblichen Einfluß auf ihren Verstand haben könnte. Es ist klar, daß das eine unberechtigte Furcht ist.

139 die sie vielleicht schon unzählige Male gelesen oder vom Rôshi gehört haben, die aber jetzt, da ihr Geist reif ist, eine neue und verblüffende Bedeutung für sie annimmt und als der Funke dient, der die innere Explosion auslöst, die Satori verkündet. Einige kamen im Zug oder Bus auf dem Heimweg von einem Sesshin zur Erleuchtung. Satori erfolgt meistens nach einer Zeit intensiver Konzentration und Ver- senkung, aber nicht immer. Die fesselnden Worte, mit denen manche Kôans oder mondô schlie- ßen, wie «Damit kam der Mönch plötzlich zur Erleuchtung» oder «Da wurde das Geistige Auge des Mönchs geöffnet», werden an- gesichts des oben Gesagten weniger phantastisch erscheinen, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Schüler, denen das ein Rätsel war, haben häufig gefragt: «Wie ist es nur möglich, Satori derart schnell und leicht zu erreichen, wie uns diese Kôans glauben ma- chen?» Hierbei ist jedoch zu beachten, daß des Meisters entschei- dender Satz oder Hieb, der des Schülers verblendeten Geist aufbrach, nur deshalb wirksam war, weil er zu eben jener Zeit kam, da dessen Geist für einen solchen Impuls reif war, und daß solche Reife zwei- fellos die Folge von lange geübtem Zazen und einer ganzen Reihe von Dokusan mit seinem Meister war. Mit anderen Worten: «Die Kôans enthüllen in ihrer Formulierung lediglich die jäh einsetzen- den Ereignisse, erwähnen aber nicht die Jahre einer hartnäckigen, eifrigen Wahrheitsuche, die schließlich zu diesem krönenden Erleb- nis führten. Der Beweis für das Satori des Schülers liegt in seiner Fähigkeit, auf Fragen10, die eine konkrete Demonstration des geistigen Gehalts sei- nes Kôan erfordern, augenblicklich in lebendiger Art zu erwidern. Was den Rôshi überzeugt, das sind nicht allein Worte, Gebärden oder Schweigen (was ebenso wirksam sein kann) des Schülers, sondern die Gewißheit und Sicherheit, von denen sie beseelt sind, also der begrei- fende Blick der Augen, die Entschiedenheit in der Stimme und die Ungezwungenheit, Freiheit und Vollständigkeit der Gebärden und Bewegungen selber. Es ist daher möglich, daß zwei verschiedene

10. Einiges über die Art solcher Fragen siehe S. 314.

140 Schüler, von denen einer gerade Erleuchtung gefunden hat, der andere aber noch nicht, beim Dokusan mit denselben Worten und Gebärden antworten, und der Rôshi die Antworten des einen annimmt und die des anderen zurückweist. Billigt der Rôshi die Darstellung des Schülers, so ist das die still- schweigende Bestätigung, daß jener echte Erleuchtung gefunden hat11, mag sie auch nicht sehr tief sein, wie es viele der ersten Erfahrun- gen sind. Zen unterscheidet sich von anderen buddhistischen Diszipli- nen eben dadurch so gründlich, daß es darauf besteht, daß der Schüler sein Begreifen «jenseits allen Begreifens» demonstriert und nicht nur Worte darüber macht. Worauf Zen Wert legt, das sind ausdrucksvolle Gebärden, Bewegungen, sind Worte, die spontan aus tiefster Tiefe des gesamten Seins aufsteigen, und nicht dürre Erklärungen, wie scharf- sinnig sie auch sein mögen. Ein erfahrener Rôshi kann durch eine ein- zige Frage - bei einem tiefgreifenden Erlebnis sogar durch einen Blick allein - feststellen, daß der Schüler Erleuchtung gefunden hat. Dadurch aber, daß er von dem Schüler verlangt, daß dieser sich einer Prüfung unterwirft, ist er zu des Schülers wie seiner eigenen Befrie- digung imstande, Tiefe und Grenzen solch eines Satori festzustellen. Es wird häufig behauptet, daß das Erlebnis echter Erleuchtung für sich selber sprechen sollte und daß daher eine Prüfung unnötig sei. Aber Selbsttäuschung ist hierbei genau so stark wie in anderen Berei- chen des menschlichen Verhaltens, ja, auf Grund eben des Wesens von Satori vielleicht sogar noch größer. Nur allzu leicht hält der Anfän- ger Gesichte, Trance-Zustände, Halluzinationen, Einsichten, Offen- barungen, Ekstasen oder sogar Heiterkeit des Geistes für Satori. Das ozeanische Gefühl, wie es bei gewissen Neurotikern auftritt, ist eben- falls mit Erleuchtung verwechselt worden, da es ein Gefühl der Iden- tität mit dem Weltall vermittelt. Aus all diesen Gründen und beson- ders auch, weil die Gefahr, die sich durch solche Selbsttäuschung für die Persönlichkeit ergibt, sehr real ist, hat man bei der Zen-Lehre stets darauf bestanden, daß Satori von einem Meister geprüft und besta-

11. Unglücklicherweise trifft das keineswegs durchgehend zu. Ein Rôshi, der es leicht nimmt, wird oft Schüler bestehen lassen, die keine echte Satori-Erfahrung hatten.

141 tigt werden muß, einem Meister, dessen eigene Erleuchtung ihrerseits von einem erleuchteten Meister bestätigt worden war. Wenn es möglich ist, sich solchermaßen über Satori zu täuschen, so ist es gleichfalls möglich, die Geistesverfassung des Satori zu erleben und sie nicht für Satori zu halten. YASUTANI Rôshi erzählt die Ge- schichte eines seiner Schüler, der im südlichen Teil Japans lebte und den er nur einmal im Jahr bei einem Sesshin sah. In der Zeit zwischen den jährlichen Besuchen des Rôshi hatte dieser Mann Wesensschau erlebt. Da das aber nicht von Gefühlserhebungen, gefolgt von Freu- dentränen, begleitet war, glaubte er nicht, daß das, was er erlebt hatte, Satori sein könnte. Als der Rôshi ihn beim Dokusan befragte, spürte er, daß intuitive Erkenntnis und inneres Verständnis seines Schülers derart waren, daß Grund gegeben sei, ihn zu prüfen. So legte er ihm einige Testfragen vor. Zu seinem eigenen Erstaunen merkte der Mann, daß er vollständige und richtige Antworten geben konnte, und der Rôshi bestätigte seine Wesensschau. Zwar war sie zugestandenermaßen noch nicht tief; aber es war doch ein wirk- liches Satori. Hierbei ist auch zu beachten, daß die Reaktion auf die eigene Erleuchtung nicht allein von der Tiefe des Erleuchtungs- Erlebnisses abhängt, sondern auch von der gefühlsmäßigen und ver- standesmäßigen Struktur eines Menschen. Diese Art der Prüfung muß man von jener unterscheiden, die als «Dharma-Gefecht» (hossen) bezeichnet wird, wie es früher in China und Japan unter Zen-Mönchen stattfand, ja, bis zur Zeit von HAKUIN, also bis vor etwa zweihundert Jahren. Mönche und Laien12 von ver- schiedener Geisteskraft pflegten auf geistigen Pilgerfahrten durch das Land zu reisen auf der Suche nach Zen-Meistern und tief erleuchteten Mönchen, gegen die sie ihre Dharma-«Geschicklichkeit» einsetzen könnten als ein Mittel, ihre eigene Erleuchtung zu vertiefen und abzurunden und um durch solches Prüfen der Geistesstärke ihrer «Gegner» gleichzeitig Lehrmethoden zu entwickeln. Die Worthiebe und Gegenhiebe, die diese Wettkämpfe ausmachten, wurden später

12. Unter ihnen ist der Laie Ho der berühmteste. Um sein faszinierendes Leben haben sich viele Geschichten und Legenden gebildet. Als Anhaltspunkt siehe eines seiner «Dharma-Duelle» auf S. 242 und außerdem unter «Hô-koji» im 10. Kapitel.

142 aufgeschrieben und zu Kôan-Sammlungen zusammengestellt, die noch immer bei Zen-Schülern in Japan im Gebrauch sind. Wenn der Schüler sein erstes Kôan gelöst hat, tritt er in eine neue Phase des Dokusan. Das angespannte, intensive Ringen, das mit Stim- mungen von Unsicherheit, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung abwechselte und bisher sein Erscheinen vor dem Rôshi kennzeich- nete, weicht nun Selbstvertrauen und einer entspannten Beziehung zum Rôshi, näher einer echten Partnerschaft. Jetzt ist der Rôshi nicht mehr Vater und Mutter, sondern ein weiser älterer Bruder. Die Bewe- gungen des Schülers sind freilich noch tastend und unsicher wie die eines jungen Hundes, der gerade erst seine Augen der Welt geöffnet hat und seine ersten Schritte macht, aber «Eisenwall» und «Silber- berg» stehen ihm nicht mehr bei jeder Wendung gegenüber. War Dokusan bisher nicht schrecklich, so war es doch langweilig. Jetzt aber, da er sich von Kôan zu Kôan fort bewegt, ganze Flüsse in einem Zug austrinkt und Himmel und Erde durch Aufheben eines Fingers 13 neu erschafft, hat er ein Gefühl von Macht und Freiheit, das sich stetig ausweitet. Indem er den geistigen Gehalt der Kôans erfaßt und sich mit ganzem Herzen in die durch sie geschaffenen Rollen einlebt, kann er die Wahrheit, deren er innegeworden ist, in bestimmten Situationen anschaulich und kraftvoll ausdrücken. Aber das größte Wunder ist wohl sein Dankbarkeitsgefühl seinem Lehrer, den Buddhas und Bodhisattvas und allen gegenüber, die ihm in Stunden der Not eine helfende Hand gereicht haben, ein ermutigendes Wort sagten. Jetzt nimmt sein oft wiederholtes Gelübde, zum Wohl der ganzen Menschheit vollkommene Erleuchtung zu erlangen, eine neue, tief- sinnige Bedeutung an. Aus all dem Gesagten geht klar hervor, daß die Rolle des Rôshi bei der Zen-Schulung eine transzendente ist. Niemand und nichts kann einen tief erleuchteten Rôshi ersetzen, und glücklich fürwahr ist der Schüler, den sein Karma mit ihm in Verbindung bringt. Aber heut-

13. Ein Hinweis auf das dritte Beispiel im Mumon-Kan, gemeinhin «GUTEIS Finger» genannt. In der Einführung zu diesem Kôan wird festgestellt: «Wird ein Staub- körnchen aufgehoben, ist das Weltall darin enthalten, öffnet sich eine Blüte, manifestiert sich die ganze Welt.»

143 zutage ist es schwer, weise, erbarmungsvolle Meister zu finden - und war es vielleicht immer. Ist es demnach unmöglich, Zen ohne Lehrer zu üben? Keineswegs. Der Schüler, dem es ernst ist, wird in diesem Kapitel im Grunde jede Frage, die sich im Zusammenhang mit seinem Üben erheben dürfte, von einem hervorragenden zeitgenössischen Rôshi beantwortet finden. Jeder, der dieses Kapitel gründlich und im Zusammenhang mit den anderen Kapiteln, in denen alle Stufen der Übung deutlich erklärt werden, liest, wird seine Wanderung auf dem Wege zur Erleuchtung beginnen können. Es dürfte angebracht sein, noch einiges darüber zu sagen, wie die Unterlagen dieser Dokusan-Sammlung zusammengetragen wurden. Ich hatte den Vorzug, mehrere Jahre lang als Dolmetscher für YASU- TANI Rôshi zu wirken, ein Umstand, der mich in die einzigartige Lage versetzte, in die Probleme von Menschen aus dem Westen, die in Japan unter YASUTANI Rôshi Zazen übten, eingeweiht zu werden, und ebenso in Rat und Anleitung, die er ihnen gab. Es wurde mir klar, daß es für Schüler im Westen und in anderen Teilen der Welt, die sich im Zen schulen wollen, jedoch keinen befähigten Lehrer haben, von unschätzbarem Wert sein würde, wenn diese Fragen und Antwor- ten aufgezeichnet werden könnten. Zudem, so schien es mir, würden sie wesentlich dazu beitragen, die weitverbreitete Ansicht zu wider- legen, daß Zen eine vorsätzliche Mystifikation oder ein «sadistischer Ausdruck der japanischen Kultur» sei, wie einige schlecht unterrich- tete Kritiker es genannt haben. Die Verwendung eines Band- oder anderen Aufnahmegeräts kam nicht in Frage; das hätte die Schüler unfrei gemacht und ihr Dokusan gestört und wäre deshalb niemals von YASUTANI Rôshi erlaubt wor- den. Aus dem gleichen Grunde hätten sich Einwände erhoben, hätte ich versucht, während des Dokusan Notizen zu machen. Das wäre schon deshalb unmöglich gewesen, da ich ja in erster Linie dolmet- schen sollte. So verfiel ich auf die Idee, am Ende eines jeden Dokusan, solange mir der Dialog noch frisch im Gedächtnis war, in Kurzschrift zu vermerken, was dabei geäußert worden war. Ich glaube, daß ich trotz meiner nicht vollkommenen Beherrschung des Japanischen eine getreue Übertragung des Inhalts jener Dialoge zwischen YASUTANI

144 Rôshi und den westlichen Schülern gegeben habe. Wo immer ich im Zweifel war, prüfte ich die Richtigkeit mit dem Rôshi nach. Es ist indessen möglich, daß ich hie und da nicht alle Schattierungen und die ganze Würze einer Bemerkung des Rôshi habe einfangen können; für jedes derartige Versäumnis trage ich die Verantwortung. YASUTANI Rôshi gab zu dieser Veröffentlichung nur deshalb seine Zustimmung, weil ich ihm versicherte, daß sie sehr dazu beitragen würde, die zahlreichen Entstellungen der Zen-Lehre, wie sie im Westen kursieren, zu widerlegen. Er stellte nur eine Bedingung: daß die Lösung von Kôans nicht verraten werde, was Schülern, die künf- tighin unter einem Rôshi üben, zum Hindernis werden würde. Diese Bedingung wurde erfüllt.

Dokusan

Schülerin A (60 Jahre alt)

Schülerin: Ich komme mir als Gefangene meines Ich vor und möchte dem entrinnen. Kann ich das durch Zazen? Würden Sie mir bitte den Zweck von Zazen erklären? Rôshi: Sprechen wir zuerst einmal über den Geist. Ihr Geist kann mit einem Spiegel14 verglichen werden, der alles, was davor erscheint, widerspiegelt. Von dem Zeitpunkt an, da Sie zu denken, zu fühlen und Ihre Willenskraft anzuwenden beginnen, werden Schatten auf Ihren Geist geworfen, die die Spiegelung verzerren. Diesen Zustand nennt man Verblendung, und sie ist die Grund-Krankheit des Men- schen. Die gefährlichste Wirkung dieser Krankheit liegt darin, daß sie

14. Der Rôshi vergleicht den Geist hier in gleicher Weise mit einem Spiegel wie der Sechste Patriarch ENÔ in seiner berühmten Stanze; also nicht mit der Form, sondern mit der Spiegelkraft. ENÔS Vers lautet: «Im Grunde gibt es keinen Bodhi-Baum, noch ist der klare Spiegel ein Gestell. Da alles Leere ist von Anbeginn, Wo heftete sich Staub denn hin?»

145 ein Gefühl der Dualität hervorruft, demzufolge Sie «Ich» und «Nicht-Ich» als gegeben voraussetzen. In Wahrheit ist alles Eins. Dabei handelt es sich natürlich um keine zahlenmäßige Eins. Was Feindschaft, Habgier und damit unausweichlich Leiden schafft, ist die irrtümliche Anschauung, daß man sich einer Welt von Einzel- dingen gegenüber sieht. Zweck von Zazen ist es nun, diese Schatten und Verunreinigungen vom Geiste abzuwischen, so daß wir unseren Einklang mit allem Leben zuinnerst erleben können. Dann wallen Liebe und Erbarmen ganz natürlich und spontan in uns auf.

Schülerin: Ich sitze Shikantaza, wie Sie angewiesen haben. Ich habe Schmerzen in den Beinen, aber sie sind erträglich. Ich werde nicht von vielen Gedanken geplagt, und meine Konzentration ist ziemlich gut. Aber ich weiß wirklich nicht, was ich mir von diesem Sitzen ver- spreche. Rôshi: Das erste Ziel beim Sitzen ist, den Geist zur Einheit zu brin- gen. Für den Durchschnittsmenschen, dessen Aufmerksamkeit in viele Richtungen gezerrt wird, ist ununterbrochene Konzentration einfach unmöglich. Durch das Üben von Zazen wird der Geist in einen Punkt gesammelt, so daß er überwacht werden kann. Diesen Vorgang kann man damit vergleichen, daß man Sonnenstrahlen mittels eines Ver- größerungsglases nutzbar macht. Wenn die Sonnenstrahlen in einen Brennpunkt gesammelt werden, wirken sie natürlich intensiver. Auch der menschliche Geist arbeitet wirksamer, wenn er gesammelt und geeint ist. Ob Sie nun das Verlangen haben, Ihr Selbst-Wesen zu schauen oder nicht, so werden Sie doch die Wirkung geistiger Samm- lung auf Ihr Wohlbefinden zu schätzen wissen. Schülerin: Ja, natürlich. Also, ich saß ruhig Zazen und hatte dabei beträchtliche Schmerzen. Ich wußte nun nicht, ob ich versuchen sollte, diese Schmerzen zu ertragen, oder lieber aufgeben sollte, wenn sie zu schlimm wurden. Mein eigentliches Problem ist mit anderen Worten: Soll ich es mit meinem Willen dahinbringen, das auszuhalten, oder soll ich passiv dasitzen, ohne mich zu zwingen? Rôshi: Das ist eine wichtige Frage. Schließlich werden Sie den Punkt

146 erreichen, da Sie bequem, ohne Anstrengung und Schmerzen, sitzen können. Aber durch langen gewohnheitsmäßigen Mißbrauch von Körper und Geist müssen wir anfangs unsere Willenskraft anspannen, ehe wir mit müheloser Ausgewogenheit sitzen können. Und das bringt unvermeidlich Schmerzen mit sich. Wenn der Schwerpunkt des Körpers auf die Stelle unterhalb des Nabels verlagert wird, funktioniert der ganze Körper mit größerer Stabilität. Beim Durchschnittsmenschen liegt der Schwerpunkt in Schulterhöhe. Anstatt mit aufrechtem Rücken zu sitzen und zu gehen, haben die meisten Menschen auch eine schlaffe Haltung, durch die auf alle Körperteile ein übermäßiger Druck ausgeübt wird. Unseren Geist mißbrauchen wir gleichermaßen, indem wir alle mög- lichen unnützen Gedanken hegen und damit spielen. Deshalb müssen wir entschlossene Anstrengungen machen, Körper und Geist richtig zu gebrauchen. Das bringt anfangs unvermeidlich Schmerzen mit sich; wenn Sie aber beharrlich sind, werden die Schmerzen allmählich einem Gefühl der Heiterkeit weichen. Sie werden körperlich kräfti- ger und im Denken flinker werden. Das ist die Erfahrung aller, die Zazen regelmäßig und hingebungsvoll üben.

Rôshi: Haben Sie eine Frage? Schülerin: Ja, ich habe mehrere Fragen. Die erste ist: Warum haben Sie über meinem Platz ein Zeichen anbringen lassen, das besagt, daß ich nicht mit dem Kyosaku geschlagen werden soll? Geschah das, weil Sie mich für einen hoffnungslosen Fall halten? Rôshi: Ich hatte den Eindruck, daß Sie ebenso wie die meisten Men- schen aus dem Westen nicht geschlagen werden mögen. Der Haupt- Mahner hat alle heftig geschlagen, und ich dachte, es würde Ihr Zazen stören, wenn Sie geschlagen würden. Es macht Ihnen nichts aus, geschlagen zu werden? Schülerin (lächelnd): Nein, meist nicht, solange ich nicht zu kräftig geschlagen werde. Rôshi: Gestern wurde die junge Frau, die Ihnen gegenüber sitzt, mit großer Kraft geschlagen, natürlich, um sie anzuspornen. Es war das

147 erste Mal, daß sie geschlagen wurde, und sie war derart überrascht und verwirrt, daß sie das Sesshin sofort verließ. Glücklicherweise ist sie heute zurückgekommen und hat mir erzählt, was vorgefallen war. So ließ ich ein Zeichen über ihr anbringen, das besagt, daß sie nicht geschlagen werden solle. Schülerin: Nun, jedenfalls bin ich froh, zu erfahren, daß Sie mich nicht für einen hoffnungsvollen Fall halten. - Meine nächste Frage ist: Als ich mich heute morgen voller Kraft fühlte, dachte ich: ,Ich muß mich von allen unnützen Gedanken frei machen, so daß Weisheit einziehen kann.' Als mir dann klar wurde, daß das ein Werk des Ich war, wurde ich ganz mutlos. Ich kam mir wie ein Esel vor, der nur durch eine vor seiner Nase baumelnde Karotte in Bewegung gesetzt werden kann. Rôshi: Wollen Sie Erleuchtung finden? Schülerin: Ich weiß nicht, was Erleuchtung ist. Gestern habe ich zu Ihnen gesagt, daß ich mein Ich austreiben möchte, damit ich ein bißchen weiser werden kann. Mir scheint, ich bin mehr daran inter- essiert, mein Ich loszuwerden, als Erleuchtung zu finden. Rôshi: Im Grunde gibt es kein Ich - das ist etwas, was wir selbst erschaffen. Indessen ist es dieses selbstgeschaffene Ich, das uns zum Zazen führt; es ist also nicht zu verachten. Es ist Ihnen wahrschein- lich klar, daß Zazen zu einer Zermürbung des Ich führt. Sie können von Ihrem Ich auch dadurch loskommen, daß Sie sich an die Regeln des Sesshin halten, anstatt Ihren eigenen Neigungen zu folgen. Wenn Sie sich z. B. nicht erheben wollen, wenn das Glockenzeichen zum Aufstehen und Herumgehen ertönt, dann päppeln Sie Ihr Ich auf und vergrößern es damit. Das Gleiche trifft auf das Essen zu. Sie unter- werfen sich jedesmal Ihrem Ich, wenn Sie den gemeinsamen Mahl- zeiten fernbleiben und weggehen, um allein zu essen. Da nun das Ich im Unterbewußtsein verwurzelt ist, ist tiefgreifende Erleuchtung das einzige Mittel zu seiner Ausrottung.

Schülerin: Ich bin sehr müde, und meine Beine tun mir schrecklich weh. Ich kann Zazen nicht mehr gut üben. Ich weiß nicht, was ich tun soll.

148 Rôshi: Zazen erfordert beträchtliche Energie. Wenn der Körper nicht in guter Verfassung ist, dann ist intensives Zazen schwierig. Sitzen Sie bequem und ohne sich abzumühen, bis Sie wieder zu Kräften kom- men. Wenn Sie sich gekräftigt fühlen, können Sie sich wieder anstren- gen. Danach ist es dann eine Sache der Entschlußkraft, sich zum Aus- halten zu zwingen. Energie und unerschütterliche Entschlossenheit, beides ist dazu erforderlich.

Schülerin: Ich habe für mich selbst an dem Kôan «Was ist mein Ur- Angesicht15 ?» gearbeitet. Ich glaube, ich habe die Antwort, aber ich hätte gern, wenn Sie es mir bestätigen würden. Ich habe z. B. darüber nachgesonnen, wie ich vor meiner Geburt war und wie meine Eltern waren. Ich habe auch darüber nachgedacht, wie ich nach meinem Tode sein würde. Ja, in meiner Vorstellung habe ich schon meine Asche an einem Lieblingsplatz bestattet. Habe ich an diesem Kôan richtig gearbeitet? Rôshi: Nein, das haben Sie nicht getan. Was Sie mir hier geben, ist ein hypothetisches Bild von diesem Kôan. Wenn Sie es wirklich behandeln, dann müssen Sie imstande sein, Fragen zu beantworten wie: Wenn die Welt vernichtet würde, würde das Ur-Angesicht auch vernichtet werden? Wenn ja, auf welche Weise? Schülerin: Ich kann solche Fragen nicht beantworten. Rôshi: Dieses Kôan ist nicht anders als Mu. Fahren Sie vorerst mit Shikantaza fort, bis Sie den Punkt erreichen, da Sie den heftigen Wunsch nach Kenshô haben. Dann wird ein Kôan wie «Was ist mein Ur-Angesicht?» oder «Was ist Mu?» angebracht sein.

Schülerin: Als Sie über Makyô sprachen, haben Sie gesagt, daß sogar psychologische Einsichten über einen selbst Makyô sind. Das ist nicht allein verwirrend, sondern auch entmutigend. Ich bin bei diesem

15. Ur-Angesicht: In der englischen Übersetzung «One's Face before one's parents' birth» (= Unser Gesicht vor der Geburt unserer Eltern); auf japanisch «Honrai-no memmoku» s. im 10. Kapitel.

149 Sesshin zu verschiedenen Einsichten über mich selbst gekommen und fühlte mich dadurch außerordentlich gehoben. Aber jetzt bin ich ganz verwirrt und weiß nicht, was ich davon halten soll. Rôshi: Wenn Sie in Ihren Übungen Fortschritte machen, werden viele Makyô erscheinen. An sich sind sie nicht schädlich, sie können sogar bis zu einem gewissen Grade nützlich sein. Wenn Sie jedoch daran haften oder sich davon verführen lassen, können sie Ihnen zum Hin- dernis werden. Man könnte sogar sagen, daß im tiefsten Sinne selbst der Bodhisattva Kannon am Erbarmen haftet; sonst wäre er ein Buddha, frei von allem Anhaften. Wer von der Idee besessen ist, anderen zu helfen, fühlt sich gedrängt, auch jenen beizustehen, die ohne solche Hilfe vielleicht viel besser daran wären. Stellen Sie sich einen Menschen mit wenig Geld vor, der ein einfaches Leben führt. Man würde ihm jenes Leben zerstören, wollte man ihm materielle Dinge geben, die für seine schlichte Lebensweise unwesentlich sind. Das wäre keineswegs Güte. Ein Buddha ist erbarmungsvoll, aber er ist nicht besessen von dem Verlangen, andere zu retten. Einsichten über uns selbst sind natürlich wertvoll. Aber Ihr Ziel ist es, darüber hinauszugehen. Wenn Sie innehalten, um sich zu diesen Einsichten zu gratulieren, wird Ihr Vorankommen auf dem Wege zur Verwirklichung Ihres Buddha-Wesens verlangsamt. Im umfassend- sten Sinn ist alles, was nicht an Erleuchtung heranreicht, Makyô. Lassen Sie sich durch Makyô weder bekümmern, noch erheben. Las- sen Sie sich nicht durch Dinge ablenken, die im Grunde doch nur vergängliche Erlebnisse sind. Fahren Sie lediglich hingebungsvoll mit Ihrem Üben fort.

Schülerin: Vor ungefähr einer Stunde verschwanden ganz plötzlich die Schmerzen in meinen Beinen, und ehe ich wußte, wie mir geschah, strömten mir die Tränen aus den Augen, und ich spürte, wie ich inner- lich schmolz. Gleichzeitig hüllte mich ein Gefühl großer Liebe ein. Was bedeutet das? Rôshi: Wenn wir Zazen mit Energie und Hingabe üben, löst es unser Gefühl der Entfremdung von Menschen und Dingen auf. Das Den-

150 ken des gewöhnlichen Menschen ist dualistisch. Er denkt in Begriffen von «er selbst» und «ihm Entgegengesetztes»; das ist es, was sein Elend verursacht, denn es ruft Feindschaft und Habgier hervor, was wiederum zu Leiden führt. Aber mit Hilfe von Zazen verschwindet diese Zwiegespaltenheit allmählich. Dadurch vertieft sich natürlich Ihre Barmherzigkeit und weitet sich aus, da Ihre Gefühle und Gedan- ken nicht mehr auf den nicht-existenten Brennpunkt «Ich» gerichtet sind. Das ist es also, was mit Ihnen vorgeht. Das ist natürlich höchst erfreulich, aber Sie müssen weitergehen. Fahren Sie von ganzem Her- zen in Ihrer Konzentration fort.

Schülerin: Ich übe Shikantaza. Rôshi: Haben Sie eine Frage? Schülerin: Ja. Als ich gestern auf Ihr Drängen hin mit aller Kraft zu sitzen versuchte, spürte ich, daß meine Anstrengungen mechanisch waren; ich mußte mich sozusagen antreiben, um diesen Zustand zu erreichen. Indessen saß ich wie befohlen, und der Stock-Schwinger sagte mir mehrmals, als er mir mit dem Kyosaku Hiebe versetzte, daß mein Sitzen sehr gut sei. Ich selber aber spürte, daß ich zu jener Zeit nur mechanisch saß. Heute morgen fühlte ich mich sozusagen angetrieben, anstatt mich selber anzutreiben. Ganz von allein wuchs mir Kraft zu, und ich hatte das Gefühl, daß ich besser saß, als da ich mich «antreiben» mußte. Aber als ich heute morgen von dem Mahner geschlagen wurde, sagte er mir: «Sie lassen in Ihren Anstrengungen nach! Raffen Sie sich zusammen!» Das hat mich ganz verwirrt. Rôshi: Vor allem, merken Sie sich nicht, was jemand, der Sie ermuti- gen will, zu Ihnen sagt. Hören Sie zu, was er sagt, und vergessen Sie es dann. Natürlich ist jene Art zu sitzen, bei der Ihnen ganz natürlich Kraft zuströmt, ohne daß Sie sich «antreiben» müssen, besser. Leider ist es nicht immer möglich, solche Kraft aufrechtzuerhalten. Daher ist es nötig, daß Sie sich dazu zwingen, unerschütterlich zu sitzen, wenn Ihnen nicht spontan Energie zufließt. Vergessen Sie nicht, daß zwischen Ihrem mechanischen Sitzen, wie Sie es nennen, und dem natürlichen, mühelosen Sitzen, das Sie später erlebten, eine Kausal-

151 beziehung besteht. Jedenfalls kann der Sitzende nicht immer die Art seines Sitzens am besten beurteilen. Wichtig ist, daß Sie in Ihren Anstrengungen nicht nachlassen und nicht Trägheit oder Müdigkeit nachgeben.

Schülerin: Ich hatte das Gefühl, daß ein Ding auf meiner Stirn zwi- schen den Augen saß. Es war so stark, daß es meine Aufmerksamkeit automatisch fesselte. Da Sie mich aber unterwiesen haben, meine Auf- merksamkeit in meiner Bauchhöhle zu konzentrieren, lenkte ich sie wieder dorthin zurück. Soll ich auf diese Weise weitermachen? Rôshi: Wenn sich Ihre Aufmerksamkeit ganz natürlich und spontan auf einen Punkt zwischen Ihren Augen richtet, dann ist es ganz rich- tig, wenn Sie Ihre Konzentration dorthin lenken. Das ist eine andere Art der Konzentration.

Rôshi: Ist Ihnen irgend etwas Besonderes widerfahren? Schülerin: Ich hatte ein Gefühl, als würde mein Hinterkopf durch den Atem nach oben geschoben, und als würde mein Atem bis zu den Lenden hinuntergehen. Ist das ein Makyô? Wenn ja, was soll ich tun? Rôshi: Ja, das ist auch eine Art Makyô. Diese Dinge haben keine besondere Bedeutung - sie sind weder nützlich noch schädlich. Lassen Sie sich nicht darauf ein; üben Sie einfach ernsthaft weiter. Makyô entstehen, wie ich schon erklärt habe, wenn man sich intensiv kon- zentriert. Schülerin: Aber warum entstehen sie überhaupt? Rôshi: Als Folge der Funktionen unserer sechs Sinne16 tauchen dauernd zahllose Gedanken gleich Meereswogen an der Oberfläche unseres Bewußtseins auf. In unserem Unbewußten finden sich Rück- stände unserer Lebenserfahrungen, einschließlich solcher aus vergan- genen Existenzen bis in Urzeiten zurück. Wenn Zazen so tief dringt, daß die Oberfläche und die Zwischenschichten des Bewußtseins zur

16. Dem Buddhismus zufolge ist der unterscheidende Intellekt der sechste Sinn.

152 Ruhe kommen, steigen Teilchen dieser Rückstände wie Blasen in unse- rem Bewußtsein auf. Das nennt man Makyô. Verlieben Sie sich also nicht in sie, wenn sie angenehm sind, und fürchten Sie sich nicht vor ihnen, wenn sie unheimlich sind. Wenn Sie sich daran klammern - sie bewundern oder fürchten -, können sie zum Hindernis werden.

Schülerin: Mir tun die Beine sehr weh. Was kann ich dagegen tun? Rôshi: Wenn Sie zu große Schmerzen haben, dann ist es schwer, sich zu konzentrieren. Aber wenn Ihre Konzentration besser wird, dann werden Schmerzen Sie anspornen, anstatt Ihnen im Wege zu sein, sofern Sie sich die Schmerzen nur tapfer zunutze machen. Schülerin: Ich habe noch eine Frage. Was soll ich tun, wenn ich schläfrig werde? Rôshi: Das kommt auf die Art Ihrer Schläfrigkeit an. Wenn es sich nur um leichte Schläfrigkeit handelt, dann können Sie folgendes tun: Wiegen Sie den Körper mehrmals leicht hin und her, oder reiben Sie sich die Augen. Wenn es sich um tiefe Müdigkeit handelt, weil Sie die Nacht zuvor nicht geschlafen haben, dann versuchen Sie es damit, Ihr Gesicht in kaltes Wasser zu tauchen und es kräftig zu reiben. Folgen- des hilft, um einen ermatteten Sinn wieder anzuregen: Denken Sie daran, daß der Tod jeden Augenblick eintreten kann, sei es durch einen plötzlichen Unfall, sei es durch schwere Krankheit, und beschließen Sie, unverzüglich Erleuchtung zu erlangen.

Schülerin: Ich fürchte, ich habe es bei meinem ersten Sesshin recht schlecht gemacht. Ich konnte mich überhaupt nicht konzentrieren. Meine Aufmerksamkeit wurde von dem Schreien der Leitenden, die den Kyosaku schwingen, abgelenkt und gestört und ebenso durch das Krachen der Kyosaku-Hiebe selber, durch Autos und Lastwagen, durch das Baby, das nebenan schrie, und durch bellende Hunde. Ich hatte mir irgendwie vorgestellt, daß ich zu einem stillen Tempel in idyllischer Umgebung käme, aber es hat sich als ganz anders erwiesen.

153 Abgesehen von meiner Enttäuschung, bin ich auch beschämt, daß ich es nicht habe besser machen können. Rôshi: Dieses Gefühl brauchen Sie nicht zu haben. Am Anfang ist es für jeden schwierig, sich zu konzentrieren, weil sein Sinn so leicht abgelenkt wird. Natürlich ist es der Idealfall, an einem ruhigen Ort zu üben, wenn man mit Zazen beginnt. Aus diesem Grunde zo- gen und ziehen sich viele Zen-Mönche in die Einsamkeit der Berge zurück. Es ist jedoch nicht gut, lange in solcher Atmosphäre zu blei- ben. Wenn sich die Konzentrationskraft entwickelt und immer stär- ker wird, kann man in jeder Umgebung Zazen üben - ja, je lärmi- ger desto besser. Wenn man starke Konzentrationskräfte entwickelt hat, kann man zum lautesten Teil der Ginza17 gehen und dort Zazen üben.

Schülerin: Ich habe eine lange Frage, und es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, sie zu stellen. Ich weiß, daß andere darauf warten, Sie zu sprechen. Da es aber sehr wichtig für mich ist, hoffe ich, daß Sie mir erlauben, sie zu stellen. Rôshi: Fangen Sie nur an. Schülerin: Seit dem letzten Sesshin wurde ich bei meiner Meditation von einer Vielfalt unangenehmer Gedanken und Gefühle - und das waren keine Makyô - über mich befallen, über das, was ich mein unwahres Wesen nenne. Heute morgen sagten Sie bei Ihrem Vortrag, daß wahre Weisheit einzieht, wenn wir uns aller Gedanken entledi- gen. Sie sprachen auch darüber, daß wir einfach nur schauen sollen, wenn wir sehen, einfach nur hören, wenn wir etwas hören. Ich habe das nicht tun können, weil sich mein Ich immer dazwischenschob. Nun weiß ich zwar nicht, was Kenshô ist; wenn es aber bedeutet, daß man in sein wahres Wesen schaut, dann scheint mir, daß ich genau das Umgekehrte tue, nämlich in mein unwahres Wesen schaue. Rôshi: Ehe wir Zazen üben, halten wir uns für höhere Lebewesen; wenn wir uns aber deutlicher zu sehen bekommen, dann macht uns

17. Das belebteste Viertel der Innenstadt von Tokio.

154 das Wissen um unsere bösen Gedanken und Taten bescheiden. Solche Einsicht aber ist die Widerspiegelung unseres Wahren Wesens. Neh- men wir einmal an, wir gingen im Dunkel spazieren; wenn wir dann zu einer Kiefer kämen, könnten wir überhaupt nichts von ihr sehen. Dann steigt der Mond auf, und wir unterscheiden zunächst Kiefer- nadeln auf dem Boden; wenn er weiter emporsteigt, sehen wir den Baumstamm und schließlich bei vollem Mondschein den ganzen Baum. Unsere Wahrnehmung all dessen ist eine Spiegelung unseres Wahren Selbst. Schülerin: Darf ich noch etwas fragen? Ich habe Menschen getroffen und mit ihnen gesprochen, die, glaube ich, irgendein Kenshô-Erlebnis hatten. Dennoch schienen sie oft durch das, was ich das «unwahre Wesen» nenne, beunruhigt. Wie ist das möglich? Rôshi: Es ist wahr, daß es Menschen gibt, die ein Kenshô-Erlebnis hatten und dennoch moralisch jenen unterlegen scheinen, die solche Erfahrung nicht hatten. Sie fragen: Wie geht das zu? Diese Erleuch- teten haben die Wahrheit geschaut, daß alles Leben seinem innersten Wesen nach unteilbar ist; da sie sich aber noch nicht von ihren ver- blendeten Gefühlen und Neigungen, deren Wurzeln tief im Unbe- wußten eingebettet sind, befreit haben, können sie noch nicht im Einklang mit ihrer inneren Schau handeln. Wenn sie jedoch mit Zazen fortfahren, wird sich allmählich ihr Charakter bessern, da sie zunehmend mehr von diesen Verunreinigungen gereinigt werden, und mit der Zeit werden sie zu hervorragenden Menschen. Da sind andererseits diejenigen, die niemals ein Kenshô-Erlebnis hatten, und dennoch bescheiden und selbstlos zu sein scheinen. Sie verbergen sozusagen die wahre Beschaffenheit ihres Charakters. Ober- flächlich gesehen, scheinen diese letzteren charakterlich besser und standhafter zu sein. Da sie aber niemals die Wahrheit geschaut haben und daher das Weltall und sich selbst als isoliert und voneinander geschieden sehen, hält ihr anscheinend so guter Charakter großem Druck oft nicht stand, und ihr Benehmen läßt dann viel zu wünschen übrig. Natürlich gibt es auch einige Menschen, die, obgleich sie nicht er- leuchtet sind, in den schwierigsten Lagen mit besonnener Kraft han-

155 deln. Das ist zweifellos darauf zurückzuführen, daß sie mit ungeheu- rem Jôriki begabt zur Welt kamen. Wenn solche Menschen ihr Wah- res Wesen schauen, werden sie die anderen weit überragen.

Schülerin (weinend): Gerade vor ungefähr fünf Minuten hatte ich ein schreckliches Erlebnis. Plötzlich war mir, als ob mir das ganze Weltall in den Bauch gefahren sei, und ich brach in Tränen aus. Ich kann jetzt noch nicht aufhören zu weinen. Rôshi: Wenn man Zazen übt, erlebt man manches Seltsame - manches davon ist angenehm und manches furchterregend, wie jetzt bei Ihnen. Aber das hat keine besondere Bedeutung. Wenn ein angenehmes Vor- kommnis Sie freudig stimmt und ein schreckliches Sie in Furcht ver- setzt, dann können Ihnen solche Erlebnisse allerdings zum Hindernis werden. Wenn Sie sich aber nicht daran klammern, gehen sie ganz von selbst vorüber.

Schülerin: Gestern habe ich Ihnen mein Erlebnis beschrieben, wie sich mir das ganze Weltall kopfüber in den Bauch gestürzt hat und ich die schrecklichen Weinkrämpfe hatte. Ich habe darüber nachgedacht und glaube, das ist nur dadurch gekommen, daß ich mich gewaltsam ange- strengt habe. Ich denke, es wäre nicht geschehen, wenn ich mich nicht so gewaltsam angestrengt hätte. Rôshi: Wenn Sie Zazen auf mühelose, entspannte Weise üben wollen, dann ist es auch recht. Wir können diesen Vergleich anstellen: Drei Leute wollen auf einen Berggipfel steigen, von dem aus man einen ungewöhnlich großartigen Ausblick hat. Der Erste will sich nicht anstrengen, sondern möchte dahinschlendern; so wird er natürlich lange Zeit brauchen, bis er den Gipfel erreicht. Der Zweite, der es eili- ger hat, greift mit großen Schritten aus, die Arme im Gehen schwin- gend. Der Dritte gelangt gleichsam hüpfend und springend schnell zum Gipfel und ruft aus: «Ach, was für ein herrlicher Ausblick!» Schülerin: Welche Art ist am besten? Rôshi: Das hängt ganz von Ihrer Gemütsverfassung ab. Wenn Sie viel

156 Zeit haben, ist die erste Art zufriedenstellend. Aber wenn Sie voller Eifer sind und den Gipfel schnell erreichen möchten, ist natürlich eine der beiden anderen besser. Es ist klar, daß es mehr Kraft erfordert, sich schnell zu bewegen. Wenn Sie sich mit leidenschaftlicher Inten- sität anstrengen, können Sie außerdem widriger Vorkommnisse ge- wärtig sein, erschreckender wie auch angenehmer - mit anderen Wor- ten das, was Sie gerade erlebt haben. Schülerin: Ich möchte Ihnen herzlich danken. Ich möchte auch noch sagen, daß das mein letztes Sesshin ist, da ich nächste Woche in die Vereinigten Staaten zurückfahre. Obgleich diese Sesshin in vieler Hinsicht schmerzhaft waren, waren sie doch auch äußerst aufschluß- reich. Besonders ohne dieses letzte würde ich mich selbst nicht so gut verstehen, wie jetzt, und ich wüßte auch nicht, wie ich weitermachen sollte. Ich bin Ihnen sehr dankbar für die ungeheure Hilfe, die Sie mir haben zuteil werden lassen.

Schüler B (45 Jahre alt)

Schüler: Mein Kôan ist Mu. Rôshi: Um den geistigen Gehalt von Mu klar zu erkennen, müssen Sie, ohne sich ablenken zu lassen, eine Eisenschiene, die sich ins Unendliche erstreckt, entlangwandern. Eine Rast wird der Erleuch- tung entgegenwirken, und viele Pausen werden es umso mehr. Die geringste Abweichung von Mu wird zu einer Entfernung von Meilen. Passen Sie also auf! Seien Sie auf der Hut! Lassen Sie Mu auch nicht für einen Augenblick los, weder beim Sitzen, noch beim Stehen, Gehen, Essen oder Arbeiten.

Schüler: Mir scheint, daß ich mit Mu überhaupt nicht weiterkomme. Ich weiß nicht, was ich verstehen oder nicht verstehen soll. Rôshi: Wenn Sie nach tiefer Kontemplation wahrhaft sagen könnten: «Ich verstehe nicht», dann wäre das überzeugend, denn es gibt wirk- lich nichts zu verstehen. Im tiefsten Sinne verstehen wir nichts. Was

157 durch logische Gedankengänge von Philosophen und Wissenschaft- lern erkannt werden kann, ist nur ein Bruchteil des Universums. Wenn wir uns vorstellen, daß dieser Füller, den ich hier in der Hand halte, das gesamte Universum ist, so ist das intellektuell Erkennbare gerade nur die Spitze der Feder. Kann irgendein Philosoph oder Wis- senschaftler wirklich sagen, warum Blumen blühen oder warum auf den Winter der Frühling folgt? Wenn wir nicht in Begriffen denken, kommt das Tiefste in uns ins Spiel – Schüler (unterbricht ihn): Ja, das ist mir ganz klar, aber – Rôshi (fährt fort): Wenn Sie also in aller Aufrichtigkeit sagen kön- nen: «Ich verstehe nicht», dann verstehen Sie sehr viel. Gehen Sie jetzt, und arbeiten Sie intensiver an diesem Kôan.

Schüler (aufgeregt): Ich weiß, was Mu ist! In einer Situation ist dies Mu (er hebt den Meisterstab des Rôshi auf). In einer anderen würde dies Mu sein (er nimmt etwas anderes auf). Etwas anderes weiß ich nicht. Rôshi: Das ist nicht so schlecht. Wenn Sie wirklich wüßten, was Sie mit «Ich weiß nicht» meinen, dann wäre Ihre Antwort sogar noch besser. Es ist offensichtlich, daß Sie sich immer noch für eine Einzel- wesenheit halten, die von anderen Einzelwesenheiten gesondert ist. Wie ich höre, hat man allen Ausländern eine Zusammenfassung mei- ner Darlegungen von heute morgen auf Englisch gegeben. Waren Sie da? Schüler: Ja, ich war da. Rôshi: Dann wissen Sie, wie gebieterisch die Forderung ist, die Vor- stellung von einem «ich selbst» im Gegensatz zu «anderem» aufzu- geben. Das ist eine Täuschung, die durch eine falsche Sicht der Dinge hervorgerufen wird. Um zur Selbst-Wesensschau zu kommen, müssen Sie sich und das Weltall unmittelbar als Eins erleben. Natürlich ver- stehen Sie das in der Theorie. Aber theoretisches Verständnis ist wie ein Bild: Es ist nicht das Ding selbst, sondern nur dessen Darstellung. Lassen Sie die logischen Gedankengänge fahren, und packen Sie das wahre Ding!

158 Schüler: Das kann ich tun - ja, das kann ich! Rôshi: Gut denn; sagen Sie mir auf der Stelle, welche Größe Ihr Wahres Ich hat! Schüler (nach kleiner Pause): Also ... das hängt von den Umständen ab. In einer Situation kann es ein Ding sein, in einer anderen etwas anderes. Rôshi: Wenn Sie die Wahrheit geschaut hätten, dann hätten Sie mir augenblicklich eine konkrete Antwort geben können. Wenn ich beide Arme ausstrecke, so - (demonstriert es) - wie weit rei- chen sie? Antworten Sie sofort! Schüler (zögernd): Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich manchmal spüre, ich bin dieser Stock, und manchmal, daß ich etwas anderes bin - ich weiß nicht, was. Rôshi: Sie haben es beinahe erreicht. Lassen Sie jetzt nicht nach - tun Sie Ihr Äußerstes.

Schüler C (43 Jahre alt)

(Es ist üblich, daß jeder Schüler seine Übung nennt, sobald er zum Dokusan vor dem Rôshi erscheint. Die Übung dieses Schülers ist Mu. Um ermüdende Wiederholungen zu vermeiden, haben wir diese Bemerkung des Schülers zu Beginn der Dokusan meist weggelassen.) Schüler: Ich habe das Gefühl, daß Mu alles und nichts ist. Ich habe das Gefühl, daß es wie der Widerschein des Mondes auf einem See ist - ohne Mond und ohne See - nur Widerschein. Rôshi: Sie haben ein scharfes, theoretisches Verständnis für Mu, ein klares Bild davon im Sinn. Jetzt müssen Sie sich seiner unmittelbar bemächtigen. Es gibt eine Zeile, die ein berühmter Zen-Meister schrieb, als er Erleuchtung fand. Sie lautet: «Als ich die Tempelglocke läuten hörte, gab es plötzlich keine Glocke und kein Ich, nur Klang.» Mit anderen Worten: Er war sich keines Unterschiedes mehr zwischen sich, der Glocke, dem Klang und dem Weltall bewußt. Das ist der

159 Zustand, den Sie erreichen müssen. Lassen Sie nicht nach - ringen Sie weiter!

Schüler: Ich muß mich über etwas beklagen. Als ich gestern abend darauf wartete, zum Dokusan zu gehen, wurde ich barsch herumge- stoßen, geschoben und angebrüllt. Ich weiß, diese Püffe sollten mich anspornen, aber ich nahm es trotzdem übel. Rôshi: Das kommt daher, daß Sie sich als ein «Ich» ansehen; deshalb nehmen Sie solche Behandlung übel. Wenn Sie mit Leib und Seele hundertprozentig mit Mu vereint wären, wer sollte dann das Übel- nehmen besorgen? Auf jener Stufe sind Sie wie ein Einfaltspinsel, wie ein Punching-Ball: Wohin Sie gepufft werden, dahin gehen Sie, da Ihr Ich, Ihr Eigenwille ausgetrieben wurde. Das ist der Zeitpunkt, da Sie Mu unmittelbar schauend erkennen. Wenn Sie jene Verfassung erreicht haben, sind Sie frei von allem Groll.

Schüler: Gestern hatte ich den Höhepunkt meiner Anstrengungen erreicht; mein Eifer war, wie Sie sagten, auf fünfundneunzig Prozent gestiegen. Aber heute hat mich das brennende Verlangen plötzlich verlassen. Ich bin ganz mutlos. Ich weiß nicht, warum. Rôshi: Lassen Sie sich nicht entmutigen. Das geht allen so. Wenn Sie ein Stück Maschine wären, könnten Sie dauernd auf hohen Touren laufen, aber ein Mensch kann das nicht. Stellen Sie sich jemanden vor, der reitet. Wenn er ein guter Reiter ist, galoppiert er nicht in einem Augenblick und verlangsamt im nächsten die Gangart plötzlich zum Schritt. Wenn er sein Pferd in einem stetigen Trab hält, ist er eher in der Lage, einen plötzlichen Spurt herauszuholen, wenn es nötig ist. Wenn Sie ganz nachlassen und endlos im Schritt weitergehen oder, was noch schlimmer ist, von Zeit zu Zeit anhalten, werden Sie lange Zeit brauchen, bis Sie Ihr Ziel erreichen. Der Haken dürfte sein, daß Sie bewußt oder unbewußt meinen: «Wenn ich bei diesem Sesshin nicht Erleuchtung finde, so werde ich es das nächste Mal erreichen.» Wenn das aber Ihr letztes Sesshin in Japan wäre, würden Sie in Ver-

160 zweiflung geraten, und die Verzweiflung würde Sie geradewegs in die Erleuchtung hineinjagen. Sehen Sie einmal die Menschen hier, die dieses besondere Sesshin 18 mit Ihnen zusammen besuchen. Sie haben nur einmal im Jahr die Gelegenheit, an einem Sesshin teilzunehmen, und sie wissen, daß sie ein weiteres Jahr warten müssen, wenn sie Kenshô nicht in dieser Woche erlangen. So üben sie Zazen mit gewaltiger Energie und Hin- gabe. Drei der Gruppe haben schon Kenshô erreicht. Lassen Sie in Ihren Anstrengungen nicht nach, sonst werden Sie lange brauchen, um das zu erreichen, worauf Sie aus sind. Schüler: Mir gehen jetzt weniger Gedanken durch den Sinn, als bis- her beim größten Teil des Sesshin; aber ich werde immer noch von einigen geplagt, die immer wieder auftauchen. Ich meine, das liegt wohl daran, daß ich früher so viel über Zen gelesen und darüber nachgedacht habe. Rôshi: Ja. Sie werden Ihr Wahres Wesen erst dann verwirklichen, wenn Sie sich aller Gedanken entschlagen haben, so daß Ihr Geist einem reinen, weißen fleckenlosen Blatt Papier gleicht. Es geht ein- fach darum, daß Sie sich so völlig in Mu versenken, daß für irgend- welche Gedanken gar kein Raum mehr ist, nicht einmal für Gedanken über Mu.

Rôshi: Seien Sie auch nicht einen Augenblick unachtsam. Wenn Sie beim Zazen-Sitzen aufmerksam sind, aber beim Aufstehen Augen und Geist herumwandern lassen, unterbrechen Sie Ihre geistige Konzen- tration. Folgen Sie meinen Worten? Schüler: Ja, das tue ich; aber all das betrifft mich wirklich gar nicht. Ich bin immer aufmerksam. Rôshi: Nun, es ist möglich, daß Sie unaufmerksam sind, ohne daß Sie es merken. Außerdem gibt es verschiedene Grade der Aufmerksam- keit. Wenn Sie in einem überfüllten Zug aufpassen, daß Ihnen Ihre Brieftasche nicht gestohlen wird, so ist das eine Art der Achtsamkeit.

18. YASUTANI Rôshi hält dieses einwöchige Sesshin einmal im Jahr in Hokkaido, der nördlichen Insel Japans.

161 Wenn Sie aber in einer Situation sind, da Sie jeden Augenblick getötet werden können - sagen wir im Krieg -, wird Ihre Aufmerksamkeit bei weitem größer sein. Wenn Sie auch nur eine Sekunde schlapp machen, bedeutet das, daß Sie sich von Mu trennen. Versenken Sie sich in Mu, selbst wenn Sie zu Bett gehen, und wenn Sie aufwachen, halten Sie den Geist auf den Brennpunkt Mu gerichtet. Ihre gesamte Aufmerksamkeit muß darauf konzentriert sein, Mu zu ergründen - so daß Sie davon so besessen sind wie ein Liebender. Nur dann können Sie Erleuch- tung finden.

Rôshi: Sie wissen, wie man Zazen richtig übt. Sie haben auch ein aus- gezeichnetes Bild von Mu im Kopf. Wenn Sie aber Mu wirklich erleben wollen, müssen Sie dieses Bildnis, das sich in Ihrem begriff- lichen Denken festgesetzt hat, wegwerfen. Die Wurzeln der ich-bil- denden Ideen stecken tief im Unbewußten, außer Reichweite der nor- malen Bewußtheit; daher sind sie schwer auszurotten. Um sie loszu- werden, müssen Sie beim Gehen, Essen, Arbeiten, Schlafen und Aus- scheiden mit Mu völlig Eins werden. Sie sollen nicht allein Ihren Geist sammeln, sondern auch die Augen überwachen, denn wenn die Augen nicht auf den Boden geheftet sind, entstehen Gedanken, der Geist gerät in Bewegung, und ehe Sie sich's versehen, haben Sie sich schon von Mu getrennt. Sie wissen, wie ich schon gesagt habe, wie man sich richtig konzen- triert, aber Ihre Konzentration ist noch schwach. Sie neigen dazu, zeitweise zu trödeln und sich mit Dingen zu beschäftigen, die nicht dazu gehören. An sich ist das zwar nicht so schlimm; aber für jeman- den, der danach strebt, sein Wahres Wesen schauend zu erkennen, ist es verhängnisvoll, da sein Sinn dauernd abgelenkt wird. Sie werden erst dann Erleuchtung finden, wenn Sie sich mit der ganzen Kraft Ihres Seins in Mu ergossen haben.

162 Schüler: Ich ringe aus Leibeskräften darum, mit Mu Eins zu werden. Da aber das, was nicht Mu ist, ebenso stark ist, gewinnt Mu nicht die Oberhand. Ja, die Gegenkräfte werden sogar umso stärker, je stärker Mu wird; und allmählich kommt es mir vor, als sei ich «zwischen zwei Welten, die eine tot, die andere unfähig, geboren zu werden». Offen gesagt, ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich tun soll. Dazu ist größere Kraft, als ich sie besitze, erforderlich - davon bin ich überzeugt. Rôshi: Was Sie zu tun versuchen, das kann man leicht hiermit ver- gleichen (er preßt beide Hände gegeneinander). Wenn Sie Mu erst geschaut haben, werden Sie wissen, daß ihm nichts entgegenstehen kann, da alles Mu ist. Jetzt werden Sie allmählich einsehen, warum der Kyosaku angewandt wird - um Ihnen nämlich zu helfen, sich über Ihr normales Vermögen hinaus anzustrengen. Da Sie aber den Kyosaku nicht leiden können, werde ich den Haupt-Mahner bitten, Ihnen von Zeit zu Zeit einen heftigen Klaps auf den Rücken zu versetzen. So angespornt, können Sie größere Kraft und Energien mobilisieren, als Ihnen bisher zur Verfügung standen.

Rôshi: Wenn das hier ein bestimmtes großes Kloster wäre, und Sie würden vor dem Rôshi zum Dokusan so erscheinen, wie Sie es jetzt tun, so würde er Sie anherrschen: «Zeigen Sie mir Mu!» Wenn Sie es ihm nicht zeigen könnten, würde er Sie warnen, nicht eher wieder- zukommen, als bis Sie es ihm zeigen könnten. In Ihrer Verzagtheit würden Sie Ausreden finden, um dem Dokusan fernzubleiben aus Furcht, ausgescholten zu werden, weil Sie noch keine wirkliche Ant- wort auf Mu wissen. Wenn Sie aber nicht freiwillig gingen, würden Sie von den Mönchs-Ältesten von Ihrem Sitz hochgerissen und zum Dokusan geschoben und geschleift. Da Sie nicht mehr aus noch ein wüßten, könnte es geschehen, daß Sie aus schierer Verzweiflung die Antwort auf Mu hervorbringen. Aus mancherlei Gründen wenden wir hier keine derartigen Methoden an. Üben Sie jedoch diesen Druck selbst auf sich aus. Erscheinen Sie

163 hier vor mir mit dem Gefühl, daß Sie die Wahrheit von Mu demon- strieren werden, komme, was da wolle. Gehen Sie jetzt auf Ihren Platz zurück, und tun Sie Ihr Bestes!

Rôshi: Ich sehe, Sie haben Mu noch immer nicht ergründet... Warum nicht?... Sie fangen mit intensiver Konzentration an, dann lassen Sie nach. Eine Zeitlang halten Sie an Mu fest, wie ich hier meinen Stab festhalte (umklammert den Meisterstab mit beiden Händen). Dann lassen Sie los, so (läßt den Meisterstab fallen)! So kommen Sie nie weiter! Wenn Sie gehen, dann geht nur Mu; wenn Sie essen, ißt nur Mu; wenn Sie arbeiten, arbeitet nur Mu; und wenn Sie vor mir erscheinen, so erscheint nur Mu. Wenn Sie sich niederwerfen, so ist es Mu, das sich niederwirft. Beim Sprechen ist es Mu, das spricht. Beim Zu-Bett-Gehen ist es Mu, das sich schlafen legt, und es ist Mu, das erwacht. Wenn Sie den Punkt erreicht haben, da Ihr Sehen, Ihr Hören, Ihr Berühren, Ihr Riechen, Ihr Schmecken und Ihr Denken nichts als Mu sind, werden Sie plötzlich Mu unmittelbar gewahren.

Rôshi: Um Mu schauend zu erkennen, müssen Sie in die Verfassung eines Liebenden geraten, der einzig seine Geliebte im Sinn hat. Der Durchschnittsmensch kümmert sich um eine Menge Nebensächlich- keiten: die Tageszeit, seine tägliche Kleidung, zufällige Gedanken, die ihm in den Sinn kommen. Ein Liebender jedoch, dessen Sinn ganz auf seine Geliebte gerichtet ist, ist in einem tranceartigen Zustand. Er gleicht darin, daß er seinen Sinn nur auf eines richtet, einem Einfaltspinsel. Sie werden bestimmt Erleuchtung finden, wenn Sie im Hinblick auf Mu zu solch zielstrebiger Ausschließlichkeit kommen.

Schüler: Sie haben mir verschiedentlich gesagt, daß jedes einzelne Ding Mu ist, daß ich Mu bin usw. Was soll ich mit diesen Hinweisen anfangen? Beim Zazen darüber nachdenken? Und wenn ja, auf wel- che Weise?

164 Rôshi: Nein, denken Sie nicht beim Zazen daran. Diese Hinweise sind nur für den Augenblick. Wenn Sie Ihren Geist zu unmittelbarer Erkenntnis von Mu öffnen, gut und recht. Wenn nicht, vergessen Sie sie, und wenden Sie sich wieder der Frage zu: «Was ist Mu?» Schüler: Als ich mich vor kurzem einfach nur auf Mu konzentrierte, war meine Konzentration recht gut. Ich konnte meine Aufmerksam- keit mit Leichtigkeit auf Mu richten, ohne daß sich die verschieden- sten Gedanken dazwischenschoben. Seit Sie mir aber sagten, daß ich an die Bedeutung von Mu denken müsse, daß ich mich zweifelnd fra- gen müsse: «Was ist Mu?» - ist mein Sinn einem Sperrfeuer von Gedanken geöffnet, die meine Konzentration behindern. Rôshi: Zweck Ihres Zazen-Übens ist das Erlebnis von Satori. Satori und Jôriki - das japanische Wort für die aus Zazen erwachsende Kraft - sind zwar eng miteinander verbunden, indessen sind es doch zwei ganz verschiedene Dinge. Es gibt Menschen, die jahrelang Zazen üben - mit starkem Jôriki -, aber nie zum Satori kommen. Warum nicht? Weil sie sich in ihrem tiefsten Unbewußten nicht von der Vor- stellung befreien können, daß die Welt außerhalb von ihnen besteht, daß sie souveräne Persönlichkeiten sind, unabhängig von anderen Persönlichkeiten und ihnen entgegengesetzt. Solche Begriffe aufzuge- ben, bedeutet im «Dunkeln 19» zu stehen. Nun kommt Satori gerade aus diesem «Dunkel» und nicht aus dem «Licht» der Vernunft und weltlichen Wissens. Durch intensives Fragen «Was ist Mu?» führen Sie das Vernunftdenken in eine Sackgasse, werden aller Gedanken bar, wobei Sie auch allmählich die zähen Wurzeln von Ich und Nicht-Ich im Unbewußten vernichten. Diese dynamische Selbsterfor- schung ist der schnellste Weg zum Satori. Jôriki ist natürlich wichtig; aber wenn Ihr Ziel nicht darüber hinaus liegt, können Sie jahrelang Zazen üben, ohne Ihrem Endzweck Satori näher zu kommen. Andererseits gibt es viele Menschen, deren Jôriki verhältnismäßig schwach ist und die dennoch Satori erlangen. Schüler: Warum soll ich mich dann überhaupt damit plagen, Jôriki zu entwickeln?

19. Im Zen sagt man: «Der große runde Spiegel der Weisheit ist pechschwarz.»

165 Rôshi: Nur, weil Sie geistige Übungen nicht durchhalten können, wenn Sie Ihre Gedanken und Gefühle nicht in natürlicher Zucht hal- ten. Wenn Sie erst einmal diese natürliche Kontrolle durch Jôriki gewonnen haben, werden Sie nicht mehr zwanghaft getrieben. Sie haben die Freiheit, sagen wir, reizende Ausblicke oder Töne zu genie- ßen oder zu ignorieren, ohne als Nachwirkung Reue zu empfinden. Indessen wird Ihre Weltsicht und Ihre Beziehung zur Welt bis zur Erleuchtung verschwommen sein - mit anderen Worten, noch immer von der Idee eines «Eigen» und «Anderes» beherrscht sein - und Sie werden von Ihrer unvollkommenen Sicht irregeführt. Selbst-Wesensschau kann, wie ich schon gesagt habe, nach wenig Zazen und bei entsprechend schwachem Jôriki eintreten; aber ganz ohne Jôriki ist es schwierig, seine gewohnheitsmäßigen Handlungen so umzustellen, daß sie sich im Einklang mit der erlebten Wahrheit befinden. Erst nach der Erleuchtung, wenn man die Welt und sich nicht mehr als zweierlei sieht, entfalten sich die inneren Kräfte voll und ganz, vorausgesetzt, daß man mit Zazen und der Entwicklung von Jôriki fortfährt. Schüler: All das kann ich einsehen. Mein Problem aber bleibt: Wie soll ich die Frage «Was ist Mu?» behandeln, wenn ich sie für vollkom- men sinnlos halte? Ich kann die Frage für mich selbst nicht einmal stellen, geschweige denn, sie beantworten. Wenn ich zu Ihnen sagte «Was ist Baba20 ?», dann hätte das keinen Sinn für Sie. Ich halte Mu für ebenso sinnlos. Rôshi: Haargenau das ist es, was Mu zu solch ausgezeichnetem Kôan macht! Um Ihres Selbst-Wesens innezuwerden, müssen Sie aus der Sackgasse von Logik und Analyse ausbrechen. Gewöhnliche Fragen erfordern vernünftige Antworten, aber der Versuch, auf «Was ist Mu?» vernünftig zu antworten, ist wie der Versuch, mit der Faust durch eine Eisenwand zu fahren. Diese Frage zwingt Sie in einen Bereich jenseits aller Vernunftgründe hinein. Ihre Anstrengungen, das Problem zu lösen, sind jedoch nicht ohne Sinn. Was Sie in Wirk- lichkeit herauszufinden versuchen, ist «Was ist mein Wahres Selbst?».

20. Unwissentlich wählt der Schüler ein Wort, das im Japanischen verschiedene Bedeutungen hat.

166 Sie können das auf die Art, die ich Ihnen im einzelnen geschildert habe, entdecken. Wenn es Ihnen lieber ist, so fragen Sie sich: «Was ist mein Wahres Selbst?» Schiller: Oder: Was bin ich? oder: Wer bin ich? Rôshi: Ja, genau.

Schüler (kommt keuchend hereingestürzt): Ich muß Ihnen erzählen, was mir eben passiert ist. Mir wurde einfach schwarz vor den Augen. Rôshi: Meinen Sie, daß alles schwarz wurde und Sie überhaupt nichts sehen konnten? Schüler: Nicht ganz. Alles wurde dunkel, aber es gab kleine Licht- löcher in der Schwärze. Was bedeutet das? Rôshi: Das ist ein Makyô, und es beweist, daß Sie einen wichtigen Punkt auf halbem Wege erreicht haben. Makyô treten nicht auf, wenn man trödelt. Sie entstehen auch nicht bei gereifter Übungsweise. Solche Vorkommnisse sind ein Zeichen für die Intensität Ihrer Kon- zentration. Es ist äußerst wichtig, daß Sie sich auch nicht um Haares- breite von Ihrem Kôan trennen. Sie dürfen auch nicht einen Augen- blick unachtsam sein. Lassen Sie sich in Ihrer Konzentration durch nichts und gar nichts unterbrechen. Sie müssen Mu jetzt unmittelbar erkennen! Nur noch ein Schritt! Schüler: Ich bin geistig ganz konzentriert. Ich war in tiefem samâdhi. Mit Herz und Seele habe ich gefragt: «Was ist Mu?» Rôshi: Ausgezeichnet! Schüler: Aber ich habe folgende Schwierigkeiten: Ganz plötzlich fängt mein Herz an, sehr schnell zu schlagen. Ein andermal ver- schwindet mir der Atem aus der Nase, und ich spüre ihn in der Magengrube. Ich weiß nicht, ob das besorgniserregend ist oder nicht. Und wenn ich höre, wie der Haupt-Mahner alle mit dem Kyosaku schlägt und sie anbrüllt, daß sie sich mit letzter Energie konzen- trieren sollen, und höre, wie alle schnaufen und keuchen, dann weiß ich nicht, ob ich auf meine Art mit ruhiger Meditation fort- fahren oder mich auch so abquälen soll wie die anderen um mich herum.

167 Rôshi: Ich kann nur wiederholen: Sie haben einen entscheidenden Punkt erreicht. Als ich vor vielen Jahren im Hosshin-Ji übte, erreichte auch ich jenes Stadium, da mein Herz heftig zu klopfen begann, und ich wußte nicht, was tun. Wie Sie wissen, wird in jenem Kloster der Kyosaku unbarmherzig gebraucht, und jeder wird dauernd dazu gedrängt, sein Äußerstes zu leisten. Als ich mit dem Problem zu HARADA Rôshi kam, sagte er nichts - gar nichts. Das hieß, daß ich meinen eigenen Weg erfühlen müßte, denn niemand könnte mir sagen, was zu tun wäre. Ich spürte, daß ich vielleicht ohnmächtig würde, wenn ich so fortführe. Andererseits wußte ich, daß ich zurückfallen würde, wenn ich in meinen Anstrengungen nachließe. Ich will Ihnen folgendes sagen: Wenn Sie ruhig sitzen und nicht vom Fleck kommen, werden Sie niemals zur Selbst-Wesensschau gelangen. Zur Erleuchtung ist es erforderlich, daß Sie mit Ihrem letzten bißchen Kraft in Mu eindringen. Ihre Versunkenheit muß vollkommen und unerschütterlich sein. Die tief in unserem Unbewußten steckende Begriffsvorstellung «ich» und «anderes» ist sehr stark. Wir denken: Ich bin hier; was nicht ich ist, das ist da draußen. Das ist eine Täu- schung. Von Natur gibt es keine solche Zweigeteiltheit. Theoretisch wissen Sie das natürlich alles, aber dieses «Ich» ist so fest eingebettet, daß es durch Vernunftgründe nicht entwurzelt werden kann. Wenn Ihre Konzentration zielbewußt ausschließlich auf Mu gerichtet ist, sind Sie sich eines «Ich», das einem «Nicht-Ich» entgegensteht, nicht bewußt. Hält diese Versunkenheit ununterbrochen an, so stirbt die «Ich-heit» im Unbewußten aus. Und plötzlich «Klapp!» - und es gibt keine Dualität mehr. Das unmittelbar zu erleben, ist Kenshô. Werden Sie jetzt nicht wankend. Sie stehen an einem entscheidenden Punkt. Sitzen Sie hingebungsvoll!

Rôshi: Sie haben Mu noch immer nicht geschaut, nicht wahr?... Schüler: Ich spüre, daß die Glocke da neben Ihnen, der Baum da draußen und ich eins sein sollten, aber irgendwie kann ich mir dieses Einssein nicht unmittelbar vergegenwärtigen. Es kommt mir vor, als sei ich in Ketten geschmiedet, in einem Gefängnis, aus dem ich nicht

168 entkommen kann. Ich kann einfach aus der Dualität nicht aus- brechen. Rôshi: Eben diese Vorstellungen sind es, die Ihre Wesensschau von Mu vereiteln. Machen Sie sich frei davon! Sie können Einssein nur durch gedankenfreie Versunkenheit in Mu erreichen. Ich möchte Sie etwas fragen: Wenn Sie sterben, stirbt dann alles um Sie her auch? Schüler: Das weiß ich nicht - das habe ich noch nicht erlebt. Rôshi: Wenn Sie sterben, so sterben alle Dinge mit Ihnen, da Sie sich ihrer nicht mehr bewußt sind. Sie existieren nur in Beziehung zu Ihnen, nicht wahr? Schüler: Ja, ich glaube. Rôshi: Deshalb verschwindet auch das ganze Weltall, wenn Sie ver- schwinden; und wenn das Weltall vergeht, vergehen Sie mit ihm. Denken Sie daran, jeder Anreiz kann plötzlich die Wesensschau von Mu hervorrufen, vorausgesetzt, daß Ihr Geist leer ist und Sie sich Ihrer selbst nicht bewußt sind. Es sind noch fünf Stunden bis zum Ende des Sesshin. Wenn Sie sich mit ganzer Seele konzentrieren, wer- den Sie gewiß Erleuchtung erringen.

Rôshi: Sie sehen aus, als hätten Sie Mu beinahe erfaßt. Sehen Sie sich diesen Ventilator an. Ich schalte ihn ein (tut es). Die Flügel drehen sich. Woher kommt diese Drehung? Jetzt schalte ich den Ventilator aus. Was ist mit der Drehung geschehen? Ist das nicht Mu? Wenn ich Schüler auffordere, mir Mu zu zeigen, ergreifen einige meinen Stab, andere halten einen Finger in die Höhe, wieder andere umarmen mich, so (umarmt den Schüler). Schüler: Das weiß ich alles, aber wenn ich das täte, käme es auf Grund vorheriger Überlegung und nicht von innen heraus. Rôshi: Das stimmt natürlich. Wenn Sie Mu wirklich erleben, werden Sie spontan reagieren können. Aber Sie müssen aufhören nachzuden- ken und sich einzig und allein in Mu vertiefen. Schüler: Auch das verstehe ich, und ich versuche, es zu tun. Ich erlebte neulich eine Kostprobe von Mu, als ich den Mahner

169 anschrie, als er mich schlug, obgleich doch ein Zeichen «Nicht schla- gen» über mir ist. Rôshi: Dieses Gefühl von Mu war wundervoll, nicht wahr? In dem Augenblick, da Sie ihn anschrien, gab es keine Dualität, keine Bewußtheit Ihrer selbst oder seiner - nur den Schrei. Da aber Ihre Erkenntnis nur eine teilweise war, verschwand sie wieder. Wäre sie vollständig gewesen, so wäre sie geblieben. Lassen Sie nicht locker, halten Sie Mu fest, was auch kommen mag. Ringen Sie weiter!

Schüler: Ich habe keine besondere Frage. Ich möchte nur sagen, daß ich mich heute ganz flau fühle. Mein Sinn ist ganz zerfasert, und ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren. Rôshi: Das ist nun mal so bei den Menschen. Manchmal ist unser Sinn scharf und klar und dann wieder stumpf und teilnahmslos. Wichtig ist nur, daß Sie sich davon nicht bekümmern und hemmen lassen. Setzen Sie einfach Ihre Zazen-Übungen entschlossen fort.

Rôshi: Sie sind noch immer nicht zur Wesensschau gekommen - ich möchte wohl wissen, warum ... Ich habe Ihnen wiederholt gesagt, daß Sie das Schlußfolgern preis- geben sollen, mit dem Analysieren aufhören und überhaupt alles Denken aufgeben müssen. Befreien Sie sich von allen Vorstellungen, Glaubensanschauungen und Postulaten. Ich schlage Sie mit meinem Stab (schlägt den Schüler). Sie rufen «Autsch!» Dieses «Autsch!» ist das gesamte Weltall. Was gibt es denn sonst noch? Ist Mu etwas anderes als das? Wenn das hier Feuer wäre und Sie es berührten, dann würden Sie ebenfalls aufschreien und die Hand wegziehen, nicht wahr? Die meisten Menschen denken sich Feuer als etwas, das Hitze schafft, oder als einen Vorgang, der durch Verbrennung ent- steht und so weiter. Aber Feuer ist einfach Feuer, und wenn Sie sich daran verbrennen und laut aufschreien «Autsch!», dann gibt es nur «Autsch!».

170 Schüler: Was fehlt mir nur? Sie sind erleuchtet und ich nicht. Worin liegt der Unterschied, wenn Sie Feuer berühren und wenn ich es tue? Rôshi: Es gibt überhaupt keinen Unterschied, absolut keinen! Ein Vers im Mumon-Kan lautet:

«Wenn die Sonne scheint, breiten sich ihre Strahlen über die ganze Erde aus; und wenn es regnet, wird die Erde naß.» Hierin liegt weder Schönheit noch Häßlichkeit, weder Gutes noch Böses, nichts Unumschränktes und nichts Eingeschränktes. Schüler: Ich möchte es auch so sehen und das ganze Leben auf diese Weise hinnehmen, aber ich kann es nicht. Rôshi: Da gibt es nichts hinzunehmen. Sie brauchen einfach nur zu schauen, wenn Sie sehen, nur zu hören, wenn Sie lauschen. Der Durchschnittsmensch aber kann das nicht. Er webt um das, was er erlebt, dauernd Ideen und schmückt es mit Vorstellungen aus. Aber wenn Sie einen rotglühenden Ofen anfassen und «Autsch!» schreien, so ist die einfache und offensichtliche Tatsache eben «Autsch!». Gibt es darüber hinaus noch irgendeine Bedeutung? Schüler: Mit dem Verstand verstehe ich das alles, aber das hilft mir nichts. Rôshi: Nehmen Sie Ihr Verstehen einfach als Verstehen. Sie müssen von allen Ideen loskommen - Schüler (unterbricht ihn): Ich hatte gar keine Ideen, ehe ich herkam. Ich konzentrierte mich nur mit aller Gewalt auf Mu und dachte an nichts anderes. Rôshi: Also gut. Wenn Sie auf Ihren Platz zurückkehren, hören Sie auf, sich um Einssein mit Mu zu bemühen, und fragen Sie sich aus tiefstem Grunde: «Warum kann ich mir nicht vergegenwärtigen, daß es nichts als Hören gibt, wenn ich höre? Warum kann ich nicht erkennen, daß es nichts als Schauen gibt, wenn ich sehe?» Schüler: Ich weiß, was man von mir erwartet, aber ich kann es ein- fach nicht tun. Rôshi: Es gibt nichts, was man von Ihnen erwartet, nichts, was Sie tun oder verstehen sollten. Sie brauchen nur die Tatsache zu erfassen, daß der Boden naß wird, wenn es regnet, und daß die Welt strahlend

171 hell wird, wenn die Sonne scheint. Nehmen Sie Verstehen als Verste- hen und als sonst nichts. Wenn Sie denken: «Ich soll nicht verstehen» oder «ich soll verstehen», so fügen Sie dem Kopf, den Sie schon haben, einen weiteren «Kopf» hinzu21. Warum können Sie die Dinge nicht hinnehmen, wie sie sind (ihrem wahren Wesen nach) ? Schüler: Ich glaube, das ist der Haken bei mir: Im Unterbewußtsein denke ich: «Ich bin ein Individuum und Sie dort sind ein anderes.» Rôshi: Wenn Sie sich von diesem Grund-Irrtum befreien, wird Satori plötzlich aufblitzend eintreten, und Sie werden ausrufen: «Ach, ich hab's!».

Rôshi: Was ist das? (Er klopft dem Schüler mit dem Meisterstab auf die Schulter.) (Keine Antwort.) Das ist Mu - nur Mu! Wenn ich in die Hände klatsche (klatscht), so ist es einfach Mu. Es gibt nichts «herauszufinden», nichts zu grübeln. Wenn Sie versuchen, auch nur die kleinste Schlußfolgerung zu ziehen, oder im geringsten analysieren, werden Sie niemals zur Wesensschau von Mu gelangen. Schüler: Es kommt mir vor, als ginge ich die ganze Zeit gegen mich selber an. Rôshi: Lassen Sie das Nachgrübeln darüber! Hören Sie auf, Ihren Kopf zu gebrauchen. Werden Sie einfach mit Mu ganz und gar eins, dann kommen Sie bestimmt zur Selbst-Wesensschau. In Wirklichkeit gibt es kein «ich selbst», gegen das man angehen kann. Mu ist alles. Mu ist Nichts. Solange Sie bewußt oder unbewußt glau- ben, daß Sie Sie sind und alles Übrige von Ihnen verschieden ist, werden Sie Mu niemals ergründen. Sie sind Kenshô nahe. Nur noch ein Schritt! Seien Sie auf der Hut! Entfernen Sie sich auch nicht um die Dicke des dünnsten Papierblattes von Mu!

21. Das heißt: Gedanken unnötig vervielfältigen.

172 Schüler: Als Ergebnis der Erklärungen, die Sie mir gestern gaben, verbinde ich mit «ich» nicht mehr meinen Körper oder meine Hand- lungen. Aber wenn ich mich frage: «Wer ist es, der das alles weiß?», dann schließe ich, daß ich der Wisser bin. Bin ich wieder zum Aus- gangspunkt zurückgekommen? Rôshi: Das Folgende ist für Sie lebenswichtig, also hören Sie gut zu. Ihr Geist reflektiert gleich einem Spiegel alles: diesen Tisch, diese Matte - alles, was Sie sehen. Wenn Sie nichts wahrnehmen, spiegelt der Spiegel sich selbst. Nun ist der Geist eines jeden Menschen ver- schieden. Die Art, in der mein Geist die Dinge spiegelt, weicht von der des Ihren ab. Was immer in Ihrem Geist ist, ist die Spiegelung Ihres Geistes, und deshalb sind Sie das. Wenn Sie also diese Matte oder diesen Tisch wahrnehmen, nehmen Sie sich selber wahr. Und wiederum, wenn Ihr Geist leer von allen Begriffen ist - das heißt von Meinungen, Ideen, Gesichtspunkten, Wertungen, Vorstellungen, An- nahmen - spiegelt Ihr Geist sich selbst. Das ist der Zustand der Nicht- Unterschiedenheit, von Mu. Nun ist das alles nur ein Bild. Was Sie zu tun haben, ist, die Wahrheit unmittelbar selber zu erfassen, so daß Sie sagen können «Ach, natür- lich!». Das ist Erleuchtung.

Rôshi: Sie haben sich Mu noch immer nicht zu eigen gemacht – zu schade! Schüler: Das stimmt; es tut mir leid. Rôshi: Mu ist nichts, was Sie fühlen oder schmecken oder anfassen oder riechen können. Und wenn es Gestalt oder Form hat, so ist es nicht Mu. Was Sie da im Innern haben, ist nur ein Bild von Mu. Sie müssen das wegwerfen - Schüler (unterbricht ihn): Ich kann Ihnen versichern, daß ich keine Bilder im Innern habe! Rôshi: Mu ist jenseits von Sinn und Nicht-Sinn. Man kann es weder durch die Sinne noch durch logischen Verstand erleben. Lassen Sie Ihre falschen Vorstellungen fahren, und Ihnen wird jählings die große Erkenntnis kommen. Aber Sie müssen sich mit größerem Feuereifer

173 darauf werfen. Sie müssen sich hartnäckiger an Mu klammern, wie ein hungriger Hund an seinen Knochen. Konzentrieren Sie sich von ganzem Herzen: Mu! Mu! Mu!

Rôshi: Aus der Art, wie Sie hier hereinkommen, kann ich sehen, daß Sie noch immer nicht eins sind mit Mu. Sie wanken - Sie sind zer- streut. Wären Sie eins mit Mu, dann würden Sie hier ohne Eile, doch festen Schrittes vor mir erscheinen, vollkommen vertieft, so als trügen Sie den kostbarsten Schatz der Welt. Schüler: Immerhin bin ich nicht mehr in solcher Dualität, wie ich es war. Wenn ich lache, denke ich nicht «ich lache», sondern einfach nur «lachen». Genau so, wenn ich Schmerzen habe und bei allem übrigen. Rôshi: Das ist schön und recht; wenn Sie aber Ihr Wahres Wesen erkennen wollen, dürfen Sie nicht pausieren und darin schwelgen, sich zu beglückwünschen. Wenn Sie das tun, trennen Sie sich von Mu und landen in eben jener Dualität, der Sie gerade entkommen wollen. Zur Erleuchtung brauchen Sie nur vollkommenes Einssein mit Mu zu erreichen, weiter nichts. Sie müssen sich von allen trügerischen Vor- stellungen leer machen und zu einer Art Schlafwandler werden, der einen zerbrechlichen Schatz trägt, der bei jedem Fehltritt zerbrechen kann. Es darf kein Wanken und Straucheln geben, nicht im min- desten. Schüler: Ich spüre, daß ich der Erleuchtung nicht fern bin, aber irgendwie kann ich die letzte Stoßkraft nicht aufbringen. Rôshi: Die Schau Ihres Selbst-Wesens kann hiermit verglichen wer- den (legt die Handfläche der einen Hand auf die der ändern). Die obere Hand ist wie ein schwerer Stein. Sie stellt den Geist des Durch- schnittsmenschen dar, einen Geist, der von verblendetem Denken beherrscht wird. Die untere Hand stellt Erleuchtung dar. In Wirk- lichkeit sind das nur zwei Aspekte des Einen. Um nun die obere Hand umzuwenden, brauchen Sie ungeheure Kraft, denn dieser Geist ist schwer von Verblendung. Dabei bedeutet «Kraft» unablässige Kon- zentration. Wenn Sie diesen Geist, der obenauf liegt, nur ein wenig «anheben» und ihn dann wieder «fallen» lassen, werden Sie niemals

174 Ihr Wahres Wesen erleben. Sie müssen ihn in einem Schwung über den Haufen werfen, so (demonstriert mit schneller kraftvoller Bewegung)! Und siehe da! Da ist der Geist der Erleuchtung, lebendig und makel- los! Lassen Sie nicht nach - tun Sie Ihr Äußerstes!

Rôshi: Sie möchten etwas sagen, nicht wahr? Schüler: Ja. Rôshi: Nur los. Schüler: Sie haben mir gesagt, ich solle mich fragen: «Warum kann ich nicht einfach schauen, wenn ich sehe? Warum kann ich nicht ein- fach hören, wenn ich lausche? Warum kann ich nicht begreifen, daß, wenn ich mit Ihrem Meisterstab geschlagen werde und ,Autsch!' rufe, jenes ,Autsch!' das ganze Weltall ist?» Meine Antwort ist, daß ich diesen Meisterstab z. B. als Meisterstab in seiner begrenzten Erschei- nung sehe und weiter nichts. Ich sehe diese Matte einfach als Matte. Ich höre einen Ton als Ton und als nichts sonst. Rôshi: Sie sehen die Dinge einseitig. Nehmen Sie einmal an, daß ich meinen Kopf mit meinem Gewand verhülle und die Hände in die Luft strecke. Wenn Sie nur meine Hände sehen, denken Sie wahr- scheinlich, daß da eben einfach zwei Dinge sind. Wenn ich mich aber enthülle, sehen Sie, daß ich auch ein Mensch bin und nicht nur zwei Hände. In gleicher Weise müssen Sie sich vergegenwärtigen, daß es nur die halbe Wahrheit ist, wenn man die Dinge als abgelöste Wesen- heiten ansieht. Lassen Sie uns noch einen Schritt weitergehen. Betrachten Sie einmal diesen Ventilator hier neben mir. Er steht in Verbindung mit seinem Ständer, der Ständer mit dem Tisch, der Tisch mit dem Fußboden, der Fußboden mit dem Raum, der Raum mit dem Haus, das Haus mit dem Erdboden, der Erdboden mit dem Himmel, der Himmel mit dem Weltall, und wenn er sich bewegt, so bewegt sich das Weltall. Natür- lich ist das, was ich Ihnen hier sage, nicht der Ausdruck der Wirk- lichkeit, sondern nur eine Erklärung dafür. Und weiter: Stellen Sie sich einen Kreis mit einem Mittelpunkt vor.

175 Ohne den Mittelpunkt gibt es keinen Kreis, ohne Kreis keinen Mittel- punkt. Sie sind der Mittelpunkt, das Universum ist der Kreis. Wenn Sie existieren, so existiert das Universum, und wenn Sie verschwin- den, so verschwindet das Weltall gleichermaßen22. Alles steht mit- einander in Verbindung und wechselseitiger Abhängigkeit. Dieser Kasten auf dem Tisch existiert nicht unabhängig. Er existiert in Bezie- hung zu meinen Augen, die ihn anders sehen als die Ihren und wie- derum anders als die eines Dritten. Demnach würde der Kasten für mich aufhören zu existieren, wenn ich blind wäre. Nehmen wir ein anderes Beispiel. Stellen Sie sich einmal vor, Sie äßen Zucker, wenn Sie krank sind. Er schmeckt bitter, und so sagen Sie: «Er ist bitter»; aber ein anderer sagt: «Es ist Zucker, er ist süß.» Für Sie ist Zucker nichtsdestoweniger bitter. Die Bitterkeit des Zuk- kers ist also auch bedingt durch Ihren Geschmackssinn; seine Eigen- schaften hängen von Ihnen ab. Alle Existenz ist relativ. Doch jeder von uns schafft sich seine eigene Welt. Und ein jeder wird gewahr, was seiner Geistesverfassung ent- spricht. Schüler: Das verstehe ich alles theoretisch. Ich kann einsehen, daß ich verschwinde, wenn die Sonne verschwindet, aber ich kann mir nicht denken, daß ich die Sonne oder das ganze Weltall bin. Rôshi: Aber das sind Sie. Wenn bei Ihrem Tode das Weltall mit Ihnen stirbt, dann sind doch Sie und das Weltall nicht getrennt und isoliert. Erleuchtung ist nichts weiter als das Innewerden dessen, daß die Welt der Unterschiedenheit und die Welt der Nicht-Unterschiedenheit nicht zwei sind. Wenn Sie das unmmitelbar und überzeugend erleben, dann sind Sie erleuchtet. Schüler: Was ist dann also Mu? Ist es das Innewerden der Nicht- Unterschiedenheit ? Rôshi: Es ist ein notwendiger erster Schritt, die Nicht-Unterschieden- heit intuitiv zu erkennen. Aber es ist eine unvollständige Erkenntnis,

22. Vergleiche: «Weil ich bin, wölbt sich der Himmel, und die Erde wird gehalten. Weil ich bin, bewegen sich Sonne und Mond. Die vier Jahreszeiten folgen einander, alle Dinge werden geboren, weil ich bin, das heißt, zufolge des Bewußtseins.» (EISAI ZENJI im Kôzen Gokoku-Ron.)

176 wenn sie nicht darüber hinausgeht. Wenn Sie Ihr Wahres Wesen geschaut haben werden - also Erleuchtung gefunden haben -, werden Sie alle Dinge als vorübergehende Phänomene ansehen, die endloser Wandlung unterworfen sind, aber Sie werden sie im und durch den Aspekt der Gleichheit sehen. Dann verstehen Sie, daß es ohne Nicht- Unterschiedenheit keine individuellen Existenzen geben kann. Was ich hier sage, kann ich mit diesem Fächer anschaulich machen. Eine Seite hat viele Streifen, wie Sie sehen; die andere ist rein weiß. Die weiße Seite kann man die Nicht-Unterschiedenheit nennen, die gestreifte die der Unterschiedenheit. Was die Streifen als Streifen erscheinen läßt, ist die weiße oder nicht-unterschiedene Seite des Fächers. Und umgekehrt sind es die Streifen, die die weiße Seite sinn- voll machen. Das sind zwei Aspekte des Einen. Während nun der Aspekt der Unterschiedenheit unaufhörlichen Wandlungen unterwor- fen ist, ist das, was nicht unterschieden ist, unwandelbar. Da Sie ein philosophisch gesinnter Mensch sind, halte ich es auf dieser Stufe für besser für Sie, wenn Sie über das, was ich gerade gesagt habe, nachsinnen, bis Sie plötzlich Ihres Wahren Wesens innewerden. Ist das klar? Das wird von nun an Ihre Übung sein.

Schülerin D (40 Jahre alt)

Schülerin: Ich übe Shikantaza. Rôshi: Ich habe gestern abend bemerkt, wie Sie dasaßen, die Hände im Schoß zusammengepreßt, und sich sehr anstrengten. Bei Shikan- taz'a ist es unnötig, sich anzustrengen. Schülerin: Alle um mich herum strengten sich an und quälten sich ab, und da dachte ich, ich müßte das auch tun. Rôshi: Die meisten von ihnen sind Anfänger, die an ihrem ersten Kôan arbeiten. Wenn sie sich nicht anstrengen, verliert sich jede Kon- zentrationskraft, die sie entwickeln, schnell wieder, und so mühen sie sich ab, sie aufrechtzuerhalten. Es ist wie beim Schreibenlernen der chinesischen Schriftzeichen. Anfangs muß man sich gewaltig anstren- gen, wenn man mühevoll die Schriftzeichen malt. Aber später, wenn

177 man gelernt hat, wie man es macht, kann man sie natürlich mühelos schreiben. Sie haben Erfahrung im Zazen; Sie brauchen sich also nicht dermaßen anzustrengen. Schülerin: Ich muß zugeben, daß zuweilen meine Konzentration gut ist, ohne daß ich mich dazu zwinge. Aber ist es für Satori nicht erfor- derlich, Zazen mit aller Kraft zu üben? Rôshi: Man übt Shikantaza im Glauben, daß solch ein Zazen selbst die Verwirklichung des eigenen reinen Buddha-Wesens ist. Daher ist es unnötig, im Bewußtsein seiner selbst um Satori zu ringen23. Sie müssen wachsamen und gleichzeitig gelassenen Geistes sitzen und ohne ein Gefühl der Eile. Der Geist muß wie eine gut gestimmte Kla- viersaite sein: gespannt, aber nicht überspannt. Denken Sie auch daran, daß Sie bei einem Sesshin durch das gemeinschaftliche Sitzen von allen Hilfe erhalten; Sie brauchen sich also nicht abzumühen. Gestern abend beobachtete ich, daß Sie lachten und weinten. Haben Sie irgend etwas Ungewöhnliches erlebt? Schülerin: Ich war vollkommen willenlos. Es kam mir vor, als hätte ich alles zermalmt, nichts blieb übrig, und ich war froh. Rôshi: Sagen Sie, haben Sie jemals Angst vor dem Tode gehabt? Schülerin: Nein, nie. Rôshi: Menschen, die der Gedanke ans Sterben beunruhigt, werden oft durch solch ein Erlebnis, wie Sie es schilderten, von ihren Ängsten befreit. Hat sich die Art, wie Sie die Dinge ansehen, überhaupt geändert? Schülerin: Nein. Nachdem es vorüber war, fühlte ich mich nicht anders als zuvor - es tut mir leid, daß ich das sagen muß (sie lächelt gezwungen). Rôshi: Verschwand das Gefühl des Gegensatzes, das Gefühl, daß Sie einer äußeren Welt gegenüberstehen, überhaupt, wenn auch nur für einen Moment? Schülerin: Ich hatte nur das Gefühl eines ungeheuer freudigen Geho- benseins, weil ich spürte, daß alles auf nichts reduziert worden war. Rôshi: Und danach kehrte Ihre frühere Geistesverfassung zurück?

23. Vergleiche «Erleuchtung und Übung sind eins.» DÔGEN

178 Schülerin: Ja. Rôshi: Also gut, sitzen Sie einfach fleißig, ohne sich anzustrengen.

Schüler E (44 Jahre alt)

Schüler: Ich übe Shikantaza. Rôshi: Möchten Sie irgend etwas sagen oder fragen? Schüler: Ja. Als ich von einem bestimmten Mahner geschlagen wurde, war meine Reaktion höchst widrig. Ich hatte das Gefühl, daß er es in sadistischer Weise genoß, mich zu schlagen, und so konnte ich meine Hände nicht in Dankbarkeit zu ihm erheben wie zu den anderen. Ich möchte deshalb darum ersuchen, daß ich bei diesem Sesshin nicht mehr von ihm geschlagen werde. Es macht mir nichts aus, von den anderen geschlagen zu werden, da ihre Hiebe anspor- nend und ermutigend sind. Wenn mich aber dieser Mensch schlägt, ist die Wirkung gerade umgekehrt. Rôshi: Wenn Sie geschlagen werden, sollten Sie nicht denken: «So- und-So hat mich auf diese oder jene Weise geschlagen». Sie sollten auch nicht versuchen, Ihre Reaktion zu bewerten. Erheben Sie ledig- lich Ihre Hände in Dankbarkeit, die Handflächen gegeneinanderge- legt. Es gibt viele Menschen, die es als unangenehm empfinden, geschlagen zu werden, und die nicht gut Zazen üben können, wenn man sie schlägt. Wenn sie darum ansuchen, wird über ihrem Sitzplatz ein Zeichen angebracht, das besagt, daß sie nicht geschlagen werden sollen. Das läßt sich auch bei Ihnen tun, wenn Sie es wünschen. Schüler: Es macht mir nichts aus, von den anderen geschlagen zu werden. Um meine Reaktion zu prüfen, gab ich einem anderen Mah- ner ein Zeichen, mich zu schlagen. Als er es tat, erlebte ich keine solch widrige Reaktion wie bei jenem bestimmten Menschen. Ja, es fiel mir leicht, meine Hände, Handfläche gegen Handfläche, zu ihm zu erhe- ben. Aber mit dem anderen war es ganz anders. Rôshi: Natürlich sollten die Mahner darauf achten, daß sie nur auf den weichen Teil der Schulter schlagen und nicht auf den Knochen. Da es jetzt Sommer ist, sollten sie nicht zu heftig schlagen, da alle leichte

179 Kleidung tragen. Als wir gestern neue Stäbe machen ließen, haben wir sie sogar eigens aus Weichholz machen lassen, damit sie nicht weh tun. Aber man kann natürlich zu heftig geschlagen werden. Schüler: Ich kann mir nur denken, daß meine Reaktion eine Art Makyô war. Natürlich werde ich alles tun, was Sie empfehlen. Aber ich dachte, ich sollte es Ihnen sagen. Rôshi: Wichtig ist nur, daß man daraus kein Problem macht.

Schüler: Ich übe, wie Sie mich angewiesen haben. Ich habe keine Fragen. Ich komme nur, weil es mein letztes Dokusan ist und ich Ihnen für Ihre Güte danken wollte. Rôshi: Auch wenn Sie keine Fragen haben, ist es gut, zum Dokusan zu kommen, und zwar aus diesem Grunde: Wenn man allein sitzt, neigt man dazu, nachlässig zu werden. Es strafft Ihr Üben, wenn Sie hier vor mir erscheinen, und Sie können mit größerer Energie und Entschlossenheit wieder darangehen.

Schülerin F (45 Jahre alt)

Schülerin: Wenn ich hier vor Ihnen erscheine, bin ich ganz ver- krampft. Ich möchte wohl wissen, was ich falsch mache. Rôshi: Das ist Sache der geistigen Einstellung. Denken Sie beim Zazen nicht über sich nach, und machen Sie sich keine Sorgen um sich. Üben Sie einfach mit ruhigem, tief konzentriertem Geist ohne besondere Anstrengung. Dann wird Ihre Gespanntheit weichen, und Sie werden sich entspannt fühlen. Können Sie Shikantaza gut üben? Schülerin: Nein, ganz und gar nicht gut. Rôshi: In diesem Falle sollten Sie auf die Übung, bei der Sie dem Atem folgen, zurückgehen, bis Sie das gut machen können. Danach können Sie auf Shikantaza zurückkommen. Schülerin: Das habe ich versucht, aber es war zu schmerzhaft. Ich hatte beträchtliche Schmerzen in der Brust, als ich das tat. Wissen Sie, ich hatte jahrelang Atembeschwerden.

180 Rôshi: Also greifen Sie darauf zurück, Ihre Atemzüge zu zählen. Können Sie das ohne Schwierigkeiten machen? Schülerin: Ja, ich glaube. Rôshi: Wenn Sie sich auf diese Übung ohne Schmerzen oder Unbeha- gen konzentrieren können, dann versuchen Sie es mit der Übung, bei der Sie Ihrem Atem folgen. Wenn Sie das gemeistert haben, kehren Sie zu Shikantaza zurück. Schülerin: Würden Sie mir bitte nochmals sagen, wie ich die Atem- züge zählen oder dem Atem folgen soll? Rôshi: Es gibt verschiedene Arten, die Atemzüge zu zählen, wie ich bereits erklärt habe, aber die beste Art ist folgende: Beim ersten Aus- atmen zählen Sie «eins», beim zweiten Ausatmen «zwei» und so fort bis zehn. Dann gehen Sie auf eins zurück und zählen wieder bis zehn. Wann immer Sie den Faden verlieren, gehen Sie auf eins zurück und fangen wieder von vorn an. Man folgt dem Atem auf diese Weise: Sie versuchen, sich den einzie- henden Atem mit dem geistigen Auge anschaulich sichtbar zu machen, und dann versuchen Sie, sich den ausströmenden Atem zu veranschau- lichen. Das ist das Ganze.

Schülerin: Gestern abend haben Sie zu uns allen gesagt: «Wenn Sie zu Bett gehen, fahren Sie fort, Ihre Atemzüge zu zählen, - diejenigen von Ihnen, die die Atemzüge zählen, und so wird das Zählen in Ihrem Unterbewußtsein weitergehen.» Ich merke jedoch, daß ich das Zählen naturgemäß vergesse, wenn meine Atmung rhythmisch ist, und wenn sie es nicht ist, dann muß ich die Atemzüge zählen, um sie wieder in einen harmonischen Rhythmus zu bringen. Soll ich selbst dann fortfahren zu zählen, wenn es für mich viel natürlicher ist, damit aufzuhören? Rôshi: Fahren Sie mit dem Zählen fort, wenn Sie zu Bett gehen, und Sie werden ganz natürlich einschlafen. Aber es ist kein natürlicher Geisteszustand, Atemzüge zu zählen. Es ist nur der erste Schritt zur Sammlung des Geistes. Der nächste Schritt ist, dem Atem zu folgen, also jedes Einatmen und jedes Ausatmen klar zu sehen. Das ist

181 schwieriger, da Sie nicht mehr das Zählen als Anhaltspunkt haben, auf das Sie zurückgreifen können, wenn Ihr Geist abzuirren beginnt. Die Absicht ist, Ihren Geist durch allmählich gesteigerte Konzentra- tion zur Sammlung zu bringen, bis Sie jenen Punkt erreichen, da Sie Shikantaza üben können, was, wie Sie wissen, weder Zählen noch Verfolgen der Atemzüge einschließt. Es ist die reinste Form des Zazen, und die Atmung ist dabei ganz natürlich. Aber Shikantaza ist auch das schwierigste Zazen, da man dabei keinerlei Krücken mehr hat, auf die man sich stützen kann. Wenn Ihre Übungsweise gereift und Ihre Konzentration einigermaßen stark ist, dann können Sie damit beginnen. Wenn Sie den Bildern von Buddha im Nirvana sorgfältige Beachtung schenken, so werden Sie sehen, daß er auf der rechten Seite ruht, eine Hand unter dem Kopf, die Gliedmassen geschlossen beisammen. Das ist die beste Stellung zum Schlafen. Wichtig ist, sich beim Zu-Bett- Gehen nicht mit einem Seufzer der Erleichterung hinzulegen mit dem Ausruf: «Ach, ich bin froh, daß der Tag vorbei ist; jetzt kann ich das ganze Zazen vergessen!» Das ist eine falsche Einstellung. Um noch direkt auf Ihre Frage zu antworten: Sie brauchen mit dem Zählen nicht fortzufahren, wenn Sie sich ohne das konzentrieren können. Schülerin: Ich fürchte, ich habe mich nicht klar ausgedrückt. Was ich meine, ist dies: Wenn mein Atem rhythmisch wird, vergesse ich zu zählen. Ist es richtig, es dann zu lassen? Rôshi: Ja. In ähnlicher Weise verfolgen Sie Ihren Atem nur so lange, wie es für Sie nötig ist. Danach üben Sie reines Shikantaza. Das schließt weder ein Zählen, noch ein Verfolgen der Atemzüge ein, son- dern nur die natürliche Atmung.

Schüler G (25 Jahre alt)

Schüler: Worin besteht die Beziehung zwischen Zazen und den Geboten? Ich möchte das gern besser verstehen. Rôshi: Buddhistische Lehren und Übungen haben, der Sekte ungeach- tet, drei Grundzüge gemeinsam: kai oder die Gebote; jo oder Zazen

182 und e oder Satori-Weisheit. Im Bommo-Sûtra wird die Beziehung die- ser drei zueinander erklärt. Die Gebote werden mit den Fundamenten eines Hauses verglichen. Bei unrichtiger Lebensweise, durch die man Unrast und Verwirrung bei sich und anderen schafft, werden die Grundlagen unserer Bemühungen um geistige Erkenntnis untergraben. Zazen stellt den Lebensraum, die Räumlichkeiten dar. Es ist der Ort, da man Ruhe findet. Satori-Weisheit ist Ausstattung und Hausrat vergleichbar. Die drei stehen in Wechselbeziehung zueinander. Beim Zazen beobachtet man naturgemäß die Gebote, und durch Zazen gelangt man zur Satori-Weisheit. So sind also alle Aspekte des Buddhismus in diesen drei Dingen inbegriffen.

Schüler: Ehe ich herkam, übte ich Shikantaza - zumindest glaube ich, daß es das war. Würden Sie mir bitte sagen, was Shikantaza ist? Rôshi: Wenn Sie zum nächsten Sesshin kommen und die allgemeinen Unterweisungen alle hören, werden Sie die Einzelheiten über Shikan- taza erfahren. Einstweilen will ich Ihnen hier schon einiges darüber sagen. Shikantaza ist die reinste Form des Zazen, die Übung, auf die die Sôtô-Sekte Nachdruck legt. Die Atemzüge zu zählen und dem Atem zu folgen, das sind zweckdienliche Hilfsmittel. Wer nicht gut gehen kann, braucht Stützen, und all die anderen Methoden stellen solche Stützen dar. Schließlich aber müssen Sie darauf verzichten und ein- fach laufen. Shikantaza ist jenes Zazen, bei dem Sie geistig nichts mehr zum Anlehnen haben und allein vom Sitzen in Anspruch genom- men werden. Daher ist es eine schwierige Übung. Wenn Sie die Atem- züge zählen oder ihnen mit Ihrem geistigen Auge folgen, merken Sie gleich, wenn Sie es nicht richtig machen. Beim Shikantaza aber läßt man leicht nach, da man keinen Maßstab mehr hat, mit dem man sich überprüfen kann. Die Art des Sitzens ist bei Shikantaza von höchster Wichtigkeit. Der Rücken muß absolut gerade aufgerichtet sein, der Körper gespannt, aber nicht überspannt. Der Schwerpunkt soll gerade unterhalb des Nabels liegen. Wenn Sie können, sitzen Sie mit zum halben oder gan-

183 zen Lotussitz verschränkten Beinen. Dadurch werden Sie vollkom- mene Stabilität und Balance erreichen und auch die Würde und Hoheit eines Buddha haben.

Schüler: Wie kann man sein Selbst-Wesen verwirklichen? Ich weiß so wenig darüber. Rôshi: Vor allem müssen Sie davon überzeugt sein, daß Sie es können. Die Überzeugung schafft Entschlossenheit und die Entschlossenheit Eifer. Wenn Ihnen aber diese Überzeugung schon von vornherein fehlt, wenn Sie denken: Vielleicht kann ich es erreichen, vielleicht auch nicht, oder was noch schlimmer ist: Das liegt jenseits meiner Möglichkeiten, so werden Sie nie zu Ihrem Wahren Wesen erwachen, wie oft Sie auch zu Sesshin kommen und wie lange Sie auch Zazen üben mögen.

Schüler: Worin liegt der Unterschied zwischen Kôan-Zazen und Shi- kantaza? Rôshi: Kôan-Zazen hat zwei Ziele: Satori und dessen Verwirkli- chung in Ihrem alltäglichen Leben. Kôans sind wie Süßigkeiten, um ein widerwilliges Kind zu überreden. Shikantaza andererseits muß man fünf, zehn und mehr Jahre hindurch auf sich selbst gestellt üben, da es keine solchen Ermunterungen gibt. Beim Shikantaza gibt es kein absichtsvolles Ringen um Satori, da Sie dabei in der Überzeu- gung sitzen, daß Ihr essentielles Wesen von dem des Buddha nicht verschieden ist. Sie müssen jedoch daran glauben, daß Ihr Sitzen eines Tages in Satori einmünden wird. Beim Kôan-Zazen wird Ihnen durch die Erleuchtung klar, daß Zazen, wenn es recht geübt wird, die Verwirklichung des Buddha-Wesens ist. In dieser Hinsicht läuft es auf das Gleiche hinaus wie Shikantaza - das heißt, wenn Shikantaza in der Erleuchtung kulminiert. Bei Shikantaza muß Ihre Konzentration von absoluter Ausschließlich- keit sein. Ihre Aufmerksamkeit muß gleich der eines Menschen, der ein Gewehr in Anschlag bringt, scharf auf den Zielpunkt gerichtet

184 sein, ohne daß sich irgendein abliegender Gedanke dazwischenschiebt. Die geringste Abweichung wäre verhängnisvoll. Schüler: Sie haben soeben gesagt, daß zu Shikantaza tadellose Kon- zentration und rechte Sitzhaltung gehören. Das ist auch beim Yoga so. Gibt es dabei also keinen Unterschied? Rôshi: Ich weiß nicht viel über Yoga. Ich höre, daß das Ziel von Yoga, wie es heutzutage allgemein geübt wird, die Entwicklung kör- perlicher und geistiger Gesundheit ist, oder auch dem Erreichen eines langen Lebens gilt, und daß es verschiedene Körperstellungen gibt, die dazu dienen, zu diesen Zielen zu gelangen. Zweifellos gehört zu den höheren Formen des Yoga auch Erleuchtung dieser oder jener Art. Aber diese Erleuchtung ist notwendigerweise anders als buddhi- stische Erleuchtung. Der Unterschied liegt vor allem im Ziel. Bei Shikantaza ringen Sie nicht im Bewußtsein Ihrer selbst um Satori. Sie üben vielmehr Zazen in dem unerschütterlichen Glauben, daß Ihr Zazen die Vergegenwärtigung Ihres makellosen Ursprünglichen Gei- stes ist und daß Sie eines Tages das Wesen dieses Buddha-Geistes unmittelbar gewahren werden.

Rôshi: Können Sie die Atemzüge gut zählen? Schüler: Ich kann es, aber ich weiß nicht, wie gut. Was meinen Sie mit «gut»? Rôshi: Es gut machen heißt, daß man beim Zählen von jeder Zahl einen klaren und deutlichen Eindruck hat. Außerdem heißt es, daß man nicht aus dem Text kommt. Schüler: Ich kann es, ohne aus dem Text zu kommen, aber es ist nicht immer deutlich. Rôshi: Am Anfang ist es schwer, da man die Neigung hat, es mecha- nisch zu tun. Sie müssen sich ganz und gar in das Zählen versenken. Ich kenne einen Mann, der das Rechnen mit dem Rechenbrett lehrt. Er ist ein Experte darin, aber es fällt ihm schwer, die Atemzüge gut zu zählen. Wenn Sie sich dieser Übung mit Energie und Hingabe widmen, werden Sie sie allmählich mühelos tun können.

185 Schüler: Ich zähle die Atemzüge. Rôshi: Sind Sie imstande, mit Klarheit und Genauigkeit zu zählen? Schüler: Nein, das kann ich nicht. Ich möchte Sie fragen, ob ich die Atemzüge zählen und zu gleicher Zeit Shikantaza üben kann. Rôshi: Nein, das können Sie nicht. Sie können höchstens während der halben Sitzdauer die Atemzüge zählen und während der anderen Hälfte Shikantaza üben, aber Sie können nicht beides gleichzeitig tun. Schüler: Eben das habe ich versucht - ohne Erfolg, muß ich hinzu- fügen. Ich habe auch versucht, bloß meine Atemzüge zu zählen, aber ich konnte nicht einmal das tun. Rôshi: Sie dürfen nicht geistesabwesend zählen, als seien Sie halb betäubt. Sie müssen sich mit ganzer Seele hineinlegen. Sie müssen jede Zahl klar und scharf sehen. Haben Sie manchmal den Faden ver- loren? Schüler: Ja. Vielleicht liegt die Schwierigkeit für mich darin, daß ich die Verbindung zwischen dem Zählen der Atemzüge und dem Buddhismus nicht sehe. Rôshi: Zweck des Zählens der Atemzüge ist es, die unaufhörlichen Gedankenwogen zu glätten, die durch lang geübte, hartnäckige Denk- gewohnheiten in Bewegung gesetzt wurden. Wenn sie zur Ruhe kom- men, so wird der Geist auf einen Punkt gesammelt, und wir können dann unseres Unmittelbaren Wesens innewerden. Das Zählen der Atemzüge ist ein notwendiger erster Schritt. Eine andere Methode ist es, sich anhaltend zu fragen «Was ist mein Wahres Wesen?» oder «Wo ist mein Wahres Wesen?». Aber solange Sie nicht die feste Überzegung haben, daß Sie auf diese Weise Ihr Wahres Wesen entdecken können, wird Ihr Üben auf eine bloß mechanische Wiederholung herabsinken, und Ihre Mühe wird vergeudet sein. Sie haben gesagt, daß Sie die Verbindung zwischen dem Zählen der Atemzüge und dem Buddhismus nicht sehen können. Der Buddha lehrte, daß wir nur durch unmittelbares Innewerden unseres Selbst- Wesens wirklich wissen können, wer und was wir sind. Die zugrunde- liegende Lauterkeit und Klarheit des Geistes wird von unaufhörlich darin auf- und niederwogenden Gedankenwellen verdeckt. Die Folge ist, daß wir uns irrigerweise für individuelle Existenzen halten, die

186 von einem Weltall der Vielheit konfrontiert werden. Zazen ist ein Mittel, diese Wogen zu glätten, so daß unsere innere Schau genau auf den Brennpunkt gerichtet wird. Das Zählen der Atemzüge ist eine Art des Zazen.

Schüler: Sie haben mir gesagt, ich solle mit mehr Energie sitzen. Das habe ich versucht, aber ich kann mich nicht länger als fünfzehn Minu- ten konzentrieren; dann beginnen meine Gedanken zu wandern. Am Ende des letzten Sesshin konnte ich mich ziemlich gut konzentrieren, aber als ich allein saß, war ich zerstreut und konnte mich um alles in der Welt nicht konzentrieren. Rôshi: Es ist schwierig, allein zu sitzen, besonders wenn man erst angefangen hat. Deshalb haben wir Sesshin. Gemeinschaftliches Zazen ist leichter, denn man hat dabei gegenseitige Hilfe und Unterstützung. Wenn Sie Zazen üben und nicht nur Vorträge darüber hören, bekom- men Sie zum ersten Mal einen Geschmack von Zen. Durch diese Erfahrung kommen Sie zu wahrem Verständnis Ihrer selbst. Sitzen Sie also hingebungsvoll. Ihre Konzentration wird besser werden, und Sie werden sich geistig und körperlich wohler fühlen.

Schüler: Ich möchte Sie noch einmal etwas über die Atmung fragen. Sie haben mir erklärt, wie ich die Atemzüge zählen soll, aber Sie haben mir bisher noch nicht erklärt, wie ich ihnen folgen soll. Wür- den Sie das bitte tun? Rôshi: Wenn Sie das Zählen der Atemzüge aufgeben, dann ist der nächste Schritt, ihnen zu folgen. Dabei folgen Sie einfach jeder Ein- atmung mit Ihrem geistigen Auge, ohne sich von Ihrer Aufmerksam- keit ablenken zu lassen. Wenn Sie ausatmen, tun Sie das Gleiche. Das ist das Ganze. Schüler: Und wie steht es mit dem Magen? Soll er sich aus- und ein- bewegen? Ich habe gehört, daß der Magen sich aus- und einbewegen soll, anstatt auf und ab. Rôshi: Natürlich gibt es mancherlei Atemtechniken. Was Sie beschrei-

187 ben, ist, glaube ich, die Atemweise bei bestimmten Yoga-Arten. Das mag befriedigend sein, aber es ist nicht die Atemweise, die man hier befürwortet. Sie sollten stets Ihre Aufmerksamkeit auf die Stelle unterhalb des Nabels konzentrieren. Ihr Geist ist an der Stelle, auf die Sie Ihre Aufmerksamkeit richten. Wenn Sie sich auf Ihren Finger konzentrieren, ist Ihr Geist im Finger, wenn auf Ihr Bein, so ist er dort. Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Stelle unterhalb des Nabels konzentrieren, wird Ihre Lebenskraft allmählich an eben jener Stelle stabilisiert. Fühlen Sie hier (zeigt auf seinen Unterleib). (Der Schüler legt seine Hand auf die vom Rôshi bezeichnete Stelle.) Wenn ich dort Druck gebe, fühlt es sich hart an, nicht wahr? Schüler: Ja, allerdings! Rôshi: Wenn Sie lange Zeit hindurch Ihre Aufmerksamkeit auf diese Stelle konzentrieren, setzt sich Ihre Kraft dort mühelos und natürlich fest, weil der Schwerpunkt nicht mehr im Bereich von Kopf und Schultern sitzt, und Sie können nach Belieben Druck auf diese Stelle ausüben. Da wir dann nach unten verankert sind, werden wir nicht ärgerlich und regen uns nicht auf. Unsere Gedanken und Gefühle ste- hen unter natürlicher Kontrolle. Schüler: Ich habe noch eine Frage. Stimmt es, daß das Gehen bei der Sôtô-Sekte in Harmonie mit dem Atem steht? Rôshi: Ja. Bei einer vollständigen Ein- und Ausatmung bewegt man den linken Fuß um etwa die halbe Länge des rechten vor und beim nächsten Atemzug den rechten Fuß um die halbe Länge des linken. Nach der Rinzai-Art geht man sehr schnell. Schüler: Aber bei diesem Sesshin scheint die Art und Weise etwa in der Mitte zwischen der von Sôtô und Rinzai zu liegen. Rôshi: Das stimmt. Hier wenden wir die Methode meines Lehrers HARADA Rôshi an, der beide vereinte, nachdem er eine ausgiebige Schulung im Rinzai durchgemacht hatte, während er doch der Sôtô- Sekte angehörte.

188 Rôshi: Haben Sie eine Frage? Schüler: Ich kann nur sagen, daß ich ganz verwirrt bin. Rôshi: Worin besteht Ihre Verwirrung? Schüler: Ich sehe keine Verbindung zwischen dem Zählen der Atem- züge und Shikantaza. Rôshi: Das sind zwei ganz verschiedene Dinge; warum eine Verbin- dung suchen? Liegt Ihre Schwierigkeit vielleicht darin, daß Sie das Zählen der Atemzüge zu mechanisch und uninteressant finden? Schüler: Ja, ich glaube, das ist es. Rôshi: Es geht vielen so. Anstatt die Atemzüge zu zählen oder Shi- kantaza zu üben, dürfte es besser für Sie sein, über eine Frage wie «Was bin ich?» oder «Woher komme ich?» oder auch «Der Buddhis- mus lehrt, daß wir alle von Natur vollkommen sind; in welcher Weise bin ich vollkommen?» nachzusinnen. In der Zen-Sprache heißt das für all solche Fragen: Honrai-no Memmoku, also «Was ist mein Ur-Angesicht?» Schüler: Ist das ein Kôan? Rôshi: Ja. Hören Sie von jetzt an mit dem Zählen der Atemzüge auf, und widmen Sie sich ernsthaft diesem Kôan.

Rôshi: Haben Sie eine Frage? Schüler: Ich habe keine Frage, aber ich möchte Ihnen etwas berichten. Gestern abend sagte ich mir: «Glücklicherweise muß ich nicht um Erleuchtung ringen, da ich schon erleuchtet bin.» Rôshi: Es ist zwar wahr, daß Sie von Natur ein Buddha sind; aber ehe Sie nicht Ihres Buddha-Wesens konkret innegeworden sind, spre- chen Sie in geborgten Phrasen, wenn Sie über Erleuchtung reden. Zweck Ihrer Übungen ist es, Sie zu dieser Erfahrung zu bringen. Schüler: Ich würde gern nur mit dem Gefühl echter Dankbarkeit sit- zen, ohne über ein Kôan nachdenken zu müssen. Rôshi: Also gut, versuchen Sie, in Shikantaza zu sitzen. Wenn Sie das voller Aufrichtigkeit tun, werden Sie dieses Gefühl der Dankbarkeit erleben. Es ist eine Tatsache, daß eine allmähliche Entfaltung Ihres Buddha-Herzens stattfindet, wenn Sie in der Lotushaltung sitzen, wie

189 der Buddha saß, und sich zielstrebig konzentrieren. Das ist Ausdruck des lebendigen Buddhismus, aus dem wahre Dankbarkeit erwächst. Obgleich Sie kein Verlangen nach Erleuchtung haben, werden Sie zudem durch ernstes und eifriges Sitzen Ihre Konzentrationskräfte entwickeln und Kontrolle über Gedanken und Gefühle gewinnen, mit dem Ergebnis, daß sich Ihre körperliche und geistige Gesundheit beträchtlich bessert.

Schüler: Ehe ich zu diesem Tempel kam, dachte ich immer: «Wenn ich zu einem Sesshin gehe und Zazen übe, werde ich gutes Karma anhäufen.» Jetzt, da ich hier bin, sehe ich nicht, wodurch ich irgend- ein Verdienst erwerbe. Rôshi: Ob Sie sich dessen bewußt sind oder nicht, so schaffen Sie doch gutes Karma in all der Zeit, die Sie hier sind. Das Sitzen schließt die drei Grundlagen des Buddhismus ein, nämlich die Gebote, die Kraft der Konzentration und Satori-Weisheit. Es wird natürlich offenbar, wie sich die Konzentration bessert und geistige Standhaftigkeit sich entwickelt. Es mag für Sie jedoch weniger offensichtlich sein, wie all- mählich Ihr Auge wahrer Weisheit geöffnet wird, während Ihr im Grunde reines Wesen von Verblendung und Unreinheit geläutert wird, wenn Sie voller Aufrichtigkeit und von ganzem Herzen sitzen. Was nun die Gebote betrifft, so können Sie beim Zazen klarerweise weder töten, noch stehlen oder lügen. Doch das Halten der Gebote ist in noch tiefgründigerem Sinn im Zazen verankert; durch Zazen befreien Sie sich nämlich nach und nach von jenem Grund-Irrtum, der die Menschen dazu führt, Böses zu tun, und zwar von der ver- blendeten Vorstellung, daß die Welt und man selbst getrennt und ver- schieden seien. Solche Zweigeteiltheit gibt es von Natur aus nicht. Die Welt befindet sich nicht außerhalb von mir - sie ist ich! Das ist die Erkenntnis Ihres Buddha-Wesens, aus der heraus sich naturgemäß und spontan das Halten der Gebote ergibt. Freilich wird all das für Sie erst dann Sinn ergeben, wenn Sie Ihr Wahres Selbst erkennend geschaut haben; ohne jenes Erlebnis ist das, was ich gerade gesagt habe, schwer zu verstehen.

190 Schüler: Nun, ich habe nicht die Absicht, auch nur zu versuchen, Erleuchtung zu finden! Rôshi: Auch das ist recht. Es lohnt sich auch, um der Stärkung der Konzentrationskraft willen zu sitzen. Schüler: Ich glaube, es ist besser, wenn ich nicht Erleuchtung suche. Rôshi: Zazen ist Ausdruck des lebendigen Buddhismus. Da Sie von Natur ein Buddha sind, ist Ihr Sitzen, wenn es inbrünstig und ziel- strebig ist, die Vergegenwärtigung Ihres Buddha-Wesens. Das ist frei- lich wahr. Schüler: Mir scheint, wir können über gar nichts uneins sein, nicht wahr? (lacht) Rôshi: Kehren Sie jetzt auf Ihren Platz zurück, und strengen Sie sich ernsthafter an.

Schüler: Können Sie mir sagen, was bei Shikantaza am wichtigsten ist? Rôshi: Ihre Sitzweise ist von größter Wichtigkeit. Der Rücken muß gerade aufgerichtet sein und der Geist gespannt - immer auf der Hut. Ein schlaffer Körper bringt einen schlaffen Geist hervor und umge- kehrt. Sie müssen geistig ganz wachsam, aber nicht allzu angespannt sein. Wenn Sie sich das von SESSHÛ gemalte Bild BODHIDHARMAS ansehen und sorgfältig die Augen betrachten, werden Sie verstehen, was ich meine. BODHIDHARMA übt Shikantaza. Für den Grad der erforderlichen Aufmerksamkeit hier ein Beispiel: Wenn Sie in einer Ecke eines Raumes Shikantaza übten und am anderen Ende würde eine Tür geräuschlos einen Zentimeter weit geöffnet, so würden Sie es augenblicklich merken.

Schüler: Das ist mein letztes Sesshin, da ich nächsten Monat in die Vereinigten Staaten zurückkehren muß. Wird es gut sein, wenn ich dort unter einem Sôtô-Priester übe? Rôshi: Ja, aber ich möchte Ihnen raten, sich nicht im Hinblick auf Satori von ihm anleiten zu lassen, wenn Sie nicht ganz sicher sind, daß er selbst erleuchtet ist. Heutzutage haben nur sehr wenige Sôtô-

191 Priester ihr Wahres Wesen schauend erkannt, und deshalb rümpfen sie die Nase über dieses Erlebnis und sagen sogar: «Warum ist Satori notwendig, wenn wir doch alle immanent erleuchtet sind, da wir den Buddha-Geist besitzen?» Aber dieses Argument ist trügerisch, da sie, ehe sie ihres Buddha-Geistes nicht unmittelbar innegeworden sind, gar nicht wirklich wissen, daß sie ihn besitzen. Schüler: Kann ich dann also meine Übungen ohne Lehrer weiter- führen? Rôshi: Ob Sie in Amerika nun gar keinen Lehrer oder nur einen mit- telmäßigen haben, so können Sie doch fortfahren, sich im Zen zu schulen, indem sie sich an das halten, was Sie in diesem Tempel hier gelernt haben. Jeder Lehrer, sogar ein nicht erleuchteter, kann Ihre Übungen überwachen. Er kann z. B. Ihre Haltung und Atmung über- prüfen und Sie auch in anderer Hinsicht anleiten. Er sollte jedoch nur dann versuchen, Satori zu beurteilen, wenn er selbst es erlebt und von seinem Lehrer die Bestätigung dafür erhalten hat. Schüler: Ach ja, das erinnert mich an etwas, was ich fragen wollte. Heute morgen haben Sie bei Ihren Darlegungen darüber gesprochen, daß es notwendig sei, daß Erleuchtung durch den Lehrer bestätigt werde, weil nur auf diese Weise rechtes Zazen weitergegeben werden könne. Das verstehe ich nicht ganz. Warum ist es nötig, daß es von jemandem beglaubigt wird? Rôshi: Von der Zeit des Buddha SHAKYAMUNI an ist der rechte Buddhismus von Lehrer zu Schüler weitergegeben worden. Wenn die Erleuchtung des Lehrers authentisch und von dessen Lehrer bestätigt worden war, war er seinerseits in der Lage, die Erleuchtung seiner eigenen Schüler zu bestätigen, wobei er sich von dem Erlebnis seiner eigenen Erleuchtung leiten ließ. Sie fragen, warum das nötig sei. Das ist vor allem erforderlich, um die Übermittlung des wahren Buddhismus von Lehrer auf Schüler zu gewährleisten. Wäre das nicht geschehen, so würde es heute kein ver- bürgtes Zazen geben. Zudem können Sie selbst in Wahrheit niemals sicher sein, daß das, was Sie für Satori halten, auch wirklich Satori ist. Bei einem ersten Erlebnis ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß man es falsch beurteilt.

192 Schüler: Aber weist sich Erleuchtung nicht selbst als echt aus? Rôshi: Nein, das geschieht nicht. Ja, es gibt sogar viele Beispiele von Menschen, die Lehrer wurden, ohne überhaupt Erleuchtung gefunden zu haben. Es ist, wie wenn jemand allein in den Bergen nach Diaman- ten suchte. Wenn er niemals einen echten Diamanten gesehen hat und er findet Glas oder Quarz oder ein anderes Mineral, so denkt er viel- leicht, er habe einen echten Diamanten gefunden. Könnte er sei- nen Fund von jemandem, der Erfahrung mit Diamanten hat, auf seine Echtheit prüfen lassen, so würde er sichergehen. Kann er das aber nicht, so kann er leicht einen Fehler machen, wenn sein Stein auch noch so hell glitzern mag. Schüler: Diese Sache mit der Übermittlung vom Buddha bis in unsere Zeit - das stimmt doch nicht wirklich, nicht wahr? Das ist ein Mythos, nicht wahr? Rôshi: Nein, es ist wirklich wahr. Schade, daß Sie es nicht glauben können.

Schülerin H (37 Jahre alt)

Schülerin: Ich bin schwanger und wahrscheinlich bis nach der Geburt meines Kindes in ein paar Monaten nicht imstande, noch irgendein Sesshin zu besuchen. Wie soll ich während meiner restlichen Schwan- gerschaft Zazen bei mir zu Hause üben? Rôshi: Konzentrieren Sie sich weiterhin auf Ihr derzeitiges Kôan. Wenn Ihnen eine Lösung kommt, legen Sie sie sozusagen zurück, wie Sie es mit den anderen Kôans gemacht haben, und greifen wieder auf Shikantaza, bis Sie erneut vor mir erscheinen. Dann können Sie demonstrieren, daß Sie den geistigen Gehalt des Kôan verstanden haben. Sitzen Sie allzeit bequem, tief versunken, doch schmiegsamen Gei- stes und ohne jede Anspannung der Bauchpartie. Das letztere ist besonders wichtig. Es ist in Japan bekannt, daß Zazen eine äußerst günstige Wirkung auf Seele und Geist der Leibesfrucht hat. Es wäre noch besser, wenn Sie ein Bild des Kannon vor sich aufstellten, wenn

193 Sie mit Zazen beginnen. So werden sich die wirksamen Kräfte dieses Bodhisattva, über die Sie nachsinnen, dem Geist des ungeborenen Kin- des einprägen.

Schülerin: Mein Kôan lautet: «Halte das entfernte Boot, das sich über das Wasser bewegt, von dort aus auf, wo du bist.» Rôshi: Demonstrieren Sie, wie Sie dieses Kôan verstehen! (Die Schülerin demonstriert es.) Das ist gut, aber versuchen Sie es auf diese Weise (demonstriert es). Verstehen Sie den geistigen Gehalt dieses Kôans? Schülerin: Ja, das Boot und ich sind nicht zwei. Rôshi: Das stimmt. Wenn Sie mit dem Boot eins werden, hört es auf, ein Problem für Sie zu sein. Das Gleiche gilt für Ihr alltägliches Leben. Wenn Sie sich von den Gegebenheiten Ihres Lebens nicht distanzieren, leben Sie ohne Angst. Im Sommer passen Sie sich der Hitze an und im Winter der Kälte. Wenn Sie reich sind, so leben Sie das Leben einer Reichen; sind Sie arm, so leben Sie mit Ihrer Armut. Sollten Sie in den Himmel kommen, so würden Sie ein Engel sein; müßten Sie in die Hölle fahren, so würden Sie ein Teufel werden. In Japan leben Sie wie eine Japanerin und in Kanada wie eine Kanadierin. Wenn man so lebt, ist das Leben kein Problem. Tiere haben diese Anpassungsfähigkeit in hohem Maße. Menschen besitzen sie eben- falls; da sie aber meinen, sie seien dieses oder jenes, da sie sich Vor- stellungen und Begriffe von dem bilden, was sie sein sollten, oder wie sie leben sollten, liegen sie mit sich und ihrer Umwelt ständig im Kampf. Zweck dieses Kôan ist es also, Sie zu lehren, mit jedem Aspekt Ihres Lebens eins zu sein.

Schüler I (30 Jahre alt)

Rôshi: Das ist Ihr erstes Sesshin, nicht wahr? Schüler: Ja. Rôshi: Warum möchten Sie Zazen üben?

194 Schüler: Ich möchte den Sinn des menschlichen Lebens erkennen, wis- sen, warum wir geboren werden und warum wir sterben. Rôshi: Das ist ein ausgezeichneter Beweggrund. Es gibt verschiedene Wege zur Lösung dieses Problems. Ehe ich darauf eingehe, lassen Sie mich jedoch erklären, was Kenshô ist. Es bedeutet das Schauen Ihres Wahren Wesens, das unmittelbare Erkennen, daß Sie und das Weltall im Grunde Eins sind. Wenn Sie dessen einmal innegeworden sind, dann werden Sie bis in Ihre Eingeweide hinein den Sinn des mensch- lichen Daseins erkennen und dadurch jenen Seelenfrieden finden, wie er aus solch einer umwälzenden Einsicht erwächst. Der Weg zu solchem Wissen ist Zazen. Wie Sie wissen, gibt es viele Übungsweisen. Sie haben Ihre Atemzüge gezählt, Sie sind dem Atem gefolgt und haben Shikantaza geübt. Es ist möglich, allein durch diese Übungen zum Satori-Erwachen zu kommen, aber der schnellste Weg ist: durch ein Kôan. In alten Zeiten gab es noch kein Kôan-System, und dennoch gelang- ten viele zur Selbst-Wesensschau. Aber es war schwer und dauerte lange. Vor etwa tausend Jahren begann man, Kôans anzuwenden, und hält es damit bis heute so. Eines der besten Kôans ist Mu, weil es das einfachste ist. Dies hier ist seine Vorgeschichte: Ein Mönch kam zu JÔSHÛ, der vor Jahrhunderten als berühmter Zen- Meister in China lebte, und fragte: «Hat ein Hund Buddha-Wesen oder nicht?» JÔSHÛ versetzte: «Mu!» Wörtlich übersetzt bedeutet das «nein» oder «nicht», aber die Bedeutung von JÔSHÛS Antwort liegt nicht hierin. Mu ist der Ausdruck des lebendigen, wirkenden, dynami- schen Buddha-Wesens. Was Sie also tun sollen, besteht darin, daß Sie Geist und innerstes Wesen dieses Mu entdecken, nicht durch intellek- tuelle Analysen, sondern indem Sie in Ihrem tiefsten Sein danach for- schen. Dann müssen Sie vor mir demonstrieren, konkret und anschau- lich und ohne Rückhalt an begrifflichen Vorstellungen, Theorien und abstrakten Erklärungen, daß Sie Mu als lebendige Wahrheit begriffen haben. Denken Sie daran: Sie können Mu nicht mit Hilfe gewöhnli- cher Kenntnisse begreifen; Sie müssen es mit Ihrem gesamten Sein unmittelbar erfassen. Sie üben also folgendermaßen: Wenn möglich sitzen Sie in voller

195 oder halber Lotushaltung. Wenn Sie weder Voll- noch Halb-Lotus sitzen können, so kreuzen Sie die Beine auf bequemste Weise. Ist Ihnen sogar das Kreuzen der Beine unmöglich, so benutzen Sie einen Stuhl. Ihr Rücken muß gerade aufgerichtet sein. Nachdem Sie ein paarmal tief Atem geholt haben, wiegen Sie Ihren Körper hin und her, zuerst in großen, dann in immer kleineren Bögen, bis der Körper auf der Mittelachse zur Ruhe kommt. Danach atmen Sie ganz natür- lich. Nun sind Sie bereit, mit Zazen zu beginnen. Vor allem wieder- holen Sie also das Wort «Mu», nicht hörbar, sondern im Geiste. Kon- zentrieren Sie sich darauf, eins mit Mu zu werden. Denken Sie nicht über seine Bedeutung nach. Ich wiederhole: Konzentrieren Sie sich einfach mit ganzem Herzen darauf, eins mit Mu zu werden. Zuerst werden Ihre Anstrengungen nur mechanisch sein, aber das ist unver- meidlich. Nach und nach wird jedoch alles an Ihnen einbezogen werden. Da der menschliche Geist von Kindheit an gewöhnt ist, nach außen zu wirken, so wie die Strahlen einer Glühbirne, die fächerförmig nach außen dringen, muß jetzt Ihr erstes Ziel sein, Ihren Geist in einen Brennpunkt zu sammeln. Erst wenn Sie fähig sind, sich auf Mu zu konzentrieren, fragen Sie sich: «Was ist Mu? Was kann es nur sein?» Sie müssen diese Frage geradezu von Ihren Eingeweiden her stellen. Wenn die Fragestellung jenen Punkt erreicht, da sie Sie wie ein Schraubstock umklammert hält, so daß Sie an gar nichts anderes mehr denken können, dann werden Sie plötzlich Ihres Wah- ren Wesens innewerden und ausrufen: «Ach, jetzt weiß ich es!» Durch echte Erleuchtung wird das Problem des Leidens und Ster- bens gelöst.

Rôshi: Möchten Sie irgend etwas sagen? Schüler: Ja. Als für uns alle die Glocke zum Aufstehen und Herum- gehen erklang, begann eine alte Frau zu schluchzen. Ich weiß nicht warum; aber der Mahner fing an, sie mit dem Kyosaku heftig zu schlagen. In dem Augenblick mußte ich plötzlich an den Sinn des Lebens denken und warum Menschen leiden. Ohne zu wissen, wie

196 mir geschah, fing auch ich an zu weinen, und dann strömten die Trä- nen nur so. Seit ich ein siebenjähriges Kind war, habe ich nicht mehr so geweint. Was bedeutet das nur? Rôshi: Im Körper-Geist gehen viele Veränderungen vor sich, wenn Sie Zazen mit Eifer und Hingabe üben. Ihr Empfinden wird fein- fühliger, Ihr Denken schärfer und klarer, Ihr Wille stärker. Vor allem erleben Sie ein Gefühl der Dankbarkeit. Als Sie jene Frau weinen hörten, fingen Sie auch an zu weinen, weil Ihr Empfinden bereits feinfühliger und empfänglicher geworden ist. Vermutlich wußte auch sie nicht, weshalb sie weinte. Man schlug sie zu jenem Zeit- punkt, um sie dazu anzutreiben, daß sie ihre stärkste Kraft auf- biete. Was geschehen ist, zeigt mir, daß Sie mit Ernst und Eifer Zazen üben.

Schülerin J (33 Jahre alt)

Schülerin: Mein voriger Lehrer hat mir vor zwei Jahren das Kôan Mu zugewiesen. Ich habe damit geübt, aber offengestanden weiß ich nicht, was ich tue. Mir scheint, ich wiederhole es nur mechanisch. Man hat mir gesagt, ich solle damit eins werden, und ich würde auf diese Weise Kenshô erlangen. Aber ich bin nicht einmal sicher, daß ich weiß, was Kenshô ist. Bevor ich zu diesem Tempel hier gekommen bin, hatte ich Schwierigkeiten, mich verständlich zu machen und zu verstehen, was man mir sagte, da es keinen rechten Dolmetscher gab. Daran dürfte es wohl liegen, daß ich so schlecht unterrichtet bin. Rôshi: Es ist nutzlos, Mu mechanisch zu wiederholen. Kenshô ist die unmittelbare Erkenntnis, daß Sie mehr sind als dieser kümmerliche Körper und dieser begrenzte Verstand. Negativ ausge- drückt, ist es die Vergegenwärtigung, daß das Weltall nicht außerhalb von Ihnen besteht. Positiv gesagt, erleben Sie das Weltall als sich selbst. Solange Sie noch bewußt oder unbewußt zwischen sich und anderen einen Unterschied machen, solange sind Sie im Dualismus von Ich und Nicht-Ich gefangen. Dieses Ich ist unserem Wahren Wesen nicht eingeboren, sondern lediglich eine durch unsere sechs

197 Sinne hervorgerufene Täuschung. Da aber dieses illusorische Ich in diesem Dasein wie in vorangegangenen Daseinsformen als etwas von echtem Eigenwert behandelt wurde, ist es dazu gekommen, daß es die tiefste Schicht des Unbewußten einnimmt. Ihre zielstrebige Konzen- tration auf Mu wird allmählich diesen Ich-Begriff aus Ihrem Bewußt- sein tilgen. Bei seiner vollständigen Verbannung erleben Sie plötzlich das Einssein. Das ist Kenshô. Die traditionelle Rinzai-Methode bei der Behandlung des Kôan ist es, Sie mit diesem Kôan wohl oder übel ringen zu lassen. Immer wie- der fragen Sie sich: «Was ist Mu? Was kann es nur sein?» Sie kommen mit der ersten Antwort, die Ihnen in den Sinn kommt, zum Rôshi; der fegt sie prompt weg. «Nein, das ist nicht Mu! Forschen Sie weiter!» schreit er. Beim nächsten Mal bringen Sie etwas vor, was im Grunde genommen genau auf dieselbe Antwort hinausläuft. Jetzt wird der Rôshi Sie schelten: «Ich habe Ihnen doch gesagt, daß das nicht Mu ist. Bringen Sie mir Mu!» Sie versuchen es wieder und wie- der. Aber der Rôshi weist jede Lösung, die Sie sich nur denken oder vorstellen können, zurück. Solche Begegnungen dauern gewöhnlich nur ein bis zwei Minuten. Nach Monaten oder Jahren erschöpfender Auseinandersetzung erreicht Ihr Geist schließlich jenen Punkt, da er von allen Gedankenformen entleert ist und Sie plötzlich zur Wesens- schau von Mu kommen. Diese Methode war bei Schülern, die nach Wahrheit dürsten, wirk- sam. Heutzutage aber zeigen die Schüler weniger Eifer; sie bleiben auch kaum längere Zeit bei der Stange. Und was noch schlimmer ist: Unfähige Lehrer lassen Schüler bestehen, die den geistigen Gehalt des Kôan nicht wahrhaft erlebt haben, nur um sie zum Weitermachen zu ermutigen. Mein eigener Lehrer HARADA Rôshi, der viele Jahre lang Rinzai-Zen studiert und geübt hat, suchte aus übergroßer Güte diesem qualvollen Ringen vergangener Tage ein Ende zu machen, indem er seinen Schülern von vornherein sagte, daß jede Begriffsvor- stellung von Mu, wie scharfsinnig und geistreich sie auch sein möge, unbrauchbar sei und daß sie sich deshalb aufs äußerste anstrengen müßten, um mit Mu eins zu werden. Die Gefahr hierbei liegt jedoch darin, daß man in ein mechanisches Wiederholen abgleitet. Von all

198 dem ganz abgesehen, gibt es jedoch Menschen, denen das Kôan Mu zuwider ist. Wie sehr sie sich auch mühen, es sich zu eigen zu machen, es packt sie niemals. Vielleicht sind Sie solch ein Mensch? Schülerin: Es ist mir ganz zuwider. Rôshi: In diesem Falle ist es besser, das Kôan zu wechseln. Ich könnte Ihnen Sekishu, «Was ist der Ton einer klatschenden Hand?» zuweisen oder Honrai-no Memmoku, «Was ist mein Ur-Angesicht?» oder ein- fach «Was bin ich?» oder «Wer bin ich?» was auch immer für Sie am fesselndsten ist. Schülerin: Das letzte wäre das sinnvollste. Rôshi: Also gut. Von nun an wird das Ihr Kôan sein. Schülerin: Soll ich es genau so behandeln wie Mu? Rôshi: Ja, aber Sie dürfen die Frage nicht so mechanisch wie eine Stanzmaschine stellen. Beim Essen fragen Sie sich: «Was ißt?» mit dem sehnlichen Verlangen, diese Frage zu lösen. Beim Hören forschen Sie in sich: «Wer hört?», beim Sehen: «Wer sieht?», beim Gehen: «Wer geht?»

(Von nun an wird die Feststellung «Mein Kôan ist: ,Wer bin ich?'» zu Beginn eines jeden Dokusan dieser Schülerin weggelassen.) Rôshi: Haben Sie eine Frage? Schülerin: Ja. Wenn ich mich frage: «Wer bin ich?», sage ich mir: «Ich bin Knochen, ich bin Blut, ich bin Haut.» Wie mache ich von da aus weiter? Rôshi: Dann fragen Sie sich: «Was ist es, das dieses Blut hat? Was ist es, das diese Knochen hat? Was ist es, das diese Haut hat?» Schülerin: Mir scheint, ich muß zwei Dinge tun: zum Beispiel mit Essen eins werden, und mich dabei zugleich auch fragen: «Wer ißt?» Stimmt das? Rôshi: Nein, fragen Sie sich nur danach, wer ißt. Ihr Geist muß zu einer einzigen tiefsten Fragestellung werden. Das ist der schnellste Weg zur erkennenden Schau Ihres Wahren Wesens. Sich zu fragen: «Wer bin ich?» ist im Grunde nichts anderes, als sich zu fragen: «Was ist Mu?»

199 Schülerin: Ehrlich gesagt, habe ich kein brennendes Verlangen nach Kenshô. Ich möchte wohl wissen, warum. Das beunruhigt mich. Rôshi: Menschen, die genötigt waren, qualvollen Lebenslagen ins Gesicht zu sehen, z. B. dem Tod eines Geliebten, werden oft jählings in die tiefgreifendsten Fragen über Leben und Tod gestürzt. Aus diesem forschenden Fragen entsteht ein heftiger Durst nach dem Ver- ständnis ihres Selbst, auf daß sie die eigenen Leiden wie die der Menschheit lindern könnten. Durch echte Erleuchtung treten innere Freudigkeit und Heiterkeit an die Stelle von Unruhe und Angst. Wenn Sie bei meinen Darlegungen die Lehren des Buddha hören, wird sich in Ihnen die Sehnsucht nach Selbst-Wesensschau entwik- keln und immer tiefer werden. Schülerin: Heute nacht wurde ich beim Zazen von dem Gedanken geplagt, daß mein Verlangen nach Erleuchtung nur schwach ist. Ich fragte mich immer wieder: «Warum strenge ich mich denn nicht intensiver an, wie so viele um mich herum?» Um ein Uhr nachts wollte ich aufgeben, obgleich ich erst vier Stunden vorher beschlos- sen hatte, die ganze Nacht aufzubleiben und Zazen zu üben. Als ich in die Küche kam, um etwas zu trinken, sah ich die alte Nonnen- Köchin Wäsche waschen. Als ich sie beobachtete, schämte ich mich meiner schwächlichen Bemühungen. Neulich haben Sie mir gesagt, daß die Menschen, die das stärkste Verlangen nach Erleuchtung haben, meist solche sind, die in ihrem Leben viel gelitten haben. Sie sagten, daß sie sich Kenshô so sehr wünschten, um ihre Leiden und die der anderen zu erleichtern. Offen gesagt, habe ich zwischen zehn und zwanzig beträchtlichen Kummer erlebt. Vielleicht hatte ich deshalb mit anderen solches Mitgefühl, und vielleicht kamen deshalb Freunde und Bekannte oft um Rat und Hilfe zu mir. Als ich ein paar Jahre später etwas über Zen hörte, fing ich in den Vereinigten Staaten so halb und halb an, etwas zu üben. Dann kam ich vor ein paar Jahren nach Japan, nachdem ich meine Arbeit in Amerika aufgegeben hatte, und fing auf traditionelle Weise zu üben an. Sympathie und Mitgefühl, die ich gegenüber Menschen stets emp- funden hatte, ehe ich Zazen zu üben begann, sind in mir ausgetrock-

200 net. Ich habe beim Zazen so viel Schmerzen ausgestanden, daß ich nicht mehr daran denke, andere zu retten, sondern nur noch mich selbst. Ich hasse es zu leiden! So hat also mein Leben im Zen, weit davon entfernt, mich den Leiden anderer gegenüber feinfühliger zu machen, oder in mir den Wunsch zu entfachen, sie zu retten, jedwede altruistischen Gefühle in mir vernichtet und mich kalt und eigennüt- zig zurückgelassen. Rôshi: Wenn ich Ihr Gesicht und Ihr Benehmen beobachte, sehe ich weder Gefühllosigkeit noch Selbstsucht darin - im Gegenteil, viel Kannon-haftes. Ich bin sicher, daß die meisten Menschen, die mit Ihnen in Berührung kommen, Ihre natürliche Wärme spüren und Ihnen wohlgesinnt sind. Was Sie mir beschrieben haben, zeigt, daß sich Ihr natürliches Mitgefühl eher vertieft hat, als daß es Sie als kalt und selbstsüchtig auswiese. Aber all das liegt außerhalb Ihres Bewußt- seins. Wer sich selbst für gütig und mitfühlend hält, ist sicher keins von beiden24. Daß Sie sich dieser Gefühle nicht mehr bewußt sind, zeigt nur, wie tief sie in Sie eingedrungen sind. Es gibt viele Menschen, die ihre ganze Zeit damit verbringen, den Bedürftigen zu helfen und sich Bewegungen zur Verbesserung der sozialen Zustände anzuschließen. Freilich sollte man das nicht für gering achten. Aber ihre Ur-Angst, die aus einer falschen Sicht ihrer selbst und des Weltalls erwächst, findet keine Linderung, sie nagt an ihrem Herzen und läßt sie nicht zu einem reichen, freudigen Leben kommen. Menschen, die solche Tätigkeiten zur Hebung der sozialen Verhältnisse fördern und sich daran beteiligen, halten sich bewußt oder unbewußt für moralisch überlegen und machen sich deshalb nie die Mühe, sich innerlich zu läutern, indem sie sich von Habgier, Ärger und Verblendung befreien. Es kommt aber die Zeit, da sie von all ihrer rastlosen Tätigkeit erschöpft sind und ihre Ur-Angst um Leben und Tod vor sich selbst nicht mehr verbergen können. Dann

24. Vergleiche LAOTZE: «Der wahrhaft Tugendhafte ist sich seiner Tugend nicht bewußt. Der Mensch geringerer Tugend aber ist stets um seine Tugend besorgt und ist darum ohne wahre Tugend. Wahre Tugend ist spontan und macht keine Ansprüche auf Verdienst.» Zitiert in Grundlagen tibetischer Mystik, von Lama ANAGARIKA GOVINDA, Rascher Verlag, Zürich, 1956, S. 265.

201 fangen sie ernsthaft an zu fragen, warum das Leben nicht mehr Sinn und Würze habe. Nun fragen sie sich zum ersten Mal, ob sie sich nicht vor allem selber retten sollten, anstatt zu versuchen, andere zu retten. Ich versichere Ihnen, daß Sie keinen Fehler gemacht haben, als Sie den Entschluß faßten, diesen Weg zu gehen; und eines Tages wird Ihnen das klar werden. Es ist nicht Selbstsucht zu vergessen, andere zu retten, und sich nur darauf zu konzentrieren, die eigene geistige Kraft zu entwickeln, wenn es auch so aussehen mag. Es ist die heilige Wahrheit, daß Sie niemanden retten können, ehe Sie nicht durch das Erlebnis der Selbst-Wesensschau selber rund und ganz geworden sind. Wenn Sie das Wesen Ihres Wahren Selbst und des Weltalls geschaut haben, werden Ihre Worte Überzeugungskraft haben, und die Men- schen werden auf Sie hören. Schülerin: Aber ich werde so leicht müde und lasse mich so leicht entmutigen - der Weg ist schrecklich lang und schwer. Rôshi: Der Weg des Buddha verlangt kraftvolle Hingabe und Beharr- lichkeit. Wenn Sie jedoch daran denken, daß die Philosophen seit zwei- bis dreitausend Jahren erfolglos darum gerungen haben, das Problem des menschlichen Daseins zu lösen, daß Ihnen aber gelingen kann, was jenen fehlschlug, einfach indem Sie sich fragen: «Wer bin ich?», haben Sie dann Grund, mutlos zu sein? Welche Tätigkeit, wel- che Arbeit könnte im Leben dringender und zwingender sein als diese? Im Vergleich dazu verblaßt alles übrige zu Bedeutungslosigkeit. Schülerin: Das meine ich auch; deshalb bin ich nach Japan gekom- men, um Zazen zu üben. Rôshi: Sie sind anders als die meisten hier. Jene kommen zu einem Sesshin her, weil sie gehört haben, daß Zen etwas Bemerkenswertes sei, und sie möchten es so schnell wie möglich an sich reißen und sich dann wieder ihren Angelegenheiten zuwenden. Deshalb strengen sie sich so an. Sie fallen über Zazen her wie ein Sturmwind, bei dem es in Strömen gießt und das Wasser rasch wieder abläuft. Sie aber haben ungeheure Opfer gebracht, um den Weg des Buddha zu betreten und sollten sich nicht so abquälen. Ihr Üben sollte wie ein Regen sein, der sanft vom Himmel fällt und tief in das Erdreich einsickert. In sol-

202 cher Geistesverfassung können Sie geduldig vier bis fünf Jahre oder noch länger sitzen, bis Sie die Wahrheit in ihrer Fülle schauend erkannt haben. Schülerin: Liegt die Unfähigkeit der Philosophen, das Problem der menschlichen Existenz zu lösen, darin, daß sie immer fragten «Warum?» und «Wie?». Rôshi: Ihre Untersuchungen führen die meisten neuzeitlichen Philo- sophen von sich selbst weg in den Bereich der Vielheit - auf solche Weise arbeiten sowohl Schulphilosophen wie Wissenschaftler. Die Frage «Wer bin ich?» hingegen bringt Sie jählings zur Erkenntnis Ihres grundsätzlichen Einsseins mit dem Weltall. Schülerin: Ich bin bereit, alles zu tun, was Sie sagen. Rôshi: Ich habe das Gefühl, daß Ihre bisherige Schulung Ihrer Ver- anlagung nicht ganz angemessen war. Sie brauchen jedoch nicht zu denken, daß die Zeit, die Sie mit Zen verbracht haben, vergeudet ist. Sie war in vieler Hinsicht wertvoll, weit mehr, als Ihnen bewußt ist. Mir scheint auch, daß Sie, zumindest vorläufig, nicht mit dem Kyo- saku geschlagen werden sollten. Schülerin: Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie nervös mich das gemacht hat. Im vorigen Tempel, in dem ich Zazen übte, verbrachte ich fünfundneunzig Prozent der Zeit damit, meine Reaktion darauf niederzukämpfen. Rôshi: Wenn es Ihnen möglich gewesen wäre, sich mit Ihrem vorigen Lehrer derart zu verständigen, wie Sie und ich es jetzt dank dieses Dolmetschers können, wäre Ihnen sicher eine andere Übung zugewie- sen worden. Jedenfalls fragen Sie sich von nun an mit aufmerksamer, jedoch gelassener Eindringlichkeit: «Wer bin ich?»

Rôshi: Möchten Sie irgend etwas sagen? Schülerin: Ja. Ein paar Tage nach dem letzten Sesshin wurde mir plötzlich auf neue Weise klar, daß es sinnlos ist, Anregungen und Vergnügungen zu suchen und Schmerzen aus dem Wege zu gehen, wie es der Gang meines Lebens war; denn auf all das folgte immer nur ein schmerzliches Gefühl der Hohlheit. Obgleich mir diese Einsicht

203 mit großer Wucht kam, begleitet von einer Heiterkeit, die den ganzen Tag anhielt, kehrte innerhalb einer Woche doch das alte Gefühl der Flachheit und Sinnlosigkeit des Lebens zurück und damit auch die Sehnsucht nach Erregungen. Ist das nun natürlich oder unnatürlich -? Rôshi: Es ist natürlich und empfehlenswert, sich ein volleres, glück- licheres Leben, als das Ihre es gegenwärtig ist, zu wünschen. Es ist jedoch nicht löblich, wenn Sie Ihre gegenwärtige Lage geringschätzen, während Sie nach einer gehobeneren verlangen. Wenn Sie sich allem, was Sie gerade tun, ganz hingeben, können Sie zu einer tieferen und reicheren Gemütsverfassung gelangen. Habe ich damit Ihre Frage beantwortet? Schülerin: Ich bin noch gar nicht zu meiner Hauptschwierigkeit gekommen. Also, wenn ich dieses Gefühl habe, möchte ich vor mir weglaufen, in ein Kino rennen oder mich mit gutem Essen vollstop- fen. Meine Frage ist also: Soll ich diesem Begehren nachgeben oder es bekämpfen und unterdrücken und mit Zazen fortfahren? Rôshi: Das ist eine äußerst wichtige Frage. Es ist weder weise, Ihre Gefühle zu unterdrücken, noch ihnen rückhaltslos zu frönen. Es gibt Menschen, die sich, wenn sie das gleiche Gefühl wie Sie haben, ent- weder sinnlos betrinken oder krankessen. Natürlich gehören Sie nicht zu dieser Art Menschen. Die Sache ist die: Es ist durchaus in Ord- nung, gelegentlich in ein Kino zu gehen, wenn Sie sich einen Film ansehen, der Ihnen wirklich Freude macht, und nicht einfach irgend- einen. Und gleichermaßen: Wenn Sie den unwiderstehlichen Drang verspüren, sich ein Festessen zu leisten, dann essen Sie etwas, was Ihnen nicht allein gut schmeckt, sondern das auch nahrhaft ist; und überessen Sie sich nicht, damit Sie nicht am nächsten Tag krank sind. Wenn Sie dabei Mäßigkeit und Vernunft walten lassen, werden Sie nachher keine Reue empfinden und brauchen sich keine Vorwürfe zu machen, daß Sie kostbare Zeit, die Sie nützlicher auf Zazen hätten verwenden können, töricht vergeudet haben. So werden Sie Ihrer Verdrießlichkeit entrissen, bekommen neuen Auftrieb und können Ihre Übungen mit größerem Eifer wieder aufnehmen. Wenn Sie sich aber selbst zum Ekel werden, werden solche Gefühle ein Heer von Gedanken hervorrufen, die Ihre Übungen störend beeinflussen. Wenn

204 sich Ihr Zazen vertieft, wird all das jedoch aufhören, ein Problem für Sie zu sein.

Schülerin: Wenn ich Sie recht verstanden habe, sagten Sie mir einmal, ich solle meinen Geist in die Handfläche verlagern, ein andermal, ihn auf die Stelle unterhalb des Nabels richten, und dann wieder, ich solle ihn auf die Stelle zwischen den Augen lenken, wenn ich schläfrig werde. Das hat mich ganz verwirrt. Ich weiß nicht einmal, was mein Geist ist, wie also könnte ich ihn auf eine dieser Stellen richten? Rôshi: Wenn ich Ihnen gesagt habe, Sie sollten Ihren Geist in die Handfläche verlagern, meinte ich, daß Sie Ihre Aufmerksamkeit auf jenen Punkt richten sollten. Sie dürfen den Brennpunkt Ihrer Auf- merksamkeit nicht dauernd wechseln. DÔGEN und HAKUIN haben beide empfohlen, die Aufmerksamkeit auf die Handfläche zu richten. Wenn Sie die Intensität Ihres Zazen steigern wollen, können Sie das dadurch tun, daß Sie die Aufmerksamkeit auf den Hara konzentrie- ren. Ein gutes Mittel, um Schläfrigkeit zu überwinden, ist es, die Auf- merksamkeit auf die Stelle zwischen den Augen zu konzentrieren. Schülerin: Aber was ist Geist überhaupt? Ich meine, ich weiß theore- tisch, was er ist, weil ich viele Sûtras und andere Bücher über Buddhismus gelesen habe. Kann ich aber wirklich herausfinden, was Geist ist, indem ich mich frage: «Wer bin ich?» Rôshi: Geist theoretisch zu verstehen, ist nicht genug, um die Frage «Wer bin ich?» und damit auch das Problem von Geburt und Tod zu lösen. Solch ein Verstehen ist lediglich ein Abbild der Wirklich- keit, nicht die Wirklichkeit selbst. Wenn Sie sich hartnäckig voller Hingabe und Eifer fragen: «Wer bin ich?» - also erfüllt von echtem Verlangen nach Selbst-Wesensschau - werden Sie unbedingt das Wesen des Geistes erkennen. Nun ist Geist mehr als Ihr Körper und mehr als das, was man gemein- hin «Geist» nennt. Die innere Erkenntnis des Geistes ist die schauende Erkenntnis, daß Sie und das Weltall nicht zweierlei Dinge sind. Dieses Innewerden muß Ihnen mit solch überwältigender Sicherheit kommen, daß Sie sich auf den Schenkel schlagen und ausrufen: «Ach, natürlich!»

205 Schülerin: Aber ich weiß nicht, wer fragt: «Wer bin ich?» Und da ich das nicht weiß und auch nicht, wer gefragt wird, wie kann ich da herausfinden, wer ich bin? Rôshi: Derjenige, der die Frage stellt, sind Sie, und Sie müssen ant- worten. In Wahrheit sind es nicht zwei. Die Antwort kann nur aus hartnäckig forschendem Fragen, mit dem intensiven Verlangen zu wissen, kommen. Bis jetzt sind Sie ziellos gewandert, im Ungewissen über Ihr Ziel. Aber jetzt, da Sie eine Landkarte bekommen haben und die Wegrichtung kennen, halten Sie nicht inne, um die Aussicht zu bewundern - marschieren Sie weiter!

Schülerin: Sie haben gesagt, daß wir alle von eingeborener Vollkom- menheit sind - ohne Makel. Ich kann noch glauben, daß wir das im Mutterschoß sind, aber nach der Geburt sind wir alles andere als vollkommen. Die Sûtras sagen, daß wir alle von Habgier, Zorn und Torheit durchsetzt sind. Das glaube ich gern, denn es ist bestimmt wahr in bezug auf mich. Rôshi: Ein Blinder ist im Grunde ganz und vollkommen, sogar bei seiner Blindheit. Das Gleiche gilt für einen Taubstummen. Würde ein Taubstummer plötzlich sein Gehör wiedererlangen, so wäre seine Vollkommenheit nicht mehr die eines Taubstummen. Würde man den Teller hier auf dem Tisch zerbrechen, so wäre jedes Bruchstück die Ganzheit selber. Was dem Auge sichtbar ist, ist nur die Gestalt, die sich dauernd verändert, nicht aber die Substanz. In Wirklichkeit ist das Wort «vollkommen» überflüssig. Dinge sind weder vollkommen noch unvollkommen; sie sind, was sie sind. Alles hat absoluten Wert; deshalb kann nichts mit irgend etwas anderem verglichen werden. Ein großer Mensch ist groß, ein kleiner klein; das ist alles, was zu sagen ist. Es gibt ein Kôan, bei dem der Meister auf die Frage «Was ist Buddha?» antwortet: «Hoher Bambus ist hoch, niedriger Bambus niedrig.» Kenshô ist nichts anderes, als das in einem Aufflammen zu gewahren.

206 Schülerin: Es macht mir noch immer Mühe, meine Aufmerksamkeit in die Handfläche zu verlagern. Rôshi: Warum denn? Schülerin: Es ist für mich sehr mühsam, meine Aufmerksamkeit bei der Ausatmung dorthin zu richten. Meine Konzentration wird unter- brochen. Rôshi: Sie sollen sich nicht abmühen. Anstatt zu versuchen, Ihre Auf- merksamkeit irgendwohin zu verlagern, konzentrieren Sie sich ein- fach auf die Frage: «Wer bin ich?» Schülerin: Wenn ich mich vor Ihnen oder vor dem Buddhabild nieder- werfe oder Sûtras rezitiere oder herumgehe, dann bin ich nicht geneigt, mich zu fragen: «Wer bin ich?» Ist es richtig, wenn ich es dann lasse? Rôshi: Sie müssen die Frage allzeit stellen. Wenn Sie gehen, müssen Sie sich fragen: «Wer geht?» Wenn Sie sich niederwerfen, müssen Sie fragen: «Wer wirft sich nieder?» Schülerin: Oder auch: «Wer bin ich?» Rôshi: Ja. Das läuft auf dasselbe hinaus.

Schülerin: Als Sie gestern abend zu uns allen gesprochen haben, sag- ten Sie, daß wir uns beim Zu-Bett-Gehen nicht von unserem Kôan trennen, sondern auch im Schlaf mit dem Fragen fortfahren sollten. Ich stelle fest, daß ich mein Kôan im Schlaf schnell vergesse, denn ich träume eine Menge. Die Traumwelt scheint eine andere Welt als die des «Wer bin ich?» zu sein. Das Träumen ist solche Vergeudung an Zeit und Kraft; wie kann ich das nur unterbinden? Rôshi: Im allgemeinen träumen tätige Menschen, die wenig Zeit zum Schlafen haben, nur gelegentlich, wohingegen solche, die viele Stun- den schlafen, viele Träume haben. So neigen auch Menschen, die viel Zeit haben, oder jene, die auf dem Rücken schlafen, dazu, eine Menge zu träumen. Ein Mittel, das Träumen zu unterbinden, ist natürlich, weniger zu schlafen. Aber wenn Sie sich nicht genügend ausruhen, werden Sie vermutlich beim Zazen einnicken. Sie können auf Bildern des liegenden Buddha sehen, daß er auf der rechten Seite ruht. Das ist aus vielen Gründen eine gute Schlafhaltung.

207 Schülerin: Ich merke oft, daß ich bei meiner Arbeit - sei es nun Wäschewaschen oder Saubermachen - vor mich hinträume. Was kann ich dagegen tun? Rôshi: Fahren Sie beim Saubermachen fort zu fragen: «Wer bin ich?» Wenn dies forschende Fragen genügend intensiv ist, werden Ihnen keine anderen Gedanken mehr durch den Sinn gehen. Die Wach- träume haben Sie nur, weil Sie sich von Ihrem Kôan trennen.

Rôshi: Möchten Sie etwas sagen oder fragen? Schülerin: Von heute früh um fünf Uhr an habe ich mich bis jetzt (15 Uhr) ununterbrochen gefragt: «Wer bin ich?» Manchmal hielt mich die Frage gefangen, aber die meiste Zeit hat sie mich einfach gelangweilt. Warum wird es mir langweilig? Rôshi: Wahrscheinlich, weil Sie noch nicht davon überzeugt sind, daß Sie durch solches Fragen Ihres Wahren Wesens innewerden und damit dauernden inneren Frieden finden können. Wenn Menschen, die in ihrem Leben viel Kummer erlebten, die Wahrheit des Buddhismus hören und Zazen zu üben beginnen, möchten sie im allgemeinen schnell Kenshô erreichen und dadurch ihre eigenen Leiden wie auch die der anderen lindern. Schülerin: Daß ich mich so schwer konzentrieren kann, liegt zum Teil auch daran, daß der neue Mahner, den wir jetzt haben, uns alle anbrüllt und jeden heftig schlägt. Rôshi: Sie brauchen sich nur zu fragen: «Wer hört all das Geschrei?» Machen Sie kein Problem daraus; es geht Sie nichts an. Schülerin: Es ist mir unmöglich, dem gegenüber gleichgültig zu sein. Rechts und links von mir werden die Sitzenden so heftig geschlagen, daß ich jedesmal, wenn ich den Kyosaku höre, zusammenschaudere. Ich habe versucht, mich zu fragen: «Wer hört all dies schreckliche Gebrüll?» Aber es hat mich so aufgeregt, daß ich nicht weitermachen konnte. Rôshi: Diese Menschen um Sie herum stehen dicht vor Kenshô, und deshalb werden sie so heftig geschlagen - um sie zu einer letzten verzweifelten Anstrengung anzuspornen. Wenn Sie nicht geschlagen

208 werden wollen, weil es Sie beim Zazen stört, kann ich ein Zeichen «Nicht schlagen» über Ihrem Platz anbringen lassen. Schülerin: Als mich Herr K. gestern schlug, hat es mir geholfen, da er weiß, wie und wann er schlagen soll; aber dieser Mensch versetzt Hiebe ohne Sinn und Verstand, und sein Geschrei ist derart erschrek- kend, daß mir ganz übel wird. Rôshi: Natürlich sind einige von denen, die den Kyosaku führen, tauglicher als andere. Herr K., der viel Erfahrung hat, ist sehr tüch- tig. Möchten Sie, daß ein Zeichen über Ihnen angebracht wird? Schülerin: Das Komische ist, daß meine eine Hälfte wünscht, geschla- gen zu werden, da ich glaube, daß ich dann schneller Kenshô errei- che, und die andere Hälfte sich davor fürchtet. Wenn Herr K. zu- rückkommt, hätte ich gern, daß er mich ab und zu schlägt. Rôshi: Wir können ein Zeichen über Ihrem Platz anbringen lassen, und wenn Sie geschlagen werden wollen, können Sie ein Zeichen geben, indem Sie die Hände, Handfläche gegen Handfläche gelegt, bis in Höhe des Kopfes erheben. Aber kümmern Sie sich nicht um das, was um Sie herum vorgeht. Konzentrieren Sie sich einzig und allein auf Ihr eigenes Problem. Von nun an können Sie die Frage «Wer bin ich?» einfach auf «Wer?» beschränken, da die ganze Frage in Ihr Unterbewußtsein gesunken ist. Ebenso kann auch ein Schüler, der am Kôan «Was ist Mu?» arbeitet, mit der Zeit die Frage einfach auf «Mu?» beschränken, da der ganze Wortlaut in seinem Unterbewußtsein widerhallt.

Rôshi (scharf): Wer sind Sie? (Keine Antwort.) Wer sind Sie! Schülerin (zögernd): Ich weiß es nicht. Rôshi: Gut! Wissen Sie, was Sie mit dem «Ich weiß es nicht» meinen? Schülerin: Nein. Rôshi: Sie sind Sie! Ich bin ich! Sie sind einzig Sie - das ist alles. Schülerin: Was meinten Sie mit «gut!», als ich antwortete: «Ich weiß es nicht?»

209 Rôshi: Im tiefsten Sinne können wir gar nichts wissen. Schülerin: Als Sie mir gestern sagten, daß Sie mich fragen würden, wer ich bin, schloß ich daraus, daß ich einige Antworten vorbereiten müsse, und so dachte ich mir verschiedene Antworten aus; aber gerade jetzt, da Sie mich fragten: «Wer sind Sie?» konnte ich an überhaupt nichts denken. Rôshi: Ausgezeichnet! Das zeigt, daß Ihr Kopf aller Ideen entleert ist. Nun können Sie mit Ihrem ganzen Sein reagieren, nicht nur mit Ihrem Kopf. Als ich Ihnen sagte, ich würde Sie fragen, wer Sie sind, meinte ich nicht, daß Sie sich Antworten ausdenken sollten, sondern nur, daß Sie sich mit dem «Wer bin ich?» tiefer und tiefer ergründen sollten. Wenn Sie zur inneren Erkenntnis Ihres Wahren Wesens gelangen, werden Sie augenblicklich antworten können, ohne sich erst zu besinnen. Was ist das? (schlägt plötzlich mit dem Meisterstab auf die Tatami.) (Keine Antwort.) Forschen Sie weiter! Ihr Geist ist beinahe reif.

Schülerin: Ich habe mich gefragt und gefragt: «Wer bin ich?», bis ich das Gefühl hatte, daß es auf diese Frage einfach keine Antwort gibt. Rôshi: Sie werden keine Wesenheit finden, die man «ich» nennt. Schülerin (hitzig): Warum stelle ich denn dann diese Frage? Rôshi: Weil Sie in Ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht anders kön- nen. Der gewöhnliche Mensch fragt immer und ewig: Warum? Was? Wer? Es gibt viele Kôans, bei denen ein Mönch fragt: «Was ist Buddha?» oder: «Warum kam BODHIDHARMA von Indien nach China?» Die Antwort des Meisters hat den Zweck, den verblendeten Geist des Mönchs aufzubrechen, auf daß er erkenne, daß seine Frage eine Abstraktion ist. Schülerin: Ich habe heute morgen während Ihrer Unterweisungen 25 die Briefe von BASSUI auf Englisch gelesen, wie Sie mir geraten haben. An einer Stelle sagt BASSUI: «Wer ist der Meister, der die Hände bewegt?»

210 Rôshi: Es gibt keine wirkliche Antwort auf Wer? Was? Warum? Warum ist Zucker süß? Zucker ist Zucker. Zucker! Schülerin: Sie haben mir neulich gesagt: «Sie sind Sie!» Also gut, ich bin ich - ich akzeptiere das. Ist das denn nicht genug? Was brauche ich noch weiter zu tun? Warum muß ich weiter mit dieser Frage ringen? Rôshi: Weil dieses Verstehen für Sie etwas Äußerliches ist. Sie wissen gar nicht wirklich, was Sie mit dem «Ich bin ich» meinen. Sie müssen mit der Kraft einer Bombe gegen diese Frage anprallen, und all Ihre verstandesmäßigen Vorstellungen und Ideen müssen vernichtet wer- den. Das einzige Mittel, dieses Problem zu lösen, ist, zu der explo- sionsartigen inneren Erkenntnis zu kommen, daß alles (letzten Endes auf) Nichts (reduzierbar) ist. Wenn Sie es nur theoretisch verstehen, werden Sie immer und ewig fragen Wer? Was? Warum?

Schülerin: Bei dem Fragen: «Wer bin ich?» bin ich zu der Folgerung gekommen, daß ich dieser Körper bin, d. h. diese Augen, diese Beine und so fort. Dabei ist mir klar, daß diese Teile nicht unabhängig von mir existieren. Wenn ich z. B. mein Auge herausnehmen und es hier vor mich hinlegen würde, so könnte es nicht als Auge funktionieren. Auch mein Bein könnte nicht als Bein wirken, wenn es von meinem Körper abgetrennt wäre. Zum Gehen braucht mein Bein nicht nur meinen Körper, sondern auch den Boden, ebenso wie mein Auge Dinge zum Wahrnehmen braucht, um den Sehvorgang zu vollziehen. Und weiter: Was meine Augen sehen und worauf meine Beine gehen, das ist Teil des Weltalls. Deshalb bin ich das Weltall. Stimmt das? Rôshi: Gewiß sind Sie das Weltall. Aber was Sie mir gerade gesagt haben, ist nur eine Abstraktion, eine bloße Rekonstruktion der Wirk- lichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst. Sie müssen die Wirklichkeit unmittelbar erfassen. Schülerin: Aber wie soll ich das denn bloß tun? Rôshi: Einfach, indem Sie sich fragen: «Wer bin ich?», bis Sie jäh- lings mit voller Klarheit und Sicherheit Ihres Wahren Wesens inne-

25. Siehe S. 233 ff.

211 werden. Denken Sie daran: Sie sind weder Ihr Körper noch Ihr Geist. Und Sie sind auch nicht Ihr Körper plus Ihr Geist. Also was sind Sie? Wenn Sie Ihr wirkliches Selbst erfassen wollen und nicht nur eine Fiktion, dann müssen Sie sich beharrlich mit unbedingter Hingabe fragen: «Wer bin ich?»

Schülerin: Beim letzten Mal sagten Sie, daß ich nicht mein Geist und nicht mein Körper bin. Das verstehe ich nicht. Wenn ich keins von beidem bin, noch eine Kombination davon, was bin ich denn dann? Rôshi: Wenn Sie einen Durchschnittsmenschen fragen wollten, was er sei, so würde er sagen: «Mein Geist» oder «Mein Körper» oder «Mein Geist und mein Körper» - aber nichts davon stimmt. Wir sind mehr als unser Geist oder Körper oder beides. Unser Wahres Wesen liegt jenseits aller Kategorien. Was immer Sie sich nur ausdenken oder vor- stellen können, ist nur ein Bruchstück Ihrer selbst. Deshalb kann Ihr Wahres Selbst nicht durch logische Schlußfolgerungen, intellektuelle Analysen oder endlose Vermutungen gefunden werden. Wenn ich meine Hand oder mein Bein abschnitte, so würde mein Wahres Selbst um keinen Deut vermindert. Genau genommen, sind dieser Körper und Geist ebenfalls Sie, jedoch nur ein Bruchteil von Ihnen. Die Essenz Ihres Wahren Wesens ist von der dieses Stabes hier vor mir oder dieses Tisches oder dieser Uhr nicht verschieden - ja, von keinem einzigen Ding im ganzen Universum. Wenn Sie die Wahrheit dessen unmittelbar erleben, wird sie so überzeugend sein, daß Sie ausrufen werden: «Wie wahr!» Denn nicht nur Ihr Gehirn, sondern Ihr gesamtes Sein wird an diesem Wissen beteiligt sein. Schülerin (plötzlich in Tränen ausbrechend): Aber ich fürchte mich! Ich fürchte mich so! Ich weiß nicht, warum, aber ich fürchte mich so! Rôshi: Es gibt nichts zu fürchten. Gehen Sie einfach mit der Frage immer und immer tiefer, bis all Ihre vorgefaßten Meinungen über das, was oder wer Sie sind, verschwinden, und Sie werden augen- blicklich erkennen, daß das gesamte Weltall nichts anderes ist als Sie. Sie sind in einem entscheidenden Stadium. Weichen Sie nicht zurück - dringen Sie weiter vor!

212 Schülerin: Sie haben kürzlich gesagt, daß ich nicht mein Körper und nicht mein Geist bin. Ich habe mich immer als Körper und Geist angesehen. Es erfüllt mich mit Schrecken, mir etwas anderes vorzu- stellen. Rôshi: Es stimmt, daß die Mehrzahl der Menschen sich für Körper und Geist hält, aber deshalb sind sie nicht weniger im Irrtum. Es steht fest, daß alle Geschöpfe ihrer Wesens-Essenz nach ihren Körper und Geist, die nicht zwei, sondern eins sind, überragen. Der Grund für die Leiden der Menschen liegt darin, daß es ihnen nicht gelingt, diese Grund-Wahrheit einzusehen. Wie ich heute morgen in den Darlegungen sagte, ist der Mensch immer auf der Suche und am Erraffen. Warum? Er will die Welt erraffen, weil er sich intuitiv danach sehnt, sich mit dem, dem er sich aus Verblendung entfremdet hat, wieder zu vereinen. Infolge dieser Entfremdung sehen wir, daß der Starke den Schwachen überwältigt und der Schwache die Versklavung als Alternative des Todes hin- nimmt. Wenn die Menschen aber nicht verblendet sind, so fühlen sie sich naturgemäß zueinander hingezogen. Die Menschen von starkem Charakter möchten die Schwachen beschützen, während die Schwa- chen sich danach sehnen, von ihnen umsorgt zu werden. So haben wir den Buddha, der uns, die wir schwach sind, in seiner geistigen Macht- fülle umfängt, und wir verneigen uns vor ihm in dankbarer Annahme seines überwältigenden Erbarmens. Wie bei einer Mutter, die ihr klei- nes Kind liebkost, gibt es auch hier keine Isolierung, nur Harmonie und Einssein. Alles in der Natur sucht diese Einheit. Wenn Sie eine Lotus-Schote sorgfältig beobachten, werden Sie sehen, daß die Regen- oder Tautropfen, wenn sie über die kleinen Kammhaare fließen, in eins verfließen. Da wir uns aber der Verblendung hingeben, das Ich als Wirklichkeit anzusehen, sind Entfremdung und Hader die unausweichliche Folge. In seiner Erleuchtung erschaute der Buddha, daß das Ich dem ursprünglichen Wesen des Menschen nicht immanent ist. Bei voller Erleuchtung erkennen wir, daß wir das Weltall besitzen; warum also etwas erraffen wollen, was unser Eigen ist? Wenn Sie die Wahrheit dessen, was ich gesagt habe, erleben wollen,

213 brauchen Sie sich nur weiterhin beharrlich zu fragen: «Wer bin ich?» Schülerin: Vielen Dank für Ihre ausführliche Erklärung.

Schülerin: Mit meinen Augen ist etwas merkwürdig. Es fühlt sich an, als sähen sie nicht nach außen, sondern nach innen und fragten: «Wer bin ich?» Rôshi: Ausgezeichnet! (Plötzlich) Wer sind Sie? (Keine Antwort.) Sie sind Sie! Ich bin ich! Es gibt im Hekigan-roku ein Kôan, bei dem ein Mönch namens ETCHÔ fragt: «Was ist der Buddha?» und der Meister antwortet: 26 «Du bist ETCHÔ .» Begreifen Sie? (Keine Antwort.) Sie müssen sich dessen unmittelbar bemächtigen. Sie kommen näher. Konzentrieren Sie sich so stark wie möglich.

Schülerin: Ich hatte verschiedene Fragen, aber mir ist nicht danach zumute, sie zu stellen. Rôshi: Gut! Wenn es nichts gibt, was Sie beunruhigt oder um das Sie sich Sorgen machen, dann ist es besser, keine Fragen zu stellen, denn ihrer ist kein Ende. Sie führen Sie weiter und weiter von Ihrem Selbst weg, wohingegen die Frage «Wer bin ich?» Sie zu dem strahlenden Kern Ihres Wesens bringt. Schülerin: Augenblicklich beunruhigt mich nichts. Rôshi: Trennen Sie sich nicht von «Wer bin ich?». Alle Fragen wer- den sich von selbst beantworten, wenn Sie erst Ihr Wahres Wesen schauend erkennen.

26. Siehe Bi-Yän-Lu (japanisch: Hekigan-roku), aus dem Chinesischen übersetzt von WILHELM GUNDERT, Carl Hanser Verlag, München, 1960. Siebentes Beispiel, S. 166 ff.

214 Rôshi: Möchten Sie etwas sagen? Schülerin: Nein, aber würden Sie mir bitte durch den Dolmetscher sagen lassen, was Sie heute früh um halb fünf gesagt haben, als Sie zu allen Sitzenden gesprochen haben? Rôshi: Im wesentlichen habe ich folgendes gesagt: Der Mensch bildet sich ein, das höchst entwickelte Lebewesen zu sein, aber vom Stand- punkt des Buddhismus aus steht er in der Mitte zwischen einer Amöbe und einem Buddha. Und da er sich irrigerweise für nicht mehr als diesen kümmerlichen Körper hält27, einen bloßen Tupfen im Weltall, ist er beständig bestrebt, sich durch Besitztümer und Macht auszu- weiten. Wenn er aber zu der Tatsache erwacht, daß er das ganze Weltall umfaßt, hört er auf zu raffen, da er in sich selbst nicht län- ger einen Mangel verspürt. Im Lotus-Sûtra berichtet der Buddha, daß er bei seiner Erleuchtung innewurde, daß er das Weltall besitze, daß alle Geschöpfe seine Kinder seien und daß er nicht mehr brauche als seine Bettelschale. So war er wahrlich der reichste Mensch der Welt. Solange Sie sich noch für diesen kleinen Körper halten, werden Sie rastlos und unzufrieden sein. Wenn Sie aber durch Erleuchtung tat- sächlich erfahren, daß das Weltall mit Ihnen identisch ist, werden Sie dauernden Frieden finden. Schülerin: Ehe ich mit den Zen-Übungen begonnen habe, hatte ich dauernd versucht, Besitz zu erwerben, aber jetzt ersehne ich nur inneren Frieden. Rôshi: Und das ist schließlich das Einzige, was wert ist, erlangt zu werden. Wahrer Friede, wahre Freude können nur durch Erleuchtung gefunden werden; tun Sie also Ihr Äußerstes.

Schülerin: Sie haben mir gesagt, daß jemand, der Erleuchtung findet und gewahr wird, daß er das ganze Weltall ist, aufhört, nach Dingen

27. Siehe auch die oft zitierten Worte des Buddha: «Wahrlich ich sage euch, daß eben in diesem Körper, sterblich wie er ist und nur einen Klafter groß, aber bewußt und mit Geist begabt, die Welt ist und ihr Werden und ihr Vergehen und der Weg ihres Dahinscheidens.» Anguttara Nikaya II, Samyutta-Nikaya I, zitiert von Lama ANAGARIKA GOVINDA in Foundations of Tibetan Mysticism, Rider & Co., London 1962, S. 66. In der deutschen Fassung nicht enthalten.

215 zu haschen. Also, ich habe mit Menschen zusammengelebt, die Erleuch- tung gefunden hatten. Anstatt aber weniger gierig, selbstsüchtig und egoistisch zu werden, werden sie es manchmal nur noch mehr. Wenn das bei der Erleuchtung herauskommt, dann will ich sie nicht! Rôshi: Bei der ersten Erleuchtung ist die Erkenntnis des Einsseins gewöhnlich nicht tief. Wenn aber jemand zu echter Schau kam, wenn auch nur zu einer undeutlichen, und dann fünf oder zehn weitere Jahre hingebungsvoll weiterübt, wird seine innere Schau an Tiefe und Großartigkeit zunehmen und sein Charakter an Schmiegsamkeit und Reinheit gewinnen. Man kann von jemandem, dessen Handlungen noch vom Ich be- herrscht werden, nicht sagen, daß er gültige Erleuchtung gefunden hat. Ein echtes Erlebnis enthüllt nicht allein unsere Unzulänglichkei- ten, sondern erweckt auch den Entschluß, sie zu beseitigen. Schülerin: Aber der Buddha übte nach seiner Erleuchtung nicht dauernd, nicht wahr? Rôshi: Seine Übung war sein unaufhörliches Lehren und Predigen. Der Buddha ist einzigartig. Er war lange, ehe er in diese Welt geboren wurde, erleuchtet. Er kam, um uns, die wir unwissend sind, zu lehren, wie wir Erleuchtung finden, weise leben und in Frieden sterben kön- nen. Er unterzog sich verschiedener Askesen, nicht weil er das nötig hatte, sondern um uns anschaulich zu zeigen, daß die Abtötung des Fleisches nicht der wahre Weg zur Befreiung ist. Er wurde geboren, lebte und starb in dieser Welt, einzig um der ganzen Menschheit ein Beispiel zu geben28. Schülerin: Aber brauchen wir gewöhnlichen Menschen nicht Selbst- zucht?

28. Siehe auch: «Im Lotus-Sûtra (Ch. XV und XVI) stellt der Buddha in Beant- wortung einer zweifelnden Frage des Bodhisattva Maitreya fest: ,Die Welt meint, daß Prinz SHAKYAMUNI, nachdem er das Haus der SHAKYA verlassen hatte, zu höchster Erleuchtung gelangte.' Die Wahrheit aber ist, daß ich vor vielen hundert- tausend Myriaden von kotis von Äonen zu vollkommener Erleuchtung gelangte . .. Dem Tathâgata, der vor so langer Zeit vollkommen erleuchtet war, ist keine Grenze der Lebensdauer gesetzt, da er ewig ist. Niemals dahingeschieden, gibt er zum Heil jener, die er zur Erlösung führt, das Schauspiel des Dahinscheidens.» Zitiert in Honen the Buddhist Samt, von COATES und ISHIZUKA, Chion-In, Kyoto, 1925, S. 98.

216 Rôshi: Natürlich brauchen wir das. Selbstzucht besteht im Halten der Gebote, und das ist die Grundlage von Zazen. Zudem ist Genuß- sucht - also übermäßiges Essen, Schlafen und so fort - genau so schlecht wie Selbstquälerei. Beides entspringt dem Ich und versetzt deshalb die Seele in Unruhe. So sind sie gleichermaßen ein Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung. Schülerin: Obgleich ich mein Wahres Wesen noch nicht aus Erfah- rung kenne, bin ich mir meiner Unzulänglichkeiten doch bewußt und entschlossen, sie los zu werden. Wie ist das möglich? Rôshi: Lassen Sie mich auf das zurückgreifen, was Sie vorhin über Ihr Zusammenleben mit Menschen gesagt haben, die ihr Selbst erkannt hatten und dennoch selbstsüchtig und hochmütig erschienen. Solche Leute üben gewöhnlich nach Kenshô nicht mehr hingebungs- voll, obgleich es so scheinen mag. Sie schieben eine gewisse Anzahl von Stunden für Zazen ein, aber das ist nur Formsache. Wenn wir es in Prozenten angeben, beträgt ihre Beteiligung ungefähr zwanzig bis dreißig Prozent. Infolgedessen umwölkt sich allmählich ihre Erleuch- tung, und mit der Zeit wird ihnen ihr Erlebnis zur bloßen Erinne- rung. Andererseits werden jene, die sich hundertprozentig auf Zazen werfen, äußerst feinfühlig ihren Unzulänglichkeiten gegenüber und entwickeln die Stärke und Entschlußkraft, darüber zu triumphieren, obgleich sie noch nicht erleuchtet sind.

Schülerin: Ich bin heute früh etwas reizbar. Es regt mich auf, wenn ich den Stock höre. Rôshi: Haben Sie die ganze Nacht hindurch Zazen geübt? Schülerin: Ich bin bis zwei Uhr aufgeblieben; aber ich bin nicht müde. Rôshi: Viele denken, daß wirksames Zazen nicht möglich sei, wenn man müde ist. Aber das ist eine falsche Vorstellung. Wenn Sie müde sind, so ist es auch Ihr «Feind» - d. h. der Geist der Unwissenheit -, und wenn Sie voller Energie sind, so ist er es auch. In Wirklichkeit sind es nicht zwei. Schülerin: Würden Sie mir bitte durch den Dolmetscher sagen lassen, worüber Sie heute früh bei den Unterweisungen gesprochen haben?

217 Rôshi: Im wesentlichen habe ich folgendes gesagt: Es sind jetzt noch fünf bis sechs Stunden Zeit bis zum Ende des Sesshin. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, daß das für eine Erleuchtung nicht mehr ausreichte - im Gegenteil, es ist mehr als genug. Kenshô braucht nur eine Minute - ja, sogar nur einen Augenblick! Wenn wir den Vergleich mit einer Schlacht heranziehen, so haben Sie heute nacht den Feind im Nahkampf angegriffen und auf jede nur erdenkliche Art gekämpft. Jetzt kommt der letzte Angriff, das letzte Ausräumen der Widerstandsnester. Sie brauchen jedoch nicht zu den- ken, daß es zur Erleuchtung unerläßlich ist, sich abzuplagen. Sie müssen sich einzig und allein von der trügerischen Vorstellung eines «Selbst» und «Anderes» leer machen. Viele sind dadurch zur Wesensschau gekommen, daß sie das Klingeln einer Glocke oder irgendeinen anderen Ton hörten. Gemeinhin den- ken Sie bewußt oder unbewußt beim Hören eines Glockentons: «Ich höre eine Glocke.» Drei Dinge sind beteiligt: ich, eine Glocke und Hören. Wenn aber der Geist reif ist, d. h. so frei von diskursivem Denken, wie ein reines, weißes Blatt Papier frei von jedem Makel ist, dann gibt es nur den Ton der erklingenden Glocke. Das ist Kenshô. Schülerin: Wenn ich auf Töne horchte, habe ich mich gefragt: «Wer horcht?» Ist das falsch? Rôshi: Ich verstehe Ihr Problem. Wenn Sie sich fragen: «Wer horcht?», sind Sie sich einmal der Frage und zudem noch des Klanges bewußt. Wenn die Fragestellung tiefer dringt, hören Sie auf, sich dessen bewußt zu sein. Wenn dann eine Glocke läutet, gibt es nur die Glocke, die auf den Klang der Glocke horcht. Oder anders ausge- drückt: Sie erklingen selbst in diesem Ton. Das ist der Augenblick der Erleuchtung. Betrachten Sie diese Blumen in der Schale auf dem Tisch. Sie sehen sie an und rufen aus: «Ach, wie schön sind diese Blumen!» Das ist eine Art zu sehen. Wenn Sie sie aber nicht von sich getrennt sehen, son- dern als Teil von sich selbst, dann sind Sie erleuchtet. Schülerin: Es fällt mir schwer, das zu verstehen. Rôshi: Es ist nicht schwer, es rein intellektuell zu verstehen. Wenn man die vorangegangenen Erklärungen hört, kann man wahrheitsge-

218 mäß sagen: «Ja, ich verstehe.» Aber solch ein Verstehen ist lediglich ein intellektuelles Anerkennen und etwas ganz anderes als die Erfah- rung aus der Erleuchtung heraus, durch die Sie die Blumen unmittel- bar als sich selbst erleben. Aber es ist besser, wenn ich jetzt nicht mehr sage, sonst werden diese Erklärungen Ihnen zum Hindernis. Gehen Sie auf Ihren Platz zurück, und konzentrieren Sie sich intensiv auf ihr Kôan.

Rôshi: Möchten Sie etwas sagen? Schülerin: Ja. Beim letzten Mal gebrauchten Sie Ausdrücke wie «Feind» und «Schlacht». Das verstehe ich nicht. Wer ist mein Feind, und was für eine Schlacht ist das? Rôshi: Ihr Feind ist ihr begriffliches Denken, das Sie dazu führt, sich selbst diesseits einer imaginären Grenze, im Unterschied zu etwas auf der anderen Seite dieser nicht vorhandenen Linie, das nicht Sie sind, zu sehen. Oder in Worten ausgedrückt, die Ihnen sinnvoller erschei- nen mögen: Ihr Feind ist Ihr eigenes persönliches Ich. Wenn Sie auf- gehört haben werden, sich selbst als abgelöste Individualität anzu- sehen und das Einssein allen Daseins schauend erkannt haben, dann haben Sie Ihrem Ich einen tödlichen Schlag versetzt. Das Ende des Sesshin nähert sich. Lassen Sie nicht locker!

219 Viertes Kapitel Bassuis Dharma-Worte und Briefe an seine Schüler

Einführung

Gegen Ende der Kamakura-Zeit, jener von Kämpfen zerrissenen, von Ängsten beherrschten Periode der japanischen Geschichte, die so viele bemerkenswerte religiöse Gestalten hervorgebracht hat, wurde im Jahr 1327 der Rinzai-Meister BASSUI TOKUSHÔ geboren. Seine Mut- ter hatte eine Vision, daß das Kind, das sie trug, eines Tages ein Unhold werden und seine beiden Eltern erschlagen würde, und so setzte sie ihn nach seiner Geburt in einem Feld aus, wo ein Diener der Familie ihn fand. Er rettete ihn und zog ihn auf. Als BASSUI sieben Jahre alt war, begann sich sein empfänglicher reli- giöser Sinn zu zeigen. Bei einer Gedenkfeier für seinen toten Vater fragte er plötzlich den zelebrierenden Priester: «Für wen sind diese Opfergaben an Reis und Kuchen und Früchten?» «Für deinen Vater natürlich», erwiderte der Priester. «Aber Vater hat jetzt keine Gestalt und keinen Körper mehr1, wie kann er das denn essen?» Darauf ant- wortete der Priester: «Obgleich er keinen sichtbaren Körper hat, wird doch seine Seele diese Opfergaben empfangen.» «Wenn es so etwas wie eine Seele gibt», drängte das Kind weiter, «dann muß auch ich eine in meinem Körper haben. Wie sieht sie aus?» Freilich sind das keine ungewöhnlichen Fragen für ein nachdenkli- ches, feinfühliges Kind von sieben Jahren. Für BASSUI waren sie jedoch nur der Beginn seiner intensiven, unermüdlichen Selbst-Erfor-

1. In Japan werden die Toten gewöhnlich verbrannt.

221 schung, die sich bis ins höhere Mannesalter fortsetzte - ja, bis er volle Erleuchtung erlangt hatte. Sogar beim Spielen mit anderen Kindern war er niemals frei vom Gefühl der Ungewißheit im Hinblick auf die Existenz einer Seele. Natürlich kam ihm dadurch, daß er ganz von der Beschäftigung mit der Seele ausgefüllt war, der Gedanke an die Hölle. In qual- voller Angst rief er oft aus: «Wie schrecklich, von den Flammen der Hölle verzehrt zu werden!» und die Tränen kamen ihm. Er berichtet, daß er mit zehn Jahren oft aufgeweckt wurde durch ein Aufflammen strahlenden Lichts, das seinen Raum erfüllte, und dem eine alles einhüllende Dunkelheit folgte. Voll ängstlichen Eifers suchte er nach irgendeiner Erklärung für diese seltsamen Vor- kommnisse, aber die Antworten, die er erhielt, milderten seine Furcht kaum. Wieder und wieder fragte er sich: «Wenn die Seele nach dem Tode die Qualen der Hölle erleidet oder sich der Wonne des Paradieses erfreut, was ist denn dann das Wesen dieser Seele? Und wenn es keine Seele gibt, was ist denn das da in mir, das in eben diesem Augenblick sieht und hört?» 2 Sein Biograph berichtet, daß BASSUI oft stundenlang über dieser Frage brütete, in solch völliger Selbstvergessenheit, daß er nicht mehr wußte, daß er einen Körper und einen Geist hatte. Bei solcher Gelegenheit - es wird uns nicht gesagt, in welchem Alter - erkannte BASSUI plötzlich unmittelbar, daß das Substrat aller Dinge eine fruchtbare Leere ist und daß es im Grunde nichts gibt, was man Seele, Körper oder Geist nennen kann. Diese intuitive Erkenntnis ließ ihn in tiefes Lachen ausbrechen, und er fühlte sich nicht mehr von seinem Körper und Geist bedrückt. In dem Bestreben zu erfahren, ob das echtes Satori war, fragte BASSUI eine Anzahl wohlbekannter Priester, aber keiner konnte ihm eine zufriedenstellende Antwort geben. «Wenigstens», so sagte er sich, «habe ich keinen Zweifel mehr an der Wahrheit des Dharma.» Aber

2. Ein gewisser MYÔDÔ, Schüler BassuiS, der im Todesjahr BASSUIS, 1387, am 5. Mai diese Biographie veröffentlichte. Diese Einführung stützt sich auf den Inhalt dieser Schrift.

222 seine tiefste Verwirrung hinsichtlich dessen, der sieht und hört, war noch nicht beseitigt. Und als er in einem volkstümlichen Buch las: «Geist ist Wirt und Körper Gast», lebten all seine stummen Zweifel plötzlich wieder auf. «Ich habe gesehen, daß die Grundlage des Welt- alls Leere ist; doch was ist dieses Etwas in mir, das sehen und hören kann?» fragte er sich verzweifelt von neuem. Trotz aller Anstren- gungen konnte er diesen Zweifel nicht loswerden. BASSUI war nominell ein Samurai, da er in einer Samurai-Familie geboren worden war. Sein Biograph verrät nicht, ob er tatsächlich den Pflichten eines Samurai nachgekommen ist. Aber man kann mit Sicherheit annehmen, daß BASSUIS dauernde Suche nach Zen-Meistern ihm wenig Gelegenheit für das Leben eines Samurai und vermutlich ebensowenig Geschmack daran gegeben hat. Auf jeden Fall wissen wir, daß BASSUI sich mit neunundzwanzig Jah- ren den Kopf scheren ließ, was seine Aufnahme ins buddhistische Mönchstum symbolisiert. Mit den zeremoniellen Riten eines Mönchs und Priesters konnte er jedoch wenig anfangen. Er meinte vielmehr, daß ein Mönch ein einfaches Leben führen sollte, ganz dem Streben hingegeben, höchste Wahrheit zu finden, auf daß er andere zur Befreiung führen könne, und daß er sich nicht an Zeremonien und luxuriösem Leben beteiligen solle, ganz zu schweigen von den politi- schen Intrigen, denen die Priesterschaft seiner Tage nur allzu sehr geneigt war. Auf seinen zahlreichen Pilgerfahrten weigerte er sich hartnäckig, auch nur über Nacht in einem Tempel zu bleiben, und bestand darauf, daß er in einer abgelegenen Hütte hoch oben in den Bergen oder auf einem Hügel übernachten wolle, wo er Stunde um Stunde abseits von den Zerstreuungen des Tempellebens Zazen zu üben pflegte. Um wach zu bleiben, kletterte er oft auf einen Baum, setzte sich in den Zweigen zurecht und sann bis spät in die Nacht über sein natürliches Kôan «Wer ist der Meister?» nach, unempfind- lich gegen Wind und Regen. Am Morgen ging er dann, buchstäblich ohne Schlaf und Essen, zum Tempel oder Kloster, um Dokusan beim Meister zu erhalten. BASSUIS Widerwille gegen all das Zeremonientum der Tempel war so stark, daß er viele Jahre später, nachdem er Meister des Kôga-

223 ku-ji3 geworden war, auf der Bezeichnung Kôgaku-an bestand, wobei das Suffix an «Einsiedelei» bedeutet, im Gegensatz zu dem groß- artigen ji, das «Tempel» oder «Kloster» heißt. Im Laufe seiner Wanderfahrten um geistiger Dinge willen traf BASSUI schließlich jenen Zen-Meister, durch den sein Geistiges Auge vollstän- dig geöffnet werden sollte: KOHÔ Zenji, ein großer Zen-Rôshi seiner Zeit. Die geringeren Meister, bei denen BASSUI Anleitung gesucht hatte, hatten alle seine Erleuchtung bestätigt. KOHÔ aber, der die Schärfe und Sensibilität von BASSUIS Geist und die Stärke und Rein- heit seines Verlangens nach Wahrheit spürte, gab ihm nicht das Siegel der Bestätigung, sondern forderte ihn nur auf zu bleiben. BASSUI sei- nerseits erkannte in KOHÔ einen bedeutenden Rôshi, lehnte es aber ab, im Tempel zu bleiben; er erwählte für die nächsten Monate eine einsame Hütte in den nahen Hügeln zum Aufenthalt und kam jeden Tag, um KOHÔ zu sprechen. Eines Tages fragte KOHÔ, der die Reife von BASSUIS Geist spürte: «Sag mir, was ist JÔSHÛS Mu?» BASSUI antwortete mit einem Vers: «Berge und Flüsse, Gräser und Bäume Offenbaren gleichermaßen Mu.»

KOHÔ erwiderte: «Deine Antwort zeigt Spuren von Selbstbewußt- sein.» Urplötzlich, so berichtet der Biograph, hatte BASSUI das Gefühl, als hätte er «seines Lebens Wurzel verloren, einem Faß gleich, dem der Boden ausgeschlagen war». In Strömen floß ihm der Schweiß aus jeder Pore seines Körpers, und als er KOHÔS Raum verließ, war er in solcher Betäubung, daß er bei dem Versuch, das äußere Tempeltor zu finden, mehrmals mit dem Kopf an die Mauern stieß. Als er in seiner Hütte angekommen war, weinte er stundenlang aus tiefstem Innern. Die Tränen strömten ihm nur so und «rannen wie Regen an seinem Gesicht herab». Es wird uns berichtet, daß BASSUIS vorherige Begriffe

3. Wörtlich: «Dem Berge zugewandtes Kloster», also dem Fujiyama. Der Fujiyama ist ein Symbol für Wahren Geist; so bedeutet Kôgaku-ji auch die Auseinander- setzung mit dem eigenen Wahren Geist.

224 und Glaubensanschauungen durch den Feuerbrand seines überwälti- genden Erlebnisses völlig vernichtet wurden. Am nächsten Abend kam BASSUI zu KOHÔ, um ihm zu erzählen, was geschehen war. Er hatte kaum den Mund geöffnet, als KOHÔ, der schon daran verzweifelt war, je einen echten Nachfolger unter seinen Mönchen zu finden, in einer Art, als wendete er sich an alle seine Anhänger, erklärte: «Mein Dharma wird nicht vergehen. Nun mögen sich alle glücklich schät- zen. Mein Dharma wird nicht verloren gehen.»

KOHÔ erteilte seinem Schüler in aller Form Inka, Siegel der Bestäti- gung, und gab ihm den Zen-Namen «BASSUI», also «Hoch-über-dem Durchschnitt». BASSUI blieb noch zwei Monate in KOHÔS Nähe und erhielt seine Unterweisung und Führung. Aber BASSUI, der einen star- ken, unabhängigen Charakter hatte, wünschte, sein tiefgreifendes Erlebnis durch «Dharma-Gefechte» mit befähigten Meistern ausreifen zu lassen, um auf diese Weise sein Erlebnis seinem Bewußtsein und jeder seiner Handlungen einzuverleiben und um die Fähigkeit zu ent- wickeln, andere zu lehren. So verließ er KOHÔ und setzte sein abge- sondertes Leben in Wäldern, Hügeln und Bergen nicht weitab von Tempeln berühmter Meister fort. Wenn er sie nicht in «Dharma- Gefechte» verwickelte, übte er weiter stundenlang hintereinander Zazen. Wo immer er sich aufhielt, entdeckten eifrige Sucher schnell seinen Aufenthalt und suchten seine Belehrung. Da er aber das Gefühl hatte, daß es ihm an jener Geistesstärke mangle, wie sie erforderlich ist, um andere zur Befreiung zu führen, widersetzte er sich ihren Bemühun- gen, ihn zu ihrem Lehrer zu machen. Wenn ihm ihre dringenden Bit- ten lästig wurden, nahm er seine bescheidene Habe und verschwand in der Nacht. Von den inständigen Bitten seiner Möchte-gern-Scbüler abgesehen, beschränkte er seinen Aufenthalt an jedem Ort sowieso auf kurze Zeit, damit er ihn nicht liebgewänne. Schließlich baute sich BASSUI - jetzt fünfzig Jahre alt - tief im Gebirge eine Hütte, unweit der Stadt Enzan im Yamanashi-Bezirk. Und wie es zuvor geschehen war, so verbreitete sich auch hier in den

225 nahegelegenen Dörfern schnell die Kunde von der Anwesenheit eines Bodhisattva in den Bergen; und die Sucher begannen, sich buchstäb- lich einen Pfad zu seiner Hütte zu schlagen. Nun, da seine Erleuch- tung ausgereift war und er spürte, daß er andere zur Befreiung füh- ren konnte, wandte er sich nicht mehr von diesen Suchern ab, son- dern nahm bereitwillig alle auf, die kamen. Bald wurde daraus eine stattliche Schar, und als der Gouverneur der Provinz anbot, Grund und Boden für ein Kloster zu stiften, und BASSUIS Anhänger sich erboten, es zu bauen, erklärte er sich einverstanden, dessen Rôshi zu werden. Obgleich BASSUI eine Abneigung gegen die Bezeichnungen «Tempel» und «Kloster» hatte, konnte man Kôgaku-ji in seiner Blütezeit mit mehr als tausend Mönchen und Laien-Anhängern kaum als Einsiedelei bezeichnen. BASSUI war ein strenger Zuchtmeister. Von den dreiund- dreißig Regeln, die er für das Verhalten seiner Schüler aufstellte, ver- bot die erste interessanterweise das Genießen von Alkohol in jeglicher Form. Kurz ehe BASSUI im Alter von sechzig Jahren dahinging, setzte er sich aufrecht in Lotushaltung hin und sagte zu denen, die um ihn versam- melt waren: «Laßt euch nicht irreführen! Schaut genau her! Was ist das?» Er wiederholte das laut und starb ruhig. Die Lehrmethoden jedes großen Meisters erwachsen unvermeidlich aus seiner Persönlichkeit, aus der Weise, wie er sein eigenes geistiges Problem erlebte, und aus der Art des Zazen, die seiner Erleuchtung zum Leben verhalf. Für DÔGEN, dessen religiöses Ringen auf ein völlig anderes Problem als das BASSUIS gerichtet war und zu dessen Großem Erwachen es ohne Kôan kam, wurde Shikantaza zum Haupt- mittel der Unterweisung. BASSUIS natürliches Kôan war hingegen: «Wer ist der Meister4 ?» Und deshalb drängte er seine Schüler, diese

4. Das japanische Wort, das wir als «Meister» wiedergegeben haben, lautet sbujin- kô (oder nushi). Shujin bedeutet Gatte (d. h. Hausherr), Inhaber, Wirt und Arbeit- geber. Kô ist eine Bezeichnung, die große Achtung ausdrückt; man benutzte sie im alten Japan bei der Anrede eines Fürsten. In diesem Sinne bedeutet «Meister» den Obersten, den Mittelpunkt der Macht, die lenkende Gewalt.

226 Art des Zazen anzuwenden, wie wir in den nachstehenden Briefen sehen werden. Da BASSUI zudem ebenso wie DÔGEN sein tiefes inneres Verlangen nach Befreiung durch wenig tiefe Erleuchtung nicht voll hatte stillen können, ist das Ziel, das er in diesen Briefen setzt, nichts Geringeres als volle Erleuchtung. BASSUI war kein fruchtbarer Schreiber. Außer den Dharma-Worten und diesen Briefen schrieb er ein einziges umfangreiches Werk, Wadeigassui betitelt, in dem die Grundbegriffe und Übungsweisen des Zen-Buddhismus dargelegt werden, und außerdem noch ein kleines Buch. Es ist nicht bekannt, zu welcher Zeit genau BASSUI die Dharma- Worte und die Briefe geschrieben hat, da nichts ein Datum trägt. Sie sind vermutlich aber geschrieben worden, als er schon Meister des Kôgaku-ji war. Offenbar waren die Briefschreiber seine Schüler, und sie waren entweder zu krank oder lebten zu weit entfernt, als daß sie zu Sesshin und Dokusan zum Kôgaku-ji hätten kommen können. Nur solch «mildernde Umstände» und die offenbare Inbrunst und Auf- richtigkeit seiner Briefpartner konnten BASSUI dazu bringen, sie brief- lich zu belehren, anstatt mittels der traditionellen Methoden. Einige Briefe bringen zwar Wiederholungen, aber das ist unvermeid- lich, da BASSUI ja im wesentlichen jedem Briefschreiber die gleiche Lehre erteilt. Aber gerade durch solche Wiederholungen klärt BASSUI als Meister seinen Gegenstand: den Einen Geist, und hämmert es ihnen gut ein. In der Zen-Literatur gibt es unter den Schriften her- vorragender Meister nur wenig, was so geradenwegs auf die Praxis abzielt und derart inspirierend ist wie diese Schriften. BASSUI spricht den heutigen Leser ebenso unmittelbar an wie seine Briefpartner im vierzehnten Jahrhundert; er belehrt und inspiriert ihn mit jeder Wen- dung. Hinzu kommt noch sein ausgeprägter Sinn für das Paradoxe, gepaart mit tiefster Schlichtheit, wodurch seine Dharma-Worte und die Briefe in Japan ungeheuer populär wurden und es bis heute sind. TAKUSUI Zenji, ein bekannter Zen-Meister der Tokugawa-Zeit (1603-1868), der wie JÔSHÛ bis zum hohen Alter von hundertzwan- zig Jahren gelebt haben soll und der selbst mehrere Zen-Briefe ge- schrieben hat, rühmte diese Schriften lebhaft und bezeichnete sie als wertvoll nicht allein für Anhänger, sondern sogar für Zen-Meister.

227 Es ist zu hoffen, daß sie durch diese Übersetzung, der ersten ins Engli- sche5, gleichermaßen die Gunst der amerikanischen und europäischen Leser, die Zen gern verstehen und üben möchten, finden werden.

Dharma -Worte

Wollt ihr der Pein des «Rad-des-Lebens»6 entrinnen, müßt ihr unmittelbar den Weg, ein Buddha zu werden, erlernen. Diesen Weg, ein Buddha zu werden, müßt ihr im Eigenen Geiste durch Satori ver- wirklichen. Was denn ist dieser Geist? Ehedem vor der Geburt von Vater und Mutter und also auch vor der eigenen Geburt bestand er und besteht immerdar bis heute unwandelbar und ewig als das ursprüngliche Wesen aller Geschöpfe. Also wird er Ur-Antlitz7 genannt. Dieser Geist ist von Anbeginn von lauterster Reinheit. Wird dieser Leib geboren, so wird jener nicht neu erschaffen; und stirbt die- ser Leib, geht er nicht zu Grunde. Er trägt kein Merkmal von männ- lich oder weiblich, noch hat er eine Färbung von gut oder böse. Da kein Gleichnis ihn erreicht, wird er Buddha-Wesen genannt. Indessen, Zehntausende von Gedanken-Vorstellungen8 entstehen aus diesem Selbst-Wesen gleich wie Wogen im großen Meer, gleich wie Abbilder in einem Spiegel. Wollt ihr zur Erleuchtung gelangen, müßt ihr daher vor allem in den Urquell blicken, dem die Gedanken entspringen. Beim Schlafen und Wachen und allen Verrichtungen, im Stehen und Sitzen, fragt euch einzig zutiefst: «Was ist mein Eigener Geist?» voller Verlangen, das zu begreifen. Dies nennt man «Schulung» oder «Erforschen» oder «Wille zur Wahrheit» oder «Verlangen nach Erkenntnis». Und dies Erforschen des eigenen Geistes, das eben ist Zazen! Es ist weit besser,

5. Der Text wurde unter Heranziehung der englischen Übersetzung aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzt. D. U. 6. Auf Japanisch: rinne; im Englischen: «Six Realms». Siehe im 10. Kapitel unter «Rad-des-Lebens» und «Sechs Bereiche». 7. Siehe Fußnote S. 149. 8. Das japanische Wort nen bedeutet sowohl «Gedanke» als auch «Idee», «Vor- stellung». Im weiteren wurde es hier mit «Gedanke» wiedergegeben.

228 festen Willens in den eigenen Geist zu blicken, denn tausend, zehntau- send Jahre lang täglich voll Eifer tausend, zehntausend Sûtras und Dhāranī zu lesen und anzustimmen. Solche Bemühungen sind doch nur Äußerlichkeiten und bringen nur auf kurze Zeit Glück und Frie- den. Dann erlischt solch Glück und Frieden wieder, und abermals erleidet ihr die Pein der Drei Bösen Pfade. Da das Erforschen des eigenen Geistes schließlich zur Erleuchtung führt, ist es Anlaß-Grund- Ursache9, ein Buddha zu werden. Auch wer die zehn bösen Werke und die fünf Todsünden begangen hat, wird, wenn er sich entschlos- sen umkehrt und sich zur Erleuchtung bringt, in einem Nu ein Buddha. Aber es geht nicht an, Böses zu tun und sich auf (die rettende Wirkung von) Satori zu verlassen. Wer sich solchem Wahn hingibt und böse Pfade wandelt, den kann (keine Erleuchtung), kein Buddha und kein Patriarch retten. Ein Beispiel: Ein kleines Kind liegt schlafend neben seinem Vater. Es träumt, daß es geschlagen wird oder krank wurde und Schmerzen leidet. Wie sehr das Kind auch leiden mag, so kann doch niemand in den träumenden Sinn eines anderen blicken, auch Vater und Mutter nicht, und sie können ihm also nicht helfen. Könnte das Kind sich allein aus dem Traum aufwecken, so wären seine Leiden augenblicklich von selbst zu Ende. Das heißt: Wer durch Erleuchtung erkennt, daß der Eigene Geist Buddha ist, befreit sich auf der Stelle vom Rad-des- Lebens (d. h. von den Leiden, die sich aus der Unwissenheit über das Gesetz unaufhörlicher Wandlungen in den Sechs Bereichen des Daseins ergeben). Das ist genau dasselbe. Könnte der Buddha es hel- fend verhindern, welches Geschöpf denn ließe er in die Hölle fahren? Doch nicht eines10! Ohne Selbst-Wesensschau aber kann man solches nicht wirklich verstehen. Was für ein Meister ist es, der eben jetzt mit den Augen Farben sieht,

9. Im Japanischen innen; auf englisch mit «prerequisite» wiedergegeben. Siehe im 10. Kapitel unter: innen, in-nen. 10. Hierbei klingt mit, daß Buddhas keine übernatürlichen Wesen sind, die einen davor bewahren können, in die Hölle zu fahren, indem sie Erleuchtung erteilen, sondern daß Erleuchtung, durch die wir von den Leiden eines solchen Geschicks errettet werden können, einzig und allein durch unsere eigenen Anstrengungen erlangt werden kann.

229 mit den Ohren Stimmen hört, der die Hände aufhebt und die Füße bewegt? Ein jeder weiß, daß es das Werk des eigenen Geistes ist, doch weiß er nicht genau, zufolge welcher Vernunft eigentlich solches geschieht. Man kann zwar behaupten, daß es solchen Geist (hinter diesen Werken) nicht gibt, doch werden sie willkürlich-frei vollzogen. Man kann auch behaupten, daß es doch das Werk dieses Geistes ist; indessen ist dieser unsichtbar. Wenn man das einzig für etwas ganz und gar Unausdenkbares hält, kann man sich nichts mehr ausdenken, das Nachdenken erlischt vollends, und man weiß überhaupt nicht mehr was tun. In dieser dem Forschen günstigen Lage vertieft immer mehr den Willen11 ohne Überdruß bis zum Äußersten! Wenn das tiefschür- fende Fragen bis zum tiefsten Grunde dringt und dieser Grund ausge- schlagen wird, dann bleibt auch nicht der kleinste Zweifel, daß der Eigene Geist Buddha ist. Das Fragen verstummt. Es gibt keine Besorg- nis mehr um Leben und Tod und keine Wahrheit mehr, danach man suchen müßte -, nur Leere-Weite von Himmel-und-Welt, und das ist einzig der Eigene Geist. Ein Beispiel: Im Traum hat einer sich verirrt und den Weg in die Heimat verloren; er fragt einen anderen nach dem Wege, und er betet zu Gott und betet zu Buddha um Hilfe. Doch immer noch findet er nicht heim. Rüttelt er sich aber aus dem Traumzustand auf, so findet er sich auf der eigenen Lagerstätte und begreift, daß der einzige Weg heimzukehren der war, sich zu erwecken. Dies (geistige Erwachen) nennt man «Rückkehr zum Ursprung» oder «Wiedergeburt in der Buddha-Welt des Friedens-und-der-Freude12 ». Bis zu diesem Erlebnis kann es ein jeder mit etwas kraftvollem Üben bringen. Ja, alle, die Zazen lieben und auch angestrengt üben, können, ob sie nun Mönche oder Laien sind, solche Wirkung erleben. Doch selbst dies (teilweise Erwachen) kann nur durch Üben von Zazen erreicht werden. Wolltet ihr dies für wahres Satori halten, ihr würdet einen schweren Irrtum begehen. Ihr wäret gleich einem, der Kupfer gefunden hat und das Verlangen nach Gold aufgibt.

11. Im Japanischen kokorozashi; auf englisch «yearning». Siehe im 10. Kapitel. 12. Im Japanischen anraku sekai; auf englisch «paradise». Siehe im 10. Kapitel unter «Buddha-Welt».

230 Nach solcher Erkenntnis befragt euch noch eindringlicher solcher- maßen: «Mein Leib ist einem Wahngebilde gleich, gleich einer Was- serblase, gleich einem Schatten. Mein Geist, der in sich selber blickt, ist formlos gleich Leerer Weite. Doch irgendwo im Innern werden Töne gehört. Wohlan denn, wer ist der Meister, der die Laute ver- nimmt?» Fragt ihr euch also auf tiefster Ebene in völliger Versun- kenheit, ohne im geringsten in euren Anstrengungen nachzulassen, so gibt es gar nichts mehr zu wissen, das Vernunftdenken ist restlos zunichte geworden. Ihr vergeßt vollends, daß ihr einen Leib habt. Alle bisherigen Begriffe und Vorstellungen vergehen, wie wenn einem Bottich der Grund ausgeschlagen wurde und jeder Tropfen Wassers ausgelaufen ist. Wenn das fragende Forschen mächtig genug geworden ist, so wird auch die Erleuchtung mächtig sein. Es ist, als brächen an verdorrten Bäumen plötzlich Blumen auf. Wenn es also geworden ist, könnt ihr zum Frei-Sein in der Wahrheit gelangen, zu voll erlösten Menschen werden. Doch selbst nach solchem Satori-Erlebnis werft wieder und wieder von euch, was ihr in der Erleuchtung erkannt habt. Kehrt euch abermals dem Meister, der erkennt, das heißt dem Ursprung zu, und dringt entschlossen vor. In dem Maße, wie Verblen- dung und Eigenwille von euch weichen, wird euer Selbst-Wesen strah- lend und durchscheinend - gleich wie ein Edelstein durch wieder- holtes Schleifen an Glanz gewinnt -, bis es am Ende wirklich und wahrhaftig das gesamte Weltall strahlend erleuchtet. Zweifelt nicht daran! Wessen Wille nicht so tief reicht, um in diesem Leben solche Erleuch- tung zu gewinnen, der wird doch gewißlich im nächsten Leben mit Leichtigkeit zur Selbst-Wesensschau kommen, sofern er auch noch in der Todesstunde von diesem Forschen ganz erfüllt ist - gleich wie die gestern nicht vollendete Arbeit heute leicht beendet wird. Beim Üben von Zazen dürft ihr die Gedanken, die sich erheben, weder hassen noch lieben. Durchdringt einzig und allein forschend den eigenen Geist, Ursprung dieser Gedanken, bis zum Äußersten. Wisset, daß alles, was in eurem Bewußtsein auftaucht, alles, was ihr mit Augen seht, ein Wahngebilde ohne jede Wirklichkeit ist. Also sollt ihr solches weder fürchten, noch schätzen, weder lieben, noch ver-

231 abscheuen. Wenn ihr euren Geist im Zustand Leerer Weite haltet, von all solchem ungefärbt, so kann selbst in der Todesstunde kein böser Geist euch einen Schaden tun. Beim Üben von Zazen jedoch behaltet auch nicht einen dieser Ratschläge im Sinn. Ihr müßt einzig zu der Frage werden: «Was ist mein Eigener Geist?» oder auch: «Was nur ist dieser Meister, der in diesem Augenblick all die Laute ver- nimmt?». Wenn ihr durch Erleuchtung dieses Geistes innewerdet, wißt ihr, daß er der Ursprung aller Buddhas und Geschöpfe ist. Der Bodhisattva KANNON wird, da er zur Erleuchtung gelangte, indem 13 er der Laute der Welt um sich her inneward, eben KANZEON ge- nannt. Beim Ruhen und bei allen Verrichtungen höret nimmer auf, erkennen zu wollen, was denn da hört. Auch wenn das Forschen selbst nahezu unbewußt geworden ist, findet ihr doch auch jetzt nicht den, der da hört, und alle Anstrengungen werden zunichte. Doch auch jetzt kön- nen Laute gehört werden. Also dringt ohne Unterlaß immer mehr und mehr in die Tiefe mit Fragen. Am Ende schwindet jede Spur von Bewußtsein eurer selbst; (ihr fühlt euch) einem klaren Himmel ohne eine einzige Wolke gleich. Darin findet man nichts, das «Ich» genannt werden kann, und auch keinen Meister, der hört. Dieser Geist ist gleich der Leeren Weite aller Zehn Weltrichtungen; doch hat er keine Stelle, die man leer nennen kann. Dieser Zustand wird oft fälschlich für (große) Selbst-Wesensschau gehalten. Doch muß man abermals aufs eindringlichste zu ergründen suchen: «Wer denn ist es, der diese Laute hört?» Wenn ihr euch, blind für alles andere, mit unerschütter- lichem Willen ausschließlich in diese Frage einbohrt, so wird selbst das Gefühl Leerer Weite zunichte, und ihr seid euch keines einzigen Dinges mehr bewußt. Vollkommene Finsternis herrscht. (Haltet hier nicht inne, sondern) fragt euch ohne Überdruß: «Wohlan denn! Was nur ist es, das diese Laute hört?» Braucht eure Kräfte bis zum Letz- ten! Erst wenn das Fragen mächtig genug geworden ist, wird die

13. Kannon ist eine Vereinfachung von Kanzeon, und das bedeutet «Hörer (oder Empfänger) der Stimmen (oder Schreie, Laute) der Welt». BASSUI verwendet manchmal Kanzeon und manchmal Kannon. Mit Ausnahme der obigen Stelle haben wir durchwegs Kannon gesetzt, um Verwirrung zu vermeiden.

232 Frage völlig zerbersten. Ihr fühlt euch wie Einer, der von den Toten auferstanden ist. Das also ist Wahre Wesensschau. Zu jener Zeit wer- det ihr zum ersten Mal die Buddhas aller Welten von Angesicht zu Angesicht sehen und auch die ganze Reihe der Patriarchen von einst bis jetzt. Prüft euch mit diesem Kôan:

«Ein Mönch fragte JÔSHÛ: ,Was ist der Sinn von BODHIDHARMAS Kommen 15 aus dem Westen?' JÔSHÛ erwiderte: ,Die Eiche da im Garten.' » Solltet ihr bei diesem Kôan auch nur den geringsten Zweifel haben, so müßt ihr euch dem Fragen: «Was ist es, das hört?» wieder zu- wenden. Wenn ihr in diesem Leben nicht zur Erleuchtung gelangt, wann denn werdet ihr es? Wenn ihr einmal gestorben seid, werdet ihr einer lan- gen Zeit der Leiden auf den Drei Bösen Pfaden nicht entrinnen kön- nen16. Was denn verhindert Erleuchtung? Einzig euer laues Verlan- gen nach Wahrheit. Denkt daran! Kämpft ungestüm auf Leben und Tod!

Die Briefe

1. An einen Mann aus Kumasaka

Du fragst, wie Du bei Deiner Krankheit Zen üben sollst. Wer ist der, der krank ist? Wer ist der, der Zen übt? Weißt Du, wer Du bist? Unser gesamtes Sein ist Buddha-Wesen. Unser gesamtes Sein ist der Große Weg. Die Substanz dieses Großen Weges ist von Anbeginn von lauterster Reinheit und jenseits aller Form. Wie sollte es daran etwas

15. Mumon-Kan, Beispiel 37. Mehr über JÔSHÛ, siehe Seite 62 und im 10. Kapitel unter «JÔSHÛ». 16. Nach buddhistischer Lehre kann man nur mit einem menschlichen Körper Erleuchtung erlangen. Was hier und im vorangehenden Text gemeint ist, bedeutet, daß man lange Leiden in untermenschlichen Daseinsformen durchmachen muß, wenn man seine menschliche Gestalt und damit die Gelegenheit, zu Erleuchtung und höheren Bewußtseinslagen zu gelangen, verpaßt hat.

233 Krankes geben? Die Substanz des Großen Weges, der Ursprung aller Buddhas, ist der allen Menschen Eigene Geist, ihr Ur-Antlitz. Das ist der Meister, der da sieht und mit den Sinnen wahrnimmt. Wer das voll erkennt, ist ein Buddha. Wer sich darüber uneins ist, ist ein gewöhnliches Geschöpf. Daher weisen alle Buddhas und Patriarchen geradewegs auf den Herz-Geist des Menschen hin, auf daß der Mensch sein Selbst-Wesen erkenne und Buddhaschaft erlange; ist es doch für den, der von Schatten verwirrt wird, das Beste, das wahre Ding zu sehen. Ein Beispiel: In alter Zeit lebte ein Mann. Als er (im Hause eines Freundes) im Begriff war, Reiswein zu trinken, glaubte er, im Wein (-becher) eine (kleine) Schlange zu sehen. Doch trank er den Wein. Als er danach nach Hause ging, hatte er arge Leibschmerzen. Man wandte viele Heilmittel an, doch ohne Wirkung. Als das Leben des Mannes zu Ende ging, hörte der Gastgeber von seinem Zustand und lud ihn abermals zu sich ein. Er ließ ihn auf der gleichen Stelle Platz nehmen wie beim vorigen Mal und bot ihm abermals Reiswein an; dabei sagte er ihm, daß es eine Arznei sei. Als er (der Kranke) trinken wollte, war wieder wie beim vorigen Male eine (kleine) Schlange im Wein, und diesmal machte er seinen Gastgeber darauf aufmerksam. Da wies der Gastgeber auf die Decke über seinem Gast, und als der Mann hinaufblickte, sah er dort eine Armbrust hängen. Da wußte er, daß die (kleine) Schlange, die er auch beim vorigen Mal gesehen hatte, die Spiegelung der Armbrust war. Die Blicke der beiden Män- ner trafen sich, und sie lachten. Gesprochen wurde nichts. Die Schmerzen des Kranken verschwanden auf der Stelle, und er ward wie ehedem (gesund). Also ist es auch mit dem Erwachen zum Buddha-Wesen. Der Patriarch YÔKA hat gesagt: «Wenn ihr das Wahre Wesen klar erkennt, so gibt es weder menschliches Bewußtsein noch Dinge17, und im gleichen Augenblick werden höllische Werke ausgelöscht18.»

17. also: weder subjektive noch objektive Wirklichkeit. 18. Gemeint sind die karmischen Wirkungen böser Taten.

234 Eben dieses Wahre Wesen ist der Ursprung aller Geschöpfe. Der Mensch jedoch will nicht glauben, daß der Eigene Geist eben die Große Vollkommenheit des Nyorai-Buddha19 ist; er klammert sich an oberflächliche Formen und sucht die Wahrheit außerhalb (dieses Geistes), indem er durch Askese trachtet, ein Buddha zu werden. Da durch solches aber die trügerische Vorstellung eines Ich nicht beseitigt wird, muß der Mensch in den Wechselfällen der Drei Welten schwere Pein erleiden, gleich jenem, der im Gefäß eine Schlange zu sehen glaubte. Die verschiedensten Heilmittel halfen alle nicht, doch als er des wahren Grundes gewahr wurde, wurde er alsbald geheilt. Blicke also einzig in die Eigene Seele - mit Geheimmitteln ist dem Menschen nicht zu helfen. In einem Sûtra heißt es: «Wenn ihr erkennt, daß euer Feind Verblendung ist, so kann dieser Feind euch nichts mehr anhaben.» Alle Erscheinungsformen sind Wahn und ohne Wirklichkeit. Buddhas und Geschöpfe sind Spiegelbildern im Wasser gleich. Wer das Wahre Wesen der Dinge nicht schaut, hält Schatten irrtümlich für Wirk- lichkeit. So wird auch der Zustand der Leere und Ruhe (beim Zazen), der sich aus der Verminderung der Gedanken ergibt, immer wieder fälschlich für das Ur-Antlitz gehalten; doch ist auch das nur eine Spiegelung im Wasser. Du mußt über den Zustand, da Verstandes- kräfte noch helfen, hinausgehen. Wenn Du überhaupt nicht mehr aus noch ein weißt, dann blicke ihn genau an. Was denn ist er nur? Er wird erst dann Dein Vertrauter, wenn Du einen Wanderstab aus dem Horn eines Hasen zerbrochen oder einen Eisklumpen im Feuer zer- stoßen hast. So sage nun, was für ein Vertrauter ist das denn? Heute ist der achte, morgen ist der dreizehnte.

19. ein höchst vollkommener Buddha.

235 2. An die Äbtissin des Shinryu-ji

Um ein Buddha zu werden, muß man erkennen, wer es ist, der ein Buddha werden will. Um diesen Meister zu erkennen, muß man eben hier und jetzt entschlossenen Willens danach forschen: «Was ist es, das alles als Gut-und-Böse auffaßt, das Farben sieht und Laute hört?» Wenn Ihr Euch tiefschürfend also erforschet, werdet Ihr gewißlich Erleuchtung finden und, erleuchtet, seid Ihr in einem Nu ein Buddha. Der Geist, den die Buddhas in ihrer Erleuchtung erkannten, ist der Geist aller Geschöpfe. Das Wesen dieses Geistes ist lauter und steht mit der Umwelt nicht in Widerspruch. Im Leibe einer Frau hat er keine weibliche Gestalt; im Leibe eines Mannes auch hat er kein Merkmal des Männlichen. Im Leibe des Geringen ist er nicht gering, im Leibe des Vornehmen ist er nicht vornehm. Gleich der Leeren Weite hat er auch keine Spur von Farbe. Himmel und Erde können zunichte werden, doch Leere Weite ohne Form und Farbe ist unzer- störbar. Der Geist ist allumfassend gleich der Leeren Weite. Werden wir im Fleische geboren, so wird der Geist nicht neu erschaffen, und stirbt dieser Leib, geht jener nicht zugrunde. Und ist er auch gleich unsichtbar, so durchflutet er doch unseren Leib und jegliche Verrich- tung; daß wir mit den Augen Farben sehen, mit den Ohren Laute hören, mit der Nase Gerüche wahrnehmen und mit dem Munde spre- chen können, daß wir die Hände bewegen und die Füße setzen, ist nichts als das Wirken dieses Geistes. Wer da nach Buddha und der Wahrheit außerhalb dessen (dieses Geistes) sucht, den kann man nur als verblendetes Geschöpf bezeichnen; wer unmittelbar innewird, daß sein Ursprüngliches Wesen Buddha ist, den kann man als Buddha bezeichnen. Da war nie ein Buddha, der diesen Geist nicht erkannt hätte, und ein jegliches Geschöpf in den Sechs Bereichen des Daseins ist damit vollkommen ausgestattet, gleich wie auch Leere Weite all- überall davon erfüllet ist. Darin gibt es keine Geschiedenheit. Die Worte (in einem Sûtra) «In Buddha gibt es keine Unterschiedenheit» bestätigen das.

236 Wer erkannt hat, daß der Eine Geist Buddha ist, möchte es den Geschöpfen kund und zu wissen tun. Da sich die Geschöpfe aber in ihrer Stumpfsinnigkeit an oberflächliche Gebilde klammern, können sie nicht an diesen makellosen Dharma-kāya, diesen reinen, wahren Buddha glauben. Und so greifen Buddhas beim Predigen zu Meta- phern und bezeichnen diesen Geist als «Kostbaren Edelstein des freien Willens», nennen ihn «Großer Weg», nennen ihn «Amida», nennen ihn «Buddha höchster Weisheit» oder auch «Jizô» oder «Kannon» oder auch «Fugen», oder sie nennen ihn «Ur-Antlitz vor Geburt von Vater und Mutter». Der Bodhisattva Jizô20 wird als Verkörperung der Sechs Bereiche des Daseins bezeichnet, da er der Meister der sechs Sinne aller Geschöpfe in den Sechs Bereichen ist. Die Bezeichnungen aller Buddhas und Bodhisattvas sind nur (verschiedene) Namen für den Einen Geist. Glaubt einer an den Eigenen Buddha-Geist, so ist es daher das Gleiche, als glaubte er an alle Buddhas. In einem Sûtra heißt es: «Die Drei Welten sind nur Ein Geist; außer diesem Geiste gibt es keine andere Wahrheit; Geist, Buddha und Geschöpfe, diese Drei sind nicht unterschieden.»

Da sich nun alle Sûtras21 mit diesem Geiste befassen, ist es für den Menschen, der dieses Geistes inne wird, gleich, als läse und verstünde er alle Sûtras auf einen Schlag. In einem Sûtra heißt es: «Die Lehren der Sûtras sind gleich wie ein Finger, der zum Monde weist.» Nun sind diese Lehren die Predigten aller Buddhas. «Zum Monde wei- sen» heißt, auf den Einen Geist der Geschöpfe weisen. Gleich wie man sagt, daß der Mond (beide Seiten der) Welt bescheint, so durchstrahlt gleichermaßen der Eine Geist die innere und äußere Welt. Wenn es da heißt, daß einer durch Rezitieren der Sûtras eine Fülle guter Werke täte, so bedeutet das eben das, was gerade gesagt worden ist, und wei-

20. Jizô hat stets einen besonderen Platz im Herzen der japanischen Buddhisten eingenommen; vielleicht ist das der Grund, weshalb BASSUI, anscheinend ziemlich unberechtigt, diesen Bodhisattva heraushebt. 21. Issaikyô, der Name der Sammlung aller Sûtras.

237 ter nichts22. Und wiederum heißt es, daß man durch Buddha-Dienst Buddhaschaft erlange; aber Buddhaschaft erlangen, heißt einfach, dieses Geistes innewerden. Den Namen des Buddha anrufen und Sûtras lernen und rezitieren, das ist nur, als nähme man ein kleines Boot oder Floß, um den Fluß zu überqueren und das Ufer des Satori zu erreichen; doch hernach muß man schnell aus dem Boot aussteigen und sich eilen. (In einem Augenblick) vollkommener innerer Samm- lung des Einen Geistes gewahr zu werden, ist daher ein unendlich viel besseres Werk, als tausend, zehntausend Tage lang Sûtras zu rezi- tieren, wie es auch unvergleichlich größer ist, gesammelten Willens des Eigenen Geistes innezuwerden, als tausend, zehntausend Jahre lang zu hören, warum das so ist. Wie man aber vom Seichten ins Tiefe fort- schreiten muß, so ist es für Verblendete und Stumpfe ein segensvolles Geschick, wenn sie mit Begeisterung Sûtras rezitieren und den Namen des Buddha anrufen. Das ist gleich, als bestiegen sie für den Anfang ein Boot oder Floß. Wenn sie aber dessen zufrieden sind, für immer auf dem Floß zu bleiben und kein Verlangen tragen, das Ufer der Selbst-Wesensschau zu erreichen, so wird das zu einem großen Irrtum. SHAKYAMUNI Buddha unterzog sich vieler Askesen, konnte am Ende aber dadurch doch nicht Buddhaschaft gewinnen. Darauf warf er all das von sich, übte sechs Jahre lang Zazen und ward schließlich des Einen Geistes inne. Nach seiner Vollkommenen Erleuchtung predigte er die Lebendige Wahrheit (die er erkannt hatte) allen Geschöpfen. All diese Predigten eben werden Sûtras genannt und sind die Worte, die aus dem erleuchteten Geiste des Buddha strömten. Dieser Eine Geist ist eben jetzt im Innern eines jeglichen Menschen vorhanden; er ist der Meister der sechs Sinne. Erkennt man diesen Meister, so werden in einem Nu Wirkungen und Ursachen aller Sün- den zunichte, gleich wie Eis, das man in kochendes Wasser wirft. Erst nach solch unmittelbarer Erkenntnis kann man behaupten, daß der Eigene Geist Buddha ist. Das Wesen dieses Geistes ist strahlend von Anbeginn. Niemals gab es darin eine Unterschiedenheit von Buddha und den Geschöpfen. Doch durch Wahnvorstellungen, verblendete

22. Nämlich, daß die Sûtras sagen, daß sie selbst nicht die Wahrheit sind, sondern einem Pfeil gleichen, der auf die Wahrheit hinweist.

238 Gedanken wird solche Unterschiedenheit geschaffen, gleich wie Wol- ken den Schein von Sonne und Mond verbergen. Indessen lassen sich solche Wahnvorstellungen durch die Kraft des Zazen-Übens ver- scheuchen, gleich wie Wolken vom Winde vertrieben werden. Sind solch verblendete Gedanken einmal verschwunden, so kommt das Buddha-Wesen zum Vorschein, gleich wie der Mond sich zeigt, sobald die Wolken verschwinden. Damit offenbart sich einzig das ursprüng- liche Licht und nichts, was man von außen neu gewonnen hätte. Wollt Ihr der Pein des Kreislaufs von Geburt-und-Tod entkommen, so müßt Ihr Euch der Verblendung, des Eigenwillens entschlagen. Um Euch ihrer zu entschlagen, müßt Ihr den Geist erkennen. Um den Geist zu erkennen, müßt Ihr Zazen üben. Die Art des Übens ist von größter Bedeutung. Ihr müßt zutiefst forschend in Euer Kôan ein- dringen. Die Grundlage eines jeden Kôan ist der Eigene Geist. Das brennende Verlangen nach Erkenntnis dieses Geistes nennt man «Wille zur Wahrheit» oder auch «Durst nach Erkenntnis». Der ist weise, der voll tiefer Furcht ist, in die Hölle zu fahren 23. Einzig weil die Schrecken der Hölle den Menschen so wenig bekannt sind, ver- langt es sie nicht nach dem Weg des Buddha. In alter Zeit gab es einen Bodhisattva, der Erleuchtung fand, indem er ergriffen allen Tönen lauschte. So nannte SHAKYAMUNI Buddha ihn Kanzeon (Kannon). Will ein heutiger Mensch gleichfalls die Substanz von Geist-an-sich, der Buddha-an-sich24 ist, erkennen, so forsche er im gleichen Augenblick, da er einen Laut vernimmt, nach dem, der hört. Solchermaßen werdet Ihr gewißlich erkennen, daß das Selbst nichts anderes als Kannon ist. Dieser Geist ist weder Sein, noch Nicht-Sein. Er ist von allen Formen gesondert, und doch ist er von allen Formen nicht gesondert. Trachtet nicht zu verhindern, daß Gedanken aufsteigen, und klam- mert Euch nicht an Gedanken, die aufgestiegen sind. Laßt die Gedan-

23. Das bedeutet, daß jene Daseinsebene oder Bewußtseinsverfassung, die man Hölle nennt, voll qualvoller Martern ist und daß es die Furcht vor solch elendig- lichem Leben ist, die das tiefe Verlangen nach Selbst-Wesensschau hervorruft; denn Erleuchtung ist es, die der Hölle die Schrecken nimmt. 24. Es gilt zu erkennen, daß Sprechen-an-sich Buddha ist, Hören-an-sich Buddha ist.

239 ken kommen und gehen, wie sie wollen; ringt nicht mit ihnen. Ihr müßt einzig und allein von ganzem Herzen forschen: «Was ist mein Eigener Geist?» Ich dringe immer wieder darauf, weil ich Euch zur Selbst-Wesensschau bringen möchte. Wenn Ihr (hartnäckig) zu ver- stehen trachtet, was (mit dem Verstande) nicht begriffen werden kann, so gelangt Ihr an einen toten Punkt, und Ihr wißt überhaupt nicht mehr, was tun. Aber Ihr dringt immer tiefer. Im Sitzen und Stehen, beim Schlafen und Wachen fragt Euch solcher- maßen voller Zweifel bis zum tiefsten Grunde, und fürchtet nichts, als daß Ihr den Eigenen Geist nicht erkennen könntet. Solch Forschen eben heißt, Zazen üben. Wenn dieses eindringliche Fragen jeden Zoll an Euch durchdringt und bis zum Grunde vorstößt, so bricht die Frage plötzlich auf, und die Wesenssubstanz von Buddha-an-sich wird offenbar - gleich wie ein Spiegel erst dann spiegeln kann, wenn der Kasten (darin er war) aufgebrochen ward - und durchstrahlt alle Zehn Weltrichtungen, ein Weltall, frei von jedem Makel. Zu jener Zeit werdet Ihr zum erstenmal losgelöst sein vom Gang des Rads- des-Lebens in den Sechs Bereichen, da die (Wirkungen aller) bösen Werke zunichte wurden. Die innerste Wonne dieses Augenblicks läßt sich nicht in Worte fassen. Ein Beispiel: Stellt Euch einen vor, der im Traum in die Hölle gefah- ren ist und, von Höllendienern gepeinigt, über alle Maßen leidet. Seine Leiden enden im Nu, sobald er aus dem Traum erwacht; von all den Leiden bleibt auch nicht das Geringste übrig. Gleichermaßen befreit sich von (den Leiden durch) Geburt-und-Tod (wer geistig erwacht). Um solchermaßen Erleuchtung zu finden, bedarf man kei- ner besonderen Anlagen, sondern einzig des festen Willens. Buddhas und die Geschöpfe sind gleich wie Wasser und Eis. Eis kann ebenso wenig fließen wie Stein oder Ziegel. Schmilzt es aber, so ist es nichts als das ursprüngliche Wasser und strömt in zwangloser Anpassung an die Umwelt dahin. Im Zustand der Verblendung gleichen wir dem Eis: durch Erleuchtung gelangen wir zu der ursprünglichen wunder- baren Substanz. Und merke denn: Es gibt kein Eis, das nicht wieder zu Wasser wird. Also auch gibt es keine Unterschiedenheit von Buddha und den Geschöpfen. Einzig und allein verblendetes Denken

240 trennt sie. Ist die Verblendung aufgelöst, sind Geschöpfe und Buddha gleich. Gebt nie und nimmer dem Überdruß nach. Ist Euer Verlangen zu seicht, um in diesem Leben zur Erleuchtung zu gelangen, so werdet Ihr doch gewißlich im nächsten Leben zur Erleuchtung kommen, sofern Ihr gläubig ohne Unterlaß mit dem Zen-Üben fortfahrt - auch im Sterben noch -, gleich wie das, was heute begonnen ward, morgen leicht getan ist. Doch seid nicht nachlässig. Stellt Euch vor, Ihr läget in diesem Augenblick im Sterben. Was denn kann Euch einzig helfen? Was denn kann Euch davor bewahren, Eurer bösen Werke halber in die Hölle zu fahren? Zum Glück jedoch gibt es den Großen Weg zur Erlösung. Mancherlei zuvor gesagte Worte sind nur wie Zweige und Blätter. Einzig und allein betrachtet diese Worte in Eurem Innern: «Was ist mein Buddha-Geist?» Wollt Ihr mit einem Blick die Essenz aller Buddhas schauen, so müßt Ihr einzig die Gestalt des Eigenen-Einen- Geistes erkennen. Ist das, was ich sage, wahr oder falsch? Heftet stracks Euren Blick darauf und seht: «Was ist mein Buddha-Geist?» Wenn Ihr den Geist in der Erleuchtung gut erkennt, so wird sich der Lotus inmitten des Feuers entfalten und in alle Ewigkeit nicht welken. Der Mensch ist von Anbeginn in diesem Lotus. Warum könnt Ihr das nicht begreifen?

3. An Fürst NAKAMURA, Gouverneur der Provinz Aki

«Geist hat keine feste Stätte und sollte dahinströmen», führt Ihr an und fragt dabei, wie Ihr Zen üben sollt. Nun gibt es keine besondere Weise, um Erleuchtung zu finden. Wenn Ihr nur unmittelbar in Euer Selbst-Wesen blickt und Euch nicht ablenken laßt, so wird die Herz- Blume erblühen. Daher denn heißt es in dem Sûtra, daß Geist keine feste Stätte habe und dahinströmen solle. Tausende und Zehntau- sende von Worten, die von Buddhas und Patriarchen gesprochen wur- den, laufen einzig auf diesen einen Satz hinaus. Geist ist das Wahre Wesen der Dinge und übersteigt jegliche Form. Das Wahre Wesen ist

241 der Weg. Der Weg ist Buddha. Buddha ist Geist. Geist ist nicht drin- nen; Geist ist nicht draußen; Geist ist nicht dazwischen. Er ist nicht Sein; er ist nicht Nichts; er ist nicht Nicht-Sein; er ist nicht Nicht- Nichts. Er ist nicht Geist, er ist nicht Buddha, er ist nicht Materie. Also wird er «Geist ohne feste Stätte» genannt. Dieser Geist sieht mit den Augen Farben, hört Töne mit den Ohren. Forscht einzig gerade- wegs nach diesem Meister! Ein Zen-Meister alter Zeit (RINZAI) hat gesagt: «Unser aus den vier Grundelementen25 gebildeter Leib kann diese Predigt nicht hören noch verstehen. Milz oder Magen, Leber oder Gallenblase kön- nen diese Predigt nicht hören noch verstehen. Leere Weite kann diese Pre- digt nicht hören noch verstehen. Was also hört und versteht diese Predigt?» Ringt darum, dessen unmittelbar innezuwerden. Bleibt Euer Sinn an irgendeiner Form, irgendeinem Gefühl haften, oder wird er von Ver- nunft oder begrifflichem Denken abgelenkt, so seid Ihr (von wahrer Wesensschau) so weit entfernt wie der Himmel von der Erde. Wie nun könnt Ihr mit einem Streich Geburt-und-Tod abschlagen? Dringt man vor ins Vernunftdenken, so verliert man sich in Wahn, doch weicht man zurück, so steht man dem höchsten Sinn entgegen. Wer es vermag, weder vorzudringen, noch zurückzuweichen, der ist ein «lebender Leichnam». Macht Ihr in dieser trostlosen Lage Euer Denken zunichte, und dringt Ihr mit dem Forschen ohne Unterlaß weiter ein, so werdet Ihr gewißlich zur Erleuchtung kommen und die Worte «Geist hat keine feste Stätte und sollte dahinströmen» begrei- fen. Augenblicklich wird Euch dann der Sinn aller Zen-Dialoge und Kôans einleuchten, wie auch die tiefgründige Bedeutung der Hundert- tausende von Sûtras. Der Laie Ho fragte BASO: «Was ist es, das alles im Weltall übersteigt?» BASO erwiderte: «Darauf werde ich antworten, wenn Du die Wasser des West-Flusses26 in einem Zuge ausgetrunken hast.» Augenblicklich

25. Nämlich: Festes (Erde), Flüssiges (Wasser), Heißes (Feuer), Gasförmiges (Luft) 26. Der West-Fluß ist ein großer Strom in China. — Eine andere Fassung des gleichen Kôan lautet: «Hô erwiderte: ,Ich habe bereits die Wasser des West- Flusses in einem Zuge ausgetrunken.' ,Dann habe ich es Dir auch schon gesagt", versetzte BASO.»

242 fand Hô tiefe Erleuchtung. Seht her, was bedeutet das? Erklärt das die Worte: «Geist hat keine feste Stätte und sollte dahinströmen», oder weist es auf eben den hin, der dieses hört? Begreift Ihr nun noch nicht, so wendet Euch wieder dem Fragen zu: «Was ist es, das jetzt hört?» Findet das in diesem Augenblick heraus! Das Problem von Geburt-und-Tod ist schwerwiegend, und die Welt bewegt sich schnell. Karge mit der Zeit; die Zeit harret nicht des Menschen27. Euer Eigener Geist ist von Anbeginn Buddha. Wer das in der Erleuch- tung erkennt, wird Buddha genannt; wer hierüber im Irrtum ist, den nennt man ein gewöhnliches Geschöpf. Beim Schlafen und Wachen, im Stehen und Sitzen und beim Arbeiten fragt Euch einzig und allein: «Was ist mein Eigener Geist?» Dabei müßt Ihr in den Ursprung blicken, aus dem die Gedanken hervorgehen. Wohlan denn, was ist dieser Meister, der eben jetzt die Dinge wahrnimmt, denkt, diesen Leib bewegt, arbeiten läßt, vorangehen und zurückkehren läßt? Um das zu erkennen, müßt Ihr Euch mit ganzem Willen darein versen- ken, es unablässig im Sinn tragen und nie vergessen. Solltet Ihr in diesem Leben dennoch nicht Erleuchtung finden, so schafft Ihr doch damit die Ursache, um ohne jeden Zweifel im nächsten Leben leicht zur Erleuchtung zu kommen. Beim Zazen denkt nicht im geringsten (in Begriffen von) Gut und Böse. Trachtet auch nicht zu hindern, daß Gedanken aufsteigen, sondern fragt Euch einzig stracks: «Was ist mein eigener Geist?» Auch wenn Ihr solchermaßen zutiefst forscht, so werdet Ihr doch nichts zu wissen finden, und Euer Herz wird in eine Sackgasse geraten. Im eigenen Innern findet Ihr auch nichts, was man «Ich» oder «Geist» nennen könnte, und auch keinerlei Form. Wohlan denn, was nur ist es, das all diese Dinge versteht? Kehrt Ihr in tiefster Be- trachtung ganz zu Euch selbst zurück, so vergeht auch jener Sinn, der wahrnimmt, daß es dort nichts gibt. Da gibt es keine Vernunft mehr, nur gleichsam Leere Weite noch. Wird auch jener Sinn, der sich der Leeren Weite bewußt ist, bis zum Grunde zunichte, so erkennt Ihr, daß es keinen Buddha außerhalb des Eigenen Geistes gibt und keinen

27. Siehe jedoch auch S. 235: «Heute ist der achte; morgen ist der dreizehnte.»

243 Geist außerhalb des Buddha. Dann begreift Ihr zum ersten Mal, daß Ihr, wenn Ihr nicht mit Ohren hört, erst wahrhaft hört, wenn Ihr nicht mit Augen seht, erst wahrhaft die Buddhas aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schaut. Indessen, heftet Euch nicht an diese Worte, sondern erlebt es selbst. Seht doch nur, was denn ist Euer Geist? Von Anbeginn ist der Mensch seinem Urwesen nach Buddha. Da die Menschen das aber nicht glau- ben wollen und Buddha und die Wahrheit außerhalb dieses Geistes suchen, können sie nicht Erleuchtung finden, und, von gutem und schlechtem Karma umgetrieben, vermögen sie nicht, dem Kreislauf von Geburt-und-Tod zu entrinnen. Die Wurzel all der verschiedenen Karma-Fesseln ist Verblendung (also Gedanken, Gefühle, Wahrneh- mungen aus Unwissenheit). Entschlagt Euch dessen, und Ihr seid ein erlöster Mensch. Gleich wie Asche, die ein Holzkohlenfeuer bedeckt, auseinandergetrieben wird, wenn man das Feuer anfächelt, so schwin- det alle Verblendung dahin, sobald Ihr Euer Selbst-Wesen erkennt. Die beim Zazen aufsteigenden Gedanken sollt Ihr durchaus nicht has- sen, noch sollt Ihr sie lieben. Laßt solche Gedanken unbeachtet bei- seite, und blickt einzig unbewegten Sinnes in den Quell, daraus sie entspringen; so wird alle Verblendung, darin die Gedanken wurzeln, vertrieben, gleich wie Asche, die man vom Feuer wegfächelt. Eine andere Weise gibt es nicht. Ob Ihr Euch nun gleich nicht mehr eines Innen und Außen bewußt seid und (Euer Inneres) gleich der Leeren Weite geworden ist und alle Zehn Weltrichtungen klar und strahlend geworden sind, so wäre es doch ein Irrtum, das für Selbst-Wesens- schau zu halten. Es hieße eine Fata Morgana als Wirklichkeit ansehen, wollte man meinen, daß man damit das Buddha-Wesen klar erkannt hätte. Jetzt forschet mit gar noch mehr Kraft nach dem Eigenen Geiste, der alle Laute vernimmt. Euer fleischlicher Leib, aus den vier Grundelementen gebildet, ist einem Phantom gleich und hat keine Wirklichkeit, aber gesondert von diesem Leibe gibt es nichts, was man Geist nennen kann. Die Leere Weite der Zehn Weltrich- tungen wiederum kann nicht Farben sehen, noch Laute hören. Und doch: Etwas im Innern hört all die Töne, vernimmt den Schall - wer ist es?

244 Wohlan denn, was ist das nur? Erhebt sich in Euch groß dieser Zwei- fel, so vergehen Euch die Unterschiede von Gut und Böse, und Ihr vergeßt, Euch des Seins und des Nichts bewußt zu sein - gleich als würde ein Licht in finsterer Nacht ausgelöscht. Seid Ihr auch Eurer selbst nicht mehr gewahr, so wißt Ihr doch, da Ihr alle Laute ver- nehmt, daß Ihr lebt. Wie sehr Ihr auch trachten mögt, das, was die Töne hört, zu erkennen, so wird doch alles Erkennen zunichte, und Ihr geratet immer mehr und mehr in eine Sackgasse. Urplötzlich bricht Euer Geist in die Große Erleuchtung auf, und gleich wie ein von den Toten Auferstandener werdet Ihr in Lachen ausbrechen und in die Hände klatschen vor Entzücken. In jenem Augenblick erkennt Ihr zum ersten Mal, daß der Eigene Geist Buddha ist. Fürwahr wollte einer fragen: «Wie sieht unser Buddha-Geist aus?» so würde ich ant- worten: «In den Bäumen spielen die Fische; im tiefen Wasser fliegen die Vögel.» Was heißt das? Wenn Euch das noch nicht einleuchtet, blickt in Eure eigene Seele und fragt: «Was ist der Meister, der sieht und hört?» Karge mit der Zeit; die Zeit harret nicht des Menschen.

4. An einen Sterbenden

Das Wesen Deines Geistes ward nicht ins Leben gerufen und geht nicht in den Tod. Es ist nicht Sein, es ist nicht Nichts. Es ist nicht Leere Weite, es ist nicht Sinnenhaftigkeit. Es ist auch nichts, was Schmerz und Freude fühlt. Wie sehr Du auch das, was jetzt krank und voller Schmerzen ist, zu erkennen trachtest, so erkennst Du es (mit dem Verstand) doch nicht. Wohlan denn, was ist die Geist- Substanz dessen, der Krankheit und Schmerzen erleidet? Darüber sinne nach, und außer diesem habe nichts im Sinn, auch keinen anderen Wunsch. Wolle auch nichts verstehen, und verlasse Dich auf sonst nichts. Wenn Du also Deine Tage beschließt, gleich wie Wolken am Himmel vergehen, so wird der Gang Deines Karma enden, und Du wirst alsbald erlöst sein.

245 5. An den Laien IPPÔ (HOMMA SHÔKEN)

Du siehst ihn von Angesicht zu Angesicht; aber wer ist Er? Was immer Du auch sagen magst, ist falsch. Und wenn Du nichts sagst, so ist es gleichermaßen falsch. Auf der Spitze einer Fahnenstange gebiert eine Kuh ein Kalb. Kommst Du an diesem Punkte zur Selbst-Wesens- schau, so brauchst Du nichts weiter zu tun. Vermagst Du es nicht, so blicke in Dich, um Deines Buddha-Wesens innezuwerden. Ein jegli- cher ist voll und ganz mit diesem Buddha-Wesen begabt. Dessen Substanz ist bei den Geschöpfen die gleiche wie bei allen Buddhas - ohne jeden Gradunterschied. Die Weltmenschen aber, in Irrtum befangen, fesseln sich ohne Strick und sagen sich: «Wir können nicht an Selbst-Wesensschau und den Weg der Erleuchtung heranreichen. Wenn wir Sûtras rezitieren und uns vor den Buddhas verneigen und solchermaßen der Gnade aller Buddhas teilhaftig werden, können wir am Ende den Weg betreten.» Die meisten, die das hören, bejahen das. Das ist, als führte ein Blinder viele Blinde. Diese Menschen glauben nicht an Buddha, nicht an die Sûtras, ja sie verleumden sie. Wieso das? Eitel Rezitieren der Sûtras heißt, sie nur (von außen) betrachten. Von «Buddha» zu sprechen, das ist nur eine andere Art, über das Wesen des Geistes zu sprechen. Ein Sûtra sagt: «Geist, Buddha und Geschöpfe lassen sich nicht scheiden.» Wer da nicht an den Eigenen Geist glaubt, aber sagt, er glaube an Buddha, gleicht einem, der an einen Namen glaubt, dieweil er das wahre Ding verschmäht. Das Wesen des Geistes kann er solchermaßen nicht schauen. Wer nur Sûtras rezitieren will, gleicht einem Hungri- gen, der die dargebotene Speise zurückweist und sagt, er wolle seinen Hunger durch Betrachten der Speisekarte stillen. Jedes Sûtra ist nur ein Verzeichnis des Geist-Wesens. In einem Sûtra heißt es: «Die Lehren der Sûtras sind einem Finger gleich, der zum Monde weist.» Kann der Buddha gewollt haben, daß man den Finger erkenne und des Mondes nicht gewahr werde? Einem jeglichen Menschen wohnen die Sûtras inne. Erblickst Du Dein Selbst-Wesen auch nur einen Nu,

246 kommt es dem Lesen und Verstehen aller Sûtras gleich, und auch der kleinste Punkt bleibt nicht ungelesen, und ohne daß Du dabei auch nur ein Sûtra in der Hand hieltest oder ein Schriftzeichen läsest. Ist das denn nicht wahrhaft «Sûtra-Lesen»? Siehe, der grüne Bambushain ist eben Dein Geist, und jene üppig wuchernden gel- ben Blumen alle sind nichts Geringeres als die erhabene Weisheit des Weltalls. Was nun das Verneigen vor den Buddhas angeht, so ist das doch nur ein Mittel, den Mast des Ich umzulegen in die Waagerechte, auf daß man das Buddha-Wesen verwirkliche. Wer nach Buddhaschaft trach- tet, muß sich selbst zur Erleuchtung bringen, wie es auch um seine Fähigkeiten bestellt sein mag. Leider fangen manche, die das zu- fällig verstehen und Zazen üben, doch noch nicht große Erleuch- tung fanden, unterwegs an, nachlässig zu werden. Wieder andere hal- ten es für Erleuchtung, wenn das Vernunftdenken zeitweilig aussetzt und Gedanken-Losigkeit, Gestalt-Losigkeit einsetzt. Dann sind da jene, die es als ausreichend ansehen, wenn sie kein einziges Kôan vergessen, und andere wieder meinen, daß es der Wahre Weg sei, wenn sie die Gebote nicht übertreten oder gar in Wäldern leben, um dem Gut und Böse der Welt zu entfliehen. Noch andere behaupten, daß es gar keine Wahrheit zu erkennen gäbe oder doch jedenfalls nur gälte, eben Tee zu trinken, wenn Tee angeboten wird, und zu essen, wenn Speisen gereicht werden, oder plötzlich «Katsu!» zu brül- len, wenn sie nach dem Buddhismus gefragt werden, oder, den Kimonoärmel schwenkend, plötzlich hinwegzugehen mit einer Miene, als scherten sie sich um nichts; und das halten sie für den Weg. Sie üben nicht Zazen und schelten jene Narren, die fähige Zen-Meister aufsuchen und ernsthaft üben. Wenn solche Leute Wahrheitssucher genannt werden können, kann man auch sagen, daß ein dreijähriges Kind Zen versteht. Dann sind da jene, die meinen, daß man zur Abge- schiedenheit des Geistes gelangt sei, wenn Bewußtsein und Gedanken aufgehört und einen gleich wie einen verdorrten Baum oder kalten Stein zurückgelassen haben. Andere wieder meinen, daß man einen wichtigen Punkt erreicht habe, wenn man im Innern tiefe Leere spürt, Innen und Außen nicht mehr geschieden sind, und der ganze

247 Leib strahlend und durchscheinend wird gleich dem blauen Himmel an einem heiteren Tage. Das tritt dann ein, wenn unser Wahres Wesen sich zu zeigen beginnt, doch ist das noch keine wahre Erleuchtung. Zen-Meister alter Zeit haben das die «tiefe Grube der Schein-Befreiung» genannt. Menschen, die solches gewahr wurden, behaupten, daß es in der Wahrheit nichts (mehr) zu erforschen gäbe, und führen sich hochmütig auf, obgleich sie leer und ohne Gehalt sind, und lieben es, sich eifrig an Debatten über Religion zu beteiligen; sie treiben mit Vergnügen ihre Gegner in die Enge, doch erhebt sich der Zorn in ihnen, wenn sie selbst in die Enge getrieben werden. Im Herzen sind sie voller Groll. Sie verwer- fen das Gesetz von Ursache und Wirkung. Sie gehen einher und erzäh- len Witze mit lauten, plappernden Stimmen; absichtlich stören sie jene, die ernsthaft üben und lernen, und schelten sie Tölpel, die nichts mit Zen zu tun haben. Das ist gleich, als wollte ein Wahnsinniger einen auslachen, der bei Verstand ist. Ihre Anmaßung wächst von Tag zu Tag, und sie fahren pfeilschnell zur Hölle. Der erste Patriarch (BODHIDHARMA) hat gesagt: «Wer da sagt, daß alles Leere sei, und nichts von Ursache und Wirkung weiß, fährt in eine immerwährende pechschwarze Hölle.» Diese Lippenredner hören sich manchmal ähnlich an (wie Zen-Mei- ster), doch können sie sich nicht von Verblendung und Eigenwillen befreien. Die meisten Anfänger halten das geringste Anzeichen von Wahrem Wesen für Satori. Ein Zen-Meister alter Zeit (RINZAI) hat gesagt:

«Der ,Leib des Wahren Wesens' und der ,Grund des Wahren Wesens', sol- ches sind Schatten (d. h. Begriffe), wie ich gewißlich weiß. Ihr müßt den finden, der den Schatten wirft; das ist der Ursprung aller Buddhas.» Manche Menschen sagen: «Wenn wir Zen üben und erlernen, so kom- men uns mancherlei Ideen28, und solche Ideen sind eine Krankheit der Seele (so sagt man uns). Aus diesem Grunde ist Selbst-Wesensschau (durch Zen) nicht leicht. Wie aber, wenn wir den Geist weder durch

28. Das heißt Begriffe über Satori, Mu, Ku usw.

248 Erleuchtung noch durch Studieren des Buddhismus klar erkennen? Kann es Vergeltung geben, wenn wir doch all die Sünden nicht begehen? Wie, wenn wir niemals zur Buddhaschaft gelangen? Solange wir nicht den Drei Bösen Pfaden verfallen, warum sollten wir da um Erleuchtung ringen?» Antwort: Die Wurzel aller Sünde ist Verblendung, und diese Wurzel kann ohne Selbst-Wesensschau nicht ausgerottet werden. Im Leib der Geschöpfe gibt es sechs Sinneswurzeln, und in einer jeden davon sitzt ein Dieb29. Jeder dieser sechs Diebe führt dreierlei Gifte: Habgier, Zorn und Torheit. Es gibt keinen Sterblichen, der diese dreierlei Gifte nicht in sich hätte. Diese drei Gifte bilden die Ursache, deren Wirkung die Drei Bösen Pfade sind. Die Wirkungen ergeben sich unvermeidlich aus den Ursachen. Wer da sagt: «Ich bin ohne Sünde», weiß nichts von diesem Gesetz. Auch wer da einen ungewöhnlich guten Lebenswandel führt, der hat doch schon von vornherein diese drei Gifte in sich. Wie ist es dann um jene bestellt, die obendrein noch zahlreiche Vergehen hinzufügen? Frage: Wenn ein jeglicher die drei Gifte in sich hat, haben dann auch Buddhas, Patriarchen und heilige Weise sie? Wer kann denn dann den Drei Bösen Pfaden entrinnen? Antwort: Einzig durch Selbst-Wesensschau werden die drei Gifte umgewandelt: (Habgier) in das Halten der Gebote, (Zorn) in geistige Festigkeit und (Torheit) in Weisheit. Buddhas, Patriarchen und hei- lige Weise sind alle erleuchtet; welche Sünde denn sollten sie begehen können (aus Habgier, Zorn und Torheit)? Frage: Wenn auch Erleuchtete die drei Gifte in das Halten der Gebote, in geistige Festigkeit und Weisheit umgewandelt haben, wie denn kann man die Seele von der Krankheit der zuvor erwähnten Verblendung heilen? Antwort: Selbst-Wesensschau ist die einzige Arznei für all die zehn- tausend Krankheiten. Verlasse Dich nicht auf irgendeine andere Arznei. Habe ich Dir nicht schon früher gesagt: Finde den, der die Schatten wirft. Das ist der Ursprung aller Buddhas. Dein Buddha- Wesen gleicht dem demantenen Schwert des Vajra-Königs: Wer da

29. Dieb im Sinne von: Verführer.

249 (in das Schwert) hineinläuft, der ist ein toter Mann30. Auch ist es gleich einer großen Feuersbrunst: Ein jeglicher in der Nähe verliert das Leben. Schaust Du erst Dein Wahres Wesen, so wird in einem Nu jeder böse Hang aus dem seit kalpas aufgehäuften Karma zuschanden, gleich wie eine Schneeflocke über offenem Feuer. Betrachtungen über Buddha, Betrachtungen des Dharma bestehen nicht mehr. Welche Krankheit der Seele sollte denn da verbleiben? Warum können all die karmisch bedingte Unwissenheit31 und all das verblendete Denken und Meinen nicht getilgt werden? Einfach, weil wahre Wesensschau nicht stattgefunden hat. Ehe Du nicht zur Erkenntnis Deines Selbst- Wesens gelangt bist, kannst Du nicht hoffen, dem Rad-des-Lebens zu entrinnen, gleich wie man Wasser nicht am Kochen hindern kann, solange man das Feuer darunter nicht löscht. Glücklicherweise glaubst Du daran, daß es außerhalb der Schrifttexte und scholastischen Lehren einen besonders übermittelten Sinn gibt. Also was verlangst Du dann von diesen Texten? Wirf alle Vernunft, alles Verstehen von Dir, und schaue den Meister unmittelbar. Wer ist es, der in diesem Augenblick sieht und hört? Sage doch endlich, was ist denn das? Wenn Du dem Althergebrachten folgend sagst: Man nennt es Geist, man nennt es Wesen, man nennt es Buddha, man nennt es Ur-Antlitz, man nennt es Ursprüngliche-Heimat, man nennt es Kôan, man nennt es Sein, man nennt es Nichts, man nennt es Leere, man nennt es Form-und-Farbe, man nennt es das Gewußte, man nennt es das Ungewußte, man nennt es Wahrheit, man nennt es Wahn; ja, wenn Du irgend etwas sagst oder auch schweigst, es als Erleuchtung oder Irrtum bezeichnest, kommst Du sofort zu Fall. Wenn Du hinwiederum töricht an der Wirklichkeit dieses Meisters zweifelst, fesselst Du Dich ohne Strick. Wie sehr Du auch trachten magst, es zu benennen, es zu sagen und zu erkennen, so erkennst Du doch nichts. Selbst wenn alles an Dir zu einer einzigen Frage gewor- den ist und Du, nach innen gekehrt, bis zum Grunde vordringst und

30. Vergleiche hiermit die Aussage, die im Alten Testament Gott beigelegt wird: «Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.» (2. Mose 33, 20) 31. Japanisch: mumyo; skt.: avidyā.

250 forschest, so findest Du doch im Kern Deines Seins nicht das Gering- ste, das da Geist oder Wesen genannt werden könnte. Und doch - ertönt ein Laut, so hört etwas, ruft einer Dich bei Namen, so antwor- test Du. Finde augenblicklich heraus, wer Es ist! Wenn Du - da der Weg Deines Denkens versperrt, Deine Kraft erschöpft ist und Du gar nicht mehr weißt, was tun - dennoch weiter vordringst und Dich in den ungeheuren Abgrund von Feuer stürzt, die Hände hoch in der Luft - in das immerdar brennende Vajra- Flammenmeer Deines eigenen Ur-Wesens - so werden alle trügeri- schen Gedanken, Gefühle und Vorstellungen, zusammen mit der Wurzel Deines Lebens, zunichte, und der Ursprung Deines Selbst- Wesens tritt in Erscheinung. Dir wird sein, gleich als seist Du von den Toten auferstanden, alle und jede Krankheit ist vollends vergangen, und Du erlebst Frieden, Stille und Freude. Du hast vollkommene Freiheit. Zu eben der Zeit kannst Du deutlich erkennen, daß das Wandeln auf dem Wasser gleich dem Wandeln auf dem Erdboden und das Wandeln auf dem Erdboden gleich dem Wandeln auf dem Wasser ist, daß von morgens bis abends geredet und doch niemals ein Wort gesprochen wird, daß von morgens bis abends gegangen und doch niemals ein Schritt gemacht wird; daß, während die Wolken über den Süd-Bergen aufsteigen, Regen auf die Nord-Berge fällt; daß beim Anschlagen der Teishô-Trommel in China das Teishô in Korea beginnt; daß Du, da Du allein in einer drei Quadratmeter großen Kammer sitzt, alle Buddhas der Zehn-Weltrichtungen triffst; daß Du, ohne ein Schriftzeichen zu sehen, die mehr als siebentausend Schrift- rollen der Sûtras liest; daß, auch wenn Du der Verdienste aller guten Werke voll bist, es doch in Wahrheit gar keine gibt. Willst Du wissen, was dieser Geist ist? Der Laie Ho fragte BASO: «Was ist es, das alles im Weltall übersteigt?» BASO antwortete: «Das werde ich dir sagen, wenn du die Wasser des West-Flusses in einem Zuge ausgetrunken hast.» Bei diesen Worten fand Ho tiefe Erleuch- tung. Wie denn nun schluckst Du all das Wasser des West-Flusses? Kommt Dir bei diesen Worten das Begreifen, so kannst Du gleich- zeitig durch tausend, zehntausend Kôans gehen und wirst dessen inne, was es heißt, daß das Schreiten auf dem Wasser gleich dem

251 Schreiten auf dem Erdboden ist und das Schreiten auf dem Erdboden gleich dem Schreiten auf dem Wasser ist. Verfällst Du wiederum in den Irrtum, (zu glauben) ich beschriebe hier ein übernatürliches Wir- ken, so wirst Du dereinst eine rot-glühende Eisenkugel vor Yama Rāja schlucken müssen. Doch wenn es kein übernatürliches Wirken ist, für was denn soll man es halten? Blicke dem stracks ins Gesicht!

6. An einen Mönch in der Shôbô-Einsiedelei (auf seine dringende Bitte bin)

Da ich noch klein war, beunruhigte mich eine Frage vor allem: Was denn antwortet, abgesehen von diesem Leib, auf die Frage: «Wer bist du?» mit «Ich bin der-und-der?». Diese Beunruhigung ward, da sie einmal angehoben hatte, mit jedem Lebensjahre tiefer, und ich be- schloß, Mönch zu werden. Dann erhob sich in mir das eine große Gelübde: Nun, da ich Mönch werde, kann ich den WEG nicht einzig zum eigenen Heile suchen. Erst wenn ich die Erhabene Wahrheit aller Buddhas erkannt und ein jegliches Geschöpf errettet habe, darf ich selbst höchste Vollkommenheit (d. h. Buddhaschaft) gewinnen. Zudem werde ich nicht Buddhismus studieren und die Riten und Übungen eines Mönchs erlernen, ehe nicht dieser Zweifel in meinem Innern geklärt ist. Solange ich in der Menschenwelt lebe, werde ich nirgends als bei großen Zen-Meistern und in den Bergen weilen. Da ich Mönch geworden war, ward diese Beunruhigung noch tiefer, und auch das Gelübde vertiefte sich (und ich dachte): Der letzte Buddha (SHAKYAMUNI) ist schon dahingegangen, und der zukünftige Buddha (Miroku) ist noch nicht erschienen. Mag es mir in dieser Zeit- spanne32, da gültiger Buddhismus am Erlöschen ist, nicht am Willen

32. Wie viele seiner Zeit glaubte auch BASSUI, daß er sich am Beginn der Epoche des Zerfalls des Wahren Gesetzes befände, wie sie von dem Buddha selbst prophe- zeit worden war. Das Mohasannipāta Candragarbha-Sûtra führt an, daß der Buddha gesagt habe, daß in den ersten fünf Jahrhunderten nach seinem Nirvana seine Schüler entsprechend dem Rechten Gesetz Befreiung erlangen würden; in den zweiten fünf Jahrhunderten wären sie nur sicher, samâdhi zu erlangen; in den dritten fünf Jahrhunderten, die Sûtras zu lesen und zu rezitieren und in den vierten

252 zur Wahrheit gebrechen, um in dieser Buddha-losen Welt alle Geschöpfe zu retten. Und sollte ich gleich für diese Sünde des Anhaf- tens (am Retten) in eine nie endende Hölle fahren, so will ich doch in all meinen wiederholten Leben in alle Ewigkeit nicht dieses Gelübde brechen oder dessen überdrüssig werden, sofern ich nur die Leiden der Geschöpfe auf mich nehmen kann. Auch will ich mich beim Zazen nicht aufhalten mit Betrachtungen über Geburt-und-Tod, noch einen Augenblick durch Tändeln mit guten Werken vergeuden. Auch werde ich die Menschen nicht blind machen (für die Wahrheit), indem ich zu ihrem Wohle wirke, solange meine eigene Kraft noch unzulänglich ist. Dieses Gelübde lag mir beständig am Herzen und ward mir beim Üben ein Hindernis; doch konnte ich nicht anders. Beständig betete ich zu allen Buddhas 33, daß ich unter bösen wie guten Bedingungen einzig unter diesem Gelübde handeln und mein Gelübde erfüllen möge und daß ich mir die Augen aller Himmel zu Freunden machte. So ist es bis heute geblieben. Doch ist es sinnlos fürwahr, über mein verblendetes Herz zu spre- chen. Da Du aber gewagt hast, danach zu fragen, teile ich Dir hier meine Bestrebungen als Novize mit.

7. An die Nonne FURUSAWA

Du hast geschrieben, daß man Geist-an-sich offenbar machen solle. Wie aber offenbart er sich? Was man mit Augen sehen, mit dem Ver- stand erkennen kann, das kann man nicht Geist-an-sich nennen. Wer mit Zazen beginnt, muß vor allem in die eigene Seele blicken. Wenn es der Gedanken und Vorstellungen allmählich weniger werden, wirst fünf Jahrhunderten Tempel und Pagoden zu bauen. In den fünften fünf Jahr- hunderten würde das Gesetz zerfallen. Wenn man das Datum von Buddhas Nirvana mit etwa 476 v. Chr. annimmt, würde BASSUIS Geburt 1327 in die vierte Epoche fallen. 33. Bittgebete sind im Zen nicht unbekannt. Anfänger beten oft zu Buddhas und Patriarchen um Kraft, sich vom Bösen und von der Verblendung läutern zu kön- nen, damit sie ihre geistigen Übungen erfolgreich durchführen mögen.

253 Du Dir ihrer bewußt. Doch ist es falsch, wenn man darum ringt, sie anzuhalten. Verabscheue sie weder, noch liebe sie; trachte einzig, die Quelle zu erkennen, daraus die Gedanken entspringen. Forschest Du (ohne Unterlaß), von wannen die Gedanken kommen, wird nach geraumer Weile Dein Verstand ganz hilflos, eines jeglichen Gedan- kens ledig sein. Doch auch wenn Du solchermaßen hingegeben lange Zeit die Frage betrachtest, bricht sie doch noch nicht auf. So forsche denn weiter bis zum Grunde: «Was ist dieser Geist?» Und plötzlich wird der fragende Sinn verschwinden, und in Deinem Innern gibt es gar nichts mehr, nicht anders als in der Leeren Weite der Zehn Weltrichtungen. Hat man solchermaßen den Weg betreten, so findet man zum ersten Mal etwas Ermutigung. Doch ist man dieses Seelenzustands teilhaftig geworden und hält ihn gar für Geist-an-sich oder für die Lebendige Wahrheit, so gleicht man einem, der Fischaugen für Perlen hält. Wer sich geraume Zeit bei dieser Vorstellung aufhält, dessen Herz verfällt der Anmaßung, wird hochmütig; er lästert Buddhas, lästert Patriar- chen, verwirft das Gesetz von Ursache und Wirkung. Solch ein Mensch muß in diesem Leben mit bösen Geistern kämpfen und ver- fällt schlimmen Pfaden im nächsten Leben. Doch unter günstigen kar- mischen Bedingungen wird er am Ende Erleuchtung finden. Wer jedoch die Wahrheit von all dem nicht einsehen kann und nicht daran glaubt, daß der Eigene Geist Buddha ist, und Buddha und die Wahr- heit außerhalb dieses Geistes sucht, um den ist es weit schlechter bestellt als um einen Nicht-Buddhisten, der von der Welt der Erschei- nungsformen besessen ist. Wie ich schon früher gesagt habe: Suche einen fähigen Zen-Meister auf, sobald Dir eine Einsicht gekommen ist, und eröffne ihm als nackte Wahrheit, wessen Du innegeworden bist; sollte er (Deinen Zweifel) vollends auflösen, gleich als würde Eis in kochendes Wasser geworfen, so wird der helle Mond erstrahlen; und wird auch noch die Leere Weite durchbrochen, so kannst Du zu Deinem Ur-Antlitz zurückkehren. Dann begreifst Du zum ersten Mal, was es heißt: «Die Säge tanzt den Sandai.» Nun ist Sandai der Name eines Tanzes. Da, sieh Dir das nur an: Die Säge tanzt den Sandai! Was hat denn das

254 für einen Sinn? Stracks blicke das an voll zweifelnden Fragens, doch ohne Denkkraft, denn im üblichen Sinn hat es keinen Sinn. Erst durch Selbst-Wesensschau wirst Du das begreifen. Wie ich höre, willst Du fasten. Das Fasten ist ein Weg außerhalb des Buddhismus. Laß ab davon, laß unbedingt ab davon! Mache in Dei- nem Innern Deine irrigen Gedanken, Deine falschen Ansichten zu- nichte, mit denen Du Gewinn und Verlust, Gut und Böse unterschei- dest; das ist wahres Fasten. Wenn Du von ganzem Herzen Zazen übst und Dich dadurch Deiner verblendeten Gedanken und Vorstellun- gen entschlägst, so heißt das langes Fasten. Auch ist es verfehlt, sich außergewöhnlich Wunderbares34 zu wünschen oder anders als andere Menschen sein zu wollen. Halte einzig Deinen Sinn standhaft, doch dabei gelockert. Hefte Deine Augen nicht auf Gut-und-Böse bei anderen Menschen, und schade ihnen nicht. Wenn Du bedenkst, daß alles und jedes (in dieser Welt) Traum und Wahn ist, da es keinen Jammer zu fliehen, keine Freude zu begehren gibt, wird Deine Seele sichtlich still und friedevoll werden. Und mit dem Dahinschmelzen Deiner Verblendung wirst Du auch nach und nach von Deiner Krankheit geheilt werden. Auch was Du in der Erleuchtung erkennst, mußt Du von Dir werfen, und mehr noch Gesichte, die Dir erschei- nen mögen, welcher Art sie auch seien, denn wisse, es ist alles Wahn. So hefte Dich denn nicht daran, und hasse sie auch nicht. Laß Dich keinesfalls darein verwickeln, sondern forsche einzig und allein: «Was ist der Meister, der all das sieht?» Die Fragen, die Du gestellt hast, habe ich ausführlich beantwortet. Nun lies diesen Brief, und wenn Du nicht im mindesten davon ab- weichst und also übst ohne irgendeinen anderen Gedanken, so wirst Du, falls Du dennoch in dieser Lebenszeit nicht Erleuchtung findest, ohne Zweifel in Deinem nächsten Leben einem vollkommen erleuch- teten Zen-Meister begegnen und tausendmal hintereinander Satori erleben durch einmaliges Anhören (des Zen-Meisters). Nur ungern schreibe ich solchermaßen im einzelnen. Doch hast Du mir aus langer Krankheit heraus geschrieben, so kann ich

34. Also Halluzinationen und Phantasien durch langes Fasten.

255 nicht schweigen und habe so geantwortet, daß es Dir leicht faßlich ist.

8. Erster Brief an den Zen-Priester IGUCHI

Ich habe Deine Darstellung gründlich gelesen, aber sie geht am Kern- punkt des Kôan vorbei. Der Sechste Patriarch hat gesagt: «Die Fahne bewegt sich nicht. Der Wind bewegt sich nicht. Dein Geist bewegt sich35.» Dieses klar und deutlich schauen, heißt erkennen, daß Himmel und Erde und wir selbst aus einer Wurzel stammen, daß wir und all die zehntausend Dinge ein Leib sind. Und auch das kleinste Teilchen ist kein abgelöstes Ding. Das Murmeln des Baches, das Rauschen des Windes, das sind die Stimmen des Meisters. Das Grün der Kiefer, das Weiß des Schnees, das sind die Farben des Meisters, eben genau desselben, der die Hände aufhebt, die Füße setzt, Farben sieht und Laute vernimmt. Hat einer alles Wissen erschöpft und alles Verstehen hinter sich gelassen, so hat er solchermaßen Erkenntnis erlangt und ein wenig von seinem Selbst erschaut; doch ist das noch nicht wahre Selbst-Wesensschau. Ein Zen-Meister alter Zeit (RINZAI) hat gesagt: «Beachtet nicht, daß ihr reiner Dharma-kāya seid.» Der gleiche Zen-Meister hat gesagt: «Euer aus den vier Grundelementen gebildeter Leib kann diese Worte nicht hören noch verstehen; Leere Weite kann diese Worte nicht hören noch ver- stehen; was denn ist es, das hört und versteht?» Darein versenkt Euch tief geradewegs. Bemächtigt Euch dieses Kôan, gleich als führtet Ihr das demantene Schwert des Vajra-Königs. Was auch immer Euch in den Sinn kommen mag, schlagt alles nieder; kom- men Euch weltliche Angelegenheiten in den Sinn, haut sie ab; kommen

35. Mumon-Kan, Beispiel 29.

256 Gedanken über buddhistische Lehren daher, schlagt sie nieder; zei- gen sich Wahnvorstellungen, schlagt sie ab; desgleichen schlagt ab (Gedanken über) Erleuchtung, Buddha, Teufel, und geht unablässig mit der Frage um, was es denn sei, das hört. Habt Ihr alle Begriffe ausgerottet und gar noch Leere Weite abgeschlagen, so wird Euer Geist plötzlich aufbrechen, und das, was hört, wird sich offenbaren. Haltet nie und nimmer auf halbem Wege inne, bis Ihr den Punkt erreicht, da Ihr gleichsam von den Toten aufersteht. Dann erst wer- det Ihr diese bedeutsame Frage (Was ist es, das hört?) vollends begreifen. Ich fürchte, es mag Euch ungelegen sein, mir öfter zu schreiben. So habe ich Euch denn diesen (ins einzelne gehenden) Brief geschrieben. Habt Ihr ihn gelesen, so werft ihn ins Feuer.

9. Zweiter Brief an den Zen-Priester IGUCHI

Euren Brief habe ich sorgfältig gelesen. Seit langem schon bewundere ich Euren Entschluß (zur Selbst- Wesensschau zu kommen), erachte Euren Willen für höchst dankens- wert und bin erfreut, daß Ihr die Große Frage nicht vergessen habt. Eure Antwort habe ich in allen Einzelheiten beachtet. Hier möchte ich nur sagen: Macht Euer eigenes Ur-Wesen zu Eurem Kôan. Mögen Euch bei der Suche nach dem Meister, der die Laute vernimmt und spricht, auch unzählige Gedanken und Vorstellungen kommen, ver- wickelt Euch nicht darein, sondern forschet einzig mit aller Kraft: «Was denn nur ist das?» Dann wird ein jeglicher Gedanke und jede Seelenregung zunichte; gleich einem wolkenlosen Himmel (werdet Ihr Euch fühlen). Was da Geist genannt werden kann, das hat selbst keine Form. Wohlan denn, was ist es, das solchermaßen hört, sich einherbewegt und arbeitet? Schürft tiefer und tiefer in Euch, bis Ihr alle Dinge der Welt vollends vergeßt, so werdet Ihr gewißlich Erleuch- tung finden gleich einem, der tief geschlafen hat und aus einem Traum erwacht. Wahrlich, in jenem Augenblick werden an verdorrten Bäu- men Blumen erblühen, und Feuer wird aus Eis aufflammen. Da ist

257 kein zweifelndes Fragen mehr. Buddhismus und weltliche Angelegen- heiten, alles Gut-und-Böse, all das ist dann gleich dem Traum der ver- gangenen Nacht, und einzig und allein Ur-Buddha-Wesen wird sich offenbaren. Auch dann aber darf die Vorstellung, daß der Eine Geist Buddha-Ur-Wesen sei, nicht in Eurem Herzen verweilen. Verweilt Ihr dabei, so schafft Ihr neue Vorstellungen. Da ich Euren Willen (zur Wahrheit) so hoch schätze, habe ich Euch so ins einzelne gehend geschrieben36. Über Eure Gabe von fünfhundert Päckchen Reisknödel und einem Pfund Tee habe ich mich sehr gefreut.

10. Dritter Brief an den Zen-Priester IGUCHI

Euren Brief habe ich in allen Einzelheiten gelesen. Ja, über den Stand Eurer Zen-Übungen zu hören, ist sehr erfreulich. Aber wenn ich Euch ausführlich schreibe, so werdet Ihr gewiß über die Worte nachden- ken, sie auslegen, und das wird Euch ein Hindernis werden (Erleuch- tung zu finden). Trachtet denn, den Meister, der da forscht, unmittelbar zu gewahren. Buddhas und Patriarchen haben gesagt, daß dieser Geist (Meister) von Urbeginn an Buddha sei; doch ist er gleich traumhaftem Wahn37. Was denn an Eurem Leibe könnt Ihr Geist oder Buddha nennen? Befragt Euch einzig aufs eindringlichste, was es denn sei, was nicht genannt, nicht erkannt werden kann, also was für ein Meister es sei, der eben jetzt die Hände aufhebt, die Füße bewegt, spricht und Laute vernimmt. Bei solcher Betrachtung wird Euch der Verstand stille- stehn, jedes Sich-Verlassen auf Kraft enden, und Ihr wißt nicht mehr,

36. Im ersten Augenblick erscheint diese Bemerkung im Widerspruch zu anderen Briefen zu stehen, in denen Bassui sagt, daß es nicht ratsam sei, bis ins einzelste zu schreiben. Bassui befürchtet stets, zu viel zu sagen, seine Empfänger mit Ideen zu überladen, die ihnen im Kopfe hängenbleiben und damit ein Hindernis für ihre Erleuchtung werden könnten. An dieser Stelle deutet Bassui an, daß er so bewegt von Priester Iguchis Eifer ist, daß er ihm trotz seiner Überzeugung solche Briefe schreibt. 37. ungreifbar, substanzlos, unnennbar.

258 wohin Euch wenden. Doch forscht nur umso hartnäckiger weiter, laßt alle Namen fahren, entschlagt Euch allen Denkens, und werft alles und jedes von Euch. Wenn Ihr Euch einzig und allein mit ganzem Willen dahineinversenkt und bis zum Grunde damit Eins werdet, so werdet Ihr gewißlich Erleuchtung finden. Im Lauf der Zeit kommen unsere Gedanken zur Ruhe, man erlebt leere Leere einem wolkenlosen Himmel gleich und gewahrt gar nichts mehr. Doch dürft Ihr das nicht für Erleuchtung halten. Tut ab alles Vernunftdenken, und fragt Euch gar noch eindringlicher solcher- maßen: «Da ist keine Form, die Geist genannt werden kann. Was nur ist es, das all die Laute vernimmt?» Seid Ihr in jeder Faser durchdrungen von solchem Forschen, so bricht die Leere Weite plötzlich auf, und Euer Ur-Antlitz vor Geburt von Vater und Mutter offenbart sich. Es ist gleich, als wäret Ihr jählings aus einem wirren Traum erwacht. Zu jener Zeit sucht eilends einen angesehenen Zen-Meister auf, und laßt Euch kritisch von ihm prüfen. Solltet Ihr in diesem Leben nicht zur Selbst-Wesensschau kommen, so werdet Ihr doch im nächsten Leben Erleuchtung finden, wie die Zen-Meister alter Zeit gelehrt haben, wenn Ihr auch in der Todes- stunde noch, aller anderen Sorgen ledig, einzig also forschet und sterbt, gleich wie Feuer erlischt. Eurem Wunsche folgend, habe ich Euch solchermaßen im einzelnen geschrieben, doch tat ich es widerstrebend. Lest es nur einmal, und werft es dann eilends ins Feuer, ohne es nochmals anzusehen. Betrach- tet einzig zutiefst (die Frage), was die Laute vernimmt. Habt Ihr erst selbst Erleuchtung erlebt, werden Euch all meine Worte als Unsinn erscheinen.

11. Vierter Brief an den Zen-Priester IGUCHI

Es freut mich zu vernehmen, mit welchem Eifer Ihr Zazen übt. Obgleich das, was Ihr berichtet, ähnlich (wie ein Zen-Erlebnis) klingt,

259 so ist es doch nur, was Ihr mit dem Verstand erkannt habt. Die Große Frage ist nichts, was mit dem Verstande erkannt, mit Weisheit ersonnen werden kann, und selbst das, was durch Erleuchtung klar wird, ist noch (eine Art) Wahn. In einem der vorigen Briefe habe ich Euch geschrieben, daß das, was Töne hört, erst offenbar wird, wenn Ihr gleichsam von den Toten auferstanden seid. Packt Ihr die Frage: «Was denn ist es, das Töne hört?» fest an, so habt Ihr schließlich außer dieser Frage auch nicht das Geringste mehr im Sinn. Doch wäre es ein großer Irrtum, wolltet Ihr meinen, das sei nun die Offen- barung des Meisters, der Laute vernimmt. Ihr teilt mir mit, daß Ihr dieses Kôan ergriffen habt gleich einem Schwert und Euch jegliches damit aus dem Sinn geschlagen, auch Leere Weite durchstoßen habt und daß Euch außer diesem Fragen gar nichts mehr im Sinn sei. Wohlan denn, was denn ist es, das all dieses tut? Wenn Ihr das aufs gründlichste erforscht, werdet Ihr erkennen, daß es eben das ist, was die Laute vernimmt. Wenn Ihr das nicht bis zum Letzten ergründet, werdet Ihr doch einer sein, bei dem die Wurzel von Geburt-und-Tot nicht vollends ausgerottet ist, mögt Ihr auch noch so oft Satori erleben und den Buddhismus gut verstehen. Könnt Ihr auch über Buddhismus spre- chen, so ist der Wahn in Eurem Herzen doch noch nicht vollends zu- nichte geworden, und er wird Euch unausweichlich im nächsten Leben auf die Drei Bösen Pfade stürzen. Wenn Ihr jedoch hierbei nicht inne- haltet, sondern daran festhaltet, bis zum Tode weiterzuforschen, so werdet Ihr gewißlich im nächsten Leben Erleuchtung finden. Laßt es Euch nie und nimmer verdrießen, und werdet nicht träge, sondern versenkt Euch einzig aufs beste in Euer Kôan. Euer leibliches Sein kann nicht hören, noch hört Leere Weite. Wohlan denn, so forschet, was es denn sei, das Töne hört. Tut ab alle Vernunft, ent- schlagt Euch allen Sinnens, laßt alles Erwarten der Erleuchtung fah- ren, übersteigt alles Sorgen. Dann kommt Euer Verstand zum Still- stand, und Ihr wißt gar nicht mehr, was tun; und nun, da Ihr gar Erleuchtung und Weisheit dahingegeben habt, werdet Ihr sein gleich wie ein Baum oder Stein. Doch haltet hier nicht inne, sondern fragt Euch geraume Weile ohne Unterlaß aufs eindringlichste, und Ihr wer-

260 det mit Gewißheit tiefe Erleuchtung finden und den Ursprung von Geburt-und-Tod zunichte machen und in die Gefilde der Abgeschie- denheit des Geistes gelangen. Ursprung von Geburt-und-Tod sind Verblendung und Eigenwille, was da Ich-Geist, der Geist des Ich, genannt wird. Ein Zen-Meister alter Zeit (RINZAI) hat gesagt: «Da ist nichts Besonderes zu erkennen; entschlagt euch einzig (der Vorstel- lung) gewöhnlicher Geschöpfe und Heiliger 38.» Das Wesentlichste bei der Erleuchtung ist, daß das Ich zunichte wird. Ich habe Euch also im einzelnen geschrieben, doch wird es nicht gut sein, es anderen zu zeigen. Da Ihr mir aber in der Zwischenzeit so oft geschrieben habt, fühle ich mich gehalten, Euch also zu antworten.

12. An eine Nonne

Deinen Brief habe ich gründlich gelesen. Es ist eine Freude zu ver- nehmen, wie genau Du es mit dem Zen-Üben nimmst und ihm vor allem anderen den Vorzug gibst. Du teilst mit, daß Du einmal meintest, Du solltest Dich zur Haupt- stadt begeben, nach Westen reisen, daß Du aber jetzt einsiehst, daß das ein irriger Gedanke war, und daß die Hauptstadt allenthalben sei, so daß Du nichts weiter zu tun hättest, als Dich, gleich wie gei- stesabwesend, zu fragen: «Was denn ist es?» Doch das genügt nicht. Hast Du auch die Hauptstadt allenthalben gefunden, so hast Du doch den Herrscher noch nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen. Der Herrscher ist Dein Ur-Antlitz vor Geburt von Vater und Mutter. Hast Du die Frage etwas «aufgebrochen», so ist Deine Seele gleich Leerer Weite. (Vorstellungen von) Buddhas, Geschöpfen, Vergangen- heit und Gegenwart bestehen nicht mehr. Das Herz in Deinem Innern ist voll eines Friedens, dem klaren Mondschein gleich, der die Welt durchflutet. Solche Erscheinung aber läßt sich nicht fassen, läßt sich

38. Mit anderen Worten: von Heiligen, von Buddhas, im Gegensatz zu gewöhn- lichen Geschöpfen.

261 Menschen gegenüber nicht mitteilen. Solches stellt sich ein, wenn man etwas Zazen geübt hat, doch ist die Seele noch krank, da beim Ich noch das Unterste zuoberst ist, und eben das (diese Verkehrung) ist der Ursprung von Geburt-und-Tod. Diesen Zustand (heiteren Frie- dens) zu durchbrechen, heißt solchen Ursprung zunichte machen. Wer des echten Verlangens nach Wahrheit ermangelt, der sammelt die Kôans der Alten, stellt Mutmaßungen darüber an und meint, er habe Erleuchtung erlangt. Hafte an nichts, was Du erkennst; forsche einzig nach dem Meister, der erkennt, so werden Deine vorgefaßten Meinun- gen zunichte, gleich wie ein Ding im Feuer verbrennt, gleich wie etwas durch das Schwert getötet wird. Wenn Du, nicht im geringsten mehr an Gut und Böse denkend, Dich bis zum äußersten erforscht hast mit dem «Was ist das?», wird sich der Meister offenbaren, und Du wirst Dich wie auferstanden von den Toten fühlen. TOKUSAN hat gesagt: «Auch wenn du über Es etwas sagen kannst, setzt es dreißig Stockhiebe; und wenn du über Es nichts sagen kannst, setzt es dreißig Stockhiebe.» Was tun, um der Strafe zu entgehen? Wenn Du dem Stock entkom- men kannst, so begreifst Du, was es heißt: «Der Ostberg schreitet über das Wasser 39.» Ich fürchte, ich habe zu viel geschrieben, doch habe ich also getan, weil ich Deinen Willen (Erleuchtung zu finden) schätze. All diese Worte sind nicht die meinen, sondern das, was ich von hervorragen- den Zen-Meistern vernommen und gelernt habe.

39. Das stammt aus UMMONS Gesammelte Aussprüche. - Ein Mönch fragte Um- mon: «Woher kommen Buddhas?» UMMON erwiderte: «Der Ostberg schreitet über das Wasser.»

262 Zweiter Teil Erleuchtung Fünftes Kapitel Acht Erleuchtungserlebnisse zeitgenössischer Japaner und Menschen des Westens

Einführung

In den letzten Jahren haben Berichte über die Erleuchtung chinesi- scher Zen-Mönche alter Zeit ihren Weg in westliche Sprachen gefun- den. Obgleich sie den lobenswerten Zweck verfolgen, den heutigen Leser zu inspirieren und zu unterrichten, haben sie paradoxerweise oft die gegenteilige Wirkung. Wenn ein heute lebender Mensch aus Orient oder Okzident die Wege zur Selbst-Wesensschau betrachtet, die jene Ehrwürdigen alter Zeit beschritten haben, wird er nur allzu leicht geneigt sein, sich zu sagen: «Das ist alles schön und recht für jene Menschen. Sie konnten Satori erlangen, da sie als Mönche abge- schieden vom Getümmel der Welt im Zölibat lebten, unbeschwert von Zuneigung und Verantwortung für Frau und Kinder. Das Leben war in jenen Tagen verhältnismäßig einfach. Für sie gab es noch keine hoch organisierte industrielle Gesellschaft, die an den Einzelnen uner- sättliche Anforderungen stellt. Der Geist ihrer Tage ist beträchtlich anders als der der meinen. Welche Bedeutung kann ihr Satori für mich haben? Gegen die folgenden Berichte aber kann kein derartiger Einwand erhoben werden. Diese Menschen aus Ost und West leben heute unter uns; sie sind weder Mönche noch weltfremde Einzelgänger, sondern Männer und Frauen aus dem Geschäftsleben, Geistesarbeiter, Künst- ler und Hausfrauen. Sie alle haben sich unter einem heutigen Meister im Zen geschult und ihr Selbst-Wesen in geringerem oder weiterem Ausmaß schauend erkannt. Ihre Berichte bezeugen, daß das, was

265 Menschen taten, Menschen tun können, und daß Satori kein uner- reichbares Ideal ist. Die meisten dieser Erleuchtungs-Geschichten erschienen zuerst in buddhistischen Veröffentlichungen auf Japanisch und wurden von dort ins Englische übersetzt1. Der Rest wurde eigens für dieses Buch erbeten. Die Manuskripte wurden so beschnitten, daß belanglose Hin- tergründe weggefallen sind, ohne jedoch den Gang der Ereignisse zu verletzen, die jene Menschen zu Zen hingetrieben hatten, oder ihre mannigfachen, persönlichen Reaktionen auf Zazen, sowie Grund- bestandteile ihrer Schulung dabei zu opfern. Wir glauben, daß es zum Wert dieser Berichte als menschlicher Dokumente beigetragen hat, daß wir sie nicht nur streng auf die Wiedergabe der Umstände bei der Erleuchtung selbst beschränkt haben. Bei jedem Bericht wird einleitend Alter und Beruf des Menschen zur Zeit der Erleuchtung angegeben. Alle wurden bald nach dem Erlebnis geschrieben, mit Ausnahme des dritten, der erst zwanzig Jahre später zu Papier gebracht wurde. Bericht Nummer zwei ist der des Heraus- gebers und Nummer acht der seiner Frau.

Sehr häufig kommt es durch reinen Zufall zu dem gewöhnlichen mystischen Erlebnis eines ausgeweiteten Bewußtseins, und da das mit keiner erprobten Schulungsmethode in Zusammenhang steht, einer Methode, durch die es aufrechterhalten und ausgeweitet werden könnte, bewirkt es eine nur geringe oder gar keine Umwandlung von Persönlichkeit und Charakter und verblaßt schließlich zu einer glücklichen Erinnerung. Satori ist keine solche Zufallserscheinung. Gleich einem Sproß, der aus einem besäten, gedüngten und gründlich gejäteten Erdreich her- vordringt, so kommt Satori zu einem Geist, der die Buddha-Wahrheit vernommen hat, an sie glaubt und dann in sich die erstickende Vor- stellung von Selbst-und-Anders entwurzelt hat. Und ebenso, wie man einen sprießenden Sämling durch Pflege zur Reife bringen muß, so muß man auch, wie bei der Zen-Schulung betont wird, ein

1. Bei der Übersetzung dieser Texte vom Englischen ins Deutsche wurden die japanischen Originale nur bei Unklarheiten herangezogen; d. Ü.

266 erstes Satori durch darauffolgende Kôan-Übungen und (oder) Shi- kantaza ausreifen lassen, bis es unser Leben durch und durch neu beseelt. Mit anderen Worten: Um auf einer höheren Bewußtseins- ebene, die durch Satori herbeigeführt wurde, zu wirken, muß man sich weiter schulen, um auch im Einklang mit diesem Innewerden der Wahrheit handeln zu können. Diese besondere Beziehung zwischen Satori und dem Nach-Satori- Zazen wird von einer kleinen Parabel in einem Sûtra aufgezeigt. In dieser Anekdote wird Satori mit einem Jüngling verglichen, der nach Jahren, da er mittellos in fernen Landen herumgewandert war, ent- deckt, daß sein wohlhabender Vater ihm schon vor vielen Jahren sein Vermögen vermacht hat. Seine Bemühungen, von diesem Schatz, der zu Recht der seine ist, tatsächlich Besitz zu ergreifen und fähig zu wer- den, damit auch weise umzugehen, werden mit dem Nach-Satori-Zazen verglichen, also mit dem Erweitern und Vertiefen des Initial-Satori. Der feinfühlige Leser wird bemerken, daß die geschilderten Erleuch- tungs-Erlebnisse an Klarheit und Tiefe verschieden sind, daß einige Menschen von dem «Ochsen» tatsächlich Besitz ergriffen haben, wie man sich im Zen ausdrückt, während andere kaum seine «Spuren» erblickt haben. Obgleich man Beispiele dafür finden kann, daß tief- greifende Erleuchtung nach nur wenigen Jahren der Bemühungen erreicht wurde und ein wenig tiefes Satori sich nach langjährigen Anstrengungen einstellte, so ist doch die Erleuchtung in der Mehr- zahl der Fälle umso umfassender und dauerhafter, je ausgiebiger, rückhaltloser und reiner Zazen vor Satori geübt wurde. Welcher Art waren nun diese Leute, die sich zu einer höheren Bewußtseinsebene aufschwingen konnten - gleich dem Karpfen in der chinesischen Fabel, der in mächtigem Schwung den Wasserfall hinaufsprang, um ein Drache zu werden -, zu einem völlig neuen Bewußtwerden alles Lebens und der allen Dingen zu Grunde liegen- den «Leere»? Bestimmt war keiner von ihnen mit außergewöhnlichem Verstand begabt, noch mit übernatürlichen Kräften ausgestattet. Alle hatten Leid erfahren, aber nicht mehr als das, was einem Durch- schnittsmenschen im Lauf seines Lebens widerfährt. Wenn sie über- haupt in irgendeiner Weise Ausnahmen darstellen, dann einfach

267 durch ihren Mut, zu «gehen, ohne zu wissen, wohin - auf einem Wege, den sie nicht kannten», veranlaßt durch ihren Glauben an ihr Wahres Selbst. Der Sucher, der nicht findet, ist noch in seiner täuschenden Vorstel- lung von zwei Welten befangen: einer vollkommenen, die jenseits liegt, ohne Kampf2 und voller Frieden und nie endender Freude; und einer anderen alltäglichen, sinnlosen Welt, voller Schmerz und Unheil, die es kaum wert ist, daß man sich in Beziehung zu ihr setzt. Insgeheim sehnt er sich nach der ersteren, wie er offen die letztere ver- achtet. Doch er zögert, sich in die furchtbare Leere, in den Abgrund seines eigenen Urwesens, zu stürzen, weil er sich unbewußt davor fürchtet, die ihm vertraute Welt der Dualität für die unbekannte Welt des Einsseins aufzugeben, deren Wirklichkeit er noch bezweifelt. Die Finder andererseits werden von keiner Furcht und keinem Zwei- fel zurückgehalten. Sie schütteln beides ab und springen, weil sie nicht anders können - sie müssen es einfach tun und wissen nicht, warum -, und so triumphieren sie. Der größte Teil dieser Erleuchtungs-Erlebnisse ereignete sich bei Sesshin, einer Art der geistigen Schulung, für die es außerhalb des Zen nirgends im Buddhismus ein genaues Gegenstück gibt. Sesshin dieser oder jener Art gehen bis auf Lebzeiten des Buddha zurück, da sich Mönche in der Regenzeit mehrere Monate lang in Abgeschiedenheit schulten. Zweck eines Sesshin ist es, wie schon das Wort besagt, den normalerweise zerstreuten Sinn zu sammeln und zu einen, so daß man ihn gleich einem starken Teleskop nach innen richten kann, um sein wahres Selbst-Wesen zu entdecken. Bei einem Sesshin werden während der siebentägigen Abgeschlossenheit3 die grundlegenden Mittel der Belehrung und Methode des Zen - also Zazen, Teishô (Dar- legung in aller Form und für alle) und Dokusan (Einzel-Belehrung) –

2. «Frieden der Seele bedeutet nicht das Ausbleiben von Kampf, sondern Aus- bleiben von Unsicherheit und Verwirrung.» Aus einem Artikel über Yoga and Christian Spiritual Techniques von ANTHONY BLOOM in Form and Techniques of Altruistic and Spiritual Growth, herausgegeben von PTRIM A. SOROKIN, Beacon Press, Boston/Mass., 1954, S. 97. 3. Das bezieht sich auf ein Kloster-Sesshin. Tempel-Sesshin und andere sind häufig kürzer als sieben Tage.

268 zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefaßt. Satori ist natürlich nicht auf Sesshin beschränkt. Da aber ein Sesshin zweifellos sein wirk- samster «Brutapparat» ist, dürfte es wertvoll sein, die Stufenfolge bei dieser einzigartigen Form des Geist-Schleifens etwas ausführlicher zu beschreiben, wenn der Leser einen klaren Einblick in diesen Inkuba- tionsprozeß gewinnen soll. In einem Kloster beginnt ein Sesshin eigentlich schon am Vorabend mit bestimmten Zeremonien, ehe man in aller Form mit Zazen anfängt. Im schwach erleuchteten Zendô, das eine Woche lang zur Nabe aller Wirksamkeit werden soll, versammeln gesetzte Mönchs- Älteste die Teilnehmer, um ihnen die Plätze anzuweisen, Neulinge darin zu unterweisen, wie sie das Zendô unauffällig betreten und ver- lassen sollen, wie man bei den Mahlzeiten mit den Eß-Stäbchen und Eß-Schalen geräuschlos umgeht, wie man beim Kinhin geht und wie man sich leise auf die Sitzkissen setzt und davon erhebt. Nach Abschluß dieser Formalitäten werden alle durch die wuchtigen Schläge der riesigen Klostertrommel in die strahlend erleuchtete Haupthalle gerufen. Die Teilnehmer, in feierlicher Zazen-Gewan- dung, ordnen sich zu zwei Reihen einander gegenüber, durch die Weite der Halle voneinander getrennt, knien in der traditionellen japanischen Stellung nieder, verneigen sich voreinander zum Zeichen gegenseitiger Achtung und Verbundenheit mit dem Streben der ande- ren. Unterdrückte Erregung und lautlose Erwartung liegen in der Luft, wenn einige Minuten später der Rôshi und seine Haupt-Gehil- fen in vollem zeremoniellem Ornat eintreten. Während sie zwischen den beiden Reihen dahinschreiten, um ihre Sitze am oberen Ende der Halle einzunehmen, verneigen sich wiederum alle, wobei sie diesmal mit dem Kopf die Tatami berühren, aus tiefer Hochachtung vor ihren Lehrern. Nachdem der Rôshi alle willkommen geheißen hat, sagt er im wesent- lichen folgendes: Während des Sesshin dürft ihr nicht miteinander reden, da das Sprechen die geistige Konzentration zerreißt und dadurch eure eigene Übung wie die der anderen stört. Jeder von euch muß sich dem eigenen Zazen mit zielbewußter Aus- schließlichkeit widmen, wobei auch die Anteilnahme an den Proble-

269 men des Nachbarn ausgeschlossen ist. Wenn ihr dringende Fragen habt, könnt ihr sie mit den Mönchs-Ältesten behandeln, aber außer Hörweite der anderen. Eure Augen müßt ihr stets ohne scharfe Einstellung beim Sitzen, Ste- hen, Gehen und Arbeiten auf einer Stelle etwa einen Meter vor euch ruhen lassen. Wenn eure Augen herumirren oder sich an irgend etwas heften, entsteht durch diesen Kontakt ein Eindruck, der seinerseits einen Gedanken hervorruft. Die Gedanken mehren sich und summen schließlich gleich Fliegen im Kopf herum, wodurch sie die Konzentra- tion schwierig, wenn nicht unmöglich machen. Laßt eure Augen des- halb aus keinem wie immer gearteten Grunde abschweifen. Verzichtet beim Sesshin auf gesellschaftliche Höflichkeitsformen jeder Art. Grüßt euch nicht mit «Guten Morgen», und wünscht einander nicht «Gute Nacht»; macht einander keine Komplimente, und übt gegenseitig keine Kritik. Ferner dürft ihr es euch nicht angelegen sein lassen, anderen den Vortritt zu lassen; ihr solltet euch jedoch auch nicht vordrängen. Bei allen Verrichtungen solltet ihr euch weder hastig noch träge bewegen, sondern so natürlich wie fließendes Wasser. Es ist ratsam, beim Sesshin nicht mehr als die Hälfte dessen zu essen, was ihr sonst eßt. Wenn ihr dieser Mahnung folgt, wird euer Zazen wirksamer. Zazen ist jedoch keine Askese, und es ist nicht weise, sich des Essens ganz zu enthalten, da ihr durch nagenden Hunger gestört werden könntet, oder ihr fühlt euch zu schwach, um Zazen zu üben. Wenn ihr bei bestimmten Mahlzeiten kein Verlangen nach Essen habt, weil ihr euch vielleicht besonders anstrengt, könnt ihr natürlich das Essen zurückweisen. Eßt nicht zu schnell oder so langsam, daß alle auf euch warten müs- sen. Im Idealfall hören alle etwa gleichzeitig auf und stören so nicht den festgesetzten Rhythmus des Sesshin. Achtet darauf, nicht mit den Schalen zu klappern, wenn ihr sie auswickelt und wieder zusammen- stellt4, und kaut die eingelegten Rettiche so geräuschlos wie möglich.

4. Jeder Teilnehmer bekommt vor Beginn des Sesshin einen Satz von vier inein- ander gestellten Eß-Schalen und die Eß-Stäbchen, alles in ein Tuch eingewickelt. Ist die Mahlzeit beendet, wäscht jeder am Tisch Schalen und Stäbchen mit warmem Wasser, trocknet sie ab und wickelt alles wieder ein.

270 Derartige Geräusche haben sich oft als lästig für Anfänger erwiesen. Aus irgendeinem Grunde stellen sich manche Leute vor, daß es für Frauen schwieriger sei als für Männer, zur Selbst-Wesensschau zu kommen. Ganz im Gegenteil aber erreichen Frauen Kenshô gewöhn- lich schneller, da ihr Verstand weniger zum Spielen mit Gedanken geneigt ist als der der Männer. Aber Männer wie Frauen können innerhalb einer Sesshin-Woche Erleuchtung finden, wenn sie jeglichen Gedanken aus ihrem Kopf tilgen und ich-los werden. Vielen ist es in der Vergangenheit gelungen, und einigen Entschlossenen wird es bei diesem Sesshin gelingen. Schließlich merkt euch noch, daß ein Sesshin eine gemeinschaftliche Anstrengung ist, bei der es nur dann wechselseitige Unterstützung und Anregung gibt, wenn alle vereint an den Vorgängen des Sesshin teil- nehmen und nicht ihren eigenen Neigungen folgen. Den eigenen Wün- schen auf Kosten der gemeinsamen Bemühungen nachzugeben, ist ein Ausdruck des Ich und daher eurem Ziel, dem eigenen wie dem gemeinsamen, abträglich. Der Rôshi schließt, indem er alle ermahnt, ihr Äußerstes zu leisten. Danach werden Tee und Kuchen gereicht, zuerst dem Rôshi, dann den Mönchs-Ältesten und danach allen Versammelten. Der Rôshi nippt als Erster an seinem Tee; ihm folgen die anderen. Er ißt auch als Erster von seinem Kuchen, und danach essen alle. Dieses Ritual ist nicht ohne Bedeutung. Es symbolisiert die Vereini- gung von Herz und Geist aller bei diesem gemeinsamen Unternehmen. Gleichzeitig ist es ein Ausdruck des Vertrauens der Schüler in ihren Lehrer, von dem sie sich führen lassen wollen, und ihres Glaubens an den Dharma, den er auslegt. Ist diese Zeremonie vorüber, so ziehen sich der Rôshi und seine Gehilfen zurück, und wiederum verneigen sich alle wie zuvor. Die Glocke schlägt neun Uhr, und alle gehen zu Bett. Sechs Stunden später beginnt das große Wagnis. Bong! Bong!... 3 Uhr früh ... das Sesshin hat begonnen! Leicht benommene Neulinge reiben sich die verschlafenen Augen, fum- meln mit Schlafmatten herum ... Erfahrene falten mit flinken Hän- den das Bettzeug und verstauen es geschwind, gehen zur Toilette,

271 putzen sich die Zähne, tauchen das Gesicht in kaltes Wasser, ziehen sich an, besteigen das tan (Zazen-Plattform) mit hurtigen Bewegun- gen, rücken ihre Sitzkissen zurecht, beginnen mit Zazen, ohne Zeit, ohne Mühe zu vergeuden. Schlaftrunkene Anfänger steigen unge- schickt auf das Tan, ordnen ihre Kissen, rücken sie anders zurecht, rutschen herum, ordnen von neuem ... Minuten später tritt der Rôshi ein. Er geht hinter den Sitzenden ent- lang, prüft die Rücken, die seinem erfahrenen Auge geistige Span- nung oder Schlaffheit beredter kundtun als die Gesichter ... Eine durchsackende Wirbelsäule streckt sich unter einem leichten Schlag mit seinem Stab, eine andere reckt sich auf ein nur geflüstertes Wort, einen Rat oder eine Ermutigung hin auf. Jeder Sitzende grüßt den vorübergehenden Rôshi mit Gasshô, der universalen Gebärde der Demut, Hochachtung und Dankbarkeit. Der Rôshi wird nun meistens den Versammelten, die der Wand zuge- kehrt sitzen, eine anfeuernde Anekdote über einen ehrwürdigen Zen- Mann alter Zeit oder über einen bemerkenswerten Menschen der Gegenwart erzählen. «Letzten Endes», so schließt er, «war er auch nur ein Mensch. Wenn er Satori erreichen konnte, so könnt ihr es auch.» Zähne grimmig zusammengebissen ... das Ringen hat begonnen. Bing! Bing!... Kinhin ... Fünfundvierzig Minuten sind verstrichen. Alt-Erfahrene schnellen mit einem Schwung von ihren Kissen hoch, landen katzengleich auf ihren Füßen, reihen sich ein und gehen im Zendô im Kreis herum, die Hände vor der Brust übereinandergelegt, gemessenen Schrittes, gesammelten Geistes ... Bing!... Kinhin ist zu Ende. Einige steigen schnell auf das Tan, andere eilen zur Toi- lette ... Bing! Bing! Bing!... Die nächste Sitzrunde hat begonnen. Der scharfe Geruch eines neuen Räucherstäbchens5 zieht durch das Zendô. Etwa zwanzig Minuten später schlüpft der godô, der Haupt-Bevoll- mächtigte des Rôshi, geschmeidig vom Tan. Er holt den Kyosaku, der im Schrein in der Mitte des Zendô liegt, Symbol für MONJUS

5. Die Sitzzeit von 45 Minuten wird durch das Abbrennen von Räucherstäbchen bestimmer Länge gemessen.

272 verblendung-zerschlagendes Schwert, ergreift ihn an beiden Enden, verneigt sich tief vor MONJU ... Geräuschlos pirscht der godô durch das Zendô und schätzt die so verräterischen Haltungen ab. Kein Laut, nur der kaum hörbare Unterton des Schnaufens und Keuchens der Anfänger, die sich ver- zweifelt körperlich statt geistig anstrengen, um flüchtiger Gedanken Herr zu werden. Krach! ... Der Kyosaku landet mit voller Gewalt auf einer Ecke des Tan ... Gemurmel gleich Wind, der durch Ähren streicht, kommt von den leicht erschreckten Neulingen. Stille... ohrenbetäubende Stille ... Krach! Krach ... Während er auf Sitzende eindrischt, deren krumme Rücken schlappen Sinn anzeigen, brüllt der godô: «Nur noch fünf- zehn Minuten bis zum Dokusan! Rafft euch zusammen! Konzentriert euch, konzentriert euch! Trennt euch nicht um Haaresbreite von eurem Kôan! ... Ihr müßt dem Rôshi eine Antwort bringen, nicht eine Niete!» Zusammengesackte Körper straffen sich. Das Schnaufen und ange- strengte Keuchen wird lauter. Bang! Bang! ... Dokusan! «Los!» schreit der godô gellend. Die Spannung ist gerissen; alle lau- fen voller Eifer, um sich in der Schlange anzureihen, mit Ausnahme von ein paar Widerwilligen. «Wollt ihr die Wahrheit oder nicht!» bellt der godô die Nachzügler an. Einen oder zwei reißt er vom Tan hoch und treibt sie mit seinem Kyosaku zur Dokusan-Reihe; andere ignoriert er kalt.

Bei den meisten Kloster- und Tempel-Sesshin spielt der Kyosaku eine höchst wichtige und oft entscheidende Rolle, die ihren dramatischen Höhepunkt kurz vor dem Dokusan erreicht. Der wichtigste Zweck des Kyosaku ist es, bei den Sitzenden jede Spur schlafender Energie aufzurütteln, um sie in die Lage zu versetzen, ihre schützende Hülle der Selbst-Verblendung zu durchbrechen und zu wahrem Selbst- Begreifen zu kommen. Kein einziges Element der Zen-Schulung ist jedoch lauter kritisiert und keines weniger verstanden worden als der

273 Gebrauch des Stocks - von Asiaten wie von Menschen des Westens. Verdammt als «sadistischer Ausdruck der japanischen Kultur» und als «abscheuliche Perversion des Buddhismus», ist er in Wirklichkeit keines von beiden. Der Kyosaku wurde gleichzeitig mit Zen selbst aus China eingeführt6. Er ist wahrscheinlich ein kräftigerer Abkömmling einer kleinen Rute, wie sie sogar schon zu Lebzeiten des Buddha ver- wendet wurde, um dösende Mönche zu wecken; sie war so gebildet, daß sie pfiff, wenn man sie neben dem Ohr schwang 7. Die Zen-Mei- ster in China hatten offenbar zu irgendeinem Zeitpunkt das Gefühl, daß ihre Schüler zur Anspornung mehr brauchten als angenehme Töne oder einen gelegentlichen Schlag mit der flachen Hand oder einen Stoß mit der Faust. So wurde der Vorfahre des Kyosaku gebo- ren, um diesem Bedürfnis abzuhelfen. Kyosaku werden in verschiedenen Größen und Formen und von verschiedener Schwere hergestellt. Die aus Hartholz gefertigten gebraucht man im Winter, wenn Mönche und Laien dickere Kleidung tragen, die aus Weichholz im Sommer, wenn sie leicht gekleidet sind. Das Ende des Kyosaku ist paddelförmig abgeflacht zu einer Breite von vielleicht 7,5 Zentimetern, während das Griffende rund ist, damit man es fest fassen kann. In einigen Klöstern und Tempeln mißt der Kyosaku bis zu einem Meter Länge, bei anderen nicht mehr als 75 Zentimeter. Man verwendet den Kyosaku, um schläfrige Sitzende aufzurütteln, Erschöpfte zu ermuntern oder um sehr Bemühte anzuspornen, aber er wird niemals als Züchtigung oder aus persönlicher Gereiztheit gebraucht. Das geht schon aus der Tatsache hervor, daß der Geschla- gene seine Hände zum Gasshô aufhebt, um dem godô seine Dankbar- keit zu erweisen, der seinerseits diese Gebärde durch eine Verneigung erwidert - beides im Geiste gegenseitiger Hochachtung und wechsel- seitigen Verstehens. In einem Kloster werden die schwersten Hiebe mit dem Kyosaku den Ernsthaften und Mutigen vorbehalten und nicht

6. Über die Anwendung des Kyosaku in neuerer Zeit in chinesischen Zen-Klöstern siehe die kurze Beschreibung von JOHN BLOFELD in Rad des Lebens, Rascher, Zürich, 1961, S. 195. 7. Diese Information gab mir YASUTANI Rôshi.

274 an Drückeberger und Furchtsame verschwendet. Das Sprichwort, daß man ein armseliges Pferd nicht zu schnellem Lauf anspornen kann, wie kräftig und wie oft man ihm auch die Peitsche geben mag, wird im Zendô gut verstanden. In Sôtô-Klöstern und -Tempeln sitzt man mit dem Gesicht der Wand und nicht einander zugekehrt wie bei der Rinzai-Sekte. Der godô schlägt also mit dem Kyosaku von hinten her nach seinem Gutdün- ken8 und gelegentlich ohne jede Warnung9. In den Händen eines feinfühligen, erleuchteten godô, der fähig ist, das Eisen zu hämmern, wenn es heiß ist, oder das Eisen überhaupt erst durch Schläge zu erhitzen, hat der Kyosaku nicht seinesgleichen, um die Bemühungen um Konzentration zu höchster Intensität zu bringen. Und genau wie eine einfühlsam angewandte Peitsche ein Rennpferd zu höchster Geschwindigkeit antreiben kann, ohne ihm zu schaden, so kann auch ein weise versetzter Schlag mit dem Kyosaku auf den Rücken eines sich mühenden Sitzenden, ohne ihm weh zu tun, aus diesem einen Ausbruch übermenschlicher Energie herausholen, der zu dem dyna- misch in einem Punkt gesammelten Bewußtsein führt, wie es für Satori unerläßlich ist. Auch zu weniger kritischen Zeiten, besonders am späteren Nachmittag und am Abend, wenn ein zusammengesun- kener, erschöpfter Körper die geistige Spannung erschlaffen läßt und damit ganzen Horden von Gedanken den Weg frei gibt, wird ein Hieb auf die Schulter zur rechten Zeit alle Gedanken aus dem Kopf vertreiben und gleichzeitig unvermutete Energie-Reserven frei machen. Es kann gar nicht genug betont werden, daß die Anwendung des Kyosaku nicht einfach eine Sache des Schlagens mit einem Stock ist. Bei dieser Handlung verbinden sich Erbarmen, Kraft und Weisheit. In einem erstklassigen Kloster oder Tempel ist der godô ausnahmslos ein Mensch starken Geistes, doch mitfühlenden Herzens. Ja, wenn

8. Häufig bitten die Sitzenden auch um den Kyosaku, indem sie mit den im Gasshô bis in Kopfhöhe aufgehobenen Händen ein Zeichen geben. 9. Im allgemeinen jedoch geht dem Schlag eine Warnung durch ein leichtes An- tippen der Schulter voraus. Bei der Rinzai-Sekte wird man von vorn geschlagen, so weiß man immer vorher, wann man geschlagen wird.

275 sein Kyosaku ein Sporn und kein Dorn sein soll, muß er sich mit den tiefsten geistigen Bestrebungen der Sitzenden identifizieren. Man hat sehr richtig gesagt, daß Liebe ohne Kraft Schwäche ist und Kraft ohne Liebe Brutalität. Es läßt sich jedoch nicht leugnen, daß der Kyosaku für den Durch- schnittsmenschen aus dem Westen weit eher eine Bedrohung bleiben wird, anstatt ein willkommener Ansporn zu sein, da der westliche Mensch sich einfach die Vorstellung, daß Stockschläge unter allen Umständen eine Beleidigung seiner Würde sind, nicht aus dem Kopf schlagen kann. Auf das Dokusan folgt das Intonieren der Sûtras, was durch ein scharfes K-l-a-p-p! der Schlaghölzer10 angekündigt wird. Auf dieses Zeichen hin gehen alle in einer Reihe hintereinander nach draußen, begrüßt vom ersten kalten Hauch der Morgendämmerung, einen offe- nen, überdachten Verbindungsgang entlang und von dort weiter zur Haupthalle. Dort nehmen die Laien auf der einen Seite Platz, die Mönche auf der anderen. Dokusan und zwei Stunden Zazen haben den Geist zu solcher Klarheit und Sammlung auf einen Punkt ge- bracht, daß jede Körperhaltung und -bewegung beim Niederwerfen und beim Rezitieren der Sûtras neuen Sinn und neue Bedeutsamkeit gewinnt. Die rhythmischen Schläge auf das Mokugyo, der tiefe Klang der beckenartigen Bronzetrommel, die flackernden Kerzen auf dem Butsudan (buddhistischer Altar) und der frische Duft des Räucher- werks, all das spielt zusammen, um den Geist noch mehr zu schärfen. Nach dem Rezitieren findet um halb sechs die erste Mahlzeit statt. Sie besteht aus Reisschleim mit einer Beilage von Gemüsen und einge- legten Rettichen. Diese einfache Kost dient nicht dem Genuß, son- dern nur der Ernährung des Körpers, um ihm Kraft zu geben, dem Weg des Buddha zu folgen. Aber man fängt nicht gleich an zu essen. Zunächst beginnt auf das Kling-a-Ling der Handglocke des Mönchs-Ältesten hin die Tisch-Rezitation mit dem Ausdruck des Glaubens an die Drei Kostbarkeiten in Einem, das heißt an Birushana, an das Gesetz von Ursache und Wirkung und an die Buddhas aller

10. Zwei etwa 15-20 cm lange Hölzer von quadratischem Querschnitt.

276 Welten. Das Rezitieren hört dann vorübergehend auf, während jeder die vier ineinander gestellten Lackschalen und die Eß-Stäbchen, wie sie für das Sesshin zur Verfügung gestellt werden, aus dem Tuch aus- wickelt und vor sich aufstellt. Kling-a-Ling! Man nimmt das Rezitieren wieder auf mit dem Glaubensbekenntnis zu Person und Leben des Buddha, zum Dharma und den großen Vorbildern der Lehre des Buddha, nämlich den Bodhisattvas Monju, Fugen und Kannon, und zu den Patriarchen. Nun wird der Reisschleim aus einem großen Holzzuber geschöpft und das Gemüse herumgereicht. Bevor man jedoch irgend etwas anrührt, wird wiederum rezitiert, wobei man sich ins Gedächtnis ruft, daß einem das Mahl, das man sich zu essen anschickt, durch die Arbeit vieler Menschen zugekom- men ist, und daß man nur dann berechtigt ist, es zu empfangen, wenn unser Sinn rein und unsere Bemühungen ernsthaft sind. Wenn man davon nimmt, muß alles mit Dankbarkeit und nicht mit Gier empfangen werden und ohne Bevorzugung oder Abscheu. Nun bleibt nur noch ein Ritual zu vollziehen, ehe man wirklich ißt. Ein jeder nimmt etwa ein halbes Dutzend Reiskörner aus seiner Reisschale und legt sie auf eine eigens zu diesem Zweck herumge- reichte Holzschaufel. Diese symbolische Opfergabe gilt den unsicht- baren «Hungrigen Geistern» dieser und jener Welt, die sich durch ihre Habgier zu elenden Daseinsformen verdammt haben. Wenn das Mahl schließlich gegessen wird, verzehrt man es schweigend, so daß die Konzentration, sei es auf ein Kôan, sei es auf das Zählen der Atemzüge oder auf das Essen selbst ununterbrochen weitergehen kann. Die Mönchs-Aufwärter kommen insgesamt dreimal mit dem großen Zuber mit Reisschleim. Wer noch einmal nehmen möchte, reicht seine Reisschale hin und wartet, die Hände im Gasshô, während man ihn bedient. Wortlos reibt er die Hände gegeneinander, um «genug» anzu- zeigen. Will man nichts mehr essen, so senkt man einfach den Kopf und verneigt sich von der Taille aus, die Hände vor der Brust aufein- andergelegt, wenn der Aufwärter vorbeikommt. Nicht alle beherzigen die Ermahnung des Rôshi, wenig zu essen. Mönche, die offensichtlich

277 erpichter darauf sind, ihren Bauch zu füllen, als ihren Geist zu ent- leeren, nehmen sogar eine dritte Schale voll Reis. Essen, das einmal mit den Eß-Stäbchen berührt wurde, muß gegessen und darf nicht weggeworfen werden. Kein Brocken darf vergeudet werden. Am Ende der Mahlzeit wird heißes Wasser herumgereicht, und jeder säubert damit seine Schalen, wobei ihm ein Stückchen ein- gelegter Rettich zum Aufwischen dient. Wer durstig ist, trinkt von dem Wasser, vergißt jedoch nicht, den letzten Rest in eine gemein- same Schüssel zu gießen, die der gleichen «Hungrigen Geister» wegen herumgereicht wird. Das Mahl endet mit einer Rezitation, als Aus- druck des Danks für die empfangene Nahrung, und dem Gelübde, diese Kraft zum geistigen Wohle aller Wesen zu gebrauchen11. Nicht allein Eßwaren, sondern alle Dinge sollen mit entsprechender Berücksichtigung des einem jeden eigenen Zweckes verwendet und nicht unnütz zerstört werden. Das ist eine der unverletzlichen Regeln eines Zen-Klosters, und während eines Sesshin muß ganz besonders darauf geachtet werden, sie nicht zu übertreten. Die Gründe dafür sind mehr geistiger als wirtschaftlicher Art. Verschwendung bedeutet Vernichtung. Dinge ihrem Wesen und ihrem Zweck entsprechend mit Achtung und Dankbarkeit zu behandeln, heißt ihren Wert und ihr Leben bestätigen, ein Leben, in dem wir alle gleichermaßen verwur- zelt sind. Verschwendung ist ein Maßstab für unsere egozentrische Haltung und damit ein Merkmal für unsere Entfremdung von den Dingen, von ihrem Buddha-Wesen, von ihrer essenziellen Einheit mit uns. Zudem ist es ein Akt der Gleichgültigkeit gegenüber dem Wert des vergeudeten Dinges, wie bescheiden dieses auch sein mag. Ein Glas achtlos zu zerbrechen, ein Licht brennen zu lassen, das nicht mehr benötigt wird, mehr Wasser zu gebrauchen, als für eine bestimmte Aufgabe erforderlich ist, ein Buch aufgeschlagen liegen zu lassen, nachdem es gelesen wurde - all das sind also im tiefsten reli- giösen Sinn liederliche Handlungen und somit unserer geistigen Ent- wicklung schädlich. Aus diesem Grund werden sie rundweg ver- dammt. 11. Diese Rituale beziehen sich auf Hosshin-Ji, ein Sôtô-KIoster. Bei der Rinzai- Sekte ist die Form etwas anders.

278 Die meisten Klöster und Tempel haben nach der Morgenmahlzeit samu (körperliche Arbeit) auf ihrem Stundenplan. Bei einem Sesshin bedeutet das fegen, abstauben, Böden und Toiletten scheuern. Außer- dem werden die Gartenwege gefegt, die Blätter zusammengeharkt, und in den Gärten wird Unkraut gejätet12. Seit jener Zeit, da HYAKUJÔ vor mehr als tausend Jahren erstmalig körperliche Arbeit einführte, ist sie zum wesentlichen Bestandteil der Zen-Schulung geworden. Über HYAKUJÔ wird berichtet, daß seine Mönche ihm eines Tages seine Gartengeräte versteckt hatten, da sie meinten, er sei zu alt geworden, um zu arbeiten. Als sie sich weigerten, seinen Bitten, sie ihm zurückzugeben, zu willfahren, hörte er auf zu essen und sagte: «Keine Arbeit, kein Essen.» Einen Ausdruck des gleichen Geistes fin- den wir in der Neuzeit bei GEMPÔ YAMAMOTO Rôshi, dem früheren Abt des Ryutaku-Ji, der im Juni 1961 im Alter von sechsundneunzig Jahren starb. Fast blind und nicht mehr imstande, zu arbeiten und zu lehren, entschied er, daß es Zeit zum Sterben sei; so hörte er auf zu essen. Als seine Mönche ihn fragten, warum er die Nahrung zurück- weise, erwiderte er, daß er seine Nützlichkeit überlebt habe und nur noch eine Belastung für alle sei. Sie sagten ihm: «Wenn der Rôshi jetzt (Januar) stirbt, da es so kalt ist, wird die Bestattung des Rôshi jedermann Unbequemlichkeiten verursachen, und er wird dadurch nur zu einer größeren Plage. Möge der Rôshi bitte essen!» Daraufhin fing er wieder an zu essen. Aber als es warm wurde, hörte er wie- derum auf, und nicht lange danach fiel er sanft hin und starb. Welche Bedeutung hat nun solch praktische Arbeit in bezug auf die Zen-Schulung? Vor allem zeigt sie, daß es beim Zazen nicht allein darum geht, die Fähigkeit zu erwerben, sich beim Sitzen zu konzen- trieren und den Geist scharf auf einen Punkt einzustellen, sondern daß Zazen im weitesten Sinn die Mobilisierung und dynamische Nut- zung von Jôriki, jener durch Zazen bewirkten Kraft, bedeutet und zwar bei jeder einzigen Handlung. Samu - als Zazen in Bewegung - bietet auch die Möglichkeit, inmitten aller Tätigkeit das Bewußtsein

12. In Klöstern, bei denen das ganze Jahr hindurch viel körperliche Arbeit erfor- derlich ist - z. B. bei jenen, die ihren eigenen Reis und eigenes Gemüse anbauen -, gibt es bei einem Sesshin kein Samu, um dem Sitzen mehr Zeit einzuräumen.

279 auf einen Punkt zu sammeln, zu beruhigen und zu vertiefen, den Kör- per zu kräftigen und dem Geist dadurch neue Energie zuzuführen. Das Ziel ist hierbei, wie bei jeder Art des Zazen, zuerst Achtsamkeit und später Achtlosigkeit zu entwickeln. Das sind einfach zwei ver- schiedene Grade der Versunkenheit. Achtsamkeit ist ein Zustand, in dem man sich jeder Lage voll bewußt ist und dadurch stets entspre- chend reagieren kann. Aber man ist sich bewußt, daß man sich bewußt ist. Achtlosigkeit andererseits, oder «Abgeschiedenheit des Geistes», wie das auch genannt worden ist, ist eine Verfassung von so vollständiger Versunkenheit, daß es keinen Rest von Selbst- bewußtsein mehr gibt. Alles Handeln, das aus dieser Geistesverfassung erwächst, kann weder gehetzt noch flüchtig, weder angespannt noch nachlässig sein; es kennt keine falschen Bewegungen noch irgendwelche Kraftvergeu- dung. Alle Arbeit, die in solchem Geiste unternommen wird, trägt ihren Wert in sich, unabhängig von ihrem Ergebnis. Das ist die «ver- dienstlose» oder «absichtslose» Arbeit des Zen. Wenn wir jeder Auf- gabe in dieser Weise nachkommen, können wir schließlich die Wahr- heit, daß jedes Tun Ausdruck des Buddha-Geistes ist, erfassen. Hat man das erst einmal unmittelbar und unverkennbar erlebt, so kann keine Arbeit mehr unter unserer Würde sein. Im Gegenteil, alle Arbeit, wie niedrig sie auch sein mag, adelt, weil sie als Ausdruck des makellosen Buddha-Wesens angesehen wird. Das ist wahre Erleuch- tung. Und im Zen ist Erleuchtung niemals nur für einen selbst, son- dern stets zum Wohle aller. Das ganze Sesshin hindurch wird auf dieses Ideal Nachdruck gelegt. Ja, viermal am Tage - am Ende des Teishô, nach dem Sûtra-Rezitie- ren morgens und nachmittags, und als Letztes am Abend - werden die Vier Gelübde dreimal gemeinsam rezitiert: Der Geschöpfe sind zahllose - ich gelobe, sie alle zu retten. Der Leidenschaften sind unzählige - ich gelobe, sie alle auszurotten. Der Dharma-Tore13 sind mannigfache - ich gelobe, durch alle zu gehen. Der Buddha-Weg ist unübertrefflich - ich gelobe, ihn zu verwirklichen.

13. Das bedeutet: Ebenen der Wahrheit.

280 Ist Samu beendet, so folgt das etwa einstündige Teishô (ein Beispiel dafür findet sich im 2. Kapitel). Dann nimmt man etwa um elf die Hauptmahlzeit des Tages ein, gewöhnlich weißen Reis14 mit Gerste gemischt, ergänzt durch frische Gemüse und Suppe aus Soyabohnen- paste. Nach dem Mittagessen ruhen sich alle mit Ausnahme der Eif- rigsten eine Stunde lang aus, wie es der Sesshin-Plan vorsieht, verges- sen dabei jedoch nicht, sich in ihr Kôan oder eine andere Übung zu versenken. Abgesehen von Teishô und Samu stellen Nachmittag und Abend eine Wiederholung des vormittäglichen Stundenplans dar. Einige Klöster und Tempel erlauben, daß man nachmittags oder abends ein heißes Bad nimmt; Anfängern mit ihren schmerzenden Beinen und ange- spannten Körpern ist diese Erholung unaussprechlich willkommen. Um vier Uhr nachmittags wird ein leichter Imbiß gereicht, der haupt- sächlich aus Resten des Mittagessens zubereitet ist. Ungleich den ersten beiden Mahlzeiten, denen das Rezitieren voranging und folgte, wird diese «Arznei 15» in vollkommenem Schweigen eingenommen. Im Hosshin-Ji, das für seine schweren Sesshin bekannt ist, gibt es von der vierten Nacht an allabendlich ab acht Uhr ein einzigartiges Mittel, um die verlockenden Vorstellungen vom Bett, wie sie um diese Stunde an dem ermüdeten, schwankenden Sinn zu zerren begin- nen, zu bekämpfen. Beim Klang der großen Zendô-Glocke folgt ein plötzlicher Ausbruch von «Mu-en» von allen, die mit diesem Kôan ringen. Dieses kollektive Brüllen, zuerst schwach und unsicher, gewinnt allmählich an Tiefe, Kraft und Bedeutung unter den energi- schen Hieben des ungehemmt geschwungenen Kyosaku des Godô und seiner Helfer, der gellend schreit: «Laßt Mu vom Hara her erschal- len, nicht von der Kehle!» Wenn diese Schreie von «Mu!» ihr Cres-

14. In den Zen-Klöstern Japans wird allenthalben hauptsächlich die weiße, ge- schälte Reis-Sorte gegessen. 15. Yakuseki heißt wörtlich: «Arznei-Stein». Buddhistische Mönche im alten China aßen nur zwei Mahlzeiten am Tage. Im Winter pflegten sie, um sich warm zu halten und die Hungerschmerzen zu lindern, sich einen warmen Stein, den man als Allheilmittel für alle Magenverstimmungen ansah, auf den Bauch zu legen. Daher hat diese dritte Mahlzeit, seit man sie einzunehmen begann, ihren Namen «Arznei-Stein».

281 cendo in einem tiefen Gebrüll erreicht haben, werden sie plötzlich durch den Klang der gleichen Glocke abgestellt, gewöhnlich etwa dreißig Minuten später. Man nimmt das stille Zazen wieder auf, aber die Luft ist elektrisiert worden. Um dreiviertel neun endet Zazen. Es folgt das letzte Rezitieren des Tages: ein kurzes Sûtra und die Vier Gelübde, jetzt mit leb- hafter Begeisterung angestimmt. Schlaf kommt nicht in Betracht, da Körper und Geist aufgerüttelt sind und vor Energie bersten, und nahezu jeder geht, sein Sitzkissen unter dem Arm, aus dem Zendô in die kühle Nachtluft hinaus. Anstatt sich wie in den vor- angegangenen Nächten erschöpft ins Bett zu schleppen 16, strebt ein jeder in gehobener Stimmung zu einem einsamen Platz, oft zum Kloster-Friedhof, um dort bis tief in die Nacht hinein mit Zazen fortzufahren. Besonders in der letzten Nacht des Sesshin, da das Schreien und Schlagen am heftigsten ist, wagt mit Ausnahme der unverkennbar Kranken und der ersichtlich Furchtsamen niemand, sich um neun Uhr zur Ruhe zu begeben, wenn buchstäblich das ganze Zendô für die Nacht auf dem Friedhof und den nahen Hügeln Quartier bezogen hat und die stille Nachtluft mit verzweifelten Schreien von «Mu!» erschüttert. Und bei dem schwersten Sesshin des Jahres, dem rôhatsu im Dezember, das dem Gedächtnis von Buddhas Erleuchtung dient, ist yaza (Zazen nach 21 Uhr) allnächtlich die Regel. Der letzte Tag des Sesshin neigt dazu, eine «Antiklimax» zu werden, besonders wenn ihm Zazen die ganze Nacht hindurch vorangegangen ist. Der Rôshi mahnt deshalb alle, daß das der entscheidenste Tag sei und daß ein Nachlassen jetzt, da die Konzentration des Geistes ihren Höhepunkt erreicht habe, dem Wegwerfen von sechs Tagen kräftiger Anstrengungen gleichkäme. An diesem siebenten Tag wird auf den Kyosaku und die ihn begleitenden gellenden Schreie verzich- tet - so, als wollte der godô sagen: «Mehr kann ich nun nicht tun; es steht jetzt ganz bei euch» - und nach sechs Tagen oder besser: auf

16. In den meisten Klöstern schlafen Laien, die zum Sesshin kommen, nicht mit den Mönchen im Zendô, sondern man weist ihnen in einem anderen Gebäude ihre Schlafstätten an.

282 Grund der sechs Tage eines zeitweisen Tollhauses ist dieser Tag des stillen aber dynamischen Zazen häufig der lohnendste. Vor dem feierlichen Abschluß eines Sesshin sagt der Rôshi, sich an alle wendend, im wesentlichen folgendes: Ernsthafte Anstrengungen bei einem Sesshin sind niemals vergeudet, selbst wenn sie nicht zur Erleuchtung führen. Man kann das Errei- chen von Kenshô damit vergleichen, daß jemand beim hundertsten Schuß das Auge des Stieres trifft. Wer könnte sagen, daß die neun- undneunzig Fehlschüsse zum endgültigen Erfolg in keiner Beziehung stünden? Einige sind sogar beim Teetrinken, womit ein Sesshin beendet wird, zur Erleuchtung gekommen, andere auf dem Heimweg im Zug; bleibt also allzeit wachsam. Konzentriert euch unermüdlich auf euer Kôan, wenn das eure Aufgabe ist, oder verrichtet jede Tätigkeit gesammel- ten Geistes, wenn ihr Shikantaza übt. Verzettelt nicht unnütz das während des Sesshin aufgespeicherte Jôriki durch eitles, leeres Gerede, sondern bewahrt und kräftigt es bei euren täglichen Aufgaben. - In manchen Klöstern und Tempeln wird im Beisein aller eine beson- dere Zeremonie abgehalten, um jenen, die Kenshô erlangten, die Mög- lichkeit zu geben, dem Rôshi und den Mönchs-Ältesten ihre Dank- barkeit auszudrücken. Mit dem Rezitieren des Hannya Shingyô und der vier Gelübde endet das Sesshin in aller Form. Danach versammeln sich alle beim Teetrinken und Kuchenessen und danken dem Rôshi und den Mönchs-Ältesten, wie auch einander gegenseitig für alle Hilfe und Unterstützung, die ihnen während des Sesshin zuteil gewor- den ist. Trotz der auffälligen Verwendung des Kyosaku, trotz des wilden Gejages vor dem Dokusan und trotz des erregenden Austauschs, wie er sich oft beim Dokusan selbst ergibt, liegt doch das eigentliche Drama nicht in all diesen sichtbaren Zeichen, sondern im Zazen selbst: in der einsamen Suche in der weiten, verborgenen Welt des eigenen Geistes, im verlassenen Dahinziehen durch gewundene Schluchten von Scham und Angst, über Wüsten ekstatischer Visionen und folternder Trug- bilder, um Vulkane brodelnden Ichs herum und durch Dschungel von Torheit und Verblendung in unaufhörlichem Ringen, jenes Einssein

283 und jene Leere von Körper und Geist zu gewinnen, die zu der Blitz- und-Donner-Entdeckung führen, daß das Weltall und man selbst nicht voneinander entfernt und getrennt sind, sondern ein pulsierendes, inniges Ganzes ausmacht. Ob nun Satori erfolgt oder nicht, man kann nicht ernsthaft an einem Sesshin teilnehmen, ohne geläuterten Herzens, gekräftigten Geistes und mit einer überraschend frischen Sicht der alt-vertrauten Welt nach Hause zu kommen. Das zentrale Motiv eines Sesshin ist die ununterbrochene eigene Bemühung, denn letzten Endes wird man nicht durch seine Mitmen- schen, nicht durch den Rôshi und nicht einmal durch den Buddha befreit und schon ganz gewiß nicht durch übernatürliche Wesen, son- dern durch die eigenen mutigen, unermüdlichen Anstrengungen. Es ist kein Zufall, daß die meisten Menschen aus dem Westen, deren Erleuchtungs-Erlebnisse hier folgen, Amerikaner sind. In der nach- drücklichen Betonung des Zen, daß man sich auf sich selbst verlassen muß, in seiner klaren Erkenntnis der Gefahren des Intellektualismus, in seinem auf Erfahrung gegründeten Appellieren an das persönliche Erlebnis und nicht an philosophische Spekulationen, als Mittel zum Nachweis letzter Wahrheit, in seiner pragmatischen Beziehung zur Seele und zum Leiden und in seinen klaren, praktischen Methoden zur Befreiung von Körper-Geist finden Amerikaner vieles, was ihrer natürlichen Veranlagung, den historischen Gegebenheiten und ihrer Weltanschauung geistesverwandt ist. Zu einer Zeit, da «die Dinge im Sattel sitzen und die Menschheit reiten», wie nie zuvor, da die Spannungen von Furcht, Sorge und Entfremdung die Seelen der Menschen verheeren, bedeutet die Tat- sache, daß gewöhnliche Menschen durch Satori sowohl Sinn und Freude des Lebens entdecken, als auch ein Gefühl für ihre eigene Ein- zigartigkeit und Solidarität mit der ganzen Menschheit gewinnen können, gewiß eine Hoffnung für Menschen überall auf der Welt.

284 Die Erlebnisse

1. Herr K. Y., Japaner, Direktor einer großen Firma, Alter 47

27. November 1953 An NAKAGAWA SÔEN Rôshi Lieber NAKAGAWA Rôshi, Vielen Dank für den glücklichen Tag, den ich im Kloster des Rôshi17 verbringen durfte. Der Rôshi wird sich an die Diskussion über Selbst-Wesensschau erinnern, die sich um jenen Amerikaner als Mittelpunkt ergab. Damals konnte ich mir kaum vorstellen, daß ich wenige Tage später über mein eigenes Erlebnis berichten würde. Am Tage nach meinem Besuch im Ryutaku-Ji18 fuhr ich mit meiner Frau von Tokyo aus im Zug nach Hause. Ich las ein Buch über Zen von SON-Ô, der, wie der Rôshi sich erinnern wird, zur Genroku-Zeit (1688-1703) als Sôtô-Zen-Meister im Sendai lebte. Gerade als der Zug sich Ofuna näherte, kam ich zu der Zeile:

«Ich habe klar erkannt: Geist ist nichts anderes denn Berge und Flüsse und die große weite Erde, als die Sonne, der Mond und die Sterne 19.» Ich hatte das schon früher gelesen, diesmal aber machte es mir einen derart lebhaften Eindruck, daß es mir den Atem verschlug. Ich sagte mir: «Nach sieben, acht Jahren Zazen habe ich endlich den Kern dieses Verses begriffen.» Ich konnte die aufsteigenden Tränen nicht zurückhalten. Einigermaßen beschämt, mich dort weinend unter den Menschen zu finden, wandte ich das Gesicht ab und tupfte mir die Augen mit dem Taschentuch. Inzwischen war der Zug am Bahnhof Kamakura angekommen, und meine Frau und ich stiegen aus. Auf dem Heimweg sagte ich zu ihr:

17. Die Anrede in der dritten Person ist im heutigen Japan üblich. 18. Ryutaku-Ji ist das Kloster, dessen Abt NAKAGAWA SÔEN Rôshi ist. 19. Ein Zitat aus DÔGENS Shôbôgenzô, das sich ursprünglich im Zenrui Nr. 10 fand, einem frühen chinesischen Werk über Zen.

285 «Ich fühle mich heute derart erfrischt, ich weiß nicht wie; mir ist zu Mute, als könnte ich zu den größten Höhen aufsteigen.» Lachend erwiderte sie: «Dann wird der Abstand zu mir aber sehr groß ...» Die ganze Zeit wiederholte ich mir immer wieder jenes Zitat. Nun traf es sich so, daß gerade an jenem Tage mein jüngerer Bruder mit seiner Frau bei uns war, und ich erzählte ihnen von meinem Besuch im Ryutaku-Ji und von jenem Amerikaner, der eigens um Erleuchtung zu finden wieder nach Japan gekommen war. Kurzum, ich erzählte ihnen alle Geschichten, die ich vom Rôshi gehört hatte, und es war gegen Mitternacht, als ich zur Ruhe ging. In tiefer Nacht wachte ich auf einmal auf. Zuerst war mein Sinn umnebelt. Plötzlich tauchte der Vers in meinem Bewußtsein auf: «Ich habe klar erkannt: Geist ist nichts anderes denn Berge und Flüsse und die große weite Erde, als die Sonne, der Mond und die Sterne», und ich wiederholte ihn mir. Urplötzlich war mir, als ob mir ein elektri- scher Schlag durch den ganzen Körper führe, und im gleichen Augen- blick stürzten Himmel und Erde ein. In der gleichen Sekunde wallte eine ungeheure Freude gleich Sturzwellen in mir auf, ein wahrer Orkan von Freude, und ich lachte laut aus vollem Halse: «Ha, ha, ha, ha, ha, ha, ha! Da gibt es überhaupt keine Vernunft, ganz und gar keine Vernunft. Ha, ha, ha, ha, ha!» Der Leere-Himmel barst ent- zwei und öffnete seinen ungeheuren Mund und lachte brüllend: «Ha, ha, ha, ha, ha!» Später sagte mir ein Familienangehöriger, mein Lachen habe unmenschlich geklungen. Nun lag ich auf dem Rücken. Plötzlich richtete ich mich auf und schlug mit beiden Händen mit voller Wucht auf das Bettzeug20 ein, trampelte mit den Füßen auf den Boden, als ob ich ihn zerschmettern wollte, und lachte dabei die ganze Zeit zügellos. «Ha, ha, ha!», reckte mich auf, warf mich flach auf den Boden. Ha, ha, ha, ha, ha!» Meine Frau und mein jüngster Sohn, die in meiner Nähe schliefen, waren erwacht und so entsetzt, als hätte der Blitz aus heiterm Himmel ein- geschlagen. Meine Frau hielt mir mit beiden Händen den Mund zu und rief immer wieder: «Was ist denn mit dir los? Was ist denn mit

20. Das traditionelle japanische «Bett« besteht aus einer 5-8 cm dicken wattierten Matratze, die man auf die Tatami legt.

286 dir los?» Ich war mir der meisten dieser Vorgänge nicht bewußt; man erzählte es mir später. Mein Sohn sagte mir, er habe geglaubt, ich sei wahnsinnig geworden. «Ich habe Erleuchtung gefunden! Ja, das habe ich! SHAKYAMUNI und die Patriarchen haben mich nicht betrogen21 !» rief ich aus. Als ich mich beruhigt hatte, entschuldigte ich mich bei der übrigen Familie, die, durch den Tumult erschreckt, nach unten gekommen war. Ich warf mich vor der Photographie des Kannon, die der Rôshi mir gegeben hatte, und vor dem Diamant-Sûtra und dem von YASUTANI Rôshi geschriebenen Buche nieder, zündete ein Räucherstäbchen an und saß Zazen, bis es eine halbe Stunde später aufgezehrt war. Aber mir schien, als seien nur zwei, drei Minuten vergangen. Nun zitterte mir die Haut am ganzen Körper, als bewegte sie sich; und selbst jetzt zittert sie mir noch im Nachbeben. Am folgenden Morgen suchte ich YASUTANI Rôshi auf. Ich wollte ihm mein Erlebnis des plötzlichen Zusammenbruchs von Himmel und Erde schildern. «Ich bin überglücklich, ich bin überglücklich!» wie- derholte ich immer wieder und schlug mir dabei kräftig auf den Schenkel. Die Tränen kamen mir, und ich konnte sie nicht zurückhal- ten. Ich versuchte, ihm das Erlebnis der Nacht zu erzählen, aber mir zitterten die Lippen, und die Worte wollten sich nicht bilden. Schließlich legte ich einfach meinen Kopf in seinen Schoß. Der Rôshi streichelte mir den Rücken und sagte: «Ja, das ist wahr- haftig selten, die Erfahrung in so wunderbarem Ausmaß zu machen. Das nennt man das ,Erlangen der Leere des Geistes'. Meine Glück- wünsche!» «Dank Euch», murmelte ich und weinte wieder vor Freude. Wieder- holt sagte ich ihm: «Ich muß weiter tüchtig Zazen üben!» Er war so gütig, mich in allen Einzelheiten zu beraten, wie ich in Zukunft meine Übungen durchführen sollte. Danach flüsterte er mir nochmals ins Ohr: «Meine Glückwünsche!» und begleitete mich mit einer Taschen- lampe zum Fuß des Berges.

2l. Das ist die herkömmliche Redewendung, um auszudrücken, daß die Erleuch- tung, wie sie Buddhas und Patriarchen lehrten, jetzt Sache wahrer, eigener Erfah- rung geworden ist.

287 Obgleich seither vierundzwanzig Stunden vergangen sind, spüre ich noch immer das Nachbeben dieses Erdbebens. Ich zittere noch am ganzen Körper. Den ganzen Tag über lachte und weinte ich vor mich hin. Ich schreibe diesen Erlebnisbericht sofort, in der Hoffnung, daß er für die Mönche des Rôshi von Wert ist, und weil mich YASUTANI Rôshi dazu gedrängt hat. Bitte grüße der Rôshi jenen Amerikaner von mir. Sage der Rôshi ihm, daß sogar ich, der ich unwürdig bin und dem es an Geist mangelt, solch wunderbares Erlebnis haben kann, wenn die Zeit dazu reif ist. Ich würde gern mit dem Rôshi ausführlich über vieles sprechen, werde aber auf ein andermal warten müssen. P. S.: Jener Amerikaner hat uns gefragt, ob er innerhalb einer Sess- hin-Woche Erleuchtung finden könne. Sage der Rôshi ihm von mir: Sagen Sie nicht Tage, sagen Sie nicht Wochen, sagen Sie nicht Jahre oder selbst Lebenszeiten. Sagen Sie nicht Millionen oder Billionen von kalpa. Ja, er solle geloben, Erleuchtung zu finden, auch wenn es dazu der unendlichen, grenzenlosen, unermeßlichen Zukunft bedarf.

Mitternacht des 28. (Tagebucheintragungen) Erwachte und dachte, es sei drei oder vier Uhr früh, aber die Uhr zeigte erst halb eins. Habe vollkommenen Frieden, Frieden, Frieden .. . Fühle mich taub am ganzen Körper, aber Hände und Füße hüpften mir vor Freude fast eine halbe Stunde lang. Alles ist von mir abge- fallen, bin frei, frei, frei... Sollte ich denn dermaßen glücklich sein? Es gibt auch nicht einen gewöhnlichen Menschen22. Die große Uhr ertönt - nicht die Uhr, der Geist ertönt. Das Weltall selber ertönt. Da ist weder Geist noch Weltall. Gong, gong, gong! Ich bin vollkommen verschwunden. Buddha ist. «Das Gesetz von Ursache und Wirkung übersteigen, dem Gesetz von

22. Das heißt, die Buddhaschaft ist jedem Menschen immanent.

288 Ursache und Wirkung unterliegen23», solche Gedanken sind mir ent- schwunden. Ah, du bist? Du lachtest, nicht wahr? Dieses große Gelächter ist der Laut, da du dich in die Welt warfest, nicht wahr? Über den Urgrund des Geistes habe ich völlige Klarheit, völlige Klar- heit. Ich habe das Gefühl, daß mein Zazen-Üben an lebendiger Kraft und Frische gewonnen hat.

Mitternacht des 29. Habe Frieden, Frieden, Frieden ... Ist diese meine ungeheure Freiheit das Große-Aufhören aller Dinge24, wie es von den Alten beschrieben wurde? Wenn das fraglich erscheint, so wird man doch zugeben müssen, daß diese Freiheit ganz außer- ordentlich ist. Wenn das keine absolute Freiheit oder das Große-Auf- hören ist, was ist es denn dann?

Morgens um 4, am 29. Bing, Bong! Die große Uhr schlägt. Das allein ist. Da gibt es sonst nichts an Vernunft. Wahrlich, die Welt hat sich verwandelt. Aber in welcher Weise? Die Alten haben gesagt, daß der erleuchtete Geist einem im Wasser schwimmenden Fisch gleiche. So ist es. Da gibt es keine Stockung. Ich spüre keinerlei Hindernis. Alles fließt sanft und glatt dahin. Diese Freiheit, dieses Freisein ist unbeschreiblich, unsäglich. Was für eine wunderbare Welt! Ja, (Zen ist) «das weite, all-umfassende Tor des Erbarmens25». Ich bin voller Dankbarkeit, voller Dankbarkeit!

23. Das ist ein Hinweis auf das zweite Beispiel im Mumon-Kan, das Kôan, das gemeinhin als «HYAKUJÔS Fuchs» bekannt ist. 24. Eine Bezeichnung für jene Geistesverfassung, die sich aus der tiefgreifenden Erkenntnis, daß uns im Grunde nichts mangelt, ergibt; so gibt es nichts, was wir außerhalb unserer selbst suchen müßten. 25. Zitat von DÔGEN Zenji.

289 2. Herr P. K., Amerikaner, ehemaliger Geschäftsmann, Alter 46 Auszüge aus Tagebüchern

New York, 1. April 1953 Bauchschmerzen die ganze Woche lang; Doktor sagt, Magenge- schwüre werden schlimmer ... außerdem die alten Allergien .., Kann ohne Mittel nicht schlafen ... So elend, wünschte, ich hätte den Schneid, mit all dem Schluß zu machen.

20. April 1953 Besuchte heute Zen-Vortrag von S. Konnte wie gewöhnlich wenig Sinn darin finden... Warum mache ich nur mit diesen Vorträgen weiter? Kann ich jemals Satori erreichen, indem ich mir philosophi- sche Erklärungen über prajña und karûna26 anhöre und warum A nicht A ist und all das Übrige? ... Was, zum Teufel, ist Satori über- haupt? Auch nach vier Büchern von S. und Dutzenden seiner Vor- träge weiß ich es noch nicht. Muß schrecklich dumm sein ... Aber das weiß ich, daß ich durch Zen-Philosophie meine Schmerzen, meine Unrast und das verdammte «Nichts»-Gefühl nicht loswerde ... Erst letzte Woche beklagte sich ein Freund: «Du spuckst dauernd Zen- Philosophie, aber du bist kaum heiterer oder rücksichtsvoller gewor- den, seit du angefangen hast, das zu studieren. Es hat dich höchstens hochmütig gemacht...»

1. Juni 1953 Sprach mit K. über Zen und Japan - bis zwei Uhr morgens ... Er ist ebenso wie S. Japaner und hat Zen geübt, aber sonst haben sie wenig gemeinsam. Ehe ich K. traf, hatte ich mir vorgestellt, daß alle Leute mit Satori so wirken wie S.; jetzt sehe ich, Satori ist nicht so ein- fach; es hat anscheinend viele Facetten und Ebenen ... Warum bin ich nur so versessen auf Satori? Bombardierte K. die ganze Nacht lang mit: «Wenn ich nach Japan gehe, um Zen zu üben, können Sie mir versichern, daß ich meinem

26. Zwei Sanskrit-Wörter: prajña bedeutet Satori-Weisheit; karûna heißt Erbar- men, Barmherzigkeit.

290 Leben dann etwas Sinn abgewinnen kann? Werde ich ganz bestimmt meine Magengeschwüre und Allergien und die Schlaflosigkeit los? Die zwei Jahre, in denen ich die Zen-Vorträge in New York besucht habe, haben weder mein Gefühl ständiger Mißerfolge gemildert, noch, wenn ich meinen Freunden glauben soll, meinen intellektuellen Hoch- mut verringert.» K. Wiederholte immer wieder: «Zen ist keine Philosophie; es ist eine gesunde Art zu leben! ... Wenn Sie wirklich etwas vom Buddhismus lernen und nicht nur darüber reden wollen, dann wird sich Ihr gan- zes Leben wandeln. Es wird nicht leicht sein, aber darauf können Sie sich verlassen: Wenn Sie einmal den Weg des Buddha in aller Auf- richtigkeit und mit allem Eifer betreten, so werden sich allenthalben Bodhisattvas erheben, um Ihnen zu helfen. Aber Sie müssen Mut und Glauben haben, und Sie müssen den Entschluß fassen, die befreiende Kraft Ihres Buddha-Wesens zu verwirklichen, was das auch immer an Schmerzen und Opfern erfordern mag ...» Das war die Mut-Transfusion, die ich brauchte.

3. September 1953 Gab meine Stellung auf, verkaufte Einrichtung und Auto ... Ein- mütiges Urteil der Freunde: «Du bist verrückt, Zehntausend pro Jahr wegzuschmeißen für einen Platz im Himmel!» ... Mag sein. Viel- leicht aber sind sie die Verrückten, Besitz und Magengeschwüre und Herzkrankheiten zu häufen... Ich habe den Verdacht, manche von ihnen beneiden mich sogar... Wenn ich nicht müßte, würd ich's bestimmt nicht tun, das ist sicher; aber mir ist wirklich etwas bange. Hoffe, es stimmt mit dem «Leben um Vierzig» ... Kaufte Fahrkarte nach Japan.

Tokyo, 6. Oktober 1953 Wie sich doch Aussehen und Stimmung Japans in den sieben Jahren geändert haben! Der greuliche Schutt und die verzweifelten Gesichter sind im großen und ganzen verschwunden. Gut, diesmal als Suchen- der zurückzukommen und nicht als Nutznießer der Besatzungs- macht ... Möchte wohl wissen, was mich eigentlich hierher zurück-

291 brachte? War es die Würde der Japaner, ihre geduldige Ausdauer angesichts ihrer zahllosen Leiden, was mich in Erstaunen gesetzt hatte? War es das überirdische Schweigen des Klosters Engaku und der tiefe Frieden, den es in mir hervorrief, wann immer ich unter seinen riesigen Kryptomerien herumging?

Kyoto, 1. November 1953 Schon fast einen Monat in Kyoto. P., der amerikanische Professor, den ich bei einem der Vorträge von S. in New York getroffen hatte, liest Geschichte der Philosophie an einer japanischen Universität. Er und ich haben schon fünf oder sechs Zen-Lehrer und -Kapazitäten aufgesucht. Gerede, Gerede, Gerede! Einige dieser Zen-Leute sind seltsam redselig für eine Lehre, die sich der unmittelbaren geistigen Übermittlung und des Abscheus vor begrifflichen Vorstellungen rühmt. Professor M. sagte, als ich ihn daran erinnerte: «Am Anfang müssen Sie Begriffe verwenden, um Begriffe loszuwerden.» Klingt, als wollte man Feuer mit Öl bekämpfen ... Fühle mich wieder so rastlos. Klapperte gestern die Antiquitäten-Geschäfte ab und kaufte Kunstgegenstände. Bin ich deshalb nach Japan zurückgekommen?

2. November 1953 Heute kam ein Brief von NAKAGAWA Rôshi, Meister des Klosters Ryutaku; er schreibt, P. und ich könnten für zwei Tage hinkom- men. Wird sich solch eine Fahrt lohnen? Nicht, wenn S. und die Zen-Professoren in Kyoto recht haben: «Zen-Klöster sind für moderne, intellektuell eingestellte Menschen zu traditionell und auto- ritär ...» Immerhin wird es eine neuartige Erfahrung sein, sich mal mit einem Rôshi auf Englisch zu unterhalten; kann zu einem erfreu- lichen Ferientag werden... Die Frau von P. überhäufte uns mit schweren Decken und einer Menge Lebensmittel. Ihr japanischer Freund meint, Zen-Klöster seien berüchtigt kalt und das Leben dort von strenger Einfachheit. Was tut man überhaupt in einem Kloster?

Mishima, 3. November 1953 Kamen bei Einbruch der Dunkelheit im Kloster an. Während der

292 sechseinhalbstündigen Eisenbahnfahrt beschäftigten P. und ich uns damit, Fragen zu formulieren, mit denen wir die philosophischen Kenntnisse des Rôshi über Zen auf die Probe stellen wollten. «Wenn er Zen intellektuell erfaßt», so beschlossen wir, «und nicht nur ein altmodischer religiöser Fanatiker ist, dann werden wir ganze zwei Tage bleiben, sonst aber fahren wir besser morgen wieder ab.» NAKAGAWA Rôshi empfing uns in seinen einfachen, bescheidenen Räu- men ... Wie jung er aussieht, ganz anders als der bärtige Patriarch unserer Vorstellung... Und so herzlich und leutselig; machte uns eigenhändig heiß geschlagenen grünen Tee, köstlich und besänftigend, und er spaßte mit uns in erstaunlich gutem Englisch. «Ihre lange Bahnfahrt muß Sie müde gemacht haben; wollen Sie sich nicht hinlegen und sich etwas ausruhen?» ... «Nein, wir sind zwar ein bißchen müde, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, würden wir Ihnen gern ein paar Fragen über Zen stellen, die wir vorbereitet haben.» ... «Wenn Sie sich nicht ausruhen wollen, dann wird ein Mönch Sie in die Haupthalle bringen, wo Sie sitzen und meditieren können, bis ich einige dringende Angelegenheiten erledigt habe; nach- her können wir uns unterhalten, wenn Sie mögen.» «Aber wir haben im ganzen Leben noch nie meditiert; wir wüßten auch gar nicht, wie man mit gekreuzten Beinen sitzt.» ... «Sie können sitzen, wie Sie wollen, aber Sie dürfen nicht sprechen. Der Mönch, der Sie begleitet, wird Sie mit Sitzkissen versehen und Ihnen zeigen, wo Sie sitzen können. Er wird Sie rufen, wenn ich Sie sprechen kann.» Saß - nein, rutschte herum - wortlos, zwei elendigliche Stunden in der dunklen Halle neben P. Konzentration unmöglich, Gedanken jag- ten sich wie ein Rudel Affen. Folterqualen in den Beinen, im Rücken, im Nacken ... Wünsche verzweifelt aufzuhören, aber wenn ich das mache, ehe P. es tut, wird er nie aufhören, mich zu hänseln, und der Rôshi wird auch keine gute Meinung von amerikanischer Tapferkeit bekommen. Schließlich kam der Mönch und flüsterte barmherzig: «Sie können jetzt zum Rôshi kommen.» Sah auf die Uhr: 9.30. Hum- pelte ins Zimmer des Rôshi, um von seinem unergründlichen Lächeln und einer großen Schale Reis mit sauer Eingemachtem begrüßt zu werden ... Er beobachtete uns aufmerksam, während wir unser Essen

293 verschlangen, und fragte uns dann milde: «Nun, was möchten Sie über Zen wissen?» ... Wir waren so erschöpft, daß wir nur schwäch- lich antworten konnten: «Nichts, überhaupt nichts!» ... «Dann gehen Sie jetzt besser schlafen, weil wir um halb vier am Morgen auf- stehen ... Angenehme Träume.»

4. November 1953 «Wachen Sie auf, wachen Sie doch auf! Es ist schon drei Viertel vier! Haben Sie denn nicht die Glocken und Gongs gehört, und hören Sie denn nicht die große Trommel und das Rezitieren? Bitte, beeilen Sie sich doch!» Was für eine unheimliche Szene raffinierter Zauberei und Abgötterei: Kahlgeschorene Mönche in schwarzen Kutten sitzen bewegungslos da und rezitieren ein mystisches Kauderwelsch, begleitet von einem rie- sigen Holz-Tamtam, das Töne einer anderen Welt von sich gibt, wäh- rend der Rôshi, einem elegant gewandeten Hexenkünstler ähnlich, magische Schritte vollzieht und sich wieder und wieder vor dem Altar, der von Idolen und Abbildern strotzt, niederwirft... Ist das das Zen des TANKA, der eine Buddha-Statue ins Feuer warf? Ist das 27 das Zen des RINZAI, der schrie: «Ihr müßt den Buddha töten »?. .. Die Lehrer in Kyoto und S. hatten also doch recht... Nach dem Frühstück führte uns der Rôshi herum, um uns das Kloster zu zeigen, das in unmittelbarer Nachbarschaft sanft gewellter Hügel

27. «Den Buddha töten» heißt: Die Vorstellung aus dem Sinn ausrotten, daß es einen Buddha im Gegensatz zu gewöhnlichen Menschen gibt; sich von der Idee befreien, daß SHAKYAMUNI Buddha ein Gott oder ein überirdisches Wesen sei; den leichten Stolz, der sich aus Kenshô ergibt und einen denken macht: «Jetzt bin ich ein Buddha», vernichten - das heißt, den Buddha töten. - «Spül dir den Mund, wenn du den Namen Buddha aussprichst», ist ein anderer allgemein mißverstan- dener Zen-Ausspruch. Er kommt aus dem Kommentar von MUMON zum 30. Bei- spiel des Mumon-Kan: «Wer wahrhaft begreift, spült sich drei Tage lang den Mund aus, wenn er das Wort ,Buddha' geäußert hat. Das bezieht sich nicht auf SHAKYA- MUNI als Person, sondern auf Buddha-Wesen oder Buddha-Geist. Alles ist an sich ganz und vollkommen. Ein Stock ist ein Stock, eine Schaufel eine Schaufel. Gebrauche eine Schaufel, und du erkennst ihre Schaufelheit auf unmittelbare, grundlegende Weise. Wenn du sie aber als «Buddha» oder «Buddha-Geist» be- schreibst, so «besudelst» du sie unnütz, d. h. du fügst dem Namen Schaufel noch einen Begriff hinzu.

294 im bebenden Schweigen eines gepflegten Waldes von Kiefern, Zedern und Bambus liegt und von einem erlesen schönen Lotusteich geziert wird, - wahrhaftig ein japanisches Shangri-la -. Und welch ein Aus- blick auf den Fujiyama, den majestätischen Wächter am Himmel! Wenn der Rôshi nur nicht alles dadurch verdirbt, daß er darauf besteht, daß wir uns vor jenen Abbildern in der Halle verneigen ... Ach, meine ahnungsvolle Seele! Er hat uns in den Raum des Gründers geführt, zündet ein Räucherstäbchen an und wirft sich vor der unheimlichen Statue des HAKUIN voll Inbrunst nieder. «Auch Sie dürfen ein Räucherstäbchen anzünden und HAKUIN Ihre Hochach- tung erweisen.» P. sieht mich an, ich sehe ihn an: dann explodiert er: «Die altchinesischen Zen-Meister verbrannten oder bespuckten Buddha-Statuen; warum verneigen Sie sich vor ihnen?» Der Rôshi sieht feierlich-ernst, aber nicht verärgert aus. «Wenn Sie spucken wol- len, so spucken Sie. Ich ziehe es vor, mich zu verneigen.» ... Wir spucken nicht, aber wir verneigen uns auch nicht.

6. November 1953 P. ist heute nach Tokyo abgereist; und der Rôshi hat mich aufgefor- dert zu bleiben ... Bei all seinem religiösen Fanatismus und unphilo- sophischen Sinn ist er ein warmherziger, ordentlicher Bursche, und ich mag ihn gern ... Es ist jedoch sinnlos, mir etwas vorzumachen: Es wird hart werden, bei der Kälte um halb vier aufzustehen, von einer Kost zu leben, die hauptsächlich aus Reis besteht, und zu versuchen, mit verschränkten Beinen zu meditieren... Kann ich denn das? Will ich das überhaupt? ... Immerhin ist etwas an all dem, das tief befriedigend ist... Jedenfalls bin ich froh, daß er mich eingeladen hat zu bleiben und daß ich angenommen habe ...

8. November 1953 Der Rôshi hat gesagt, ich dürfe im Raum des Gründers allein medi- tieren anstatt im kalten Zendô. Ich darf sitzen, auf japanische Weise knien oder einen Stuhl benutzen und so viel warme Kleidung tragen, wie ich will, wenn mir kalt ist... Habe jedoch keine Ahnung, wie man meditiert... Als ich dem Rôshi das sagte, gab er mir den myste-

295 riösen Rat: «Verlagern Sie Ihr Bewußtsein in Ihre Bauchhöhle. Dort gibt es einen blinden Buddha; machen Sie ihn sehend!» Ist das alles, was zur Meditation gehört? Oder läßt mich der Rôshi absichtlich im eigenen Saft schmoren? Sah mir heute die Gesichtszüge des HAKUIN genau an; sie wirken weniger grotesk, sogar ein wenig interessant.

10. November 1953 Steige jeden Morgen auf den Hügel hinter der Haupthalle zu einem weiträumigen Ausblick auf den Fujiyama... Ließ gestern meiner Kopfschmerzen wegen die Meditation sein, und Fuji sah finster und leblos aus. Heute, nach einigen Stunden guter Meditation auf einem Stuhl, schwingt er sich wieder großartig empor. Eine bemerkenswerte Entdeckung: Ich habe Macht über Leben und Tod des Fuji!

23. November 1953 Beim Tee mit dem Rôshi, in seinem Raum, fragte mich der Rôshi plötzlich: «Was hielten Sie davon, das Rôhatsu-Sesshin in HARADA Rôshis Kloster zu besuchen? Die Disziplin ist bei diesem Sesshin besonders eisern. Aber er ist ein berühmter Rôshi, ein viel besserer Lehrer für Sie als ich.» ... «Wenn Sie meinen, natürlich, warum nicht?» ... «Aber mein alter Lehrer28, den Sie neulich getroffen haben, ist dagegen: Er billigt HARADA Rôshis barsche Methoden zum Herbeiführen von Satori nicht. Er meint, ein Zen-Schüler solle lang- sam reifen und dann so natürlich zur Erleuchtung kommen, wie eine Frucht von Baum fällt, wenn sie reif ist... Lassen Sie mich noch etwas darüber meditieren...»

25. November 1953 Heute morgen kamen zwei interessante Besucher ins Kloster, der eine ein Meister, YASUTANI genannt, der andere sein Schüler, ein Laie namens YAMADA, der sagte, er habe Zen etwa acht Jahre lang geübt. Hätte ihn gern gefragt, ob er schon Satori habe, entschloß mich aber anders - es hätte ihn in Verlegenheit bringen können ...

28. GEMPÔ YAMAMOTO Rôshi, der zu jener Zeit schon in Zurückgezogenheit lebte.

296 Fragte YASUTANI Rôshi, ob er meine, daß ich in einer Sesshin-Woche Satori erlangen könnte ... «Sie können es in einem Tage des Sesshin erreichen, wenn Sie wahrhaft dazu entschlossen sind und all Ihr begriffliches Denken aufgeben.»

27. November 1953 «Wie steht's mit Ihrer Meditation?» fragte mich der Rôshi heute plötzlich. «Jener Buddha in meinem Bauch ist hoffnungslos blind.» «Er ist nicht wirklich blind, das scheint nur so, weil er in tiefem Schlaf liegt... Was halten Sie davon, es mit dem Kôan Mu zu ver- suchen?» «Gut, wenn Sie meinen - aber was tue ich damit?» «Ich nehme an, Sie kennen seine Geschichte ...» «Ja.» «Dann konzentrie- ren Sie sich einfach anhaltend auf JÔSHÛS Antwort, bis Sie deren Bedeutung intuitiv erkennen.» «Werde ich dann erleuchtet sein?» ... «Ja, wenn Ihr Verständnis nicht nur ein theoretisches ist.» ... «Aber wie soll ich mich konzentrieren?» ... «Verlagern Sie Ihr Bewußtsein in Ihren Hara und richten Sie Ihren Sinn einzig auf Mu.»

28. November 1953 Heute früh rief mich der Rôshi auf sein Zimmer und winkte mir, ihm zu einem kleinen Altarschrein im Hintergrund zu folgen ... «Sehen Sie den Brief, den ich Kannon in die Hand gesteckt habe? Sie sind mit dem Mann, der ihn schrieb, jetzt karmisch verbunden; danken wir Kannon mit Gasshô.» Ohne zu überlegen, machte ich Gasshô und fragte schnell: «Sagen Sie, was ist das für ein Brief, wer hat ihn geschrieben? Und was meinen Sie mit ,karmisch verbunden'?» Der Rôshi, nach außen feierlich ernst, innerlich aber angeregt, sagte ein- fach: «Kommen Sie in meinen Raum, und ich werde es erklären.» Mit seiner gewohnten Anmut kniete er sich im japanischen Stil nie- der, setzte den Kessel für den Tee auf das Holzkohlenfeuer und erklärte dann mit Entschiedenheit: «Ich habe mich entschlossen, Sie zum Rôhatsu-Sesshin zum Hosshin-Ji zu bringen. Dieser Brief hat mich zu dem Entschluß gebracht.» ... «Erzählen Sie mir, worum es sich bei all dem handelt.» ... «Erinnern Sie sich an YAMADA San, jenen Herrn, der vorgestern mit YASUTANI Rôshi herkam? Der Brief

297 ist von ihm. Er erlebte tiefreichendes Satori genau einen Tag nach seiner Abreise von hier, und er berichtet darüber in diesem Brief29.» «Haben Sie gesagt, er erlangte Satori? Bitte, übersetzen Sie es mir gleich jetzt.» «Dafür ist jetzt keine Zeit. Hosshin-Ji liegt weit von hier am Japa- nischen Meer, und wir müssen uns vorbereiten, um morgen abzufah- ren. Ich werde es Ihnen im Zug übersetzen.»

29. November 1953 Während wir im Zug dritter Klasse durch die Nacht dahinbrausten, übersetzte der Rôshi mir langsam und sorgfältig YAMADAS Brief. "Was für ein lebendiges, aufrüttelndes Erlebnis! Und er kein Mönch, son- dern ein Laie! «Glauben Sie wirklich, daß es mir möglich ist, bei diesem Sesshin Satori zu erreichen?» ... «Natürlich, vorausgesetzt, daß Sie sich selbst vollständig vergessen.» ... «Aber was ist Satori überhaupt? Ich meine -» «Halt!» ... Der Rôshi warf beide Hände in die Luft, und sein uner- gründliches Lächeln leuchtete auf. «Wenn Sie es erreichen, werden Sie es wissen. Jetzt aber, bitte, keine weiteren Fragen mehr. Üben wir Zazen und versuchen wir dann, ein wenig zu schlafen, ehe wir zum Hosshin-Ji kommen.» ...

Obama, 30. November 1953 Kamen spät am Nachmittag hungrig und erschöpft im Hosshin-Ji an. Der Himmel bleiern, die Luft kalt und feucht. HARADA Rôshi war warm und herzlich und begrüßte mich mit ausgestreckten Händen. Später stellte er mich dem assistierenden Rôshi und vier Mönchs- Ältesten vor. Obgleich sie etwas zurückhaltend sind, glühen sie doch von einer starken inneren Flamme. Der Rôshi und ich zogen uns auf ein kleines Zimmer, das wir teilten, zurück ... «Sie ruhen sich besser etwas aus, ehe die Schlacht beginnt.» ... «Schlacht?» ... «Ja, eine Schlacht auf Leben und Tod mit den Gewalten Ihrer eigenen Unwissenheit... Ich werde Sie rufen, wenn

29. Siehe S. 285-289.

298 sich alle in der Haupthalle versammeln, um die letzten Anweisungen von HARADA Rôshi zu erhalten - in etwa einer Stunde.» Wie Hummer in einem Konklave saßen HARADA Rôshi, der assistie- rende Rôshi und die vier Mönchs-Ältesten in scharlachfarbenen Bro- kat-Gewändern und hoch aufragendem zeremoniellem Kopfputz auf schweren Seidenkissen am einen Ende der Halle, während am ande- ren vier jüngere Mönche, jeder ein schwarzes Lacktablett mit gold- farbenen Tassen in den Händen, auf dem Sprung standen, sie anzu- bieten. Zwischen diesen beiden Gruppen knieten etwa fünfzig grim- mig aussehende Laien in zwei Reihen einander gegenüber, durch die Breite des Raumes getrennt, mit den herkömmlichen düsteren Gewän- dern angetan ... Ihre Augen klebten am Boden vor ihnen, und keiner außer mir rührte sich, um HARADA Rôshi anzusehen, als er sprach ... Warum sind sie nur alle so gespannt und finster? Warum sehen sie alle aus, als stählten sie sich für irgendeine schreckliche Heimsuchung? Allerdings hatte der Rôshi von einer Schlacht gesprochen, aber das war gewiß nur eine Redensart - wie soll man denn seinen eigenen Geist bekämpfen? Ist Zen denn nicht WU wei, also «nicht ringend»? Ist das all-umfassende Buddha-Wesen nicht allgemeiner Besitz? Warum also darum ringen, etwas zu erwerben, was schon unser ist? ... Muß HARADA Rôshi bei erster Gelegenheit danach fragen ... Als wir wieder in unserem Zimmer waren, faßte NAKAGAWA Rôshi HARADA Rôshis Anweisungen kurz zusammen: 1. Während dieser Woche dürft ihr nicht sprechen, nicht baden, euch nicht rasieren und das Grundstück nicht verlassen. 2. Ihr müßt euch einzig und allein auf eure eigene Übung konzentrieren, ohne eure Augen aus irgend- einem Grunde abschweifen zu lassen. 3. Sie als Anfänger haben bei diesem Sesshin ebensowohl die Möglichkeit, Erleuchtung zu finden wie die Alt-Erfahrenen. - Und der Rôshi fügte kurz und bündig hinzu: «Aber Sie müssen hart arbeiten, schrecklich hart.»

1. Dezember 1953 Unaufhörlich Regen, das Zendô unbehaglich kalt und feucht. . . Trage lange Unterhosen, Wollhemd und zwei Pullover, wollenes Gewand und zwei Paar Wollsocken, höre aber nicht auf zu zittern ...

299 Das Gebrüll und Geschrei des godô verwirrender als seine Hiebe mit dem Kyosaku ... Von Schmerzen in Beinen und Rücken gefoltert... Gedanken jagten sich wild ... Wälzte mich von agura in seiza, von Seiza zu hanka, ordnete meine drei Kissen auf jede nur erdenkliche Weise, konnte aber den Schmerzen nicht entkommen ... Bei meinem ersten Dokusan zeichnete HARADA Rôshi einen Kreis mit einem Punkt in der Mitte. «Dieser Punkt, das sind Sie, und der Kreis ist das Weltall. In Wirklichkeit umfassen Sie das ganze Weltall. Da Sie sich aber als diesen Punkt ansehen, ein isoliertes Fragment, erleben Sie das Weltall nicht als untrennbar von sich selbst... Sie müssen aus Ihrer Ich-Verhaftung ausbrechen; Sie müssen Philosophie und alles Übrige vergessen. Sie müssen Ihr Bewußtsein in Ihren Hara verlagern und nur Mu ein- und ausatmen. Der Mittelpunkt des Universums ist Ihre Bauchhöhle!... Mu ist ein Schwert, das Ihnen ermöglicht, sich einen Weg durch Ihre Gedanken zu bahnen bis zu jenem Bereich, der der Ursprung aller Gedanken und Gefühle ist. Aber Mu ist nicht allein ein Mittel zur Erleuchtung, es ist selbst Erleuchtung. Selbst-Wesensschau ist keine Sache des schrittweisen Vorrückens, sondern das Ergebnis eines Sprungs. Ehe Ihr Geist nicht rein ist, können Sie diesen Sprung nicht tun ...» «Was meinen Sie mit ,rein'?» ... «Leer von allen Gedanken» ... «Aber warum ist es nötig, um Erleuchtung zu ringen, wenn wir doch schon das erleuchtete Buddha-Wesen haben?» ... «Können Sie mir dieses erleuchtete Wesen zeigen?» ... «Hm, nein, das kann ich nicht. Aber die Sûtras sagen, wir besäßen es, nicht wahr?» ... «Die Sûtras sind nicht Ihre Erfahrung, sie sind die Erfahrung Buddha SHAKYA- MUNIS. Wenn Sie Ihren Buddha-Geist schauend erkennen, werden Sie selbst ein Buddha sein.»

2. Dezember 1953 Sagte HARADA Rôshi beim Dokusan um 5 Uhr früh, daß die Schmer- zen in meinen Beinen eine Marter seien. «Ich kann nicht weiter- machen.» ... «Möchten Sie einen Stuhl haben?» Er sah mich spöttisch an... «Nein, ich will keinen Stuhl benutzen, und wenn mir die

300 Beine abfallen!» ... «Gut! Mit dieser Gesinnung werden Sie unwei- gerlich Erleuchtung erlangen.» Schrecklicher Schlag mit dem Kyosaku, gerade als meine Konzentra- tion in eins gerinnen wollte, und ich fiel wieder auseinander ... Ver- dammt, dieser godô! «Rücken aufrichten, fest sitzen, alle Kraft im Hara konzentrieren!» schreit er gellend. Aber wie, zum Teufel, ver- lagere ich meine Kraft in den Hara? Wenn ich es versuche, habe ich stechende Schmerzen im Rücken. Muß HARADA Rôshi danach fragen ... Während der ganzen Zeit, da ein Räucherstäbchen abbrannte, waren 30 meine Gedanken von einem Bild von MOKKEI eingenommen, das ich im vergangenen Monat auf einer Ausstellung im Daitoku-Ji gesehen hatte. Jener Kranich verfolgt mich geradezu, das Geheimnis allen Daseins liegt in seinen Augen. Er ist selbst-erschaffend, aus der Form- losigkeit dringt er zur Form durch. Ich muß den Vorgang umkehren, wieder in Formlosigkeit, Nicht-Zeit untertauchen. Ich muß sterben, um wiedergeboren zu werden ... Ja, das ist die innere Bedeutung von Mu!... Bang, Bang! ... Die Dokusan-Glocke ... HARADA Rôshi hörte mich ungeduldig an, brüllte dann: «Denken Sie doch nicht an Mokkeis Kranich, denken Sie doch nicht an Form oder Formlosigkeit oder sonst irgend etwas. Denken Sie einzig an Mu, denn dafür sind Sie hier!»

3. Dezember 1953 Schmerzen in den Beinen unerträglich ... Warum gebe ich nicht auf? Es ist närrisch, zu versuchen, mit diesen grauenhaften Schmerzen zu sitzen, diese sinnlosen Schläge des Kyosaku hinzunehmen und noch dazu das wahnsinnige Geschrei des godô; das ist schlicht und einfach Masochismus... Warum bin ich nur vom Ryutaku-Ji weggegangen, warum habe ich überhaupt die Vereinigten Staaten verlassen? ... Aber ich kann jetzt nicht aufgeben - was sollte ich tun? Ich muß Satori erlangen, ich muß ...

30. Ein bedeutender chinesischer Zen-Mönch und Maler namens Mu CH'I, der im 10. Jh. lebte. Die meisten seiner Bilder stehen unter Denkmalsschutz.

301 Was, zum Teufel, ist Mu, was kann es nur sein? ... Natürlich, es ist absolutes Gebet, das Selbst zu sich selbst betend... Wie oft hatte ich mir als Student gewünscht zu beten, aber es schien mir immer zweck- los und sogar töricht, Gott um Stärke zu bitten, um mit eben jenen mißlichen Lagen fertigzuwerden, denen er in seiner Allwissenheit und Allmacht gestattet hatte zu entstehen ... Tränen stiegen mir auf; wie segensreich ist Gebet um seiner selbst willen! ... Was bedeuten diese Tränen? Sie sind ein Zeichen meiner Hilflosigkeit, ein stillschweigendes Eingeständnis, daß mein Verstand, mein Ich die Grenzen ihrer Macht erreicht haben ... Ja, Tränen sind die Wohltat der Natur, ihr Versuch, den Schmutz des Ich abzuwa- schen und die harten Umrisse unserer Persönlichkeit weicher zu machen, einer Persönlichkeit, die dürr und angespannt wurde, indem sie sich egozentrisch auf die Unbesiegbarkeit der Vernunft verlassen hat... Was für wunderbare Einsichten! Ich habe solch gutes Gefühl dabei! Ich weiß, ich habe Fortschritte gemacht. Ich wäre nicht erstaunt, wenn Satori mich noch heute nacht treffen würde! Krach! Krach! «Hören Sie auf zu träumen! Nur Mu!» brüllt der godô und schlägt mich ... Dokusan! ... «Nein, nein, nein! Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, daß Sie sich einzig auf Mu konzentrieren sollen? Verbannen Sie diese Gedanken! Satori ist nicht Sache des Fortschritts oder Rückschritts; habe ich Ihnen denn nicht gesagt: Es ist ein Sprung! ... Sie müssen das und nur das tun: Verlagern Sie Ihr Bewußtsein auf den Grund Ihres Bauches, und atmen Sie Mu ein und aus. Verstanden?» ... Warum ist er nur mit einem Mal so grob? ... Sogar die Falken auf dem Wandschirm hinter ihm haben angefangen, mich finster anzu- stieren.

4. Dezember Mein Gott, mein Buddha, ein Stuhl steht auf meinem Platz! Ich bin so dankbar! ... Der Rôshi kam und flüsterte mir zu: «HARADA Rôshi hat dem Mönchs-Ältesten befohlen, Ihnen einen Stuhl hinzustellen, da er meinte, daß Sie niemals Satori erreichen würden, wenn Sie mit

302 gebeugtem Rücken dasitzen und dauernd Ihre Stellung verändern. Jetzt haben Sie keine Hindernisse mehr, also konzentrieren Sie sich von ganzem Herzen und mit ganzer Seele auf Mu.» ... Konzentra- tion festigte sich schnell, die Gedanken verschwanden plötzlich. Welch wunderbares Gefühl, diese heitere Leere ... Plötzlich strömt Sonnenschein durch das Fenster vor mir herein! Der Regen hat aufgehört! Es ist wärmer geworden! Endlich sind die Göt- ter mit mir! Jetzt kann ich Satori nicht verfehlen! ... Mu, Mu, Mu! ... Wieder lehnte sich der Rôshi zu mir herüber, aber nur, um zu flüstern: «Sie keuchen und stören die anderen; versuchen Sie, ge- räuschlos zu atmen.» ... Aber ich kann nicht aufhören. Mein Herz klopft wild, ich zittere von Kopf bis Fuß, unaufhaltsam strömen mir die Tränen. Der godô schlägt mich, aber ich spüre es kaum. Er schlägt meinen Nachbarn, und plötzlich denke ich: «Warum ist er so gemein, er tut ihm weh.» .. . Mehr Tränen .. . Der godô kommt zurück und schlägt mich wieder und brüllt dabei: «Entschlagen Sie sich aller Gedanken; werden Sie wieder wie ein kleines Kind. Einfach Mu, Mu! direkt von den Eingeweiden her!» - - - Krach, krach, krach! Urplötzlich verliere ich die Gewalt über meinen Körper und, noch bei Bewußtsein, sinke ich in mich zusammen. Der Rôshi und der godô heben mich auf, tragen mich auf mein Zimmer und legen mich hin. Ich keuche und zittere noch immer. Der Rôshi blickt mir besorgt ins Gesicht: «In Ordnung? Wünschen Sie einen Arzt?» ... «Nein, ich glaube, es geht schon.» ... «Ist Ihnen das früher schon mal passiert?» . .. «Nein, nie.» ... «Ich gratuliere Ihnen!» ... «Warum, habe ich Satori erlangt?» ... «Nein, aber ich gratuliere Ihnen gleichwohl.» Der Rôshi bringt mir einen Krug Tee; ich trinke fünf Tassen. Kaum hat er mich verlassen, spüre ich, wie mit einem Mal meine Arme und Beine und mein Rücken von einer unsichtbaren Kraft gepackt und in einen riesigen Schraubstock eingespannt werden, der mich allmählich zerdrückt ... Elektrischen Schlägen gleich durch- zucken mich Schmerzkrämpfe, und ich winde mich vor Qual. Es kommt mir vor, als sei ich erschaffen worden, um für meine und der ganzen Menschheit Sünden zu büßen. Bin ich am Sterben oder werde ich erleuchtet? ... Schweiß rinnt mir aus jeder Pore, und ich muß

303 zweimal mein Unterzeug wechseln. Schließlich falle ich in tiefen Schlaf. Als ich erwachte, fand ich eine Schale Reis, Suppe und Bohnen neben meiner Schlafmatte. Aß heißhungrig, zog mich an, ging ins Zendô. Nie im Leben habe ich mich so leicht, aufgeschlossen und durch- scheinend gefühlt, so durch und durch gereinigt und ausgespült. Beim Kinhin ging ich nicht, sondern hüpfte wie ein Korken auf dem Was- ser. Konnte nicht widerstehen, hinauszublicken auf die Bäume und Blumen, lebensvoll, blendend, bebend vor Leben! ... Das Sausen des Windes in den Bäumen ist lieblichste Musik! Wie köstlich der Rauch des Räucherwerks duftet! Später beim Dokusan sagte HARADA Rôshi: «Sie bekamen Krämpfe, weil Sie anfangen, Ihre Verblendung abzuschütteln; das ist ein gutes Zeichen. Aber halten Sie nicht inne, um sich zu beglückwünschen. Konzentrieren Sie sich noch energischer auf Mu.»

5. Dezember 1953 Bin noch immer glühend erregt ... Satori muß mich jeden Augen- blick treffen, ich weiß es, ich spüre es im Gebein ... Meine Zen- Freunde in den Vereinigten Staaten werden schön neidisch sein, wenn ich ihnen schreibe, ich habe Satori! ... Denk doch nicht an Satori, du Narr, denk nur an Mu! ... Ja, Mu, Mu, Mu! ... Verdammt, ich habe es verloren! Meine Erregung über Satori hat Hunderte von Gedanken ausgelöst - die mich niedergeschlagen zurücklassen ... Es hat alles keinen Zweck, Satori ist zu hoch für mich ...

6. Dezember 1953 Heute früh körperlich müde, aber scharfen und klaren Sinnes ... Mu-te die ganze Nacht im Klostergarten ohne Schlaf ... elend kalt ... Blieb nur deshalb auf, weil HARADA Rôshi mich gescholten hatte: «Sie werden niemals Satori erreichen, wenn Sie nicht die Kraft und Entschlossenheit aufbringen, die ganze Nacht hindurch Zazen zu üben. Einige der Übenden sind jede einzelne Nacht für Zazen aufge- blieben.» ... Um Mitternacht herum warf ich mich vor der Buddha-Statue in der

304 Haupthalle nieder und betete verzweifelt: «O Gott, o Buddha, bitte gewähre mir Satori, und ich werde demütig sein und mich sogar wil- lig vor Dir verneigen ...» Aber nichts geschah, kein Satori ... Jetzt sehe ich, der alte Fuchs hat mich zum Besten gehabt, wollte wahr- scheinlich versuchen, mich von meiner Verhaftung ans Schlafen los- zulösen ... Gebrüll und Hiebe des godô und seiner Helfer werden grimmiger und grimmiger, Getöse und Tumult der letzten drei Nächte ganz unglaublich. Mit Ausnahme einer Handvoll schrien in der letzten halben Stunde die über fünfzig Sitzenden ununterbrochen: «Mu!», während die Mönchs-Ältesten sie prügelten, wobei sie brüllten: «Laßt Mu aus der Tiefe des Bauches ertönen, nicht von den Lungenspitzen her!» ... Und später dann das gellende «Mu-en» die ganze Nacht lang auf dem Friedhof und den Hügeln, wie Vieh, das zur Schlacht- bank getrieben wird ... Ich wette, es hielt die ganze Gegend wach .. . Dieses Prügeln belebt mich nicht im geringsten. Der godô muß mich letzte Nacht fünfzehn Minuten ununterbrochen geschlagen haben, aber das bewirkte nur einen wunden Rücken und bittere Gedanken. Warum habe ich nicht seinen Stock ergriffen und ihm eine Dosis seiner eigenen Medizin verabreicht? Möchte wohl wissen, was gesche- hen wäre, wenn ich das getan hätte ... Beim Dokusan sagte ich zu HARADA Rôshi: «Das Dumme ist, daß ich mich nicht vergessen kann. Ich bin mir meiner selbst immer als Subjekt bewußt, das sich dem Objekt Mu gegenüber sieht ... Ich richte meinen Sinn ganz auf Mu, und wenn ich daran festhalten kann, denke ich: ,Gut, jetzt hast du es, laß es nicht wieder los.' Dann sage ich mir: ,Nein, du sollst nicht «gut» denken, du sollst nur Mu denken!' So presse ich die Hände zusammen, strenge mich mit jedem Nerv und jedem Muskel an, und schließlich schnappt etwas ein, und ich weiß, daß ich eine tiefere Bewußtseinsebene erreicht habe, weil ich mir nicht länger mehr eines Innen und Außen, eines Vorn und Hinten bewußt bin. Gehobener Stimmung denke ich: Jetzt bin ich dicht bei Satori - alle Gedanken sind verschwunden, Satori wird mich jeden Augenblick treffen.' Aber dann wird mir klar, daß ich nicht dicht vor Satori sein kann, solange ich noch an Satori denke ...

305 Und entmutigt lockert sich mein Halt an Mu, und Mu ist wieder weg ... Dann habe ich noch folgendes Problem: Sie haben mir gesagt, ich solle mein Bewußtsein von allen vorgefaßten Meinungen so los und ledig machen wie das eines kleinen Kindes, ganz ohne Eigenwillen und Ich. Wie aber kann ich frei vom Ich sein, wenn der godô mich ungestüm schlägt und mich drängt, mehr und mehr zu ringen und mich um Mu zu mühen? Ist solch absichtliches Ringen meinerseits denn nicht ein Ausdruck des Ich? Anstatt das Ich zu bannen, scheine ich es noch aufzupäppeln.» ... «Der Geist des Ich und der Geist Ursprünglicher-Reinheit sind zwei Seiten der gleichen Wirklichkeit... Denken Sie nicht ,Das ist Ich', ,Das ist nicht Ich'. Konzentrieren Sie sich einfach auf Mu, das ist der Weg, um den Geist Ursprünglicher-Reinheit zu verwirklichen ... Es ist wie bei einem Mann, der am Verhungern ist: Er denkt nicht ,Ich bin hungrig, ich muß etwas zu essen finden'. Er ist so völlig von seinem Hunger absorbiert, daß er, ohne nachzugrübeln, etwas zu essen findet ... Wenn Sie im Bewußtsein Ihrer selbst denken: ,Ich will Satori, ich muß Satori haben', werden Sie es nie bekommen. Wenn Sie sich aber aus tiefstem Herzensgrunde nach Selbst-Wesens- schau sehnen, so wird Satori kommen, sofern Sie sich völlig in Mu versenken und dabei Ihr Bewußtsein und Ihre Kraft im Hara kon- zentrieren ... Mu muß Sie innerlich völlig in Beschlag nehmen und in Ihrem Hara widerhallen ... Versuchen Sie nicht, Satori vorauszu- ahnen; es kommt unerwartet. Wenn Ihr Bewußtsein von allen Gedan- ken und Bildern entleert ist, kann alles und jedes es erleuchten: die menschliche Stimme, der Ruf eines Vogels... Aber Sie müssen stärke- ren Glauben haben. Sie müssen daran glauben, daß Sie die Fähigkeit besitzen, Ihr Wahres-Wesen zu verwirklichen, und Sie müssen daran glauben, daß das, was ich Ihnen sage, wahr ist und Sie zu dem hin- führt, was Sie suchen.» ... Dokusan mit dem Alten Löwen gibt einem immer einen Auftrieb . .. Also wieder einmal in Mu hineingejagt, waren meine Kräfte doch bald erschöpft, und ich wurde nicht von Satori getroffen, sondern von einem Sperrfeuer von Gedanken. Ich bin lahmgelegt ... Wenn ich

306 mich sehr anstrenge, werde ich bald müde, und Körper und Geist erschlaffen. Wenn ich aber nicht tief schürfe, schlägt mich der godô, oder er reißt mich auch vom Sitz hoch und schiebt und stößt mich zum Dokusan. Wenn ich vor HARADA Rôshi erscheine, fragt er: «Warum kommen Sie, wenn Sie mir Mu nicht zeigen können?» Oder er fährt mich meiner Lauheit wegen an ... Wollen sie mir die Gedan- ken aus dem Sinn treiben oder mich von Sinnen machen? Sie ver- suchen absichtlich, eine künstliche Neurose herbeizuführen ... Warum gebe ich nur nicht auf? Krach, beng! ... Das ganze Zendô erzittert; was ist nur geschehen? Sah mich um, was ich nicht hätte tun sollen ... der Alte Löwe hatte gerade den längsten Kyosaku des Zendô auf dem Rücken des Monju- Schreins zerbrochen ... «Ihr seid alle faul!» gellt er. «Ihr habt das kostbarste Erlebnis der Welt in Reichweite, aber ihr sitzt da und träumt. Wacht auf und werft euer Leben in diesen Kampf, sonst wird euch Satori für immer entgehen!» ... Welch eine Geistesstärke, welche Kraft in diesem zarten, 1,60 m großen, 84jährigen Körper!

7. Dezember 1953 Zu erschöpft, um mit den anderen die letzte Nacht hindurch zu sitzen. Hätte das aber gerade so gut tun können; ihr heiseres «Mu-en» die Nacht über hielt mich sowieso wach ... Der Rôshi sagt, dieser letzte Tag sei entscheidend, also nicht schwach werden ... Aber meine «Friß-oder-stirb»-Gesinnung ist weg, das Rennen ist vorüber, und ich bin nur ein «Ferner liefen» ... Verärgert und neidisch beobachtete ich, wie die drei «Sieger» im Zendô im Kreis herumgingen, sich vor HARADA Rôshi, dem assistierenden Rôshi und den Mönchs-Ältesten verneigten, um ihnen ihre Verehrung und Dankbarkeit zu erweisen. Einer der Glücklichen hat neben mir gesessen. Er wurde immer wieder geschlagen und hatte gestern den ganzen Tag lang und auch heute geheult ... Offenbar hat er aus schierer Freude geweint, während ich die ganze Zeit über dachte, er hätte Schmerzen.

307 8. Dezember 1953 Trank zusammen mit NAKAGAWA Rôshi nach dem Sesshin Tee bei HARADA Rôshi ... Sein abschreckendes Sesshin-Gebaren ist ver- schwunden; er ist sanft und strahlend wie die Sonne. Nach angeneh- mer Unterhaltung lud er uns ein, den Nachmittag über zu den feier- lichen Zeremonien zum Gedächtnis von Buddhas Erleuchtung dazu- bleiben. Beobachtete völlig fasziniert, wie HARADA Rôshi, der assistierende Rôshi und zehn Mönchs-Älteste, alle in ihre zeremoniellen Gewänder gekleidet, sich wieder und wieder vor dem Buddha niederwarfen, Sûtras rezitierten, ihre Sûtra-Bücher in die Luft warfen, Trommeln schlugen, Glocken läuteten, Gongs anschlugen und die Haupthalle umschritten in einer ganzen Folge von Ritualen und Zeremonien, um SHAKYAMUNI Buddha zu ehren und das unsterbliche Erlebnis seiner Erleuchtung zu feiern. Diese Zeremonien glühen von der Lebendigen- Wahrheit, die alle diese Mönche offensichtlich bis zu einem gewissen Grad erlebt haben ... Ja, durch diese Rituale festigen sie aufs neue das Band mit ihrer großen buddhistischen Tradition, bereichern sie und lassen sich von ihr bereichern, auf daß sie deren Kette weiter in die Zukunft hinein fortsetzen können. Wenn ich diese Tradition glei- chermaßen in mich aufnehme, kann ich mein eigenes Verbindungs- glied mit dem Buddhismus und seinen ungeheuren Kraftquellen zur Erleuchtung des menschlichen Geistes schmieden. ... Jetzt weiß ich, warum mich die Messen in Kirchen und Synagogen der Vereinigten Staaten so schnell ermüdeten. Die Priester, Rabbis und Geistlichen hatten offenbar keine persönliche Erfahrung Gottes, eines Gottes, über den sie so zungenfertig predigten. Deshalb waren ihre Predigten und Zeremonien so schal und leblos.

Kyoto, 9. Januar 1954 Wieder in Kyoto, müde, halb erfroren und wund, aber innerlich vol- ler Leben ...

Mishima, 20. Januar 1954 Wie gut, zum Ryutaku-Ji zurückzukehren ... In Kyoto redeten P.

308 und ich nur über Zen, sowohl miteinander als auch mit den Professo- ren; hier aber übe ich es ... Wenn es auch schmerzhaft ist, so ist das Üben doch verjüngend. Mein Geist ist ein Morast stagnierender Mei- nungen, Theorien, Eindrücke, Vorstellungen. Ich habe zu viel gelesen und gedacht, gefühllos erlebt. Ich muß meinem abgematteten Emp- findungsvermögen die Frische zurückgewinnen, mich selbst ehrlich und nackt sehen. Und das kann ich am besten durch Zazen in einem Kloster.

Obama, 8. April 1954 Mein zweites Sesshin im Hosshin-Ji ist vorüber ... HARADA Rôshi sagte, er würde mich als Schüler annehmen, wenn ich als Laien- Mönch in seinem Kloster bleiben wollte. «Wenn Sie das Klosterleben auf sich nehmen können und Erleuchtung gewinnen, so werden Sie Ihres Lebens Meister sein anstatt sein Sklave.» Nach Beratung mit NAKAGAWA Rôshi entschloß ich mich, auf unbegrenzte Zeit zu bleiben ...

1. Oktober 1956 In zwei Monaten sind genau drei Jahre vergangen, seit ich zum ersten Mal zum Hosshin-Ji kam ... So viel Wasser ist inzwischen unter der Steinbrücke dahingeflossen - oder sollte ich sagen: So viele Stein- brücken sind über dem unbeweglichen Wasser dahingeflossen? ... Habe mich mit den Mönchen in der Sommerhitze abgeplackt und mit ihnen beim Takuhatsu im Schnee gefroren, Bäume gefällt, Reis gepflanzt, Gärten gepflegt, Aborte gesäubert und mit ihnen in der Küche gearbeitet. Ich habe an ihren heroischen, hingebungsvollen Augenblicken teilgenommen und mich an ihren kleinlichen Ränken beteiligt... Sitzen, sitzen, sitzen - ein qualvolles Sesshin nach dem anderen und weiteres Zazen Morgen für Morgen, Abend für Abend und vom Abend bis zum Morgen ... Blendende Einsichten und bezaubernde Gesichte sind in meinem Innern vorübergezogen, aber Erleuchtung, Satori, entzieht sich mir noch immer ... TANGEN San, mein weiser Mönchs-Führer-Dolmetscher-Freund, versicherte mir feierlich, daß es

309 reicheren Lohn an Heiterkeit, Klarheit und Reinheit bringt, wenn man einfach nur täglich von ganzem Herzen Zazen sitzt, als es durch ein schnell erlangtes Satori geschieht, das nicht durch weiteres Zazen gepflegt wird ... Ist das ein Trostpreis oder ein weiteres Zen-Para- doxon, das der persönlichen Erfahrung und Erleuchtung bedarf, um verstanden zu werden? ... Er besteht darauf, daß ich an Seelenstärke und Reinheit gewonnen hätte, aber ich sehe wenig Anzeichen dafür... Alle meine Allergien sind verschwunden, ich habe nur noch gelegent- lich mal Magenschmerzen, ich schlafe gut. Die dunklen Ängste, die mich früher jagten, Träume und Hoffnungen, die ich hegte, all das ist dahingewelkt und hat mich leichter und mit klarerem Sinn für das Wirkliche zurückgelassen. Aber ich bin noch immer der hungrige Hund neben dem Kessel mit kochendem Fett, das Satori ist: Ich kann es nicht kosten, und ich kann nicht davon lassen.

15. November 1956 Lohnt es sich, einen weiteren Winter lang sich mit der Kälte und der spärlichen Kost hier abzuquälen und zu warten, zu warten, zu war- ten? ... Einige meiner Freunde, die ernsthaften, älteren Mönche, wer- den bald weggehen, um eigene Tempel zu übernehmen. Ich muß einen Meister finden, mit dem ich außerhalb der gespannten Klosteratmo- sphäre in Verbindung stehen kann. Die gleiche Intuition, die mir einst riet, im Hosshin-Ji zu bleiben, mahnt mich jetzt, daß es Zeit ist, wegzugehen.

23. November 1956 Verließ heute Hosshin-Ji und nahm genügend Geschenke und Rat- schläge mit, um lange damit auszukommen ... Der herzerwärmende Abschied hat verscheucht, was immer an Frösteln von den eisigen Obama-Wintern zurückgeblieben war.

Kamakura, 25. November 1956 NAKAGAWA Rôshi hat mich zu YASUTANI Rôshi gebracht... «Er wird Ihnen ein guter Lehrer sein; er lehrt nach Art von HARADA Rôshi.

310 Seine Schüler sind hauptsächlich Laien. Sie brauchen nicht in einem Kloster zu wohnen, sondern können in Kamakura leben und seine Sesshin im Gebiet von Tokyo besuchen.»

3. Dezember 1956 Beteiligte mich am ersten Sesshin in YASUTANI Rôshis Bergtempel... Ein idealer Platz für Zazen; der Tempel nistet hoch in den Hügeln, fern dem Lärm der Stadt. Kärgliche acht Teilnehmer - wahrschein- lich weil das Sesshin nur drei Tage dauert und schwer herzukommen ist ... Die Atmosphäre ist wirklich anheimelnd. Der Rôshi ißt nach Familienart mit uns zusammen. Und was für ein reizender Wechsel: «der» godô ist eine achtundsechzigjährige Großmutter, «der» Koch und Vorsänger beim Rezitieren eine fünfundsechzigjährige Nonne. Gemeinsam bewältigen sie das ganze Sesshin! Jede der beiden sitzt wie ein Buddha und handelt auch wie ein solcher: sanft, mitfühlend, durch und durch wach ... Welch ungeheure Erleichterung, nicht mehr von einem Kyosaku bar- barisch angetrieben oder beim Dokusan buchstäblich vom Rôshi ver- prügelt zu werden ... Die körperliche Arbeit nach dem Frühstück wirkt anregend und das nachmittägliche Bad außerordentlich wohl- tuend. Fühle mich bei YASUTANI Rôshi ganz zu Hause. Sein Gebaren ist sanft, doch eindringlich; er lacht leicht und oft. Beim Dokusan sagte er zu mir: «Um Erleuchtung zu finden, müssen Sie einen tiefen Glauben haben. Sie müssen aus tiefstem Herzen an das glauben, was der Buddha und die Patriarchen auf Grund ihrer eigenen unmittelbaren Erfahrung für wahr erklärt haben, nämlich, daß alles, wir selbst eingeschlossen, im Grunde Buddha-Wesen ist; daß wie bei einem Kreis, dem man nichts hinzufügen und nichts weg- nehmen kann, diesem Selbst-Wesen nichts mangelt, daß es vollkom- men und ganz ist ... Wenn wir nun dieses Buddha-Wesen haben, warum sind wir uns dann dessen nicht bewußt? Warum gibt es so viel Unwissenheit und Leiden in der Welt, wenn doch alles der Essenz nach die Weisheit und Reinheit selber ist? ... Das ist die «Zweifel- Masse», die zersprengt werden muß ... Nur wenn Sie zutiefst daran glauben, daß der Buddha weder ein Tor noch ein Lügner war, als er

311 uns versicherte, daß wir alle von immanenter Ganzheit und Selbst- Genügsamkeit sind, können Sie unermüdlich Herz und Geist erfor- schen, um dieses Paradoxon zu lösen.» ... «Folgendes beunruhigt mich unaufhörlich: Warum habe ich nach drei Jahren, in denen ich mir vor Anstrengung schier das Genick gebro- chen habe, nicht Satori erreicht, wenn andere, die sich weder so schwer, noch so lange abgemüht haben, es gefunden haben? Ich kenne einige, die bei ihrem ersten Sesshin zu Kenshô kamen mit wenig oder gar keinem Zazen zuvor.» «Es gibt ein paar seltene Seelen, die so rein sind, daß sie ohne Zazen echte Erleuchtung finden können. Der Sechste Patriarch ENÔ war solch ein Mensch: Er fand Erleuchtung, als er zum ersten Mal das Rezitieren des Diamant-Sûtras hörte. Und HARADA Rôshi berichtet den Fall einer jungen Schülerin, die bei seinen einführenden Unter- weisungen in eben dem Augenblick zu Kenshô kam, als er einen Kreis zeichnete und erklärte, daß der Kosmos unteilbar Eins sei ... Aber die meisten müssen unermüdlich Zazen üben, um Erleuchtung zu gewinnen ... Machen Sie sich also keine Sorge wegen Satori, denn solche Sorge kann zu einem echten Hindernis werden. Wenn Sie in die Welt der Erleuchtung eintreten, nehmen Sie sozusagen das Ergebnis all Ihrer Anstrengungen mit sich, und das bestimmt den Wert des Satori. Ihr Satori wird also ein umfassenderes und tieferes sein auf Grund des Zazen, das Sie geübt haben. In den meisten Fällen ist ein schnell erlangtes Kenshô seicht. Üben Sie Zazen voller Eifer, und Satori wird für sich selber sorgen.» Ein andermal unterwies er mich: «Der Zen-Buddhismus beruht auf den höchsten Lehren des Buddha SHAKYAMUNI. In Indien, dem Geburtsland des Buddha, hat er praktisch aufgehört zu existieren, und soweit uns bekannt ist, ist er in China, wohin er durch BODHI- DHARMA von Indien aus gebracht worden war, im Grunde erlo- schen ... Nur in Japan ist er noch lebendig, obgleich er auch hier in langsamem Niedergang ist. Heute gibt es in ganz Japan wahrschein- lich kaum mehr als zehn echte Meister. Diese einzigartige Lehrweise darf nicht verloren gehen; sie muß dem Westen übermittelt werden.

312 Große Geister in den Vereinigten Staaten und Europa haben Inter- esse am Buddhismus gewonnen, weil er nicht allein das Herz an- spricht, sondern auch den Verstand. Buddhismus ist eine ausgespro- chen rationale Religion ... Sie wissen aus eigener Erfahrung, daß Zen nicht leicht ist; aber der Lohn steht im Verhältnis zu den Schwierigkeiten. Denken Sie daran, daß BODHIDHARMA Ungemach über Ungemach zu erleiden hatte, und daß sowohl EISAI wie DÔGEN, die Zen von China nach Japan brach- ten, zahllose Hindernisse überwinden mußten. Alles Wertvolle hat einen hohen Preis... Es ist Ihre Bestimmung, dem Westen Zen zu bringen... Verzagen Sie nicht, und geben Sie trotz aller Schmerzen und Mühsal nicht auf.»

27. Juli 1958 Der 1. August wird mein entscheidender Tag, der Beginn eines ein- wöchigen Sommer-Sesshins, meines zwanzigsten mit YASUTANI Rôshi. ... Saß diesen Monat zwei Sesshin, eines in YASUTANI Rôshis Tempel und eines im Ryutaku-Ji und außerdem Tag und Nacht Zazen in meinem Zimmer, alles in Vorbereitung auf den Großen Vorstoß ... Bin geistig von seltener Klarheit und Schärfe. Ich muß und ich werde durchbrechen ... Zum ersten Mal bin ich wahrhaft überzeugt, daß ich es kann.

Tokyo, 1.August 1958 ... Das Sesshin ist im Gange! ... Meine Konzentration spitzte sich schnell kräftig zu... Bohrte mich in Mu ein, denke nur Mu, atme Mu ...

3. August 1958 Die ersten beiden Tage vergingen schnell, ereignislos ...

4. August 1958 Geriet heute in Weißglut... Die Mahner schlugen mich wieder und wieder... Ihr energisches Stockschwingen ist nicht länger eine Plage, sondern ein Ansporn. Bei jedem ersten Anschlagen der Doku-

313 san-Glocke raste ich zu der Warteschlange, um als Erster beim Rôshi zu sein... Bemerke die Schmerzen in den Beinen kaum. War so begierig, ihm gegenüber zu treten, daß ich ein-, zweimal in seinen Dokusan-Raum stürzte, ohne auf sein Glockenzeichen zu warten ... Als er verlangte, ich solle ihm Mu zeigen, ergriff ich spontan seinen Fächer, fächelte mich, nahm seine Handglocke, läutete und ging dann hinaus... Beim nächsten Dokusan fragte er mich wiederum nach Mu. Ich hob schnell die Hand auf, als ob ich ihn schlagen wollte. Ich beabsich- tigte nicht, ihn wirklich zu treffen, aber der Rôshi duckte sich, um es nicht darauf ankommen zu lassen... Wie belebend diese unvorbe- dachten Bewegungen - sauber und frei... Lebhaft ermahnte mich der Rôshi: «Sie sehen sich jetzt der letzten und stärksten Schranke zwischen sich und der Selbst-Wesensschau gegenüber. Zu diesem Zeitpunkt hat man nach den Worten eines Mei- sters alter Zeit das Gefühl, als sei man eine Mücke, die eine Eisen- kugel angreift. Aber Sie müssen bohren, bohren, unermüdlich boh- ren ... Mag kommen, was da will, lassen Sie Mu nicht los... Üben Sie die ganze Nacht hindurch Zazen, wenn Sie das Gefühl haben, daß Sie Mu im Schlaf verlieren könnten.» ... «Mu-te» still im Tempelgarten, bis die Uhr eins schlug... Erhob mich, um meine steifen, schmerzenden Beine zu bewegen und tau- melte in einen Zaun nahebei. Plötzlich erkannte ich: Der Zaun und ich sind ein formloses Holz-und-Fleisch-Mu. Natürlich! ... Spornte mich in hohem Maße an... Strengte mich weiter an bis zum Gong um 4 Uhr früh.

5. August 1958 Hatte nicht die Absicht, dem Rôshi von meinem Einblick zu erzählen. Aber sobald ich vor ihm erschien, verlangte er zu wissen: «Was ist heute nacht geschehen?» ... Während ich sprach, schoß er scharfe Blicke auf mich ab, durchleuchtete jeden Zoll an mir; dann begann er langsam, mich prüfend zu fragen: «Wo sehen Sie Mu? ... Wie sehen Sie Mu? ... Wann sehen Sie Mu?... Wie alt ist Mu?... Wieviel wiegt Mu?» ...

314 Einige meiner Antworten kamen schnell, andere zögernd... Ein-, zweimal lächelte der Rôshi, meist aber hörte er in heiterem Schwei- gen zu... Dann sprach er: «Es gibt manchen Rôshi, der solch einen Zungenspitzen-Vorgeschmack als Kenshô bestätigen würde, aber -» «Ich würde die Bestätigung eines derart armseligen Erlebnisses gar nicht annehmen, selbst wenn Sie sie gewähren wollten. Habe ich all diese fünf Jahre gleich einem Berg in den Wehen gelegen, nur um diese Maus hervorzubringen? Ich will weitermachen!» ... «Gut! Ich achte Ihre Gesinnung.» Warf mich neun weitere Stunden auf Mu, so völlig versunken, daß ich vollkommen verschwand... Nicht ich frühstückte, sondern Mu. Nicht ich fegte und wischte die Fußböden nach dem Frühstück, son- dern Mu. Nicht ich aß zu Mittag, sondern Mu aß... Ein-, zweimal wollten Gedanken an Satori ihre Köpfe erheben, aber Mu schlug sie umgehend ab. Wieder und wieder schlugen mich die Mahner und riefen: «Sie siegen, wenn Sie Mu nicht loslassen!» Dokusan am Nachmittag!... Einem Falken gleich prüfte mich der Rôshi mit den Blicken, als ich seinen Raum betrat, zu ihm ging, mich niederwarf, mich vor ihn hinsetzte, wachsamen gehobenen Geistes... «Das Weltall ist Eins», begann er, und jedes Wort bohrte sich gleich einem Geschoß in meinen Geist ein. «Der Mond der Wahrheit -» Urplötzlich verschwanden der Rôshi, der Raum, jedes einzelne Ding in einem blendenden Strom von Licht, und ich hatte das Gefühl, in unaussprechlich köstlichem Entzücken gebadet zu werden... Für eine flüchtige Ewigkeit war ich allein - ich allein war... Dann schwamm der Rôshi in meinen Blick. Unsere Augen trafen sich, und wir brachen in Lachen aus... «Ich habe es! Ich weiß es! Da ist nichts, absolut nichts. Ich bin alles, und alles ist nichts!» rief ich aus, mehr zu mir selbst als zum Rôshi sprechend, stand auf und ging hinaus. . . Beim Abend-Dokusan legte mir der Rôshi wieder einige der früheren Fragen vor und fügte ein paar neue hinzu: «Wo sind Sie geboren?» . . . «Wenn Sie eben jetzt sterben müßten, was würden Sie tun?» .. . Diesmal war er mit meinen Antworten offensichtlich zufrieden, denn

315 er lächelte häufig. Aber mich kümmerte das nicht, denn jetzt wußte ich... «Obgleich Ihre Wesensschau klar ist, können Sie sie doch unendlich ausweiten und vertiefen», erklärte mir der Rôshi... «Es gibt Grad- unterschiede bei Kenshô... Stellen Sie sich einmal zwei Leute vor, die eine Kuh anschauen; der eine steht in einiger Entfernung, der andere nahebei. Der Entferntere sagt: ,Ich erkenne, daß es eine Kuh ist, aber ich bin mir über die Farbe nicht sicher.' Der andere sagt: ,Ich erkenne, daß es eine braune Kuh ist...' Von nun an wird die Art, in der Sie an Kôans herangehen, anders sein», sagte der Rôshi, und er erklärte mir meine künftige Übungs- weise. Kehrte zur Haupthalle zurück ... Als ich auf meinen Platz schlüpfte, kam Großmutter YAMAGUCHI, unser zweiter godô, auf den Fuß- spitzen zu mir herüber und flüsterte mit leuchtenden Augen: «Wun- derbar, nicht wahr? Ich freue mich so für Sie!...» Ich nahm Zazen wieder auf, lachte, schluchzte und murmelte vor mich hin: «Es stand die ganze Zeit vor mir, aber ich brauchte fünf Jahre, um es zu sehen.» ... Eine Zeile, die TANGEN San einmal zitiert hatte, klang mir in den Ohren: «Selbst im trockensten Loch findet man manchmal Wasser.»

9. August 1958 Fühle mich frei wie ein Fisch, der in einem Meer von kühlem, klarem Wasser schwimmt, nachdem er in einem Kessel mit Klebstoff gesteckt hat... und bin so dankbar. Dankbar für alles, was mir widerfahren ist, dankbar all jenen, die mich ermutigten und mir Kraft gaben trotz meines unreifen Charakters und meiner eigensinnigen Natur. Aber am dankbarsten bin ich für meinen menschlichen Körper, für das Privileg, daß ich als Mensch diese Freude erleben darf, der keine andere gleicht.

316 3. Herr K. T., Japaner, Gartengestalter, Alter 32

Obgleich ich in eine Familie der Sôtô-Zen-Sekte hineingeboren wurde, begann ich doch mit regelrechtem Zazen erst, als ich schon achtund- zwanzig war. Was mich zu diesem Schritt veranlaßte, war die Furcht vor dem Tode, als ich anfing, Blut zu spucken, nachdem ich mir eine Tuberkulose zugezogen hatte, und ein Gefühl der Unsicherheit über das Leben selbst, das mich zu plagen begann. Ich lernte das Kloster- leben nicht kennen, besuchte aber mehrmals Sesshin, bis ich zur Selbst-Wesensschau kam und sie vom Meister bestätigt wurde. Wäh- rend jener Zeit übte ich jeden Sonntag Zazen mit einer Gruppe unter TAJI Rôshi und erhielt Dokusan bei ihm. Wie gut erinnere ich mich an mein erstes Sesshin! Es war in einem Tempel, Nippôn-Ji genannt, in Nokogiriyama im Bezirk Chiba, und der Meister war HARADA Rôshi. Ich erinnere mich, daß ich am ersten Tag sehr gespannt war. Am zweiten Tag konnte ich nicht mehr die Mahlzeiten essen. Ich hatte große Schmerzen in den Beinen, und ich konnte mir aus dem Teishô des Rôshi überhaupt keinen Vers machen. Manchmal langweilte ich mich ausgesprochen. Hinzu kam, daß die Sesshin-Ordnung streng und die ganze Atmosphäre kalt und bedrük- kend war. Allmählich wurde ich rebellisch. «Zazen muß eine Art Hypnose sein. Ich will doch mal herausfinden, ob die Methoden die- ser Religion wirklich zur Wahrheit führen», sagte ich mir und ließ die Idee, nach Hause zurückzukehren, fallen. Drei Tage lang mußte ich die allgemeinen Unterweisungen über Zazen anhören, da das für alle Anfänger Pflicht war. Danach erschien ich freiwillig zum Dokusan vor dem Meister. Als ich ihn anblickte, hatte ich das Gefühl, daß ich mich einer Eisenwand gegenüber befände. Aber mich faszinierte seine einzigartige Stimme, die sehr ähnlich klang wie die meines verstorbenen Großvaters. Mehrmals ging ich zum Dokusan, einfach nur, um diese Stimme zu hören und sein ungewöhnliches Gesicht zu sehen. Dabei spürte ich deutlich die Stärke seines Charakters und seiner Persönlichkeit, sein Vertrauen in seine eigenen Lehren, seine Würde, seine überwältigende Kraftfülle. Im Vergleich dazu kam ich mir unbedeutend und hohl vor. «Wenn

317 ich dadurch, daß ich mich betrügen lasse, diese Stufe der Entwicklung erreichen kann, soll mir der Betrug gleich sein», so folgerte ich und beschloß, gewissenhaft zu sitzen, wie er mich unterwies. Der vierte und fünfte Tag vergingen. Die Schmerzen in meinen Bei- nen hielten an, aber ich war geistig stabiler geworden, obgleich ich Visionen verschiedener Art erlebte. Allmählich begeisterte mich das Sitzen. Der sechste Tag kam. Im Vorraum, wo ich kniend darauf wartete, zum Dokusan an die Reihe zu kommen, hatte ich ein kleines freudiges Erlebnis. Gerade vor meinen Knien sah ich einen großen Pfosten und das Bein eines kleinen Tisches in Überschneidung. In jenem Augenblick hatte ich das Gefühl, daß der große Pfosten der Rôshi und das kleine Bein ich sei. Plötzlich kam mir folgende Ein- sicht: Der Pfosten nimmt als Pfosten den ganzen Himmel und die ganze Erde ein, und das Tischbein tut als Tischbein dasselbe. Der Rôshi als Rôshi und ich als ich erfüllen das gesamte Weltall. Gibt es irgendwo Leerheit? Und dabei lachte ich herzlich aus der Tiefe meines Bauches. Munter betrat ich den Dokusan-Raum des Rôshi und legte ihm mein Erlebnis vor. «Was ist der Wert von solch leerer Einsicht? Träumen Sie doch nicht!» sagte er barsch und entließ mich. Obgleich es eine Halluzination gewesen sein mag, hat mich doch die Freude jenes Augenblicks nie verlassen. Danach fürchtete ich mich nicht mehr vor dem Rôshi, wann immer ich vor ihm erschien. Nach diesem ersten Sesshin im Nippôn-Ji besuchte ich drei Jahre später ein Sesshin im Hosshin-Ji, aber es gelang mir nicht, Erleuch- tung zu erlangen. In einer Sommernacht des gleichen Jahres, da ich mich mit entschlossener Ausschließlichkeit meiner Übung am Kôan Mu widmete, erlebte ich einen Zustand, da es mir vorkam, als blickte ich auf einen weiten, völlig transparenten Himmel, und im nächsten Augenblick konnte ich mit klarer und scharfer Bewußtheit in die Welt von Mu eindringen. Sofort suchte ich TAJI Rôshi auf und bat ihn, mich im Dokusan zu empfangen. Er bestätigte meine Wesens- schau, nachdem ich unverzüglich geantwortet hatte auf: «Wie alt ist Kannon?» «Schneiden Sie das Wort Mu in drei Teile» und andere Prüfungsfragen. Daraufhin belehrte er mich folgendermaßen:

318 «Zwischen seichter und tiefer Wesensschau ist ein ungeheurer Unter- schied. Diese verschiedenen Stufen werden in den Zehn Ochsenbil- dern31 dargestellt. Die Tiefe Ihrer Erleuchtung ist nicht größer als jene, die im dritten Bild gezeigt wird, nämlich das «Erblicken» des Ochsen. Mit anderen Worten: Sie haben nur einen flüchtigen Blick auf den Bereich «jenseits der Erscheinung der Form» geworfen. Ihre Erleuchtung ist solcher Art, daß Sie sie leicht aus den Augen verlieren können, wenn Sie faul werden und weiteres Üben aufgeben. Zudem bleiben Sie Ihr gleiches altes Ich - nichts ist hinzugefügt worden, Sie sind nicht bedeutender geworden. Aber wenn Sie mit Zazen fortfah- ren, werden Sie den Punkt erreichen, da Sie den Ochsen packen, d. h. die vierte Stufe. Derzeit «besitzen 32» Sie sozusagen Ihre Wesensschau nicht. Auf die Stufe, da man den Ochsen packt, folgt die Stufe, da man ihn zähmt, und darauf die, da man ihn reitet, also in einem Zustand der Erkenntnis ist, bei dem Erleuchtung und Ich als ein und dasselbe gesehen werden. Die nächste, siebente Stufe ist die, da man den Ochsen vergißt, und auf der achten vergißt man sowohl den Ochsen als sich selbst. Stufe neun ist die der großen Erleuchtung, die ganz bis zum Grunde dringt und auf der man nicht länger mehr Erleuchtung von Nicht-Erleuchtung unterscheidet. Die zehnte und letzte Stufe ist jene, da man seine Schulung vollständig beendet hat und sich ganz als man selbst unter gewöhnlichen Menschen bewegt, ihnen hilft, wo immer möglich, frei von allem Verhaftetsein an Erleuchtung. Es ist das Ziel des Lebens, in diesem letzten Zustand zu leben, und um das zu bewältigen, mögen viele Daseins-Zyklen erfor- derlich sein. Sie haben den Fuß nun auf den Weg gesetzt, der zu diesem Ziele führt, und dafür sollten Sie dankbar sein.» Ehe ich Unterweisungen von meinem ersten Lehrer empfing, hatte ich auf eigene Faust Zazen geübt. Ich nahm das erste Kôan des Hekigan-roku und kontemplierte über die Frage des Kaisers: «Wel- ches ist die höchste Wahrheit der Heiligen Lehre?» und BODHIDHAR-

31. Siehe 8. Kapitel. 32. Diesen Zustand kann man mit dem eines frisch ausgeschlüpften Küken ver- gleichen, dessen Leben, obgleich ganz wirklich, doch noch zerbrechlich und gleich- sam «probeweise» ist.

319 MAS Antwort darauf: «Kakunen mushô», also: Grenzenlose Weite - nichts von heilig33. Aber ich konnte das nicht begreifen. Indessen erinnerte ich mich an ein japanisches Sprichwort: «Wenn man ein Buch hundertmal liest, muß man es schließlich verstehen», setzte mich zum Zazen hin, wobei ich mir im Geiste hingebungsvoll BODHIDHAR- MAS Antwort still hersagte: «Kakunen mushô.» Nachdem ich das zwei Tage so getrieben hatte, erlebte ich den gleichen Zustand, den ich oben erwähnt habe: das Erblicken eines weiten, klaren Himmels. Jetzt meine ich, daß mir das zum Zustandekommen meiner späteren Wesensschau geholfen hat. Folgende Einzelheit dürfte in diesem Zusammenhang noch der Erwähnung wert sein: In meiner Schulzeit trat ich als Fechter im japanischen Stil gegen fünf Studenten zu einem Wettkampf an. Die ersten drei waren verhältnismäßig schwach, und ich versuchte, sie dadurch zu schlagen, daß ich mir im voraus Techniken ausdachte; aber ich wurde von allen dreien besiegt. Als ich mich dem vierten Gegner gegenüber sah, wurde ich von dem Verantwortungsgefühl, daß ich das Ansehen meiner Schule zu wahren habe, und auch von Bitterkeit über mein dreimaliges Verlieren überwältigt. Ich war ver- zweifelt. Ohne zu überlegen, sprang ich instinktiv meinen Gegner an und kehrte auf meinen Platz zurück, ohne zu wissen, ob ich gewonnen oder verloren hatte. Später erzählte mir ein Freund, daß ich einen glänzenden Sieg errungen hatte. Meinen fünften Gegner, der bei wei- tem der stärkste war, schlug ich auf gleiche Weise. Bei diesen beiden Kämpfen erlebte ich Augenblicke, die ich den nack- ten Ausdruck der Erleuchtung nenne, da ich im Einklang mit meinem unmittelbaren Gefühl und tiefsten Sinn handelte, ohne an Sieg oder Niederlage, den Gegner und mich selbst zu denken, und gar ohne mir bewußt zu sein, daß ich an einem Kampf teilnahm. Sieht man sich einer Situation auf Tod und Leben gegenüber, so kann man augen-

33. Diese Frage wurde BODHIDHARMA vom Kaiser Wu VON LIANG (502-549), einem berühmten Schutzherrn des Buddhismus gestellt. Der Kaiser fragte weiter: «Wer ist das Uns gegenüber? Seid Ihr nicht ein heiliger Mann?» BODHIDHARMA erwiderte: «Ich weiß es nicht.» Ein wesentlicher Punkt des Kôan liegt darin, den Sinn dieses «Ich weiß es nicht» zu erfassen.

320 blicklich intuitiv handeln, frei von Täuschung oder unterscheidendem Denken, und dabei ist man doch nicht in Trance. Es geht darum, sich mit Hilfe der Zen-Methoden dazu zu erziehen, in jeder Lage kraft- voll-entschlossen handeln zu können. Wenn wir unaufmerksam leben, kann es uns leicht geschehen, daß wir zeitweise wieder in unterscheidendes Denken abgleiten. Das ist ein Geisteszustand, bei dem egozentrische Kräfte gefördert und menschli- che Leiden schlimmer werden. Wann immer ich merke, daß ich rück- fällig werde, rufe ich mir ins Gedächtnis, daß Himmel und Erde glei- chen Ursprung haben. Alles ist Eins. Die sichtbare Form der Dinge ist nicht verschieden von der Leere, die ihr eigentliches Wesen ausmacht. Da ich vor der Erleuchtung viele Bücher über Zen gelesen hatte, hatte ich die irrtümliche Vorstellung, daß ich, falls ich Erleuchtung fände, übernatürliche Kräfte erlangen oder mich zu einer hervorragenden Persönlichkeit entwickeln würde, oder daß ich ein großer Weiser würde, oder daß alles Leiden aufgehoben und die Welt zum Himmel würde. Ich sehe jetzt, daß diese meine falschen Vorstellungen den Meister behinderten, mich zu leiten. Vor der Erleuchtung machte ich mir viele Sorgen um mein körperli- ches Befinden, über den Tod, über den unbefriedigenden Zustand der Gesellschaft und viele andere Dinge. Nach der Erleuchtung aber regt mich das alles nicht mehr auf. Jetzt bin ich vollkommen eins mit allem, was ich tue. Ich nehme angenehme Dinge als durch und durch angenehm und widerwärtige als ganz und gar widerwärtig hin, und dann vergesse ich die Reaktionen «Annehmlichkeit» und «Widerwär- tigkeit» sofort. Ich spüre, daß der menschliche Geist sich durch Erleuchtung zur Unendlichkeit des Kosmos ausweiten kann. Wahre Größe hat nichts zu tun mit Reichtum, sozialer Stellung oder intellektuellen Fähigkei- ten, sondern einfach mit der Ausweitung des Bewußtseins. In diesem Sinn strebe ich dauernd danach, groß zu werden. Wie bekannt, sind weltliches Wissen und scharfsinnige Denkkraft keine Vorbedingungen für die Zen-Schulung. Nach buddhistischer Überlieferung konnte der berühmte Sechste Patriarch ENÔ, der her- vorragendste unter den Meistern des alten China, vollkommene

321 Erleuchtung erringen, weil er als Analphabet nicht dem Lesen und Nachdenken über die Wahrheit oblag. So konnte er unmittelbar den Ursprung des Geistes erfassen. Seit alter Zeit haben Japaner behaup- tet, daß man das Urwesen des Geistes nicht durch Denkvorgänge, sondern durch hingebungsvolles Zazen-Sitzen schauen und in gleicher Weise diese Schau endlos vertiefen und ausweiten könne. Es gibt Bäume, die schnell aufschießen und deshalb nie die Kraft ent- wickeln, einem Sturmwind zu widerstehen. Gleichermaßen gibt es beim Zen Menschen, die zwar schnell Erleuchtung finden, aber nie- mals zu geistiger Kraft gelangen, da sie das Üben aufgeben. So ist es beim Zen vor allem wichtig, Zazen ruhig und unverwandt im tägli- chen Leben anzuwenden und unerschütterlich entschlossen zu sein, nicht vor vollkommener Erleuchtung damit aufzuhören.

4. Herr C. S., Japaner, Regierungsangestellter im Ruhestand, Alter 60

Mein Kenshô-Erlebnis war einfach und unauffällig und hat nichts von dem Dramatischen, was viele andere haben. Ja, meine Erleuch- tung selbst ist nicht tief. Da ich aber aufgefordert worden bin, diesen Bericht zu schreiben, lege ich ihn hier vor. Ich kam zum Zen ohne den hochfliegenden Ehrgeiz, Kenshô zu errei- chen. Die Unsicherheit und völlige Verworrenheit in diesem Lande gleich nach dem letzten Krieg hatten mich so weit getrieben, daß ich oft daran dachte, Selbstmord zu begehen. So entschloß ich mich, Zazen zu üben, um mein geängstigtes, verwirrtes Gemüt zu beruhigen. Da es mein einziges Ziel war, mich zu innerer Festigkeit zu erziehen, kannte ich das Wort «Kenshô» nicht einmal, als ich mit Zazen begann. Der Rôshi unterwies mich, zuerst das Zählen der Atemzüge zu üben, danach das Verfolgen des Atems mit dem geistigen Auge und schließ- lich Shikantaza, also Konzentration, die auf keinerlei Objekt gerich- tet ist. Als ich auf dem Weg zu YASUTANI Rôshis Tempel war, um an mei- nem ersten Sesshin teilzunehmen, dachte ich (da ich gar nichts davon wußte, was ein Sesshin mit sich bringt): «Wie angenehm wird es sein,

322 sich in Gesellschaft des Rôshi zu entspannen, vielleicht gar Sake (Reiswein) mit ihm zu trinken.» Bei einbrechender Dunkelheit kam ich zum Tempel, und das Einzige, was ich hören konnte, war das Zir- pen einer Grasmücke und das Rieseln von Wasser, das aus einem zerbrochenen Rohr lief. Ich konnte bläulich-grünen Bambus im Hain und die roten Blüten der Kamelie erkennen. Diese heitere und schöne Umwelt machte mir einen tiefen Eindruck. Ich hatte mehrere Bücher mitgenommen und strahlte vor Vorfreude bei dem Gedanken, daß ich sie während des Sesshin in Ruhe lesen und, von all dieser natürli- chen Schönheit angeregt, Gedichte verfassen könnte. Als das Sesshin am nächsten Morgen begann, zeigte es sich jedoch als etwas, was ich mir niemals vorgestellt hatte. Es war in der Tat eine Folter. Nun sind von zwei Autounfällen her verschiedene Gelenke an meinen Beinen für immer steif. Dies und die Tatsache, daß ich zu jener Zeit fast sechzig war, machte mir das Sitzen mit zur Lotushal- tung verschränkten Beinen zur Marter. (Indessen weiß ich, wenn ich nachträglich daran denke, daß alles, was ich gewann, eben durch jene Schmerzen kam.) In der Morgendämmerung des zweiten Tages erlebte ich das Ärgste mit meinen Beinen. Ich hatte das Gefühl, daß selbst der Tod nicht schlimmer sein könnte, und so sagte ich mir: «All diese Schmerzen kommen durch Zazen, und du kannst ihnen entkommen, wenn du willst. Wenn du aber sterben würdest und in der Agonie lägest, könntest du dem Leiden nicht entrinnen. Ertrage also diese Schmerzen in gleichem Geiste und stirb, wenn es sein muß 34!» So kämpfte ich mit jedem Jota Kraft gegen diese Folterschmerzen an. Allmählich spürte ich die Schmerzen in meinen Beinen weniger und weniger, während das Sesshin seinen Fortgang nahm, und meine Seele weitete sich, bis sie unmerklich in einen gehoben-freudigen Zustand geriet. Ich hätte nicht sagen können, ob ich mir meiner Existenz unbe- wußt oder meiner Nicht-Existenz bewußt war. Meine einzige

34. Es ist interessant zu lesen, wie die katholische Äbtissin, die Heilige THERESA, ihre Nonnen ermahnte: «Kämpft starken Männern gleich, bis ihr bei dem Versuch sterbt, denn ihr seid einzig und allein hier, um zu kämpfen.» Zitiert von E. ALLISON im Vorwort zu seiner Übersetzung von The Autobiography of St. TERESA OF AVILA, S. 16.

323 Bewußtheit bestand darin, daß ich spürte, wie beide Daumen sich leicht berührten. Die Schiebetüren mit ihrem Gitternetz vor mir wur- den schneeweiß, und ein geläuterter Glanz legte sich über alles. Es kam mir vor, als sei ich im Paradies. Mein vorherrschendes Gefühl war Dankbarkeit, aber ich war mir dabei keines Wesens bewußt, das diese Dankbarkeit empfand. Unwillkürlich begann ich, leise zu wei- nen, dann strömten mir die Tränen nur so die Backen hinunter. Trä- nen, Tränen, Tränen - ein wahrer Strom von Tränen! Selbst als ich vor der Glocke kniete und darauf wartete, daß ich an die Reihe käme, zum Rôshi zu gehen, konnte ich mein törichtes Schluchzen nicht beherrschen. Ich schämte mich, dem Rôshi ein tränenüberströmtes Gesicht zu zeigen, da ich glaubte, Tränen gehörten nicht zum Zazen, und mit großer Anstrengung gelang es mir, mein Weinen einzustellen. Nach dem Sesshin erwähnte ich diese Wein-Episode dem Rôshi gegen- über. Er sagte mir, daß ich, wenn auch noch nicht die Stufe des Kenshô, so doch einen bedeutenden Grad von Ich-Zermürbung erlangt hätte; das Weinen sei ein Anzeichen dafür. Es machte mich glücklich, das zu hören. Und mit dieser Bemerkung endete mein erstes Sesshin. Ich wußte, daß ich mit diesem Erlebnis die Grundlage zur Umwand- lung meines Lebens gelegt hatte. Es heißt oft, daß Zen nicht Theorie, sondern Praxis ist. Diese Wahrheit wurde mir unmißverständlich zu Gemüte geführt. In Zurückgezogenheit zu sitzen wie ein Berg - das allein ist erforderlich. Durch dieses erste Sesshin wuchs die Entschlos- senheit in mir, das, was ich kaum gekostet hatte, zu pflegen und zu vertiefen, um jene Gelassenheit zu erreichen, die so wichtig ist, um mit den Wirrnissen dieser sorgenvollen Welt fertig zu werden. Indem ich nach Anweisung des Rôshi Zazen übte, wuchs meine Konzentra- tionskraft stetig, und jeder Tag wurde zu einem Tag des Dankes. Zu Hause gab es nun keinen Streit mehr, und jeden Morgen ging ich fröhlich ins Büro. Ich war mit meinem Leben, das man friedlich und heiter nennen konnte, zufrieden. Von Zeit zu Zeit aber beunruhigte mich die Frage: Was ist der Zweck des menschlichen Lebens? Ich wußte, daß ich jene innere Sicherheit, die mir noch fehlte, nie ohne Kenshô gewinnen könnte.

324 Shikantaza Ich hatte Zazen mit dem Zählen der Atemzüge begonnen, war dann dem Atem mit dem geistigen Auge gefolgt, und danach wies mir der Rôshi Shikantaza zu, die reinste Form des Zazen. Ganz allgemein gesagt, kann man durch ein Kôan schneller zu Kenshô kommen als durch Shikantaza, bei dem der Geist allmählich reift 35. Der Rôshi hatte mich oft mit den Worten ermutigt: «Anstatt Kenshô mit Gewalt durch ein Kôan erreichen zu wollen, sitzen Sie geduldig; dabei spielt sich ein natürlicher Reifevorgang ab.» So saß ich denn beharrlich, fest überzeugt, daß die Zeit kommen würde, da mein Geist, jetzt noch einer sauren Dattelpflaume gleich, reif und süß werden würde. Je mehr ich Zazen übte, desto klarer wurde mein Geist. Jedesmal, wenn ich mich zum Zazen hinsetzte, regelte ich zuerst meine Atmung und glitt danach in tiefe Konzentration hinein. Bei fortschreitender Übung erlebte ich oft einen Zustand, da ich mir nicht länger meines Kör- pers und Geistes, noch irgend etwas anderen bewußt war. Als ich das dem Rôshi erzählte, drängte er mich, doch nicht in dieser Welt der achten Bewußtseinsstufe zu verweilen, jenem Zustand der Rein- heit und Festigkeit, sondern tapfer durchzubrechen, darüber hinaus- zugehen. Ich hatte jedoch das Gefühl, als befände ich mich einem «Silberberg» oder einer «Eisenwand» gegenüber; ich konnte weder vor noch zurück. Ich erinnere mich an ein Vorkommnis bei einem Sesshin etwas später. Eines Nachts stand ich auf und fing an zu sitzen, das Gesicht der Papierschiebetür zugewandt, die den hellen Nachthimmel durchschei- nen ließ. Mit entschlossener Anstrengung, wie sie mir durch die mit- ternächtliche Einsamkeit leichter gemacht wurde, gelangte ich sehr schnell in einen Zustand tiefer Konzentration. Mein Geist gewann solche Klarheit, daß ich das Gefühl hatte, der nächste Morgen würde bestimmt Kenshô bringen, entgegen den Erwartungen selbst des Rôshi. Aber trotz all meines verbissenen Sitzens konnte ich nicht jene geistige Leere erreichen, und da ich sowieso von Natur nicht allzu hellen Geistes bin, ließ ich mich bald von dem Quaken der Frösche

35. Genauere Angaben über Shikantaza und Kôan-Zazen siehe auf S. 89-91.

325 verführen, deren Stimmen höchst melodisch waren, wie ich es nur selten gehört habe. In dieser Nacht klang der Chor eindringlich in die Stille hinein. «Das ist's, das ist alles, das ist es», schienen sie spot- tend zu singen. Ein seltsames Lachen sprudelte mir aus tiefstem Innern auf. Es wurde mir unmöglich, reines Zazen zu üben, und so gab ich den Versuch auf. Beim folgenden Frühlings-Sesshin kam Frau Y., die neben mir saß, zu Kenshô und vergoß Tränen der Dankbarkeit und Freude. Auf der Stelle beschloß ich, daß ich der nächste sein müßte. Aber trotz meines Ringens konnte ich in Shikantaza keine Waffe finden, um die «Eisen- wand», die mir entgegenstand, niederzubrechen. Beim Dokusan waren die letzten Worte des Rôshi stets: «Machen Sie hartnäckig weiter!» Was ich jedoch brauchte, war ein Werkzeug, mit Hilfe dessen ich weiter vordringen konnte, und so bettelte ich beinahe darum, daß er mir das Kôan Mu zuweisen möge. Das tat der Rôshi auch nach dem Frühlings-Sesshin. Gleichzeitig schenkte er mir ein Sitzkissen und einen Brustlatz, wie ihn Buddhisten tragen, um mich zu beharrlichen Bemü- hungen anzuspornen. Nun hatte ich alle «Werkzeuge», mit Ausnahme von einem: dem unerschütterlichen Willen, um jeden Preis Kenshô zu erlangen. Als ich nach dem Sesshin nach Hause ging, schwor ich mir: Entweder ich erlange beim nächsten Sesshin Kenshô, oder . ..

Das Kôan Mu Obgleich ich Mu praktisch auf meine eigene Bitte hin erhalten hatte, konnte ich damit doch nicht gut Zazen üben. Ich hatte lange Zeit hindurch Shikantaza geübt und mich daran gewöhnt, mein Bewußt- sein in einem Zustand gleich einem fließenden Strom oder einer dahin- treibenden Wolke zu halten, auf keinerlei Brennpunkt gerichtet, und so empfand ich Mu als schreckliche Belastung. Ich hatte jedoch dieses Werkzeug bitter nötig, um den «Silberberg» zu vernichten. So kon- zentrierte ich mich ingrimmig und versuchte, mit Mu zu verschmel- zen, und allmählich gewöhnte ich mich daran. Im Frühherbst 1955 war ich wieder in einem Sesshin. Ich hatte irgend- wie das Gefühl, daß dieses Sesshin für mich entscheidend würde. Ich wußte, daß Erfolg oder Fehlschlag allein von mir abhingen.

326 Am ersten Tag, früh um halb fünf, sagte der Rôshi, als er seine Inspek- tionsrunde machte: «Die Bedingungen bei diesem Sesshin sind ideal. Das Wetter ist weder zu heiß noch zu kalt, und es ist still. Ihr habt eine glänzende Gelegenheit.» Ich nahm mir seine Worte zu Herzen und ergriff Mu wie einen schweren Wanderstab, um mir meinen Weg durch den engen Gebirgspaß zu bahnen, der sich zum Kenshô öffnet. Der erste Tag ... Der zweite Tag ... Der dritte Tag ... Die Zeit ver- ging schnell. Meine ersten Versuche, Mu zu packen, schlugen fehl - ich konnte einfach nicht durchbrechen. Da ich mein Bewußtsein nicht aus der heiteren Klarheit, darin es sich eingerichtet hatte, heraus und in Bewegung bringen konnte, war ich verwirrt und schier verzweifelt und strengte mich ungeheuer an, mich mit dem scharfen Schwert Mu aus dieser Geistesverfassung herauszuschlagen, jetzt von über- reizter Ungeduld angetrieben - aber es half alles nichts. Schon beim Frühlings-Sesshin im gleichen Jahr hatte ich jenen Bereich des achten Bewußtseins erreicht, und es war mir nicht gelungen, dar- über hinaus vorzudringen. Es war mir nun klar, daß ich mich niemals bis zum Äußersten angestrengt hatte und daß Kenshô nur durch über- menschliche Anstrengung herbeigeführt werden konnte, wenn ich es überhaupt jemals erreichen wollte. Das veranlaßte mich oft, sitzen zu bleiben, wenn die Glocke zum Herumgehen erklang. Aber ich konnte immer noch nicht aus dieser «Satanshöhle» ausbrechen, nicht einmal mit Mu und den übermenschlichen Anstrengungen, die ich machte. Ich konnte und konnte diese Sackgasse nicht aufsprengen. Kenshô erfordert enorme psychische und physische Vitalität; aber ich war schon sechzig und hatte viel von meiner früheren Kraft und Ela- stizität eingebüßt. Ich weigerte mich jedoch aufzugeben und fuhr mit Mu fort, ohne zurückzufallen. Am vierten Tag gewahrte ich auf meinem Wege zum Abort in der Stille des Zwielichts einen alten Quittenbaum. Seine Zweige schienen von seltsamer, unbeschreiblicher Feierlichkeit beherrscht. «Was ich sehe, ist absolute Wahrheit!» sagte ich mir. Ich wußte, daß ich zu erhöhter geistiger Wachheit gelangt war und wandte mich mit erneu- ter Kraft dem Sitzen wieder zu. Beim Abend-Dokusan erzählte ich dem Rôshi, was ich bei dem Baum gespürt hatte und fragte ihn, was

327 das zu bedeuten habe. «Sie haben einen entscheidenden Punkt erreicht - nur noch einen Schritt! Das ist der letzte Abend des Sesshin. Üben Sie die ganze Nacht Zazen.» Von diesem «nur noch ein Schritt!» des Rôshi angefeuert, war ich nun bereit zu einem, Generalangriff auf Mu, die ganze Nacht hindurch.

Das Öffnen meines geistigen Auges Gewöhnlich werden abends um neun Uhr alle Lichter gelöscht, aber in dieser Nacht ließ ich mit Genehmigung des Rôshi eine kleine Lampe brennen. Herr M., der Haupt-Mahner, saß mit mir zusammen, und dadurch, daß seine geistige Kraft zu meiner hinzukam, fühlte ich mich weitaus stärker. Ich sammelte alle Kraft im Hara und fühlte mich allmählich heiter erhoben. Gespannt betrachtete ich den unbe- weglichen Schatten von meinem Kinn und Kopf, bis ich ihn in tiefer Konzentration nicht mehr wahrnahm. Als die Nacht vorrückte, wur- den die Schmerzen in meinen Beinen derart quälend, daß selbst ein Wechsel von Voll-Lotus zu Halb-Lotus sie nicht linderte. Die einzige Möglichkeit, sie zu überwinden, lag darin, all meine Energie in ent- schlossener Konzentration ausschließlich auf Mu zu richten. Aber selbst bei ingrimmigster Konzentration bis zu dem Punkt, da ich «Mu! Mu! Mu!» keuchte, gab es nichts, was ich tun konnte, um mich von diesen Folterqualen zu befreien, außer geringen Veränderungen in meiner Haltung. Urplötzlich verschwanden die Schmerzen - da ist einzig MU! Alles und jedes ist Mu. «Ach, das ist es!» rief ich aus und taumelte vor Verblüffung; dabei war mein Geist eine vollkommene Leere. «Kling- a-ling, kling-a-ling» - das Läuten einer Glocke. Wie kühl und erfri- schend! Das treibt mich, aufzustehen und mich zu bewegen. Alles ist die Frische und Reinheit selbst. Jedes Ding tanzt voll Lebendigkeit und lädt mich ein zu schauen. Jedes Ding hat seinen natürlichen Platz inne und atmet ruhig. Ich bemerke Zinnien in einer Vase auf dem Altar, eine Opfergabe für Monju, den Bodhisattva der Unendli- chen Weisheit. Sie sind unbeschreiblich schön! Beim nächsten Dokusan prüfte der Rôshi mich und bestätigte, daß ich Mu begriffen hatte.

328 Ein volles Kenshô-Erwachen erzeugt im allgemeinen nicht nur Ver- blüffung, sondern tiefste Freude, aber ich weinte weder, noch lachte ich vor Freude. In den meisten Fällen wandelt es unsere Sicht von Leben und Tod um und bietet neue durchdringende Einsichten in den Ausspruch: «Das Leben ist eitel und flüchtig.» Mein Erlebnis aber hatte keine solchen Einsichten zur Folge, denn es war nur ein Anflug von Erleuchtung. Ich wurde im September 1895 geboren und war also im September 1955 gerade sechzig Jahre alt. In Japan feiert man den sechzigsten Geburtstag als einen Tag der Wiedergeburt. Ich bin glücklich, daß das öffnen meines Geistigen Auges gerade in diesem Monat mit den ersten Schritten in meinem neuen, zweiten Leben zusammenfällt. Acht Jahre sind vergangen, seit ich mit Zazen angefangen habe. Man sagt in Japan, daß der Dattelpflaumenbaum acht Jahre braucht, bis er zum ersten Mal Früchte trägt. In gleicher Weise haben meine Bemühungen Früchte getragen. Es steht jedoch bei anderen, deren Geschmack zu beurteilen.

5. Frau A. M., amerikanische Lehrerin, Alter 38

Ich bin halbjüdischer Abstammung und wurde in Deutschland gebo- ren, wo ich eine idyllische Kindheit verlebte. Mein Vater, ein Jude, hatte sich nicht allein durch seine Gelehrsamkeit als Doktor der Rechte, sondern auch durch seine unbegrenzte Großmut die Achtung aller in unserem verschlafenen mittelalterlichen Städtchen erworben. Meine Mutter, aus lutherisch-deutschen Kreisen stammend, wurde um ihres Verständnisses, ihrer Mildtätigkeit und Lebensfreude willen von reich und arm gleichermaßen geliebt. So wuchs ich in kindlicher Unschuld auf, vollkommen behütet vor wirtschaftlichen und anderen Sorgen. Die Wörter «Gott» und «Religion» wurden in meiner Familie nie erör- tert, da meine Eltern es für das Beste hielten, uns Kindern die freie Wahl zwischen jüdischem und christlichem Glauben zu lassen, wenn die Zeit dafür reif war. Erste Enthüllungen über das Alte und Neue

329 Testament erhielt ich im Religionsunterricht der Schule, wo die lutheri- sche Bibelübersetzung einen überaus tiefen Eindruck auf mich machte. Hitler kam an die Macht, und alles änderte sich. Die Träume meiner Kindheit gingen in Rauch auf, und ich sah mich der krassen Wirk- lichkeit der Verfolgung gegenüber. Stein für Stein schlugen die Nazis aus dem sicheren Wall, der mein Ich umgab. Liebe und Achtung, deren wir uns erfreut hatten, verschwanden, und wir kannten nur mehr Einsamkeit und Angst. Ohne Freunde zog ich mich in mich selbst zurück und verbrachte die meiste Zeit mit Lesen. Unersättlich suchte ich die umfangreiche Bibliothek meines Vaters nach Geschichten romantischer Prägung, des Weltschmerzes ab, in denen ich mich selbst als Heldin sah. Der Höhepunkt der Verfolgung meiner Familie kam an dem teufli- schen 9. November 1938, da unser Haus zusammen mit anderen jüdi- schen Häusern von Horden betrunkener Sturmtruppen zerstört, mein Vater brutal geschlagen und in ein Konzentrationslager abgeschleppt wurde. Meine Mutter war zu jener Zeit in Berlin, und meine Schwe- ster und ich blieben, der Trostlosigkeit überlassen, zitternd im Dach- geschoß unseres einst so schönen Hauses. In der Verzweiflung meiner Seele stieß ich das erste wirkliche Gebet meines Lebens aus: «Gott, hilf uns!» Ohne einen Pfennig, aber voller Pioniergeist, landete meine Familie am 24. Januar 1939 mit dem Schiff in San Pedro, Kalifornien. Wun- derbarerweise waren wir den Klauen der Nazis entronnen, und dank der Bürgschaften, die die Schwester meiner Mutter in Los Angeles geleistet hatte, begannen wir hoffnungsvoll ein neues Leben. Ich sparte vier Jahre lang Pfennig für Pfennig zusammen und konnte dadurch die Universität in Los Angeles besuchen. Schließlich machte ich mein Abschlußexamen in Pädagogik und wurde damit zu einer voll ausgebildeten Sprachlehrerin. Inzwischen hatte ich geheiratet, und am 3. September 1955 wurde mein erstes Kind, ein schönes, blauäugiges Mädchen, geboren. Mit dem bißchen Geld, das wir hatten, und mit den GI-Rechten meines Mannes erwarben wir ein Reihenhaus in der Nähe unserer Schulen. Mein Leben ging zwischen Haus und Schule seinen glatten Gang.

330 1957 wurde mein Sohn geboren und 1960 meine zweite Tochter. In meiner Freizeit las ich Bücher über Philosophie und Religion. Die Geschichte von YOGANANDA aus Indien beeindruckte mich tief. Durch eine Vortragsreihe über Philosophie in Ost und West erwachte bei mir noch tieferes Interesse an der Weisheit des Ostens. Bücher über Zen folgten, und schließlich faßten mein Mann und ich den festen Plan, «wenn unsere Kinder erst etwas älter wären», nach Japan und Indien zu fahren, um selbst Erleuchtung zu suchen. Inzwischen gewann mich einer meiner Lehrer-Freunde zur Beteili- gung an einem Kurs über Tiefenpsychologie. Ich war schon etwas vertraut mit dem FREUDschen Unterbewußtsein und wurde nun mit JUNGS Standpunkt hinsichtlich der Möglichkeit voller innerer Ent- wicklung im Alter zwischen 35 und 40 bekannt. Mit einigem Erfolg übte ich mich darin, den Anforderungen des Lebens Minute für Minute gerecht zu werden. Das Einzige, was mich jedoch an größeren Leistungen hinderte, war das Fehlen eines Zwecks, der größer war als ich selbst. «Wofür lebe ich?» fragte ich mich wieder und wieder. Ich hatte alle irdischen Vorzüge: gute Gesundheit, beruflichen Erfolg, eine reizende Familie, Mußezeit, keine finanziellen Sorgen, aber ich konnte keine tiefinnere Befriedigung finden. Als mein Mann im Sommer 1962 Ferien auf Hawai vorschlug, sagte ich: «Warum nicht?» Wenn wir auch mit drei Kindern und zwei Wel- lenreitern am Strande von Waikiki herumstreiften, so suchten wir beide in Wirklichkeit doch etwas Geistigeres. Glücklicherweise ent- deckte mein Mann eine Zazen-Gruppe, die sich in einem Privathaus in Honolulu versammelte. «Warum warten, bis wir Japan besuchen?» entschieden wir, «gewöhnen wir uns doch jetzt schon ans Sitzen. Wahrscheinlich brauchen wir sowieso Jahre, um uns einzugewöhnen.» Zu unserem großen Entzücken fanden wir, daß ein Rôshi, ein erleuch- teter Weiser aus Japan, sich auf Hawai aufhielt, um dort ein Sesshin zu leiten, ehe er zu einer Reise durch die Vereinigten Staaten weiter- fuhr. Die Gruppe ernsthafter Zazen-Teilnehmer war klein, und wir waren willkommen, wenn wir uns beteiligen wollten. Unsere Unwis- senheit in bezug auf den Buddhismus brachte uns etwas in Verlegen- heit. So wechselten mein Mann und ich uns ab, einen Abend bei den

331 Kindern zu Hause zu bleiben, während der andere wegging, um Zazen zu üben und etwas über Buddhismus zu lernen. Damit begannen wir zwei Wochen vor dem Sesshin. Die Schmerzen beim halben Lotussitz ärgerten mich, weil ich mein Leben lang sportlich gewesen war und mir eingebildet hatte, daß ich das leicht ohne Übung könnte. «Will ich das wirklich?» fragte ich mich. «Ich bin zur Erholung nach Hawai gekommen und nicht zur Meditation.» Eine neurotische Müdigkeit kroch mir durch den ganzen Körper, und ich kann mich nicht erinnern, wann ich je derart müde gewesen bin. Ehe das Sesshin in aller Form begann, gab man uns YASUTANI Rôshis einführende Unterweisungen über Zazen. Sie endeten mit der Klassi- fizierung der vier verschiedenen Arten der angestrebten Ziele, die von körperlicher und geistiger Gesundheit bis zur Erleuchtung reichen. «Ich bin an Kenshô interessiert, aber ich würde mich glücklich schät- zen, wenn er mir das Zählen der Atemzüge zuwiese», überzeugte ich mich selbst. «Vielleicht hat ein Neuling wie ich lediglich zu lernen, wie er die Beine verwickelt und aufrecht sitzt.» Voller Ehrfurcht betrachtete ich die anderen Teilnehmer rings im Raum, die dort voll- kommen aufrecht vor einem weißen Vorhang saßen, die Beine in halber Lotushaltung, und in tiefer Konzentration atmeten. Die Zeit verging schnell. YASUTANI Rôshi traf ein, und wir wurden alle eingeladen, am Sonntag zu Zazen und Tee zu kommen. Als ich den kleinen, leichten Mann sah, der sich mit siebenundziebzig trug, als sei er siebenundfünfzig, sprühenden Magnetismus der Jugend in den Augen, verschwanden alle Zweifel. «Das ist mein Meister, den ich überall in Indien und Japan suchen wollte», sagte ich mir, und mich erfüllte ein seltsames Gefühl der Freude. Am gleichen Abend sprach YASUTANI Rôshi in der Sôtô-Mission über das Kôan Mu und wie man es ergründet. Seine Pantomime war der- art anschaulich, daß ich ihn verstand, ohne ein Wort Japanisch zu können. Mir kam es vor, als sei das ähnlich wie die angstvolle Freude, mit der man ein Kind erwartet, und ich war bereit, die Beschwerden auf mich zu nehmen. In der Nacht vor dem Sesshin konnte ich nicht schlafen. Ich wußte, daß ich vor der wichtigsten Reise meines Lebens stand, und mein

332 Herz schlug in jenem wilden Vorgefühl, wie ich es habe, ehe ich auf einen Berg steige. Am nächsten Morgen stand ich um vier Uhr auf, saß zwei Sitzrunden ohne große Schwierigkeiten und erklärte YASU- TANI Rôshi kühn, daß ich hinsichtlich der angestrebten Ziele in die vierte Gruppe gehörte und hoffte, Kenshô zu erreichen. Zu meiner Überraschung stellte er mir keine weiteren Fragen, sondern wies mir auf der Stelle das Kôan Mu zu. Fast sofort bereute ich meinen Ent- schluß! Zwei Tage lang arbeitete ich zaghaft an Mu, und es jagte mir töd- lichen Schrecken ein, beim Dokusan dem Rôshi gegenüber zu treten, weil er für mich den gestrengen Zuchtmeister-Vater meiner Jugend repräsentierte. Obendrein konnte ich mich nie an die einfachen japa- nischen Worte für «Mein Kôan ist Mu» erinnern. Am dritten Tag änderte sich alles. Unser Dolmetscher, der heiter lächelnde, «schwebende» TAI San, wurde zum Racheengel. «Das ist kein Tee-Kränzchen», donnerte seine Stimme, «sondern ein Sesshin! Ich werde euch lehren, was ein Sesshin ist!» worauf er anfing, alle mit dem Kyosaku zu schlagen, einem flachen Holz, womit schläfrige Mönche eins auf die Schultern bekommen, um sie zu voller Konzen- tration aufzurütteln. Man glaube mir, ich war alles andere als schläf- rig; ich war einfach starr vor Entsetzen. Jenen ganzen Tag lang sah ich mich am Rande eines Abgrunds entlang gehen, in dessen Tiefe wilde Wasser brodelten. Jeder Atemzug war Mu. «Wenn du Mu auch nur einmal fahren läßt, wirst du fallen», warnte ich mich. «Also geh weiter, als seist du im Aufbruch zu einer langen Wanderung auf einen steilen Berg.» In jener Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Ein Tisch war für eine japanische Tee-Zeremonie mit vier Tassen in Kleeblattform gedeckt. Gerade als ich meine Tasse nehmen wollte, fiel ein geflügelter TAI San über mich her, gleich einem Engel mit feurigem Schwert, und schlug mich mit einem lauten Mu! Ich fuhr aus dem Schlaf hoch und fiel gleich in Zazen, diesmal im Liegen auf meinem Bett ausgestreckt, die Hände auf dem Bauch. «Du wirst in dieser Panik gar nichts erreichen», versuchte ich mich zu beruhigen. «Du mußt dich entspan- nen. Male dir eine nächtliche Berglandschaft unter der sternenüber-

333 säten Unendlichkeit aus.» Langsam und tief atmete ich ein und aus, und ein wunderbarer Friede umfing mich. Mein Bauch schien sich zu einem Ballon auszuweiten, und ein Nebel, der mich erst kurz zuvor einge- hüllt hatte, hob sich allmählich, bis ein süßes Nichts mein ganzes Sein durchdrang. Ich hörte das Geräusch fließenden Wassers und tauchte langsam aus meinem Trancezustand auf. Beim Dokusan erfuhr ich, daß ich dicht vor dem großen Erlebnis der Erleuchtung stünde. Am vierten Tag stieg die Spannung zu noch höherem Grade an. TAI San erzählte die Geschichte eines Mönchs, der derart entschlossen war, Kenshô zu erreichen, daß er mit einem Räucherstäbchen in der einen Hand und einem Messer in der anderen meditierte. «Entweder finde ich Erleuchtung, solange das Räucherstäbchen brennt, oder ich werde mich töten», schwor er. Bei dem Schmerz, den das ausbren- nende Räucherstäbchen ihm verursachte, fand er Erleuchtung. TAI San machte danach mit seinem Kyosaku die Runde und brachte alle zu Tränen, sogar meinen Mann. «Ich werde bei diesem Sesshin Kenshô erreichen», gelobte ich mir und saß drei Sitzrunden Halb-Lotus. Dann brach ich zusammen und schluchzte bitterlich; selbst beim Dokusan konnte ich nicht aufhören zu weinen. Ich ging nach oben, um mich auszuruhen, und als ich aufstand, um mir das Gesicht zu waschen, hatte ich das seltsame Gefühl, als strömte Wasser ganz durch mich hindurch, und ich blin- zelte mit den Augen. Es klang wie das Wasser, das ich in jener Nacht gehört hatte, da ich Leere-Weite erlebt hatte. Am Morgen des fünften Tages blieb ich zu Hause, um für die Kinder zu sorgen. Ich muß erwähnen, daß weder mein Mann noch ich unun- terbrochen am Sesshin teilnahmen. Wir wechselten uns beim Sitzen um 4 Uhr früh ab und gingen zu fast allen Mahlzeiten nach Hause. Ich blieb einmal über Nacht, mein Mann überhaupt nicht. Beim Dokusan am Nachmittag bekannte ich etwas verlegen, daß ich zu Hause überhaupt nicht Zazen geübt hatte, weil es zu viele Unter- brechungen gab. Ich erfuhr, daß zwei bereits Kenshô erreicht hatten und daß auch ich Kenshô erlangen könnte, wenn ich mich aufs äußerste anstrengte. So erlaubte mir mein Mann an jenem Abend, über Nacht zu bleiben.

334 Mit Mu ging ich zu Bett, mit Mu stand ich am sechsten Tage auf. «Nicht nervös werden», ermahnte mich TAI San, «konzentrieren Sie sich nur.» Ich lauschte diesen Worten der Weisheit, aber ich war zu müde, um zu meditieren. Meine Kräfte waren aufgezehrt. Nach dem Frühstück legte ich mich hin, um mich auszuruhen, und machte in horizontaler Lage mit Mu weiter. Plötzlich erschien ein heller Glanz vor meinen Augen, als ob sie direkt von Sonnenschein getroffen wür- den. Ich hörte deutlich Geräusche, die ich, seit ich als kleines Mäd- chen krank im Bett lag, nicht gehört hatte: die Schritte meiner Mutter und das Rascheln ihrer Schachteln, Da ich bei diesem Sesshin schon so viele seltsame Erlebnisse gehabt hatte, achtete ich nicht weiter darauf, sondern fuhr mit meiner Konzentration auf Mu die ganze vormittäg- liche Sitzzeit über fort. Als ich auf Dokusan wartete, hielten ver- traute Düfte meine Nüstern zum Besten; es war der verlockende Geruch der Kochkunst meiner Mutter. Mein Blick fiel auf ein rotes Kissen auf einem braunen Tisch; die gleichen Farben wie im Wohn- raum meiner Großmutter. Eine Tür schlug, ein Hund bellte, eine weiße Wolke segelte über den blauen Himmel - ich erlebte meine Kindheit aufs neue - als Makyô, Halluzinationen. Mittags erzählte mir mein Mann mit Erlaubnis des Rôshi, daß er Kenshô erlangt hatte. «Jetzt oder nie!» sagte ich mir. «Eine Frau, die eine Flasche ist, kann nicht mit einem erleuchteten Mann verheiratet sein!» Ich rief mir die Geschichte des jungen Mönchs mit dem Räu- cherstäbchen und dem Messer lebhaft ins Gedächtnis. «Tod oder Befreiung!» wurde zu meiner Losung. Ich atmete tief ein und konzentrierte mich bei jeder Ausatmung mit aller Macht auf Mu. Ich hatte das Gefühl, als sei ich ganz aus Luft und würde mich jede Sekunde in die Luft erheben. Ich «kroch» in den Bauch einer scheußlichen, haarigen Spinne, «Mu! Mu! Mu!» stöhnte ich und wurde zu einem großen schwarzen Mu. Ein Engel, so schien mir, berührte mich sanft an der Schulter, und ich fiel zurück. Plötz- lich wurde mir klar, daß mein Mann und TAI San hinter mir standen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Meine Füße waren völlig taub. Sie trugen mich buchstäblich nach draußen, und ich schluchzte hilf- los. «Ich war schon tot», sagte ich mir. «Warum mußten sie mich

335 wieder ins Leben zurückrufen?» Beim Dokusan sagte mir der Rôshi, daß das nur ein Vorgeschmack von Kenshô, aber noch nicht Wesens- schau war. Dann machte ich einen kleinen Spaziergang, und plötzlich schien mir das ganze Erlebnis dieser letzten Tage vollkommen lächerlich. Ich erinnere mich, daß ich dachte: «Dieser dumme Rôshi - er und sein orientalischer Hokuspokus. Er weiß ja gar nicht, was er da redet.» Beim Abendessen, als ich mit meinen Eß-Stäbchen herumfummelte, wäre ich am liebsten aufgestanden und hätte ihm eine Gabel gereicht: «Hier, alter Junge, gewöhnen wir uns doch an westliche Sitten.» Ich kicherte über meinen eigenen Witz. Während des ganzen abendlichen Rezitierens konnte ich kaum ernst bleiben. Nach den Schlußworten des Rôshi hätte ich gern meine Tasche genommen und wäre weg- gegangen, um niemals wiederzukommen; so unwirklich schien mir das alles. Der Rôshi hatte uns beim ersten Unterricht gesagt, daß Mu gleich einer rot-glühenden Eisenkugel sei, die einem in der Kehle stecken- bleibt und die man weder hinunterschlucken noch ausspucken kann. Er hatte recht - so recht! Wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich, daß jedes Wort, jede Bewegung Teil eines vorsätzlichen Planes dieses ver- ehrten Lehrers war. Sein Name «Weiße Wolke» (HAKUUN) paßt in der Tat zu ihm. Er ist die größte, weißeste Wolke, die ich je erlebte, ein echtes Gegengewicht zu dem düsteren Atompilz. Nun lag ich im Bett und übte wieder Zazen. Die ganze Nacht hin- durch atmete ich abwechselnd Mu und fiel in Trance. Ich dachte an den Mönch, der Kenshô in ebensolchem Stadium der Erschöpfung erreicht hatte. Schließlich muß ich vor vollkommener Erschöpfung eingeschlafen sein. Plötzlich rührte mich der gleiche lichte Engel an der Schulter an. Nur erwachte ich diesmal mit einem strahlenden «Ha!» und mir war klar, daß ich Erleuchtung gefunden hatte. Der Engel war mein guter, müder Mann, der mich auf die Schulter klopfte, um mich zu wecken, damit ich zum Sesshin ginge. Eine seltsame Kraft trieb mich an. Ich sah auf die Uhr - zwanzig Minuten vor vier, gerade noch Zeit, um das morgendliche Zazen mit- zumachen. Ich stand auf und zog mich in Ruhe an. Mein Geist raste,

336 als ich Problem auf Problem löste. Ich kam noch vor vier zum Sess- hin und nahm das Angebot einer Tasse Kaffee mit einem derart positiven «Ja» an, daß ich meinen eigenen Ohren nicht traute. Als TAI San mit seinem Schwert die Runde machte, bedeutete ich ihm, er solle sich nicht die Mühe machen, mich zu schlagen. Beim Dokusan stürzte ich in die kleine Hütte, die mein Lehrer bewohnte, und um- armte und küßte ihn und schüttelte TAI San die Hand und ließ sie wieder los mit solchen Fluten komischen Wortschwalls, daß wir alle drei vor Freude auflachten. Der Rôshi prüfte mich und ließ mich bestehen, und so wurde ich offiziell durch das torlose Tor eingelassen. Ein Leben war in eine Woche zusammengedrängt worden. Tausend neue Empfindungen bestürmen meine Sinne, tausend neue Wege öffnen sich vor mir. Ich lebe mein Leben Minute um Minute, aber erst jetzt durchdringt warme Liebe mein ganzes Sein, weil ich weiß, daß ich nicht nur mein kleines Ich bin, sondern ein großes wunder- bares Selbst. Mein ständiger Gedanke ist, daß ich wünschte, alle möchten teil an dieser tiefen Befriedigung haben. Um diesen Bericht zu schließen, kann ich mir nichts Besseres denken, als die Vier Gelübde, die ich jeden Morgen beim Sesshin rezitierte: Der Geschöpfe sind zahllose - ich gelobe, sie alle zu retten. Der Leidenschaften sind unzählige — ich gelobe, sie alle auszurotten. Der Dharma-Tore sind mannigfache — ich gelobe, durch alle zu gehen. Der Buddha-Weg ist unübertrefflich - ich gelobe, ihn zu verwirklichen.

6. Herr A. K., japanischer Versicherungsangestellter, Alter 25

Als ich zwölf war und mein achtjähriger Bruder an einer Nieren- krankheit starb, begann ich zum ersten Mal ernsthaft über Tod und Leben nachzudenken. Ich war derart traurig über seinen Tod, daß ich bei seiner Bestattung zusammenbrach. Tief im Innern hatte ich ein so starkes Gefühl der Zerknirschung, daß ich ausrief: «Vergib mir, vergib mir!» Vier Jahre später ertrank mein einziger anderer Bruder. Das war ein derart schwerer Schock, daß ich mich einmal übers andere fragte:

337 «Warum ist das Leben dermaßen unsicher und elend? Werden wir nur geboren, um zu sterben?» Ich wurde von einem Gefühl völliger Hilflosigkeit überwältigt. Das Lernen in der Schule war reine Placke- rei, und jeder Tag war ein Tag des Elends. «Warum werden wir geboren? Warum sterben wir?» Von diesen Fragen war ich besessen wie von einem immerwährenden Albtraum. In der Hoffnung, mein Elend zu enden, begann ich, begierig in der Bibel einer der Nachkriegsreligionen in Japan zu lesen, die sich Die Wahrheit des Lebens nannte. Nach dem Tode meines jüngeren Bru- ders hatten sich meine Eltern für kurze Zeit dieser Sekte angeschlos- sen. Sie schärfte uns ein: «Lebt lächelnd ein Leben der Dankbarkeit. Seid demütig und reagiert stets mit einem Jawohl'.» Das war alles recht schön und gut, aber es wurde uns nicht erklärt, wie man sich zu Demut und Dankbarkeit erzieht. Es wurde darin weiter behauptet, daß der Mensch als Kind Gottes ohne Fehl sei und daß er durch seine Identität mit Gott diese eingeborene Vollkommenheit verwirklichen könne. «Warum aber», so fragte ich mich, «sollte der Mensch, der, wie sie behaupten, frei geboren ist, an Gott gebunden und ihm ewig versklavt sein? Das kann nicht der Weg zum Frieden der Seele sein.» Enttäuscht ließ ich diese Religion fallen, strich sie aus meinem Leben, überzeugt, daß sie nur ein Betäubungsmittel sei. Ich war gerade siebzehn, als ich im August 1949 zum Sôsei-Ji, einem Sôtô-Tempel, ging, um den Abt zu fragen, was Buddhismus sei. Er freute sich, daß ich kam, und sagte: «Das läßt sich nicht in einem Satz erklären, aber ich werde Ihnen die Antwort eines berühmten Zen-Meisters auf die gleiche Frage erzählen. Als der chinesische Dich- ter HAKURAKUTEN den Zen-Meister DÔRIN nach den Mysterien des Buddhismus fragte, wurde ihm erwidert:

Vermeide Böses, Übe das Gute, Halte den Herz-Geist rein - Also lehren alle Buddhas36.

36. Siehe das ganze Gespräch im 10. Kapitel unter «HAKURAKUTEN».

338 «Denken Sie daran», fuhr der Abt fort, «daß Zazen der direkteste Weg ist, um den Buddhismus zu begreifen. Aber die Wahl eines guten Lehrers ist das Wichtigste.» Im November jenes Jahres besuchte ich das erste Zazen-Kai unter YASUTANI Rôshi. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß der Rôshi ein einfacher, alter Mann ohne augenscheinliche Würden war, in schäbigste Gewän- der gekleidet. Mit ruhiger Stimme sprach er über das Zählen der Atemzüge beim Zazen, während man mit dem Gesicht zur Wand sitzt. Aber Fragen wie: «Was ist der Sinn des Lebens?» oder «Wie können wir uns vom Leiden befreien?» behandelte er überhaupt nicht. Ich begann jedoch, meine Atemzüge in der Art, die er lehrte, zu zäh- len, obschon es mir gegen den Strich ging. «Zen kann nicht real sein», sagte ich mir, «es muß ein Schwindel sein.» Aber aus irgendeinem Grunde ging ich wieder hin, als das nächste Zazen-Treffen herankam, und beteiligte mich auch fernerhin. Als ich von Kenshô erfuhr, durch das man, wie der Rôshi behauptete, menschliches Leiden aufheben könne, beschloß ich, Kenshô zu erlan- gen, um den Rôshi zu widerlegen. Meine Skepsis hielt zwei Jahre an, bis mich schließlich ein älteres Mitglied des Zazen-Kai überredete, ein dreitägiges Sesshin mitzumachen. «Ich wette meinen Kopf, daß Sie als weiserer und stärkerer Mann zurückkommen», sagte er. Der Rôshi gab mir Mu als erstes Kôan. Während eine Hälfte von mir entschlos- sen um Kenshô rang, hielt sich die andere in Furcht vor den grimmi- gen Schlägen des Kyosaku zurück. Ich ging erst im folgenden Jahr wieder zu einem Sesshin und besuchte dann fünf hintereinander. Inzwischen waren all meine Zweifel über den Wert von Zen ge- schwunden, aber ich konnte trotz aller Anstrengungen nicht bis zum Kenshô vordringen. Jedesmal, wenn ich von einem Sesshin nach Hause kam, spürte ich, daß ich ruhiger geworden war und besser mit meinem Alltag fertig- werden konnte. Trotz dieses Gewinns kam es mir jedoch so vor, als hätte ich, ohne Kenshô, ein weiteres Jahr verloren. Das Jahr meines Studienabschlusses, 1954, war gekommen. Die Furcht, daß ich im Geschäftsleben keine Zeit mehr für Zazen haben würde, feuerte mich zu dem Entschluß an, noch vor Beendigung der

339 Schule Kenshô zu erlangen. In dieser Geistesverfassung beteiligte ich mich am März-Sesshin. Am dritten Tage traf mich folgende Bemer- kung des Rôshi mit besonderer Gewalt: «Mu ist nichts als Mu!» Es war eine einfache Feststellung, die ich oft von ihm gehört hatte, aber jetzt traf sie mich wie ein Blitz. «Warum in aller Welt habe ich mir das denn nur anders vorgestellt?» Ein Stein fiel mir vom Herzen; da das aber noch nicht Wesensschau war, verfiel ich wieder in Düsternis. Beim Nachmittags-Dokusan hatte ich dem Rôshi nichts zu sagen und kehrte niedergeschlagen auf meinen Platz zurück. Durch diesen Ein- blick hatte ich jedoch die Überzeugung gewonnen, daß mir Kenshô durchaus möglich war. Wiederholt hatte ich meine Mutter gedrängt, mich zu einem Zazen- Kai zu begleiten, und sie hatte das regelmäßig abgelehnt. Jetzt kam sie mit und erlangte sehr schnell Kenshô. Ich war sprachlos. Ihr Erlebnis brachte mich so in Feuer, daß ich beim Sesshin im folgenden Monat meine Anstrengungen verdoppelte. Mit Hilfe kräftiger Ermu- tigungen durch den Rôshi, der mich drängte: «Nur noch ein Schritt!» warf ich mich ingrimmig auf mein Kôan. Aber wie ich jetzt einsehe, faßte ich damals Mu in meinem tiefsten Unterbewußtsein noch immer als etwas außerhalb von mir Bestehendes auf. Aus diesem Grund erschien mir die Welt des Kenshô nie. Bitter enttäuscht sagte ich mir: «Du hast gesessen und gesessen und hattest doch keinen Erfolg. Etwas muß mit dir nicht stimmen.» Tief entmutigt redete ich mich in den Glauben hinein, daß mir von Grund auf die Möglichkeit zur Erleuchtung fehle. Dennoch fuhr ich weiter fort, Sesshin auf Sesshin zu besuchen, aus Gründen, die mir dazumal verborgen waren. Aber ich konnte mich nicht mehr mit gan- zer Seele in Zazen hineinlegen. Dann dachte ich: «Da das Universum und ich Eins sind, muß ich mich selbst begreifen, um den Sinn des Universums zu begreifen. Aber ich werde mich nicht begreifen kön- nen, wenn ich nicht ein für allemal die Gewohnheit aufgebe, Mu außerhalb von mir zu suchen.» Im folgenden Jahr hatte ich einen guten Teil meines alten Eifers wieder- gewonnen und konnte ruhigen, kraftvollen Sinnes Zazen sitzen. Das ermutigte mich, an mehreren aufeinanderfolgenden Sesshin teilzuneh-

340 men. Jedesmal, wenn ich von einem Sesshin in mein normales Leben zurückkehrte, war ich erstaunt, mich so verändert zu finden. Jeder Tag war ein Tag der Dankbarkeit, und wenn ich nach einem schwe- ren Arbeitstag zu Bett ging, war ich dankbar, daß ich lebte, obgleich ich nicht wußte, warum. Mittlerweile hatte ich ein beträchtliches theoretisches Wissen über Erleuchtung gewonnen; aber wenn ich daran dachte, daß es mir kein Kenshô gebracht hatte, ergriff mich rastlose Unzufriedenheit. Ich wußte, daß ich tief im Innern noch immer den Tod fürchtete und vor dem Leben zurückschrak. So war ich ausgespannt zwischen dem Gefühl der Dankbarkeit einerseits und dem der Furcht und Enttäuschung andererseits. An einem heißen Augustabend, als ich mit meinen Eltern eine Zeit- lang Zazen saß, erlebte ich mich plötzlich als eine kleine Welle, die sich endlos ins Universum ausbreitete. «Ich hab's! Da ist kein von mir getrenntes Universum», - flammte es wiederholt in meinem Sinn auf. Obgleich es nicht mehr als ein Einblick war, überzeugte es mich doch, daß ich mich Kenshô näherte, und so begann ich, ernsthafter zu sitzen. Meine Gewohnheit, über Mu nachzudenken, blieb mir jedoch. «Was für ein Fluch das Denken ist!» rief ich oft voller Ärger aus. «Es verwirrt uns den Sinn, schafft Kontroversen unter den Menschen, indem es sie voneinander isoliert, und führt sogar zum Krieg. Hör auf zu denken! Hör auf zu analysieren!» Nicht lange danach ging ich zu einem Zazen-Kai, bei dem YASUTANI Rôshi ein Teishô über die «Drei Tore des Oryû», ein Kôan aus dem Mumon-Kan, hielt. An einer Stelle sagte er: «Was ist eure Hand im Vergleich zu der eines Buddha? Wenn ihr im Schlaf nach einem ver- schobenen Kissen langt, bringt ihr es instinktiv in Ordnung. Unser ganzes Sein ist nicht anders als diese zeitlose Hand. Wenn euch das wirklich klar wird, werdet ihr spontan in Lachen ausbrechen.» Als ich diese Worte hörte, fühlte ich mich innerlich außerordentlich gereinigt und zitterte vor Freude. Da ich aber noch keine wahre Frei- heit gewonnen hatte, beschloß ich, beim Dokusan nichts davon zu sagen. Beträchtlich ermuntert erneuerte ich jedoch meine Anstren- gungen, um tiefer in mein Kôan einzudringen.

341 Das einwöchige August-Sesshin war gekommen. Auf Grund geschäft- licher Belastungen konnte ich erst am Mittag des zweiten Tages zum Tempel kommen. Bei diesem Sesshin war meine Taktik die, während der Sitzzeiten voll Entschlossenheit zu sitzen, einer Feuerkugel gleich, und mich in den Ruhezeiten vollkommen zu entspannen. Zu Beginn hatte der Rôshi alle erinnert: «Bei diesem großen Sesshin erlangt jedes Jahr mindestens einer Kenshô.» Auf der Stelle beschloß ich, daß, wenn einer Kenshô erreichte, ich es sein würde. Der vierte Tag war gekommen. Wieder und wieder wurde ich mit dem Kyosaku geschlagen, einmal so kräftig, daß Geist und Körper einen Augenblick lang gelähmt waren. An jenem Tage «kämpfte» ich am schwersten. Aber ich konnte trotz allem immer noch nicht zu Kenshô kommen. Es kam der fünfte Tag; nur anderthalb Tage blie- ben mir noch. Am sechsten Tag warf ich mich mit meinem letzten Jota Kraft in die «Schlacht» und ließ mich durch nichts und gar nichts ablenken. Nach der morgendlichen Hausarbeit und unmittel- bar vor dem Teishô des Rôshi schrie plötzlich ein Student, der neben mir saß (und der bei diesem Sesshin Kenshô erlangte) gellend auf: «Du alberner, alberner, dummer Kerl!» womit er sich selbst meinte. «Los, mach weiter! Noch ein Schritt, nur einer! Stirb, wenn es sein muß, stirb!» Die Kraft seiner Verzweiflung griff auf mich über, und ich konzentrierte mich, als hinge mein Leben davon ab. Mein Bewußtsein war so leer wie das eines kleinen Kindes, als ich den Darlegungen des Rôshi lauschte. Er las aus einem alten Kôan:

«Nicht einmal ein Weiser kann auch nur ein Wort über jenen Bereich (der Stille) mitteilen, aus dem die Gedanken hervorgehen ... Ein Stück Schnur ist ewig und grenzenlos ... Der bloße, weiße Ochse 37 vor euch ist rein, lebendig .. .38»

Während der Rôshi mit ruhiger, leiser Stimme sprach, spürte ich, wie jedes seiner Worte mir in die geheimsten Winkel des Bewußtseins ein- sickerte. «Nicht einmal ein Weiser kann ein Wort über jenen Bereich äußern, aus dem die Gedanken hervorgehen», wiederholte der Rôshi

37. Das heißt: Geist. Siehe 8. Kapitel. 38. Diese Zeilen stammen aus dem Kommentar zum Beispiel 94 im Hekigan-roku.

342 und fügte hinzu: «Ja, nicht einmal ein Buddha.» «Natürlich! Natür- lich!» wiederholte ich atemlos. «Warum nur habe dann ich nach sol- chem Wort gesucht?» Mit einem Mal wurde alles zu schierem Glanz, und ich sah und wußte, daß ich der Einzige im ganzen Universum bin. Ja, ich bin der Einzige! Obgleich ich nicht ganz überzeugt war, daß der Rôshi das als Kenshô bestätigen würde, beschloß ich, ihm beim Nachmittags-Dokusan meine Erkenntnisse vorzutragen. «Zeigen Sie es mir deutlicher!» ver- langte er. Ich kehrte auf meinen Platz in der Haupthalle zurück und nahm Zazen von neuem in Angriff. Ungefähr um sieben am Abend hörte ich folgende Worte über meinem Kopf explodieren: «Noch dreißig Minu- ten bis zum Dokusan! Faßt den Entschluß, zur Selbst-Wesensschau zu kommen! Das ist eure letzte Chance!» Wieder und wieder prasselten die Stockhiebe auf mich herab. Meine Konzentration wurde vollends verzweifelt. Schließlich dämmerte es mir: Es gibt Nichts zu er- kennen! Beim Dokusan prüfte mich der Rôshi mit: «Zeigen Sie mir Mu! Wie alt ist Mu? Zeigen Sie mir Mu, wenn Sie ein Bad nehmen. Zeigen Sie mir Mu auf einem Berg.» Meine Reaktionen kamen augenblicklich, und er bestätigte mein Kenshô. Als ich mich außen an der Tür nieder- warf, da ich den Raum des Rôshi verließ, strömte ich von einer Freude über, die jeder Beschreibung spottet. Ich kann diesen Bericht nicht schließen, ohne YASUTANI Rôshi meine tiefste Dankbarkeit auszudrücken, ihm, der mich, der ich so eigen- sinnig und mutwillig bin, dahin führte, mein Geistiges Auge zu öffnen, und auch allen anderen, die mir direkt oder indirekt geholfen haben.

7. Frau L. T. S., amerikanische Künstlerin, Alter 51

Ich war zu Zen und dem Pendle-Hill (Pennsylvania)-Sesshin indirekt und unausweichlich gekommen. Wenn ich jetzt einen Blick zurück- werfe auf meinen anscheinend so gewundenen Weg bis zum Augen-

343 blick der Wesensschau, sehe ich, daß er mich schnurgerade zum Klang jener winzigen Kinhin-Glocke hingeführt hat. Als Bildhauerin, Frau und Mutter, als Trinkerin und schließlich als Mitglied des «Alcoholics Anonymous» hatte ich gute Vorübung. Mir scheint, der erste Schritt zu diesem Leben war es, als ich mit ungefähr fünfzehn Jahren wußte, daß ich Künstlerin werden müsse. Dieses Wissen fiel zusammen mit einer völligen Ablehnung des Chri- stentums (wie ich es auffaßte) und einem ersten Tasten nach der Wahrheit in mir selbst. Ein paar Jahre später entdeckte ich den Stein, und wieder wußte ich, daß das Meißeln mein Weg war - langsam und mühsam -, wie auch das innere Tasten langsam und mühselig war. Ich war entschlossen, so viel als möglich zu erleben. So folgten Heirat und Familie. Aber mit der Zeit wurde mein Lebenseifer gedrosselt. Das Leben wurde mir zu viel, es begann, mich zu bedrücken und auf- zureiben. Da entdeckte ich den gesegneten Alkohol, der meine Qualen sanft linderte und meinen emporstrebenden Sinn von den Fesseln befreite. Der Stein ruhte still und unberührt. Mein Mann und die Kinder, die meine Liebe forderten, wurden beiseite geschoben. Keine Bildhauerei. Keine aufrichtige Annahme der Familie. Nur Qual und Schuld und Unzulänglichkeit. Und langsam übernahm der Alkohol die Führung und kontrollierte mein Leben. Ich kannte meinen Mittelpunkt nicht mehr. Das Leben war ein böser Traum. Von Furcht und Schuld und der heimlichen Flasche beherrscht, kämpfte ich mich von vierundzwanzig Stunden zu vierundzwanzig Stunden durch. Ich wollte nicht glauben, daß ich keinen Ausweg finden könnte. So folgten acht Jahre Psychia- trie und Versuche mit allen Methoden der Selbst-Disziplinierung, die ich nur kannte. Aber ich saß noch immer in der Falle. An einem Morgen, der nicht anders als all die anderen schrecklichen Morgen schien, rief ich «Alcoholics Anonymous» an, damit sie mir hülfen. Durch diese Tat wurde ich endlich dazu frei, mich selbst wahrhaft zu sehen und mit Hilfe all der anderen Alkoholiker, die dieselbe Hölle durchlebt hatten, ich selbst zu sein. Ich hörte auf zu trinken. Ich begriff, daß es etwas unendlich Mächtigeres gibt, als

344 meinen kleinen menschlichen Sinn. Und ich wußte, daß ich es finden, erkennen, schauen, sein müsse. Meine Suche hatte begonnen!

Ein paar Wochen danach, als ich müßig einen Stand mit verbilligten Büchern durchsah, suchte ich mir How to know God heraus, eine Übersetzung von PATANJALIS Aphorismen durch Swami PRABHAVA- NANDA und CHRISTOPHER ISHERWOOD. Ich war wie vom Donner gerührt! PATANJALI hatte vor etwa zweitausend Jahren das gewußt und gelehrt, was ich gerade für mich selbst entdeckt hatte. Dieses Buch las ich wieder und wieder, studierte es und zerbrach mir zwei Monate lang den Kopf darüber an Deck unseres Schoners, während wir auf einer Ferienreise die atlantische Küste entlang segelten. Ich ging all den Angaben der Fußnoten nach, bestellte Bücher und ver- schlang sie förmlich. Dem dringenden Bedürfnis nach einem Lehrer wurde dadurch ent- sprochen, daß ich Swami PRAMANANDA fand, der bereit war, mir zu helfen. Er leitete und lenkte mich, ließ mich mit geregelter Meditation beginnen, half mir, Halluzinationen von Wirklichkeit unterscheiden, und bereitete mich für den großen Vorstoß in Pendle Hill vor. Beim Lesen hatte ich in HUXLEYS Perennial Philosophy Hinweise auf Zen gefunden. Ich wußte, daß das etwas für mich war. Ich fuhr fort zu lesen, kriya-Meditation zu üben, wobei ich jedoch nicht nach Zen- Art saß. Gänzlich unerwartet bot sich mir die Möglichkeit, für einige Monate nach Japan zu fahren, um dort den Aufbau einer von mir entworfe- nen Ausstellung zu überwachen. Dort jagte ich erbarmungslos, hart- näckig Zen nach. Und dort wurde mir ebenso erbarmungslos gezeigt, daß der einzige Ort, wo ich es erjagen könne, in mir selbst liege. Man wies mich an zu sitzen. Ich saß. Ich saß in Sesshin des Engaku-Ji, des Ryutaku-Ji und kurz im Nanzen-Ji. Ich saß im Ryosen-An des Daitoku-Ji. Folgendermaßen war es dazu gekommen: Ehe ich Amerika verließ, hatte ich vom Engaku-Ji gehört. Also ging ich dorthin. Als ich bei einem kalten Novemberregen dort ankam, hatte ich keine Ahnung,

345 was ich tun sollte, keine Empfehlung an irgend jemanden, keine Kenntnis des Japanischen. Ohne zu wissen, wohin ich mich wenden sollte, stand ich unschlüssig da, völlig allein in einer grauen, verlasse- nen Landschaft, während der Regen meinen Regenmantel durchdrang, mir den Nacken hinunterlief und in meine Schuhe tröpfelte. Eine dunkle Gestalt lief in den Regen hinaus. Wir sahen einander hilflos an. Worte kamen unsicher hervor, japanisch und englisch. Er winkte mir, ihm zu folgen, und führte mich zu einer Tür, klopfte an und rief. Eine Gestalt erschien. Es war eine junge Engländerin, die mich nach lebhaftem Wortwechsel mit meinem Führer fragte, was sie für mich tun könne. Sie brachte mich zum leitenden Mönch und richtete es so ein, daß ich bleiben konnte. Sie waren dort gerade im Sesshin. Sie lehrte mich, wie ich mit den Mahlzeiten fertig würde, ersuchte um ein Gespräch mit dem Rôshi und dolmetschte für mich - sie war mein Führer und guter Freund. Ihr letztes Geschenk bestand darin, daß sie mich mit einem amerikanischen Zen-Schüler bekannt machte, der durch ein Telephongespräch erreichte, daß ich zu weiterem Sitzen zum Ryu- taku-Ji gehen konnte. So ging es fort und fort - Freundlichkeiten so vieler Menschen und schmerzhaftes, schmerzhaftes Sitzen. Wo auch immer ich in Japan Hilfe suchte, bei einem Rôshi, einem Mönch, einem Laienschüler, ich fand sie. Das Erbarmen all dieser Menschen mit meiner täppischen Unwissenheit war unendlich, und ich bin so dankbar dafür.

Der Klang jener winzigen Glocke beim Pendle-Hill-Sesshin war der Schock, die Gewalt, die die Wände einriß, welche im Verlauf von vier Jahren Zazen und von fünf Jahren Kriya-Yoga zuvor jeden Tag und jede Nacht langsam aufgerieben worden waren. Geduldig, eigen- sinnig hatte ich gesessen, gesessen, gesessen. Manchmal lange, manch- mal nur ein paar Minuten, aber immer, immer, jeden Tag. Das gedul- dige Sitzen war mir so vertraut geworden, daß ich es als ebenso natürlich und ereignislos hinnahm wie das Atmen. Als ich zum Pendle-Hill-Sesshin eintraf, hatte ich YASUTANI Rôshi noch nie gesehen. Ich hatte seinen Mönch-Dolmetscher im Ryutaku-Ji

346 getroffen, wo ich vier Jahre vorher an einem Sesshin teilgenommen hatte. Ich war für das körperliche Elend von viereinhalb Tagen Zazen gewappnet, wußte ich doch auch sehr wohl, daß der Lohn Klarheit und Frieden war. Nachdem ich 1961 das von NAKAGAWA Rôshi gelei- tete Sesshin in Delaware besucht hatte, hatte ich notiert: «Ich spüre, daß mir das Innerste zuäußerst gekehrt wurde, daß ich durchgeschüt- telt und in reinem, klarem Wasser gespült worden bin.» So begann also das Pendle-Hill-Sesshin. Da saßen ungefähr vierzig Unbekannte beisammen, einige nur aus Neugier, andere sehr ernst- haft. YASUTANI Rôshi teilte die Gruppe gemäß dem, was jeder als Zweck seiner Beteiligung angegeben hatte, in verschiedene kleine Gruppen ein. Er sprach zu jeder Gruppe einzeln und erklärte die Regeln, die in den kommenden viereinhalb Tagen zu befolgen waren. Ich gehörte zu denen, die Erleuchtung suchten, und dieser Gruppe gab er JÔSHÛS Mu als Kôan. Ich fing an, mit Mu zu sitzen. Am ersten Tage war Mu keine heiße Eisenkugel - es war vielmehr ein schwerer Bleiklumpen in meinem Bauch. «Schmelzen Sie das Blei!» befahl der Rôshi. Aber es wollte nicht schmelzen. So hämmerte ich also am nächsten Tag mit Mu und erkannte, daß sein Zentrum ein kristallen-strahlendes Licht war, wie ein Stern oder ein Diamant, so strahlend, daß es materielle Gegen- stände mit hellen Umrissen umgab und erleuchtete, meine Augen blen- dete und mich mit Licht erfüllte. Mein Körper kam mir schwerelos vor. Ich dachte: «Das ist Mu.» Aber der Rôshi ermahnte mich: «Hal- luzinationen. Beachten Sie sie nicht. Konzentrieren Sie sich kräftiger.» Am Ende jenes Tages war da kein Licht mehr, nur noch Schläfrigkeit, unendlicher Überdruß und Mu. Ehe ich zur Ruhe ging, schrieb ich mir etwas auf: «Jetzt bin ich entschlossen. Wenn andere es können, kann ich es auch! Und ich werde es tun! Ich werde den letzten Rest an Kraft und eigensinniger Entschlossenheit einsetzen.» Dann schlief ich, und Mu deckte meine Träume zu, und Mu ging bei jedem Atemzug ein und aus. Am dritten Tag wollten meine Augen nicht offen bleiben - sie schlos- sen sich bei jedem Atemzug. Hatte ich das abgewehrt, so war mein

347 Sinn sofort von Problemen meiner Familie und Heirat erfüllt. Es war ein schreckliches Ankämpfen gegen beides: Schlaf und Seelenqual. Mit jedem Atemzug beschloß ich, Mu zu packen, aber es sank und sank und löste sich in nichts auf. «Gehen Sie tiefer», sagte der Rôshi, «dringen Sie mit der Frage: ,Was ist dieses Mu?' bis zum tiefsten Grunde vor.» Ich drang tiefer und tiefer ... Ich verlor den Halt, und mir drehte sich alles. .. Zum Mittelpunkt der Erde! Zum Mittelpunkt des Kosmos! Zum Mittelpunkt. Ich war dort. Beim Klang der kleinen Kinhin-Glocke wußte ich plötzlich. Zu spät, um den Rôshi noch am gleichen Abend zu sprechen. So stürzte ich zum ersten Dokusan am Morgen. Fragen ... Scharfe Stimmen ... Lachen ... Bewegung... Der Rôshi sagte: «Jetzt begreifen Sie, daß Mu sehen - Gott sehen ist.» Ich begriff.

(Mehrere Wochen später, nach mancherlei Kôan-Zazen, beim ersten Sesshin in Brewster, New York): Ich fühle mich sauber. Ich fühle mich frei. Ich fühle mich bereit, jeden Tag voll freudigen Eifers nach Wahl zu leben! Mich entzückt das Abenteuer eines jeden Augenblicks. Ich habe das Gefühl, als wäre ich gerade von einem unruhigen, zusammenhanglosen Traum erwacht. Alles sieht anders aus! Die Welt sitzt mir nicht mehr schwer im Nacken. Sie ist unterhalb meines Gürtels. Ich schlug einen Purzelbaum und verschluckte sie. Ich bin nicht mehr rastlos. Endlich habe ich das, was ich will.

348 8. Frau D. K., kanadische Hausfrau, Alter 35

Kanada und die Vereinigten Staaten Die ersten Jahre meines Lebens verliefen ruhig und ereignislos. Keine Tragödie traf mich, und meine Eltern widmeten sich ganz der Aufgabe, mich und meine beiden Schwestern aufzuziehen. Nach den meisten westlichen Maßstäben könnte man es eine nahezu ideale Kindheit nennen. Doch von Anfang an gab es immer wie- der Zeiten, da Verzweiflung und Einsamkeit, ohne erkennbare Ursache auftauchten, in einem Strom von Tränen überflössen und mich unter Ausschluß alles anderen verschlangen. Zu solchen Zei- ten war das quälende Gefühl, gefangen zu sein, überwältigend, und allein schon, ein Mensch zu sein, war ein elendes und schmach- volles Los. In den ersten Jahren meines zweiten Jahrzehnts bekam ich einmal einige Hindu-Geschichten geliehen, die mein lebhaftes Interesse erreg- ten. Sie sprachen unumwunden von einer Vielzahl von Leben und der Freiheit der Seele, vom geistigen Selbst des Menschen und der Möglichkeit eines Lebens ohne physischen Körper. Die meisten Ein- zelheiten dieser Lektüre verdunsteten angesichts von etwas, das mein tieferes Sein erregte, und ich war glücklich, zu erfahren, daß es sol- che Auffassung gab. Die indischen Mythen über die Unbegrenztheit der Zeit rührten mich zutiefst an, und ich schwor mir, daß ich eines Tages selbst Indien aufsuchen würde. Mehrere Jahre nach meinem Schulabschluß ließ ich mich an der Uni- versität einschreiben und begann zu jener Zeit, ernsthaft religiöse Literatur zu studieren und versuchte mich sogar in manch einfacher Meditation. Die Universitätsjahre lehrten mich Freude und Anregun- gen intellektueller Entdeckungen kennen, sie waren aber gleichzeitig von wachsender Ruhelosigkeit erfüllt. Schließlich machte ich mein Abschlußexamen und begann mit den Studien für Fortgeschrittene. Gegen Ende des ersten Jahres nahm mein Leben eine unerwartete Wendung. Nach ein paar Monaten der Unentschlossenheit fuhr ich in die Vereinigten Staaten, um einen Amerikaner zu heiraten, den ich in Kanada getroffen hatte.

349 Ein paar Monate später fand unsere Hochzeit statt, und fast unmit- telbar danach erwachte ich, um mich als Witwe zu finden. Der gewaltsame, eigenhändig herbeigeführte Tod meines Mannes war ein Schock, schwerer als alles, was ich bis dahin erlebt hatte. Die Um- stände und Folgen stürzten mich in die tiefsten Tiefen meines Seins, dessen Grundlagen mit wahrhaft erschreckender Gewalt erschüttert wurden. Ich konnte mich des Gefühls der menschlichen Verantwor- tung dafür nicht entschlagen. Intuitive Erkenntnis, Reife, Weisheit - all das mangelte mir bitterlich. Zu jener Zeit wurde ich häufig von völliger Erstarrung befallen, und immer war ich voller Furcht, einer tiefen, durchdringenden Furcht, die lange anhielt, meine Atmung hemmte und mich am Essen hinderte. Oft fand ich mich des Nachts mit gekreuzten Beinen auf dem Fuß- boden sitzen, wie ich mich vor und zurück schaukelte und mit dem Kopf auf die Fliesen schlug, beinahe wahnsinnig vor Schmerz und Verzweiflung. Als ich eines Nachmittags von einer Besorgung zurückkam und meine Wohnung betrat, in der ich allein lebte, packte mich tiefstes Elend, und in meiner Hilflosigkeit sank ich zu Boden. «Ich sterbe», schluchzte ich, «ich habe alle meine Götter getötet. Ich habe kein Mittel zum Wiederaufleben. Ich bin völlig allein.» Nackte Angst und äußerste Verzweiflung hatten von mir Besitz ergriffen, und ich lag - ich weiß nicht, wie lange - da auf dem Boden, bis aus meiner Bauch- höhle ein Schrei ausbrach: «Wenn es irgendein Wesen im gesamten Universum gibt, dem es nicht einerlei ist, ob ich lebe oder sterbe - so hilf mir, ach, hilf mir!» Allmählich formte sich ein Gedanke, und ich begann zu schreiben. Ich hatte eine sehr gute Freundin, die vor kurzem der Welt entsagt hatte. Sie lebte zur Zeit in einem Ashram39 in Süd-Indien, und ich bat sie, ihre Meditationen auf mich zu richten, da ich Hilfe bitter nötig hätte und nicht mehr fähig wäre, mir selbst zu helfen. Sie antwortete schnell und schrieb, daß sie und andere im Ashram so viel geistige Hilfe sendeten, wie sie könnten. Ihre Reaktion berührte mich der-

39. Śrī AUROBINDO Ashram in Pondicherry. Ein Ashram ist ein Ort der Zurück- gezogenheit für geistige Übungen oder eine religiöse Gemeinschaft.

350 artig, daß ich beschloß, den Westen, so bald ich konnte, zu verlassen und nach Indien zu fahren. Viele Monate vergingen, ehe das möglich wurde. Ich spannte nun all meine Kraft an, um die Erbschaftsangelegenheit meines Mannes abzu- wickeln und meine Habseligkeiten zu verkaufen. Endlich schiffte ich mich erschöpft nach Indien ein mit der Absicht, dort zu bleiben, bis ich einen erleuchteten Lehrer gefunden hätte. Genau drei Jahre waren vergangen, seit ich in die Vereinigten Staaten gekommen war.

Indien und Burma Zwei Monate nach meiner Abreise von New York betrat ich an einem heißen Nachmittag das Gelände des großen Ashram, in dem meine Freundin lebte. Schweigend wurde ich in ihr winziges Zimmer geführt. Meine Erleichterung war so groß, daß ich, als sie sanft und lächelnd hereinkam, um mich zu begrüßen, in Tränen ausbrach. Meine Arme waren wie gelähmt, und ich wurde langsam ohnmächtig. Die Jahre in den Vereinigten Staaten waren doch, ohne daß ich mir darüber ganz im klaren gewesen war, so voller Angespanntheit und Kampf gewesen, daß ich mich dieser Stille nicht spontan anpassen konnte. Die Angespanntheit von Leib und Seele blieb mir durch die Macht der Gewohnheit noch lange. Der Ashram, der an der Küste des Bengalischen Golfs liegt, wirkte verjüngend. Aber metaphysische Spekulationen und philosophische Diskussionen sind in Indien sehr mächtig, und dem war ich stets schnell verfallen. Während ich teils davon angeregt wurde, warnten mich doch meine tiefsten Instinkte, daß sich das am Ende als frucht- los erweisen würde. Eine Lebensordnung, die Studien und Lesen derart fördert, schien mir eben das zu sein, was ich gerade zu jener Zeit nicht haben sollte. Ich spürte ein wachsendes Bedürfnis nach streng geleiteter Meditation. Meine steigende Unzufriedenheit mit dem, was ich als wahllose Medi- tation im Ashram ansah, fiel zeitlich zusammen mit dem Besuch eines amerikanischen Buddhisten, der mehrere Jahre lang in Japan Zen geübt hatte. Was mich an diesem Amerikaner besonders beein- druckte, war die Heiterkeit, mit der er sich auf die mannigfachen

351 Gegebenheiten, die er im Ashram fand, einließ und sich darein ver- tiefte, und sein mitfühlendes Interesse am Leben aller, die ihm begeg- neten, einschließlich meines eigenen, das so voll war von verzwei- felten und unausgeglichenen Bestrebungen. Ich beschloß, nach Japan zu fahren, wenn ich seine Hilfe finden könnte. Die bot er mir reich- lich und versicherte mir, daß er mir helfen würde, einen Zen-Lehrer dort zu finden. Nachdem ich den Ashram verlassen hatte, fuhr ich kreuz und quer durch Indien, besuchte andere Ashrams, sah mir archäologisch inter- essante Orte gut an und nahm die reiche Kunde und die alles durch- webende religiöse Atmosphäre der heiligen buddhistischen Stätten in mich auf: der Schreine, Tempel und Höhlen, die Indien im Überfluß besitzt. Eine überwältigende Intensität geistiger Schau beseelt seine Architek- tur und seine gewaltigen Höhlen-Skulpturen, so daß man solche Höh- len nicht betreten kann, ohne von dieser religiösen Inbrunst mit fort- gerissen zu werden. Wenn ich vor dem riesigen, aus dem Felsen her- ausgehauenen Buddha stand, zitterte ich geradezu vor Ehrfurcht, und mein Entschluß, dem Weg des Buddha zu folgen, erhielt den stärksten Antrieb.

Ich hatte lange darauf gehofft, Burma aufsuchen zu können, von dem ich mir vorgestellt hatte, daß es in seiner einzigartigen Anteilnahme an allem Religiösen als der Grundlage des Alltagslebens einzig Tibet nachstand. Als mein amerikanischer Freund mir schrieb, daß die Meditations-Zentren von Burma unter all denen der südost-asiatischen Länder als die besten bekannt seien, und vorschlug, daß ich mich ihm auf fünf Wochen zu intensiver Meditation in der Wirkungsstätte eines berühmten burmesischen Meisters, MAHASI SAYADAM, in Rangun anschlösse, ergriff ich daher diese Gelegenheit mit beiden Händen. Damit begann meine erste regelrechte Meditationsübung unter der Leitung eines Lehrers, und das erwies sich in jeder Hinsicht als äußerst schmerzhaft. Die heiße Jahreszeit hatte schon angefangen, als ich nach Rangun kam. Ich zog mir bald ein Fieber mit einem quälenden Husten zu. Beides hielt fast bis zu meiner Abreise an und

352 nahm mich beträchtlich mit. Zu der schrecklichen Hitze und der dadurch hervorgerufenen Lethargie kam die unaufhörliche Anstren- gung, allein in einer kleinen, kahlen Zelle Stunde um Stunde auf einem Bett aus Holzbrettern zu sitzen, wobei ich gegen die brennen- den Schmerzen in Knien und Rücken ankämpfte, die durch das Sitzen mit verschränkten Beinen verursacht wurden. Für den Anfänger ist es unerträglich schwer, allein zu sitzen und nicht die unsichtbare Hilfe von anderen zu haben, die mit ihm zusammen sitzen, und auch die sichtbare Unterstützung durch einen abwechslungsreichen Stun- denplan, wie beim Zen in Japan, zu entbehren. So ertappt man sich bald dabei, wie man nach Mitteln sucht, um Langeweile und Schmer- zen zu entkommen. Die Meditation selbst bestand in der Konzentration auf den an- und abschwellenden Atem, wobei sich die Aufmerksamkeit auf das Zwerchfell richtete. Wenn der Sinn abschweifte (was er wiederholt tat), mußte er mit den Worten «denken, denken, denken» zurückge- rufen werden, bis sich die Aufmerksamkeit wieder im Zwerchfell festsetzte. Jede andere Ablenkung wurde ähnlich behandelt. «Husten, husten», wenn man hustete; «hören, hören», wenn irgendein Laut die Aufmerksamkeit gefangennahm. Eine Stunde des Sitzens wech- selte mit einer Stunde Gehen ab, was meist in einer Begräbnisgangart, auf und ab vor dem eigenen Raum, in völligem Schweigen vor sich ging. Die Hände hielt man dabei auf dem Rücken, und das Bewußt- sein war einzig auf die Beobachtung eines jeden Schrittes konzen- triert. «Anheben, anheben», wenn der Fuß aufgehoben wurde; «bewe- gen», wenn er vorwärts bewegt wurde; «aufsetzen», wenn er auf den Boden aufgesetzt wurde. Täglich sprachen wir mittags mit unserem Präzeptor, einem der Mönchs-Ältesten, der uns auf unsere Fortschritte hin prüfte. Seine Fragen gingen in die kleinsten Einzelheiten, und er verlangte genaue Angaben über unsere Sitzzeiten. Als ich ihm klagte, daß mein häufiges geistiges Abschweifen auf Langeweile zurückzuführen sei, lachte er und sagte mir, daß ich «gelangweilt, gelangweilt, gelangweilt» den- ken solle, bis die Langeweile verschwände. Zu meiner Überraschung wirkte das.

353 Bei der Aufnahme in das Meditations-Zentrum mußte ich, wie jeder andere, eine Garantie unterschreiben, daß ich die buddhistischen Gebote40 halten würde, die das Essen nach 12 Uhr mittags unter- sagten, und daß ich nicht mehr als nachts fünf Stunden schlafen würde. Das Essen wurde mir zweimal am Vormittag in Essensträgern an die Tür gebracht. Ich verzehrte es allein, während ich meditierte «heben, heben, stecken, stecken, kauen, kauen, schlucken, schlucken». In gleicher Weise mußten die winzigsten Einzelheiten jeglicher Ver- richtung, ob geistig oder körperlich, mit vollster Aufmerksamkeit behandelt werden. Hier an dieser Stätte wurde ich zum ersten Mal im Leben gesell- schaftlich auf einen Platz unter den Männern verwiesen, ja, bei einer Ordnung, die Mönche an die Spitze stellte, darunter die Nonnen, dann Laienbrüder und schließlich Laienschwestern, auf die unterste Stufe überhaupt. Nichtsdestoweniger war ich ungeheuer dankbar für diese Gelegenheit, Meditation zu üben, mochte es auch in so niedriger Position sein. Später sah ich ein, daß es nur mein Ich war, das mich dazu geführt hatte, meiner Position vor allem Beachtung zu schenken. Am Ende der fünf Wochen hatten sich meine Konzentration und Gesundheit beträchtlich gebessert, trotz oder wegen der heftigen Schmerzen und des Unbehagens, die ich aus freien Stücken auf mich genommen hatte. Die Umwendung des Bewußtseins von nach außen gewandter Aktivität zu innerer Kontemplation war bei weitem die lohnendste Aufgabe, der ich mich je gewidmet hatte, und fraglos die schwierigste. Die Außenwelt schien meinem frischen Blick strahlend schön, als ich erneut in sie hinaustrat, und ich war voll Heiterkeit und Gelassenheit, die, obgleich noch nicht tief, doch alles übertrafen, was ich je erlebt hatte. Ich wußte, daß ich den ersten Schritt in der Richtung getan hatte, in die ich gehen wollte.

Japan und Zen Gleich am Tag meiner Ankunft in Japan führte mich mein amerikani- scher Freund zum Ryutaku-Ji, einem Rinzai-Kloster, das gleich einem

40. Die des Hīnayâna, die etwas von denen des Mahâyâna abweichen. Siehe unter «Gebote» im 10. Kapitel.

354 riesigen Vogel inmitten von Hainen hochragender Kiefern und Bam- busbäume im Schatten des majestätischen Fujiyama sitzt und auf eine Hügelkette von atemberaubender Schönheit hinunterblickt. Dank der Großzügigkeit seines Meisters NAKAGAWA SÔEN Rôshi sollte das für die nächsten fünf Monate mein Heim sein. Unter seiner gütigen Führung lernte ich Ordnung und Regeln des Klosterlebens. Vom Gong gerufen, lernte ich zu der unglaublich frühen Stunde um 4 Uhr aufstehen, in mein Klostergewand schlüpfen, mein Gesicht mit kal- tem Wasser abspülen und in der kalten Morgendämmerung mit den Mönchen zusammen meinen Platz in der Haupthalle zum frühmor- gendlichen Sûtra-Rezitieren einnehmen. Das Intonieren der Sûtras wurde zu einem der reichsten Erlebnisse meines Lebens und inspirierte mich zutiefst. Langsam brach die Ungeduld meines Wesens zusammen, und ein gewisses Maß von Gelassenheit breitete sich in mir aus. Die langen Zeiten, die ich auf schmerzenden Knien, zitternd in der zugigen Halle darauf wartete, daß ich an die Reihe käme, zum sanzen vor dem Rôshi zu erscheinen, zwangen mich zu einer Geduld, deren ich mich nicht für fähig gehalten hatte. Die täglichen Stunden des Zazen und mehr noch die bei Sesshin waren ebenfalls unter Schmerzen gelernte Lektionen in Geduld und Ausdauer, die noch von den der- ben Schlägen des Kyosaku quer über meine gebeugten Schultern unterstrichen wurden. Es lag teilweise an dieser Rinzai-Methode, bei der der Stock von vorn her in Antwort auf eine bittende Gebärde gebraucht wurde, was mich später mit heftigem Widerwillen gegen den Kyosaku erfüllte, wenn man nach Sôtô-Art plötzlich und ohne Vorwarnung von rückwärts damit geschlagen wird, da man mit dem Gesicht der Wand zugekehrt sitzt. Zum Teil lag es auch an meinem westlichen Erbe, das mich gelehrt hatte, Hiebe als Schande für den Menschen anzusehen. Mein Entschluß, wieder zu heiraten, führte mich von diesem Rinzai- Kloster weg, und ich schloß mich der Gruppe an, zu der mein Mann gehörte, einer Sôtô-Zen-Gruppe des Taihei-Ji am Rande von Tokyo, geleitet von YASUTANI Rôshi. Da fast alle Anhänger dieses Zen-Mei- sters Laien beiderlei Geschlechts sind, werden die Sesshin weniger

355 streng eingeteilt als in einem Kloster, damit es den Teilnehmern mög- lich ist, so viel vom Sesshin mitzumachen, wie ihre Berufe es erlauben. Demzufolge gibt es ein dauerndes Kommen und Gehen, das anfangs höchst störend wirkt. Die strenge äußere Disziplin, die das Kloster- leben aufzwingt, mußte hier von jedem selbst aufgebracht werden. Ich wurde bald gewahr, daß hinter der scheinbar so entspannten Atmosphäre beim Sesshin ein gespannter Ernst stand. Die beschränk- ten Räumlichkeiten dieses Tempels brachten mich mit den anderen in näheren Kontakt. Ich entdeckte, daß ich mich nicht mehr nachts zum Schlafen allein in meinen winzigen Raum zurückziehen konnte, sondern mich mit einer Polstermatte41 begnügen mußte, die einfach in einem Zimmer, das ich mit vielen anderen teilte, ausgebreitet wurde. Für mich war es eine ziemlich unangenehme Überraschung, als ich nach der strengen, aber weiträumigen Atmosphäre des Klo- sters Zazen nun in diesen (für mich) so beengten Verhältnissen üben mußte. Nach ein paar Sesshin in diesem Tempel sah ich jedoch ein, daß das Sitzen mit Menschen, die gleich mir weder Nonnen, noch Mönche, noch Priester waren, wechselseitig anregend und inspirie- rend wirkte. Das Rôhatsu-Sesshin im Taihei-Ji näherte sich, und meine Gefühle hinsichtlich meiner Beteiligung waren geteilt. Ich hatte verschiedene Berichte über dieses alljährliche Sesshin mitten im Winter von Leu- ten gehört, die es in Klöstern erlebt hatten. Es war als das schwerste des ganzen Jahres bekannt, ein dauernder Kampf gegen Kälte und Müdigkeit. Ich hatte tiefe Furcht vor großer Kälte. Durch das Zit- tern würde ich mich körperlich derart verkrampfen, daß ich meine Sitzhaltung nicht durchhalten könnte. Und unter großer Müdigkeit wurde mir ganz schwindlig. Diese beiden sah ich als meine wirkli- chen Feinde an. Die Tatsache jedoch, daß dieses Sesshin die Erleuch- tung des Buddha hervorhebt, ein Ereignis, das gerade auf den Tag vor meinem Geburtstag fällt, bewegte mich tief. Zuletzt beschloß ich, doch hinzugehen und all meine Kraft zusammenzunehmen. Das

4l. Diese «futon», Schlafmatten, entsprechen ungefähr unseren wattierten Ma- tratzenauflagen in Aussehen und Zweck, bieten die Tatami des Fußbodens doch bereits die eigentliche «Matratze», d. Ü.

356 war mein sechstes Sesshin in Japan. Zum ersten Mal hatte ich die feste Überzeugung, daß es mir durchaus möglich war, bei dem bevor- stehenden Sesshin mein Wahres Selbst schauend zu erkennen. Ich spürte auch, daß ich das bitter nötig hatte. Wochenlang war ich wie- der von der alten Rastlosigkeit und Angst erfüllt gewesen, gegen die ich so sehr angekämpft hatte, als ich in den Vereinigten Staaten war. Hinzu kam, daß ich die gedanklichen und gefühlsmäßigen inneren Brandungen, die bisher eine so beherrschende Rolle in meinem Leben gespielt hatten, gründlich satt hatte. Ich hatte jetzt das Gefühl, daß ich mir einzig durch Selbst-Wesensschau einen Weg aus diesem Unbe- hagen bahnen konnte. Ich packte meine wärmste Kleidung ein, und als ich den Schlüssel im Schloß umdrehte, überkam mich ein tiefes Glücksgefühl. Im inner- sten Herzen wußte ich, daß der Mensch, der diese Tür nach dem Sesshin aufschließen würde, nicht mehr derselbe sein würde, der sie jetzt verschloß. Den ganzen ersten Tag des Sesshin über war es mir buchstäblich unmöglich, gleichmäßig festen Sinnes zu sein. Das Kommen und Gehen der anderen Teilnehmer und auch der Lärm und die Ver- wirrung, die durch die Anwendung des Kyosaku hervorgerufen wur- den, verursachten dauernde Störungen. Als ich dem Rôshi klagte, wie viel besser mein Zazen gewesen war, als ich allein zu Hause saß, gebot er mir, den anderen keine Beachtung zu schenken, und wies darauf hin, wie wichtig es sei, unter den verwirrendsten Umständen meditieren zu lernen. Ich wurde jedoch das ganze Sesshin über nie mit dem Kyosaku geschlagen. Es hatte mich bei früheren Sesshin der- art abgelenkt, daß der Rôshi Anweisung gegeben hatte, mich nicht zu schlagen. Gegen Ende des zweiten Tages war meine Konzentration sicherer geworden. Ich hatte nicht mehr so große Schmerzen in den Beinen, und die Kälte war dank all der Kleidung, die ich mitgenommen hatte, erträglich. Es gab jedoch ein Problem, das für mich mehr und mehr an Bedeutung gewann. Man hatte mir wiederholt gesagt, ich solle meine Aufmerksamkeit in meine Bauchhöhle, genauer gesagt, auf die Stelle handbreit unter dem Nabel richten. Je mehr ich das

357 versuchte, desto weniger verstand ich, was es mit dieser Bauchhöhle für eine Bewandtnis habe, was diese Stelle so bedeutsam macht. Der Rôshi hatte sie Zentrum oder Brennpunkt genannt, aber das hatte für mich nur philosophische Bedeutung. Nun sollte ich also mein Bewußtsein in diesen «philosophischen Punkt» verlagern und dabei andauernd Mu wiederholen. Ich konnte zwischen den Bauchorganen und dem Vorgang der Zen-Meditation und noch mehr dem der Erleuchtung keine Beziehung finden. Der Rôshi hatte mir allerdings das Kôan Mu zugewiesen, nachdem er sich von meinem ernsthaften Verlangen nach Selbst-Wesensschau überzeugt hatte, und mich über seinen Zweck und seine Anwendung unterrichtet. Indessen war ich noch immer in Verwirrung darüber, wie ich denn Mu sagen sollte. Zuvor hatte ich versucht, es als das Gleiche wie das indische Man- tra Om anzusehen, und mich bemüht, mit seinen Vibrationen eins zu werden, ohne danach zu fragen, was Mu sei. Jetzt begann ich, mir Mu als den Diamanten am Ende eines Bohrers vorzustellen, der sich durch meine Bewußtseinsschichten hindurcharbeitet, die ich mir wie geologische Schichten vorstellte und durch die ich schließlich zu etwas vordringen würde, von dem ich nicht wußte, was es war. Am Morgen des dritten Tages konzentrierte ich mich wirklich, von der Bohrer-Analogie geleitet. Ich konnte jetzt mein Bewußtsein auf etwas in meinem Unterleib richten, ohne jedoch genau zu wissen, wohin; mein Sitzen bekam eine felsenfeste Stabilität. Mitten am Vor- mittag, gleich nach den Darlegungen des Rôshi, kam ich in ziem- lich tiefe Konzentration hinein, steigerte die Kraft eines jeden Atem- zuges, der mit der Wiederholung von Mu synchronisiert war. Ich erwartete, daß diese gesteigerte Anstrengung meine Konzentration noch mehr steigern würde. Nach etwa fünfzehn Minuten brachte die Kombination von gewaltsamem Atmen und dem Wiederholen von Mu ein seltsames Prickeln in meinen Handgelenken hervor, das sich allmählich über Hände und Finger und auch nach oben zu den Ell- bogen hin ausbreitete. Als diese Empfindung ziemlich stark geworden war, erkannte ich sie als das wieder, was ich bei verschiedenen Anläs- sen in meinem Leben unter schwerem Schock erlebt hatte. Ich sagte mir, daß ich vielleicht Kenshô erreichen würde, wenn ich die Kraft

358 von Atmung und Konzentration noch mehr steigern würde. Das tat ich, erreichte aber damit nur eine Verschlechterung der Lage und kam schließlich einer Ohnmacht nahe. Kurz ehe dieser Zustand ein- setzte, wurde ich von tiefstem, qualvollstem Gram ergriffen, der hef- tige Schüttelkrämpfe und Zähneknirschen mit sich brachte. Nervöse Anfälle schüttelten mich wieder und wieder. Ich weinte bitterlich und wand mich, als ob ein reißender elektrischer Strom mich durch- brandete. Dann fing ich an, kräftig zu schwitzen. Es kam mir vor, als risse das Leid des gesamten Weltalls an meinem Bauch und als würde ich in einen Strudel unerträglicher Qualen eingesaugt. Etwas später - ich weiß nicht genau, wann - befahl mir mein Mann, wie ich mich erinnere, daß ich mit Zazen aufhören und mich hinlegen solle, um mich auszuruhen. Ich brach auf meinem Kissen zusammen und begann zu zittern. Meine Hände waren nun ganz steif; weder meine Finger, die in seltsamen Winkeln abstanden, noch meine Ellbogen ließen sich abbiegen. Mir schwirrte der Kopf, und ich lag erschöpft da. Langsam entspannten sich die Nerven. Innerhalb einer halben Stunde war alles verebbt, ich kam wieder zu Kräften und war in jeder Hinsicht bereit, Zazen wieder aufzunehmen. Beim Dokusan am Nachmittag fragte mich der Rôshi sofort, was geschehen sei. Als ich es ihm erzählte, sagte er mir, daß es ein Makyô war und daß ich weiter Zazen üben solle. Er kündigte mir an, daß sich von jetzt ab solche Dinge öfter ereignen könnten; sie seien ein Zeichen dafür, daß sich meine Meditation vertiefe. Er unterwies mich dann, Mu an der Stelle des Sonnengeflechts zu suchen. Bei dem Wort «Sonnengeflecht» schnappte plötzlich etwas in mir ein und alles stand zum ersten Mal an seinem Platz - ich wußte genau, woran ich war und was ich zu tun hatte. Als ich am nächsten Morgen, dem vierten Tag, um vier Uhr früh bei dem Glockenklang aufwachte, merkte ich, daß ich mich nicht einmal im Schlaf von Mu getrennt hatte, was eben das war, worauf der Rôshi dauernd gedrängt hatte. Bei der ersten Sitzrunde vor dem Morgen-Dokusan zeigten sich wieder die Symptome des Vortages. Diesmal sagte ich mir, daß es nur ein Makyô sei, und machte einfach weiter, entschlossen, den Sturm durchzustehen. Allmählich jedoch

359 breitete sich die Lähmung auch über meine Beine aus, und ich konnte gerade noch meinen Mann irgendwo in der Ferne sagen hören, daß ich in Trance sei. Ich meinte, daß mein Körper gleich anfangen würde zu schweben, machte aber immer noch mit Zazen weiter. Dann fiel ich hilflos um und lag still. Als ich mich wohl genug fühlte, um wieder zu beginnen, war das Morgen-Dokusan vorüber. Allmählich überlegte ich, daß ich irgend etwas falsch machen müsse, meine Kräfte in irgendeiner Weise falsch lenkte. In der Ruhepause nach den Unterweisungen wurde mir plötzlich klar, daß jenes Zen- trum, auf das ich mein Bewußtsein richten sollte, nur eine mir seit langem wohlbekannte Stelle sein könne. Von früher Kindheit an war es jener Bereich, auf den ich mich stets innerlich zurückgezogen hatte, um zu überlegen. Ich hatte mir eine ganze Reihe bildhafter Vorstellungen darum gemacht. Wann immer ich die «Wahrheit» einer Situation begreifen wollte, mußte ich mich dieser besonderen Stelle zuwenden, um über solche Probleme nachzusinnen, die man in kindlicher Geistesverfassung, frei von Vorurteilen, angehen mußte. Ich hielt dabei einfach mein Bewußtsein dort, verhielt mich still, fast ohne zu atmen, bis etwas verschmolz. Ich glaubte, das müsse die Stelle sein, die der Rôshi meinte. Ich machte sie intuitiv ausfindig und zentrierte Mu dort mit all meiner Kraft. Nach etwa einer halben Stunde bildete sich ein warmer Fleck in meinem Unterleib, er griff langsam auf das Rückgrat über und kroch allmählich die Wirbel- säule hinauf. Das war es, was ich angestrebt hatte. Sehr erhoben berichtete ich beim nächsten Dokusan dem Rôshi, daß ich die Stelle gefunden hätte, und beschrieb ihm ihre Wirkungsweise, wie ich sie stets erlebt hatte. «Gut!» rief er aus. «Jetzt also weiter!» Als ich auf meinen Platz zurückgekehrt war, warf ich mich mit sol- cher Kraft auf Zazen, daß nach kurzem die Lähmung sich wieder zeigte - der bisher heftigste Anfall. Ich konnte mich überhaupt nicht bewegen; mein Mann mußte mir beim Hinlegen helfen, und er deckte mich mit Decken zu. Während ich dort lag und mich erholte, dachte ich: Mein Körper kann offensichtlich die Anstrengungen, die ich ihm zumute, nicht aushaken. Wenn ich Einblick in Mu gewinnen soll, muß es allein auf geistige Weise geschehen, und ich muß meine Kör-

360 per- und Nervenkräfte, die für den Endspurt aufgespart werden müssen, irgendwie zurückhalten. Als ich mich diesmal wieder erholt hatte, versuchte ich, mich zu kon- zentrieren, ohne Mu laut werden zu lassen oder zu denken, fand das aber sehr schwierig. Praktisch bedeutete das die Trennung von Kon- zentration und Atemrhythmus. Es gelang mir jedoch nach wiederhol- ten Versuchen, und ich konnte mein Bewußtsein gleichmäßig auf meinen Bauch richten, so als ob ich etwas höchst aufmerksam anstarrte, wobei ich den Atem jeden Rhythmus nehmen ließ, der ihm beliebte. Je mehr ich mich mit dem in den Bauch verlagerten Bewußt- sein konzentrierte, desto mehr Gedanken kamen auf, gleich Wolken. Aber sie waren nicht begrifflicher Art. Sie waren wie Trittsteine, die mir die Richtung wiesen. Ich sprang von einem zum anderen und bewegte mich solchermaßen unaufhörlich einen gut gekennzeichneten Pfad entlang, dem zu folgen mir meine Intuition gebot. Indessen meinte ich, daß die Gedanken von einem Punkt an aufhören müßten, so daß mein Sinn vor Kenshô ganz leer würde, wie man mich glau- ben gelehrt hatte. Das Vorhandensein dieser Gedanken zeigte mir also, daß ich mich noch weit vom Ziel befinden müsse. Um so viel Kraft als nur möglich aufzusparen, entspannte ich meine Haltung und zog die Decke, die meinen Körper lose umhüllte, über den Kopf, um mich zu wärmen. Ich ließ meine Hände schlaff im Schoß ruhen und löste meine Beine zu einem lockeren Schneidersitz. Selbst das bißchen Energie, das dadurch dem Geist zusätzlich zur Verfügung stand, erhöhte die Intensität meiner Konzentration. Beim Dokusan am Morgen des fünften Tages sagte mir der Rôshi, daß ich an einem entscheidenden Punkt angekommen sei und daß ich mich keinen Augenblick von Mu trennen dürfe. Da ich fürchtete, daß die noch übrigen zwei Tage und die eine Nacht nicht mehr genü- gend Zeit böten, klammerte ich mich an Mu wie eine Bulldogge an einen Knochen - so verbissen, daß Glocken und andere Zeichen mir undeutlich und unwirklich wurden. Ich konnte mich nicht mehr erin- nern, was wir tun sollten, wenn diese Zeichen erklangen, und mußte dauernd meinen Mann fragen, was sie bedeuteten. Um bei Kräften zu bleiben, aß ich tüchtig bei den Mahlzeiten und nahm alle Ruhe-

361 pausen wahr, die der Sesshin-Stundenplan nur erlaubte. Ich kam mir vor wie ein Kind, das auf eine seltsame neue Reise geht, Schritt für Schritt vom Rôshi geführt. Als ich an jenem Nachmittag zum Bad ging, dachte ich unterwegs auf der Straße über Mu nach. Allmählich wurde ich ärgerlich. Was ist dieses Mu überhaupt? fragte ich mich. Was in Himmels Namen kann es nur sein? Es ist einfach lächerlich! Ich bin sicher, daß es so etwas wie Mu gar nicht gibt. Mu ist überhaupt nichts! rief ich erbit- tert aus. Kaum hatte ich gesagt, daß es nichts sei, da erinnerte ich mich der Identität der Gegensätze. Natürlich - Mu ist gleichermaßen alles! Während ich badete, dachte ich: Wenn Mu alles ist, so ist es auch das Badewasser, so ist es die Seife, so ist es die Badenden. Diese Einsicht gab meinem Sitzen einen neuen Impuls, als ich es wieder aufnahm. Der Rôshi pflegte jeden Morgen um halb fünf die Sitzenden zu inspi- zieren und zu ihnen zu sprechen. Er benutzte nun das Gleichnis einer Schlacht, in der die Mächte der Unwissenheit und der Erleuchtung gegeneinander antraten, und er drängte uns, den «Feind» mit größe- rer Gewalt «anzugreifen». Jetzt sagte er: «Ihr habt das Stadium des Nahkampfs erreicht. Ihr könnt jegliche Mittel und jegliche Waffen gebrauchen!» Bei diesen Worten fand ich mich urplötzlich in einem tiefen Dschungel, wie ich auf der Suche nach meinem «Feind» durch die Dunkelheit des dichten Laubes brach, wobei mir ein großes Mes- ser am Gürtel schwang. Dieses Bild kam mir wieder und wieder, und ich nahm an, daß ich diesen «Feind», dem ich jetzt zu Leibe rückte, um ihn endgültig zu beseitigen, irgendwie mit Mu überwältigen müßte. Am Nachmittag des sechsten Tages war ich in meiner Vorstellung wieder dabei, mir einen Pfad durch den Dschungel zu schlagen, brab- belte dabei vor mich hin und spähte suchend nach einer Öffnung in der Dunkelheit aus, wobei ich auf die «Flut von Licht» wartete, die besagen würde, daß ich am Ende meines Pfades angekommen sei. Plötzlich wurde mir mit einem Ausbruch inneren Gelächters klar, daß das einzige Mittel, diesen «Feind» zu überwältigen, darin bestand, ihn, wenn er erschiene, zu umarmen. Kaum hatte ich das

362 gedacht, als sich dieser «Feind» auch schon vor mir materialisierte, in das Kostüm eines römischen Zenturio gekleidet, sein kurzes Schwert und den Schild zum Angriff erhoben. Ich stürzte auf ihn zu und schloß ihn voller Freude in die Arme. Er zerschmolz zu nichts. In diesem Augenblick sah ich das strahlende Licht durch die Düsternis des Dschungels scheinen. Es weitete sich und weitete sich. Ich stand da und starrte darauf hin, und in seinen Mittelpunkt sprangen die Worte «Mu bin ich!». Ich stutzte - sogar der Atem setzte mir aus. War das denn möglich? Ja, so war es! Mu ist ich, und ich bin Mu! Eine wahre Sturmflut von Freude und Erleichterung durchbrandete mich. Am Ende der nächsten Gehrunde flüsterte ich meinem Mann zu: «Wieviel muß ich von Mu begreifen, wenn ich Mu begreife?» Er sah mich scharf an und fragte: «Begreifst du es wirk- lich?» «Ich möchte, daß der Rôshi mich beim nächsten Dokusan prüft», sagte ich. Das nächste Dokusan war erst in fünf Stunden. Ich war ungeduldig zu erfahren, ob der Rôshi mein Verständnis bestäti- gen würde. In meinem tiefsten Herzen war ich sicher, daß ich wußte, was Mu war, und ich sagte mir mit Entschiedenheit, daß ich Zen für immer verlassen würde, wenn meine Antwort nicht angenommen würde. Wenn ich unrecht hatte, dann hatte Zen unrecht. Trotz mei- ner Gewißheit meinte ich jedoch, daß ich vielleicht auf die Prüfungs- fragen des Rôshi nicht in angemessener Zen-Art reagieren könnte, da ich mit den Zen-Ausdrücken noch nicht vertraut war. Schließlich kam Dokusan heran, und ich bat den Rôshi, mich zu prüfen. Ich erwartete, daß er mich nur fragen würde, was Mu sein. Statt dessen fragte er mich jedoch: «Welche Länge hat Mu? Wie alt ist Mu?» Ich dachte, dies seien typische Trickfragen des Zen und saß schweigend und verwirrt da. Der Rôshi beobachtete mich scharf und sagte mir dann, daß ich Mu deutlicher schauen müsse. Ich solle in der noch übrigen Zeit Zazen mit allergrößter Intensität üben. Als ich auf meinen Platz zurückgekehrt war, warf ich mich abermals mit jeder Faser Kraft auf Zazen. Jetzt gab es keine Gedanken mehr - ich hatte sie alle erschöpft. Ich saß und saß Stunde um Stunde und dachte einzig mit gesammeltem Geist Mu. Allmählich bildete sich wieder die Hitze in meiner Wirbelsäule. Ein heißer Fleck erschien

363 zwischen meinen Augenbrauen und vibrierte heftig. Ich meinte, daß sicher etwas geschehen müsse, zum allermindesten eine innere Explo- sion. Nichts geschah, abgesehen davon, daß ich immer wiederkeh- rende Gesichte meiner selbst hatte, wie ich mit verschränkten Beinen in kahler Berglandschaft meditierend dasaß, oder mich unter sengen- der Sonne verbissen durch überfüllte Städte dahinschleppte. Beim nächsten Dokusan berichtete ich dem Rôshi über diese Gesichte und Empfindungen. Er sagte mir, daß man das Vibrationszentrum, das sich derzeit zwischen den Augen befände, gut dadurch zum Sonnen- geflecht zurückbringen könne, daß man ihm einen Pfad bereite, indem man sich vorstelle, daß etwas Honigähnliches, Süßes und Klebriges heruntertröpfle. Weiterhin sagte er mir, daß ich mich weder um diese Gesichte, noch um die Hitzewolken kümmern solle, da beide das Ergebnis der gewaltigen Anstrengungen seien, die ich machte. Das Wichtigste sei, sich nur gleichmäßig auf Mu zu konzentrieren. Nach ein paar Versuchen gelang es mir, dieses Zentrum ins Sonnen- geflecht zu verlagern und so fortzufahren, wie er mir befohlen hatte. Am nächsten Tage, dem siebenten, erschien ich wieder vor dem Rôshi zum Dokusan. Von den sechs oder sieben Stunden unaufhörlichen Zazens war ich körperlich derart erschöpft, daß ich kaum sprechen konnte. Unmerklich war mein Geist in einen Zustand überirdischer Klarheit hinübergeglitten. Ich wußte, und ich wußte, ich wußte. Sanft begann er, mir Fragen zu stellen: «Wie alt ist Gott? Geben Sie mir Mu! Zeigen Sie mir Mu auf dem Bahnhof!» Jetzt war mein inne- rer Blick vollkommen scharf eingestellt und ich reagierte ohne Zögern auf all seine Prüfungsfragen. Daraufhin lachten der Rôshi, mein Mann, der dolmetschte, und ich alle fröhlich auf, und ich rief aus: «Das Ganze ist so einfach!» Dann sagte mir der Rôshi, daß von nun an meine Übungsweise an weiteren Kôans anders sein würde. Anstatt wie bisher bei Mu zu versuchen, mit dem Kôan eins zu werden, sollte ich mir zutiefst die Frage stellen: «Was ist der geistige Gehalt dieses Kôans?» Wenn mir eine Antwort käme, sollte ich sie so, wie sie war, auf die hohe Kante legen und Shikantaza üben, bis mir das nächste Dokusan Gelegenheit geben würde, mein Verständnis zu demon- strieren.

364 Zu steif und müde, um noch weiter zu sitzen, schlüpfte ich leise aus der Haupthalle und kehrte zum Badhaus für ein weiteres Bad zurück. Nie zuvor war die Straße so Straßenhaft, nie die Geschäfte solch vollkommene Geschäfte, noch der Winterhimmel solch unbeschreib- lich gestirnter Himmel gewesen. Freude sprudelte gleich einem fri- schen Quell in mir auf. Die folgenden Tage und Wochen waren die zutiefst glücklichen und heitersten meines Lebens. So etwas wie ein «Problem» gab es nicht. Die Dinge wurden entweder getan oder nicht getan, jedenfalls aber gab es weder Sorge noch Verwirrung. Frühere Beziehungen zu Men- schen, die mich tief beunruhigt hatten, sah ich nun mit vollkomme- nem Verständnis. Zum ersten Mal im Leben konnte ich mich gleich der Luft in alle Richtungen bewegen, endlich frei von dem Ich, das mir stets solch qualvolle Fessel gewesen war.

Sechs Jahre später An einem Frühlingstag, als ich im Garten arbeitete, schien die Luft in seltsamer Weise zu beben, als ob sich die übliche Abfolge der Zeit in eine neue Dimension geöffnet hätte, und mir wurde klar, daß irgend etwas Widriges geschehen würde - wenn nicht am gleichen Tage, so doch bald. In der Hoffnung, mich etwas darauf vorzubereiten, ver- doppelte ich meine regelmäßigen Zazen-Übungen und las bis spät in die Nacht hinein buddhistische Bücher. Ein paar Abende später saß ich, nachdem ich Das Tibetanische Totenbuch42 sorgfältig durchgesehen und danach gebadet hatte, vor einem Buddhabildnis und lauschte still bei Kerzenschein dem lang- samen Satz von Beethovens A-Dur-Quartett, dem unergründlichen Ausdruck menschlicher Selbstentäußerung. Dann ging ich zu Bett. Am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück war mir plötzlich, als ob ich vom Blitzschlag getroffen sei, und ich fing an zu zittern. Urplötzlich flammte das ganze Trauma meiner schwierigen Geburt in meinem Bewußtsein auf. Das öffnete gleich einem Schlüssel dunkle Räume geheimer Ressentiments und verborgener Ängste, die wie Gift

42. Rascher Verlag, Zürich 1953, Neuauflage 1969.

365 aus mir herausflossen. Ich brach in Tränen aus und fühlte mich so geschwächt, daß ich mich hinlegen mußte. Dabei hatte ich jedoch ein tiefes Glücksgefühl. Langsam veränderte sich mein Blickpunkt: «Ich bin tot! Es gibt nichts, was man ich nennen kann! Niemals gab es mich! Das ist eine Allegorie, ein verstandesmäßiges Abbild, ein Entwurf, nach dem nie etwas gebildet wurde.» Mir wurde schwindlig vor Entzücken. Feste Gegenstände erschienen mir als Schatten, und alles, worauf mein Blick fiel, war strahlend schön. Diese Worte können das, was sich mir in den darauffolgenden Tagen lebhaft offenbarte, nur andeuten: 1. Die Welt, wie sie mit den Sinnen aufgefaßt wird, ist die wenigst wahre (im Sinne der Vollständigkeit), die wenigst dynamische (im Sinne der ewigen Bewegung) und die wenigst wichtige in einer ausgedehnten «Geometrie des Daseins», die von unaus- sprechlicher Tiefgründigkeit ist, deren Vibrationsgeschwindig- keit, Intensität und Feinheit sich nicht in Worte fassen läßt. 2. Wörter sind plump und primitiv, fast nutzlos bei dem Versuch, die wahren, viel-dimensionalen Wirkungen eines unbeschreiblich ausgedehnten Komplexes dynamischer Kraft anzudeuten; man muß seine normale Bewußtseinsebene verlassen, um damit in Berührung zu kommen. 3. Die geringste Verrichtung, wie essen oder sich-den-Arm-kratzen, ist durchaus keine einfache Handlung. Sie ist lediglich ein sicht- bares Moment im Netzwerk von Ursache und Wirkung, das nach vorn ins Ungewußte und rückwärts in eine Unendlichkeit des Schweigens reicht, wo individuelles Bewußtsein nicht eindringen kann. Es gibt wahrhaftig nichts zu erkennen, nichts, was erkannt werden kann. 4. Die Körper-Welt ist eine Unendlichkeit von Bewegung, von Zeit- Existenz. Gleichzeitig aber ist sie eine Unendlichkeit des Schwei- gens und der Leere. Jedes Ding also ist transparent. Ein jedes hat seinen eigenen besonderen inneren Charakter, sein eigenes Karma des «Lebens in Zeit». Gleichzeitig aber gibt es keine Stelle, wo Leerheit herrscht, wo ein Ding nicht ins andere überginge.

366 5. Das kleinste Anzeichen einer Wetterschwankung, ein sanfter Regen oder eine milde Brise rühren mich an als - was soll ich sagen? - Wunder unvergleichlicher Wunderbarkeit, Schönheit und Güte. Es gibt nichts zu tun; einfach nur da zu sein, ist eine erhaben vollständige Handlung. 6. Wenn ich in Gesichter blicke, sehe ich etwas von der langen Kette ihrer vergangenen Existenzen und manchmal etwas von der Zukunft. Die vergangenen Daseinsformen treten hinter der Ge- sichtsoberfläche wie immer feinere Gewebe zurück, sind ihr aber gleichzeitig eingeprägt. 7. Wenn ich allein in Zurückgezogenheit bin, kann ich hören, wie ein «Gesang» von jedem Ding ausgeht, werde des inneren «Tan- zes» eines jeglichen inne, vom fest-massiven Stein bis zur leicht beweglichen Wolke. Alles und jedes hat seinen eigenen Gesang; selbst Stimmungen, Gedanken und Gefühle haben ihre zarteren Gesänge. Doch unterhalb dieser Vielfalt vermischen sie sich zu einer unaussprechlich gewaltigen Einheit. 8. Ich empfinde eine Liebe, die man, da sie ohne Objekt ist, am besten Liebevollheit nennen kann. Ja, sie ist umso vollkommener sie selbst, wenn sie ohne Objekt ist. Aber meine alten Gefühls- reaktionen geraten noch grob in Konflikt mit dem Ausdruck die- ser äußerst sanften und mühelosen Liebevollheit. 9. Ich spüre ein Bewußtsein, das weder ich selbst bin, noch nicht ich selbst bin, das mich beschützt und mich in Richtungen führt, die meinem Wachstum und meiner Reife hilfreich sind und mich von dem, was diesem Wachtstum entgegensteht, forttreibt. Es ist wie ein Strom, in den ich eingeströmt bin und der mich freudig über mich selbst hinausträgt.

367 Sechstes Kapitel Yaeko Iwasaki Briefe der Erleuchtung an Harada Rôshi und seine Anmerkungen

Einführung

In der Geschichte des heutigen japanischen Zen-Buddhismus leuchtet kein Name mit größerem Glanz als jener eines fünfundzwanzigjähri- gen Mädchens, YAEKO IWASAKI. Sie fand nach etwa fünf Jahren Zazen, während derer sie zum großen Teil auf dem Krankenlager übte, Erleuchtung und vertiefte dann in den folgenden fünf Tagen diese geistige Schau in einem Maße, wie es im heutigen Japan selten ist. Eine Woche später, in Erfüllung ihrer eigenen Vorahnung, war sie tot. In Indien würde sie zweifellos feierlich als Heilige erklärt worden sein und von Tausenden verehrt werden. In Japan ist die Geschichte ihres furchtlosen Lebens und seiner krönenden Vollen- dung kaum außerhalb der Zen-Kreise bekannt. Hier sind die Briefe, die sie im Dezember 1935 an ihren Lehrer, den damals fünfundsechzigjährigen Zen-Meister DAIUN SOGAKU HARADA, schrieb. Sie geben das wieder, was sie in jenen epischen fünf Tagen gewahrte, fühlte und dachte, und außerdem die treffenden Anmer- kungen des Rôshi. Unserer Meinung nach gibt es in der religiösen Literatur nur wenig persönliche Dokumente, die so deutlich und beredt wie diese Briefe einen zutiefst erleuchteten Geist offenbaren. Obgleich es ihrer nur wenige und verhältnismäßig kurze sind, über- mitteln sie doch die eigentliche Essenz des lebendigen Buddhismus. Sie sind voller Paradoxe und quellen über von Dankbarkeit - Eigen- tümlichkeiten, die unfehlbar tiefe geistige Erlebnisse von seichteren unterscheiden. Und ein Faden einzigartiger Lauterkeit zieht sich

369 durch sie hindurch, ein brennendes Verlangen, volle Erleuchtung zu erlangen - nicht um ihres eigenen Heils willen, sondern, auf daß ihre Mitmenschen Selbst-Erfüllung und dauernden inneren Frieden durch ihre Anstrengungen, den Weg des Buddha bekannt zu machen, fän- den. Ihr «vorzeitiger» Tod - vorzeitig nur in dem Sinn, wie Men- schen gemeinhin eine Lebensspanne einschätzen - hat ihre karmische Bestimmung, den Dharma bekannt zu machen, nicht beendet. Womög- lich ist sie auf dem besten Wege, ihm neue Impulse zu geben, denn nach HARADA Rôshis Worten ist «ihr mutiges Leben derart inspirie- rend und sein Einfluß so weitreichend, daß es mit Sicherheit den Buddhismus fördern und der Menschheit zum Wohl dienen wird.» YAEKO IWASAKI hatte als Tochter des Gründers des reichen Mit- subishi Industrie-Verbandes alles, was man mit Geld kaufen konnte - nur keine Gesundheit. Mit zwei Jahren wurde sie so schwer krank, daß sie beinahe starb, und durch die daraus resultierende Schwä- chung der Herzklappen blieb ihr Körper für den Rest ihres kurzen Lebens gebrechlich-zart. Da sie den Anforderungen des täglichen Schulbesuchs nicht gewachsen war, wurde sie bis fast zum elften Jahr zu Hause unterrichtet und dann, da sie etwas kräftiger geworden war, auf einer Schule, die etwa unserem Lyzeum1 entspricht, einge- schult. Obgleich sie nicht an allen Vorgängen des Schullebens teil- nehmen konnte, schloß sie das Lyzeum mit einer Schar von Freunden und einem ausgezeichneten Zeugnis ab. Ihr lebendiger, scharfer Ver- stand, ihre fröhliche, sonnige Gemütsart und ihr großzügiger Cha- rakter trugen ihr die Bewunderung und Liebe ihrer Klassenkamera- dinnen ein. Nach dem Schulabschluß begann sie, den Blumen-Weg und den Tee-Weg zu üben, jene traditionellen japanischen Künste, durch die Heiterkeit und Sanftmut entwickelt werden. Danach lernte sie kochen und Klavierspielen, alles in Vorbereitung auf eine etwaige Heirat und Mutterschaft. Ihr Karma führte sie jedoch urplötzlich in eine andere Richtung. Mit ungefähr zwanzig Jahren hustete sie Blut, und die Diagnose lau-

1. Diese japanische Schule entspricht mehr der amerikanischen Junior und Senior High School.

370 tete auf Tuberkulose. Ihr Arzt verordnete vollkommene Bettruhe auf zwei bis drei Jahre. Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese lange Untä- tigkeit in ihrer Wirkung auf den körperlichen und seelischen Orga- nismus jene Feinfühligkeit in ihr entwickelt hat, die für ihre geistige Blüte entscheidend wurde. Der unmittelbare Antrieb zum Zazen lag jedoch in einem plötzli- chen Geschehen, das ihren Vater, den sie sehr liebte, betraf. Man hatte ihm gesagt, daß er ein Herzleiden hätte, das sich jeden Augen- blick verhängnisvoll auswirken könnte. Von plötzlicher Todesfurcht erfaßt, besuchte er einen Lehrvortrag von HARADA Rôshi, der diese Ur-Angst des Menschen zum Thema hatte und darlegte, wie sie durch Zazen und schließlich durch Erleuchtung aufgelöst werden könne. YAEKOS Vater wurde von dem, was er hörte, so überzeugt, daß er Schüler von HARADA Rôshi wurde und in seinem Hause Zazen zu üben begann. Da sein Herzleiden die regelmäßige Teilnahme an Sesshin ausschloß, bewog er HARADA Rôshi dazu, einmal im Monat bei dessen regelmäßigem Besuch in Tokyo in sein Haus zu kommen, um dort ein Teishô und Dokusan für seine Familie und Freunde zu halten. Mit einem Eifer, wie er aus seiner überwältigenden Todesfurcht ent- stand, widmete sich YAEKOS Vater Zazen und erreichte in einem knappen Jahr Kenshô. Dieses Erlebnis bannte all seine Ängste und brachte ihm solchen Aufschwung an Lebenskraft und Selbstver- trauen, daß er seine Pflichten als Oberhaupt des großen Industrie- unternehmens seiner Familie wieder aufnahm. Das tat er jedoch mit einer Tatkraft, die nicht weise war. Die Anstrengungen erwiesen sich als zu groß für ihn, und ohne jedes Vorzeichen starb er eines Tages an einem Herzanfall. Die erschreckende Plötzlichkeit von ihres Vaters Tod führte der noch bettlägerigen YAEKO die Vergänglichkeit des Lebens und die krasse Wirklichkeit des Todes mit dramatischer Gewalt vor Augen und stürzte sie in tiefstes Nachdenken über den Sinn des menschli- chen Daseins. Bis zu ihres Vaters Erleuchtung hatte sie zu Hause allmonatlich HARADA Rôshis Darlegung gehört, aber damals noch ohne Verlangen, selbst Zazen zu üben und Dokusan zu erhalten. Die-

371 ser Vorfall jedoch hatte ihre Vorstellungskraft sowie die ihrer Mutter und ihrer beiden Schwestern derart angefeuert, daß sie alle anfingen, sich regelmäßig Zazen zu widmen. Der Rôshi hatte YAEKO das Kôan Mu zugewiesen und sie angewiesen, sich unablässig darein zu vertie- fen, auch während sie im Bett lag. Der Tod ihres Vaters und das dadurch hervorgerufene Forschen in ihrer Seele gaben ihrem Zazen und ihrer Beschäftigung mit dem Buddhismus insgesamt einen neuen, tief eindringlichen Sinn. Sie las HARADA Rôshis sehr langen Kom- mentar zu DÔGENS Shôbôgenzô siebzehn Mal, verschlang jedes Wort und begann, in der traditionellen japanischen Sitzweise, die sie mit dem Lotussitz abwechselte, Zazen zu üben, obgleich sie noch keines- wegs bei Kräften war. Inzwischen waren jedoch die schlimmsten Sta- dien ihrer Tuberkulose vorüber, und sie mußte nicht mehr im Bett bleiben. Aber die Krankheit hatte ihrer ohnehin zarten Konstitution ihre Spuren aufgeprägt, und der Arzt drängte sie, zur Genesung ins sonnige Kamakura zu gehen, wo ihre Familie eine Villa besaß. In dieser neuen Zurückgezogenheit konnte sie sich mehr und mehr an Zazen verlieren, und sie kehrte den Interessen, die ihr einmal wichtig gewesen waren, für immer den Rücken. Sie folgte dem Weg des Buddha mit solchem Eifer, daß sie HARADA Rôshi bat, nach Kamakura zu kommen und mit seinen Teishô und Einzel-Unter- weisungen fortzufahren. Da er an ihrer ungewöhnlichen Inbrunst und Hingabe eine seltene Seele erkannte, machte er regelmäßig jeden Monat eigens die Reise, um sie anzuleiten. Das taten von Zeit zu Zeit auch YASUTANI Rôshi und TAJI Rôshi, zwei von HARADA Rôshis angesehensten Schülern. Von der Zeit an, da sie im Bett mit Zazen begonnen hatte, vergingen etwa fünf Jahre bis zu ihrer Erleuchtung am 22. Dezember 1935. In den darauffolgenden Tagen öffnete sich das Auge ihres Geistes zu einer Flut von Licht und Tiefem-Begreifen, wie es diese Briefe offen- baren. Ihre darauffolgende Begeisterung, ihre Entdeckung, daß selbst vollkommene Erleuchtung einem nichts hinzufügt, was man nicht schon hätte, und daß deshalb solche Ekstase eine Art «Ver- rücktheit» sei - all das zusammen mit HARADA Rôshis freudigem Erkennen ihrer Bodhisattva-Gesinnung und seinem sanften Vorwurf,

372 daß sie nach Erleuchtung «rieche», gewährt in den komplexen und scheinbar so widersprüchlichen Vorgang der Erleuchtung einen inti- men Einblick, der ebenso selten wie erhellend ist. So zu sterben wie YAEKO, mit der Todesahnung eine Woche zuvor, ohne Schmerzen und in völliger Heiterkeit, das ist, wie HARADA Rôshi darlegt, ein Ziel aller Buddhisten, wenngleich eines, das nur wenige erreichen. Daß YAEKO das vollbrachte, ist ein Maßstab für die außerordentlich hohe Bewußtseinsstufe, zu der sie aufgestiegen war, für die Reinheit ihres Glaubens, für ihren Mut und die Aus- dauer, die solches ermöglichten. Wer kann HARADA Rôshis schmerz- lichen Bericht über seine letzten Stunden mit ihr lesen, ohne von ihrem unerschrockenen Geiste und ihrer gänzlichen Selbstlosigkeit bewegt zu werden? Der Arzt, der Zeuge ihres Todes war, den er fachwissenschaftlich auf eine Lungenentzündung zurückführte, erinnert sich daran: «Niemals habe ich irgend jemanden so schön sterben sehen.» Vielleicht aber war die größte Huldigung, die ihrem Gedächtnis gezollt wurde, jene bei dem ersten Sesshin im Hosshin-Ji nach ihrem Tode. Gegen Ende des Sesshin berichtete HARADA Rôshi unter Tränen den ungefähr neun- zig Teilnehmern die Umstände von YAEKOS heldenhaftem Ringen um Selbst-Erfüllung und dessen großartige Vollendung. Die Wirkung davon war derart, daß am Ende des Sesshin mehr als zwanzig Men- schen Erleuchtung gefunden hatten - eine noch nie dagewesene Zahl. Diese Briefe erschienen zuerst in einer buddhistischen Zeitschrift bald nach YAEKO IWASAKIS Tod, in einem Artikel von HARADA Rôshi. Seine Anmerkungen (hier in kleinerer Schrift gesetzt) notierte er auf den Briefen, wenn er sie erhielt, aber die zusammenfassenden Anmer- kungen und die Überschriften fügte er eigens für den Artikel hinzu, um den Leser so weit über den Buddhismus zu unterrichten, als nötig war, um ihn über den Briefinhalt aufzuklären. Natürlich hatte YAEKO vor ihrem Dahinscheiden keine Gelegenheit, diese Anmerkun- gen zu sehen. Ungefähr ein Jahr später wurde dieser gleiche Text in ein Buch, Yaezakura (Doppelte Kirschblüte) genannt, aufgenommen, das einen kurzen Bericht über YAEKOS Leben gibt und privat von der Familie

373 IWASAKI im Dezember 1957 gedruckt wurde. Die vorliegende Über- setzung wurde nach jenem Buch vorgenommen. Alle Angaben in Klammern innerhalb der Briefe wie bei den Anmer- kungen von HARADA Rôshi stammen vom Übersetzer.

Biographischer Abriß über Harada Rôshi

DAIUN SOGAKU HARADA, an den sich YAEKO IWASAKIS Briefe richten und dessen Anmerkungen sie begleiten, starb am 12. Dezember 1961 im Alter von einundneunzig Jahren. Bei der Totenfeier hing neben seiner Photographie ein kalligraphisches Blatt, das er selbst einige Jahre zuvor geschrieben hatte:

Vierzig Jahre habe ich Wasser verkauft Am Ufer des Flusses. Ho, Ho! Meine Mühen waren ganz ohne Verdienst.

Diese typischen Zen-Zeilen sind ein passendes Epitaph, denn kein japanischer Zen-Meister der heutigen Zeit hat sich ausdauernder darum bemüht, seine Schüler zu lehren, daß es nichts zu lernen gibt, als HARADA Rôshi. Seine vierzehn Dharma-Nachfolger (Rôshi) und unzähligen erleuchteten Schüler und Anhänger in ganz Japan legen Zeugnis dafür ab, daß seine Bemühungen, wenn «ohne Verdienst», so doch keineswegs vergeblich gewesen sind. Nominell gehörte er der Sôtô-Sekte an. Er schmolz aber das Beste von Sôtô und Rinzai zusammen, und das sich daraus ergebende Amalgam war ein pulsierender Buddhismus, der zu einer der großen Lehr-Richtungen im heutigen Japan geworden ist. Er belebte auf Grund tiefgreifender Einsicht wahrscheinlich mehr als irgendein anderer die Lehren DÔGEN Zenjis neu, die allmählich durch das ober- flächliche Verständnis von Priestern und Gelehrten der Sôtô-Sekte, in deren Händen ihre Auslegung bis dahin gelegen hatte, ihrer leben- digen Kraft entblößt worden waren. Sein Kommentar zu Shushôgi,

374 einer Kodifizierung von DÔGENS Shôbôgenzô, wird als einer der tief- schürfendsten seiner Art angesehen. Hosshin-Ji, HARADA Rôshis Kloster am Japanischen Meer, von unaufhörlichen Regenfällen durchweicht, von häufigen Schneestür- men zugedeckt, von periodischen Taifunen von außen her geschüttelt und durch beispiellose Disziplin von innen her «durchgerüttelt», wurde als strengstes Kloster in ganz Japan bekannt, und HARADA Rôshi als der Zen-Zuchtmeister, der höchste Anforderungen stellte. Mehr als einmal lehnte er Angebote, Klöster in milderen Gegenden Japans zu leiten, ab, wobei er behauptete, daß dieses rauhe Klima hülfe, das Bewußtsein der Menschen in ihre Bauchhöhle zu treiben, wo sie schließlich das Geheimnis des Weltalls fänden. Männer und Frauen strömten zu Hunderten zum Hosshin-Ji in seiner Blütezeit, angezogen von der außerordentlichen Kraft des Rôshi, zu inspirieren und sie zum Selbst-Erwecken zu führen. Wie alle Meister von hoher geistig-seelischer Entwicklung konnte er Charaktere schärfstens beurteilen. Ebenso schnell, wie er Anmaßung und Heuchelei entdeckte, entlarvte er sie auch. Außergewöhnliche Schüler trieb er erbarmungslos an und verlangte von ihnen das Beste, dessen sie fähig waren. Von allen forderte er als ein sine qua non Aufrichtigkeit und absolutes Befolgen seiner Lehre und duldete nicht die kleinste Abweichung davon. Flüchtige Beobachter hielten ihn oft für unbeugsam und eng, aber seine Anhänger und Schüler, die an seine Lehre glaubten, wußten, daß er weise und mitfühlend war. Bei all seiner Strenge hatte HARADA Rôshi doch seine milden Seiten, und obgleich er nie geheiratet hatte, sondern im wahrsten Sinne des Wortes Mönch blieb, liebte er es, mit Kindern herumzutollen, und hatte Tiere, besonders Hunde, außerordentlich gern. Da HARADA Rôshi sowohl in den Sôtô-Lehren als auch in denen des Rinzai durch und durch zu Hause war, war er hervorragend geeig- net, ein umfassendes Zen zu lehren. Er war mit sieben Jahren als Novize ins Tempelleben der Sôtô-Sekte eingetreten und hatte seine Sôtô-Ausbildung während der Volksschul- und Gymnasiumsjahre fortgesetzt. Mit zwanzig wurde er trotz des hartnäckigen Wider- stands seines Sôtô-Ratgebers Mönch im Shôgen-Ji, einem bedeuten-

375 den Rinzai-Kloster seiner Zeit, da er in der Sôtô-Sekte keinen tief erleuchteten Meister hatte finden können. Dort erlangte er nach zwei- einhalb Jahren angestrengtester Ausbildung Kenshô, aber seine Er- leuchtung bedeutete noch keine vollständige Befreiung. Da sein Vater darauf bestand, daß er eine regelrechte Ausbildung erhalten sollte, verließ er mit siebenundzwanzig Jahren Shôgen-Ji und schrieb sich an der Komazawa-Universität ein, die von Sôtô unterstützt wurde, und setzte nach Abschluß seines Studiums noch sechs Jahre lang seine Forschungsarbeiten auf dem Gebiet des Bud- dhismus unter bekannten Gelehrten dort fort. Während seine Kennt- nisse über den Buddhismus wuchsen, brachten sie ihm jedoch nicht die Befreiung, nach der er sich sehnte. Deshalb entschloß er sich, nach Kyoto zu fahren, um dort DOKUTAN Rôshi, den Abt des Nan- zen-Ji, aufzusuchen, der als der beste damals lebende Zen-Meister bekannt war. Er wurde von DOKUTAN Rôshi als Schüler angenommen und ging zwei Jahre lang täglich der Kôan-Übungen und des Dokusan wegen zu ihm, während er mit einem Freunde, dem er bei seinen Tempel- Angelegenheiten half, in Kyoto lebte. Am Ende der zwei Jahre bot ihm DOKUTAN Rôshi, der von der ungewöhnlichen Intelligenz seines Schülers, seiner Inbrunst und seinem Durst nach Wahrheit beein- druckt war, an, ihn zu seinem persönlichen Aufwärter zu machen. Obgleich er jetzt fast vierzig war, nahm SOGAKU HARADA diese unge- wöhnliche Auszeichnung bereitwillig an und begann sein Leben im Nanzen-Ji. Dort widmete er sich intensiv Zazen, löste alle Kôans, wobei er am Ende das Auge seines Geistes voll öffnete und von DOKUTAN Rôshi Inka (Siegel der Bestätigung) erhielt. Zu jener Zeit berief ihn die Komazawa-Universität zur Lehrtätig- keit, in Übereinstimmung mit den Bedingungen, die er für seine Annahme gestellt hatte. Das führte dazu, daß er zwölf Jahre lang an der Komazawa über Buddhismus las, wobei er einen Teil der Zeit als ordentlicher Professor dort verbrachte. HARADA Rôshi - er verdiente nun den Titel Rôshi - war ein selt- sames Phänomen in der buddhistisch-akademischen Welt: während des Semesters ein Professor und während der Sommerferien ein Zen-

376 Meister, der in mehreren Tempeln Sesshin leitete. Innerhalb kurzer Zeit gelangte er in den Ruf, ein strenger Zuchtmeister zu sein. Seine Unzufriedenheit mit der Enge des akademischen Lebens und dessen unvermeidlicher Betonung der Theorie, in Verbindung mit den nur begrenzten Möglichkeiten, die es ihm bot, Menschen mittels Sesshin im unmittelbaren Erlebnis des Dharma zu schulen, reifte durch wiederholte Aufforderung in ihm zum Entschluß, das Amt des Abtes von Hosshin-Ji zu übernehmen. Er nahm schließlich an und lebte in den folgenden vierzig Jahren als Meister dieses Klosters, das als eines der hervorragendsten Zentren der Zen-Schulung in Japan bekannt werden sollte. HARADA Rôshi hielt sechsmal im Jahr eine Woche lang ein intensives Sesshin, bis er fast neunzig war, und zwar im April, Mai, Juni, Oktober, November und Dezember, und in den Zwischenzeiten hielt er noch Sesshin in anderen Teilen Japans. Fünf Tage vor seinem letzten Atemzug fiel er in einer Ohnmacht um, wurde ohne Schmer- zen allmählich schwächer und schwächer und ging von teilweisem Dämmerzustand in völlige Bewußtlosigkeit über. Seine Todesstunde fiel genau mit der Ebbe zusammen. HARADA Rôshi war buchstäblich mit den Wassern verebbt.

Die Briefe und Anmerkungen

1. Zeugnis für Kenshô 23. Dezember Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi, ich bin so dankbar, daß Sie mich vorgestern besucht haben, obgleich Sie so beschäftigt sind. Nehmen Sie sich ja mit Ihrer Erkältung in acht. Gestern morgen sagte mir mein Rôshi2 im Dokusan: «Was du wahr-

2. In Japan ist die Anrede in der dritten Person üblich. Da das aber, streng durchgehalten, im Deutschen zu schwer und altmodisch wirkt, wird es mit der Anrede «Sie» gemischt, wie wir es tun, wenn wir heute einem Rôshi auf deutsch (oder englisch) schreiben; d. U.

377 genommen hast, ist noch verschwommen.» Ich hatte also das Gefühl, daß ich tiefer forschen müsse. Als ich letzte Nacht mitten in der Nacht erwachte, war es weitaus klarer geworden, Der Ochse3 ist hundert Meilen näher gekommen! und ich konnte einzig die Hände in Gasshô erheben vor Freude, schierer Freude. Ich sehe wahrhaftig, daß es Tiefengrade der Erleuchtung gibt. Ja, aber nur wenige erkennen diese bedeutsame Tatsache. Selbst mein Rôshi zählt in meinen Augen gleich nichts. Meine Dank- barkeit und mein Entzücken lassen sich unmöglich beschreiben. Ich kann jetzt bestätigen, daß es keine wahre Erleuchtung ist, solange wir uns der Erleuchtung noch bewußt sind. Wie kann ich nur meine Dankbarkeit dafür ausdrücken, daß der Rôshi mich in die Lage versetzt hat, meine unermeßliche Schuld, die ich allen Buddhas gegenüber habe, in einem wenn auch noch so klei- nen Ausmaß4 abzustatten? Meine Dankbarkeit läßt sich nicht in Worte fassen - es gibt nichts, was ich schreiben oder sagen könnte. Ich schreibe jetzt nur, weil ich glaube, daß mein Rôshi allein meine Glückseligkeit verstehen kann und mit mir zufrieden sein wird. Jetzt, da meines Geistes Auge geöffnet wurde, erhebt sich spontan in mir das Gelübde, alle Lebewesen zu retten. Ich bin Ihnen und allen Buddhas so verpflichtet. Ich schäme mich (meiner Mängel) und werde Anstrengungen machen, um meinen Charakter zu bilden.

Hat den Ochsen deutlich gesehen, aber der Punkt, ihn zu ergreifen, ist noch zehntausend Meilen fern. Ihr Erlebnis ist noch von begrifflichem Denken gefärbt. Ich bin auch entschlossen, meinen Geist von all seinen seit langer Zeit bestehenden Verblendungen zu reinigen. Der Rôshi ist der Einzige, dem ich das anvertrauen kann. Jeder andere würde, so fürchte ich,

3. «Ochse» bezieht sich auf den erleuchteten Geist. Siehe die Ochsenbilder im 8. Kapitel. 4. Das heißt, durch ihre Erleuchtung.

378 daß mißverstehen und denken, ich prahlte, wenn ich plötzlich über all das sprechen wolle.

Ich bin froh über diese Zurückhaltung. Man glaube mir, ich habe nie im Leben erwartet, derart begünstigt zu werden (dadurch, daß sie Erleuchtung fand). Ich verdanke mei- nem Rôshi so viel. Ich erhebe die Hände in Gasshô voll herzlicher Dankbarkeit. Hüten Sie sich gut mit der Erkältung. Voller Freude sehe ich unserem Treffen am einundzwanzigsten nächsten Monats entgegen. YAEKO Zusammenfassende Anmerkung: Ich bestätige, daß sie den Ochsen wahrhaftig gesehen hat, denn in ihrem Erlebnis liegen tiefe Selbst-Bejahung, das Verlangen, alle Lebewesen zu ret- ten und die Entschlossenheit, sich im täglichen Leben geistig zu schulen. Solche Geistesverfassung allein kann man als die wahre Gesinnung der Kinder des Buddha ansprechen. Aber noch gibt es ein Subjekt, das sieht. Noch liegt ihre Geistige Heimat in weiter Entfernung.

2. Zeugnis großer Erleuchtung

25. Dezember Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi, heute habe ich zum ersten Mal große Erleuchtung erlangt. Ich bin so überglücklich, daß, meiner ungeachtet, alles an mir tanzt. Niemand als mein Rôshi kann überhaupt solche Begeisterung nur irgend begrei- fen, glaube ich. Ich habe den Punkt erreicht, da ich den Ochsen wirklich packe, und es gibt absolut keine Verblendung mehr. Jetzt hat sie zum ersten Mal den WEG gefunden - ihren Geist deutlich erkannt. Sie ist von Verblendung, die keine dauerhafte Wurzel hat, befreit worden. Wunderbar! Wunderbar! Da ist weder Ochse noch Mensch. Ich sollte sofort zum Rôshi kom-

379 men und ihm mündlich danken; da ich aber auf meine Gesundheit achten muß, kann ich das nicht tun. So gebe ich meiner tiefen Dank- barkeit in diesem Brief Ausdruck. Aus tiefstem Herzen danke ich dem Rôshi und erhebe meine Hände in Gasshô zu ihm. Buddhas und Patriarchen haben mich nicht betrogen5. Ich habe mein Ur-Angesicht deutlicher gesehen als einen Diamanten in meiner Hand. Die absolute Wahrheit eines jeden Wortes der Patriarchen und der Sûtras ist mir mit kristallener Klarheit vor Augen erschie- nen. Ich brauche Dokusan nicht mehr, und alle Kôans sind mir jetzt wie nutzlose Möbel geworden. Obgleich ich alle Lebewesen retten wollte, gibt es gar keine zu retten. Wer nur Kenshô hat, kennt diesen Zustand unbegrenzten Frei-Seins und tiefsten Seelenfriedens nicht. Ja, man kann das gar nicht kennen, solange man nicht zu voller Erleuchtung gekommen ist. Wenn mein Rôshi mir, nachdem er die- sen Brief gelesen hat, noch immer Unsinn6 erzählt, werde ich ohne Zögern sagen, daß an der Wesensschau des Rôshi etwas mangelt.

Gut! Gut! Dieses Stadium nennt man: auf dem Gipfel eines einsamen Ber- ges stehen oder Zum Eigenen Hause Zurückkehren. Dennoch muß ich ihr «Unsinn» erzählen. Eines Tages wird sie wissen, warum. Ich verdanke dem Rôshi so viel. Wenn ich bedenke, daß ich tatsäch- lich das Große Gelübde, das ich in zahllosen vergangenen Existenzen abgelegt hatte, erfüllt habe und nun Dokusan halten kann, bin ich unendlich dankbar.

Es ist noch zu früh. Doch wie viele gibt es heutzutage unter denen, die man erleuchtet nennt, die sich solche innere Sicherheit geschaffen haben? Ich bin entzückt, das durch ihre eigenen Worte offenbart zu sehen. Mein Geistiges Auge ist mit dem des Rôshi vollkommen identisch - weder Buddhas noch Teufel können mich erschüttern7. Dieser

5. Siehe Fußnote S. 287. 6. Das bedeutet, daß für den wahrhaft Erleuchteten alles Reden über Erleuchtung sinnlos ist. 7. Sie kann, ohne zu wanken, den durchdringenden Blick des Buddha ebenso aushalten wie die drohende Miene des Teufels. Das besagt äußerste Selbst-Sicher- heit und vollkommene Furchtlosigkeit.

380 Zustand spottet jeder Beschreibung. Ich habe alles vergessen und bin mit leeren Händen in meine Wahre Heimat zurückgekehrt. 8 Ist der Patriarch DÔGEN wiedergekommen? Das ist der makellose Dhar- makāya, d. h. Buddha Birushana. Meine Welt ist gänzlich umgewälzt worden. Wie nichtig und nutzlos waren doch meine besorgten Bemühungen in der Vergangenheit! Da ich der weisen Führung und dem geduldigen Rat des Rôshi folgte, wollte ich mich nicht mit dem kleinen Frieden9, den mein noch ver- blendeter Geist für angemessen hielt, zufriedengeben. Ich kann gar nicht sagen, wie froh und wie dankbar ich für meine gegenwärtige Verfassung bin. Das alles ist das Ergebnis von beharrlich geübtem Zazen, der Entschlossenheit, niemals bei einem kleinen Erfolg halt zu machen, sondern fortzufahren, wie viele Leben auch darüber hin- gehen mögen. Diese intensive Hingabe ist überaus erstaunlich - und sie, eine Laien-Schü- lerin! Jetzt kann ich mit der nie endenden Aufgabe, alle Geschöpfe zu ret- ten, beginnen. Das macht mich so glücklich, daß ich kaum an mich halten kann. Alles ist Glanz, lauterer Glanz. Nun kann ich auf immer in natür- lichem Einklang mit meinem alltäglichen Leben zur Vollkommenheit fortschreiten. Sie begreift - wahrhaftig. Haargenau so ist es. Wieviele sogenannte Zen- Leute sind zu solch tiefgreifender Wesensschau gelangt? Ich bin auferstanden, wie auch der Rôshi und alles andere in Ewig- keit. Beim Lesen dieses Briefes wird der Rôshi, glaube ich, Tränen der Danksagung vergießen.

8. Hier vergleicht HARADA Rôshi YAEKOS Feststellung «Ich habe alles vergessen und bin mit leeren Händen in meine Wahre-Heimat zurückgekehrt» mit der von DÔGEN bei seiner Rückkehr von China, nämlich: «Ich bin heimgekommen mit leeren Händen. Ich habe keine Spur von Buddhismus mehr behalten. Ich kann nur sagen: Meine Augen sind waagerecht; meine Nase ist senkrecht.» 9. «Frieden» bedeutet hier die Sicherheit und Ruhe, die ihr aus dem ersten Kenshô erwuchsen.

381 Ich bin so dankbar, solch eine Schülerin zu haben, daß ich nun glücklich sterben kann. Der Rôshi allein kann meine Seele verstehen. Doch gibt es weder den Rôshi noch mich. Leib und Seele sind mir in der Tat vollkommen weggefallen. Ich werde versuchen, mich gesundheitlich zu kräftigen, Tugend zu entwickeln, und wachsam der Gelegenheit zu warten, Buddhismus zu lehren. Ich bin inmitten des Großen Weges, da alles ganz natürlich und mühelos ist, weder in Eile noch zögernd; wo es weder Buddhas, noch den Rôshi gibt - nichts. Und wo ich ohne meine Augen sehe und ohne meine Ohren höre. Von dem, was ich geschrieben habe, bleibt auch nicht eine Spur; es gibt weder Feder noch Papier, noch Wörter - überhaupt nichts. Da es unmöglich ist, über all das mit jemandem außer dem Rôshi, der das tatsächlich selbst erlebt hat, zu sprechen, mußte ich schreiben. Ich denke mir, daß es den Rôshi glücklich machen muß, solche Schü- lerin wie mich zu haben, die so tief aus der Quelle seiner Weisheit getrunken hat. Ich werfe mich neunmal10 nieder, um dem Rôshi meine von Herzen kommende Dankbarkeit auszudrücken. YAEKO Zusammenfassende Anmerkung: Dieser Grad der Wesensschau wird als «Ergreifen des Ochsen» bezeichnet- mit anderen Worten: das wahre Gewinnen des WEGES. Das ist die Rück- kehr ins Eigene Haus, oder das Erlangen der Urweisheit. Geht man noch einen Schritt weiter, so erkennt man noch tiefgründigere Weisheit. Dieser «Ochs» hat unermeßliche Feierlichkeit und Strahlkraft.

10. Die Anzahl der Kniefälle, mit der man einem Buddha in aller Form huldigt.

382 3. Zeugnis vertiefter Erleuchtung

26. Dezember Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi, ich bin von Reue und Scham erfüllt. Mein Brief vom 25. an Sie muß Sie glauben gemacht haben, ich sei verrückt geworden. Solche Selbst-Vorwürfe sind unnötig. Eine derart freudige Verzückung ist die erste Reaktion aller, die solch großes Erwachen erlebt haben. Ich hatte solchen Höhepunkt der Begeisterung erreicht, daß ich nicht mehr wußte, was ich tat, und mich nicht mäßigen konnte. Als ich wieder zu Sinnen gekommen war und nachzudenken begann, brach ich in Lachen aus bei dem Gedanken, wie in meinen Gefühlen alles durcheinander geraten war. So lernte ich die Geschichte von ENYA- 11 DATTA erst recht würdigen, ENYADATTA, die verrückt geworden war, weil sie glaubte, daß sie ihren Kopf verloren habe, und all das große Aufhebens machte, als sie ihn «entdeckte», obgleich sie natür- lich nie ohne ihn gewesen war. Nun bin ich wieder ich selbst, es gibt also keinen Grund mehr zur Sorge um mich. Ich hatte immer Angstgefühle, die sich einerseits aus der Furcht erga- ben, daß mein Streben nach Buddhaschaft auf Grund meiner Bedeu- tungslosigkeit und Machtlosigkeit schwach werden könnte, und ande- rerseits aus der Furcht, ich könnte sterben, ohne tatsächlich die Wahrheit des Dharma erlebt zu haben, und sie dann vielleicht im Laufe vieler Leben nicht erkennen12.

Ja, es muß schrecklich qualvoll sein, für jemanden, der unbedingt an den Dharma glaubt, zu sterben, ohne ihn erlebt zu haben. Nur wer dieses Gefühl hat, kann so hingebungsvoll üben wie sie. Aber nun, da ich tief eingedrungen bin und die unerschütterliche Anwartschaft auf Buddhatum erlangt habe, ist mir klar, daß ich meine geistige Schulung auf immer fortsetzen kann und meine Persön- lichkeit solchermaßen zu vervollkommnen vermag, getrieben von

11. Siehe S. 91-94. 12. Siehe Fußnote 23, S. 239.

383 dem Gelübde, das ganz natürlich in mir aufsteigt: alle Geschöpfe zu retten. Ich werde von Tränen übermannt. Ich weiß keine Worte, um meine Freude und Dankbarkeit auszu- drücken. Weit davon entfernt, Zazen zu vernachlässigen, habe ich vielmehr alle Absicht, die Kraft meiner Konzentration weiter zu stärken. Ja, sie begreift wirklich! Ich bin mir zutiefst der Notwendigkeit sorgfältiger Selbst-Erziehung bewußt und begreife voll und ganz den Ernst von Dokusan. Ich schwöre, daß ich nie wieder etwas so Anmaßendes schreiben werde wie gestern, da ich sagte, daß ich volle Erleuchtung gefunden hätte und deshalb andere im Dokusan unterweisen könnte. Sie ist wahrlich erwacht! Bitte vergeben Sie mir. Ich war so außer mir, daß ich einfach jedes Maßgefühl verlor. Nach nüchterner Überlegung sehe ich, daß das ziemlich komisch war; doch welch köstliche Erinnerung, solch berau- schende Freude genossen zu haben, wenn auch nur kurz. Tränen der Dankbarkeit ersticken mich, denn ich kann nun Gut und Böse wahrhaft verstehen und kann unbeirrt und ohne Verblendung mit meinen geistigen Übungen innerhalb und mittels meines täglichen Lebens fortfahren. Ich danke dem Rôshi aus tiefstem Herzensgrunde. Achten Sie auf Ihre Gesundheit. Ich freue mich so auf unsere nächste Begegnung. YAEKO

Zusammenfassende Anmerkung: Auf dieser Stufe erwirbt man, was als «Weisheit subtiler, makelloser Intui- tiver Erkenntnis» oder als «nachträglich erlangte Weisheit» bezeichnet wird. Man kann ihre (YAEKOS) Stufe an den Fünf Graden, die der Patriarch TÔZAN setzte, ablesen. Die Tiefe der Erkenntnis, die sich in ihrem zweiten Brief kundgetan hat, entspricht dem dritten Grad, shôchû

384 rat, (bei dem die Erkenntnis des Einen vorherrschend und das Bewußtsein der Unterschiedenheit verebbt ist), und die dieses dritten Briefes entspricht dem vierten Grad, henchûshi, (bei dem man in allen Dingen ohne eine Spur von Selbstbewußtsein hinsichtlich der Erleuchtung lebt). Nun ist es mög- lich, die gütevollen und tugendhaften Taten, wie sie Fugen und Kannon zugeschrieben werden, zu vollbringen. Im Zen ist das die Erfüllung des Bodhisattva-Gelübdes; das bedeutet, im Reinen Land zu leben. Obgleich die meisten Gläubigen nach Kenshô fünf bis zehn Jahre brau- chen, um auf diese Stufe zu gelangen, hat sie das in weniger als einer Woche erreicht. Das ist zweifellos ihrem tiefen und reinen Glauben an den Buddhismus zuzuschreiben, ihrem umfassenden, uneingeschränkten Ge- lübde (das sie in zahllosen Leben abgelegt hat und das alle Geschöpfe umfaßt) und dem, daß sie gläubigen Herzens auf jedes authentische Wort des Buddhismus, das man zu ihr gesprochen hat, gelauscht hat. Solche Lei- stung wie die ihre ist in der heutigen Zeit selten. Die bemerkenswerte Geschichte ihrer Entschlossenheit und ihres Eifers sollte man als unsterbli- chen Ansporn für alle Zen-Gläubigen in zwei Meter großen Schriftzeichen einmeißeln.

4. Zeugnis für das unmittelbare Erleben des Großen Weges des Buddhismus

26. Dezember Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi, verzeihen Sie, daß ich so oft schreibe. Ich habe jene Stufe der Wesensschau erreicht, die die letztmögliche ist, solange man noch ein Schüler ist. Wahrlich, so ist es! Ich dachte immer: «Wie großartig muß man nach der Erleuchtung werden!» und «Wie bewundernswert ist der, der sich buddhistischem Wirken so gänzlich widmet, daß er nicht mehr an sich denkt!» Aber ich habe mich sehr geirrt. Von jetzt an will ich mehr Vorzüge ent- wickeln und niemals mit dem Üben aufhören. Vor der Erleuchtung war ich so darum bemüht und dachte oft: «Wie

385 edel ist der, der in Frieden und Zufriedenheit Heim-kehrt.» Nach- dem ich aber zu voller Erleuchtung gelangt bin, Ihr Erlebnis deckt den Unterschied von buji-Zen13 und authentischem Zen auf. sage ich mir jetzt: «Warum hast du dich darüber nur so erregt?» Denn ich habe eine entschiedene Abneigung dagegen, «erleuchtet14» genannt zu werden. Freut mich, daß sie das sagt. Es ist jedoch nur bei voller Erleuchtung mög- lich, Zen im Alltag zu üben 15. Ich habe den Augenblick meiner Erleuchtung und das, was gleich darauf folgte, vollkommen vergessen; ich kann mir aber sagen, daß ich sozusagen das Wahre Auge der Erleuchtung erlangt habe. Es reizt mich, mir zu sagen: «So, das ist also volle Erleuchtung!» Ich kann gar nicht ausdrücken, wie dankbar ich bin, daß ich mit dem Wahren Dharma auf immer Eins bin, vollkommen und ganz natür- lich. Gleichzeitig komme ich mir so töricht vor, daß ich mich von meiner wahnsinnigen Freude so habe hinreißen lassen. Das dürfte den Rôshi lächeln machen: Meine «Verblendung» über alles ist tatsäch- lich verschwunden. Aber sprechen wir zu niemandem darüber, da man dem Dharma Hochachtung erweisen muß16. Wenn ich behutsam bin in der Art, wie ich zu anderen über dies Erlebnis spreche, so dürfte es ihnen helfen, nicht schaden; keine Sorge.

13. Buji-Zen ist ein Zen ohne Gehalt, ein Zen, das die Gültigkeit des Erleuch- tungs-Erlebnisses leugnet. Seine Anhänger behaupten, daß es ein Widerspruch sei, davon zu sprechen, daß man erleuchtet wird, wenn wir doch alle von Anbeginn erleuchtet sind. 14. Da die Erleuchtung ihr nichts gebracht hat, was sie nicht schon hatte, wäre es, wollte sie sich dafür loben lassen, so, als ließe sie sich dafür loben, daß sie, sagen wir, zwei Füße hat. 15. HARADA Rôshis Worte bedeuten, daß die vollste Entwicklung all der latenten Fähigkeiten von Persönlichkeit und Charakter erst nach voller Erleuchtung vor sich gehen kann. 16. Das bedeutet wahrscheinlich, daß es bei jenen, die nicht an ihr Erlebnis glau- ben können oder wollen, zu einem Zerrbild des Dharma führen könnte, wenn man aufs Geratewohl über ihre Erleuchtung spräche.

386 Ich kann einfach nicht verstehen, warum ich immer solch Aufhebens von der Hochachtung vor dem Buddhismus gemacht habe17 und von jedem, der volle Erleuchtung gefunden hatte. Habe ich geträumt? YAEKO Zusammenfassende Anmerkung: Geträumt? Sicherlich. Aber das ist keiner von den gewöhnlichen Träumen, wie sie im allgemeinen in der Welt geträumt werden, sondern ein Traum von ungeheurer und dauernder Bedeutung, von tiefer Versunkenheit im Dharma des Buddha. Diese Stufe kann dem fünften und höchsten Grade gleichgesetzt werden, jenem, den man kenchûto nennt (ein Zustand völliger Natürlichkeit18, da die wechselseitige Durchdringung der Welt der Unterschiedenheit und der Welt der Gleichheit so vollkommen ist, daß man sich keiner von beiden mehr bewußt ist.) Ich staune, daß sie diesen Punkt so schnell erreicht hat. Daß sie das tun konnte, kann nur ihrem tiefen Glauben an die Lehren des Buddha und ihrem starken Bodhisattva-Geist zugeschrieben werden. Wer diesen Grad erreicht hat, hat die Zen-Schulung, soweit man sie unter einem Lehrer durchführen kann, vollendet und den Weg der wahren Selbst-Schulung beschritten. Gibt es heute auch nur eine Handvoll, die all das verstehen? Katsu!

5. Zeugnis für das Erlangen von FUGENS unbeugsamem Geist

27. Dezember Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi, dank des Rôshi habe ich klar erkannt, daß Buddha nichts anderes ist als Geist19. Meine Dankbarkeit kennt keine Grenzen. Das ist sowohl

17. Da die Essenz des Buddhismus nur darin liegt, ohne Anspannung und Zwang in Harmonie mit den wechselnden Umständen unseres Lebens zu leben, was gibt es da zu achten? 18. «Mit Natürlichkeit meine ich, daß alle Dinge so sind, wie sie ihrer eigenen Natur nach sind ohne alle äußeren Einflüsse.» - KÔBÔ Daishi. (Zitiert in Honen, the Buddhist Saint von COATES und ISHIZUKA, S. 133.) 19. Und «Geist» ist volle Bewußtheit, also: nur hören, wenn man hört; nur sehen, wenn man sieht, usw.

387 auf die gütige Führung des Rôshi zurückzuführen, als auch auf mein intensives Verlangen nach und Ringen um Buddhaschaft, auf daß ich alle Geschöpfe retten könne.

Ich hatte sie mir nicht als jemanden mit einem so ungewöhnlichen Streben nach Buddhaschaft vorgestellt. Wie urteilslos von mir! Es ist offensichtlich, daß sie die Inkarnation eines großen Boddhisattva ist. Wie kann ich dem Rôshi nur je genug danken? Jetzt sehe ich, daß ich mich um des Dharma willen achten muß20. Ich bitte um Belehrung, was ich noch tun muß. Wie dankbar bin ich, daß ich mich von jedem Jota an Verblendung im Denken und Füh- len läutern konnte.

Sie hat ihre verblendeten Gefühle noch nicht völlig ausgerottet21. Aber wer zu so tiefer Erleuchtung gelangt ist wie sie, kann nichtsdestoweniger ein reines Leben führen. Trotzdem aber möchte ich in jeder Hinsicht vom Rôshi geleitet wer- den, damit ich nicht andere bei ihrer Ausübung und ihrem Verständ- nis des Buddhismus irreführe. Meine Geistesverfassung ist jetzt eine ganz andere als zur Zeit des Kenshô. Kenshô ist die Stufe, da man den Ochsen bloß sieht. Ja, je weiter ich auf dem Erhabenen Wege fortschreite, desto erhabe- ner wird er. Nun, da ich erlebt habe, daß tada22 selbst Vollkommen- heit ist, kann ich dem Rôshi endlich die zahllosen Wohltaten vergel-

20. Der Sinn dessen dürfte sein, daß sie durch ihre Wesensschau, daß sie der inkarnierte Dharma ist, jetzt die Verantwortung fühlt, Buddhismus zu lehren. Somit achtet und bewahrt sie den Dharma, wenn sie sich selbst achtet und bewahrt. 21. Obgleich das Erleuchtungs-Erlebnis die Täuschung über ein «Ich» und «Anderes» aufhebt, bringt sie doch nicht gleichzeitig eine Läuterung der Gefühle mit sich. Unaufhörliches Üben ist erforderlich, um letzteres zu erreichen. Siehe auch S. 83-84. 22. Wörtlich: «nur», «einfach», «nichts als». Wenn man ißt, muß man sich einfach ins Essen vertiefen. Wenn sich das Bewußtsein beim Essen mit irgendwelchen Ideen oder Begriffen beschäftigt, so ist es nicht Tada. Jeder Augenblick des Lebens, der als Tada gelebt wird, ist das ewige Jetzt.

388 ten, und ich bin überglücklich. Da ich ein tiefes und entscheidendes Stadium erreicht habe, muß ich den Rôshi wirklich bald sehen.

Ich wünschte, ich könnte zu dir fliegen, um dich weiter zu beraten. Aber da es gerade Jahresende23 ist, bin ich äußerst beschäftigt mit den Angele- genheiten des Klosters und kann deshalb augenblicklich nicht weg. Es gibt gar keine Entschuldigung dafür, daß ich diese Bitte brieflich ausspreche; aber meine Krankheit hindert mich, den Rôshi aufzu- suchen. Der Rôshi wird äußerst glücklich sein, daß ich wahrhaft «promoviert» habe. Ich habe mir nie träumen lassen, daß ich in mei- nem Leben die Übermittlung von einem inkarnierten Buddha an den Bodhisattva Miroku bezeugen würde 24. Ich gelobe mir wieder und wieder, in jeder Kleinigkeit meines Lebens mit äußerster Sorgfalt zu handeln. Ich bete, daß es dem Rôshi gut gehen möge. YAEKO Zusammenfassende Anmerkung: Die Essenz des lebendigen Buddhismus kann in dem Wort tada zusammen- gefaßt werden. Wer ist Shakyamuni Buddha? Wer ist Miroku? Sie sind nicht anders als du. Seht! Seht! Sie hat diese Stufe des Tada erreicht. Daher ist es natürlich, daß sie dieses Gefühl tiefer Freude empfindet und auch die schwere Verantwortung im Hinblick auf den tiefgründigen Dharma. Die Wirkungen, die von solchem Geist ausgehen, sind die von Fugen oder die eines inkarnierten Miroku.

23. In japanischen Zen-Klöstern wird das fünf Tage währende Neujahrsfest von umständlichen Ritualen und Zeremonien eingeleitet. Aus diesem Grunde sind Rôshi und Mönche in der Zeit vorher sehr beschäftigt. 24. Man kann sagen, daß der lebendige Buddhismus immer dann von einem Buddha an einen Bodhisattva weitergegeben wird, wenn die Erleuchtung des Schülers die Ebene des Meisters voll erreicht.

389 6. Zeugnis von Freude und Frieden über das Eins-Sein mit dem Dharma

27. Dezember Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi, Freuen Sie sich mit mir! Endlich habe ich mein Ur-Angesicht mit einer Klarheit wahrgenommen, die Himmel und Erde durchdringt. Und doch habe ich mich nie als verzweifelten Sucher angesehen. Der Rôshi und ich haben eine tiefgreifende Illusion gehegt: daß es erhebend sei, alle verblendeten Geschöpfe zu retten, wie viele Äonen das auch erfordern mag. Aber ein also Verblendeter wird als Bodhisattva bezeichnet. Zu erkennen, daß es niemanden zu retten gibt, das ist (wahres) Retten. Ach, wie komisch! Indessen kennt meine Hochachtung für meinen Rôshi keine Grenzen. Ja, wahrlich, niemand als der Rôshi kann die Tragweite meiner Erleuchtung ermessen. Ich habe das Gefühl, daß es nicht weise sein würde, wenn der Rôshi anderen erzählen wollte, daß ich, die ich weder Würde noch Größe habe, vollkommene Erleuchtung gefunden habe, da es sie veranlassen dürfte, leichtfertig vom Buddhismus zu denken25. Das mag in einer Hinsicht zutreffen; andererseits aber werden viele dadurch zu größeren Anstrengungen angefeuert werden. Es liegt also kein Grund zur Beunruhigung vor. Nur wenige Ausnahme-Menschen würden mein Erlebnis nicht an- zweifeln. Was für eine ungeheure Erleichterung zu entdecken, daß es mir gerade so, wie ich bin, an nichts fehlt! Was für eine Freude zu wissen, daß der Rôshi und ich auf ewig beisammen sein werden! Buddhismus ist für die, die frei von Verblendung sind, nutzlos. Ich lache in mich hinein bei dem Wissen, daß ich im Grunde immer ein

25. Das besagt, daß es keinen Anlaß zur Verwunderung gäbe, wenn z. B. ein hochstehender Priester tiefes Satori erlangen würde. Wenn aber ein zartes, gebrech- liches Mädchen von fünfundzwanzig Jahren tiefste Erleuchtung findet, so kann das sehr wohl dazu führen, daß jene, die solches für unmöglich halten, den Dharma schmälern.

390 Buddha war - daran habe ich nicht den geringsten Zweifel; aber das kann ich nur zu jenen sagen, deren Wesensschau der meinen ent- spricht. Menschen mit seichterem Kenshô werde ich anderes zu pre- digen haben. Mit einem Herzen voller Dankbarkeit erhebe ich meine Hände in Gasshô zum Rôshi. Wie hoch erhaben ist das Wahre Gesetz, wie konsequent vernünftig von Anfang bis Ende - ich spüre das so lebhaft! Mit friedevollem Herzen erwarte ich das neue Jahr. Schonen Sie sich ja. YAEKO

P. S.: Ich kann jetzt ermessen, von welch gefährlicher Einseitigkeit ein schwaches Kenshô sein kann26.

Das stimmt. Die Erleuchtung der meisten Zen-Lehrer heutzutage ist von dieser Art, aber ein einseitiges Satori bleibt ein einseitiges Satori, wie viele Kôans man auch gelöst haben mag. Diese Menschen machen sich leider nicht klar, daß ihre Erleuchtung unendlicher Ausweitung fähig ist.

Zusammenfassende Anmerkung: Das Leben als Tada zu leben, bedeutet, den Glorreich-Erhabenen Weg zu wandeln, den alle Buddhas gegangen sind. Wenn man sich der Notwendig- keit des Buddhismus nicht mehr bewußt ist, manifestiert sich der wahre Buddhismus. Doch wollte jemand auch nur an diesem Begriff festhalten, so würde sein Leben von Täuschung umwölkt. Wisch also (den Dunst) solcher Verhaftung getreulich ab, und dein Leben wird ständig von war- mem Frühlingssonnenschein durchflutet werden.

26. Ein schwaches Kenshô ist ein solches, bei dem die Welt der Leere noch als verschieden von der Welt der Form aufgefaßt wird. Man ist noch nicht ihrer wechselseitigen Durchdringung innegeworden.

391 7. Weiteres Zeugnis von Frieden und Freude über das Eins-Sein mit dem Dharma

27. Dezember Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi, lassen Sie mich doch oft schreiben. Endlich habe ich meine Fassung wiedergewonnen. Durch die Erkennt- nis, daß ich selbst Buddha bin, Ich bin Buddha. Ich bin ich. Ich bin selbstloses Ich. habe ich die aufrichtige Liebe und Verehrung, die ich für den Rôshi empfinde, gut verstehen gelernt27. Ich habe mich schon von dem Geruch der Erleuchtung befreit. Noch nicht ganz. Strömt sogar eben jetzt den schrecklichen Geruch der Erleuchtung aus. Meine Dankbarkeit dem Rôshi und dem Dharma gegenüber ist nur umso tiefer. Ich bin in meinem Innern dankbar für die Erkenntnis, daß ein Haften an dem Zustand der Verblendung wie auch an dem der Erleuchtung uns zum Trotz ein immer heftigeres Verlangen erzeugt, dem Dharma mit größerer Intensität nachzugehen (um so tiefsten Frieden der Seele zu erlangen)28. Wer nie müde wird, Gutes zu tun, wird Buddha genannt. Die Verhaftung

27. Das ist die Liebe, die aus dem Eins-Sein des erwachten Buddha-Geistes in HARADA Rôshi und ihr selbst strömt. 28. Solange unser innerer Blick nicht scharf eingestellt ist und wir uns und die Welt fälschlich für getrennt und vereinzelt ansehen, statt als unteilbares Ganzes, sind wir verblendet. Diese Verzerrung (unsere Grund-Unwissenheit) entstellt unsere Sicht und Reaktion allem gegenüber. Infolgedessen sehen, d. h. erleben wir die Dinge nicht, wie sie ihrer wahren Natur nach sind. Nun ruft das Erlebnis der Erleuchtung, während es uns unsere Zusammengehörigkeit mit allen Dingen offen- bart und solchermaßen unsere verschobene innere Sicht scharf einstellt, paradoxer- weise einen feinen Nebel von Stolz auf solche Leistung hervor, und der beein- trächtigt die ursprüngliche Reinheit des Geistes. Solange diese Verunreinigung bestehen bleibt, bleibt noch schleichende Unruhe zurück. Aber eben diese Unruhe wirkt als Ansporn, weiter zu üben, bis die Verhaftung an die eigene Erleuchtung gelöst und tiefster Friede und tiefste Freiheit erreicht sind.

392 an das Dharma jedoch ist keine Tugend, und solche Verhaftung ist auch nicht leicht zu lösen. Verblendung und Erleuchtung sind gleichermaßen anstößig. Der Rôshi kann ermessen, wie ungeheuer befriedigend es für mich ist, durch vollkommene Wesensschau endlich zu entdecken, daß es mir gerade so, wie ich bin, an nichts mangelt.

Ich weiß, was für ein Gefühl das ist. Selbst der hochverehrte SHAKYAMUNI klammerte sich drei Wochen lang an den (köstlichen) Geschmack seiner Erleuchtung. Wenn sie sich dieser Selbstzufriedenheit nicht entledigt, kann sie den wahren Buddhismus nicht begreifen. Das Wissen, daß meine karmische Beziehung zum Rôshi so tiefrei- chend ist, hat mich zu mehr Selbstachtung und Vorsicht gebracht. Ich habe nun eine große Erleuchtung und fünf kleine erlebt. Bis zum heutigen Tage hatte ich vergessen, wer und wo ich war und was ich tat. Gehen, ohne zu wissen, daß man geht; sitzen, ohne zu wissen, daß man sitzt - das ist wahres samâdhi im Zen. Solange das Ich nicht in diesem Ausmaß gebannt ist, gibt es keine wahre Auferstehung. Du hast es wahrlich gut gemacht. KUNG Dse vergaß drei Tage lang das Essen, so versunken war er einzig in seine Musik. Ich habe meine Verblendung derart gründlich fortgefegt und bin so tief eingedrungen, daß ich nicht in meinen gewöhnlichen Zustand zurückkehren konnte. Laß es, wie es ist.

Ich bat TAJI Rôshi um Dokusan, und er erklärte mir, daß das auf die Kraft tiefer Konzentration zurückzuführen sei. Ja, zurückzuführen auf die Kraft, die von tiefster geistiger Sammlung erzeugt wird 29. Ich dachte, es wäre vielleicht nötig, den Rôshi zu bitten herzukom- men, damit ich weiteren Rat erhielte. Aber dann kam mir eine tiefe

29. Siehe S. 81-82.

393 Einsicht, und ich betete vor dem Buddha und verlor mich dann an Shikantaza für eine Zeit, die etwa drei Stunden ausgemacht haben muß.

Es bedarf des Gebetes nicht. Schließlich konnte ich zu meiner normalen Verfassung zurückkehren. Das Zen, das ich (nach der Erleuchtung) übte, war tatsächlich ver- zweifelt, da ich mir eingebildet hatte, daß es irgendeinen Rückstand gäbe, mit dem es aufzuräumen gelte. Es ist mir klar, daß ich nie auf Zazen verzichten kann. Ich bin so dankbar, so dankbar für diese Erkenntnis, daß es in sich selbst Vollkommenheit ist, wenn ich so, wie ich bin, Leben auf Leben einfach nur da bin. Im ganzen Weltall bin ich erhaben, und das ist vollkommen natür- lich. Wer unter den zehntausend Phänomenen des Weltalls einzigartig erscheint, ist nicht anders als sie! Ich bin erstaunt, (Erstaunt) vom Gesichtspunkt des verblendeten Durchschnittsmenschen aus. daß ich jenes Eine bin. Wie wunderbar, wie voller Wunder! Ich bin in guter Stimmung, machen Sie sich also bitte keine Sorge um mich. YAEKO P. S.: Mir steigen Tränen der Dankbarkeit und Freude auf, wenn ich daran denke, daß ich die Zen-Schulung von Anfang bis Ende ohne Anstrengung durchlaufen habe und daß ich die Führung des Rôshi auf ewig erhalten darf 30. Zusammenfassende Anmerkung: Einem alten Zen-Sprichwort nach ist es ebenso eine Krankheit, an der eigenen Erleuchtung zu haften, wie ein verrückt-aktives Ich zu zeigen. Ja,

30. Aus Hochachtung und Bescheidenheit sucht man stets bei seinen Lehrern Füh- rung. DÔGEN Zenji bittet in seinem Hotsugammon den Buddha und die Patriarchen um ewige Führung.

394 je tiefer die Erleuchtung, desto schlimmer die Krankheit. Ich hätte gedacht, daß es in ihrem Fall drei bis vier Monate dauern würde, bis die offensicht- lichsten Symptome verschwänden, zwei bis drei Jahre bei den tiefer sitzen- den und sieben bis acht Jahre bei den heimtückischsten. Solche Symptome sind bei jemandem, der so sanft ist wie sie, weniger ausgeprägt. Wer Zen übt, muß davor auf der Hut sein. Meine eigene Krankheit währte fast zehn Jahre. Ha!

8. Vorahnung des Todes

28, Dezember Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi, ehe das Jahr zu Ende geht, muß ich den Rôshi auf jeden Fall, auf jeden Fall sehen, komme, was mag. Ich muß dem Rôshi etwas Beunruhigendes mitteilen. Ich habe das sichere Gefühl, daß die Zeit meines Scheidens vom Rôshi nahe ist. So bitte ich, mich um jeden Preis zu besuchen. Um des Dharma wil- len. Ich bitte nach reiflicher Überlegung darum. Ich versichere, es ist keine Halluzination. YAEKO

Schluß-Anmerkung:

Aus diesem ihrem letzten Brief geht klar hervor, daß YAEKO ein Vorzei- chen des Todes hatte. Angesichts des strahlenden Tones der sieben vorangegangenen Briefe wurde ich durch den unheilvollen Ton dieses letzten erschreckt und traurig gemacht. Ich hatte gehofft, daß ihr Tod doch nicht so bald eintreten würde. Was für ein schrecklicher Jammer! Ein Sûtra sagt, daß es die ideale Art zu sterben sei: mit einer Ankündi- gung des Todes eine Woche zuvor, unter wenig Schmerzen und Leiden und unerschütterlich heiteren Geistes, frei von aller Verhaftung an den Körper. Das ist das von allen Buddhisten gehegte Ideal. Aber seine Verwirklichung ist keineswegs leicht.

395 Der Patriarch CHÛHÔ hat einmal feierlich erklärt: «Ich möchte sterben mit einer Todes-Warnung eine Woche zuvor, heiter unerschütterlichen Geistes und frei von aller Verhaftung an meinen Körper, um in der Folge im Bereich der Buddhas wiedergeboren zu wer- den, und durch sie schließlich tiefste Erleuchtung zu gewinnen und ihre Bestätigung zu erhalten, auf daß ich umso besser alle Geschöpfe in den unzähligen Welten retten kann.» YAEKOS Tod war in diesem Geiste. Vor diesem Brief hatte ich ein Tele- gramm erhalten, in dem sie mich dringend bat, sie zu besuchen. Am 29. Dezember (1935) eilte ich an ihr Lager nach Kamakura. Bei unserem Wiedersehen und Gespräch bestätigte ich, daß das Auge ihres Geistes geöffnet war. Sie war in Tränen. Ich auch. Ich weinte vor Freude und Kummer. Sie hatte für sich selbst nicht die geringste Angst vor dem Sterben31, aber da sie nur an den Dharma und die Erleuchtung anderer dachte, war sie tief besorgt, daß ihre Freunde und Verwandten irrtümlicherweise glauben könnten, daß ihre Zen-Schulung und das Erlebnis der Erleuchtung ihren Tod verursacht hätten. Sie fürchtete, daß solch irriger Glaube jene, die noch keinen wahren Glauben an den Buddhismus hatten, dazu führen könnte, den Dharma von sich zu weisen. Wenn es dazu kommen sollte, so hätte sie karmisch einen schweren Verstoß nicht allein gegen den Dharma, sondern auch gegen eben jene Menschen begangen. Zudem würde sie, wie sie meinte, der Untreue und Verantwortungslosigkeit den Buddhas und der ganzen Menschheit gegenüber schuldig. Diese Gedanken lasteten schwer auf ihr. Obgleich sie willens war, eine Wiedergeburt in der Hölle auf sich zu nehmen als Folge solcher Übertre- tungen, war ihr doch der Gedanke unerträglich, daß sie als Werkzeug dienen sollte, um andere Menschen in falsche Richtung zu führen. Im Laufe des ganzen Tages und der Nacht, da ich bei ihr blieb, besprach sie diese Sorge mit mir. Ich versicherte ihr, daß sie keinen Grund zur Beunruhigung hätte, da ich solche falschen Auffassungen berichtigen würde. Ich hatte sie oft gewarnt, sich nicht zu überanstrengen, wobei ich darauf hingewiesen hatte, daß das dem Wahren Gesetz entgegen sei, und weiter- hin, daß jene, die den Willen dazu hätten, die Zen-Übung betreiben könn- ten, ohne sich zu überanstrengen. Es ist natürlich nicht unmöglich, daß sie unwissentlich meine Warnungen nicht beachtet hat und, wenn man ihre

31. Siehe KUNG Tze: «Sieht man am Morgen den Weg, so kann man am Abend freudig sterben.»

396 zarte Gesundheit berücksichtigt, ihre Kräfte durch übermäßige Anspan- nung untergraben hat, was ihren Tod beschleunigte. Ihre größte Furcht 32 war, daß die Ursache ihres Todes von Menschen (die, da sie dem Dharma schuld geben würden, daß es übermäßige Anforderungen an sie gestellt habe) mißverstanden werden dürfte, und jene daraufhin dazu verleitet wür- den, es zu verachten. Wie immer das auch sein mag, die wirksame Kraft ihres Lebens liegt in dem dadurch gegebenen bewährten Beispiel, daß es durchaus möglich ist, einfach im eigenen Hause und teils auf dem Krankenlager Zen recht zu üben und sogar vollkommene Erleuchtung zu finden. Wenn fester Wille vorhanden ist, kann man immer Zazen üben, selbst bei gebrechlicher Kon- stitution und ohne Sesshin besuchen zu können. Das ist es, was ihre bemer- kenswerte Erfahrung so heraushebt und was in der neueren Geschichte des Zen festgehalten werden muß. Nun ist YAEKO tot - ein wahrhaft großer Verlust. Ihr mutiges Leben ist jedoch derart inspirierend und sein Einfluß so weitreichend, daß es mit Sicherheit die Verbreitung des Buddhismus fördern und der Menschheit zum Wohle dienen wird.

32. YAEKOS Sorge über mögliche Mißverständnisse im Hinblick auf ihr Ableben mag übertrieben und sogar unvernünftig erscheinen, denn wie kann sie für die Auslegung ihrer Todesursache durch andere verantwortlich gemacht werden? Man muß jedoch daran denken, daß tiefe Erleuchtung, indem sie die wechselseitige Abhängigkeit allen Daseins klarmacht, ein starkes moralisches Verantwortungs- gefühl für die unmittelbaren und mittelbaren Rückwirkungen eigenen Tuns und Lassens auf das Leben anderer schafft.

397 Dritter Teil Ergänzungen Siebtes Kapitel Dôgen über «Sein-Zeit»

Einführung

In diesem Buch hatten wir mehrfach Gelegenheit, den großen DÔGEN Zenji und sein Hauptwerk Shôbôgenzô (Schatzkammer des Auges des Wahren Dharma1) zu erwähnen. Der Mann wie seine Schriften verdienen ein Buch für sich allein. Hier können wir nur einen Hin- weis auf ihren hohen Rang geben. DÔGEN KIGEN (auch als DÔGEN EIHEI bekannt, nach dem Namen seines Tempels Eihei-Ji, oder Tempel des Ewigen Friedens) lebte von 1200-1253 und war wahrscheinlich der glänzendste Geist, den der japanische Buddhismus je hervorgebracht hat. Obgleich man DÔGEN das Verdienst, die Lehren der Sôtô-Sekte von China nach Japan gebracht zu haben, zuschreibt, scheint es doch klar zu sein, daß er niemals beabsichtigte, eine Sôtô-Sekte als solche zu gründen, sondern daß er vielmehr ein ganzheitliches Zen fördern wollte, das sich auf die höchsten Lehren und Übungsweisen von SHAKYAMUNI Buddha gründete. Ja, er mißbilligte vielmehr alle sektiererischen Einteilun- gen, ob es sich nun um Sôtô, Rinzai und Ôbaku oder um die umfas- senderen Kategorien von Hīnayâna und Mahâyâna handeln mochte Es ist irreführend, DÔGEN als einen «scharfsinnigen Denker» zu bezeichnen, wie es manche getan haben, als sei er eher ein Philosoph denn ein Zen-Meister. DÔGEN als hochgesinnter Lehrer, der lebte, was er lehrte, suchte die Menschen von den Fesseln der Habgier,

1. Das dem Wahren Dharma geöffnete Auge des Geistes.

401 Angst und Verblendung zu befreien, indem er sie lehrte, wie man ein wahrhaft sinnvolles Leben führt, das auf dem Weg des Buddha basiert. Es ging ihm nicht darum, ein System spekulativer Gedanken- gänge darzulegen. Shôbôgenzô, das aus fünfundneunzig Kapiteln besteht, wurde inner- halb von fünfundzwanzig Jahren geschrieben und kurz vor DÔGENS Tod vollendet. DÔGEN behandelt darin so einfache und erdnahe Dinge wie die richtige Art des Benehmens auf der Toilette in einem Kloster und so hoch metaphysische wie die Beziehung von Zeit und Sein zu Schulung-Erleuchtung. DÔGENS ganze Ausdrucksweise ist einzigartig; das kann zweifellos sowohl dem Wesen seiner Erleuch- tung zugeschrieben werden, die von vielen für die tiefreichendste im japanischen Buddhismus angesehen wird, als auch seinem von Natur aus glänzenden, höchst schöpferischen Geist. In unterrichteten Zen- Kreisen sagt man, daß die tiefsinnigen Kapitel des Shôbôgenzô der Mount Everest des japanischen Buddhismus seien, und daß der, der bis zu jenem Gipfel aufsteigen wolle, das geöffnete Auge voller Erleuchtung haben müsse und die Sicherheit des Fußfassens von einem Kletterer, wie man sie nur durch jahrelange Schulung gewinnt. Um dem Leser eine Ahnung von Stil und Dimension von DÔGENS Shôbôgenzô zu geben, legen wir einen kurzen Auszug aus dem 11. Kapitel vor, der die Überschrift «Sein-Zeit» trägt, vermutlich das tiefsinnigste Kapitel des Buches. Unserer Meinung nach ist der übersetzte Abschnitt, der ungefähr ein Drittel des Kapitels ausmacht, im wissenschaftlich orientierten zwanzigsten Jahrhundert für Zen- Schüler besonders bedeutsam, da er in einzigartiger Weise den Sinn von Zeit und Weltall offenbart. Darüber hinaus macht er klar, daß DÔGENS Ein-Sichten, wie er sie im dreizehnten Jahrhundert intro- spektiv durch Zazen gewann, den Auffassungen gewisser zeitgenössi- scher Mikro- und Makrophysiker über Zeit und Raum, zu denen sie durch wissenschaftliche Prinzipien und Methoden gelangten, in bemerkenswerter Weise parallel laufen. Der Unterschied jedoch, der ein tief bedeutsamer ist, liegt in der Wirkung, die diese Einsichten auf jene Menschen hatten. DÔGENS Erkenntnis, die eine Selbst-Ent- deckung war, befreite ihn von der Urangst der menschlichen Exi-

402 stenz und brachte ihm innere Freiheit, Frieden und tiefe moralische Sicherheit. Aber soweit man zurzeit sehen kann, ist in der Spur der wissenschaftlichen Entdeckungen keine solche innere Entfaltung erfolgt. Ein Wort zur Warnung: Diese Zeilen sollten nicht als abstrakte Metaphysik gelesen werden. DÔGEN denkt nicht über die Beschaffen- heit von Zeit und Sein nach, sondern spricht aus tiefstem Erleben jener Wirklichkeit. Sein Hauptanliegen geht stets um Übung und Erleuchtung, stets darum, seine Leser zur Erkenntnis der Wahrheit ihrer selbst wie des Universums zu führen. Das wird im Fukan Zazengi (Ratschläge zu Zen für die Allgemeinheit) in folgender Ermahnung deutlich ausgesprochen:

«Ihr müßt; aufhören, euch um die Dialektik des Buddhismus zu kümmern, und statt dessen lernen, wie ihr in Zurückgezogenheit in eure eigene Seele blickt.»

«Sein-Zeit»

Ein Zen-Meister alter Zeit2 hat gesagt: «Sein-Zeit steht auf dem obersten Gipfel und in der tiefsten Tiefe des Meeres; Sein-Zeit ist drei Köpfe und acht Ellbogen; eine Höhe von sech- zehn oder achtzehn Fuß ist Sein-Zeit; der Stab eines Mönchs ist Sein-Zeit; 3 hossu ist Sein-Zeit; die Steinlaterne ist Sein-Zeit; TARÔ ist Sein-Zeit, 4 JIRÔ ist Sein-Zeit; Erde ist Sein-Zeit, Himmel ist Sein-Zeit.» «Sein-Zeit» heißt, daß Zeit Sein ist. Jegliches daseiende Ding ist Zeit. Die goldene Statue von sechzehn Fuß ist Zeit. Da sie Zeit ist, hat sie die Großartigkeit der Zeit. Man muß lernen, daß sie die zwölf Stun-

2. YAKUSAN IGEN Zenji, ein chinesischer Meister der T'ang-Zeit. 3. Ein kurzer Holzstab, wie ihn Zen-Meister bei sich führten, um Fliegen und Mücken zu verscheuchen, mit einem Schweif. 4. Diese Namen werden in gleicher Weise gebraucht wie bei uns HANS, KARL und FRITZ.

403 den5 der «Jetztheit» ist. Drei Köpfe und acht Ellbogen sind Zeit. Da sie Zeit sind, müssen sie identisch sein mit diesen zwölf Stunden, eben diesen Augenblick. Obgleich wir zwölf Stunden nicht als lange oder kurze Zeit messen, nennen wir sie doch (willkürlich) zwölf Stunden. Die Spuren von Flut und Ebbe der Zeit sind so offensichtlich, daß wir sie nicht anzweifeln. Doch obgleich wir sie nicht anzweifeln, sollten wir daraus nicht schließen, daß wir sie begreifen. Menschen sind wankelmütig: Einmal zweifeln sie an dem, was sie nicht begrei- fen, und zu anderer Zeit zweifeln sie nicht mehr an demselben Ding. So deckt sich ihr früheres Zweifeln nicht immer mit dem gegenwär- tigen. Das Zweifeln selbst aber, wie es ist, ist Zeit in diesem Augen- blick. Der Mensch schafft sich eine Ordnung und legt diese Ordnung als die Welt aus. Es gilt zu erkennen, daß ein jegliches Ding, ein jegli- ches Lebewesen im ganzen Weltall Zeit ist. Kein Ding behindert ein anderes, ebenso wie keine Zeit eine andere behindert. Also besteht die ursprüngliche Hinwendung eines jeden Geistes zur Wahrheit innerhalb der gleichen Zeit, und für jeden Geist gibt es ebensowohl auch einen Augenblick, da seine Hinwendung zur Wahrheit beginnt. Mit Übung-Erleuchtung ist es nicht anders. Der Mensch schafft sich eine Ordnung und sieht diese Ordnung (als die Welt) an. Es ist ebenso unbestreitbar, daß der Mensch Zeit ist. Man muß anerkennen, daß es in dieser Welt Millionen von Dingen gibt, und daß ein jegliches gleichermaßen die gesamte Welt ist - das ist es, womit das Studium des Buddhismus beginnt. Wenn man das erkennt (wird man gewahr), daß ein jegliches Ding, ein jegliches lebendige Ding das Ganze ist, obgleich es selbst das nicht erkennt. Da es keine andere Zeit als diese gibt, ist eine jegliche Sein-Zeit die Gesamtheit der Zeit. Jeder Zeitpunkt schließt jegliches Sein und jeg- liche Welt ein. Denkt einmal nach, ob es irgendein denkbares Sein oder irgendwelche denkbaren Welten gibt, die nicht in dieser gegen- wärtigen Zeit eingeschlossen sind.

5. Das heißt: der 12-Stunden-Tag und könnte gleichermaßen der 24-Stunden-Tag mit Tag und Nacht sein.

404 Wenn ihr gewöhnliche Menschen seid, unbewandert im Buddhismus, werdet ihr zweifellos, wenn ihr die Worte am toki6 hört, darunter verstehen, daß (sie «einmal», «zu einer Zeit» bedeuten, also) zu einer Zeit das Sein als drei Köpfe und acht Ellbogen erschien, daß zu einer Zeit das Sein eine Höhe von sechzehn bis achtzehn Fuß war, oder daß ich zu einer Zeit durch den Fluß watete und zu einer Zeit über das Gebirge ging. Ihr mögt denken, daß jener Fluß und jenes Gebirge Dinge der Vergangenheit sind, daß ich sie hinter mir gelassen habe und nun in diesem palastartigen Gebäude lebe - daß sie von mir so getrennt sind wie der Himmel von der Erde. Die Wahrheit jedoch hat noch eine andere Seite. Als ich auf den Berg stieg und den Fluß überquerte, war ich (Zeit). Zeit muß notwendi- gerweise mit mir sein. Ich bin schon immer; Zeit kann mich nicht verlassen. Wenn Zeit nicht als ein Phänomen aufgefaßt wird, das verebbt und flutet, so ist die Zeit, da ich den Berg erstieg, der gegen- wärtige Augenblick der Sein-Zeit. Wenn Zeit nicht als kommend und gehend gedacht wird, ist dieser gegenwärtige Augenblick für mich die absolute Zeit. Zu der Zeit, da ich den Berg erstieg und den Fluß überquerte, erlebte ich da nicht die Zeit, die ich in diesem Gebäude bin? Drei Köpfe und acht Ellbogen ist die gestrige Zeit; eine Höhe von sechzehn bis achtzehn Fuß ist die heutige; aber «gestern» und «heute» bedeuten die Zeit, da man geradewegs in die Berge geht und die zehntausend Gipfel7 sieht. Sie ist nie vergangen. Drei Köpfe und acht Ellbogen ist meine Sein-Zeit. Sie scheint vergangen zu sein, aber sie ist gegenwärtig. Also ist die Kiefer Zeit und also der Bambus. Fasse Zeit nicht so auf, als verflöge sie nur; verfliegen ist nicht ihr einziges Wirken. Auf daß die Zeit verfliegen könnte, müßte es eine Trennung geben (von ihr und den Dingen). Da ihr meint, daß Zeit lediglich vergeht, lernt ihr nicht die Wahrheit über Sein-Zeit. Mit einem Wort: Jegliches Sein in der gesamten Welt ist eine gesonderte Zeit in einem Kontinuum. Und da Sein Zeit ist, bin ich meine Sein-

6. Die gleichen chinesischen Schriftzeichen können entweder als aru toki (= einmal, zu einer Zeit) gelesen werden, oder als uji, was «Sein-Zeit» bedeutet. 7. Die «zehntausend Gipfel der Berge» sollten symbolisch verstanden werden als die zahllosen, verschiedenen Umstände und Tätigkeiten des Lebens.

405 Zeit. Zeit hat die Eigenschaft, sozusagen von heute auf morgen über- zugehen, von heute auf gestern, von gestern auf heute, von heute auf heute, von morgen auf morgen. Da dieses Übergehen eine Eigen- schaft der Zeit ist, überschneiden sich gegenwärtige und vergangene Zeit nicht, noch stoßen sie einander. Aber der Meister SEIGEN ist 8 Zeit, ÔBAKU ist Zeit, KÔSEI ist Zeit, SEKITÔ ist Zeit. Da ihr und ich Zeit sind, ist Übung-Erleuchtung Zeit.

8. Chinesische Zen-Meister alter Zeit.

406 Achtes Kapitel Die zehn Ochsenbilder mit Kommentaren und Lobsprüchen

Von den mancherlei Darstellungen der verschiedenen Ebenen des Satori beim Zen ist keine besser bekannt als jene durch die Ochsen- bilder, eine Folge von zehn Illustrationen, versehen mit Anmerkun- gen und Lobsprüchen. Wahrscheinlich wurde der Ochse auf Grund seiner im alten Indien geheiligten Natur dazu ausersehen, das Urwesen oder den Buddha-Geist des Menschen zu symbolisieren. Die ursprünglichen Zeichnungen und die Kommentare, die sie beglei- ten, werden KAKUAN SHIEN (KUO-AN SHIH-YÜAN), einem chinesi- schen Zen-Meister des zwölften Jahrhunderts, zugeschrieben. Aber er war nicht der erste, der die Entwicklungsstadien der Zen-Erleuch- tung durch Bilder veranschaulichte. Es gibt ältere Versionen mit fünf und acht Bildern, bei denen der Ochse allmählich immer weißer wird; das letzte Bild stellt einen Kreis dar. Das besagt, daß die Erkenntnis des Eins-Seins (d. h. das Austilgen jeder Vorstellung von «Ich» und «Anderes») das höchste Ziel des Zen war. Da KAKUAN das aber für unvollständig hielt, fügte er zwei weitere Bilder nach dem Kreis hinzu, um klarzumachen, daß der Zen-Mensch von höchster geistiger Entwicklung in der irdischen Welt der Formen und Vielfalt lebt und sich mit völliger Freiheit unter die gewöhnlichen Menschen mischt, die er durch sein Erbarmen und seine Strahlkraft dazu inspi- riert, den Weg des Buddha zu gehen. Diese Version hat in Japan wei- teste Verbreitung gefunden. Sie hat sich all die Jahre hindurch als nie versiegender Quell der Anregung und Belehrung für Zen-Schüler erwiesen. Wir zeigen sie hier, wie schon auf Seite 22 erwähnt, als 1 moderne Tuschzeichnung von GYOKUSEI JIKIHARA .

407 1. Die Suche nach dem Ochsen Der Ochse ist in Wirklichkeit nie verloren gegangen; warum also ihn suchen? Da der Mensch sich aber von seinem Wahren Wesen abge- wandt hat, ist der Ochse ihm fremd geworden; er hat ihn im Staub2 aus den Augen verloren. Weit ist der Mensch von seiner Heimat abgeirrt und sieht sich nun einem Wirrsal von Wegen gegenüber. Gier nach Gewinn und Furcht vor Verlust schießen wie sengende Flammen empor; Vorstellungen von Recht und Unrecht stehen gleich Dolchen auf.

Trostlos in endloser Weite Völlig erschöpft ist der Körper, bahnt er sich auf und ab den Weg verzweifelt ermattet das Herz; in wucherndem Gras wo nur soll er suchen? und sucht seinen Ochsen. Im Abendnebel hört er einzig Weites Wasser, ferne Berge, Zikaden im Ahorn zirpen. und der Weg zieht sich endlos dahin.

408 2. Erblicken der Spuren Durch Sûtras und Lehren findet er die Spur des Ochsen. Er hat genau verstanden, daß verschieden geformte (goldene) Gefäße doch alle von gleichem Gold sind und daß gleichermaßen alles und jedes eine Offenbarung des Selbst ist. Doch kann er noch nicht Gut und Böse unterscheiden, nicht Wahrheit von Trug. Noch ist er nicht wirklich durch das Tor eingetreten. Deshalb nennt man dieses Stadium «Er- blicken der Spuren». Im Wald und am Gestade des Wassers finden sich unzählige Fußspuren; sieht er wohl das zerteilte Gras? Selbst die tiefsten Schluchten der höchsten Berge können des Ochsen Nase nicht verbergen, reicht sie doch bis in den Himmel.

409 3. Erblicken des Ochsen Wenn er nur gespannt auf die alltäglichen Laute horcht3, wird er zur Erkenntnis gelangen und in eben dem Augenblick den wahren Ursprung erblicken. Die sechs Sinne unterscheiden sich nicht von die- sem wahren Ursprung. In jedem Wirken ist der Ursprung unver- hüllt gegenwärtig. Er entspricht dem Salz im Wasser, dem Leim in der Farbe des Malers 4. Wenn der Hirte die Augen weit aufschlägt, wird er inne, daß das Gesehene vom Ursprung nicht verschieden ist. Eine Nachtigall schlägt auf einem Zweig, warm scheint die Sonne, sanft weht der Wind, die Weiden grünen. Dort steht der Ochse, wo könnt' er sich verbergen? Das herrliche Haupt, die stattlichen Hörner, kein Maler kann solches je malen.

410 4. Einfangen des Ochsen Heute hat er den Ochsen getroffen, der lange in der Wildnis umher- gestreift war. Doch der Ochse schwelgte so lange in dieser Wildnis, daß es nicht leicht ist, ihn von seinen alten Gewohnheiten loszurei- ßen. Er sehnt sich noch nach dem süß duftenden Gras, noch ist er eigensinnig und wild. Will der Hirte ihn zähmen, so muß er zur Peitsche greifen. Fest muß der Hirt das Leitseil packen, darf es nicht loslassen, denn noch hat der Ochse schlimme Neigungen und wilde Kraft. Bald rennt er ins Hochland hinauf, bald läuft er tief in Stätten voller Dunst und Nebel und verweilt dort.

411 5. Zähmen des Ochsen Erhebt sich ein Gedanke, so folgen weitere und weitere. Gedanken werden durch Erleuchtung wirklich; infolge der Verblendung wer- den sie unwirklich. Die Dinge erhalten ihr Dasein nicht durch die Umwelt, sondern sie erheben sich einzig im eigenen Geiste. Fest muß der Ochshirt das Leitseil packen und darf keinen Zweifel eindringen lassen. Der Hirte darf Peitsche und Leitseil keinen Augenblick aus der Hand lassen, sonst läuft der Ochse davon in den Staub. Recht gezähmt jedoch, wird er sauber und sanft, gelöst vom Seil, folgt er willig dem Hirten.

412 6. Heimritt auf dem Ochsen Der Kampf ist vorüber: «Gewinn» und «Verlust» haben sich in Leere aufgelöst. Der Hirt singt die ländliche Weise der Holzfäller und spielt auf der Flöte die einfachen Lieder der Dorfkinder. Er sitzt bequem auf dem Rücken des Ochsen und blickt heiter zu den Wolken droben auf. Ruft man ihn an, so sieht er sich nicht um; will man ihn festhalten, so bleibt er doch nicht hier. Er reitet auf dem Ochsen heim in heiterer Gelassenheit. Den fernhinziehenden Abendnebel begleitet weithin der Klang seiner Flöte. Ein Klatschen, der Takt eines Liedes ist von unumschränktem Sinn. Wer diesen Sinn kennt, braucht der denn noch Worte? 5

413 7. Der Ochse ist vergessen, der Mensch bleibt Im Dharma gibt es keine Zweiheit. Der Ochse ist unser urinnerstes Wesen - das hat er nun erkannt. Eine Falle ist nicht mehr erforder- lich, wenn der Hase gefangen ist, ein Netz nicht mehr vonnöten, wenn der Fisch geködert wurde. Es ist, als wäre Gold von der Schlacke befreit worden; als wäre der Mond zwischen den Wolken zum Vorschein gekommen. Ein Strahl von klarstem Glanz scheint immerdar von Urbeginn an. Heimkehren konnte er nur auf dem Ochsen, nun gibt es den Ochsen nicht mehr. Allein sitzt der Hirte, heiter und ruhig. Die rote Sonne steht schon hoch am Himmel, doch er träumt friedlich weiter. Unter dem Strohdach liegen nun Peitsche und Leitseil nutzlos herum.

414 8. Ochse und Mensch sind vergessen Aller Verblendung ist er ledig, und auch alle Vorstellungen von Hei- ligkeit sind verschwunden. Nicht länger mehr braucht er «In-Bud- dha» zu verweilen, und schnell geht er durch «Nicht-Buddha» hin- durch weiter. Auch die tausend Augen können an ihm, der an keinem von beiden mehr haftet, nichts bemerken6. Wollten Hunderte von Vögeln ihm nun Blumen streuen, er würde sich seiner selbst schämen 7. Peitsche und Leitseil, Ochs und Hirte gehören gleichermaßen der Leere an. Der blaue Himmel 8 ist so allumfassend weit, daß alles Mitteilen in ihm beinah endet. Ober loderndem Feuer kann keine Schneeflocke bestehen9. Ist diese Geistesverfassung erreicht, begegnet er endlich dem Geist der Patriarchen alter Zeit.

415 9. Zum Ursprung zurückgekehrt Von Urbeginn an gibt es keinerlei Staub (der die ursprüngliche Rein- heit befleckte). Der Hirte beobachtet das Werden und Vergehen des Lebens in der Welt und weilt in gelassener Ruhe. All das (Werden und Vergehen) ist kein Wahn. Warum sollte es notwendig sein, um irgend etwas zu ringen10. Grün sind die Gewässer, blau die Berge. In sich ruhend betrachtet er den Wandel der Dinge. Er ist zum Ursprung zurückgekehrt, doch waren seine Schritte umsonst. Besser ist es für ihn, wie blind und taub zu sein11. In seiner Hütte sitzt er, sieht von all dem da draußen nichts12. Die Ströme fließen, wie sie fließen, und rote Blumen blühen von selber rot.

416 10. Betreten des Marktes13 mit offenen Händen Die Tür seiner Hütte ist verschlossen, und selbst der Weiseste kann ihn nicht ausfindig machen14. Die Gefilde seines Innern sind tief verborgen. Er geht seinen Weg und folgt nicht den Schritten frü- herer Weiser. Er kommt mit der Kürbisflasche15 auf den Markt und kehrt mit seinem Stab in die Hütte zurück. Schankwirte und Fisch- händler führt er auf den Weg, ein Buddha zu werden. Mit entblößter Brust kommt er barfuß zum Markte. Schmutzbedeckt und mit Asche beschmiert, lacht er doch breit übers ganze Gesicht. Ohne Zuflucht zu mystischen Kräften bringt er verdorrte Bäume schnell zum Blühen 16.

417 Anmerkungen zu den 10 Ochsenbildern

1. Die Texte wurden neu aus dem Japanischen übersetzt. Siehe Nachwort zur Übersetzung, d. Ü. 2. Staub = Verunreinigungen, Verfehlungen. 3. Siehe S. 232. 4. Zieht man die Analogie von Form-und-Leere heran, so entspricht das Salz der Leere, das Wasser der Form. Ehe man nicht den «Geschmack» des Satori gekostet hat, weiß man nichts von der Leere und beachtet lediglich die Form. Nach der Erleuchtung werden beide als nicht verschieden voneinander gesehen. 5. Wörtlich: Braucht der denn noch Lippen und Zähne zu bewegen? 6. Buddhas und Patriarchen können zwar mit ihrer spiegelgleichen Weisheit leicht den Charakter gewöhnlicher Menschen durchschauen, da dieser von Verunreini- gungen getrübt ist; doch selbst ein Buddha kann bei einem, der sich von allen Unreinheiten, einschließlich auch des leisesten Stolzes, gereinigt hat, nicht mehr sagen, er sei dieses oder jenes. 7. Hiermit wird auf eine Parabel angespielt, die sich auf HÔYÛ Zenji, einen Zen- Meister der T'ang-Dynastie, bezieht, der auf dem Berge Gozu lebte und allent- halben gepriesen wurde des Eifers wegen, mit dem er in seiner Bergklause Zazen übte. Selbst die Vögel sangen sein Lob, so heißt es, und brachten ihm Blumen dar, wenn er in seiner Hütte saß. Es wird erzählt, daß die Vögel, nachdem er unter dem Vierten Patriarchen volle Erleuchtung gefunden hatte, mit ihren Blumen- opfern aufhörten, da er, indem er vollkommene Erleuchtung erlangt hatte, keine Aura mehr von sich gab, nicht einmal die der Hingabe und Tugend. 8. «Der blaue Himmel» bedeutet Reiner-Geist. 9. Bei voller Erleuchtung verschwinden alle trügerischen Gedanken, einschließlich derer über «Erleuchtung» und «Verblendung». 10. «Wenn, wie die Sûtras sagen, unsere Wesens-Essenz Bodhi (Vollkommenheit) ist, warum mußten dann alle Buddhas um Erleuchtung und Vollkommenheit ringen?» so fragte sich DÔGEN und konnte dieses Paradoxon erst nach Jahren erschöpfender Anstrengungen lösen, die in seiner tiefen Erleuchtung kulminierten. 11. Obgleich der voll Erleuchtete vorzüglich sieht und hört, haben doch Gesehenes und Gehörtes keinen Einfluß auf ihn, so daß er wie «blind und taub» ist. Dieser Geisteszustand läßt sich annähernd mit einem klaren Spiegel vergleichen: Was immer der Spiegel spiegelt, keine Spur von Farbe oder Form davon bleibt auf dem Spiegel zurück. 12. Die Dinge «draußen» rufen keine weitere Wirkung in ihm hervor; sie enden in seinem erleuchteten Geist. So schaffen Gesehenes und Gehörtes keine neuen Ur- sachen: gesehen, gehört, eingegangen in die Leere-Weite. Diese erhabene Entwick- lungsstufe, die nur von den allerbedeutendsten Meistern erreicht wird, läßt sich in Worten kaum andeuten. 13. Markt = die Welt voller Wirren und Verfehlungen. 14. Nun ist er so geläutert, so vollkommen, daß selbst der Weiseste kein «Merk- mal» der Vollkommenheit an ihm entdecken kann.

418 15. Im alten China wurden Kürbisse häufig als Weinflaschen benutzt. Hier wird darauf hingewiesen, daß der Mensch von höchster Geistigkeit es nicht verabscheut, mit denen, die Alkohol lieben, zu trinken, um ihnen zu helfen, ihre Verblendung zu überwinden. Darin liegt ein Grundunterschied in den Rollen geistig entwickelter Menschen im Hīnayâna und Mahâyâna. Im Hīnayâna ist der geistig höchste Typ der Mönch im Zölibat, abgesondert von den Laien. Im Idealfall muß er einem Heiligen gleichen, ein Muster an Tugend sein, wenn er der Rolle entsprechen soll, die ihm von der Gemeinde zugedacht wird. Würde es bekannt, daß er z. B. Alkohol genießt, so würde das als sicheres Zeichen dafür erachtet, daß in ihm noch Unreinheiten zurückgeblieben sind, als ein Beweis, daß seine Geistigkeit noch nicht ganz durchgebildet worden ist. Im Mahâyâna-Buddhismus hingegen gibt ein tief Erleuchteter, der auch ein Laie sein kann und oft ist, keinen «Geruch» von Erleuchtung mehr von sich, keine Aura der Heiligkeit. Würde er das tun, so würde man seine Geistigkeit für noch mangelhaft halten. Er hält sich auch nicht dem Bösen der Welt fern; vielmehr taucht er in diese Übel ein, wann immer es nötig ist, um Menschen von ihren Torheiten zu befreien, wobei er selbst jedoch von diesem Bösen nicht besudelt wird. Darin gleicht er dem Lotus, dem buddhistischen Symbol der Reinheit und Vollkommenheit, der im Schlamm wächst, doch davon nicht beschmutzt wird. 16. Hiermit wird ausgedrückt, daß der voll Erleuchtete denen, die in Dunkelheit und Verzweiflung leben, Licht und Hoffnung bringt, da sein ganzes Wesen von innerer Strahlkraft durchleuchtet ist.

419 Neuntes Kapitel Körperhaltungen beim Zazen, mit Illustrationen

Die Haltungen, die auf den folgenden Seiten abgebildet sind, reichen von der klassischen Lotus-Haltung des Altertums quer durch die Geschichte bis zur Zazen-Haltung auf einer besonderen Zazen-Bank des zwanzigsten Jahrhunderts. Obgleich die Zen-Meister alter und neuer Zeit einstimmig erklären, daß die Lotus-Haltung allen anderen überlegen sei (aus Gründen, die man im l. Kapitel findet), kann doch der Herausgeber aus eigener Erfahrung bezeugen, daß jede dieser Haltungen angemessen sein kann für jemanden, der fest entschlossen ist, Zazen zu üben. Das Sitzen mit dem Fuß eines jeden Beines auf dem Schenkel des anderen ist eine der ältesten Sitzweisen und stammt noch aus vor- buddhistischen Zeiten. Wir wissen nicht allein durch archäologisches Beweismaterial aus Indien, daß schon Jahrtausende vor Buddhas Geburt die Lotus-Haltung in jenem Lande angewandt wurde, son- dern wir erhalten auch durch gemeißelte Wandbilder, wie man sie aus altägyptischen Grabstätten ausgegraben hat, die Gestalten in voller Lotus-Haltung zeigen, den Beweis, daß außer Indien auch andere Kulturen die Macht dieser einzigartigen Haltung kannten. Zugegeben, für Menschen aus dem Westen, die nicht zum Sitzen mit verschränkten Beinen erzogen wurden, kann die Lotus-Haltung schwierig sein, wenn auch keineswegs unmöglich. Erwachsene, unsportliche Menschen aus Amerika und Europa haben die halbe Lotus-Haltung durch hartnäckig geübtes Zazen in weniger als sechs

421 Monaten erlernt. Ergänzt wurden die Übungen durch einfache Streck-Gymnastik der Beine (zu der auch Niederpressen der Knie mit den Händen nach einem heißen Bad gehört), um allmählich die Knie auf die Sitzmatte hinunter zu bringen. Die volle Lotus-Haltung gibt natürlich eine härtere Nuß zu knacken. Systematische Anstren- gungen werden jedoch auch hier zum Erfolg führen. Die auf Abb. 4 gezeigte Haltung wird viel in Burma und den bud- dhistischen Ländern Südost-Asiens angewandt. Sie bietet den Vorteil, daß sie für Anfänger weniger unbequem ist als die halbe oder volle Lotus-Haltung, da die Beine nicht verschränkt werden. Aber sie bie- tet dem Rumpf keinen so kräftigen Halt wie die Lotus-Haltung. Deshalb kann die Wirbelsäule dabei nicht längere Zeit hindurch mühelos vollkommen aufrecht gehalten werden. Die traditionelle japanische Sitzhaltung auf Abb. 5 kann für Abend- länder dadurch bequem gemacht werden, daß man zwischen die Fer- sen ein Kissen legt, auf das man sich setzt. Noch bequemer wird diese Haltung, wenn man eine niedrige Bank, wie auf Abb. 6 gezeigt, zwischen Gesäß und Fersen stellt, da hierbei die Fersen völlig frei von Druck durch das Körpergewicht sind. Für den Anfänger ist es in dieser Haltung am leichtesten, mit vollkommen gerade aufgerichte- tem Rücken zu sitzen. Eine einfache Bank nach dem Entwurf, der auf Abb. 7 gezeigt wird, ist jenen von Nutzen, die all die genannten Haltungen nicht einneh- men können. Sie hat im Vergleich zu einem gewöhnlichen Stuhl viele Vorzüge; dazu gehören auch ihre Festigkeit und Tragbarkeit. Rumpf und Beine finden Halt durch Kniestützen, die so konstruiert sind, daß die Schenkel ein wenig abwärts geneigt sind, wodurch ein Zusam- menpressen des Unterleibs und eine dadurch bedingte Behinderung des Atems vermieden werden. Der Rücken kann mühelos aufrecht gehalten werden, da der Sitz leicht nach vorn geneigt ist. Ein gewöhnlicher Stuhl ist für Zazen nicht angemessen, wenn man in der üblichen Weise, also mit gebeugtem Rücken, darauf sitzt. Wenn man ihn aber so wie auf Abb. 8 benutzt, mit einem Polster unter dem Gesäß, was dazu verhilft, die Wirbelsäule aufrecht zu halten, und die Füße fest auf den Boden stellt, dann kann er für Zazen dienlich sein.

422 Abb. 1: Volle Lotus-Haltung mit rechtem Fuß auf linkem Schenkel und linkem Fuß auf rechtem Schenkel. Beide Knie berühren die Matte. Das Gesäß soll heraus- gestreckt und das Rückgrat aufrecht sein. Die Knie sollen in einer Linie liegen, und der Unterleib soll entspannt sein. Die Hände ruhen auf den Fersen beider Füße. Diese Haltung kann umgekehrt werden, wenn der linke Fuß müde wird: Dann liegt der rechte Fuß zu- oberst, über dem linken.

Abb. 2: Seitenansicht der vollen Lotus-Haltung. Die Ohren sind in einer Linie mit den Schultern, die Nasenspitze befindet sich in einer Linie mit dem Nabel. Das Gesäß ist herausgestreckt, das Rückgrat aufrecht. In dieser Hal- tung wird ein einziges, niedriges Kissen bevorzugt. Abb. 3: Halbe Lotus-Haltung mit dem linken Fuß auf dem rechten Schenkel und rechtem Fuß unter linkem Schenkel. Beide Knie be- rühren die Matte. Damit die Knie leichter auf der Matte ruhen, benötigt man eventuell ein Stütz- kissen unter dem gewöhnlich runden Kissen.

Abb. 4: Viertel Lotus-Haltung. Der linke Fuß ruht auf der Wade.des rechten Beins, beide Knie ruhen auf der Matte. Anmerkung: In allen Haltungen, auch wenn Bank und Stuhl gebraucht werden, ist das Gesäß herausgestreckt, das Rückgrat auf- recht, die Hände eng am Körper, ganz oben auf den Schenkeln oder auf den Fersen der Füße. Die Knie liegen in einer Linie, der Unterleib ist entspannt.

Abb. 5: Die sogenannte burmesische Haltung, bei der die Beine nicht verschränkt werden, sondern nur ein Fuß locker vor dem anderen liegt und beide Knie die Matte berühren.

Abb. 6: Seitenansicht der traditio- nellen japanischen Sitzhaltung. Man kniet dabei auf der Matte und legt ein Sitzpolster (mit Schoten gefüllt) zwischen Fersen und Gesäß, um die Fersen zu entlasten. Abb. 7: Seitenansicht der Zazen-Haltung auf einer niedrigen, leicht gepolsterten Holzbank. Damit die Hände nicht her- untergleiten, kann ein Stützkissen aufrecht auf die Matte unter die Hände gelegt werden.

Abb. 8: Seitenansicht der Zazen-Haltung auf einem Stuhl mit gerader Rückenlehne. Zwischen Lehne und Rücken wird ein Kissen gelegt, die Füße stehen fest auf dem Boden.

Abb. 9: Seitenansicht von Matte, rundem Kissen und Stützkissen in der richtigen Lage für Zazen. Das runde Kissen oder Polster hat einen Durchmesser von 30 bis 45 cm und eine Dicke von 7 bis 15 cm. Die beste Füllung ist Kapok, das wieder locker wird, wenn man das Polster in die Sonne legt. Schaumgummi neigt dazu, Klumpen zu bilden, während gewöhnliche Baumwollfüllung flach und hart wird. Die beste Matte ist nicht dicker als 5 cm und mißt 70 bis 90 cm im Quadrat. Sie hat weder Rippen noch Tapezierknöpfe. Das- selbe gilt für das runde Polster und das Stützkissen. Das letztere ist etwa 30 cm breit, 40 cm lang und 6 cm dick. Das runde Polster hat eine Schlaufe zum Tragen und Falten zum «Nachgeben».

Abb. 10: Mit Schoten gefülltes Kissen und niedrige Zazen-Bank. Das Kissen kann mit den Schoten von Buchweizen, Reis oder anderen Schoten gefüllt sein, die nicht zu hart sind und trotzdem Festigkeit haben. Die Bank ist etwa 48 cm lang und 17 cm breit. Hinten ist sie 19 cm hoch, vorne 75 cm. Der Sitz ist zur größeren Bequemlichkeit gepolstert. Zehntes Kapitel Wort- und Begriffserklärungen

Hier werden Fachausdrücke des Zen, Namen und Wörter, die im Zu- sammenhang mit Zen stehen (z. B. kendô), besondere buddhistische Bezeichnungen und Redewendungen, buddhistische Lehren, Sekten und Sûtras, die im Text erwähnt, doch nicht erklärt wurden, im ein- zelnen erläutert1. Diese Notizen sollen kein Fachwörterverzeichnis des Zen darstellen und noch viel weniger endgültige Feststellungen über die buddhistische Lehre und Philosophie sein. Sie sind jedoch auch mehr als nur ein Glossar mit akademischen Erklärungen. Ihr Zweck ist es, dem Leser beim Verständnis des Buches behilflich zu sein und ihm sein weiteres Studium und Üben zu erleichtern. Für japanische und chinesische Namen und Ausdrücke habe ich anstelle der chinesischen Schriftzeichen, die nur für Kenner der japa- nischen und chinesischen Sprachen sinnvoll wären, die lateinische Umschrift gewählt. Ist ein Wort unter seinem ursprünglichen Namen auf Sanskrit oder Chinesisch eher bekannt als unter dem deutschen, japanischen oder englischen Ausdruck, so wird meist zuerst der ursprüngliche Ausdruck angegeben und der deutsche oder japanische Name, oder auch beide, in Klammern gesetzt. Die Namen der chine- sischen Zen-Meister werden gemäß ihrer japanischen Aussprache auf- geführt und die chinesische Lesart in Klammern dahinter angegeben. Die Namen der Sûtras werden ausnahmslos nach ihrer Aussprache im Sanskrit wie auch auf Japanisch verzeichnet und in manchen Fällen auch auf Deutsch. Die Kennzeichnung Jap. bedeutet Japanisch, Skt. Sanskrit und Chin. Chinesisch.

1. Da in der deutschen Ausgabe auf einen Index verzichtet wurde, habe ich das Wörterverzeichnis mit Seitenzahlen versehen und durch eine ganze Reihe von wichtigen Begriffen erweitert, die zwar im Text schon erklärt, hier aber - damit sie rascher aufgefunden werden können - mit Seitenzahlen versehen wurden, d. Ü.

427 Abhidharma (Skt.) oder Abhidhamma (Pâli): der dritte der drei «Körbe», Tripitaka, der buddhistischen Literatur. Die beiden anderen sind: Vina- yanā (also die Gebote und Regeln der Moral, die der BUDDHA seinen Jün- gern gegeben hat) und die Sûtras, die aus den gesammelten Predigten, Reden und Gesprächen des BUDDHA bestehen und nach seinem Tode zu- sammengestellt wurden. Der Abhidharma enthält höchst abstrakte philo- sophische Erläuterungen zur buddhistischen Lehre. S. 29

Acht Lehren (Lehrweisen) und fünf Zeitabschnitte: eine Klassifizierung der Lehren des Buddha vom Standpunkt der Tendai-Sekte, die deren chinesi- scher Gründer, CHISHA DAISHI, vornahm. Die Lehren werden hierbei in vier Doktrinen und zusätzlich vier Methoden der Auslegung eingeteilt und stellen fünf Stufen der Belehrung von der ersten bis zur letzten und höchsten dar, wie sie der BUDDHA gab. S. 85 agura: das japanische Wort für einen losen Schneidersitz, der weder halbe noch volle Lotus-Haltung bedeutet. S. 300

AMIDA: die japanische Aussprache des Sanskritwortes AMITÂBHA, «grenzen- loses Licht», oder AMITÂYUS, «grenzenloses Leben». AMIDA genießt unter den nicht-historischen Buddhas (Dhyâni-Buddhas) die verbreitetste Ver- ehrung. Ja, in der Sekte des Reinen Landes (Jap. Jôdo-Shû) überstrahlt er sogar BIRUSHANA (Skt. VAIROCANA) und den historischen BUDDHA ŚÂKYAMUNI (auch SHAKYAMUNI geschrieben). S. 59,81,83, 23 anraku sekai: Siehe unter «Buddha-Welt des Friedens und der Freude» und S. 230 12 asura: das japanische Wort für «kämpfende Dämonen», oft auch mit «Titanen» übersetzt. Siehe auch unter «Sechs Bereiche des Daseins». S. 126

BASO DÔITSU (Chin. MA-TSU TAO-I): 709-788, einer der großen chinesi- schen Zen-Meister der T'ang-Dynastie, ein Schüler von NANGAKU EJÔ. S. 50 f, 242

428 Bewußtsein (Jap. shiki): Im Buddhismus unterscheidet man acht Bewußt- seinsarten. Die ersten sechs sind: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Tastsinn und Denken (Intellekt). Wenn der Verstand auch die Illusion eines Subjekts, des «Ich», schafft, das von den Dingen der Welt abgelöst ist, ist er sich doch nicht beständig dieses «Ich» bewußt. Nur in der sie- benten Stufe, dem (Unter-)Bewußtsein (Skt. manas), ist die Bewußtheit eines abgetrennten Ich konstant. Manas befördert auch die Keim-Essenz der sinnlichen Wahrnehmungen zur achten Ebene des (Unter-)Bewußt- seins (Skt. âlaya-vijñâna), von der aus als Reaktion auf Veranlassungen und Gegebenheiten spezifische «Keime» mittels Manas wieder zurück- geführt werden, die dann neue Handlungen herbeiführen, welche wie- derum andere «Keime» hervorbringen. Diese Vorgänge sind gleichzeitig und endlos.

Bewußtseinsebenen

Geburt 1-6 Gesicht, Gehör, Geruch, und Tod Geschmack, Tastsinn, Intellekt 7 Manas (Quelle dauernder Ich- Weder Geburt Bewußtheit; wirkt als Übermittler) noch Tod Ālaya-vijñâna («Keim»-Speicher)

Reines Bewußtsein (Gestaltloses Selbst)

Dieses Diagramm, das auf einem Schema von HARADA Rôshi beruht, zeigt die Beziehung der acht Bewußtseinsarten zu Geburt-und-Tod und zu Geburt- und Todlosigkeit. Der dreieckige Teil stellt das Leben des Individuums dar und zeigt seine Verbindung zu Reinem-Bewußtsein oder Gestaltlosem-Selbst. Dieses Leben ist einer Welle im weiten Meer nicht unähnlich; seine kurze Existenz scheint vom Meer getrennt zu sein — und in gewissem Sinn ist es auch nicht das Meer -, aber seiner Substanz nach ist es nicht anders als das Meer, aus dem es sich erhob und in das es zurückströmt, und aus dem es als neue Welle wieder hervorgehen wird. In ganz gleicher Weise geht das individuelle Bewußtsein aus dem Reinen- Bewußtsein hervor, und es ist seinem Wesen nach nicht davon zu unter- scheiden. Ihr gemeinsames Element, die «lebensfähige Leere», wird bei

429 dem Diagramm durch den alles durchziehenden weißen Hintergrund ausgedrückt. S. 38, 43, 79,112, 233 l6, 266 f, 375

BIRUSHANA (Skt. VAIROCANA): der «All-Durchstrahlende». Unter den nicht- historischen Buddhas ist BIRUSHANA der höchste; er symbolisiert kosmisches Bewußtsein, also transzendentale Buddha-Weisheit. S. 276, 381

BODHIDHARMA (Jap. BODAI DARUMA): der achtundzwanzigste Patriarch nach dem BUDDHA in der indischen Linie, der erste Patriarch des Zen in China. Die Gelehrten sind sich nicht einig darüber, wann BODHIDHARMA von Indien nach China kam, wie lange er dort blieb und wann er starb. Japanische Zen-Meister aber stimmen darin überein, daß er etwa um 520 zu Schiff von Indien nach Südchina fuhr und daß er sich nach einem kurzen fruchtlosen Versuch, seine Lehren dort zu verbreiten, weiter nach Lo-yang in Nordchina begab und sich schließlich im Shôrin (Chin. Shao- lin)-Tempel auf dem Berge Sä (Jap. Sû-zan, Chin. Su-shan) niederließ. Hier übte er neun Jahre lang unerschütterlich Zazen, wodurch diese Periode als mempeki kunen bekannt wurde, was soviel heißt wie «neun Jahre lang der Wand gegenüber». BODHIDHARMA und EKA (Chin. HUI-K'O), sein Schüler, dem er den Dharma übermittelt hatte, sind die Gestalten des 41.Beispiels im Mumon- Kan und ebenso auch die eines berühmten Bildes von SESSHU, dem größ- ten Maler Japans. EKA, ein Gelehrter von beträchtlichem Ruf, klagt BODHIDHARMA, der still Zazen übt, daß er keinen inneren Frieden finde, und fragt, wie er das erreichen könne. BODHIDHARMA schickt ihn mit der Bemerkung weg, daß das Erlangen inneren Friedens lange und harte Schulung erfordere und daher nichts für die Hochmütigen und Furcht- samen sei. EKA, der stundenlang draußen im Schnee gestanden hatte, fleht BODHIDHARMA an, ihm zu helfen. Wieder wird er abgewiesen. In seiner Verzweiflung schneidet er sich die linke Hand ab und bietet sie BODHI- DHARMA dar. Jetzt ist BODHIDHARMA von seiner Aufrichtigkeit und Ent- schlossenheit überzeugt und nimmt ihn als Schüler an. Ob diese Episode historisch wahr ist oder nicht, ist weniger wichtig als die Tatsache, daß sie in symbolischer Weise enthüllt, welche Bedeutung Zen-Meister dem Zazen, der Übermittlung des Dharma von Meister auf Schüler beilegen, sowie der Aufrichtigkeit und Bescheidenheit, Ausdauer

430 und Tapferkeit - alles Voraussetzungen zum Erlangen höchster Wahrheit. S. 13, 35, 41, 49, 53, 122, 125, 191, 210, 233, 248, 320

Bodhi-Geist (Jap. bodai-shin, Skt. bodhicitta): wahre innere Weisheit; der eingeborene erleuchtete Herz-Geist; zudem das Streben nach voll- kommener Erleuchtung. S. 29,36, 40 15, 47,105

Bodhisattva (Skt.) (Jap. bosatsu): ein erleuchtetes Wesen, das sich der Aufgabe widmet, anderen dazu zu verhelfen, Befreiung zu finden. In seiner Selbst-Bemeisterung, Weisheit und Barmherzigkeit stellt ein Bodhi- sattva eine hohe Stufe der Buddhaschaft dar, aber er ist noch kein voll- kommen erleuchteter, gänzlich vollendeter BUDDHA. «Darum stellen die Buddhas und Bodhisattvas nicht nur ,Personifizierungen‘ abstrakter Prin- zipien dar .. ., sondern sie sind die Prototypen der im Menschtum ver- wirklichten und wieder und wieder zu verwirklichenden Zustände höch- ster Erkenntnis, höchster Weisheit und vollkommener Harmonie.» (GO- VINDA, Grundlagen tibetischer Mystik, Rascher Verlag, Zürich 1956, S. 91) S. 46, 291, 388, 389

Bommo-Sûtra (Skt. Brahmajâla): Darin finden sich die zehn Hauptgebote und die achtundvierzig weiteren Gebote, die die ethische Grundlage des Mahâyâna-Buddliismus bilden. S. 183 bonpu-Zen (Jap.): (bonpu, auch bompu = der gewöhnliche unerleuchtete Mensch). Bonpu-Zen nennt man jene Art des Zazen, die jedermann einzig zur Hebung seiner geistigen oder körperlichen Gesundheit üben kann. Sie ist frei von jedem religiösen Gehalt. S. 76 f.

BUDDHA (Jap. butsu): ein Sanskritwort, das in zwei Bedeutungen ange- wandt wird: 1. für Höchste-Wahrheit oder Absoluten-Geist; 2. für einen, der zum Wahren-Wesen des Daseins erwacht ist, also Erleuchtung fand. «Der BUDDHA» bezieht sich auf eine historische Gestalt mit dem Vornamen SIDDHARTA und dem Familiennamen GAUTAMA. Er wurde um das Jahr 563 v. Chr. als Sohn des Fürsten der Sâkyas geboren, dessen kleines König- reich im Vorgebirge des heutigen Nepal lag. Mit der Zeit wurde er als

431 «ŚÂKYAMUNI» bekannt, d. h. als «schweigender Weiser (muni) aus dem Geschlecht der Śâkyas». Es wird berichtet, daß er mit sechzehn Jahren verheiratet wurde und einen Sohn hatte, der später sein Schüler wurde. Tief bekümmert über die Sorgen und Leiden der Welt und beunruhigt über die Bedeutung von Geburt-und-Tod, konnte der künftige BUDDHA im Alter von neunundzwanzig Jahren das angenehme und luxuriöse Le- ben, in das er hineingeboren worden war, nicht länger ertragen. So floh er aus dem Palast seines Vaters und wurde zum Einsiedler, zum Sucher nach der Wahrheit in der Einsamkeit der Wälder. Sechs Jahre lang unter- zog er sich schwerster Askese, um Erleuchtung zu finden. Dem Tode nahe, auf Grund dieser Pönitenzen, sah er endlich die Vergeblichkeit solcher Selbstkasteiungen ein und gab sie auf. Schließlich erlangte er voll- kommene Erleuchtung und wurde so «der BUDDHA». Von da an lehrte er, bis zum Alter von achtzig Jahren, fünfundvierzig Jahre lang nicht allein die Schar seiner Mönchsschüler, sondern er wanderte unermüdlich auf den Wegen Indiens und predigte allen, die hören wollten, wobei er seine Worte stets der Fassungskraft seiner Zuhörer anpaßte. Die Menschen wurden sowohl durch seine Heiterkeit und Lauterkeit, als auch durch die Weisheit seiner Worte dazu bewogen, seinem Weg zu geistiger Be- freiung zu folgen. Schließlich wurden seine Predigten und Dialoge auf- geschrieben, und diese Sûtras («Leitfäden») machen nun die Grundlehren des Buddhismus aus.

Die Zen-Sekte, ebenso wie andere buddhistische Sekten, sehen den histori- schen BUDDHA weder als erhabene Gottheit noch als Erlöser an, der die Menschen dadurch errettet, daß er die Last ihrer Sünden auf sich nähme. Man verehrt ihn vielmehr als einen voll erwachten, zu höchster Voll- kommenheit gelangten Menschen, der durch seine eigenen menschlichen Anstrengungen und nicht durch die Gnade eines übernatürlichen Wesens Befreiung von Leib und Geist erreichte. Im Buddhismus sieht man ŚÂKYAMUNI auch nicht als den einzigen wahren BUDDHA an. Ebenso, wie in vergangenen Weltepochen andere Weise die gleichen Pfade beschritten, die gleiche Stufe der Vollkommenheit erreicht und den gleichen Dharma gepredigt haben, so würde es auch in künftigen Weltzeitaltern Buddhas geben, um die Menschen zur Befreiung zu führen. Mit anderen Worten: Der historische Buddha ist einzig ein Glied in der Kette von Buddhas, wie sie sich aus grauer Vorzeit in eine unermeßliche Zukunft erstreckt. Die bekannte Feststellung der Zen-Meister, daß wir alle von Anbeginn Buddhas seien, muß dahin verstanden werden, daß ein jeder potentiell

432 ein Buddha ist, d. h. von Natur begabt mit dem makellosen Buddha- Wesen; daß aber jemand, der nach Buddhaschaft strebt, dem steilen Weg zur Erleuchtung folgen muß, wenn er diese eingeborene Vollkommenheit verwirklichen will. Jeder, der sein Buddha-Wesen erlebt hat, mag das Erlebnis auch noch so schwach gewesen sein, hat das erste Stadium der Buddhaschaft verwirklicht, da seine Wesensschau der Substanz nach nicht anders als die des BUDDHA ŚÂKYAMUNI ist. BUDDHA ŚÂKYAMUNI überragt jedoch den gewöhnlichen erleuchteten Menschen turmhoch im Ausmaß seiner Erleuchtung wie auch an Vollkommenheit von Charakter und Persönlichkeit, also an Gelassenheit, Erbarmen und Weisheit. In den Sûtras kann man verschiedene Einteilungen der Stufen der Buddhaschaft finden. Ein Buddha auf der obersten Stufe ist nicht allein vollkommen erleuchtet, sondern «ein Vollkommener, ein Ganz- Gewordener. Einer, in dem alle geistigen Fähigkeiten zur Voll- kommenheit, zur Reife, zu vollkommener Harmonie gekommen sind und dessen Bewußtsein das Universum umfaßt. Ein solcher kann nicht mehr mit den Grenzen individueller Persönlichkeit, individuellen So-Seins und Da-Seins identifiziert werden; von ihm heißt es mit Recht:, Kein Maß ermißt ihn - von ihm zu sprechen, gibt es keine Worte!'» (Govinda, a. a. O., S. 36) Ein Buddha hat drei «Körper» oder Ebenen der Wirklichkeit, wobei die drei in Wirklichkeit jedoch, in wechselseitiger Beziehung stehend, ein Ganzes bilden. Der erste wird als hôsshin (Skt. dharma-kâya), «Gesetzes- Körper», bezeichnet. Das ist das Erlebnis des kosmischen Bewußtseins, des Eins-Seins, das jenseits aller Begriffe liegt. Der absolute dharma- kayâ ist das Substrat von Vollendung und Vollkommenheit, aus dem alle belebten und unbelebten Formen, sowie die moralische Ordnung erwachsen BIRUSHANA (Skt. VAIROCANA), der «All-Durchstrahlende», verkörpert diesen Aspekt des universellen Bewußtseins. Der zweite «Körper» ist hôjin (Skt. sambhoga-kâya), «Körper des Entzückens». Das ist das Erlebnis der Ekstase der Erleuchtung, des Dharma-Geistes des BUDDHA und der Patriarchen und der geistigen Übungen, die sie von Generation zu Generation überliefert haben. AMIDA BUDDHA in seinem Westlichen Paradies symbolisiert diesen «Körper des Entzückens». Der dritte Aspekt, ôjin (Skt. nirmâna-kâya), «Körper der Verwandlung», ist der strahlende transformierte Buddha-Leib, personifiziert durch ŚÂKYAMUNI BUDDHA, den Tathâgata, mit seinen zweiunddreißig Merkmalen der Vollkommenheit. Die Wechselbeziehung zwischen diesen drei läßt sich durch eine einfache Analogie veranschaulichen: der dharma-kâya. kann mit dem ärztlichen Wissen verglichen werden, der

433 sambogha-kâya mit der Ausbildung des Arztes, durch die er Wissen erwirbt, und der nirmâna-kâya mit der Anwendung dieses Wissens bei der Behandlung der einzelnen Patienten, die dadurch aus Kranken zu Gesunden werden. Im Zen spricht man nur von BIRUSHANA und, weniger häufig, von AMIDA, als einzigen unter den nicht-historischen Buddhas, die alle mit verschie- denen Welten und Bereichen identifiziert werden und Symbole für beson- dere geistige Kräfte und Mächte sind. S. 35 f, 39 f, 46, 48, 50 f, 53, 58, 79, 83, 89, 94, 97 ff, 112, 117, 125 ff, 130, 136, 150, 182, 189 f, 192 f, 210, 214, 216, 228 ff, 234 ff, 252 f, 258, 21 10 287 , 295, 341, 382 , 387, 392, 415 und BUDDHA ŚÂKYAMUNI: S. 35, 40, 42, 44, 48, 58 f, 84, 107, 110, 112, 136, 137, 182, 192, 213, 215, 268, 294 27, 300, 308,393. Buddha-Welt des Friedens und der Freude (Jap. anraku sekai): wörtlich «friedevoll-freudige Welt». Dieser Ausdruck bezeichnet im Buddhismus den Bereich oder Zustand höchsten Friedens, höchster Freude, also die Buddha-Welt. In Übersetzungen wird er auch als «Paradies» wieder- gegeben. S. 230

Buddha-Wesen (Jap. busshô): oft auch mit Buddha-Natur übersetzt. Buddha-Wesen ist ein konkreter Ausdruck für das Substrat von Voll- endung und Vollkommenheit, wie es sowohl Geschöpfen als auch Dingen immanent ist. S. 15 15, 43, 82, 94, 96, 103, 113-120, 126, 178, 189, 190, 228, 233, 239, 246, 249, 294 27

Buddhismus: der Dharma des BUDDHA. Der Buddhismus hat zwei Haupt- zweige: den südlichen oder Theravâda (Lehre der Älteren), auch als Hīnayâna (Kleines Fahrzeug, Jap. shôjô) bekannt, und den nördlichen oder Mahâyâna (Großes Fahrzeug, Jap. daljô). Der Theravâda entstand in Südindien, von wo aus es sich nach Ceylon, Burma, Thailand und Kambodscha ausgebreitet hat, während das Mahâyâna sich vom nörd- lichen Indien nach Tibet, in die Mongolei, nach China, Korea und Japan verbreitete. Ungleich dem Südlichen Buddhismus, der die Tendenz hat, konservativ und unelastisch zu sein, paßte sich das Mahâyâna den Bedürfnissen der Men- schen verschiedener Rassen und Kulturen an, wie auch ihrem unter-

434 schiedlichen Auffassungsvermögen. So entstanden in China, wohin der Buddhismus im ersten Jahrhundert seinen Weg fand, verschiedene Sekten, die unter dem Einfluß des Taoismus, Konfuzianismus und anderen For- men chinesischer Kultur bestimmte Aspekte von BUDDHAS Dharma bevor- zugt ausbildeten und andere vernachlässigten. Unter diesen Sekten mögen folgende als die wichtigsten erwähnt werden: T'ien-t'ai (Jap. Tendai); Ching-tu-tsung (d. h. das Reine Land; Jap. Jôdo); Ch'an (Jap. Zen) und die Esoterische (Jap. Shingon-)Sekte. In Tibet hatten auf Grund der einzigartigen geographischen Lage, des Klimas und der schweren Lebens- bedingungen die tantrischen Elemente besondere Anziehungskraft, und es entstanden Sekten, die diesen Aspekt von Buddhas Lehre hervorhoben. In Japan, mit seiner strengen Gesellschaftshierarchie, seinem komplexen, fein ausgearbeiteten Anstandskodex und hoch entwickelten ästhetischen Sinn erfuhr der Buddhismus, der im sechsten Jahrhundert von China über Korea nach Japan kam, eine weitere Ausbildung und Verfeinerung, wie es den charakteristischen Zügen japanischer Kultur und japanischen Empfindens entsprach. Das Ideal im Mahâyâna wurde der Bodhisattva, der stets bereit ist, sich zum Wohl jener aufzuopfern, die in Unwissenheit und Verzweiflung ver- loren sind, selbst dann, während er um eigene höchste Erleuchtung ringt. Im Hīnayâna (Theravâda) liegt die Betonung auf dem Arhat, der für sich selbst Befreiung findet, indem er entschlossen seine Leidenschaften und sein Ich überwindet. S. 13 ff, 57, 60, 88, 91, 97, 99, 125 f, 129, 182 f, 186, 191 f, 208, 215, 260, 291, 312, 387, 389 24, 390, 393, 395 butsudan (Jap.): ein buddhistischer Altar-Schrein; die meisten japanischen Buddhisten haben ein kleines Modell davon zu Hause. Er enthält außer der Gestalt eines der Buddhas oder Bodhisattvas im allgemeinen eine Tafel mit den Namen der Toten der Familie. Speise- und Blumenopfer werden regelmäßig an diesem Butsudan dargebracht, und bei besonderen Anlässen werden Sûtras davor rezitiert. S. 107

CHISHA (bekannt als: CHISHA DAISHI; Chin. CHIH-I oder CHIH-K'AI): 538-597, Gründer der buddhistischen T'ien-t'ai (Jap. Tendai)-Sekte in China. Siehe auch unter «Acht Lehren und Fünf Zeitabschnitte». S. 85 und unter «Tendai-Sekte».

435 CHUANG-TZE (im Deutschen auch: DSCHUANG-DSE oder DSCHUANG DSI; Jap. SÔSHI) : ein chinesischer Weiser des Taoismus im 4. Jh. v. Chr., der die Lehren des LAO-TZE (auch LAO DSE oder LAU DAN) voller Geist und Originalität auslegte. (DSCHUANG DSI, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Verlag Eugen Diederichs, Jena 1940) S. 75

CHUHO MYÔHON (Chin. CHUNG-FENG MING-PEN): 1263-1323, ein chinesi- scher Zen-Meister. S. 395 dajo-Zen (Jap. Daijô = Großes Fahrzeug): Diese Art des Zazen übt man in dem Wunsch, aus dem Zustand der Verblendung auszubrechen und der Wahren Wirklichkeit innezuwerden, also zur Selbst-Wesensschau zu gelangen. S. 80 f daigo tettei (Jap.): wörtlich «Großes Satori, das bis zum Boden reicht», also vollkommene Erleuchtung. Zu ihrem wesentlichsten Gehalt gehört das Erlebnis der Leere, der Leeren-Weite; die Aufhebung von jeglichem Ant- agonismus; das Erlebnis, daß die Form (Jap. sugata) des Weltalls und die eigene Form identisch sind, und das Zunichtewerden des kleinen Ich. daishi (Jap.): wörtlich «Großer Meister», ein buddhistischer Ehrentitel, der im allgemeinen posthum erteilt wird.

Daitoku-Ji: ein großes Rinzai-Kloster in Kyoto, 1327 von DAITOKOKUSHI, d. h. DAITO, Lehrer der Nation, gegründet. S. 301,345

Denkô-roku (Aufzeichnungen über die Weitergabe des Lichts): von Zen- Meister KEIZAN. Das Werk besteht aus dreiundfünfzig Vorträgen über den BUDDHA und die Patriarchen und wurde von KEIZANS Schülern zusammengestellt. (S. 54 und unter «Kôan».) Es darf nicht mit dem Dento-roku (Aufzeichnungen über die Weitergabe der Lampe) verwechselt werden, das von einem chinesischen Zen-Meister stammt. deva (Skt.): Bewohner des obersten der sechs Bereiche des Daseins (siehe dort), «. .. dem Menschen überlegen, aber den Gesetzen der Welt unter-

436 worfen. . .» (GOVINDA, a. a. O., S. 125). S. 126

Dhāranī (Skt.) (Jap. darani): wörtlich «dasjenige, durch welches etwas auf- rechterhalten wird»; buddhistische Sprechgesänge ohne logischen Sinn- zusammenhang. Sie dienen «zur Befestigung des Geistes (Skt. dharana = Fixierung), einer durch Meditation gewonnenen Erkenntnis oder Schauung. Sie können sowohl die Quintessenz einer Lehre als auch das Erlebnis eines bestimmten Bewußtseinszustandes verkörpern... Sie unterscheiden sich in ihrer Funktion nicht vom Mantra, sondern höchstens in ihrer Form, indem sie oftmals beträchtliche Länge erreichen ... Sie waren jedoch in erster Linie ein Produkt und Hilfsmittel der Meditation: ,Durch Ver- tiefung (Skt. samâdbi) eignet man sich eine Wahrheit an, durch ein Dhāranī fixiert und bewahrt man sie'.» (GOVINDA, a. a. O., S. 23 f.) S. 44 f, 52, 229

Dharma (Skt.) (Jap. ho): ein Grundbegriff im Buddhismus, der verschiedene Bedeutungen hat: universelles Gesetz, Phänomene, Lebendige-Wahrheit, buddhistische Lehre, die Lehren des BUDDHA. S. 50,116f, 383, 386, 387, 392, 395, 396, 414 und unter «BUDDHA», «Drei Kostbarkeiten ...» und «takuhatsu».

«Dharma-Gefecht» (Jap. hossen): «Frage und Antwort», ein Wort-Turnier oder Wort-Gefecht des «Witzes» in bezug auf den Dharma, im allge- meinen zwischen zwei erleuchteten Menschen. In der Praxis ist es manch- mal schwierig, zwischen Hossen und mondô klar zu unterscheiden, aber ganz allgemein gesagt besteht ein Mondô nur aus einer Frage und einer Antwort, während ein Hossen sich zu einem ausgedehnten Treffen ent- wickeln kann. Hossen stellen die für Zen typische Methode dar, die Lebendige-Wahrheit ohne Rückhalt an logischen Begriffen zu demon- strieren. Siehe auch unter «mondô». S. 119, 142, 225 und unter «HÔ-KOJI», «JÔSHÛ JÛSHIN» und «Rôshi» dharma-kâya, (Skt.) (Jap. hosshin): einer der drei «Körper des Buddha, wörtlich übersetzt: «Gesetzes-Körper». Siehe auch unter «BUDDHA». S. 237, 256, 381.

Dharma-Nachfolger (Jap. hassu): ein Zen-Schüler, der den gleichen Grad der Erleuchtung erreicht hat wie sein Meister und die Genehmigung

437 erhielt, dessen Lehrweise weiterzuführen. Das schließt natürlich inka ein. Ein Dharma-Nachfolger kann auch ein Laie, ob Mann oder Frau, sein. ENÔ, der Sechste Patriarch, war ein Laie, als er das Siegel der Bestätigung vom Fünften Patriarchen erhielt. S. 22, 56, 374

Dhyâni-Buddhas: nicht-historische Buddhas wie BIRUSHANA (Skt. VAIRO- CANA), AMIDA (Skt. AMITÂBHA) usw. Siehe auch unter «BUDDHA».

Diamantschwert: Das Diamantschwert des Vajra-Königs ist ein metapho- rischer Ausdruck für unzerstörbaren Geist. Siehe auch unter «vajra».

Diamant-Sûtra (Jap. Kongo-kyô, Skt. Vajracchedikâ Prajñâ Päramitâ): eines der tiefsinnigsten Sûtras des Mahâyâna. Das Sûtra schließt mit den Worten: «Diese heilige Darlegung soll als Vajracchedikâ Prajñâ Pāramitâ bekannt sein, da sie hart und scharf gleich einem Diamanten ist, alle will- kürlichen Begriffe abschneidet und zum anderen Ufer der Erleuchtung führt.» 5.49(23), 116, 287, 312

DÔGEN KIGEN: 1200-1253, bedeutender japanischer Zen-Meister, auch als DÔGEN EIHEI bekannt. Auf ihn geht die Sôtô-Sekte zurück. Er schrieb unter anderem Shôbôgenzô und Fukan Zazengi und stellte das Hotsu- gammon zusammen. S. 22, 29 ff, 41, 44, 46, 53, 80, 96, 178 23, 205, 227, 289 25, 313, 374, 391, 401 ff, 418 10 und unter «Hotsugammon», «NYOJÔ» und «Sôtô-Sekte». dokusan (Jap. doku = allein, Einzel-, einzeln; san = Gang zu einem Höhe- ren): die Begegnung mit dem Rôshi in der Zurückgezogenheit seines Lehrraumes. Die allgemeine Bezeichnung für ein Erscheinen vor dem Rôshi in aller Form ist sanzen. Es gibt drei Arten von Sanzen: sosan, das Anhören der allgemeinen Darlegungen des Rôshi über die Ausübung des Zen, gewöhnlich in einer Gruppe; das ist Pflicht für jeden Anfänger. Dokusan, bei dem man einzeln und zu festgesetzten Zeiten, aber nach freier Wahl, vor dem Rôshi erscheint. Naisan, bei dem man den Rôshi «geheim» aufsucht zu irgendeiner Zeit, Tag oder Nacht, wenn das durch

438 besondere Umstände gerechtfertigt ist. Bei den Sesshin von YASUTANI Rôshi wird dreimal am Tage Dokusan gehalten: um 5 Uhr früh, um 15 und um 19 Uhr. S. 16, 28, 85-89, 120, 132 ff, 180, 384

DÔRIN (Chin. TAO-LIN): ein bekannter Zen-Meister der T'ang-Zeit. Er wurde gewöhnlich NIAO-K'E (Vogelnest) genannt, auf Grund seiner Ge- wohnheit, Zazen im Gezweig der Bäume zu üben. Siehe auch unter «Hakurakuten». S. 338

Drei Böse Pfade (Jap. san aku dô): die Bereiche der Hölle, der hungrigen Geister und der Tiere - mit anderen Worten: die untermenschliche Welt. S. 229, 233, 260

Drei Kostbarkeiten oder Schätze (Jap. sambo, Skt. triratna): Sie bilden die Grundlage des Buddhismus, und es gibt kein buddhistisch-religiöses Leben ohne Vertrauen auf sie und ohne Verehrung für sie. Im Mahâyâna sind diese Begriffe weiter gefaßt als im Hīnayâna, bei dem sie einfach BUDDHA, dharma und sangha bedeuten. Im Mahâyâna sind sie: 1. die drei Kost- barkeiten als Eines (Jap. ittai sambô), wörtlich: die Drei Kostbarkeiten als ein Leib, 2. Die Drei Kostbarkeiten als Offenbarung (Jap. genzen sambo) und 3. Die Drei Kostbarkeiten als Bewahrung (Jap. juji sambô). Obgleich sie in Wahrheit Eines sind, werden Sie zum Zwecke der Erläute- rung doch unterteilt. So bestehen die Drei Kostbarkeiten als Eines aus dem Buddha BIRUSHANA (Skt. VAIROCANA), der die Erkenntnis der Welt der Leere, des Buddha-Wesens, der unbedingten Gleichheit darstellt; zweitens, aus dem Dharma, d. h. dem Gesetz anfang- und endlosen Werdens, dem alle Erscheinungsformen zufolge von Ursachen und Bedin- gungen unterliegen; drittens aus der Durchdringung und Wechselwirkung der beiden ersten, was jene vollkommene Wirklichkeit ausmacht, wie sie von dem Erleuchteten erlebt wird (s. S. 63 und 105). Die erste der Drei Kostbarkeiten als Offenbarung ist der historische BUDDHA ŚÂKYAMUNI, der auf Grund seiner Vollkommenen-Erleuchtung die Wahrheit des Ittai Sambo in sich selbst verwirklicht hat. Die zweite ist der Dharma, der die gesprochenen Worte und Predigten des BUDDHA ŚÂKYAMUNI enthält, in denen er die Bedeutung des Ittai Sambo und den

439 Weg zu dessen Verwirklichung erläutert hat. Die dritte umfaßt die Jünger des BUDDHA und andere seiner zeitgenössischen Anhänger, die jenes Ittai Sambo, das er lehrte, hörten, daran glaubten und in ihrem eigenen Leibe verwirklichten. Von den Drei Kostbarkeiten als Bewahrung ist die erste die Ikonographie des BUDDHA, die auf uns gekommen ist; die zweite besteht aus den ge- schriebenen Predigten und Gesprächen der BUDDHAS (d. h. vollkommen erleuchteter Wesen), wie sie in den Sûtras und anderen buddhistischen Texten noch vorhanden sind, während die dritte aus den zeitgenössischen, heutigen Schülern besteht, die die rettende Wahrheit des Ittai Sambo, die zuerst von ŚÂKYAMUNI BUDDHA offenbart wurde, üben und verwirklichen. Die Drei Kostbarkeiten stehen miteinander in wechselseitigem Zusammen- hang. Wer das Ittai Sambo nicht durch Erleuchtung verwirklicht hat, kann weder zutiefst die Bedeutung von ŚÂKYAMUNI BUDDHAS Erleuchtung begreifen, noch weiß er die unendliche Kostbarkeit seiner Lehren zu würdigen, und er kann auch die Bildnisse und Abbilder der Buddhas nicht als lebendige Wirklichkeit schätzen. Das Ittai Sambô wäre auch unbe- kannt, hätte ŚÂKYAMUNI es nicht in seinem eigenen Körper und Geist offenbart und in dem Weg zu dessen Verwirklichung, wie er ihn erläu- terte. Und schließlich würde das Ittai Sambo ein entlegenes Ideal, das Leben ŚÂKYAMUNIS trockene Geschichte sein und die Worte der Buddhas leblose Abstraktionen, gäbe es in unserer Zeit keine Erleuchteten, die dem Weg-des-Buddha nachfolgen, um andere auf diesem Pfad zur Selbst- Wesensschau zu inspirieren und zu leiten. Und zudem: Da jeder von uns das Ittai Sambô verkörpert, ist die Grundlage der Drei Kostbarkeiten nichts anderes als das eigene Selbst. S. 276

Drei Welten (Jap. sangai): eine andere Einteilung der Wirklichkeit gemäß buddhistischer Kosmologie. Diese drei bestehen aus den Bereichen des Begehrens, der Form und der Nicht-Form. Die Bewohner der ersten und niedrigsten Ebene sind noch stark ihren Sinnen verhaftet; auf der zweiten finden sich jene, die zwar körperliche Gestalt haben, sich jedoch nicht mehr an die Welt der Sinne klammern. Die Bewohner der dritten sind ohne Körperlichkeit, d. h. sie befinden sich in einem Zustand, der reinem Bewußtsein ähnlich ist. Zen-Meister fassen im allgemeinen diese Bereiche als Dimensionen des menschlichen Bewußtseins auf. S. 235, 237

440 Eins-Sein (Einssein): bezeichnet das Erlebnis der Leeren-Weite, der Leere. Wird es Einssein geschrieben, so kennzeichnet es den Zustand der Ver- sunkenheit bis zur Selbstvergessenheit. S. 49, 84, 127, 219, 268 und unter «FUGEN und MONJU».

Eisai MYÔAN: 1141-1215. In Japan beginnt die Zen-Sekte offiziell mit EISAI, einem Priester von hohem Rang, der in Kyoto auf dem Hieizan, der bedeutendsten Lehrstätte des Buddhismus im Mittelalter, die buddhi- stischen Lehren erfolgreich studiert hatte. Er machte zwei Reisen nach China, wo er in verschiedenen Klöstern, unter anderem auch in dem berühmten Zen-Kloster T'ien-t'ung (Jap.: Tendô), die Ausübung des Zen erlernte. Bei seiner Rückkehr nach Japan im Jahre 1191 brachte er sowohl die Rinzai-Lehren als auch Teesamen nach Japan. So wurde EISAI als Vater des Zen und des Teeanbaus in Japan bekannt. S. 30,176 22, 313

Eisenwand (Eisenwall) und Silberberg: Metaphern, um das Gefühl inneren Vereiteltseins, ja der Verzweiflung jener zu beschreiben, die mit ihrem Üben an einen bestimmten Punkt gekommen sind, über den hinaus sie nicht weiter vordringen können. Man ist nicht imstande, sich einen Weg durch eine Eisenwand hindurch zu schlagen oder auf einem Silber- berg Fuß zu fassen. S. 143, 317, 325

Engaku-Ji: «Tempel umfassender Erleuchtung». Dieses berühmte Zen-Klo- ster wurde 1282 von dem Regenten Hôjô TOKIMUNE, einem begeisterten Schutzherrn des Buddhismus, in Kamakura gegründet. Mit seinen meh- reren hundert Morgen schönster Hänge und Schluchten, bewaldet mit Bambushainen, blühenden Bäumen, riesigen Kiefern und Kryptomerien, ist es eines der größten Rinzai-Klöster im Gebiet von Tokyo-Yokohama. Engaku-Ji ist auch der Muttertempel vieler kleiner Untertempel, die ver- streut in ganz Japan liegen. Außer einem Zendô besitzt es ein großes kojirin, also eine Zazenhalle ausschließlich für Laien, die unter der Lei- tung eines erfahrenen Mönches steht. An Wochenenden finden sich dort oft bis zu hundert Männer und Frauen jeden Berufs und Standes, darunter auch Studenten, zum Zazen-Sitzen ein. SOGEN ASAHINA, der derzeitige Abt, ist auch Präsident des «Japan Buddhist Council for World Föderation». S. 292, 345

441 ENÔ: (voller Name DAIKAN ENO ZENJI), auch als ROKUSÔ DAISHI bekannt, was bedeutet: Der Sechste Zen-Patriarch; (Chin. HUI-NENG oder WEI- LANG), 638-713; einer der hervorragendsten chinesischen Zen-Meister der T'ang-Zeit. In der Überlieferung des Zen findet sich eine Fülle von Geschichten über ihn, z. B. daß er so arm war, daß er Brennholz ver- kaufen mußte, um seine verwitwete Mutter zu unterstützen; daß er An- alphabet war; daß er in seiner Jugend Erleuchtung fand, als er einen Abschnitt aus dem Diamant-Sûtra rezitieren hörte; daß er auf Grund eines Verses, den er geschrieben hatte und der seine tiefe Ein-Sicht dar- legte, zum Sechsten Patriarchen wurde (s. S. 145 den Vers in der Fußnote). S. 49 23, 51«, 145 14, 256, 312, 321 und unter «Dharma-Nachfolger», «Vier Gelübde», «NANGAKU EJÔ» und «Patriarchen».

Erleuchtung: Siehe auch unter «Kenshô», «daigo tettei» und «Satori». S. 27, 34, 35, 42, 48, 61, 67, 80, 82 f, 93 f, 97, 120 ff, 139 ff, 158, 165, 168, 172, 184, 195, 197 f, 200, 213, 215 f, 219, 231, 232, 240, 247 ff, 254, 259, 261, 265, 271, 272, 372, 388, 391, 418 9

FUGEN und MONJU (Skt. SAMANTABHADRA und MANJUSRI): Der Bodhisattva FUGEN verkörpert gelassen-ruhiges Handeln, Erbarmen und tiefsitzende Weisheit. Er wird im allgemeinen auf einem weißen Elefanten reitend dargestellt (der Elefant ist für seine Ruhe und Weisheit bekannt), wobei er zur Rechten des BUDDHA als dessen Begleiter sitzt, während der BODHISATTVA MONJU, mit seinem Verblendung abschlagenden Vajra- Schwerte in der einen Hand, zur Linken des BUDDHA auf dem Rücken eines Löwen sitzt. MONJU stellt Satori dar, also die plötzliche Erkenntnis des Eins-Seins allen Daseins, und die Macht, die daraus erwächst, für die die Kraft des Löwen symbolisch ist. Wenn das durch Satori gewon- nene Wissen zum Wohl der Menschheit angewandt wird, manifestiert sich Fugens Erbarmen. So sind die Bodhisattvas FUGEN und MONJU jeder ein Arm des BUDDHA, indem sie jeweils Eins-Sein (oder Gleichheit) und Vielfalt darstellen. S. 71, 272 f, 277, 307, 328, 385, 387, 389

Fukan Zazengi: Ratschläge zu Zen für die Allgemeinheit, eine Schrift DÔGEN Zenjis. S. 35 8, 403

442 Fünf Grade: Fünf Grade der Erleuchtung, wie sie TOZAN festgelegt hat (Jap. go-i): wie bei den Zehn Ochsenbildern handelt es sich hier um verschiedene Grade des im Zen Erreichten, wie sie TOZAN RYÔKAI formuliert hat. Diese Fünf Grade sind auf Japanisch (in ansteigender Reihenfolge): 1. shô-chû-hen, 2. hen-chû-shô, 3. shô-chû-rai, 4. hen-chû-shi und 5. ken- chû-to. Die Schlüsselzeichen sind shô und hen, die wechselseitig abhängige Aspekte des Einen darstellen. Einige ihrer ergänzenden Attribute sind (bei den folgenden Wortpaaren bezieht sich das erste Wort auf shô, das zweite auf hen): Absolutes, Relatives; Leere, Form-und-Farbe; Gleich- heit, Unterschiedenheit; Einheit, Vielheit; absolutes Selbst, relatives Selbst. Das chû, das «in», «innerhalb», «darin», «darunter» bedeuten kann, drückt die gegenseitige Beziehung von shô und hen aus.

1. shô-chû-hen: Auf dieser Ebene der Erkenntnis dominiert die Welt der Erscheinungen, aber sie wird als eine Dimension des absoluten Selbst erlebt. 2. Hen-chû-shô: Hier auf der zweiten Stufe tritt der Aspekt der Nicht-Unterschiedenheit stark in den Vordergrund, und die Mannigfaltig- keit weicht in den Hintergrund zurück. 3. shô-chû-rai: Auf der dritten Ebene handelt es sich um eine Erkenntnis, bei der es keine Bewußtheit von Körper und Geist mehr gibt; beide «fallen völlig weg». 4. Hen-chû- shi: Auf dieser Stufe gewahrt man das Besondere eines jeden Dinges im höchsten Maße seiner Einzigartigkeit. Jetzt ist eine Tasse «eine Tasse». 5. Ken-chû-to: Auf der fünften und höchsten Ebene durchdringen sich Form und Leere in solchem Maße, daß man sich keines von beiden mehr bewußt ist. Alle Vorstellungen über Satori und Verblendung verschwin- den vollends. Das ist das Stadium vollkommener innerer Freiheit. S. 54, 384 f und unter «TÔZAN RYÔKAI».

Fünf Todsünden: 1. Töten des Vaters, 2. Töten der Mutter, 3. Töten eines ARHAT, 4. Vergießen des Blutes eines BUDDHA, 5. Zerstören der Harmonie der buddhistischen Bruderschaft. S. 229

Gasshô: das Aufheben der Hände, Handfläche gegen Handfläche, als Aus- druck der Verehrung, Dankbarkeit oder Demut oder auch aller drei. S. 272, 297, 380

Gebote (Jap. kairitsu): Um offiziell ein Zen-Buddhist zu werden, muß man initiiert werden, d. h. man erhält die Gebote und anerkennt sie bei einer

443 Zeremonie, jukai genannt, bei der man sich verpflichtet, sich ganz den Drei Kostbarkeiten des Buddhismus (siehe dort) hinzugeben, die zehn Hauptgebote zu halten, alles Böse zu meiden, Gutes zu tun und sich um die Errettung aller Geschöpfe zu bemühen. Jukai wird als wesentlicher Schritt auf dem Wege zur Buddhaschaft angesehen.

Im Mahâyâna verbieten die zehn Hauptgebote (Jap. jûjûkinkai): 1. Leben zu nehmen, 2. Diebstahl, 3. Unkeuschheit, 4. Lügen, 5. Alkohol zu ver- kaufen oder zu kaufen (d. h. andere zum Trinken zu veranlassen oder selbst zu trinken), 6. über schlechte Taten anderer zu sprechen, 7. sich selbst zu loben und andere zu verunglimpfen, 8. geistige oder materielle Hilfe widerwillig zu geben, 9. Ärger, 10. Die Drei Kostbarkeiten (triratna) zu lästern. Diese Gebote sind für Laien und Mönche die glei- chen (wobei allerdings Nr. 3 nur auf bestimmte Mönchsorden zutrifft). Das Halten der Gebote ist nicht allein aus ethischen Gründen wichtig. Die Gebote sind die Grundlage geistiger Übungen, da man auf dem Weg zur Erleuchtung nicht fortschreiten kann, wenn Herz und Geist nicht frei von der inneren Unruhe sind, die gedankenloses oder liederliches Be- nehmen hervorruft. Ungeachtet ihrer Entschlußkraft sind jedoch nur wenige Novizen imstande, ein jegliches Gebot hochzuhalten, und so sind Übertretungen in diesem oder jenem Ausmaß unvermeidlich. Solche Über- tretungen hindern einen jedoch nicht daran, dem Weg des BUDDHA zu folgen, vorausgesetzt, daß man sie eingesteht, wahrhaft bereut und sich anstrengt, in Zukunft den Geboten gemäß zu leben. Mit dem Fortschreiten auf dem Wege und durch zunehmende Kraft, Reinheit und Einsicht durch Zazen werden es weniger Übertretungen. Was jedoch dauernden Schaden anrichtet - ja, sich verhängnisvoll auf unser seelisch-geistiges Fort- schreiten auswirkt -, das ist der Verlust des Glaubens an den BUDDHA, an die Wahrheit, die er durch das Erlebnis seiner Erleuchtung enthüllte, und an die bekräftigenden Worte der Patriarchen. In diesem Falle ist volle Erleuchtung und damit Ausrottung der tiefsten Wurzel des Bösen, nämlich der Unwissenheit und Verblendung, buchstäblich unmöglich. S. 41,182 f, 190, 247, 354

Geburt-und-Tod (Jap. shôji, Skt. samsâra): die Welt der Relativität; die Verwandlungen, die alle Phänomene, einschließlich der Gedanken und Gefühle, unablässig zufolge des Kausalgesetzes durchmachen. Geburt-und- Tod, von DÔGEN das «Leben eines Buddha» genannt, kann den Wellen des Meeres verglichen werden: Entstehen und Vergehen einer Welle ist

444 eine «Geburt» und ein «Tod». Die Größe einer jeglichen wird durch die Kraft der vorangehenden bedingt, wobei sie selbst Vorgänger der folgen- den ist. Dieser Vorgang, endlos wiederholt, ist Geburt-und-Tod. Siehe auch unter «Sechs Bereiche des Daseins», «karma», das Diagramm bei «Bewußtsein», «Rad-des-Lebens» und S. 229, 243, 261

Gedô-Zen (Jap. ge (gai) = außerhalb, do (Chin. tao) = Weg): Gedô bedeutet also «Weg außerhalb»; somit bezeichnet Gedô-Zen ein zwar religiöses, jedoch nicht buddhistisches Zen. S. 77 f

Geist (Jap. kokoro, auch shin ausgesprochen): kokoro bedeutet auch Herz, Gemüt, Seele, Gesinnung, Sinn, Inneres usw., und kokoro wurde stellen- weise auch mit einem dieser Wörter übersetzt. Fragt man irgendeinen Japaner, wo sein kokoro sitze, so wird er wahrscheinlich auf Herz oder Brust deuten. Fragt man im Westen jemanden nach dem Sitz seines «Geistes», so wird er meist auf den Kopf weisen. Diese beiden Gesten veranschaulichen den Unterschied des Begriffes kokoro im Osten und Geist im Westen. An keiner Stelle des Buches darf «Geist» nur für «Intellekt» oder «Verstand» genommen werden, auch nicht bei dem Satz S. 2: «DÔGEN gab schon früh Beweise seines glänzenden Geistes». In diesem Zusammenhang schließt das Wort natürlich hohe Gaben des Ver- standes ein. Je nach dem Sinnzusammenhang bedeutet es entweder den Geist eines Menschen im Sinne von all seinen Kräften des Bewußtseins, Gemüts, des Herzens und der Seele, oder aber Absolute-Wirklichkeit (Geist jenseits der Unterscheidung von: Materie und Geist). Im Bassui-Text, Kap. IV, findet sich häufig der Ausdruck der «Eigene Geist» (Jap. jishin). Da es Bassui nicht um psychologische Erkenntnisse geht, sondern um letzte Wirklichkeit, dürfte unser Wort «Selbst» dem am nächsten kommen. Vom Standpunkt des Zen-Erlebnisses ist Geist (im Sinn Abso- luter-Wirklichkeit) vollkommen Waches-Innesein - mit anderen Worten: beim Hören einzig zu hören, beim Sehen einzig zu sehen usw. Der Ausdruck «das Geistige Auge öffnen» ist eine andere Weise, über das Erlebnis des Satori oder der Selbst-Wesensschau zu sprechen. S. 48, 63, 145 f, 173, 186, 188, 205, 228 ff, 237 ff, 241 ff, 253 f, 285 ff, 306, 387 19

GEMPÔ YAMAMOTO RÔSHI: Früherer Abt des Ryutaku-Ji, Mishima. S. 279, 296 28

445 GENKI TAJI Rôshi: ein Rôshi-Schüler von HARADA Rôshi. Er starb 1953 im Alter von vierundsechzig Jahren. S. 317, 318, 372, 393

Gesicht vor Geburt der Eltern: siehe unter «Ur-Antlitz». godô (Jap.): bei der Sôtô-Sekte der Mönchs-Älteste, dem das Zendô unter- steht, im Rang der Nächste nach dem Rôshi. Die Position des jikijitsu bei der Rinzai-Sekte kommt etwa der des godô gleich. S. 272 f, 301,303, 305 f

HAKUIN EKAKU: 1686-1769, war einer der vielseitigsten und glänzendsten japanischen Zen-Meister. Er wird oft als der Vater des modernen Rinzai- Zen bezeichnet, da er die Rinzai-Lehren, die mehr und mehr verfielen, durch seine Systematisierung der Kôans auf eigene Faust neu belebt hat. HAKUIN Zenji war nicht allein ein hervorragender Meister, er war auch ein höchst befähigter Maler, Kalligraph und Bildhauer. Sein Sekishu oder «Was ist der Ton einer klatschenden Hand?» ist das bekannteste Kôan, das von einem japanischen Meister ersonnen wurde. Sein allgemein beliebter Zazen Wasan, Preisgesang des Zazen, der häufig in Zen-Tempeln rezitiert wird, beginnt mit den Worten: «Die Geschöpfe sind von Ur- beginn Buddha», und er endet mit: «Eben dieser Platz ist das Lotusland, eben dieser Leib ist Buddha.» S. 95,142, 205, 295, 296

HAKURAKUTEN (Chin. PAI LO-T'IEN): In Essays in Zen Buddhism: Third series, von SUZUKI DAISETZ heißt es auf Seite 376: «PAI LO-T'IEN war ein großer Dichter der T'ang-Dynastie. Da er als Gouverneur in einem bestimmten Bezirk amtierte, lebte im Bereich seiner Gerichtsbarkeit ein Zen-Meister, der allgemein als NIAO-K‘E, d. h. ,Vogel- nest', bekannt war, da er Meditation auf einem Sitz zu üben pflegte, der aus dem dicht-verwachsenen Gezweig eines Baumes bestand. Der Gou- verneur-Dichter besuchte ihn einmal und sagte: ,Was für einen gefähr- lichen Sitz Ihr da oben im Baum habt!' ,Der Eure ist weit schlimmer als der meine', versetzte der Meister. ,Ich bin der Gouverneur dieses Bezirks, und ich sehe nicht ein, was daran so gefährlich sein sollte.' ,Dann kennt Ihr Euch selbst nicht! Wenn Eure Leidenschaften entbrennen und Euer Herz unbeständig ist, was könnte gefährlicher sein als das?' Daraufhin fragte der Gouverneur: ,Was lehrt der Buddhismus?' Der

446 Meister rezitierte die berühmte Strophe, die in verschiedenen Mahâyâna- und Hīnayâna-Sûtras steht: ,Nichts Böses zu tun, doch das Gute zu üben, den Herz-Geist rein zu halten, das sind die Lehren des Buddha.' PAI jedoch protestierte: ,Das weiß doch jedes dreijährige Kind.' Jedes drei- jährige Kind mag das wohl wissen, doch selbst einem alten Mann von achtzig Jahren fällt es schwer, das zu üben.' So schloß der Zen-Meister oben im Baum.» S. 338 hanka: die japanische Bezeichnung für die halbe Lotus-Haltung. Siehe im 9. Kapitel

Hannya Haramita Shingyô (Skt. prajña Paramita Hridaya): Dieses Herz des prajña Paramita Sûtra wird derart häufig in Tempeln rezitiert, daß die meisten Zen-Schüler es auswendig können. Sein Thema ist: «Form ist nicht anders als Leere, Leere nicht anders als Form.» S. 283 hara: Dieses japanische Wort bedeutet Bauch, Eingeweide, Unterleib, hat aber gleichzeitig eine seelisch-geistige Bedeutung, wie es deutlich aus den Worten von HARADA Rôshi hervorgeht: «Ihr müßt erkennen, daß der Mittelpunkt des Weltalls eure Bauchhöhle ist!» Dabei ist die Bauchhöhle eben der Hara. S. 40, 47 21,108 ff, 306, 328

Hekigan-roku (Chin. Pi-yen-lu): Niederschrift von der Smaragdenen Fels- wand, das berühmteste Zen-Buch. Es besteht aus hundert Kôans, die Zen-Meister SETCHÔ JÛKEN (Chin. HSÜEH-TOU CH'UNG-HSIEN, 980-1052) zusamengestellt hat, wobei er jedes Kôan mit einem eigenen Kommentar in Versform versehen hat. Diese Sammlung wurde später von Zen-Meister ENGO KOKUGON (mit dem Zen-Namen BUKKA; Chin. YÜAN-WU KE-CHIN, 1063-1135) aufgegriffen und jedes Kôan von ihm mit einem suiji, d.h. einem Hinweis, versehen, der den Kernpunkt des Kôan enthält und dem Kôan vorangesetzt wurde, sowie mit Erläuterungen des Kôan, die ebenso wie SETCHÔ JÛKENS Vers dem Kôan folgen. Das Buch erhielt seinen Namen auf Grund einer Schriftrolle mit den chinesischen Schriftzeichen für «smaragdgrün» und «Felswand», die im Tempelraum von ENGO KOKUGON hing; so beschloß er, sie als Titel des Buches zu benutzen. S. 54, 214, 319, 342 38

447 (Die erste Hälfte des Hekigan-roku ist auf Deutsch unter dem Titel Bi-Yän-Lu, übersetzt von WILHELM GUNDERT, in zwei Bänden beim Carl Hanser Verlag, München, 1960 und 1967, erschienen).

Hieizan, Berg Hiei: Auf der Höhe dieses Berges in Kyoto findet sich eine ausgedehnte Tempelanlage, die im Mittelalter die bedeutendste Lehrstätte des Buddhismus in Japan war. S. 29

Hīnayâna (Jap. shôjô = Kleines Fahrzeug): siehe unter «Buddhismus» und S. 41,78 f, 354 40, 401, 419 15

Höhle des Satan: auch «Grube der Schein-Befreiung» genannt. Das ist ein Zustand beim Zazen, in dem man vollkommene Heiterkeit empfindet und von dem Glauben besessen ist, daß das Selbst-Wesensschau sei. Es erfor- dert feurige Anstrengungen, um auszubrechen und über diesen Zustand hinauszugehen. S. 327

HÔ KOJI (Chin. FANG CHÛ-SHIH; wörtlich, Der «Laienschüler HÔ»): ein Gelehrter des Konfuzianismus in der T'ang-Zeit, ein wohlhabender Mann, der, wie berichtet wird, sein gesamtes Goldvermögen in den Fluß warf und danach mit seiner Familie im Lande herumwanderte, wobei er seinen Unterhalt als Bambusflechter verdiente und mit berühmten Zen-Meistern «Dharma-Gefechte» führte. S. 142 12, 242 f honrai-no memmoku (Jap. wörtlich, honrai = ursprünglich; men = Ange- sicht, moku = Auge; memmoku - Antlitz, Angesicht): übersetzt mit Ur- Antlitz, Ur-Angesicht; gleiche Bedeutung wie «Gesicht vor Geburt der Eltern». Siehe unter «Ur-Antlitz».

hossen: das japanische Wort für «Dharma-Gefecht»; siehe dort.

Hosshin-Ji: «Kloster zur Erweckung des Bodhi-Geistes», ein Kloster der Sôtô-Sekte in Obama, im Bezirk Fukui gelegen. HARADA Rôshi war über vierzig Jahre lang dessen Abt. S. 34, 52, 55, 168, 278 11, 281, 297 f, 375, 377

448 Hotsugammon: eine Zusammenstellung von Gebeten und Bittgebeten von DÔGEN für Anfänger im Zazen. 5.394 30

HYAKUJÔ EKAI (Chin. PAI-CHANG HUAI-HAI): 720-814. Er schuf als erster Meister eine mönchische Zen-Gemeinde in China mit genauen Regeln und Ordnungen, wobei Nachdruck auf körperliche Arbeit gelegt wurde. S. 52, 279, 289 23 ich: im Sinne des lateinischen ego. Im Buddhismus erachtet man die Vor- stellung eines Ich, also die Bewußtheit unserer selbst als abgelöste Indivi- dualitäten, als Verblendung. Diese Ich-Vorstellung erhebt sich, da wir von unserem zwiespältigen Intellekt (dem sechsten Sinn) dazu verleitet werden, einen Dualismus von Ich und Nicht-Ich als gegeben voraus- zusetzen, und demzufolge denken und handeln, als ob wir abgetrennte Entitäten seien und uns einer Welt, die außerhalb unserer selbst liegt, gegenüber befänden. So festigt sich im Unterbewußtsein die Idee eines «Ich», einer Selbstheit, aus der sich Gedankengänge wie «ich hasse dies, ich liebe das; dies ist mein, das ist dein» ergeben. Von solchem Futter genährt, kommt es dazu, daß das Ich die Seele beherrscht und alles angreift, was immer seine Herrschaft bedroht, und begierig ist nach allem, was seine Macht erweitert. Feindschaft, Gier und Entfremdung, die in Leiden kulminieren, sind die unausweichliche Folge dieses Kreislaufs. S. 46, 148, 160, 211 f, 213 f, 247, 260 f, 302, 306, 324, 366, 393

IKKYÛ SÔJUN: 1394-1481, ein früherer Abt des Daitoku-Ji, des großen Rinzai-Klosters in Kyoto. Er ist in der Geschichte des Zen ebenso für seinen tiefsinnigen Witz, der sich in zahlreichen Versen ausdrückt, be- kannt, wie auch seiner tiefen Zen-Einsicht wegen. Diese beiden Eigen- schaften lassen sich im folgenden Vers erkennen, den er im Alter von siebenundachtzig Jahren schrieb, als er dem Tode nahe war: «Bläßlich dreißig Jahre lang / Schwächlich dreißig Jahre lang / Bläßlich und schwächlich sechzig Jahre lang / Beim Tode scheide ich meinen Abfall aus und opfere ihn Brahma.» (Nach der englischen Übersetzung von R. H. BLYTH.) S. 36 inka shômei (Jap.) «das rechte Siegel des deutlich erbrachten Beweises»: das rechte Siegel der Bestätigung, daß wahre Erleuchtung deutlich erwiesen

449 ist. Inka, wie es allgemein genannt wird, ist die offizielle Bestätigung seitens des Meisters, daß der Schüler seine Schûlung unter ihm vollends abgeschlossen - also «bestanden» hat. Das bedeutet bei Meistern, die das Kôan-System anwenden, daß der Schüler alle vom Meister vorgeschrie- benen Kôans bewältigt hat. Bei Meistern, die keine Kôans verwenden, heißt die Verleihung von Inka, daß sie mit dem Grad Wahren-Begreifens bei ihrem Schüler zufrieden sind. Wer Inka erhält, bekommt von seinem Meister entweder die Genehmigung zu lehren, oder aber er bekommt sie nicht. Das hängt ganz von der Tiefe der Erleuchtung des Schülers ab, von seiner Charakterstärke und von der Reife seiner Persönlichkeit. Viel hängt jedoch dabei auch von den Eigenschaften des Rôshi ab: Ist er weise und befähigt, und stellt er hohe Ansprüche, so wird er seine Lehr- genehmigung nicht leicht geben. Ist er jedoch mittelmäßig, so wird sein Schüler wahrscheinlich «der armselige Stempel eines armseligen Stempels sein», einerlei ob er nun Inka erhält oder nicht. Im Zen heißt es oft: «Die Frucht kann nicht besser sein als der Baum, der sie hervorgebracht hat.» S. 22, 30, 55, 225 und unter «Dharma-Nachfolger» innen (Jap. in-nen): direkter und indirekter Grund, übersetzt mit «Anlaß- Grund-Ursache», und zwar in karmischem Sinn. S. 229 9

JIZÔ (Skt. KSITIGARBHA): Dieser Bodhisattva der Güte und des Erbarmens ist eine im japanischen Buddhismus sehr geliebte Gestalt. Auf volkstüm- licher Ebene ist JIZÔ nicht allein der besondere Beschützer der Kinder, sondern auch der Ratgeber und Führer eines jeden, der in Gefahr ist, vom rechten Wege abzuirren. An Weg- und Straßenkreuzungen oder an einem Platz, wo ein Kind einen gewaltsamen Tod erlitten hat, findet man Steinstatuen des JIZÔ, seinen Mönchsstab in der Hand, und mit gescho- renem Kopf. S. 237

Jôriki (Jap.): jene besondere Kraft oder Macht, die aus gesammeltem Geist erwächst, wie er durch die Schulung im Zazen bewirkt wird. Jôriki befähigt unter anderem zu höchster Geistesgegenwart selbst in unvorher- gesehenen und schwierigsten Situationen. S. 49, 81 f, 83, 84, 165 f

450 JÔSHÛ JUSHIN (Chin. CHAO-CHOU TS'UNG-SHEN) : 778-897, ein berühmter Meister der T'ang-Zeit. Sein Mu ist das bekannteste aller Kôans. Es heißt, daß JÔSHÛ mit achtzehn Jahren Kenshô erlangte und mit fünfundvierzig vollkommene Erleuchtung fand. Von seinem fünfundvierzigsten Lebens- jahr an bis zu seinem achtzigsten wanderte er als Pilger in China umher, hielt sich bei hervorragenden Meistern auf und führte mit ihnen «Dharma- Gefechte». Erst als er achtzig Jahre alt war, eröffnete er ein Kloster und begann zu lehren. Er fuhr bis zum Tode fort, Schüler zu unterweisen, und starb im Alter von hundertzwanzig Jahren. Wie sein Meister, NANSEN, war JÔSHÛ von sanftem Gebaren. Er vermied die kraftvolle Rede und heftige Handlungsweise eines Rinzai, doch waren seine Weisheit und sein Scharfsinn im Umgang mit seinen Schülern derart, daß er mit seinem sanften Spott oder hochgezogenen Augenbrauen mehr vermitteln konnte als andere Meister durch Anbrüllen oder Stockhiebe. Das geht aus den zahllosen Kôans hervor, die ihn zum Mittelpunkt haben. JÔSHÛ Zenji wird in Japan hoch verehrt. S. 103, 113 ff, 195,227, 233« kalpa (Skt.): ein Sûtra. definiert ein Kalpa als die Zeitspanne, die es erfor- dern würde, einen meilenhohen Berg einzuebnen, wenn dazu nur einmal im Jahr ein Engel vom Himmel käme und einmal mit seinen Flügeln über die Spitze des Berges führe. S. 250, 288

Kamakura-Zeit: 1186-1336, jene unruhige Zeit der japanischen Geschichte, da der Sitz der Regierung nach Kamakura verlegt wurde. Damals ent- standen die Zen-, Nichiren- und Reine-Land-Sekte. S. 221

KANNON, auch KANZEON, KWANNON (Skt. AVALOKITESVARA, Chin. KUAN- YIN): der «All-Erbarmende». Er ist der Bodhisattva der allumfassenden Liebe und Güte. Er spielt bei den Andachtsübungen aller buddhistischen Sekten eine Hauptrolle. Obgleich er an sich männlich ist, ist er doch in Japan in der volkstümlichen Vorstellung zu einer weiblichen Gestalt geworden. S. 71, 150, 193, 232, 237, 287, 297, 385 karma (Skt.) (Jap. gô): einer der Grundbegriffe der buddhistischen Lehren; er bedeutet Aktion und Reaktion, den unaufhörlichen Vorgang von Ur-

451 sache und Wirkung. Somit sind unser gegenwärtiges Leben und unsere Lebensumstände das Ergebnis vergangener Gedanken und Handlungen, und gleichermaßen bilden unsere Handlungen in diesem Leben unsere zukünftige Daseinsform aus. Das Wort Karma wird auch auf schlechte Neigungen angewandt, die aus früherem falschem Handeln resultieren. Siehe auch unter «Geburt-und-Tod», «Bewußtsein» und «Sechs Bereiche des Daseins». S. 118,119,190, 244,250 katsu (Jap.) (Chin. ho): Obgleich dieser Ausruf keine eindeutige Bedeutung hat, vermittelt er doch sehr viel. Er wird von Meistern benutzt, um alle dualistischen, ich-bezogenen Gedanken aus dem Sinn des Schülers zu vertreiben. Der Ausruf wird meistens mit RINZAI in Verbindung gebracht, dessen Geschrei und Stockschwingen im Zen legendär sind. Er wurde zuerst von BASO benutzt, der auch für seine Donnerstimme berühmt war. RINZAI unterscheidet vier Arten von Katsu: «Manchmal ist es wie das Diamant-Schwert des Vajra-Königs; manchmal ist es wie der gold- haarige Löwe, der am Boden kriecht; manchmal ist es wie eine an der Spitze mit Gras bewachsene Lockstange; und manchmal ist es über- haupt kein katsu». S. 247, 387

Kegon-Sûtra (Skt. Avatamsaka-Sûtra): ein tiefsinniges Mahâyâna-Sûtra, in dem sich die Predigten des BUDDHA finden, die er unmittelbar nach seiner vollkommenen Erleuchtung gehalten hat. S. 58, 60

KEIHO SHUMITSU (Chin. KUEI-FENG TSUNG-MI): ein höchst gelehrter Zen- Meister der T'ang-Zeit. S. 75 keisu (Jap.): eine schalenförmige Bronzetrommel, die beim Rezitieren von allen buddhistischen Sekten Japans benutzt wird. Sie wird am Rande mit einem gepolsterten Knüttel angeschlagen, den man mit beiden Händen hält. S. 45

KEIZAN JÔKIN: 1268-1325, der Vierte Patriarch der japanischen Sôtô-Sekte in der Linie nach DÔGEN. Er ist der Begründer des Sôji-Ji (heute in

452 Yokohama), eines der beiden Hauptklöster der Sôtô-Sekte. Das Denkô- roku ist eine Sammlung seiner Werke. Er ist auch der Verfasser des Zazen Yôjinki (siehe dort). S. 35 kendô (Jap.) wörtlich «Der Weg des Schwertes»; das Fechten im japani- schen Stil, bei dem das Schwert mit beiden Händen geführt wird. Früher war es üblich, daß sich die Adepten des Kendo im Zen schulten -, um dadurch um so besser flinke, rückhaltlose Reaktionsfähigkeit und furcht- lose Todesbereitschaft zu entwickeln. S. 71,75, 320

Kenshô (Jap.) wörtlich, ken = sehen, schauen; shô = Natur, Wesen. Da es sich dabei um die Schau ins eigene Wesen handelt, wurde es mit Selbst- Wesensschau übersetzt. Semantisch haben Kenshô und Satori im Grunde die gleiche Bedeutung, und sie werden oft synonym gebraucht. Es ist jedoch üblich, das Wort «Satori» anzuwenden, wenn man von der Er- leuchtung des BUDDHA und der Patriarchen spricht, da es ein tieferes Erlebnis als das Wort Kenshô bezeichnet. Die genaue japanische Bezeich- nung für volle Erleuchtung ist daigo tettei. Wenn das Wort godô (wört- lich, «der Weg der Erleuchtung») Kenshô hinzugefügt wird, so bekommt letzteres einen subjektiveren und eindringlicheren Sinn. Siehe auch unter «Satori» und «daigo tettei». (Seitenhinweise siehe unter «Erleuchtung».) kinhin: Zazen im Gehen, wie es zwischen den einzelnen Sitzzeiten geübt wird. Bei der Rinzai-Sekte geht man schnell und energisch, oft im Lauf- schritt, bei der Sôtô-Sekte hingegen äußerst langsam, im Schneckentempo. Bei HARADA Rôshis Methode, die auch von YASUTANI Rôshi angewandt wird, liegt die Gangart etwa in der Mitte zwischen beiden. S. 65 f, 70 (Zazen-Gehen), 348

Kôan (Jap.) (Chin. kung-ari): Im Chinesischen bedeutete es ursprünglich einen juristischen Präzedenzfall. Im Zen ist ein Kôan eine in verwirrender Ausdrucksweise abgefaßte Formulierung, die auf Letzte-Wahrheit hin- weist. Kôans lassen sich nicht mit Hilfe logischen Denkens lösen, sondern nur, indem man eine tieferliegende Schicht des Geistes erweckt, die jen- seits des diskursiven Intellekts liegt. Kôans werden aus den Fragen der Schüler alter Zeit und den Antworten ihrer Meister gebildet, aus Teilen

453 von Predigten und Reden der Meister, aus Zeilen der Sâtras oder anderer Lehren. Das Wort oder der Ausdruck, in den sich das Kôan auflöst, wenn man damit als geistigem Schûlungsmittel ringt, wird watô (Chin. Hua-tou) genannt. Demnach bildet die Frage: «Hat ein Hund Buddha-Wesen?» zusammen mit JÔSHÛS Antwort: «Mû!» das Kôan. «Mu!» selbst ist das Watô. Insgesamt soll es 1700 Kôans geben. Von diesen verwenden japanische Zen-Meister einen Stamm von etwa 500, da viele Wiederholungen bringen oder weniger wertvoll für die Schûlung sind. Die verschiedenen Meister bevorzugen verschiedene Kôans, doch stets benutzen sie, sofern sie über- haupt Kôans anwenden, die Kôan-Sammlungen des Mumon-kan und des Hekigan-roku. Ein Schüler, der unter YASUTANI Rôshi seine Schûlung durchmacht, muß folgende Kôans und andere Probleme solcher Art bewältigen: gemischte Kôans 50, Mumon-kan (mit Versen) 96, Hekigan- roku 100, shôyo-roku 100, Denkô-roku (mit Versen) 110, Jûjukinkai und andere 90. Das ergibt zusammen 546. S. 34, 38 f, 52, 84, 86 f, 103 ff, 130, 184, 239

KÔBÔ DAISHI: 774-835, einer der höchst verehrten japanischen Buddhisten. KÛKAI, wie er zu Lebzeiten genannt wurde, brachte den Shingon- Buddhismus von China nach Japan, nachdem er diese Form des Buddhis- mus drei Jahre lang in China studiert hatte. Er ist gleichermaßen berühmt als hervorragender religiöser Lehrer wie als begabter Schriftsteller, als Künstler und unübertroffener Kalligraph. Da er zudem noch die hiragana- Schriftzeichen erfunden hat, wird er von den Japanern als großer Wohl- täter angesehen. S. 387 18

Kôgaku-Ji: wörtlich, «dem Berge zugewandtes Kloster», der Berg ist dabei Fuji. Er wurde von BASSUI Zenji gegründet und liegt in der Stadt Enzan im Bezirk Yamanashi. S. 226 kotsu (Jap.): der etwa 35 cm lange Stab des Rôshi, leicht gebogen, wie eine menschliche Wirbelsäule. Der Rôshi benutzt ihn, um einer Stelle Nach- druck zu verleihen, um sich im Sitzen darauf zu lehnen oder gelegentlich einem Schüler einen Klaps damit zu versetzen. S. 134,164 (Meisterstab)

454 kriya yoga (Skt.): die ersten Schritte bei der Schûlung im Yoga. S. 345, 346 kû (Jap.) (Skt. sünyatâ): übersetzt mit «Leere». Hierzu die Worte des Sechsten Patriarchen ENÔ: «Wenn ihr mich von der Leere sprechen hört, so laßt euch nicht zu der Auffassung verleiten, daß ich die Leerheit (eines bloßen Vakuums) meine.» Zum Erlebnis tiefer Erleuchtung (Satori, daigo tettei) gehört das Erlebnis dieser unqualifizierten Leere, die allen Erscheinungsformen zugrunde liegt. Obgleich umfangreiche Werke über Kû geschrieben worden sind, lassen sich Sinn und Gehalt doch nicht durch Worte vermitteln und werden nur dem begreiflich sein, der diese Leere in der Erleuchtung erlebt hat. S. 117,119 (Obiges Zitat stammt aus Grundlagen tibetischer Mystik von Lama A. 4 GOVINDA, O. W. Barth Verlag, München, 1975, S. 133)

K'UNG-TZE (auch KUNG-TZE, KONFUZIUS; Chin. K'UNG FU-TZE; Jap.KÔSHI): 551-479 v. Chr., ein gefeierter chinesischer Weiser. Das Rückgrat von K'UNG-TZES moralischen und religiösen Lehren findet sich in LUN Yü, Gespräche des K'ung-tze. S. 75, 396 31

Kusharon (Skt. Abhidharma-kosa-sâstra): ein im 5. Jh. n. Chr. von VASU- BANDHU (Jap.: SESHIN) geschriebenes Werk. S. 80 kyosaku (Jap.): hölzerner Stock von etwa 75-100 cm Länge und einem Durchmesser von etwa 7,5 cm. Von einem erleuchteten godô geführt, dient er den Sitzenden im Zendô als Ansporn, niemals als Züchtigung. S. 92, 135 ff, 153, 168, 196, 208 f, 262 (Stock), 273 ff, 307, 311, 355, 357

LAO-TZE (auch LAO DSE, LAOTSE; Jap. RÔSHI): Obgleich LAO-TZE als einer der größten chinesischen Weisen angesehen wird, weiß man doch wenig über sein Leben. Es heißt, daß er um 604 v. Chr. geboren wurde und der Autor des Tao Teh King («Der Weg und seine Macht», Jap. Dôtokkyo) sei, eines Werkes, das die Bibel des Taoismus ist, also jener Religion, die um dieses Buch herum erwuchs. Das Tao wurde als der Urgrund allen Daseins definiert oder als die Macht des Universums. Wörtlich übersetzt bedeutet Tao (Jap. dô) «Weg». S. 75, 201 24

455 Lotus (Skt.: padma): Im Buddhismus ist der Lotus das Symbol der Reinheit und Vollkommenheit des Buddha-Wesens, das allem immanent ist. «So wie die Lotusblume aus der Dunkelheit des Schlammes zur Oberfläche des Wassers emporwächst und sich erst öffnet, nachdem sie sich über die Wasseroberfläche erhoben hat, und obwohl aus Erde und Wasser geboren, von beiden unberührt bleibt, so entfaltet der in der Welt, im mensch- lichen Körper geborene Geist seine Blütenblätter (Qualitäten), nachdem er sich über die trüben Fluten der Leidenschaften und des Nichtwissens erhoben hat, und verwandelt die dunklen Kräfte der Tiefe in die lichte Reinheit des Blütennektars, des Erleuchtungsbewußtseins...» (GOVINDA, a. a. O., S. 97). S. 241, 419 15

Lotus-Haltung (Skt.: padmīsana, Jap. kekka fusa): die Haltung, in der der Buddha ikonographisch auf einem Lotus dargestellt wird. Siehe im 9. Kapitel und S. 47 f, 107, 196

Lotus-Sûtra (auch «Sûtra des Lotus des Wunderbaren Gesetzes», Skt. Saddharma Pundarika, Jap. Myoho-renge-kyô, auch als Hokke-kyô bekannt): dieses Mahâyâna-Sûtra, das aus dem 1. Jh. stammen soll, hat auf die Buddhisten Chinas und Japans großen Einfluß gehabt. «In lebendiger Sprache, die die Einbildungskraft überwältigt, gibt es die letzte Rede von ŚÂKYAMUNI auf dem Geier-Gipfel wieder, ehe er ins Nirvana einging. Hier bietet er seinen versammelten Jüngern eine Vision unendlicher Buddha-Worte dar, erleuchtet von Buddhas, die zahllosen Schülern die Wahrheit offenbaren, ebenso wie ŚÂKYAMUNI es in dieser Welt tut. Das ist eine Vorwegnahme der späteren Offenbarung, daß ŚÂKYAMUNI ebenso eine Manifestation des Ewigen Buddha ist, der in diesen unendlichen Bereichen stets dann erscheint, wenn die Menschen vom Bösen verschlungen zu werden drohen. Die Rettende Wahrheit, die er enthüllt, Mahâyâna genannt, ist so tiefsinnig, daß nur Wesen höchster Intelligenz sie begreifen können... ŚÂKYAMUNI fährt fort, indem er erklärt, warum es für ihn notwendig war, zuerst die Hīnayâna-Lehren zu predigen, die auf die Selbst-Vervollkommnung des Einzelnen abzielen, als Vorbereitung für die endgültige Offenbarung Universeller Erlösung...» (Aus The Lotus of the Wonderful Law, einer gekürzten Übersetzung von W. E. SOOTHILL, zitiert in Sources of Japanese Tradition, herausgegeben von WILLIAM THEODORE DE BARY, S. 121.) S. 73, 215, 216 28 und unter «Nichiren-Sekte» und «Sûtra».

456 Mahâyâno, (Jap. Daijô = Großes Fahrzeug): Siehe unter «Buddhismus» und S. 41,78, 80,105,419 15

Makyô (Jap.), (ma = akuma = Teufel; kyô - Phänomene, objektive Welt): Somit bedeutet Makyô das Erscheinen «diabolischer» Phänomene beim Üben von Zazen: Gesichte, Gerüche, Töne usw. Sie sind durchaus nicht «diabolisch», solange der Übende ihnen keinerlei Beachtung schenkt. S. 71-74, 149 ff, 167, 180, 255 34, 335, 347 (Halluzinationen), 359

mandala (Skt.): siehe unter «Tantrischer Buddhismus».

mantra (Skt.): siehe unter «Tantrischer Buddhismus». mâyâ (Skt.): Dieses Sanskritwort wird im allgemeinen als Illusion, Täu- schung definiert, aber Mâyâ ist lediglich das Mittel, mit Hilfe dessen wir die Welt der Erscheinungsformen messen und abschätzen. Es ist die Ursache einer Täuschung, wenn diese Welt der Formen fälschlich als statisch und unwandelbar wahrgenommen wird. Wenn sie dagegen als das, was sie ist, angesehen wird, nämlich als lebendiges Strömen, das sich auf Leere gründet, so ist Mâyâ Bodhi oder eingeborene Weisheit. Siehe auch unter «Verblendung». S. 126

Meiji-Restauration: jenes Ereignis in der japanischen Geschichte, das den Zusammenbruch des Tokugawa-shôgunats (1867) kennzeichnet und damit die Wiederherstellung der Macht des Kaisers MEIJI und den Beginn der MEiji-Zeit (1867-1912). S. 75

MENG-TZE (Chin.) (auch MENCIUS oder MENG DSE; Chin. MENG-TZE; Jap. MOSHI):? - 370 v. Chr., ein chinesischer Philosoph und Weiser. Sein Hauptwerk, Das Buch des MENG-TZE, wird als eines der klassischen Kommentare zu den Schriften von KUNG-TZE angesehen. S. 75

MIROKU (Skt. MAITREYA): der «All-Liebende», der BODHISATTVA, der im nächsten Welt-Zyklus zum vollkommenen BUDDHA wird, um die Men- schen aus den Banden des Ich in die Freiheit zu führen. S. 152 (Maitreya), 252, 389

457 mokugyo (Jap.): wörtlich «Holzfisch». Das Mokugyo ist ein hölzernes, annähernd kugelförmiges Gebilde mit einem Ansatz, ausgehöhlt und in Form einer Art von Seegeschöpf geschnitzt, mit einem breiten horizon- talen Schlitz (Mund), um der Resonanz willen. Es wird als Begleitung beim Sûtra-Rezitieren in buddhistischen Tempeln verwendet. Wenn es mit einem kurzen, gepolsterten Schlägel angeschlagen wird, gibt es einen eigentümlich sonoren Laut von sich. Diese «Holz-Trommel» ist chinesi- schen Ursprungs. Sie kann bis zu einem Meter hoch sein oder auch so klein (etwa 15 cm hoch), daß man sie auf dem Schoß halten kann. Häufig ist das Mokugyo leuchtend rot lackiert. Im Buddhismus symbo- lisieren Fische, da sie niemals schlafen, die Sprungbereitschaft und Wach- samkeit, die auf dem Wege zur Buddhaschaft erforderlich sind. S. 45, 276 mondô (Jap.): wörtlich, «Frage-und-Antwort». Jene einzigartige Form des Zen-Dialogs zwischen Meister und Schüler, bei dem der Schüler eine Frage über den Buddhismus stellt, die ihn tief beunruhigt hat, und die der Meister, indem er Theorie und Logik umgeht, in einer Weise beantwortet, die im Schüler eine Antwort aus tieferen Schichten seines Herz-Geistes hervorrufen soll. Siehe auch unter «Dharma-Gefecht». S. 140

MONJU: siehe unter FUGEN und MONJU und S. 71, 272 f, 277, 307, 328.

Mönch: auch Priester - denn in der japanischen Sprache gibt es keinen Unterschied zwischen den beiden religiösen Ständen. Bô-San, oder weniger respektvoll bôzu, ist die allgemeine Bezeichnung für einen ordinierten Schüler des BUDDHA. Es gibt noch zwei andere Bezeichnungen: unsui für einen Novizen in einem Kloster (siehe unter «Wolken und Wasser») und oshô-San für den leitenden Priester eines buddhistischen Tempels. Die chinesischen und japanischen Zen-Meister alter Zeit und ihre Schüler, die man auf Deutsch als Mönche bezeichnen würde, waren Männer, die die Mahâyâna-Gelübde abgelegt hatten, um den Pfad des BUDDHA zu gehen, und die, unverheiratet, das einfache Leben der Wahrheitsucher führten, entweder als Mitglieder einer mönchischen Gemeinschaft oder als umher- wandernde Jünger des Großen Weges. Im heutigen Japan sind es die Rôshi der Zen-Klöster und ihre Schüler, die diesem mönchischen Ideal am nächsten kommen, obgleich sich einige Verheiratete unter ihnen finden.

458 Das deutsche Wort «Priester» wird gewöhnlich auf die in Tempeln an- sässigen Bô San angewandt, die für die zum Tempel Gehörigen die mancherlei buddhistischen Riten vollziehen, Unterricht in der buddhi- schen Lehre erteilen und gelegentlich Zazen-Kurse abhalten, wenn ihr Tempel zur Zen-Sekte gehört. Diejenigen unter ihnen vom Range eines Rôshi halten in ihrem eigenen Tempel und auch anderenorts periodisch Sesshin ab, meist für Laien. Die meisten japanischen Priester sind ver- heiratet und leben mit ihren Familien in dem von ihrem Vater ererbten Tempel. Heutzutage verlangen weder die Zen-Sekte, noch andere japa- nisch-buddhistische Sekten das Zölibat von ihren Priestern, obgleich Zen-Nonnen, ob sie nun im Nonnenkloster (Jap. ni-sôdô) leben oder in ihrem eigenen Tempel, nicht heiraten dürfen. Siehe auch unter «Tempel». S. 52, 140, 142 Mu (Jap.): wörtlich, «nichts», «nicht», «das Nichts», «kein» und «un- . . .». Im Zen das wato des bekanntesten Kôan. Siehe auch unter «Kôan» und «JÔSHÛ JÛSHIN». S. 38, 55, 100, 103-107, 157 ff, 300, 358 ff mudrā (Skt.): siehe unter «Tantrischer Buddhismus». mujôdô-no taigen (Jap.): wörtlich, mujô = nichts über, unübertrefflich; do = Weg; taigen — Verkörperung, Verwirklichung. Die «Verwirklichung des Unübertrefflichen-Weges» - und zwar mit dem ganzen Sein des Menschen bei allen alltäglichen Verrichtungen. S. 81-83

Mumon-kan (Chin. Wu-men-kuan), Die torlose Schranke: Dieses Buch mit achtundvierzig Kôans, das von dem Kompilator, dem Zen-Meister MUMON EKAI (Chin. WU-MEIN HUI-K'AI) mit Kommentaren in Prosa und Versen versehen wurde, ist neben dem Hekiganroku die bekannteste Sammlung chinesischer Kôans. Der Vers, der jedes Kôan begleitet, wird im allgemeinen als gesondertes Kôan behandelt. S. 54, 104, 120, 142 12, 171, 233 15, 256 35, 289 23, 341 mushinjô (Jap.): wörtlich, mu = nicht, nichts, kein, un- . . .; shin = Herz, Seele; jo = festsetzen, ein Zustand, in dem alles Denken aufhört und Geist und Seele völlig veröden. Das darf keinesfalls mit der «Abgeschiedenheit des Geistes» (Jap. mushin) verwechselt werden. S. 79

459 NAKAGAWA Rôshi: siehe unter «SOEN NAKAGAWA Rôshi».

NANGAKU EJÔ (Chin. NAN-YÜ HUAI-JANG): 677-774, ein hervorragender Zen-Meister der T'ang-Zeit, Schüler von ROKUSÔ ENÔ, dem Sechsten Patriarchen. s.50 f

NICHIREN-Sekte: eine japanisch-buddhistische Sekte, die NICHIREN (1222 bis 1282) gründete. Die NICHIREN-Gläubigen rezitieren andächtig «Namu Myôhô Renge-kyô» (Ich vertraue mich dem Sûtra des Wunderbaren- Gesetzes mit unbedingtem Glauben an), kraftvoll begleitet von ihren eigenen Trommelschlägen. S. 73 und unter «Sûtra» nirvâna (Skt.; Jap. nehan): Wesensschau des Selbst; Satori; das Erlebnis der Unwandelbarkeit, Inneren-Friedens, Innerer-Freiheit. Das Wort Nirvana wird in zwei Bedeutungen angewandt: einmal als Gegensatz zu samsâra, d. h. dem Kreislauf von Geburt-und-Tod, und zum anderen im Sinne von pari-nirvâna als Rückkehr zur ursprünglichen Reinheit des Buddha- Wesens, nach Auflösung des leiblichen Körpers, d. h. nach Rückkehr zur Vollkommenen-Freiheit eines Zustandes der Unbedingtheit. S. 53, 113 und unter «Lotus-Sûtra»

Nirvâna-Sûtra (Jap. Nehan-kyô; Skt. Mahâparinirvâna-Sûtra): unter an- derem enthält dieses Sûtra die letzten Worte des BUDDHA. S. 115,119

Nô: das höchst verfeinerte klassische Tanz-Drama der Japaner.

«Noch ein Schritt!»: ein Ausdruck, der oft vom Rôshi im Dokusan ge- braucht wird, um anzudeuten, daß der Herz-Geist des Schülers einen Punkt erreicht hat, da es nur noch eines letzten Vorstoßes oder Sprunges bedarf, um zu seiner eigenen Selbst-Wesensschau zu kommen. Das ist kein definierbarer Punkt, aber ein Zustand, den der Rôshi jeweils bei jedem Einzelnen erfühlt. S. 167, 328

NYOJÔ (Chin. JU-CHING): 1163-1238, jener chinesische Zen-Meister, unter dem DÔGEN ZENJI volle Erleuchtung fand: Abt des Klosters T'ien-t'ung

460 (Jap. Tendô). S. 30-32

NYORAI (Skt. TATHÂGATA), die Bezeichnung, die der Buddha in bezug auf sich selbst anwandte. Es bedeutet wörtlich: «Der Also-Gekommene», wobei das «Also» oder die «Alsoheit» den erleuchteten Zustand be- zeichnet. TATHÂGATA kann somit wiedergegeben werden mit «Also erleuchtet komme ich» und ist daher nicht allein auf SÂKY AMUNI, sondern auch auf andere BUDDHAS anwendbar. S. 59

ÔBAKU KIUN (Chin. HUANG-PO HSI-YÜN):? - 850, einer der hervorragenden Zen-Meister der T'ang-Zeit. RINZAI war einer seiner gefeiertsten Schüler. S. 51 (Huang-Po), 406

ÔBAKU-Sekte (Jap. ÔBAKU--shû): Diese Zen-Sekte wurde 1654 von INGEN in Japan eingeführt. Ihr Haupttempel, im chinesischen Stil erbaut, ist Manpuku-Ji («Der Zehntausend-Glück-Tempel») in der Nähe von Kyoto. Unter den Zen-Sekten im heutigen Japan ist ÔBAKU die am wenigsten einflußreiche.

Om (Skt.): Diese heilige Silbe ist eines der wichtigsten Mantras im tantri- schen Buddhismus. (Siehe die heilige Formel «Om mani padme hüm» in Grundlagen tibetischer Mystik von Lama A. GOVINDA, O. W. Barth Verlag, München, 41975.) S. 358

PATANJALI: der angebliche Kompilator eines Buches von Yoga-Aphorismen, die Philosophie, Schûlung und Meditationsmethoden zum Gegenstand haben, die «zur Erkenntnis der Gottheit führen». Man weiß über PATANJALI so wenig, daß die Vermutungen über die Daten seines Werkes vom 4. Jh. v. Chr. bis zum 4. Jh. n. Chr. reichen. S. 345

Patriarchen (Jap. sôshigata): Die Patriarchen sind die großen Meister, die Buddhas Dharma empfingen und offiziell weitergegeben haben. In Indien sind es ihrer achtundzwanzig und in China sechs, wobei BODHIDHARMA sowohl der achtundzwanzigste indische als auch der erste chinesische Patriarch ist. Der Sechste Patriarch, ROKUSÔ ENÔ, hat das Patriarchat

461 niemals in aller Form an einen Nachfolger weitergegeben, und so ist es erloschen. Indessen werden die hervorragenden Zen-Meister der folgenden Generationen, sowohl der chinesischen als auch der japanischen Linie, aus Verehrung und Hochachtung für ihre großen Leistungen von den Japanern einfach als Patriarchen bezeichnet. S. 35, 46, 113 ff, 125, 137, 229, 249, 254, 258, 287, 380 f, 418 6. preta (Skt.): siehe unter «Sechs Bereiche des Daseins» und S. 126.

Priester: siehe unter «Mönch».

Rad-des-Lebens (Jap. rinne; rin = das Rad; e = sich [im Kreise] drehen): von den Schriftzeichen her also wiederzugeben mit «Kreislauf», «sich drehendes Rad», wobei das im Kreislauf von Geburt-und-Tod in den Sechs Bereichen des Daseins sich drehende Rad gemeint ist. Es wird abge- kürzt wiedergegeben mit «Rad-des-Lebens». Siehe auch unter «Sechs Bereiche des Daseins». S. 228, 229 Reines Land: ein metaphorischer Ausdruck für die Welt der Wahrheit und Reinheit, wie sie sich in der Erleuchtung offenbart. S. 385 Reine-Land-Sekte (Jap. Jôdo-shû oder Nembutsu-shû): Die zentrale Lehre der Reinen-Land-Sekten besteht darin, daß alle, die den Namen AMIDAS voller Aufrichtigkeit und mit dem Glauben an die rettende Gnade seines Gelübdes anrufen, in seinem Reinen Land des Friedens und Segens wieder- geboren werden. Die wichtigste Meditationsübung dieser Sekten ist daher das beständige Anstimmen der Worte namu Amida butsu (Ich unterwerfe mich gläubig AMIDA BUDDHA); auf Japanisch lautet diese Anrufung nembutsu (nen = Gedanke, Vorstellung, in diesem Zusammenhang: Gebet, Anrufung; butsu = Buddha). Die japanische Reine-Land-Sekte wurde 1175 von HÔNEN, einem weisen und frommen Mönch, gegründet. Sein erlauchter Schüler SHINRAN wurde seinerseits die zentrale Gestalt jener Reinen-Land-Sekte, die Jôdo-Shin-shû oder Shin-shû (Wahre-Reine-Land-Sekte) genannt wird. Siehe auch unter «Amida».

RINZAI GIGEN (Chin. LIN-CHI I-HSÜAN): ?-867, der bekannte chinesische Meister der T'ang-Zeit, um dessen Lehre sich eine besondere Sekte gebildet

462 hat, die seinen Namen trägt. RINZAIS Gesammelte Worte (RINZAI-roku) stellen einen Text dar, der von RINZAI-Meistern in Japan viel benutzt wird. RINZAI ist für seine anschauliche Redeweise und seine gewaltsamen Erziehungsmethoden bekannt. S. 20, 50, 242, 248, 256, 260 f und unter JÔSHÛ JÛSHIN, «katsu» und «ÔBAKU KIUN».

RINZAI-Sekte: RINZAIS Lehren wurden von Eisai in Japan eingeführt. Die RINZAI-Sekte ist in Kyoto, wo viele ihrer Haupttempel und -klöster liegen, besonders stark. S. 30, 84, 85 3«, 135,198, 275 9, 278 11 rôhatsu-sesshin (Jap.): das Gedenk-Sesshin für BUDDHAS Erleuchtung, die sich am 8. Dezember zugetragen haben soll. Es ist das schwerste Sesshin des Jahres, nicht allein, weil es das kälteste ist, das letzte, ehe die Sesshin in den Wintermonaten aussetzen, sondern auch, weil der Rôshi und die Mönchs-Ältesten höchste Anforderungen an die Teilnehmer stellen, damit diese bei diesem Sesshin Erleuchtung finden. S. 282, 296, 297, 356 rôshi (Jap.): wörtlich: verehrungswürdiger, geistlicher Lehrer oder Meister. Die traditionelle Schûlung im Zen findet unter einem Rôshi statt, der auch ein Laie, Mann oder Frau, sein kann und nicht unbedingt ein Mönch oder Priester sein muß. Aufgabe des Rôshi ist es, seine Schüler und Anhänger auf dem Wege zur Selbst-Wesensschau zu leiten und zu inspi- rieren. Er trachtet jedoch nicht danach, ihr Privatleben unmittelbar zu kontrollieren und zu beeinflussen. In alter Zeit ließ sich der Titel eines Rôshi nur schwer erringen. Die Öffentlichkeit legte diesen Titel einem Menschen bei, der den Dharma des Buddha von innen her gemeistert hatte (d. h. durch sein eigenes unmittelbares Erlebnis der Wahrheit), der es seinem Leben einverleibt hatte und andere zu dem gleichen Erlebnis führen konnte. Zumindest waren dazu ein reiner, standhafter Charakter und eine reife Persönlich- keit erforderlich. Um ein voll entwickelter Rôshi zu werden, waren viele Jahre der Schûlung und des Studiums erforderlich, zudem volle Erleuch- tung und die Verleihung des Siegels der Bestätigung durch seinen Lehrer und danach weitere Jahre des Ausreifens mittels der «Dharma-Gefechte» mit anderen Meistern. Heutzutage sind die Maßstäbe weniger streng, aber der Titel eines Rôshi ist noch immer eine Auszeichnung, wenn er

463 rechtmäßig erworben wurde. Unglücklicherweise werden im heutigen Japan viele fast nur aus Hochachtung vor ihrem Alter als Rôshi ange- sprochen. Meister im wahren Sinne des Wortes sind selten. S. 20, 34, 42, 44 (Zen-Meister), 50 (Zen-Meister), 87 f, 104 (Zen-Mei- ster), 107 ff, 134 ff, 269 ff, 285.

Ryôgon-Sûtra (Skt. Sûrangäma-Sutia.; Sûrangama = BUDDHAS große Krone): dieses tiefsinnige Sûtra, das ursprünglich im 1. Jh. n. Chr. auf Sanskrit geschrieben wurde, wird in allen Ländern des Mahâyâna-Buddhismus sehr verehrt. 1935 übersetzten BHIKSHU WAI-TAO und DWIGHT GODDARD etwa ein Drittel des Originaltextes ins Englische. Dieser Text erschien in ihrem Buch A Buddhist Bible. Unter anderem behandelt dieses Sûtra ausführ- lich die aufeinanderfolgenden Stufen' zum Erlangen tiefster Erleuchtung. S. 71, 91

Ryutaku-Ji, «Kloster zum Drachenteich»: ein RINZAI-Kloster, das HAKUIN Zenji gegründet hat. Es liegt außerhalb der Stadt Mishima im Bezirk Shizuoka. Der Drache mit seinen übermenschlichen Kräften symbolisiert im Osten Reinen-Geist. Der heutige Abt ist NAKAGAWA Rôshi. S. 279, 292, 301, 308, 345, 346, 354

Saijôjô-Zen (Jap. sai = best..., jô = oberst..., höchst..., jô = Fahrzeug): das vorzüglichste, hervorragendste Fahrzeug. Diese Zazen-Art übten alle Buddhas. DÔGEN Zenji empfahl sie vor allem. S. 80 f samâdhi (Skt.) (Jap. zammai oder sammai): Dieses Sanskritwort hat ver- schiedene Bedeutungen. Im vorliegenden Buch bezeichnet es nicht allein inneres Gleichgewicht, Ruhe und Sammlung des Geistes in einen Punkt, sondern einen Zustand intensiver, doch müheloser Konzentration, völliger Versunkenheit des Geistes in sich selbst, erhöhter und erweiterter Wach- heit. Vom Standpunkt des erleuchteten Bodhi-Geistes aus sind samâdhi und Bodhi identisch. Von den Stufen aus gesehen, die zum Satori- Erwachen hinführen, sind jedoch samâdhi und Erleuchtung verschieden. S. 47,124,130, 393 samsâra (Skt.): siehe unter «Geburt-und Tod». satori (Jap.): das japanische Wort für das Erlebnis der Erleuchtung, d.h. der Selbst-Wesensschau, für das öffnen des Geistigen-Auges, das Er-

464 wachen zum eigenen Wahren-Wesen und damit zum Wesen alles Daseins. Siehe auch unter «Kenshô» und «daigo-tettei» und Seitenhinweise unter «Erleuchtung».

Sechs Bereiche des Daseins (Jap. rokudô; roku = sechs; dô = Weg): in ansteigender Reihenfolge sind das die Bereiche: 1. der Hölle (Jap.: jigoku), 2. der preta (Skt.) (Jap. gaki = hungrige Geister), 3. der Tiere (Jap. chikushô), 4. der asura (Skt.) (Jap. shura; kämpfende Dämonen, Titanen), 5. der Menschen (Jap. ningeri) und 6. der deva (Skt.) (Jap. tenjô; himmlische Wesen). Alle Geschöpfe in diesen Bereichen unterliegen dem unaufhörlichen Kreislauf von Geburt-und-Tod, also dem Kausal- gesetz, demzufolge ein Dasein in jedem dieser Bereiche durch voran- gegangene Handlungen bewirkt wurde. Im Buddhismus werden diese Bereiche als die Abschnitte oder Speichen des Rad-des-Lebens dargestellt. Durch unsere Handlungen, die der Unwissenheit über das wahre Wesen des Daseins entstammen, und durch karmische Anlagen aus unermeßlicher Vergangenheit wird dieses «Rad» in Bewegung gesetzt und in Bewegung gehalten durch unser Verlangen nach Sinnesfreuden und unser Haften daran, das zu einem unendlichen Zyklus von Geburten, Toden und Wiedergeburten führt, an die wir gebunden bleiben. Die Sechs Bereiche sind die Welt der Unerleuchteten. Die Erleuchteten hingegen kennen die Freude inneren Friedens und schöpferischer Freiheit, da sie, indem sie ihre Unwissenheit und Ver- blendung durch Wissen überwunden haben, befreit sind von der Ver- sklavung durch karmische Anlagen, wie sie sich aus früheren Handlungen aus Verblendung ergeben, und da sie nicht länger mehr Samen säen, die in Form neuer karmischer Bande Frucht tragen würden. Erleuchtung hebt jedoch das Kausalgesetz nicht auf. Wenn der Erleuchtete sich in den Finger schneidet, so blutet er, und wenn er verdorbenes Essen ißt, so hat er Magenschmerzen. Auch er kann den Folgen seiner Handlungen nicht entgehen. Der Unterschied liegt darin, daß er sein Karma akzep- tiert - d. h. es durchschaut - und dadurch nicht länger daran gebunden ist, sondern sich frei darin bewegt. S. 114, 125 f, 228 6, 236, 237, 240 seiza (Jap.): die traditionelle japanische Sitzhaltung, bei der man kniend auf den Fersen sitzt, den Rücken gerade aufgerichtet hält. S. 300 und im 9. Kap.

465 SEKITÔ KISEN (Chin. SHIH-T'OU HSI-CH'IEN) : 700-790, ein führender chine- sischer Zen-Meister der T'ang-Zeit. Sein Name SEKITÔ (wörtlich: «Stein- kopf», «Steingipfel») stammt daher, daß er in einer Hütte lebte, die er sich auf einem großen, flachen Stein erbaut hatte. S. 82, 406

Selbst-Wesensschau (Jap. Kenshô): «Selbst» bezeichnet das ich-lose, ego- lose Ich (siehe S. 44), die Wahre Wirklichkeit, die allem zugrunde liegt. «Eigener Geist» oder «Ur-Antlitz» sind andere Bezeichnungen dafür. Selbst-Wesensschau ist demnach die Schau des Eigenen Wesens, des Selbst. Siehe auch unter «Erleuchtung», «Kenshô», «daigo tettei», «satori». sesshin (Jap.): Das Schriftzeichen für die erste Silbe bedeutet hier «sammeln», das zweite, shin (= kokoro), heißt: Herz, Geist usw. Sesshin sind Tage geistiger Sammlung, der intensiven Übung des Zazen unter einem Rôshi. Die Teilnehmer sind Mönche oder Laien oder auch Mönche und Laien. S. 31, 52, 72, 103, 135 4, 140, 268-284, 337, 339

SESSHÛ TÔYÔ: 1420-1506. SESSHÛ war nicht allein ein ausgezeichneter Zen- Mönch, der etwa zwanzig Jahre im Shôkoku-Ji verbracht hatte, einem großen Zen-Kloster in Kyoto, das auch ein Mittelpunkt von Kunst und Kultur war, sondern er wird auch allgemein als Japans bester Meister im suiboku (sui = Wasser; boku = Tusche; suiboku = Tuschmalerei) aner- kannt. Das berühmte Bild von BODHIDHARMA und seinem Schüler EKA (siehe S. 115 und 273) hat SESSHÛ in seinem siebenundsiebzigsten Lebens- jahr gemalt. S. 191 und unter «BODHIDHARMA»

Shingon-Sekte (Skt. Mantrayâna, «wahre Worte»): Die Lehren und Übungs- weisen dieser buddhistischen Sekte wurden im 9. Jh. von KÛKAI (oder KÔBÔ DAISHI, unter welchem Namen er allgemein bekannt ist) von China nach Japan gebracht. Regeln und Schûlung beim Shingon bewegen sich um drei Mittel zur Meditation: das mandala, das mantra. und die mudrâ. Siehe auch unter «Tantrischer Buddhismus». S. 46 shôyo-roku (Chin. Ts'ttng-jttng-lu): ein Buch mit hundert Kôans, das von WANSHI SHÔKAKU (Chin. HUNG-CHIH CHENG-CHÛEH), einem chinesischen Sôtô-Zen-Meister von Ruf zusammengestellt wurde. Der Titel wurde vom

466 Namen von WANSHIS Einsiedelei «Shôyô-an» (Einsiedelei zur Großen Heiterkeit) abgeleitet. S. 54 und unter «Kôan» shôjô-Zen (Jap.): Bei dieser Art des Zazen wird das Bewußtsein ausgeschal- tet. Das führt zu mushinjô. Siehe dort und S. 79 f.

Shushôgi: eine Klassifizierung von DÔGENS Shôbôgenzô gemäß den Lehren der Sôto-Sekte, die OUCHI SEIRAN, ein japanischer Priester-Gelehrter in der MEIJI-Zeit, vornahm. S. 374

SÔEN NAKAGAWA Rôshi: der derzeitige Abt des Ryutaku-Ji, Mishima. S. 285, 292, 308, 309, 347, 355

Sôji-Ji: einer der beiden Haupttempel der japanischen Sôtô-Sekte, 1321 von KEIZAN gegründet. Er liegt heute nahe bei Yokohama. S. 34

Sôtô-Sekte (Chin. Ts'ao-tung): eine der beiden führenden Zen-Sekten in Japan; die andere ist die Rinzai-Sekte. Es gibt verschiedene Theorien über die Entstehung des Namens «Sôtô». Nach der einen stammt er von den ersten Schriftzeichen in den Namen der beiden chinesischen Meister SÔZAN HONJAKU (Chin. TS'AO-SHAN PEN-CHI) und TÔZAN RYÔKAI (Chin. TUNG-SHAN LIANG-CHIEH). Nach einer anderen Theorie soll sich das So auf den Sechsten Patriarchen beziehen, der als SÔKEI ENÔ bekannt war. Die japanische Sôtô-Sekte verehrt DÔGEN als ihren Gründer. Eihei-Ji, einer ihrer beiden Haupttempel, im Bezirk Fukui, wurde 1243 von DÔGEN unter dem Patronat des Fürsten der Provinz Echizen gegründet. Heute besteht Eihei-Ji aus einem riesigen Gebäudekomplex auf dem Grund und Boden, wo sich einst DÔGENS kleiner Bergtempel fand. Er wurde vor langer Zeit vom Feuer zerstört. In Japan übersteigt die Zahl der Sôtô-Klöster, -Untertempel und auch der Anhänger bei weitem die der Rinzai-Sekte. S. 20, 29, 33, 35 9, 55, 81, 85, 85 36, 191 f, 275

Substanz: Im vorliegenden Buch hat es durchweg die Bedeutung von «Wah- rem-Wesen» oder «Essenz» (Essentia). Es darf auf keinen Fall als irgend

467 etwas Materielles aufgefaßt werden. S. 233, 234, 246

Sûtra. (Skt.) (Jap. kyô): wörtliche Bedeutung dieses Sanskritwortes: Leit- faden. Die Sûtras sind die buddhistischen Schrifttexte, d. h. sie haben die Gespräche und Predigten des BUDDHA ŚÂKYAMUNI zum Inhalt. Es heißt, daß es über zehntausend geben soll; davon ist nur ein kleiner Teil ins Englische und Deutsche übersetzt worden. Der sogenannte Theravāda wurde in Pāli niedergeschrieben, das Mahâyâna in Sanskrit. Die meisten buddhistischen Sekten gründen sich auf ein besonderes Sûtra, aus dem sie ihre Ermächtigung ableiten: die Tendai- und die NICHIREN- Sekten aus dem Hokke-kyô (Lotus-Sûtra), die Kegon-Sekte aus dem Kegon-kyô (Avatamsaka-Sûtra) usw. Einzig die Zen-Sekte beruht auf keinem Sûtra, und das gibt den Meistern die Freiheit, die Schriften heranzuziehen, wie und wann sie es für richtig halten, oder sie vollends zu ignorieren. Ja, sie verhalten sich den Sûtras gegenüber nicht viel anders als ein guter Arzt Medikamenten gegenüber: er verschreibt vielleicht eines oder mehrere gegen eine bestimmte Krankheit, oder er verordnet auch gar keines. Die bekannte Feststellung, daß Zen eine besondere Überlieferung außerhalb der Schrifttexte darstellt, unabhängig von Wor- ten und Buchstaben, heißt nur, daß nach Ansicht der Zen-Sekte die Lebendige-Wahrheit unmittelbar erfaßt werden muß und nicht auf Grund irgendeiner Autorität hingenommen werden darf, sei es selbst die der Sûtras, und noch viel weniger in leblosen intellektuellen Formulierungen oder Begriffen gesucht werden soll. Die japanischen Meister betrachten jedoch das Lesen von Sûtras nicht stirnrunzelnd, wenn der Schüler Kenshô erreicht hat und es ihm als Ansporn zu voller Erleuchtung dienen mag. S. 44 f, 52, 58, 107, 205 ff, 246, 276, 355

Taihei-Ji (Tempel des tiefsten Friedens): ein Tempel, den YASUTANI RÔSHI früher innehatte. S. 355, 356

TAJI Rôshi: siehe unter GENKI TAJI Rôshi. takuhatsu (Jap.): religiöser Bettelgang. Es gibt viele Arten von Takuhatsu, aber Zen-Mönche, die sich in einem Kloster schulen, gehen gewöhnlich in Gruppen von zehn oder fünfzehn. Während sie, einer hinter dem anderen, durch die Straßen der Stadt ziehen, rezitieren sie «Ho», d. h.

468 Dharma. Gläubige und Wohlwollende bieten ihnen, wenn sie ihren Ruf hören, Unterstützung, entweder in Form von Geld, das sie in ihre hölzernen Schalen werfen, oder ungekochten Reis, den die Mönche in einem Stoffsack in Empfang nehmen, den sie zu diesem Zweck bei sich führen. Empfänger und Geber verneigen sich dann voreinander in wechselseitiger Dankbarkeit, in Demut und Hochachtung. Der Gedanke, auf dem das Takuhatsu beruht, ist folgender: Die Mönche, die die Wächter des Dharma sind, bieten es der Öffentlichkeit am Beispiel ihres eigenen Lebens dar, und im Austausch dafür werden sie von denen unterstützt, die an die Wahrheit des Dharma glauben. S. 309 tan (Jap.): ein hölzernes Podest, etwa einen Meter hoch und zwei Meter tief, das sich an den beiden Längswänden des Zendô hinzieht. Am Tage sitzt man dort Zazen, und nachts schläft man darauf. S. 272

TANKA (Chin. T'IEN-JAN VON TANHSIA) : ? - 824, ein Zen-Meister der T'ang- Zeit, Schüler von BASO DÔITSU. Die Episode, da TANKA eine hölzerne Buddhastatue zerschlug und als Brennholz verwandte, wird oft zitiert und häufig mißverstanden. S. 294

Tantrischer Buddhismus: (auch Esoterischer Buddhismus genannt; Jap. mikkyô). Das buddhistische Tantra besteht aus Sûtras sogenannt mysti- scher Art, die darauf abzielen, die innere Beziehung zwischen der äußeren Welt und der Welt des Geistes zu lehren, die Identität von Geist und Universum. Unter den Mitteln, die bei tantrischen Meditationspraktiken angewandt werden, finden sich folgende: 1. Mandala: Dieses Wort bedeutet «Kreis», «Versammlung» und «Bild». Es gibt verschiedene Arten von Mandala, aber die folgenden zwei sind im Esoterischen Buddhismus am üblichsten: Diese Bildkomposition zeigt die Gestalt des BUDDHA VAIROCANA (Jap. BIRUSHANA), den «All-Durchstrahlenden» im Mittelpunkt und um ihn herum in symbolischen Quadraten und Kreisen verschiedene Arten von Dämonen, Gottheiten, Buddhas und Bodhisattvas, die mannigfache Ge- walten, Kräfte und Tätigkeiten darstellen. Die andere Art zeigt eine Darstellung in Form eines Diagramms, bei

469 der heilige Sanskrit-Schriftzeichen (bīja = Samen) an Stelle der Ge- stalten stehen. 2. Mantra: Diese heiligen Laute wie z. B. Om — werden vom Meister auf den Schüler übermittelt, zur Zeit der Einweihung. Es heißt, daß diese Wort-Symbole in Verbindung mit ihren Assoziationen im Bewußtsein des Eingeweihten den Geist des Schülers zu höheren Dimensionen er- wecken, wenn dessen Sinn entsprechend abgestimmt ist. 3. Mudrâ: Gebärden, besonders symbolische Handstellungen, die ausge- führt werden, um mit ihrer Hilfe Geisteszustände hervorzurufen, parallel zu denen von BUDDHAS und BODHISATTVAS. S. 39

Teishô (Jap. tei = vorbringen, vorlegen, darbringen shô = tonaeru = rezi- tieren, hersagen, vortragen): Der Rôshi bringt das Teishô dem Buddha dar. Es ist keine Erläuterung, kein Kommentar im üblichen Sinn, deshalb wurde «Teishô» mit «Darlegung» übersetzt. Dabei ist das Wort «Dar- legung» in seinem ursprünglichen Sinn zu verstehen (darlegen, dar- bringen). Diese Darlegung ist frei von allem Intellektuellen. S. 92, 94, 103, 106, 107, 111, 112, 120, 130

Tempel (Jap. tera, o-tera oder einem Namen nachgestellt: -dera oder -ji, wobei -Ji die andere Lesart des Schriftzeichens für Tera ist): mit dem Suffix -Ji werden sowohl Tempel wie Klöster bezeichnet. Dabei kann es sich um einen Gebäudekomplex handeln, der aus Haupthalle, Lehrhalle, dem Raum des Gründers und den Wohnquartieren innerhalb des Grund- stücks besteht, das man durch ein massives Turmtor betritt. Es kann aber auch ein einzelnes kleines Bauwerk sein. Hat der Tempel auch ein sôdô, d. h. eine besondere Übungshalle zur Schûlung der Mönche unter einem Rôshi, so dürfte das deutsche Wort «Kloster» angebracht sein. Unter allen buddhistischen Sekten hält Zen allein ein authentisches klösterliches System aufrecht, nach den Grundprinzipien organisiert, wie sie HYAKUJÔ im 8. Jh. in China festgelegt hat. Einfachheit und Genüg- samkeit zeichnen dieses Klosterleben aus. Ziel der Schûlung ist nicht allein Satori und damit Selbst-Erkenntnis, sondern es gilt auch, Tapfer- keit, Bescheidenheit und Dankbarkeit - mit anderen Worten: einen star- ken Charakter - zu entwickeln. Zur klösterlichen Schûlung gehören vor allem tägliches Zazen, hier und da Sesshin, körperliche Arbeit und Takuhatsu. Bei der Zen-Sekte müssen Novizen durchschnittlich drei Jahre in einem Zen-Kloster verbringen, ehe sie dazu qualifiziert sind, als

470 Tempelpriester zu dienen. Die Kloster-Sesshin werden viel von Laien besucht, deren Zahl oft die der Mönche übersteigt. Unter besonderen Umständen dürfen sie als Laien-Mönche im Kloster bleiben, wobei die Länge der Zeit variiert.

Tendai-Sekte (Chin. T'ien-t'ai): Die japanische Tendai-Sekte beginnt mit SAICHÔ (767-622), posthum als DENGYÔ DAISHI bekannt, der diese Lehren 805 von China her einführte. Die Tendai-Lehren und -Übungen gründen sich vor allem auf das Lotus-Sûtra und auf Acht Lehren und Fünf Zeit- abschnitte, jene Einteilung von BUDDHAS Lehren, wie sie von SHISHA DAISHI, dem chinesischen Gründer, vorgenommen wurde. Auf konfessio- neller Ebene ist die Tendai-Sekte heute in Japan nicht sehr einflußreich. S. 85 und unter «Buddhismus», «CHISHA DAISHI» und «Sûtra».

TOKUSAN SENKAN (Chin. TE-SHAN HSÜAN-CHIEN) : 782-865, einer der großen Zen-Meister der T'ang-Zeit. Er ist die zentrale Gestalt vieler Kôans. In einem dieser Kôans, dem 28. Beispiel im Mumon-kan, wird berichtet, wie er Erleuchtung fand, als sein Meister eine Kerze ausblies. S. 262

TÔZAN RYÔKAI (Chin. TSUNG-SHAN LIANG-CHIEH) : 807-869, der Erste Patriarch der Sôtô-Sekte in China. Er formulierte die Fünf Grade (der Erleuchtung). Siehe dort und S. 384 f

UMMON BUNEN (Chin. YÜN-MEN WEN-YEN): 864-949, ein bekannter Mei- ster der späten T'ang-Zeit, der gleich RINZAI kräftige Worte und heftige Maßnahmen anwandte, um seine Schüler zum Selbst-Erwachen aufzu- rütteln. Die Umstände von UMMONS eigener Erleuchtung sind allen Zen-Schülern bekannt: UMMON wollte zu BOKUSHÛ, der später sein Meister wurde, zum Dokusan gehen und klopfte an der kleinen Seiten- pforte des großen Tors an, das in BOKUSHÛS Tempel führte. BOKUSHÛ rief: «Wer da?» und UMMON antwortete: «BUNEN». BOKUSHÛ, der allen mit Ausnahme der feurigsten Wahrheitssucher Dokusan zu verweigern pflegte, erkannte an UMMONS Klopfen und dem Ton seiner Stimme, daß dieser ernsthaft um Wahrheit rang, und ließ ihn ein. UMMON war kaum eingetreten, als BOKUSHÛ, der den Zustand seines Geistes gewahrte, ihn an den Schûltern packte und ihn anherrschte: «Schnell, sag es, sag es doch!» Aber UMMON, der noch nicht begriff, konnte nicht antworten.

471 Auf daß er UMMONS Geist zu dem Großen-Begreifen aufrüttle, stieß BOKUSHÛ ihn plötzlich zur halboffenen Tür hinaus und schlug sie so zu, daß er UMMONS Bein einklemmte; dabei rief er: «Du Nichtsnutz du!» Mit dem Schrei «Autsch!» fand UMMON, dessen Sinn in jenem Augenblick bar jeden Gedankens war, plötzlich Erleuchtung.

Ur-Antlitz (oder Ur-Angesicht, Jap. honrai-no memmoku: honrai = ur- sprünglich; men = Gesicht, Antlitz, Angesicht; moku = Auge) in der Übersetzung auch wiedergegeben mit «Gesicht vor Geburt der Eltern». Das Ur-Antlitz erblicken heißt des Selbst innewerden, mit anderen Worten: zur Selbst-Wesensschau kommen, also Erleuchtung finden. Honrai-no memmoku ist ein bekanntes Kôan, übersetzt: «Was ist mein Ur-Angesicht?» S. 189, 199, 237, 250, 254, 259, 390 vajra (Skt.): wörtlich «Diamant, demanten»: das Symbol höchster geistiger Kraft; als solche wird diese Kraft mit dem Edelstein von höchstem Wert, dem Diamanten, verglichen, in dessen Reinheit und Glanz andere Farb- töne reflektiert werden, während er selbst farblos bleibt, der Diamant, der alles zerschneiden, doch selbst von nichts zerschnitten werden kann. Siehe auch unter «Diamant-Schwert». S. 249, 256

Verblendung (auch Täuschung und Wahn): Verblendet sein heißt vollends irregehen. Verblendung bezeichnet einen Glauben an etwas, das der Wirklichkeit widerspricht. Mit Täuschung andererseits ist gemeint, daß das Gesehene zwar objektive Wirklichkeit hat, jedoch falsch gesehen oder gedeutet wird. Im Buddhismus ist Verblendung soviel wie Nicht- Wissen, ein Nicht-Gewahrwerden des Wahren-Wesens der Dinge oder der wahren Bedeutung des Daseins. Wir werden von unseren Sinnen (einschließlich des sechsten Sinnes, des Intellekts und des diskriminieren- den Denkens) verblendet, irregeführt insofern, als sie uns veranlassen, die Welt der Erscheinungen als die Ganze-Wirklichkeit anzusehen, während sie tatsächlich doch nur ein begrenzter und flüchtiger Aspekt der Wirk- lichkeit ist; das veranlaßt uns zu handeln, als sei die Welt außerhalb von uns, während sie doch in Wahrheit eine Projektion unserer selbst ist. Das heißt jedoch nicht, daß die relative Welt überhaupt keine Wirk- lichkeit hat. Wenn die Meister sagen, daß alle Phänomene trügerisch sind, so meinen sie, daß im Vergleich mit dem Geist die Welt der

472 Sinneswahrnehmungen nur ein begrenzter Teilaspekt der Lebendigen- Wahrheit und somit gleich einem Traum ist. Siehe auch unter «Sechs Bereiche des Daseins». S. 40 15, 59, 119, 123, 174, 190, 213, 235, 239, 240, 244, 249, 260, 378, 386,390,412

Vier Arten der Geburt (Jap. shishô): 1. Geburt durch den Schoß, 2. Geburt aus dem Ei durch Brüten, 3. Geburt aus Feuchtigkeit, 4. Geburt durch Metamorphose. S. 125 f

Vier Gelübde (Jap. shiku seigan): 1. Der Geschöpfe sind zahllose — ich gelobe, sie alle zu retten. 2. Der Leidenschaften sind unzählige - ich gelobe, sie alle auszurotten. 3. Der Dharma-Tore sind mannigfache - ich gelobe, durch alle zu gehen. 4. Der Buddha-Weg ist unübertrefflich - ich gelobe, ihn zu verwirklichen. Diese Gelübde sind so alt wie der Mahâyâna-Buddhismus und gehören zu den Gelübden eines Bodhisattvas. In einem Zen-Tempel werden sie bei Beendigung der Zazen-Übung dreimal hintereinander rezitiert. Der Sechste Patriarch gibt in dem Sûtra, das seinen Namen trägt, eine tief- sinnige Deutung dafür. 5. 46,112, 282 f, 337, 384

Wesen (Jap. shô; im Englischen mit «nature» wiedergegeben): Der Sinn entspricht ziemlich genau dem, was Meister Eckehart mit «Wesen» bezeichnet. Der Unterschied von Natur und Wesen wird besonders klar an den Adjektiven: natürlich-wesentlich, naturhaft-wesenhaft usw. So wurde hier durchweg «Buddha-Wesen» und «Wesensschau» gesetzt.

Wille (Jap. kokorozashi): BASSUI wendet dieses Wort nicht im alltäglichen Sinn an, sondern etwa so wie Meister ECKEHART. Diesem Willen eignet das Verlangen nach der Wahrheit, der Wirklichkeit; so wurde es im Englischen mit yearning übersetzt. S. 230 f, 239, 243, 258

Wolken und Wasser (Jap. unsui, wörtlich = «Wolken-Wasser»): Novizen in Zen-Klöstern werden unsui genannt, und Ornamente in Zen-Tempeln zeigen oft stilisierte Wolken- und Wassermotive. Wolken bewegen sich frei, bilden sich und bilden sich um, gemäß den äußeren Umständen und

473 ihrer eigenen Natur, ungehemmt von Hindernissen. «Von allen Elementen sollte der Weise das Wasser als seinen Lehrmeister wählen. Wasser ist der All-Besieger. Wasser löscht Feuer; selbst unter Druck entweicht es als Dampf und bildet sich zurück. Wasser wäscht die Erde weg, oder, durch Felsen aufgehalten, sucht es sich nebendurch einen Weg. Wasser zermürbt Eisen, bis sich solches in Staub auflöst; es sättigt die Luft, so daß der Wind erstirbt. Wasser weicht allen Widerständen in einer Art trügerischer Bescheidenheit aus, aber keine Macht kann es hindern, seiner vorbestimmten Bahn zum Meer zu folgen. Wasser siegt durch Demut; es greift niemals an und gewinnt dennoch die letzte Schlacht. Der Weise, der sich selbst wie Wasser macht, zeichnet sich durch seine Demut aus; er wirkt durch Passivität, handelt durch Nicht-Handeln und besiegt dadurch die Welt.» (TAO CHENG von NAH YEO verfaßt, einem taoistischen Gelehrten des 11. Jh.; zitiert von BLOFELD in seinem Rad des Lebens, Rascher Verlag, Zürich, 1961, S. 82 f.). Diese Tugenden von Wolken und Wasser sind die Tugenden eines vollkommenen Zen-Men- schen, dessen Leben von Freiheit, Spontaneität, Bescheidenheit und innerer Kraft gekennzeichnet ist, wobei noch seine Spannkraft hinzukommt, mit der er sich wechselnden Umständen ohne Mühe und Angst anpaßt. S. 53 27, 56 28, 336 und unter «Mönch» wu wei (Chin.) (Jap. mu-i): Dieser umstrittene taoistische Begriff heißt wörtlich «nicht-handeln» oder «nicht-ringen» oder «nicht-machen». Das bedeutet jedoch nicht Untätigkeit oder Faulheit. Wir sollen aufhören, uns um unwirkliche Dinge zu bemühen, um Dinge, die uns blind machen für unser wahres Selbst, und stattdessen danach streben, unseren Herz- Geist zu läutern, auf daß wir zur Verwirklichûng unseres allumfassenden Buddha-Wesens gelangen. yakuseki (Jap.): «Arzneistein». So wird die letzte Mahlzeit des Tages in einem Kloster bezeichnet. Man nimmt sie in den einzelnen Klöstern zu etwas verschiedenen Zeiten ein: um 16.00, 16.30 oder 17.00 Uhr. S. 28l 15

YAMA RĀJA (Jap. EMMA SAMA): in der buddhistischen und hinduistischen Mythologie der Herr und Richter der Toten, vor dem alle, die sterben, erscheinen müssen, um gerichtet zu werden. YAMA RĀJA zieht die Bilanz, indem er seinen Spiegel-des-Karma, in dem die guten und bösen Werke des Verstorbenen widergespiegelt werden, zu Rate zieht. Er schickt die

474 einen in glückliche Bereiche und unterwirft andere, deren Taten vor- wiegend böse waren, schrecklichen Martern. Eine dieser Foltern besteht darin, daß man eine glühend-rote Eisenkugel schlucken muß. S. 252 yang und yin (Chin.) (Jap. yô-in): meistens in-yô; in der chinesischen Kosmologie das Prinzip der Polarität, also von himmlisch (yô) und irdisch (in), männlich (yô) und weiblich (in) usw. S. 70 yaza (Jap.) (ya = yoru = die Nacht; za = Zazen): Zazen nach 21 Uhr, der sonst in Zen-Klöstern üblichen Schlafenszeit. S. 282 yoga: Im weitesten Sinne genommen, umfaßt dieses Sanskrit-Wort den ganzen Komplex geistiger Schulungsmethoden, einschließlich der Lehren, der Körperhaltungen und Atemübungen, die darauf abzielen, Einheit (die wörtliche Bedeutung von Yoga) mit dem universellen Bewußtsein zu erzielen. In den Augen der breiten Öffentlichkeit ist Yoga synonym mit Hatha-Yoga, einem Zweig des Yoga, bei dem Nachdruck auf Körper- haltungen und Atemübungen gelegt wird, um dieses Ziel zu erreichen. Gemeinhin verbindet sich mit Yoga auch die Vorstellung von körper- licher und geistiger Gesundheit oder von übernatürlichen Kräften. Im Mahâyâna-Buddhismus wird dieses Wort hauptsächlich auf die Schu- lungsmethoden und Lehren der tantrischen Sekten angewandt. S. 77,185

YOKA GENKAKU (Chin. YUNG-CHIÄ HSÜAN-CHÜEH): 665-713, ein großer chinesischer Zen-Meister der T'ang-Zeit, Schüler des Sechsten Patriarchen. Sein shôdôka (Sang der Erleuchtung) ist eine bekannte Zen-Schrift. S. 234 zazen (Jap. za = sitzen): Zazen ist also das Sitzen im Zen, und zwar in geistiger Sammlung, in Versenkung. Siehe unter: beseitigt Angst S. 59 - keine Askese S. 270 - Argumente gegen S. 49 f - und Atmung S. 37,63 - und Aufmerksamkeit S. 36 - und Augen S. 62,270 - in Bewegung S. 37 - kein Anhalten des Bewußtseins S. 64 - und BUDDHAS Erleuchtung S. 58 f - DÔGENS Ansicht über- S. 34 f - Einzigartigkeit von-

475 S. 39 - nach Erleuchtung S. 266 ff, 384, 394 - und Essen S. 70, 270 - und Gebote S. 41 - für Gesundheit S. 76, 99 und Jôriki S. 81 f, 279 - und Kôan S. 38, 184 - und Körper-Geist Gleichgewicht S. 40 - keine Medi- tation S. 39 - mehr als Mittel zur Erleuchtung S. 49, 80 - moralische Verantwortung S. 42 - wandelt Persönlichkeit S. 42 - Schlacht zwischen Verblendung und bodhi S. 40 - während Schwangerschaft S. 193 f - auf Stuhl S. 62, 422, 426 - und Tageszeit S. 68 f - Theorie nicht wesentlich S. 57 - «Torweg zu vollkommener Befreiung» S. 35 - unentbehrlich S. 394 - Vergegenwärtigung des Wahren Wesens S. 49, 80, 185 - und Wirbelsäule S. 63 - und Zeitbegriffe S. 95. zazen-kai: ein eintägiges Treffen von Zen-Anhängern, um Zazen zu üben, die Darlegung eines Rôshi zu hören und zum Dokusan zu gehen. S. 54, 339, 341

Zazen Yôjinki: Vorkehrungen, die beim Zazen zu beachten sind. Diese sehr bekannte Schrift über das Üben von Zazen wurde im 14. Jh. von KEIZAN Zenji, einem der Patriarchen der japanischen Sôtô-Sekte verfaßt. S. 70, 73

Zehn böse Werke: 1. töten, 2. stehlen, 3. Ehebruch begehen, 4. lügen, 5. un- moralische Worte gebrauchen, 6. klatschen, 7. verleumden, 8. begehren, 9. dem Ärger freien Lauf lassen und 10. falsche Ansichten hegen. Siehe auch «Fünf Todsünden». S. 229

Zehn-Weltrichtungen (Jap. jippô): Sie umfassen den ganzen Kosmos. Ab- gesehen von den Welten der Himmelsrichtungen Nord, Süd, Ost, West und den vier Richtungen dazwischen (NO, NW, SO, SW) schließen sie auch den Zenit und den Nadir ein, so daß sich zehn Weltrichtungen ergeben. S. 232, 240, 244

Zen: eine Abkürzung des japanischen Wortes zenna, das die Übertragung des Sanskritwortes dhyâna, bzw. des chinesischen ch'an oder ch'anna bedeutet und den Vorgang der Konzentration und Versunkenheit be- zeichnet, durch welchen der Sinn beruhigt und zu geschlossener Sammlung gebracht wird. Als Sekte des Mahâyâna-Buddhismus ist Zen eine Religion,

476 deren Lehren und Praktiken darauf gerichtet sind, zur Selbst-Wesens- schau hinzulenken, also zu Satori zu führen, wie es ŚÂKYAMUNI BUDDHA selber nach äußerst anstrengender Selbst-Schûlung unter dem Bô-Baum erlebte. Die Zen-Sekte umfaßt drei Sekten: Sôtô, RINZAI und ÔBAKU.

Zendô oder sôdô (Jap.): eine große Halle oder ein Raum - in Klöstern ein besonderes Bauwerk -, in dem Zazen geübt wird. Der Fußboden besteht gewöhnlich aus Beton oder Schieferplatten, so daß es im Sommer kühl, im Winter kalt ist. S. 269 zenji (Jap.): die zweite Silbe dieses Wortes ist die Laut-Übertragung von «shi», was Lehrer oder Meister bedeutet (Chin. tze). Das ganze Wort hat die Bedeutung: großer oder berühmter Zen-Meister. Dieser Titel wird im allgemeinen posthum erteilt, aber einige Meister erhielten diese Auszeich- nung bereits zu Lebzeiten.

477 Nachwort zur deutschen Übersetzung

Bei der Übersetzung des englischen Textes ins Deutsche wurden die japanischen Originale soweit als möglich und erforderlich herange- zogen. Solch ein Vergleich erübrigte sich beim 1. und 2. Kapitel, da ich als Schülerin von YASUTANI Rôshi mit dessen Ausdrucksweise einigermaßen vertraut bin und den Inhalt dieser Kapitel des öfteren von ihm oder seinen langjährigen Schülern auf japanisch gehört habe. Beim 3. Kapitel war ein Vergleich gar nicht möglich, da diese Dokusan-Gespräche nirgends sonst vorliegen. Alle Stellen, die nicht völlig eindeutig waren, konnten zudem im Gespräch mit dem Her- ausgeber geklärt werden, ehe er in die USA übersiedelte. Ich bin Herrn PHILIP KAPLEAU herzlich dankbar für seine großzügige Unter- stützung. Die Schriften von BASSUI Zenji, 4. Kapitel, und die Texte der «Zehn Ochsenbilder», 8. Kapitel, wurden neu aus dem Japanischen übersetzt, da es auch für einen mit der Materie vertrauten Übersetzer fast unmöglich ist, den treffendsten Ausdruck zu finden, ohne von den Originalen auszugehen. Altjapanische Zen-Texte sind jedoch selbst für literarisch gebildete Japaner schwer verständlich, und so gingen die Anforderungen weit über meine Sprachkenntnisse hinaus. Ohne die unermüdlichen Belehrungen und Kontrollen durch YAMADA KYÔZÖ Rôshi wäre eine völlig sinnentsprechende Übertragung gar nicht möglich gewesen. YAMADA Rôshi war es auch, der einige beson- ders schwierige Stellen im 7. Kapitel, dem Ausschnitt aus DÔGEN Zenjis Schriften, für mich klärte. In diesen Gesprächen erhielt ich jedoch weit mehr als nur eine Klärung des Textes. Ich bin froh, daß ich an dieser Stelle YAMADA Rôshi einmal in aller Form meine tiefe Verehrung und Dankbarkeit aussprechen kann. Aber bei der Übersetzung wirkten noch andere wesentlich mit: So half mir Frau KYÔKO SATÔ voll größter Hilfsbereitschaft. Sie arbei- tete als erste die BASSUI-Texte und die der «Zehn Ochsenbilder» mit mir durch, klärte mich über Druck- und Lesefehler, manch alte Schriftzeichen oder Redewendungen auf. Ihre anschaulichen Wort-

478 Erklärungen auf japanisch haben mir die Arbeit sehr erleichtert, und ich bin Frau SATÔ von Herzen dankbar dafür. Professor MASAAKI SATÔ half in freundlichster Weise beim Lesen der Kanbun-Texte1 der «Zehn Ochsenbilder». Hier und da erhielt ich auch wertvolle Hinweise von Professor JUNZÔ KARAKI. Beiden Her- ren gehört mein aufrichtiger Dank. Hier möchte ich auch Dr. MASAMICHI YAMADA, dem Sohn von YAMADA Rôshi, dafür danken, daß er sich noch in den Wochen vor seiner Abreise zur Harvard-Universität, USA, die Zeit nahm, schwierige Stellen im BASSUI-Text mit mir durchzuarbeiten. Er ist der einzige meiner vielen Helfer, der fließend Englisch spricht. Beim 5. und 6. Kapitel wurden die japanischen Texte nur stellen- weise zu Rate gezogen. Die japanischen Erlebnisberichte im 5. Kapi- tel und ebenso die Briefe von YAEKO IWASAKI sind in einfachem heu- tigem Japanisch abgefaßt, so daß sie der Übersetzung keine wesentli- chen Schwierigkeiten bieten und die englische Fassung großenteils glatt ins Deutsche übertragen werden konnte. Die Anmerkungen von HARADA Rôshi im 6. Kapitel wurden jedoch alle mit dem Original verglichen. Bei der Angabe der chinesischen Namen im Wörterverzeichnis belehrte mich die Sinologin Dr. BARBARA YOSHIDA-KRAFFT über die gebräuchlichen Umschriften. Sie war es auch, die einige Abschnitte des Manuskripts auf ihre Allgemeinverständlichkeit hin durchlas - eine Hilfe, die ich dankbar anerkenne. Mein Dank gehört auch all jenen, die durch Beschaffen von Büchern, die es im Buchhandel nicht gibt, die Arbeit gefördert haben. Meinem hochverehrten Lehrer, HAKUUN YASUTANI Rôshi, gebührt ein Dank besonderer Art. Er hat mit der Übersetzung unmittelbar zwar nichts zu tun, mittelbar jedoch umso mehr. Hätte er mich nicht vor Jahren als Schülerin angenommen und geduldig geschult, so wäre mein Verständnis des Textes um vieles mangelhafter gewesen. Heute ist YASUTANI Rôshi 84 Jahre alt; dabei belehrt und führt er Men- schen aus Ost und West mit immer gleicher Intensität und Geduld. 1. Kanbun ist Chinesisch, das von den Japanern nach ihrer eigenen Art abgeändert wurde. Es unterscheidet sich beträchtlich von dem heutigen Japanisch.

479 Ein Wort kann Europäer zu Mißverständnissen führen: Konzen- tration. Es handelt sich dabei nicht um jene Konzentration, mit der wir eine wissenschaftliche Arbeit betreiben, sondern um Versen- kung etwa jener Art, mit der sich ein Künstler in sein Werk vertieft. Doch gibt es hier kein Werk; es gibt nur den Eigenen Geist. Es ist zu hoffen, daß das Buch auch in seiner deutschen Fassung dem einen oder anderen ein wenig hilft, sich in solcher Versenkung zu üben und schließlich zu seinem Wahren Wesen zu erwachen.

Kamakura Mai 1968 Die Übersetzerin