Digitale Realitäten

* Gespräch – Vizerektor Christian Leumann zum geplanten Laborneubau 32

* Begegnung – Noemi Zbären, die Studentin, die über Hürden läuft 36 Dezember 2015 166 * Forschung – Warum Migranten auch ohne Chancen hierbleiben 28 UniPressUniPress**

Forschung und Wissenschaft an der Universität Erinnern und Vergessen Forschen – auch in der Nacht Schrift – im Land der Buchstaben

* Gespräch – Andrea Glauser über weibliche Uni-Karrieren 32 * Gespräch der Generationen – Norbert Thom und Elena Hubschmid 32 * Gespräch – Stig Förster und Daniel M. Segesser zum Grossen Krieg 32 * Begegnung – Aymo Brunetti, der beliebteste Hochschullehrer 36 * Begegnung – Manuela coacht Helai 36 * Begegnung – Albert Gobat, der unzimperliche Friedenskämpfer 36 April 2014 160 August 2014 161 * Forschung – Gemeinsam für die Medizin von morgen 30 Dezember 2014 162 * Forschung – Wenn die Matur leicht ist, wird es später schwer 30 * Forschung – Frischer Atem leicht gemacht 28 UniPressUniPress** UniPressUniPress** UniPressUniPress**

Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern

0_up_162.indd 1 10.03.15 08:26

Hell im Kopf Forschen in der Welt Wir haben die Wahl

* Gespräch – Stefan Brönnimann und Claus Beisbart zu «Citizen Science» 30 * Gespräch – Hubert Steinke über Medikalisierung 32 * Gespräch – Oliver Mühlemann über Moleküle und Medikamente 32

* Begegnung – Riccardo Legena war schon als Kind an der Uni 36 * Begegnung – Sabine Böglis Weg zur Mathematik 36 * Begegnung – Dr. Bernadette Bürgi, unsere Frau in Hollywood 36 April 2015 163 Juni 2015 164 Oktober 2015 165 * Forschung – Kunst und Wissenschaft vereint 26 * Forschung – Feldforschung als Kunst 28 * Forschung – Zimmerwald, das Rütli der Sowjets 28 UniPressUniPress** UniPressUniPress** UniPressUniPress**

Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern

Eine UniPress-Ausgabe verpasst? Gerne können Sie Einzelexemplare nachbestellen: [email protected] Tel.: 031 631 80 44

Wollen Sie UniPress (4 Ausgaben jährlich) kostenlos abonnieren? Abo-Bestellungen über: www.unipress.unibe.ch oder an die Vertriebsfirma Stämpfli Publikationen AG Tel.: 031 300 63 42 [email protected]

Universität Bern Corporate Communication Hochschulstrasse 6 CH-3012 Bern Tel. +41 31 631 80 44 [email protected] www.kommunikation.unibe.ch DIGITALE REALITÄTEN

Was Sie hier lesen, ist analog entstanden. Auch Ihr Vorgang des Lesens ist analog. Und langsam. Der Schwerpunkt dieses Hefts umfasst sieben Beiträge. Bei einer geschätzten Lesedauer von 15 Minuten pro Text ergibt dies eine Totalzeit von gut anderthalb Stunden. Wie viel praktischer wäre es doch, die je- weilige Quintessenz pro Text vorgeführt zu bekommen, ohne die Texte in all ihren Verästelungen lesen zu müssen. Statt anderthalb Stunden fünfzehn Minuten. Das wäre effizient. Der englische Philosoph Wilhelm vom Ockham wäre begeistert. Von ihm stammt – vereinfacht – die Aussage: Suche das Wesentliche und schneide alles andere mit dem Rasiermesser weg. Ähnlich lautete die Aufgabe für den Illustrator dieses Schwerpunkts: Suche das Wesentliche, lass alles andere weg – vereinfache! Statt von Quintessenz sprechen wir heute gerne von Mustern. Als Voraussetzung für die Mustererkennung gilt allgemein Erfahrung. Es ist die lange Auseinander- setzung mit einer Sache, einem Sachverhalt, die uns wiederkehrende Muster erkennen lässt: Übung macht den Meister respektive die Meisterin. Bis zu dieser Meisterschaft seien 10 000 Stunden nötig, so die gängige Einschätzung. Dann hat man so viele Muster erarbeitet, dass neue Sachverhalte mit diesem Hintergrund intuitiv, also zeitsparend und elegant auf das Wesentliche reduziert werden können. Und das ist nötig, will man in einer komplexen Welt handlungsfähig bleiben. Computer sind da schneller. Algorithmen durch- forsten unvorstellbare Datenmengen in Sekundenbruch- teilen. Sie machen Muster sichtbar, für deren Ent- deckung wir Jahre bräuchten. Die Ergebnisse machen uns schneller handlungsfähig. Aber statt dass wir uns die gewonnene Zeit zu Musse und Erholung gönnen, investieren wir die gewonnene Zeit sofort in neue Aktivitäten. Und damit nur allzu häufig gegen uns selbst – als Beschleunigung. Das Analoge und das Digitale passen scheinbar nicht zusammen. Oder doch? Vielleicht nicht im Nebeneinander, sondern in einer künftigen Verschmelzung?

Wir wünschen Ihnen ein analoges, langsames Lesevergnügen.

Marcus Moser und Timm Eugster

UniPress 166/2015 1 Der universitäre Abschluss als Ziel Rund 80 verschiedene Weiterbildungsabschlüsse an der Universität Bern www.weiterbildung.unibe.ch

Master of Advanced Studies MAS Diploma of Advanced Studies DAS Certificate of Advanced Studies CAS

Gipfel Freude* Wir suchen Assistenzärztinnen und Assistenzärzte. www.privatklinik-meiringen.ch * Meine Work-Life-Balance stimmt. Ich lebe und arbeite im Haslital… Informationen: Zentrum für universitäre Weiterbildung ZUW Dort, wo andere Ferien machen! Schanzeneckstrasse 1, 3001 Bern, www.zuw.unibe.ch, zuw @ zuw.unibe.ch

Wir sind Ihr Link zur Universität Corporate Communication

Interessieren Sie sich für Aktivitäten Wir geben Auskunft und vermitteln Telefon +41 31 631 80 44 der Universität Bern? Suchen Sie eine Kontaktpersonen. Wir sind die [email protected] Expertin für ein Interview oder eine Anlaufstelle für Medienschaffende, bestimmte Studie? Organisationen und Private. Weitere Informationen finden Sie auf unserer Website unter Corporate Communication Wollen Sie mehr wissen? www.kommunikation.unibe.ch ist die Kompetenz- und Dienstleistungsstelle für alle Sie finden uns neu an der Kommunikationsbelange der Hochschulstrasse 6, 3012 Bern, Universität Bern. 1. Stock West. Inhalt

DIGITALE REALITÄTEN

5 Abgelenkte Eltern, frustrierte Kinder Von Hanna Krasnova, Sara d´Onofrio und Vincenzo Sciaccia

7 Psychotherapie 2.0 Von Thomas Berger

11 Der grosse Wandel Von Thomas Myrach

FORSCHUNG UND RUBRIKEN 15 Digitaler Handel stürzt Regulatoren ins Dilemma Von Mira Burri

Forschung 17 Der digitale Geist Von Tara L. Andrews 28 Migrationsforschung: Die Hoffnung stirbt zuletzt 21 So wird Fiction zu Science Von Susanne Wenger Von Edy Portmann

30 Geschichte: Stapfers Dorfschule von 1799 25 Nachhaltig in die digitale Zukunft Von Eno Nipp Von Matthias Stürmer

Bildstrecke: Digitale Realitäten, gezeichnet Rubriken von Daniel Osterwalder

1 Editorial

32 Gespräch Christian Leumann – «Der Laborneubau ist für die Universität Bern unabdingbar» Von Marcus Moser

36 Begegnung Noemi Zbären – «Ich mache keine halben Sachen» Von Brigit Bucher

38 Meinung Ein Weckruf für Studierende Von Peter V. Kunz

39 Bücher

40 Impressum

UniPress 166/2015 3 4 UniPress 166/2015 Abgelenkte Eltern, frustrierte Kinder

Smartphones begleiten uns überallhin – auch auf den Kinderspielplatz. Neue Studien analysieren den Stellenwert von Smartphones in verschiedenen sozialen Situationen und erforschen die Aus- wirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung.

Von Hanna Krasnova, Sara D’Onofrio und Vincenzo Sciacca

Smartphones. Wir benutzen sie überall und sendes Verständnis für das Phänomen keit unter jungen Erwachsenen zu einem jeden Tag: Wenn wir auf den Zug warten, «Smartphone». Dazu müssen wir uns offensichtlichen Konflikt. im Bus, im Café. Sie sind mit dabei, wenn fragen: Welche Rolle spielt das Smartphone Frühere – wenn auch nur begrenzte – wir Freunde treffen, die wir lange nicht in unserem Leben und welche Facetten Forschungsarbeiten senden alarmierende mehr gesehen haben, wenn ein Arbeitskol- werden davon hauptsächlich beeinflusst? Signale: Der Smartphone-Gebrauch der lege eine wichtige Präsentation hält, wenn Eltern wird mit einem höheren Verletzungs- wir unsere Eltern besuchen oder an der Das Smartphone – der ständige risiko der Kinder, verringerter Aufmerksam- Hochzeit unseres besten Freundes zu Gast Begleiter keit und reduzierter Interaktion in Verbin- sind. Wir benutzen sie sogar beim Auto- In unseren Forschungen analysieren wir die dung gebracht. Selbst wenn man Eltern fahren, beim Überqueren von vielbefah- Nutzung von Smartphones und die damit renen Strassen oder beim Fahrradfahren. verbundenen Auswirkungen in verschie- Für viele ist dieses Gadget der erste Gegen- denen sozialen Umfeldern, Situationen und Mit Smartphones stand, den sie nach dem Aufwachen in die demographischen Schichten. Wir interes- auf dem Spielplatz Hände nehmen und der letzte, den sie sieren uns für Menschen, die sich mit anschauen, bevor sie sich schlafen legen. Freunden in einem Café treffen; Paare, die Es ist Nachmittag und wir sind auf dem Smartphones sind unterhaltsam, nützlich, ein Rendezvous in einem Restaurant haben; Spielplatz. Eine Mutter kommt dazu, stellt informativ – und haben ein hohes Sucht- Studenten in der Vorlesung an der Uni; den Kinderwagen ab und holt ihr Kind potential. Eltern mit ihren Kindern auf dem Spielplatz. heraus. Sie geht zu der anderen, mit ihr Es ist unbestritten, dass Smartphones Alle diese Gruppen haben gemein, dass das befreundeten Frau und begrüsst sie. Dann unser Leben verändert haben. Neue Tech- Smartphone ihr ständiger Begleiter ist. beginnt die Mutter, der befreundeten Frau nologien haben unter anderem den Zugang Man sieht diese Menschen überall: Beim etwas auf dem Smartphone (womöglich zu Informationen und Neuigkeiten, unsere Betreten eines Raums halten sie ihr Smart- Fotos) zu zeigen. Sie schauen ins Gerät Orientierung im Raum (Navigation) und vor phone bereits in der Hand; wenn sie sich und lachen. Sie bemerken nicht, dass das allem unser Kommunikationsverhalten setzen, liegt es auf dem Tisch. Selbst wenn Kind von der Mutter wegläuft. Das Kind massgeblich beeinflusst. sie sich mit anderen Dingen beschäftigen, entfernt sich mehrere Meter in Richtung Die Auswirkungen dieser Veränderungen berühren manche – wahrscheinlich unbe- grosses Klettergerüst. Die Mütter lachen liegen noch im Dunkeln. Positive Effekte, wusst – ihr Smartphone, um sich zu ver- weiter. Nach einigen Minuten hören sie die von Nutzern oft aufgeführt werden, sichern, dass es noch neben ihnen liegt. auf, das Smartphone zu benutzen. Die sind zum Beispiel das Gefühl von verstärk- befreundete Frau fragt: «Wo ist denn ter Verbundenheit und verbesserten sozial- Smartphones deine Tochter?» Beide springen auf und en Beziehungen. Im Gegensatz dazu wer- in der Eltern-Kind-Beziehung schreien sehr laut über den Spielplatz: den im Zusammenhang mit dem Nutzungs- In unserem jüngsten Forschungsprojekt «Sophie*, wo bist du?» Sie verteilen sich verhalten von Smartphones negative haben wir uns auf die Rolle von Smart- auf dem Spielplatz und suchen sie. Immer Erscheinungen erwähnt wie Sucht, Burn- phones in der Erziehung fokussiert. Elter- wieder schreien sie sehr laut. Erst nach out, verminderter persönlicher Kontakt, liche Aufmerksamkeit nimmt eine Schlüssel- ungefähr zwei Minuten findet die Mutter mentale Absorption, Konzentrationsverlust rolle in der mentalen und körperlichen ihr Kind unter dem grossen Klettergerüst und die daraus folgenden körperlichen Entwicklung von Kindern ein. Folglich führt sitzen. Es ist gefährlich, weil andere Symptome. Was uns fehlt, ist ein umfas- eine weitverbreitete Smartphone-Abhängig- Kinder über sie klettern. (* Name fiktiv)

Digitale Realitäten UniPress 166/2015 5 und ihre Kinder nur kurz auf dem Spielplatz sozialen Netzwerk verbunden zu sein Welche Nutzung sollte gefördert, und beobachtet, bestätigen sich diese düsteren (4 Prozent). Andererseits brachten die welcher sollte vorgebeugt werden? Schlussfolgerungen. Viele Eltern sind absor- Eltern ihr Smartphone-Nutzungsverhalten Antworten auf diese Fragen sind das Ziel biert von ihren Gadgets – sie telefonieren, mit Sucht und Abhängigkeit in Verbindung unserer künftigen Forschung. schreiben Nachrichten, surfen im Internet (15 Prozent) und zeigten sich frustriert ob und schauen auf ihr Smartphone, wenn sie dem ständigen Drang, das Gadget zu Mitarbeit: Andreas Hartl (Humboldt-Universi- ihre Kinder auf den Spielplatz begleiten benutzen und der Tatsache, dass das tät zu Berlin), Alisa Petrova, Andrea Schaub (siehe Kasten Seite 5). Diese beunruhi- Smartphone ihr ständiger Begleiter ist. (beide Universität Bern) genden Entwicklungen werfen eine Reihe Damit verbunden sind eine oft als zu lang von Fragen auf, die sich mit der Auswir- empfundene Nutzungsdauer sowie das Kontakt: Prof. Dr. Hanna Krasnova, kung von Smartphones auf die kindliche Gefühl, dass ohne Smartphone etwas fehlt. Universität Potsdam, zuvor Assistenz- Entwicklung, die Eltern-Kind-Beziehung und Weiter wurde bezüglich negativer Gefühle professorin für Informationsmanagement an das Familienleben befassen. generelles Unwohlsein (12 Prozent) er- der Universität Bern, wähnt, einschliesslich dem Eindruck, sich [email protected]; Nutzungsverhalten der Eltern abwesend, wütend, nervös, beschämt, Sara D’Onofrio, Institut für Wirtschafts- Um ein besseres Verständnis für die Rolle seltsam, schlecht, verbittert, verlegen, leer, informatik IWI, Universität Bern, von Smartphones und deren Auswirkungen erschöpft, unsicher und traurig zu fühlen. [email protected]; in der Eltern-Kind-Beziehung zu gewinnen, Schuldgefühle hinsichtlich des Nutzungsver- Vincenzo Sciacca, IWI sowie Accenture, haben wir 1500 Eltern aus der Schweiz haltens waren das dritthäufigste genannte [email protected] und Deutschland zu ihrem Smartphone- Gefühl (8 Prozent). Interessant ist, dass nur Nutzungsverhalten befragt. Unsere erste ein Fünftel der von uns befragten Eltern Analyse legt nahe, dass das Nutzungsver- (18 Prozent) ihren Smartphone-Gebrauch halten der Eltern Einfluss auf das Familien- als «normal» und unproblematisch be- leben nimmt: Über 60 Prozent der Eltern zeichneten. unserer Stichprobe geben an, das Smart- phone ab und an zu benutzen, während Ergebnisse werfen Fragen auf sich die Kinder in ihrer Obhut befinden und Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass über 40 Prozent der Befragten haben es das Sozialleben der «Generation Smart- schon auf dem Spielplatz verwendet. phone» durch die suchtbegünstigenden Nach den Gefühlen bezüglich ihres Eigenschaften von Smartphones komplexer Smartphone-Gebrauchs gefragt, gaben die wird – was heutige Eltern (und ihre Kinder) Teilnehmenden unterschiedliche Antworten. speziell betrifft. Vor diesem Hintergrund Am meisten genannte positive Emotionen bleiben zahlreiche Fragen unbeantwortet sind Gefühle vom Wohlbefinden, ein- und verlangen nach weiterer Forschung in schliesslich Bestärkung, Entspannung diesem Gebiet: Fördern oder hindern oder Zufriedenheit (13 Prozent). Ebenfalls Smartphones die soziale Interaktion und präsent war bei den Befragten das Gefühl, Unterstützung? Wie werden unsere Soziali- durch ihr Nutzungsverhalten informiert sierungsmuster durch den Gebrauch von (5 Prozent) sowie mit andern in einem Smartphones beeinflusst und verändert?

6 UniPress 166/2015 Digitale Realitäten Psychotherapie 2.0

Online-Therapie: Wie soll das gehen? Über das Internet kann doch keine Beziehung zwischen Patient und Therapeut aufgebaut werden! Doch Forschungsresultate legen nahe, dass Internet-Interventionen bei psychischen Störungen ähnlich wirksam sein können wie konventionelle Psychotherapien.

Von Thomas Berger

Philipp sitzt im Zug auf dem Weg zur Uni einer Online-Intervention eine bewährte cherweise geschieht in Online-Therapien und schaut auf sein Smartphone. Der Behandlung in Anspruch nehmen. So liegen das Gegenteil davon, was Menschen im 25-jährige Student liest noch einmal, was bereits über 25 kontrollierte randomisierte engen Fahrstuhl erleben: Weil sie sich im er am Vorabend auf seinem Laptop in ein Studien vor – das ist der «Goldstandard» Lift körperlich nah sind, vermeiden sie den Selbsthilfeprogramm zur Behandlung so- für den Beleg von Wirksamkeit in der klini- Blickkontakt und diskutieren eher ober- zialer Ängste eingetragen hat. «Ich werde schen Forschung. Damit gehören Internet- flächlich. In Online-Therapien hingegen mich morgen im Seminar mindestens zwei Therapien bereits zu den am besten er- besteht körperliche Distanz und die non- Mal melden», hat er sich vorgenommen. forschten therapeutischen Ansätzen über- verbale Kommunikation fehlt, was einen Und: «Sätze nicht vorher im Kopf aus- haupt. offenen Austausch über den verbalen formulieren, einfach mal drauflos reden Soziale Angststörungen sind kein Spe- Kommunikationskanal erlaubt. und den Blickkontakt mit den anderen zialfall: Viele Studien liegen auch für andere Daneben ist vor allem die Unabhängig- Studenten und der Dozentin halten». häufige Erkrankungen wie Depressionen, keit von Raum und Zeit ein Vorteil von In den letzten Wochen hatte Philipp mit Panikstörungen und Posttraumatische Be- Online-Interventionen: Erreicht werden Hilfe eines Online-Selbsthilfeprogramms lastungsstörungen vor. Verschiedene Meta- Menschen in ländlichen Gebieten, die vor gelernt, auf was er in sozialen Situationen analysen (zusammenfassende empirische Ort keine Therapeutin finden, Berufstätige achten soll. Und er hat geübt – beispiels- Studien über mehrere Einzelstudien) fassen mit Terminschwierigkeiten und Patienten, weise freies Reden vor einem auf dem Bild- die Ergebnisse so zusammen: Online-Thera- die Wartezeiten auf einen Therapieplatz schirm dargebotenen Publikum. Vor dem pien zeigen im Schnitt Behandlungseffekte, überbrücken müssen. Trotz der Fortschritte, Bildschirm ist ihm das ganz gut gelungen, die mit der Wirkung von konventionellen welche die konventionelle Psychotherapie in aber jetzt, als es ernst wird, ist er doch sehr Psychotherapien vergleichbar sind. Auch in den letzten Jahrzehnten gemacht hat, ist es nervös. Er liest noch einmal die aufmun- den kontrollierten Studien, in welchen Pa- letztlich nicht gelungen, die Häufigkeit ternden Worte, die ihm seine Therapeutin tienten zufällig einer herkömmlichen oder psychischer Erkrankungen in der Bevölke- gestern in der Selbsthilfeumgebung einer Internet-Therapie zugeteilt wurden, rung zu reduzieren. Das liegt auch daran, geschrieben hat. zeigten sich bisher keine Unterschiede. dass viele Betroffene keine professionelle Hilfe suchen oder keine finden. Niedrig- Internet-Therapien Viele Vorteile, aber auch Risiken schwellig nutzbare und leicht verbreitbare haben sich bereits bewährt Zu einer konventionellen Psychotherapie Online-Interventionen können das beste- Internet-Therapien werden seit über zehn wäre Philipp nie fähig gewesen. Zu gross hende Versorgungsangebot ergänzen und Jahren intensiv erforscht. In einigen Län- waren seine Hemmungen, jemandem von möglicherweise mithelfen, die Häufigkeit dern wie Schweden, den Niederlanden seinen Problemen zu erzählen. Die Hemm- psychischer Probleme und Störungen zu oder Australien werden die Behandlungs- schwelle, sich für die Online-Behandlung reduzieren. kosten aufgrund vieler positiver Forschungs- anzumelden, war hingegen geringer. Zu- Dass internetbasierte Programme so ergebnisse bereits von Krankenkassen oder dem erlaubt ihm die Möglichkeit anonym leicht verbreitet werden können, hat aber staatlichen Institutionen übernommen. zu bleiben, seine Probleme offener an- auch Nachteile: Denn darunter sind auch Wer wie Philipp an einer Sozialen Angst- zusprechen: Online-Enthemmungseffekt unseriöse Angebote mit zweifelhafter störung – also intensiver Angst vor Peinlich- nennen das Psychologen. Patientinnen Professionalität. Noch stehen nicht wie keit und Blamage – leidet und deshalb kommen in Online-Therapien schnell auf in anderen Gesundheits- und Medizin- soziale Situationen oft meidet oder sie nur den Punkt und sprechen rasch belastende bereichen zehntausende von psychologi- unter grosser Belastung erleidet, kann mit Probleme und intime Themen an. Mögli- schen Interventions-Apps zum Download

Digitale Realitäten UniPress 166/2015 7 bereit. Aber täglich kommen neue dazu. Patienten fällt es ohne Unterstützung Therapien nicht besonders gut ist, was zu Sie enthalten oft Humbug. Studien zur schwer, dranzubleiben. Mit ungeleiteten vielen Problemen bis hin zum Therapie- Qualität von Informationsseiten und Apps Programmen können zwar viele Menschen abbruch führen kann. Diese Gefahr ist in bei psychischen Störungen zeigen, dass kostengünstig erreicht werden, viele Online-Therapien reduziert. viele Angebote kaum Empfehlungen brechen die Intervention aber auch früh- enthalten, die erwiesenermassen wirksam zeitig wieder ab. Neuer Trend Kombinationsformate sind. Trotz der vielen positiven Studienergeb- In jüngster Zeit werden vermehrt soge- Weitere Herausforderungen sind der nisse für therapeutenunterstützte Interven- nannte «blended treatments» erforscht: Datenschutz und der Umgang mit tionen zweifeln immer noch viele Thera- Eine Mischung aus konventionellen Psycho- Menschen, die sich in akuten Krisen peuten an der Wirkung. Das liegt auch therapiesitzungen und Online-Selbsthilfe- befinden. In akuten Krisen sind Online- daran, dass die Beziehung zwischen Thera- programmen sowie Apps. Die Online- Therapien nicht geeignet, weil eine ange- peutin und Patient ein wichtiger Erfolgs- Interventionen dienen hier dazu, Inhalte messene unmittelbare Reaktion kaum faktor in Psychotherapien ist. Die Beziehung zwischen den Therapiesitzungen vorzu- möglich ist. Menschen, die sich etwas durch eine wöchentliche schriftliche Nach- bereiten oder zu vertiefen und den All- antun könnten, werden deshalb von richt aufzubauen, erscheint vielen Thera- tagstransfer neuer Verhaltens- und Denk- seriösen Angeboten ausgeschlossen und peuten schwierig, auch weil nonverbale weisen zu fördern. In einer kürzlich veröf- an geeignete Stellen weiterverwiesen. Signale wie Augenkontakt, Körpersprache fentlichten Studie erwies sich dieses Kombi- Ausserdem wird meist ein Notfallplan erar- und Stimme fehlen. nationsformat als genauso wirksam wie beitet, in dem definiert wird, wohin sich Kann also auch via Internet eine gute konventionelle Psychotherapie, wobei die Patienten wenden können, falls sie Therapiebeziehung aufgebaut werden? Anzahl der Therapiesitzungen durch die während der Intervention in eine Krise Genau dies zeigen verschiedene Studien: Verwendung der Online-Intervention deut- geraten. Patientinnen bewerten die Beziehung zu lich reduziert werden konnte. ihrem Online-Therapeuten im Schnitt Solche Kombinationsformate sind ein Braucht es noch Therapeuten? genauso positiv wie es Patienten in kon- Beispiel dafür, wie Online-Interventionen Philipp arbeitet sich Schritt für Schritt durch ventionellen Psychotherapien tun. Die konventionelle Psychotherapien nicht verschiedene Therapiemodule eines Selbst- Beziehung ist anders, aber deshalb nicht ersetzen, aber sinnvoll ergänzen können. hilfeprogramms und wird gleichzeitig von schlechter, vergleichbar vielleicht mit einer Therapeutin unterstützt. Therapeuten- Beziehungen in Brieffreundschaften, in Kontakt: Prof. Dr. Thomas Berger, unterstützte Selbsthilfe wird diese Form der welchen trotz physischer Distanz und SNF-Förderungsprofessur Klinische Psychologie Behandlung genannt. Seine Therapeutin zeitversetztem Austausch zwischenmensch- und Psychotherapie, Institut für Psychologie, hat Philipp nie gesehen. Einmal in der liche Nähe entstehen kann. Das liegt auch [email protected] Woche erhält er eine schriftliche Rück- daran, dass Menschen ihr Kommunikations- meldung. Die Therapeutin gibt ihm ein kur- verhalten an ein Medium anpassen, so dass zes Feedback zu den Einträgen im Selbst- Einschränkungen in der Kommunikation Laufende Studien hilfeprogramm, macht ihm Mut, beant- aktiv kompensiert werden. Nur weil der wortet Fragen und erklärt kurz, welche nonverbale Austausch fehlt, werden Im Rahmen nationaler und europäischer Aufgaben als Nächstes auf ihn warten. Emotionen und Beziehungsaspekte nicht Projekte erforscht die Universität Bern Der Kontakt mit der Therapeutin – wenn einfach ausgeblendet. Sie werden im internetbasierte Interventionen bei ver- auch nur kurz und schriftlich – ist wichtig. Gegenteil sogar oft verstärkt verbalisiert, schiedenen psychischen Problemen und Für Programme, die keinen Kontakt zu um medienbedingte Informationslücken zu Störungen. Informationen zu aktuell einem Therapeuten enthalten, werden füllen. Nicht zu vergessen ist auch, dass die laufenden Studien finden sich im Internet: geringere Therapieeffekte gefunden. Vielen Beziehung in manchen konventionellen www.online-therapy.ch

8 UniPress 166/2015 Digitale Realitäten UniPress 166/2015 9 10 UniPress 166/2015 Veränderbarkeit

Potenziale Digitale Medien sind prinzipiell leicht ver- änderbar. Sie können verbessert, abge- ändert oder ergänzt werden. Diese Eigen- Der grosse Wandel schaft erlaubt einen flexibleren Umgang bei der Erstellung und Weiterverwendung von digitalen Artefakten. Ein Textautor Der Übergang von herkömmlichen Medien auf mag sich das mühselige Aufschreiben von eine digitale Form eröffnet neue Möglichkeiten, Inhalten mit einer Schreibmaschine vor schafft aber auch Probleme. Die Potenziale wie die Augen führen. Passierte einem dort ein Herausforderungen sind eng verknüpft mit drei Tippfehler, so musste für eine makellose spezifischen Eigenschaften digitaler Medien, die sie Seite der betroffene Text neu geschrieben von analogen Medien unterscheiden: Veränderbar- werden. Alternativ war der Tippfehler zu keit, Reproduzierbarkeit und Unzerstörbarkeit. übertünchen und der korrekte Buchstaben darüber zu schreiben. Mit den modernen Von Thomas Myrach Textverarbeitungssystemen lassen sich Tippfehler mühelos verbessern, wenn sie Ein zentrales Merkmal des modernen In- Potenziale der neuen Technologie nicht voll nicht bereits automatisch korrigiert formationszeitalters ist die zunehmende ausgeschöpft. Im Fall der Textverarbeitung werden. Zudem können ganze Textpas- Digitalisierung von Medien. Mit den über sollte dafür eine Trennung von Inhalt, sagen verändert und ein Text so sukzes- die Jahre entwickelten Technologien lassen Struktur und Layout erfolgen. Die Abstände sive weiterentwickelt werden. Dies ermög- sich unterschiedlichste Medien digitali- zwischen Textblöcken wären dann über licht ein ganz anderes Arbeitsverhalten. sieren: Ursprünglich waren es vor allem Formatvorlagen zu steuern. Der Vorteil Auch in anderen Medien sind die Zahlen, dann Texte, dann Bilder und davon ist, dass sich die Textgestalt jederzeit Änderungsmöglichkeiten interessant. So schliesslich Audios und Videos. Das Bit ist mit relativ wenigen Manipulationen ändern bietet das Bildbearbeitungsprogramm zum kleinsten gemeinsamen Nenner lässt und dann für den gesamten Text Photoshop weitgehende Möglichkeiten, unserer Informations- und Wissensgesell- einheitlich umgesetzt wird. ein durch eine Digitalkamera erstelltes Bild schaft geworden. Eine genaue Analyse der Besonderheiten zu verändern. Die Möglichkeiten reichen Der Umgang mit digitaler Information digitaler Medien muss bei deren spezi- von einfachen Nachbearbeitungen wie stellt spezifische Anforderungen. Neuartige fischen Eigenschaften ansetzen. Diese das Aufhellen von Bildern oder das Aus- Nutzungsmöglichkeiten entstehen, be- unterscheiden sich deutlich von den Eigen- bessern des Rotaugeneffekts bis hin zu währte Vorgehensweisen im Umgang mit schaften herkömmlicher Medien. Tradi- weitreichenden Bildmanipulationen, mit tradierten Medien sind in Frage gestellt. tionelle Medien sind durch eine enge denen die abgebildete Realität verfälscht Demgegenüber scheinen die Menschen Kopplung von Inhalt und Datenträger wird. Das Wort photoshoppen für derar- mentalitätsmässig erst teilweise in der digi- gekennzeichnet. Inhalte werden mit einer tige Manipulationen ist mittlerweile sogar talen Welt angekommen zu sein. Über- spezifischen Technologie auf das Träger- in die Umgangssprache eingegangen. kommene Verhaltensweisen, die sich im medium gebracht und sind dauerhaft daran Umgang mit den althergebrachten Medien gebunden. Bei digitalen Medien ist die Herausforderungen entwickelt und bewährt haben, werden Kopplung von Inhalt und Datenträger Mit der flexiblen Änderbarkeit geht die vielfach unhinterfragt übertragen. Dies ist lockerer. Zwar ist auch bei digitalen Medien Problematik der Authentizität einher. Für zum Beispiel im Umgang mit Textverarbei- die Information zu jeder Zeit an einem ein gegebenes Dokument ist nicht ohne tungsprogrammen der Fall, wenn man physisch definierten Ort festgehalten. Sie weiteres sichergestellt, dass es dem von einfach mehrfach die Return-Taste betätigt, lässt sich aber prinzipiell davon ablösen und den Urhebern gewollten Stand entspricht. um einen gewünschten Abstand zwischen kann dann weiterverarbeitet werden. Daran Dies ist besonders dann fatal, wenn durch den Textblöcken zu erzeugen. knüpfen sich neue Nutzungspotenziale, das Dokument eine rechtlich wirksame Dabei wird eine einfache Übertragung aber auch besondere Probleme und Heraus- Willensäusserung erfolgen soll. Aufgrund von alten Verhaltensweisen der speziellen forderungen. Dies wird im Folgenden an der prinzipiellen Veränderbarkeit ist dies Natur der neuen digitalen Medien nicht den Eigenschaften Veränderbarkeit, Repro- bei einem digitalen Dokument nicht zwei- gerecht. Vielmehr werden dadurch die duzierbarkeit und Unzerstörbarkeit gezeigt. felsfrei feststellbar.

Digitale Realitäten UniPress 166/2015 11 Im Kontext von Papierdokumenten Reproduzierbarkeit diese Entwicklung reagiert. Einerseits erfolgt die Authentifizierung für gewöhn- werden erkannte Übertretungen rechtlich lich durch eine Unterschrift, allenfalls Potenziale verfolgt, andererseits wird die Nutzung ergänzt um weitere Sicherheitsmerkmale. Digitale Medien können einfach ver- von digitalen Produkten durch technolo- Dies wird meist als ausreichende Authenti- vielfältigt, gespeichert und übertragen gische Massnahmen beschränkt. Ein fizierung angesehen, auch wenn sich werden. Damit lassen sie sich sehr einfach Digital Rights Management (DRM) knüpft Unterschriften fälschen lassen. Da sich verbreiten und von vielen Empfängern den Gebrauch an eine Autorisierung, die eine vergleichbare Authentifizierung mit nutzen. Dies begünstigt den freien Fluss sich nicht ohne weiteres übertragen lässt. digitalen Dokumenten nicht ohne weiteres von Informationen. Eigene Inhalte können Derartige Systeme behindern aber auch erreichen lässt, wird in solchen Fällen praktisch weltweit zur Kenntnis gebracht den legalen Gebrauch der betreffenden vielfach auf eine unterschriebene Papier- werden. Die Vernetzung über soziale Produkte und stellen zudem einen Eingriff version bestanden. Dies geschieht allen- Medien trägt dazu bei, dass sich als rele- in die Privatsphäre dar. Sie sind daher falls parallel zu einer Übertragung der vant, wichtig oder auch unterhaltsam heftig umstritten und werden teilweise Inhalte in digitaler Form. empfundene Inhalte schnell verbreiten. auch wieder eingestellt. Das Authentizitätsproblem lässt sich Diese rasante Verbreitung wird gelegent- Bei digitalen Produkten ist es schwierig mit Hilfe von Verschlüsselungstechnolo- lich auch mit dem Wort «viral» gekenn- geworden, die Bezahlung durchzusetzen: gien lösen. Damit sind sogenannte digitale zeichnet. Suchmaschinen wie Google Es hat sich teilweise eine Gratismentalität Unterschriften möglich. Mit Hilfe eines übernehmen die Aufgabe, die Quellen entwickelt, die eine Verfügbarkeit von öffentlichen Schlüssels können Dritte auf systematisch zu erfassen und bei einer Inhalten ohne Gegenleistung geradezu den Urheber des Dokuments schliessen. Suche gemäss der angenommenen Rele- erwartet. Darunter leiden etwa Print- Zudem wird in dem Schlüssel auch ein vanz für den Nutzer zu ordnen. Dadurch medienhäuser, die sich im Schraubstock «Fingerabdruck» des Dokuments kodiert, wird die Informations- und Wissensgesell- sinkender Auflagen, eines wegbrechenden der bei einer Veränderung des Dokuments schaft auf eine neue Basis gestellt: Nicht Anzeigengeschäfts und der schwierigen nicht mehr stimmt und damit auf eine mehr der Zugang zu Information und Etablierung von Bezahlinhalten im Internet Verletzung der Authentizität des Doku- Wissen ist das primäre Problem, sondern befinden. Diese Entwicklungen werfen ments hinweist. Diese Technologie er- deren Auswahl und Bewertung. Fragen nach der mittel- bis langfristigen fordert allerdings, dass die beteiligten Tragbarkeit der jeweiligen Geschäftsmo- Personen über einen privaten Schlüssel Herausforderungen delle auf. Unter dem Schlagwort «Open» für das Signieren verfügen. Dieser kann Auch kommerzielle digitale Produkte sind interessante alternative Ansätze zu von verschiedenen Stellen gegen eine lassen sich vervielfältigen. Dies hat einen den bisherigen kommerziellen Geschäfts- Gebühr erworben werden. Die Verbrei- Einfluss auf das Urheber- beziehungsweise modellen lanciert worden (Open Source tung ist jedoch noch relativ gering, so Verwertungsrecht, dessen Durchsetzung für Computerprogramme, Open Access dass Lösungen auf Basis der digitalen tendenziell erschwert wird: Von urheber- für digitale Texte, Open Data für frei Unterschrift derzeit nur eingeschränkt rechtlich geschützten Inhalten können verfügbare Daten – siehe Seite 25). Auch nutzbar sind. Immerhin wurde die Rechts- ohne weiteres Raubkopien gemacht und diese sind keineswegs rechtsfrei, sondern situation in einigen Bereichen bereits so über das Internet verbreitet werden. immer an konkrete Lizenzmodelle angepasst, dass digital signierte Doku- Dateiaustauschplattformen wie das seiner- gebunden. Es ist eine spannende Frage, mente als authentisch anerkannt werden. zeit durch massive Rechtseinsprüche welche Geschäftsmodelle sich angesichts Dies trifft etwa für elektronische Rech- bekämpfte Napster institutionalisieren dieser Entwicklungen in welchem Ausmass nungen zu, bei denen die digitale diese Möglichkeit. Medienkonzerne im etablieren werden. Signatur von der Eidgenössischen Steuer- Bereich von Musik- und Filmprodukten verwaltung (ESTV) akzeptiert wird. haben mit repressiven Instrumenten auf

12 UniPress 166/2015 Digitale Realitäten Fazit: Wir müssen umlernen Der Übergang von traditionellen zu digi- talen Medien stellt eine beträchtliche Herausforderung dar. Eine an den spezi- fischen Eigenschaften der Veränderbarkeit, Unzerstörbarkeit treten. Dies muss nicht notwendiger- Reproduzierbarkeit und Unzerstörbarkeit weise bedeuten, dass grosse Dateimengen ansetzende Analyse zeigt die ambivalenten Potenziale durch einen unbedachten Löschbefehl Wirkungen des Gebrauchs von digitalen Digitale Medien unterliegen keiner physi- verschwinden, obwohl auch dies vor- Medien. Einerseits eröffnen sich beträcht- schen Abnutzung. Sie können prinzipiell kommt. Vielmehr handelt es sich in vielen liche Nutzenpotenziale, die das Erstellen, beliebig häufig geladen, abgespielt und Fällen um schleichende Verluste, die bei Verbreiten und Weiterverarbeiten von digi- übertragen werden, ohne dass dies ihre Übertragungen auf andere Speicher- talen Inhalten erheblich begünstigen. Damit Qualität mindern würde. Bei traditionellen medien oder Rechner geschehen, wenn werden der Fluss von Information und Medien ziehen dagegen Alter, Gebrauch Dateien nicht als relevant erkannt oder die Verbreitung von Wissen dramatisch und Umwelteinflüsse eine teilweise schlei- übersehen werden. Der sichere Um- gesteigert. Anderseits stellen sich bei der chende Beeinträchtigung der Qualität gang mit digitalen Ressourcen erfordert Nutzung digitaler Medien durch eben diese nach sich. Diesbezüglich erscheinen auf allen Ebenen ein sorgfältiges Daten- Eigenschaften auch besondere Herausforde- Inhalte auf digitalen Medien beständiger management. Dies rechtfertigt sich aus rungen. Dazu gehören Fragen der Urheber- als solche auf herkömmlichen Medien. dem Bewusstsein, dass digitale Medien schaft und Authentizität sowie der Durch- wichtige und wertvolle Ressourcen sind. setzung von Urheber- und Verwertungs- Herausforderungen So ist etwa die digitale Sammlung aller rechten. Auch der Frage der längerfristigen Die Aussage über die Beständigkeit digi- Familienfotos nicht weniger wichtig als Sicherung und Verfügbarkeit von digitalen taler Daten scheint in einem Widerspruch die entsprechenden herkömmlichen Foto- Ressourcen muss eine besondere Aufmerk- zu stehen mit vielfach beklagten Verlusten alben, auch wenn sie nicht direkt greifbar samkeit zukommen. von Dateien. Diese haben teilweise tech- sind und sich kompakt auf einem relativ Die neuen Technologien stellen die nische Ursachen, entstehen aber auch kleinen technischen Gerät befinden. tradierten Verhaltensweisen im Umgang durch Nachlässigkeiten und Fehler in der Für die langfristige Sicherung digitaler mit bestimmten Medien in Frage. Um die Organisation digitaler Daten. Ressourcen ist noch eine weitere Proble- Nutzungspotenziale auszuschöpfen und die Digitale Medien werden zwar häufig matik zu beachten. Digitale Medien Herausforderungen zu bewältigen, bedarf als virtuell bezeichnet, jedoch sind auch können nur mit Hilfe geeigneter Techno- es neuer Ansätze und neuer Verhaltens- digitale Inhalte an physische Speicherme- logien genutzt werden. Der rasche tech- muster. Diese prägen sich im Zuge der dien gebunden. Diese können zerstört nologische Wandel kann jedoch dazu zunehmenden Nutzung digitaler Medien werden und verloren gehen wie jedes führen, dass die benötigten Technologien erst allmählich aus. Anpassungen auf der traditionelle Trägermedium auch. Damit nicht mehr zur Verfügung stehen. Dies individuellen und gesellschaftlichen Ebene gehen dann auch die darauf gespei- betrifft alle Ebenen einer IT-Architektur: finden teilweise spontan und intuitiv statt, cherten Daten verloren. Diese Verluste die Hardware, die Software und die erfordern aber auch langwierige und nehmen schnell gravierende Ausmasse an, Datenformate. So ist es möglich, dass eine schwierige Lernprozesse. Im Kern steht die da auf einem Speichermedium wie einer digitale Datei zwar vorhanden ist, sie aber eigentlich triviale Erkenntnis, dass digitale Festplatte auf engstem Raum grosse wegen der nicht mehr verfügbaren tech- Medien trotz ihrer weniger greifbaren Natur Datenmengen abgelegt sein können. Hier nischen Infrastruktur nicht genutzt wertvolle Ressourcen darstellen und helfen Sicherungstechnologien wie die werden kann. Um dem zu begegnen, entsprechend behandelt werden müssen. regelmässige Erstellung von Sicherheits- müssen für Dateien möglichst langfristig Das digitale Zeitalter dürfte gerade erst kopien (Backups) und der Einsatz redun- nutzbare, offene Formate eingesetzt begonnen haben. danter Speichermedien, so dass Dateien werden und allenfalls Transformationen stets mehrfach abgelegt sind. auf geänderte Technologien erfolgen. Kontakt: Prof. Dr. Thomas Myrach, Datenverluste können auch durch Institut für Wirtschaftsinformatik, versehentliche Datenlöschungen auf- [email protected]

Digitale Realitäten UniPress 166/2015 13 14 UniPress 166/2015 Digitaler Handel stürzt Regulatoren ins Dilemma

Der globale Datenverkehr ist die Basis der neuen digitalen Wirtschaft – entsprechend frei soll er fliessen. Doch damit schwinden die Möglichkeiten der einzelnen Staaten, etwa die Privatsphäre ihrer Bürger oder die nationale Sicherheit zu schützen. Was tun in diesem Dilemma?

Von Mira Burri

Kleider kaufen, Hotels und Flüge buchen, schaffen Voraussetzungen für neue Formen 1995 kaum am Internet interessiert war. Musik hören oder eine TV-Show anschauen, des grenzüberschreitenden Handels, für Dies ist nicht verwunderlich, weil das einen Weiterbildungskurs absolvieren oder neue Wege der Globalisierung. Aktiv Internet zu dieser Zeit nicht weit verbreitet sich mit Freunden und Verwandten in genutzt werden sie von Individuen und klei- und in den technischen Möglichkeiten stark Verbindung setzen – heute tut man dies neren Unternehmen aus Industrie- wie aus limitiert war: Digitaler Handel bedeutete alles online. Das Internet tangiert alle Entwicklungsländern, indem sie eine lediglich Handel mit IT-Produkten wie Bereiche des Lebens: Das ist kein Klischee, breite Palette von Gütern und Dienstleistun- Druck- und Faxgeräten. Nichtdestotrotz ist sondern unsere Realität. gen anbieten – auch solche von relativ klar, dass die WTO-Regeln, die das Gebot Im gleichen Tempo hat das Internet auch geringem Wert. der Nichtdiskriminierung für den Handel die Grundbedingungen des Handels verän- All das führt dazu, dass der Online- mit Gütern und Dienstleistungen sowie dert. Drei Facetten dieser Transformation Handel massiv zugenommen hat. Die minimale Standards für den Schutz des sind besonders erwähnenswert. Erstens hat Effekte des Internets zeigen sich aber nicht geistigen Eigentums verankern, auch für das Internet die Schaffung rein digitaler nur im digitalen Bereich; es geht nicht nur den digitalen Handel gelten. Dies wurde als Güter – wie Bücher oder Filme – ermög- um die typischen Internet-Vorreiter wie Ausdruck technologischer Neutralität von licht, die weltweit transportiert und re- Google. Vielmehr scheint es, dass die den WTO-Streitschlichtungsbehörden bestä- produziert werden können. Gleichzeitig Wirkung für konventionelle Industrien tigt und ist eine höchst willkommene konnten viel mehr Dienstleistungen, wie genauso gross sein kann. Insbesondere der Entwicklung. Finanz- und Rechnungswesen oder Soft- Umgang mit grossen Datenmengen (Big Allerdings unterliegt das WTO-System wareunterhaltung, grenzüberschreitend Data) erweist sich als absolut entscheidend auch erheblichen Einschränkungen. So ist angeboten werden. Vermehrt wurden auch für kontinuierliche Innovation in jedem es den nun 161 WTO-Mitgliedern bislang Dienstleistungen in konventionelle Güter Wirtschaftsbereich. Als kleine Illustration nicht gelungen, eine bewusste Aktualisie- integriert. So tragen nun fast alle ein dieser Entwicklungen – und in radikaler rung der existierenden Normen als Antwort Smartphone in den Hosentaschen, das zwar Abkehr von herkömmlichen Handelsmo- auf den digitalen Wandel zu formulieren. ein Produkt ist, aber auch und primär eine dellen – könnte man die letzten Neuig- Das bringt extreme Rechtsunsicherheit mit Dienstleistungsplattform – nicht nur für die keiten aus dem Hause Amazon anschauen. sich, weil in einer konvergierten Welt die klassischen Telekommunikationsdienstleis- Amazon verspricht nämlich die baldige bisherige Trennung zwischen Waren und tungen, sondern auch für Zeitungsabonne- Einführung der sogenannten «antizipierten Dienstleistungen, zwischen Sektoren und mente oder Games. Zweitens hat die Lieferung» (anticipatory shipping), die Untersektoren nicht mehr sinnvoll oder gar Digitalisierung durch die sogenannten Bücher und andere Produkte an ein nahes nicht mehr möglich ist. So ist es gemäss «digitalen Verpackungen» zu einer neuen Verteilzentrum verschicken würde, bevor bestehendem WTO-Recht und Rechtspre- Art des Güterhandels geführt. Diese man sie eigentlich bestellt. chung unklar, ob das grenzüberschreitende «Verpackungen» wie Sensoren oder andere Angebot von Online-Gaming als Telekom- eingebettete Datenträger ermöglichen Veraltete WTO-Regeln führen zu munikations- oder audiovisuelle, als Unter- Monitoring, Datenerhebung und Kommuni- Rechtsunsicherheit haltungs- oder Computer-Dienstleistung kation zwischen Objekten (Schlüsselwort: Man fragt sich natürlich, ob und wie die klassifiziert wird. Die Antwort ist angesichts «Internet der Dinge»). Eine dritte Umstel- neuen Formen des digitalen Handels regu- der unterschiedlich weitgehenden Liberali- lung des Handels erfolgt durch die neu liert sind. Ist eine entsprechende Wandlung sierungsverpflichtungen in den verschie- geschaffenen digitalen Plattformen für der regulatorischen Modelle nötig? Und ist denen Sektoren von grosser praktischer Erzeugung, Austausch und Verbrauch. der digitale Handel ein freier Handel? Relevanz – und bestimmt letztendlich den Diese Plattformen sind unterschiedlicher Die Antworten auf diese wichtigen Handlungsspielraum für nationale Regula- Natur – von typischen E-Commerce-Seiten Fragen sind keineswegs klar und eindeutig. toren. wie Amazon oder eBay bis zu innovativen Als erstes gilt es zu betonen, dass die Welt- Angesichts dieser Probleme und der ins Arten des Informationsaustauschs, die handelsorganisation (WTO), deren Haupt- Stocken geratenen WTO-Verhandlungen soziale und kulturelle Erlebnisse prägen, aufgabe die Regulierung des globalen haben die Staaten, allen voran die USA, in wie etwa Facebook. Digitale Plattformen Handels ist, bei ihrer Gründung im Jahr Freihandelsabkommen nach adäquaten

Digitale Realitäten UniPress 166/2015 15 Lösungen gesucht und teilweise auch zunehmend deutlicher, je wichtiger die nötig ist: Dieses sollte beispielsweise den gefunden. Das Freihandelsabkommen Rolle des digitalen Handels und des Inter- Zugang zu digitalen Waren und Dienstleis- zwischen den USA und Südkorea gilt als nets in den Zukunftsstrategien der Staaten tungen erleichtern und die Rahmenbedin- besonders weitgehend in diesem Kontext. für mehr Produktivität und Innovation gungen für in- und ausländische Internet- Die vor kurzem unterzeichnete Transpa- wird. Denn gleichzeitig machen sich die Unternehmen optimieren. Anderseits ist zifische Partnerschaft zwischen den USA Folgen des digitalen Handels klar bemerk- auch klar, dass das regulatorische Design und elf Staaten im asiatisch-pazifischen bar: In verschiedenen Gebieten wie Konsu- für den digitalen Handel von nationalen Raum verspricht noch mehr im Bereich der mentenschutz, Finanz- oder Gesundheits- Massnahmen und Entscheidungen über oft Regulierung des digitalen Handels. politik nehmen die Spielräume der natio- kontroverse Themen wie dem Schutz der Freihandelsabkommen (FHA) sind, trotz nalen Regulierungsbehörden ab. Besonders Privatsphäre oder der nationalen Sicherheit der Vorzüge für die Mitgliedstaaten, jedoch betroffen – und umstritten – ist der Schutz abhängt. In diesem Sinn scheint es not- lediglich erste und unvollständige Lösungen der Privatsphäre. Dies ist eine natürliche wendig, dass die Prinzipien des freien digi- für die zentralen Gouvernanz-Fragen des Folge des grenzüberschreitenden Daten- talen Handels durch Prinzipien der regulato- digitalen Handels. Sie stellen erstens keine verkehrs: Wenn grosse Mengen von Daten rischen Sicherheit abgeglichen werden, ganzheitliche Regulierung dar, sondern nahtlos in Drittländer mit unterschiedlichen, um Vertrauen beim Handeln im Cyberspace bieten nur Antworten auf gewisse Fragen, potenziell niedrigen Datenschutzniveaus zu gewährleisten. Der US-amerikanische bei denen der Druck wirtschaftlicher Kreise übertragen werden, dann kann das Rechtswissenschaftler Anupam Chander spürbar und die politische Akzeptanz bei Schutzniveau des Exportlandes nicht durch- spricht in diesem Zusammenhang vom den Verhandlungspartnern vorhanden war. gesetzt werden, die Privatsphäre der Bürger sogenannten Prinzip der rechtlichen Oft handelt es sich um Resultate aus ist in Gefahr. «glocalization»: Dieses erfordert, dass die thematisch völlig unverwandten Deals – Dieses regulatorische Dilemma zeigt sich global angebotenen Dienstleistungen sich beispielsweise Marktzugang im Milchpro- beispielhaft in der aktuellen Situation in der an die lokalen Regelungen anpassen, so- duktion-Segment gegen E-Government- Europäischen Union (EU). Einerseits strebt lange diese auch in Einklang mit internatio- Normen. Zweitens ist die Mitgliedschaft in die EU optimale Rahmenbedingungen für nalem Recht stehen. Dies soll die Gefahr FHA per Definition limitiert und führt zu den barrierefreien digitalen Handel mit der des Protektionismus abwehren und gleich- regulatorischer Fragmentierung. Diese vor kurzem lancierten Digitalen-Binnen- zeitig einen gewissen Spielraum zur Vertei- wiederspricht der globalen Natur des Inter- markt-Initiative an. Anderseits verbietet die digung lokaler gesellschaftlicher Werte si- nets – Bytes halten nicht an der Landes- EU-Datenschutzrichtlinie die Übertragung chern. Chander plädiert auch für eine neue grenze. Aus der Perspektive einer fairen von Daten in Länder ohne «adäquates» Art der Unternehmensverantwortung der globalen Gouvernanz weisen FHA den Schutzniveau. Der Effekt der strengen Firmen im Bereich des digitalen Handels. Nachteil einer asymmetrischen Interessenre- EU-Vorschiften in Sachen Datenschutz Als Minimum sollten sich diese zu einem präsentation auf: «Power matters» und wurde durch eine kürzlich ergangene «do no harm» (oder in Google-Sprache «do wirtschaftlich schwächere (insbesondere Entscheidung des Europäischen Gerichts- no evil») Standard verpflichten und funda- Entwicklungs-)Länder verpflichten sich zu hofes nochmals verstärkt. Der Entscheid mentale Menschenrechte respektieren. Standards, die für sie unverhältnismässig bestätigte nämlich die Kompetenz natio- Folgendes Fazit lässt sich ziehen: schwer einzuhalten sind. naler Datenschutzbehörden, die Kompatibi- Obwohl der regulatorische Bereich des digi- lität von Datenübertragungen gemäss der talen Handels relativ klein und technisch Das Dilemma akzentuiert sich EU-Datenschutzrichtlinie und der Charta erscheint, wird die schliesslich gewählte weiter der Grundrechte der Europäischen Union zu Gouvernanz-Struktur von grosser Bedeu- Kurz: FHA bieten keine Lösung für die prüfen. Somit wurde auch das sogenannte tung sein. Sie wird unmittelbaren Einfluss durch das Internet verursachten Spannun- «Safe Harbor»-Abkommen zwischen den nicht nur auf unsere Alltagspraxis, etwa bei gen zwischen der lokalen und der globalen USA und der EU ausser Stand gesetzt – und der Nutzung von Facebook oder Zalando Ebene. Sie sind kein Ausweg aus dem soge- die Verhandlungen über das Transatlan- haben, sondern auch auf unsere Bürger- nannten «regulatorischen Dilemma» – dem tische Partnerschaftsabkommen wurden um rechte und die Gewährleistung von Freiheit Dilemma zwischen dem Wunsch, freien eine weitere ernste Komplikation reicher. und Sicherheit. Und nicht zuletzt beein- Datenverkehr als die notwendige Basis der flussen, ob das Internet tatsächlich allen neuen digitalen Wirtschaft zu ermöglichen Globale Dienstleistungen Vorteile bringt. auf der einen Seite und der festen Ent- nach lokalen Regeln schlossenheit, grundlegende Interessen und Es ist offensichtlich, dass zur Regulierung Kontakt: PD Dr. iur. Mira Burri, Werte des Nationalstaates zu schützen auf des digitalen Handels einerseits eine Aktua- World Trade Institute, der anderen Seite. Dieses Dilemma wird lisierung des internationalen Handelsrechts [email protected]

16 UniPress 166/2015 Digitale Realitäten Der digitale Geist

Die «Digital Humanities» fordern die Geistes- wissenschaften heraus: Ihre Methoden sind spiele- risch und schöpferisch, ihre Analysen sprengen den traditionellen Kanon – und in Zukunft sollen Computer auch Interpretationen vornehmen und Meinungen vertreten.

Von Tara L. Andrews

Der Computer reguliert unser Leben. überhaupt möglich, irgendetwas nachzu- daran, dass es möglich sein sollte, eine Unsere persönlichen und kulturellen Erinne- weisen? Kann überhaupt irgendeine Frage genügend komplexe Maschine zu bauen, rungen speichern wir immer häufiger in der beantwortet werden? Genauer gesagt, die alle Funktionen des menschlichen Hirns «Cloud», auf Plattformen wie Facebook kann ausgehend von einem Set von grund- replizieren könnte. und Instagram. Wir verlassen uns auf Algo- legenden Prämissen und einer vorgeschla- rithmen um zu wissen, was wir kaufen oder genen Konklusion überhaupt erkannt Hacker-Kultur sehen möchten. Sogar unsere Autos sind werden, ob das Ergebnis aufbauend auf in den Geisteswissenschaften nun in der Lage zu bemerken, wenn die den Voraussetzungen entweder bewiesen Das Turing-Dilemma kann auch anders Fahrerin oder der Fahrer müde werden, und oder widerlegt werden kann? Diese Heraus- formuliert werden: Er hat nachgewiesen, machen uns dann den einladenden forderung, erstmals durch den Mathema- dass unlösbare Probleme existieren. Aber Vorschlag, die Fahrt für eine Tasse Kaffee tiker David Hilbert formuliert, wurde als das haben Menschen durch ihre Vernunft und zu unterbrechen. Entscheidungsproblem bekannt. Intuition die Fähigkeit, Probleme zu lösen, Aber dem digitalen Zeitalter liegt eine Nachdem Kurt Gödel 1930 darlegte, die eine Maschine nicht lösen kann? Turing grosse Ironie zugrunde: Die Erfindung des dass das Entscheidungsproblem unmöglich war vom Gegenteil überzeugt, und er hat Computers war der letzte Sargnagel für zu beantworten ist, bewies Alan Turing sein restliches Leben damit verbracht, eine den Traum von Gottfried Wilhelm Leibniz, 1936 die Existenz unlösbarer Probleme. Er Maschine zu bauen, die genügend komplex dem Universalgenie aus dem 17. Jahrhun- zeigte dies durch die Vorstellung einer Art wäre, um mit dem menschlichen Gehirn dert. Damals, im Zeitalter der Aufklärung, begrifflicher Maschine, mit der sowohl ein gleichzuziehen oder es gar zu übertreffen. führte die Entwicklung wissenschaftlicher Set mathematischer Operationen als auch Das führt uns direkt zum Ursprung der Prinzipien zum weitverbreiteten Glauben, Anfangseingaben kodiert werden könnten. Unsicherheit und sogar Feindlichkeit, mit dass der Mensch eine Art von ausserge- Er bewies damit, dass Verknüpfungen von der Automaten und Computern in den wöhnlich kompliziertem biologischem Operationen und Eingaben existieren, die meisten Industrieländern begegnet wird. Mechanismus sei: eine rationale Maschine. diese Maschine für immer rechnen lassen Wenn die Gesamtheit des menschlichen Leibniz selbst glaubte fest daran, dass es würden, ohne je eine Lösung zu finden. Denkens durch symbolische Logik ausge- möglich sein sollte, sich eine symbolische Grundsätzlich ist dies ein Computer! Das drückt werden kann, bedeutet dies, dass Logik für die Gesamtheit der menschlichen Gedankenexperiment Turings hatte zum der Mensch keinen speziellen, über den Gedanken auszudenken, sowie einen Kal- Ziel, die Existenz unlösbarer Probleme Computer hinausgehenden Zweck hat? kül, sie zu manipulieren. Er stellte sich vor, nachzuweisen – doch Turing war von den In dieses Minenfeld tritt die Disziplin, die wie Herrscher und Richter in der Zukunft Möglichkeiten, lösbare Probleme aufzulösen heute als «Digital Humanities», als digitale diese «Universalcharakteristik» benutzen derart angetan, dass er dafür eine echte oder technologische Geisteswissenschaften könnten, um die echte und gerechte Ant- Maschine bauen wollte. Die Gelegenheit, bekannt ist. Die frühen Pioniere des Felds, wort jeder Frage zu berechnen, sowohl im eine solche Maschine zu bauen, bot sich das bis in die frühen 2000er als «Humani- wissenschaftlichem Diskurs als auch im während des Zweiten Weltkriegs mit der ties Computing» bekannt war, beschäftig- Streit zwischen Nachbarn. Darüber hinaus Enigma-Entschlüsselungsmaschine zum ten sich eher nicht mit der oben beschrie- glaubte er, dass es nichts gebe, das nicht Knacken deutscher Funksprüche. Computer benen Frage. Computer waren nützliche berechenbar sei – kein Unerkennbar. wurden in der Nachkriegszeit rasch entwi- Rechengeräte, aber die Forschenden selber ckelt, wenngleich die Rolle Turings in ihrer blieben unbestritten für die Interpretation Die Entdeckung Konzeption für Jahrzehnte vergessen der Resultate verantwortlich. Aber als vor unlösbarer Probleme wurde. Und obwohl Turing die Existenz des dem Hintergrund immer durchdringenderer Im Verlauf der folgenden 250 Jahren wurde Unerkennbaren definitiv nachgewiesen technologischer Transformation die durch eine Sprache für symbolische Logik ent- hatte, blieb er bis zum Ende seines Lebens diese Wissenschaftlerinnen benutzte Tech- wickelt und komplett nachgewiesen, die überzeugt, dass eine Turingmaschine jedes nik weiterentwickelt wurde, wurde ein heute als boolesche Logik bekannt ist. Die Problem lösen können sollte, das auch ein kultureller Konflikt zwischen den «Schöp- Frage von Leibniz wurde verfeinert: Ist es Mensch zu lösen vermag. Er glaubte fest fern» und den «Kritikern» innerhalb

Digitale Realitäten UniPress 166/2015 17 des Felds «Humanities Computing» un- Sämtliche Bücher Wir, die Computergeisteswissenschaftle- vermeidlich. eines Jahrhunderts lesen rinnen, die «Schöpfer», tendieren heute zu Mehr als üblich für die Geisteswissen- Ein gutes Beispiel für unsere Arbeit ist das einem hybriden Modell zwischen mensch- schaften beschäftigt sich das Feld der sogenannte «Distant Reading». Ein Wissen- licher Interpretation und computerge- Digital Humanities damit, Dinge zu machen. schaftler namens Franco Moretti zeigte in stützter Analyse. Innerhalb der Literaturwis- In dieser praxisbasierten Wissenschaft den frühen 2000er Jahren, dass der litera- senschaften bedeutet dies Techniken wie wartet die Wissenschaftlerin mit einer Idee turwissenschaftliche Kanon, das heisst die Distant Reading oder das Erkennen des auf, setzt sie mit einem Computercode um, Werke, an die gedacht wird, wenn man Autors eines Werks durch statistische schaut, was passiert und entscheidet, ob beispielsweise an Deutsche Literatur des Analysen. Die Geschichtswissenschaft es «wirkt» – und zieht schliesslich ihre 19. Jahrhunderts denkt, relativ klein ist. Er wiederum analysiert beispielsweise die Schlüsse daraus. So haben die Digital besteht aus den Werken, die in der Schule Netzwerke historischer Personen oder Humanities gewissermassen eine Hacker- gelesen werden, Werke, die die Zeit über- erstellt Zeitrafferkarten von Handelsrouten Kultur – spielerisch, manchmal sogar dauerten und heute gelesen, zitiert und ausgehend von Schiffslogbüchern. arrogant oder anmassend. Wir probieren umgestaltet werden. Das ist jedoch nur ein Sachen aus, um festzustellen, ob sie mach- kleiner Bruchteil der deutschsprachigen Eine Maschine, die «vielleicht» bar sind. Das ist das exakte Gegenteil der Literatur, die im 19. Jahrhundert verfasst denken kann theoretischen Kritik, die seit Jahrhunderten wurde! Unser «Kanon» ist natürgemäss Die nächste grosse Herausforderung der der Grundstein dessen ist, was viele nicht repräsentativ. Genau dies muss er Digital Humanities wird das eingangs be- Geisteswissenschaftler als ihr Sondergebiet aber sein. Doch es ist Menschen nicht schriebene Spannungsfeld sein: Wird es uns ansehen. Einige von diesen Kritikern sehen möglich, alles zu lesen, was innerhalb von gelingen, dass Computermodelle die Mehr- das Hacking notwendigerweise als eine 100 Jahren publiziert wurde. deutigkeit, Unsicherheit und Interpretation Flucht vor der Theorie: Wenn Fachleute Ist es nun aber möglich, mithilfe von mit einschliessen können, die so grund- in den Digital Humanities Programme Computern all diese Bücher zu lesen? legend ist für die Geisteswissenschaften? entwickeln, dann erbringen sie weder eine Moretti und andere haben es versucht, und Bisher basierte sämtliche computergestützte theoretische noch eine kritische Leistung, dieser Vorgang wird heute Distant Reading Wissenschaft auf dem binären Modell von und ihre Arbeit muss deswegen unvoll- genannt. Anstatt persönlich all diese Werke 1 und 0, wahr und falsch. Diese zwei kommen sein. zu lesen, digitalisierte er diese, damit aussergewöhnlich simplen Bausteine haben Diese Kritiker neigen jedoch dazu, die mithilfe von statistischen Verfahren Muster es uns erlaubt, Maschinen und Algorithmen kritische oder theoretische Erfahrenheit der innerhalb dieses Kanons gesucht werden von erstaunlicher Raffinesse zu schaffen – Computergeisteswissenschaftler zu unter- können, die sich vor dem Hintergrund aber die binäre Logik lässt keinen Raum für schätzen. Die meisten von uns Wissen- sämtlicher je geschriebener Bücher «vielleicht», keine Möglichkeit für «Ich bin schaftlerinnen in den Digital Humanities abheben. der Überzeugung, dass … ». Informatike- sind sich den Einschränkungen unserer Als Resultat davon haben wir heute zwei rinnen und Geisteswissenschaftler arbeiten Arbeit sehr wohl bewusst, wie auch der verschiedene Modelle von «lesen»: Für das gemeinsam daran, diese Lücke zu Tatsache, dass unsere Ergebnisse proviso- eine ist die menschliche Interpretation der schliessen, um schliesslich wahrhaftig risch und ungewiss sind. Nichtsdestotrotz Beginn jeglichen geisteswissenschaftlichen denkende Maschinen herzustellen. unterlassen wir es oftmals, diese Einschrän- Schaffens, für das andere ist genau diese kungen klar zu kommunizieren, wenn Interpretation der Endpunkt, der so lange Kontakt: Prof. Dr. Tara Lee Andrews, wir unsere Resultate präsentieren, jedoch wie möglich aufgeschoben werden soll, Digital Humanities @ Universität Bern, scheinen unsere Kritikerinnen auch oft taub während Maschinen Muster identifizieren [email protected] zu sein, wenn wir es doch tun. und hervorheben.

18 UniPress 166/2015 Digitale Realitäten UniPress 166/2015 19 20 UniPress 166/2015165/2015 So wird Fiction zu Science

Die gestaltungsorientierte Forschung lässt aus Science-Fiction Realität werden. Nicht nur im Silicon Valley, sondern auch in Bern wird die Methode zur Erforschung von Intelligenz verwen- det, wodurch intelligente(re) Systeme entstehen.

Von Edy Portmann

Im Film «Ex Machina» von Alex Garland Intelligenz unterscheiden kann, hat das Gewinner, definiert Gestaltung (englisch gewinnt der Programmierer Caleb einen künstlich entwickelte System den Turing- «Design») als «Transformation bestehender internen Firmenwettbewerb und wird Test bestanden. in bevorzugte Bedingungen». Jede Design- deshalb zu einem Aufenthalt im Anwesen aktivität ist somit immer mit einer ver- des Firmeneigentümers Nathan eingeladen. Die Welt nicht nur verstehen, besserten Zukunft verbunden. Als Erweite- Unmittelbar nach seiner Ankunft erklärt sondern verbessern rung des kritischen Denkens ist Design für ihm dieser, dass er ausgewählt wurde, die Ein Vorgehen zur Erforschung von Intelli- ihn ein kreativer Prozess. Dieser Prozess, Reaktionen und Emotionen der künstlichen genz – einem der ältesten und grössten der beispielsweise auch von Architekten, Intelligenz in einem weiblichen Körper ungelösten Rätsel der Menschheit – muss Ingenieuren und Medizinern durchgeführt namens Ava zu bewerten. In der Folge sehr viele Herausforderungen meistern. wird, um die Welt nicht nur zu verstehen, interviewt Caleb Ava. Während eines dieser Einem pragmatischen, handlungs- und sondern auch aktiv zu verbessern, begüns- Interviews erklärt ihm Ava, dass er Nathan zukunftsorientierten Vorgehen folgend, tigt den Aufbau von Ideen und somit auch nicht trauen sollte. Im Laufe der Woche gehen wir am Institut für Wirtschafts- die Entwicklung von Cognitive-Computing- heckt Caleb einen Plan aus, wie er Ava informatik diese Herausforderungen mit Systemen. helfen kann, aus dem Anwesen zu sogenannt gestaltungsorientierter For- entfliehen, da sie ihm vertrauenswürdig schung an (siehe Grafik Seite 22). Innovation durch Nachahmung erscheint. Inzwischen erzählt Nathan ihm Konkret entwickeln wir Cognitive- der Natur jedoch, dass Ava ihn manipuliert hat. Wer Computing-Systeme: Solche Systeme ent- Für Innovation ist Design unabdingbar. Die sagt nun die Wahrheit? falten ihre Intelligenz, indem sie möglichst Innovationskraft der gestaltungsorientierten Um Geheimnisse dieser Art zu lüften, menschenähnliche Antworten auf alltäg- Forschung lässt sich auch an zahlreichen schlug der Pionier für künstliche Intelli- liche oder auch sehr spezifische Heraus- historischen Beispielen aufzeigen: Um einen genz – Alan Turing – bereits in den 1950er forderungen zu finden vermögen. Sie Grundstock an Theorie und Wissen zu Jahren einen Test vor, bei dem ein mensch- können durch Interaktionen mit uns Men- generieren, wurde häufig zuerst etwas licher Gutachter einschätzen soll, in wel- schen lernen, wie wir denken und die Welt riskiert und versucht, bevor dann, in einem chem von zwei Räumen sich ein Mensch wahrnehmen und dadurch kognitive Fähig- weiteren Schritt, bessere Lösungen ent- und in welchem sich ein intelligentes Sys- keiten adaptieren. Das ultimative Ziel von wickelt werden konnten. tem befindet. Das Ziel des Systems, welches Cognitive-Computing-Systemen ist jedoch So begann das menschliche Fliegen mit menschenähnliche Reaktionen und Emotio- nicht etwa der Ersatz von uns Menschen, Imitationen und Versuchen, ging in die nen generiert und sich infolgedessen wie sondern die Erweiterung unserer gemein- Produktion möglicher Fluggeräte über und ein Mensch verhält, ist es, dem Gutachter samen Intelligenz. danach ins Lernen aus Fehlern, bevor vorzutäuschen, es sei menschlich. Der Gut- In der gestaltungsorientierten Forschung schliesslich die heutigen Flugzeuge entwi- achter ist sich jedoch bewusst, dass einer sind Entwicklung und Bau wichtige Kompo- ckelt werden konnten. Inspirationsquelle ist der beiden Gesprächspartner eine künst- nenten. Herbert A. Simon, ein weiterer dabei häufig die Natur – das Vorgehen des liche Intelligenz ist. Wenn er nun die künst- Pionier der künstlichen Intelligenzforschung Nachbauens der Natur wird Biomimetik liche nicht eindeutig von der biologischen und Nobelpreis- sowie Turing-Award- genannt. Leonardo da Vincis Flugmaschine

Digitale Realitäten UniPress 166/2015 21 Zyklen der gestaltungsorientierten Forschung

Wissensbasis

Stringenz Grundlagen und Erweiterung der Wissensbasis

Gestalten Design Bewerten

Relevanz Anforderungen und Bewertungskriterien

Kontext

Im Wesentlichen durchläuft die gestal- Abschliessend wird die jeweilige Innova- war von der Vogel-Anatomie inspiriert; tungsorientierte Forschung drei stark in- tion anhand der zu Beginn festgelegten aber auch die Wright-Brüder, die das erste einander verwobene Aktivitätszyklen (siehe Kriterien bewertet, um Wissen methodisch Flugzeug bauten, das schwerer als Luft Abbildung): Der erste Zyklus adressiert die zu dokumentieren. Diese stringente Bewer- war, leiteten ihre Ideen von Beobachtungen Relevanz einer Innovation. Er beginnt mit tung des Wissens gewährleistet dabei, dass von Tauben im Flug ab. Biomimetik dem Kontext, der nicht nur die Anforde- die Innovation auch wirklich einen neuen, bedeutet also, dass ein künstliches Sys- rungen liefert, sondern bereits auch die nützlichen Beitrag für die Forschung tem entsteht – wie beispielsweise ein Flug- methodischen Kriterien für die abschlies- leistet. Dieses neu generierte, oftmals zeug –, das mit der biologischen Kreatur – sende Bewertung festlegt. Meist startet praktische Wissen wird meistens sogleich beispielsweise einem Vogel – abgeglichen dieser Zyklus mit dem Erkennen oder wieder in den Zyklus integriert. Der werden kann. Vorhandensein einer (praktischen) Heraus- Abschluss eines Zyklus ist meist zugleich Dieses «Verstehen durch Nachbau» wen- forderung, zu der im nächsten Zyklus der Anstoss für einen neuen Zyklus. den auch wir an, um (künstliche) Intelligenz mögliche Vorschläge erarbeitet werden. In der gestaltungsorientierten Forschung gestaltungsorientiert zu erforschen. Wir Der zweite Zyklus beinhaltet die eigent- gibt es starke Interdependenzen zwischen versuchen, die bemerkenswerte Fähigkeit liche Design-Phase, die sich intensiv mit den einzelnen Prozesszyklen, wodurch der des menschlichen Gehirns nachzuahmen, dem Erkennen und dem Erarbeiten neuer ganze Ablauf sehr dynamisch wird. Das mit vagen, ungenauen und unsicheren Vorschläge zur Adressierung der eingangs Ergebnis dieser einfachen, aber höchst Informationen umgehen zu können. Unser gestellten Herausforderung beschäftigen. effektiven Forschungszyklen kann eine Leitbild für die Entwicklung intelligenter Der Design-Zyklus wiederholt sich alternie- bessere Mausefalle, eine Symphonie, ein Systeme ist also die (über das klassische rend zwischen der Gestaltung und Bewer- chemischer Reinigungsservice – oder eine «0» und «1» der Computerlogik hinaus- tung der jeweiligen Innovation – sowie des künstliche Intelligenz wie Ava sein. gehende) Toleranz für Ungenauigkeit, Innovationsprozesses selbst – stets neu. Ungewissheit, Teilwahrheit und An- näherungen. Dabei setzen wir stark auf Methoden und Techniken aus dem soge- nannten Soft-Computing, deren Vorbild das menschliche Gehirn ist – beispielsweise unscharfe Logik, künstliche neuronale Netze oder evolutionäres Computing. Konkret entwickeln wir am Institut für Wirtschaftsinformatik Cognitive-Compu- ting-Systeme, die mittels Soft-Computing- Methoden auf natürliche Art und Weise lernen und mit Menschen interagieren können. Unsere Forschungsfelder umfassen dabei vier Themenschwerpunkte: Big Data Analytics and Management; Knowledge Aggregation, Representation and Reaso- ning; Modelling with Words sowie Smart and Cognitive Cities. Dabei designen wir intelligente Systeme nicht nur, sondern bauen auch entsprechende Prototypen. Dies wird im Folgenden am Beispiel Smart and Cognitive Cities gezeigt.

22 UniPress 166/2015 Digitale Realitäten Biologische und künstliche lich verarbeitet, ist wahrnehmungsbasiert. verarbeiten. So ermöglicht unser kognitiver Intelligenz verschmelzen Ein System wie unser kognitiver Prototyp Prototyp aufbauend auf urbanen Daten und Das US-amerikanisches IT- und Beratungs- muss also als Erweiterung messungs- Informationen den mit ihm interagierenden unternehmen IBM umreisst eine Smart City basierter Information wie «der durch- Benutzern, das momentan optimale Trans- als eine Stadt, die verfügbare und mitei- schnittliche Verkehrsfluss ist 18 km/h» portmittel auszuwählen. Dabei berücksich- nander verbundene Informationen optimal auch wahrnehmungsbasierte, linguistische tigt der Prototyp den Terminplan des Benut- nutzt, um die Stadt besser zu verstehen Information wie «es herrscht im Augen- zers genauso wie seine persönlichen Vor- und zu steuern, sowie um ihre limitierten blick stockender Verkehr» verarbeiten lieben in Bezug auf das Transportmittel, Ressourcen optimal(er) einzusetzen. Wird können. wenn er je nach Verkehrslage empfiehlt, nun diese Idee mit biomimetischen Sys- Aus diesem Grund muss ein kognitiver vom Tram aufs Taxi zu wechseln oder um- temen verbunden, so entstehen Cognitive Prototyp für Smart und Cognitive Cities gekehrt. Cities, die mit Einsatz kollektiver Intelligenz zwingend solch vage Informationen ver- Systeme wie dieser kognitive Prototyp eine Gemeinschaft von vielen eigenstän- arbeiten und natürlich-sprachig mit den für Smart and Cognitive Cities werden in digen Intelligenzen hervorbringen können. Menschen interagieren können. Dazu ist es einem gestaltungsorientierten Forschungs- Biologische und künstliche Intelligenz für diesen sinnvoll, menschliche Prozesse zyklus (siehe Grafik) auch evaluiert, wo- verschmelzen dabei, so dass sich Menschen nachzuahmen. Wenn Menschen etwas durch wieder neues Wissen entsteht. So und Systeme gemeinsam intelligenter verstehen und entsprechend handeln lassen sich beispielsweise die Empfehlungen verhalten, als es ein Einzelner, die Gemein- wollen, durchlaufen sie grob folgende unseres Prototyps (also der künstlichen schaft oder die Systeme jemals alleine tun Schritte: Sie beobachten und greifen dann Intelligenz) mit solchen von menschlichen könnte(n). Durch diese Symbiose entstehen auf Wissen zurück, um ihre Beobachtung Experten (also biologischer Intelligenz) ver- Potenziale, die für alle Beteiligten Mehrwert zu interpretieren. Dazu stellen sie Hypo- gleichen. Die durch den Relevanz-Zyklus ge- erbringen. Menschen bringen dabei ihre thesen auf, die sie bewerten, um schluss- forderte Einbettung in einen Kontext – hier ureigenen Fähigkeiten ein. Zwei stechen endlich die plausibelste Erklärung auszu- der Stadt – erlaubt zudem, die Systeme dabei besonders heraus: Die Fähigkeit, in wählen und entsprechend zu handeln. (und Prototypen) mit den Menschen ver- einer von Unschärfe geprägten Realität Kognitive Systeme sollten also den gleichen schmolzen einzusetzen, so dass zwischen möglichst sinnvolle Entscheidungen zu (menschlichen) Prozess durchlaufen diesen erweiterte kollektive Intelligenz treffen und die Fähigkeit, physische wie können. entstehen kann. Schliesslich kann ein psychische Aufgaben ohne Messen aus- solches System die Reaktionen und Emo- führen zu können. So fahren Menschen Mit Taxi oder Tram zum Ziel? tionen der Menschen – immer besser – beispielsweise in dichtem Verkehr, ohne Genauso wie Menschen lernen, indem sie imitieren. exakte Berechnungen durchzuführen, und den Prozess von Beobachten, Bewerten, entscheiden sich aufgrund vager Informa- Erklären und Entscheiden durchlaufen, Achtung Spoiler-Alarm tionen für oder gegen eine Beschleunigung nutzt unser Prototyp ähnliche Prozesse, Zum Schluss des Filmes «Ex Machina» vor der gelben Ampel. um aus den gelesenen Daten und Informa- besteht auch Ava den Turing-Test. Sie ent- Für das Design und die Entwicklung von tionen entsprechende Schlüsse zu ziehen. kommt dem Anwesen und damit Nathan – kognitiven Prototypen erweisen sich solche Durch Wiederholung und Annäherung wie auch Caleb! – und mischt sich, den Fähigkeiten als Knackpunkt. Im Speziellen (iterativer Lernprozess) vergrössert sich ultimativen Turing-Test bestehend, unbe- brauchen diese Prototypen nämlich die seine Wissensbasis kontinuierlich. Jedoch merkt unter die Menschen. Fähigkeit, natürliche Sprache zu verstehen besteht ein wesentlicher Unterschied zum und – in diesem Verstehen verwurzelt – Menschen: Kognitive Systeme können – Kontakt: Prof. Dr. Edy Portmann, auch die Fähigkeit, Wahrnehmungen ent- hier sind sie dem Menschen überlegen – Institut für Wirtschaftsinformatik, sprechend zu handhaben. Ein Grossteil der Daten und Informationen in grossem Um- Förderprofessor der Schweizerischen Post, Informationen, die das Gehirn ganz natür- fang mit einer enormen Geschwindigkeit [email protected]

Digitale Realitäten UniPress 166/2015 23 24 UniPress 166/2015 Nachhaltig in die digitale Zukunft

Kurzfristiges Denken und schädliche Abhängig- keiten dominieren nicht nur die physische, sondern auch die digitale Welt. Die Prinzipien der Nachhal- tigkeit müssen deshalb auch hier umgesetzt werden, fordert Matthias Stürmer – und zeigt, wie das geht.

Von Matthias Stürmer

Die Situation ist leider vielen bekannt: Do- möglichst hohe Abhängigkeit der Kunden oder finanzielle Hindernisse sollten die kumente, die in den 1980er und 90er verursachen. Sie entwickeln clevere Mobile Nutzung, Veränderung und Weiterverbrei- Jahren auf Computern gespeichert wurden, Apps oder lancieren praktische Online- tung digitaler Güter nicht behindern. sind heute praktisch nicht mehr zugänglich. Dienstleistungen, die einfache Lösungen für Voraussetzung dafür ist unter anderem eine Einerseits gibt es kaum mehr Geräte, die alltägliche Probleme bieten. Dropbox zum vollständig transparente Informations- noch die alten 3,5-Zoll oder gar 5,25-Zoll Teilen und gemeinsamen Bearbeiten von architektur, wie sie beispielsweise bei Open- Disketten lesen und auf neuere Medien Dokumenten ist ein gutes Beispiel. Oder Source-Software oder offenen Standards kopieren können. Andererseits lassen sich auch Apple beherrscht die Kunst der der Fall ist. Zentral ist ausserdem eine Dateien, selbst wenn sie auf einem moder- Kundenbindung durch attraktive Produkte offene Lizenz, unter der das digitale Gut nen PC zugänglich wären, nicht mehr voll- (iPhone) und Plattformen (iTunes) hervor- veröffentlicht wird. Creative Commons ständig lesen, weil die dazugehörigen ragend. Lizenzen sind für digitale Werke geeignet, Programme auf den heutigen Betriebs- Open Source Lizenzen für Software, Open systemen nicht mehr laufen. Glücklicher- Nachhaltiges Handeln Access Bestimmungen für Forschungsergeb- weise gibt es engagierte Programmierer, in der digitalen Welt nisse. Eine breit anwendbare Definition der die sich die Zugänglichkeit alter digitaler Aus betriebswirtschaftlicher Sicht macht Offenheit von digitalen Gütern hat die Datenformate auf die Fahne geschrieben diese Schaffung von Abhängigkeiten Sinn, Open Knowledge Bewegung unter haben. So kann beispielsweise die Open denn Firmen handeln stets mit der Absicht, www.opendefinition.org veröffentlicht. Source Office-Suite LibreOffice die früher den Profit zu maximieren. Dies erreichen sie verbreiteten Dateien von ClarisWorks besonders gut, wenn ihre Kunden mög- 2. Regenerationsfähigkeit zumindest teilweise wieder öffnen. Solche lichst abhängig sind. Aus der Perspektive Informations- und Kommunikationstechno- Ansätze der Abwärtskompatibilität von der privaten Anwenderinnen oder auch für logien unterliegen einem steten Wandel. Anwendungen sind hilfreich, um Daten öffentliche Stellen wäre es aber sinnvoll, Deshalb sollten möglichst viele Menschen langfristig zugänglich zu halten. Nichts- möglichst unabhängig und frei handeln zu die Option haben, sich durch Partizipations- destotrotz ist der Zugriff auf ältere digitale können. möglichkeiten an der Herstellung, Weiter- Daten heute ein grosses Problem, sowohl Die Beispiele zeigen: Nachhaltiges entwicklung und Verbreitung von digitalen im privaten Umfeld als auch in der Unter- Handeln sollte wie in der physischen Welt Gütern beteiligen zu können. Gleichzeitig nehmenswelt und bei der öffentlichen Hand. auch im digitalen Bereich das Ziel sein. ist es für die kontinuierliche Weiterentwick- Doch wie kann digitale Nachhaltigkeit nun lung eine Voraussetzung, dass das implizite Abhängigkeiten schaffen konkret verstanden werden? Die bekannten Wissen (Englisch: «tacit knowledge») über Neben dieser technischen Ursache von Nachhaltigkeits-Prinzipien können aus der ein digitales Gut nicht nur bei einer Person «un-nachhaltigen» digitalen Informationen Welt der ökologischen Nachhaltigkeit auch oder einer Firma liegt, sondern verteilt ist gibt es aber auch absichtlich verursachte in die digitale Welt übertragen werden, wie auf möglichst viele Akteure. Diese sollten Barrieren. Das Urheberrecht bildet dafür die im Folgenden ausgeführt wird: ihre Innovationen ungehindert miteinander Basis, geschaffen 1886 durch die Berner teilen können. Für Datenformate und Soft- Übereinkunft zum Schutz von Werken der 1. Intergenerationen-Gerechtigkeit wareumgebungen sollte ausserdem eine Literatur und Kunst. Heute verkaufen In- Digitale Güter wie Daten, Software und stabile Weiterentwicklung mit Hinblick auf formatikfirmen beispielsweise oftmals Kulturgüter sollten nicht nur für die die Vergangenheit erfolgen (Abwärts- und proprietäre (also nicht frei zugängliche) heutige Generation, sondern auch für die Aufwärtskompatibilität), sodass die digi- Anwendungen, die mit geheim gehaltenen kommenden Generationen zugänglich sein. talen Güter stetig verbessert und erweitert Datenformaten und Schnittstellen eine Rechtliche, organisatorische, technische werden können.

Digitale Realitäten UniPress 166/2015 25 3. Sparsamkeitsprinzip Weise weiterentwickelt werden können. die über Portale wie GitHub, OpenHub Digitale Güter unterliegen zwar keiner Damit beispielsweise die immer grösser oder SourceForge gefunden und herunter- physikalischen Abnutzung wie dies in der werdenden Informationsmengen von geladen werden können. Im deutschspra- physikalischen Welt der Fall ist. Jedoch Menschen noch verstanden und interpre- chigen Raum gibt es die Open-Source-DVD können sie faktisch verloren gehen, wes- tiert werden können, sollten digital nach- und www.opensource.ch, wo viele prak- halb sie dann allenfalls neu geschaffen haltige Daten verständlich strukturiert sein. tische Programme auf deutsch beschrieben werden müssen (siehe das eingangs Mittels Metainformationen können Daten sind. erwähnte Beispiel). Dies widerspricht dem ausserdem einheitlich beschrieben werden, Freie Inhalte wie Bilder, Musikstücke, Gedanken des sparsamen Gebrauchs von sodass auch grosse Datenmengen mittels Sounds, Filme, Grafiken oder Schriftarten Ressourcen. Die Wiederverwendung und Software noch sinnvoll dargestellt, durch- sind auf Portalen wie Flickr und Google Weiterverbreitung einmal geschaffener sucht und gefiltert werden können. Eine Images mittels Filterung nach Creative Ressourcen durch alle Akteure sollte Idealform sind beispielsweise Linked Data, Commons lizenzierten Inhalten auffindbar. deshalb technisch und rechtlich möglich die semantisch beschreiben, wie einzelne Wikipedia als frei zugängliche Enzyklopädie sein. Das bedeutet, dass digital nachhaltige Informationseinheiten miteinander in Be- ist allen bekannt, noch weniger bekannt ist Daten oder Software-Anwendungen ziehung stehen. Bei Software als digitales beispielsweise OpenStreetMap als freie beliebig kopiert werden dürfen, um eine Gut spielt die aktuelle, gut verständliche Kartografie-Plattform. Offen zugängliche möglichst hohe Anwendung zu erfahren. Dokumentation eine wichtige Rolle. Aber Daten werden heute von vielen staatlichen Auch sollten sie an möglichst vielen Orten auch eine hohe Qualität der Programmie- Stellen auf dem Open Government Data abgespeichert sein, damit beim Verlust rung, die Strukturierung des Quellcodes Portal Schweiz oder international von den einer Kopie das digitale Gut dennoch und Modularisierung der Architektur helfen Vereinten Nationen, der Weltbank und wiederhergestellt werden kann. Peer-to- neuen Entwicklern, sich rasch einarbeiten vielen anderen Institutionen zur Verfügung Peer Ansätze wie Torrent oder Bitcoin und die Software weiterentwickeln zu gestellt. In der Bildung und Forschung wenden genau dieses Prinzip an. können. besonders wichtig sind Konzepte wie Open Education, Open Access, Open Research 4. Risikoabbau 6. Ökologisch-ökonomische Data und Open Science, die Lehrmittel, Herstellung und Nutzung digitaler Güter Wertschöpfung wissenschaftliche Ergebnisse und For- beinhalten zahlreiche Risiken wie die Digitale Güter sollten allen uneingeschränkt schungsdaten offen zugänglich machen erwähnte Schaffung von Abhängigkeiten zur Verfügung stehen und geteilt werden wollen. gegenüber den Nutzern oder das Risiko können, um das Potenzial für Innovationen Die Prinzipien des frei zugänglichen fehlerhafter Interpretation. Digitale Güter auszuschöpfen und durch Wertschöpfung digitalen Wissens werden auch immer mehr sollten deshalb so gestaltet sein, dass sie für die Gesellschaft möglichst hohen in die physische Welt übertragen. Open keine Abhängigkeiten zu ihren Herstellern Nutzen zu stiften. Dazu ist es notwendig, Hardware mittels RasperryPi und Arduino schaffen, vertrauenswürdig sind und durch die Rahmenbedingungen auf regulato- ermöglicht die Erstellung von innovativen alle Nutzerinnen richtig interpretiert werden rischer Ebene so auszulegen, dass frei elektronischen Steuersystemen. Open können. Eine Voraussetzung dafür ist die zugängliche digitale Ressourcen gefördert Source Pharma ist der Ansatz für frei durch alle überprüfbare und transparente werden und Verbreitungskanäle wie das zugängliche Medikamenten-Verbindungen Informationsarchitektur. Ausserdem sollte Internet allen gleichermassen geöffnet sind. und die Open Source Seed Initiative will der die Integrität von Informationen, also ihr Eine bekannte Idee ist beispielsweise, dass wachsenden Patentierung von Pflanzen und korrekter, unmodifizierter Zustand sowie durch öffentliche Gelder finanzierte Kultur- Samen entgegen wirken. Immer mehr die Authentizität des Datenursprungs stets güter oder auch Forschungsergebnisse allen Menschen erkennen offenbar die Vorteile gewährleistet werden. Dazu werden meist frei zugänglich sind. von frei zugänglichen digitalen Gütern und digitale Signaturen oder so genannte Hash- deren Übertragbarkeit auf die technische tags (Prüfsummen) verwendet. Beispiele von digital Entwicklung. nachhaltigen Plattformen 5. Absorptionsfähigkeit Bereits heute gibt es eine Vielzahl von Platt- Kontakt: Dr. Matthias Stürmer, Digitale Informationen erzeugen direkt formen, die aufgrund ihrer offenen Lizenz Oberassistent am Institut für Wirtschafts- keine Emissionen. Allerdings müssen sie grundsätzlich das Potenzial haben, digital informatik und Leiter der Forschungsstelle sinnvoll aufgenommen werden können, nachhaltig zu sein und die oben genannten Digitale Nachhaltigkeit, damit sie neuen Bedürfnissen und An- Kriterien zu erfüllen. Konkret existieren [email protected] forderungen angepasst und auf innovative rund eine Million Open Source Programme,

26 UniPress 166/2015 Digitale Realitäten UniPress 166/2015 27 Die Hoffnung stirbt zuletzt

Wie verlaufen die Reisen von Migranten ohne Aussicht auf legalen Aufenthalt in Europa? Und wie gehen die Behörden mit diesen um? Eine Sozialwissenschaftlerin und ein Sozialwissenschaft- ler begeben sich mitten ins umstrittene Gesche- hen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Von Susanne Wenger

«Lost in Translation» – so hiess 2004 ein er- oft mehrfach den Status, gemeinsamer Auf den Spuren der «Dublin-Fälle» folgreicher Kinofilm der Regisseurin Sophia Nenner sind «Phasen der Irregularität», wie In den Geschichten dieser Migranten Coppola. Er beschrieb, wie eine Frau und die Wissenschaftlerin es formuliert. Gemäss spiegle sich «eine grosse Ambivalenz», sagt ein Mann in einem Hotel warteten, losge- dem europäischen Dublin-Abkommen, dem Wyss. Einerseits gelinge es ihnen, trotz löst vom Alltag, ohne festen Halt, in einem sich auch die Schweiz angeschlossen hat, behördlicher Kontrollen mobil zu bleiben Transit. Darauf spielt die Sozialwissen- ist jeweils nur ein Land für ein Asylgesuch und sich eine gewisse Handlungsfähigkeit schaftlerin Anna Wyss an, wenn sie ihr zuständig, meist das Einreiseland. Viele ver- zu bewahren: «Es gibt auch für Menschen Forschungsprojekt über die Reisen gewisser suchen trotzdem, sich von Griechenland, mit wenig Chancen auf Asyl immer wieder Migranten «Lost in Transit» nennt. Schon Italien oder dem Balkan nach Norden Lücken und Möglichkeiten, mindestens eine als Nachtwache in einem Durchgangs- durchzuschlagen. Oder sie entziehen sich Zeitlang an einem Ort zu verweilen.» Dies zentrum während des Studiums war ihr nach abgelehntem Asylgesuch der Weg- erfordere von ihnen extreme Flexibilität. aufgefallen, dass manche Asylbewerber weisung, um doch noch irgendwo irgend- Andererseits erlebten sie Phasen tiefer mehr als einmal dort landeten. Nun macht wie zu einem Aufenthalt zu kommen. Ei- Macht- und Hoffnungslosigkeit. Das jahre- sie diese Gruppe zum Thema ihrer Disser- nige finden als Sans-Papiers – also ohne lange Transitleben, der schutzlose Zustand tation am Institut für Soziologie: Menschen, gültige Papiere – Arbeit. in der Irregularität und die Entwurzelung die asyl- und ausländerrechtlich kaum Die Forscherin löst sich bewusst von den präge sie: «Viele haben kein Daheim Chancen auf einen legalen Aufenthalt in Kategorien der Migrationsbürokratie. Ihr mehr.» Auch im Herkunftsland kämen einem europäischen Land haben, aber Interesse gilt den Individuen, deren Zielen, ihnen die sozialen Netzwerke durch die trotzdem dableiben. Strategien, Erfahrungen – und den Konse- lange Abwesenheit allmählich abhanden, Wyss formuliert den Arbeitstitel ihrer quenzen eines Migrationsregimes, das was eine Rückkehr zusätzlich erschwere. Dissertation als Frage: «Lost in Transit?» vielen Menschen einen legalen Aufenthalt Die Forscherin versucht, mit den be- Denn das Spannende sei, wie diese meist in Europa praktisch verunmöglicht. Dabei fragten Migranten in Kontakt zu bleiben, jungen Migrantinnen und Migranten es geht sie ganz nahe ran. Mit der Methode um deren Wege nachzuvollziehen. Sie trotz abschlägiger Bescheide von Behörden der Ethnografie versucht Wyss, das zu Er- kommuniziert über Facebook und Telefon immer wieder neu versuchten, in der forschende möglichst ganzheitlich zu er- und reist ihnen auch nach. Derzeit hält sie Schweiz oder in einem anderen europä- fassen. Die Ethnografie ist eine Form der sich in Italien auf, wohin die Schweiz die ischen Land Fuss zu fassen: «Obwohl sie Sozialforschung, bei der die Forschenden meisten Migranten als Dublin-Fälle zurück- wenig Aussicht auf einen regulären Aufent- am Leben der Untersuchten teilnehmen schickt. Sie will sehen, wie die Leute dort – haltsstatus in Europa haben, entscheiden und deren Kontext aus der Innenperspek- oft in prekären Verhältnissen – leben. Wyss sie für sich selber, vorerst nicht ins Her- tive kennenlernen. So besuchte Wyss ein plant, auch noch nach Deutschland und kunftsland zurückzukehren, weil sie dort Jahr lang regelmässig ein Bundeszentrum Österreich zu fahren. Zu ihrer Forschung keine Zukunft für sich sehen.» Da bilde sich für Asylsuchende in der Schweiz. Sie gehört die Frage, wie die Migranten den ein neues Migrationsmuster heraus: die hielt sich bis zu vier Tage pro Woche dort Behörden gegenübertreten, mit denen sie Transitmigration. auf und klinkte sich als teilnehmende Beob- es immer wieder zu tun haben. Die Per- achterin in den Zentrumsalltag ein. 20 Per- spektive dieser Behörden wiederum unter- Jahrelanges Transitleben sonen – bis auf eine Frau alles Männer – sucht im zweiten Teilprojekt Tobias Eule, Die Betroffenen sind teils lange unterwegs, befragte sie in narrativ-biografischen Inter- Assistenzprofessor am Institut für öffentli- inklusive der oft strapaziösen, risikoreichen views. Ihre Gesprächspartner stammen aus ches Recht. Zusammen mit einer Dokto- Flucht. Wyss traf einen Mann, der schon Nord- und Westafrika, aus Somalia, Afgha- randin beobachtet er regionale Migrations- seit 14 Jahren herumreist. Auf ihrer Odys- nistan und dem Balkan. Für viele von ihnen behörden und Polizisten im Umgang mit see durch Europa wechseln die Migranten heisst es: reisen, warten, reisen, warten. dieser Migrantengruppe.

28 UniPress 166/2015 Forschung Unterwegs zur Erforschung der Migration: Anna Wyss am Bahnhof Roma Termini und Tobias Eule bei einer Migrationsbehörde in Deutschland (Selfie).

Vertrackte Situationen soll, stellt sich den Beamten oft genauso Grenzen und immer restriktiveren Asyl- Eule kann auf den Ergebnissen seiner wie den Migranten.» gesetzen versuchten die Verantwortlichen Dissertation aufbauen, in der er bereits vier in Europa, die Einwanderung in den Griff deutsche Migrationsämter bei der Arbeit «Böse» Migranten, zu kriegen. Dies gleiche vielfach einer begleitete. Diesen Sommer kam eine fünfte «böse» Behörden? Symbolpolitik, wie Wyss sagt: «Faktisch Behörde in Deutschland dazu. Geplant ist, Auf das nicht einfache Zusammenspiel ändert sich oft nur wenig.» Die Migration zusätzlich Migrations- und Polizeibehörden dieser Kräfte richten die Wissenschaftler finde trotzdem statt, und die Flüchtlinge in der Schweiz, Italien und Schweden ein- besonderes Augenmerk, weil es bisher würden nur noch mehr in die Illegalität zubeziehen – entlang einer der klassischen kaum erforscht ist. Zwischen Beamten gedrängt – wo sie aber doch immer wieder Süd-Nord-Fluchtrouten im Schengen-Raum und Migranten entstehe ein «dynamisches Mittel und Wege fänden, sich relativ frei zu also. Wie Wyss betreibt Eule Feldforschung Miteinander», stellt Eule fest. Beide seien bewegen. und begibt sich direkt vor Ort ins Ge- gleichermassen in das Katz- und Maus- Es werde interessant sein, die Gründe schehen hinein – in Büros, Sitzungszimmer, spiel verstrickt und müssten damit zurecht- dafür zu kennen, sagt Eule. Er verweist Befragungsräume. Auch ihn interessiert kommen. Er erlebt die Behördenmitar- auf Studien aus den USA, wonach illegale die Handlungsfähigkeit seiner Akteure. Er beitenden als routiniert, viele nähmen es Migration teils toleriert werde, weil die will wissen, wie die Angestellten in den sportlich: «Einerseits begreifen sie sehr gut, Zuwanderung von Arbeitskräften wirt- Migrationsbehörden und der Polizei, am dass es oft eine Sisyphusarbeit ist, die sie schaftlichen Nutzen bringe. Die Wissen- untersten Ende der politischen Hierarchie, erledigen, andererseits lautet nun einmal schaft könne Zusammenhänge aufzeigen, den rechtlichen Auftrag umsetzen. Was ihr Auftrag, die irreguläre Migration zu betonen die Forschenden, an der Politik sei ihre Mittel, Vorgehensweisen und Über- unterbinden, und deshalb versuchen sie es es dann, Schlüsse daraus zu ziehen. Der legungen sind. auch immer wieder.» Die Situation sei starke Wille der Migratinnen und Migran- Speziell im Umgang mit Migranten mit komplex, betont Eule. Die öffentliche Kritik, ten, mindestens für eine gewisse Zeit in ungeklärtem Status zeigen sich laut Eule ob von links oder rechts, greife oft zu kurz: Europa ihr Glück zu versuchen, sei jeden- Unterschiede zwischen den einzelnen «Es gibt genauso wenig einfach die ‹bösen› falls eine Tatsache, stellt Wyss fest: «Was Behörden: «Sie bearbeiten ähnliche Fälle Behörden, wie es die ‹bösen› Migranten sie immer wieder antreibt, ist die Hoffnung, und gehen – bei gleichem Rechtsauftrag – gibt.» aus dem irregulären Zustand doch noch dennoch unterschiedlich vor und kommen Die Sozialwissenschaftler begegnen bei hinauszutreten und ein ganz normales zu anderen Ergebnissen.» Dies zeige sich ihrer Arbeit ähnlichen Herausforderungen. Leben zu führen. Zu arbeiten, eine Familie am Beispiel der Rückführungen. Wider- So müssen beide das Vertrauen ihrer Ak- zu gründen.» setzen sich Migranten der Wegweisung, teure gewinnen. Und beide erleben, dass können die Behörden sie zurückschaffen, aktuelle Entwicklungen wie das Anwachsen Kontakte: Prof. Dr. Tobias Eule, auch unter Anwendung von Zwangsmass- des Flüchtlingsstroms nach Europa diesen Institut für öffentliches Recht, nahmen. Doch die Rückführungsstatistiken Sommer Bewegung in ihr Thema bringen. [email protected]; fallen je nach deutschem Bundesland Spätestens 2017 wollen sie die Ergebnisse Anna Wyss, Institut für Soziologie, anders aus. Was rechtlich klar töne – ein aus ihren auch vom Nationalfonds unter- [email protected] Migrant ist ausreisepflichtig –, erweise sich stützten Teilprojekten zusammenführen. Ziel Autorin: Susanne Wenger ist freie Journalistin in der Praxis eben oft als vertrackt, weiss ist es, neue Erkenntnisse über die Steuer- BR in Bern, [email protected] Eule. Etwa, wenn nicht eruiert werden barkeit der Migration zu gewinnen. In könne, woher jemand wirklich komme. dieser Frage, einem Politikum erster Güte, Oder wenn widersprüchliche Arztzeugnisse zeigen sich laut den Forschenden grosse vorlägen: «Die Frage, wie es weitergehen Widersprüche. Mit Schutzwällen an den

Forschung UniPress 166/2015 29 Stapfers Dorfschule von 1799

Als Minister der Helvetischen Republik träumte Albert Stapfer um 1800 von einer zentralstaat- lichen Bildungsreform. Um sich ein Bild über den Zustand des niederen Schulwesens zu machen, liess er Umfragebögen an alle Schulen des Landes verteilen. Die überraschenden Antworten sind nun denen die Schüler im besten Fall den Kate- im Internet veröffentlicht – dank einer soeben chismus auswendig gelernt hätten. abgeschlossenen digitalen Berner Edition. Der Ursprung dieser Vorurteile sei schon in der Aufklärung und dann wieder im Von Eno Nipp späten 19. Jahrhundert zu suchen. «In der spätliberalen Vorstellung ist die erfolgreiche Versuchen wir uns den Schweizer Schulall- zog es ihn nach Frankreich, wo er sich Volksbildung eine Erfindung der modernen tag vor über 200 Jahren vorzustellen, den- bis zu seinem Tod in der französischen Schweiz von 1848», sagt Rothen. Die Zeit ken wir unwillkürlich an das Gemälde «Die Erweckungsbewegung, dem sogenannten davor sei möglichst düster beschrieben Dorfschule von 1848» von Albert Anker aus Réveil, engagierte. Die von Genf aus worden, um die eigenen Leistungen umso dem Jahr 1896. Darauf zu sehen ist ein hervorgegangene protestantische Bewe- heller erstrahlen zu lassen. Nicht selten Raum voller Knaben und Mädchen unter- gung stellte die Bekehrung des Einzelnen hätten diese Vorurteile auch in den Lehr- schiedlichen Alters sowie der Lehrmeister. als aktive Hinwendung zum Glauben büchern überdauert. «Als Historiker ist es In der Hand hält er einen langen Stock: und die ethische Lebensweise nach dem unsere Aufgabe, die Annahmen früherer Jederzeit bereit, um damit eine Tracht Evangelium ins Zentrum. Forschungen zu hinterfragen und Vorurteile Prügel auszuteilen. Eine Vorstellung, die aus der Welt zu schaffen.» sich bis heute hält. Umso mehr überraschen Ein ungeschliffener Diamant «Interessanterweise war Stapfer selbst die pädagogischen Gedanken des Lehrers «Die Stapfer-Enquête war ein ungeschlif- Opfer gewisser Vorurteile», sagt Schmidt. Jacob Steinmüller, der um 1800 an der fener Diamant, der nur darauf gewartet Als Minister der Helvetischen Republik habe reformierten Schule Glarus unterrichtete: hatte, gehoben und bearbeitet zu werden», Stapfer in erster Linie nach technischen De- «Zum Beschluß, merke ich auch noch sagt Heinrich Richard Schmidt, assoziierter tails gefragt: Entfernung zu anderen Schu- an, wie ich die Fehler meiner Zöglinge Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit len, Besoldung der Lehrer, Absenzen der bestraffe, und Sie in diesem Fach behandle. und des 19. Jahrhunderts am Historischen Kinder oder welche Bücher eingesetzt Stecken und Rute (welch leztere mir uner- Institut der Universität Bern. Er leitet und wurden. Ob die Kinder überhaupt Lesen träglich wäre) habe noch immer aus meiner betreut seit 2009 – gemeinsam mit und Schreiben lernten, scheint ihn nicht Schule verbannet. Jch pflege meine Kinder Kollegen der Universitäten Bern, Zürich und interessiert zu haben. «Sehr wahrscheinlich theils durch Liebe zugewinnen theils durch Luxemburg – das Editions-Projekt zur ging er von einer geringen Erfolgsquote Ehrbegierde zum Rechtthun anzufachen. Stapfer-Enquête von 1799. «Die Umfrage aus», sagt Schmidt. Muß gestraft seyn; so stelle ich die straf- ermöglicht es uns erstmals, bestimmte As- baren vor mich her, und beschäme sie, daß pekte der Schweizer Kulturgeschichte Zwischen Realität und Utopie sie nun vor allen anderen Kinderen als des ausgehenden 18. Jahrhunderts über Anstatt sich an der Gegenwart aufzuhalten, Ungehorsame, hier ausgezeichnet stehen Schweizer Kantons- und Konfessionsgren- richtete Stapfer seinen Blick lieber in die müßen. [...] Und auf diese weise habe noch zen hinweg miteinander zu vergleichen», Zukunft: Hin zur Vollendung seiner Idee des immer mehr erzweckt, als wann derbe so Schmidt. Dazu kommt: Für einmal ethischen Gemeinwesens. Stapfers Utopie Schläge ausgetheilet hätte.» sind es nicht höhere Beamte, die zu Wort einer besseren Welt war von der Philoso- Zu verdanken haben wir diese Zeilen kommen, sondern die Lehrer selbst. «Das phie Kants und der französischen Aufklä- einer Schulumfrage aus der Zeit der Helve- sind alles Stimmen von einfachen Leuten, rung ebenso geprägt wie von den religiösen tischen Republik im Jahre 1799. Verfasst die sonst im Rauschen der Geschichte Strömungen des Pietismus und der Erwe- wurde sie vom Philipp Albert Stapfer (1766 untergehen», ergänzt Marcel Rothen, ckungsbewegung. bis 1840), dem damaligen Minister für Wis- Editions-Mitarbeiter und Doktorand. Wie «Glücklicherweise liess Stapfer am Ende senschaften, Künste, Gebäude und Stras- viele andere begann er bereits während des Umfragebogens Platz für persönliche sen. Die Umfrage wollte den Zustand des des Studiums als Transkribent. Über Jahre Schlussbemerkungen», sagt Rothen. «Sie sogenannt niederen Schulwesens erfassen. hinweg beschäftigte das Projekt jeweils geben uns zusammen mit den Antworten Zudem diente sie Stapfer als Grundlage für rund zehn Studierende der Geschichte für aus dem standardisierten Fragebogen einen sein kühnes Reformprojekt zur Vereinheitli- die Aufbereitung der handschriftlichen facettenreichen Einblick in den Alltag der chung des Schweizer Bildungssystems. Quellen sowie eine Reihe weiterer Personen Menschen dieser Zeit.» Ein Alltag, in dem Ein Vorhaben, das zum Scheitern ver- in unterschiedlichen Funktionen. die Schulen ein fester Bestandteil waren: urteilt war: Nur vier Jahre nach ihrer Aus- «Dank der Edition bringen wir Licht in Die Gemeinschaft wählte den Lehrer, be- rufung wurde die Helvetische Republik eine Zeit, die bisher im Dunkeln lag», sagt stimmte im Rahmen der staatlichen Vor- 1803 von aufgelöst. Und Stapfer Rothen. Bisher sei man von einem extrem gaben die Lerninhalte und stellte das Schul- selbst liess sich bereits im Jahr 1800 vom niedrigen Bildungsniveau im 18. Jahrhun- haus – das zugleich Wohnhaus war – zur Dienst beurlauben. Denn weder von den dert ausgegangen. Das damalige Schul- Verfügung, und sie sorgte für die Entlöh- Kirchen noch von der Politik erhielt Stapfer system wurde als eine Art Indoktrinations- nung in Form von Geld und Naturalien. Die genügend Unterstützung für seine Reform- anstalt der Obrigkeit und der Kirche ange- Einrichtung einer Schule sei deshalb nicht pläne. Gemeinsam mit Frau und Kindern sehen. Geführt von unfähigen Lehrern, bei als Zwang von oben, sondern als Ausdruck

30 UniPress 166/2015 Forschung eines lokalen Bedürfnisses zu verstehen, betont Schmidt. Wie ein weiterer Dokto- rand des Projektes, Jens Montandon, he- rausgefunden habe, bestehe zum Beispiel ein klarer Zusammenhang zwischen wirt- schaftlich wichtigen, mit Verkehrswegen erschlossenen Regionen und der Existenz guter Schreib- und Rechenschulen. «Diese Dynamik ist weitaus stärker zu gewichten als staatliche Eingriffe ins Bildungswesen», so Schmidt. Fernab der wirtschaftlichen Zentren scheint die Nachfrage nach guter Bildung nicht immer vorhanden gewesen zu sein: Zutiefst resigniert erstattete etwa der Pfarrer T. A. Merian der Gemeinde Lauwil im heutigen Kanton Basel-Landschaft Be- richt über den Zustand der lokalen Schule und ihren alterschwachen 72-jährigen Titelseite der 17-seitigen Antwort des Lehrers Jacob Steinmüller aus Lehrmeister Johannes Rudy: Glarus. Im Wortlaut: Die Schule wird in Glarus, fast Mitten in dem Haupt flecken gehalten. Glarus, ist eine eigene große Gemeine, und der Haupt «Diese elende Auferziehung, welche die Ort vom District Glarus, im Canton Linth. Lauwyler empfangen, äussert sich auch in Die Haüser des Hauptfleckens Glarus sind nache beysamen gebauet; die ihrem, sowol häuslichen, als gesellschaft- Kinder die in selbigem wohnen, haben also keinen weiten Schulweg zumachen. lichen Leben. Sehr viele unter ihnen [...] sind grob, ungesittet im Umgange, zänkisch und mißgünstig; in ihren Häusern sowol als an ihrem Leibe scheinen sie in der Digitalisierung als einen Dienst an der Öffentlichkeit zu leis- äussersten Unreinlichkeit mit den Ostiaken Herausforderung und als Chance ten», sagt Schmidt zur Idee, die Edition als und Hottentotten zu wetteifern, und «Digital Humanities»-Projekt zu initiieren. ihre Kinder laufen auf den Gassen, halb- Der Schweizerische Nationalfonds finan- nackend, mit Schmutze geschminkt, wie zierte das sechsjährige Editions-Projekt mit Digitale Daten brauchen Pflege Wilde umher; überhaupt stellt dieses insgesamt zwei Millionen Franken. Ein Neben den offenkundigen Vorteilen birgt unglückliche Dorf das traurige Bild der grosser Betrag für ein Einzelprojekt. Doch die Digitalisierung eine Fülle an Herausfor- tiefsten Armuth vor, und bestätiget die es war ein höchst komplexes Unternehmen derungen: Während Bücher oder auch Mi- schon oft gemachte Erfahrung: daß Dürf- mit vielen Beteiligten, einigen Herausforde- krofilme noch nach Hunderten von Jahren tigkeit, [...] Unreinlichkeit, Barbarey und rungen und neuen Lösungen. «Umso entziffert werden können, sind digitale Unwissenheit einander gemeiniglich zu schöner ist es, dass es uns gelungen ist, Daten nichts als codierte Information. Als Gefährten haben!» eine nahezu perfekte Punktlandung hinzu- solche sind sie abhängig von einem Spei- bekommen», sagt Leiter Heinrich Richard chermedium und dem entsprechenden Kontakt: Prof. Dr. Heinrich Richard Schmidt, Schmidt im Hinblick auf den Projektab- Lesegerät sowie einem Betriebssystem und assoziierter Professor für Geschichte der schluss Ende 2015. Seit Juli sind die Tran- den dazugehörigen Programmen. Der tech- Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts, skriptionsarbeiten an den rund 2 500 nologische Wandel bedingt eine regel- Historisches Institut, Umfragebögen abgeschlossen. Digital auf- mässige Pflege der Daten. [email protected] bereitet und in eine interaktive Datenbank «Für die nachhaltige Sicherung unserer abgefüllt, stehen sie nun kostenlos und für Edition brauchte es einen Partner, der nicht Quellen und Literatur: Schmidt, H.R.; alle zugänglich auf der Stapfer-Website zur stirbt», sagt Schmidt. Ab 2016 übernehme Messerli, A.; Osterwalder, F.; Tröhler, D. Verfügung (www.stapferenquete.ch). das Schweizerische Bundesarchiv die Pflege (Hrsg.), Die Stapfer-Enquête. Edition der Zusätzlich werden alle eigenen Werke, der Datenbank und der Website: «Ein helvetischen Schulumfrage von 1799, Bern unter anderem ein Grossteil der Disserta- Glücksfall für die Edition.» Als Besitzerin 2015; Erstes Zitat: Nr. 559: Glarus, tionen der sieben Doktorierenden, in der eines Grossteils der Originalquellen habe [http://www.stapferenquete.ch/db/559]; Reihe «Studien zur Stapfer-Enquête» publi- von Anfang an eine enge Zusammenarbeit Zweites Zitat: Nr. 2224: Lauwil, ziert und – ganz im Sinne von Open mit dem Bundesarchiv bestanden. Das [http://www.stapferenquete.ch/db/2224] Access – kostenlos zum Download ange- bestätige das Potenzial und den Wert boten. «Da war einerseits der Reiz der dieser einmaligen Quellensammlung, so Digitale Edition: www.stapferenquete.ch neuen Medien, aber auch der Wunsch, Schmidt.

Forschung UniPress 166/2015 31 «Der Laborneubau ist für die Universität Bern unabdingbar»

In unmittelbarer Nähe des Inselspitals in Bern soll ein neues Laborgebäude für das Institut für Rechtsmedizin und das Departement Klinische Forschung der Universität Bern erstellt werden. Im Gespräch mit UniPress erläutert Christian Leumann, Vizerektor Forschung, warum die Universität Bern das neue Laborgebäude braucht.

Von Marcus Moser

Das Hauptgebäude des Instituts für Rechtsmedizin Im geplanten Laborneubau sollen neben dem Insti- an der Bühlstrasse 20 ist eine Ikone der architek- tut für Rechtsmedizin auch Teile des Departements tonischen Moderne und sein Erbauer Otto Rudolf Klinische Forschung (DKF) zentralisiert werden. Was Salvisberg einer der erfolgreichsten Schweizer Archi- macht das DKF? tekten des 20. Jahrhunderts. Heutigen Anforderun- Das Departement Klinische Forschung ist ein Departe- gen genügt das Gebäude nicht mehr? ment der Medizinischen Fakultät für die Forschenden Christian Leumann: Das ist leider schon länger so. Der des Inselspitals. Es ist das Bindeglied zwischen dem aussergewöhnliche, in den 1930er Jahren entstandene Inselspital und der Universität; die klinische Forschung Gebäudekomplex an der Bühl- und Balzerstrasse ist macht den Brückenschlag zwischen der Grundlagen- denkmalgeschützt. Mit der Folge, dass ein weiterer forschung und der patientenorientierten Forschung, die Ausbau der Rechtsmedizin an diesem Standort nicht direkt der Bevölkerung zugute kommt. Das Departe- möglich ist und das Institut auf 7 Standorte verteilt ist. ment Klinische Forschung stellt den in der Forschung tätigen Ärztinnen und Ärzten Infrastruktur, Laborräume Nach Jahren der Planung liegt nun eine Lösung vor: und moderne Technologien zur Verfügung und unter- Mit einem Laborneubau an der Murtenstrasse 20–30 stützt sie bei der Durchführung wissenschaftlicher vis-à-vis des Inselareals soll die Rechtsmedizin in Projekte. Heute sind am DKF rund 45 Forschungs- einem Gebäude konzentriert werden. gruppen aus praktisch allen Bereichen der biomedizi- Das ist dringend nötig; die aktuelle Situation ist untrag- nischen Forschung tätig. bar geworden. Die veraltete Infrastruktur und die Ver- teilung auf mehrere Standorte beeinträchtigen die Mit dem Neubau an der Murtenstrasse können Dienstleistung und die Arbeitsbedingungen der Mit- die Standorte des DKF von 11 auf 6 reduziert arbeitenden erheblich. Angestellte, die im Rahmen ihrer werden. Was versprechen Sie sich von dieser täglichen Arbeit mit teils dramatischen Schicksalen Zusammenführung? konfrontiert werden, erbringen ihre Arbeit aktuell in Die Standortkonzentration in unmittelbarer Nähe zum Kellerräumen oder containerartigen Büroprovisorien. Inselspital schafft Synergien bei Infrastruktur und Personal und ermöglicht damit Einsparungen. Das tönt ziemlich verschieden zu den Bildern, die Forschungsgruppen mit verwandten Fragestellungen uns US-amerikanische Fernsehserien von der Rechts- können so an einem Ort zusammengefasst, Doppel- medizin vermitteln ... spurigkeiten in der Anschaffung von Geräten konse- Wir sind hier wirklich in einer heiklen Situation: Die quent vermieden und die kompetente Betreuung und Rechtsmedizin dient unserem Rechtsstaat; eine effizi- Beratung der Forschenden vereinfacht werden. Damit ente Strafverfolgung ist Grundlage jedes Rechtssystems. schaffen wir einen Mehrwert für die Forschenden und Aktuell arbeiten über 140 hochqualifizierte Spezialis- letztlich auch für die Patientinnen und Patienten, die tinnen und Spezialisten am Institut für Rechtsmedizin von der klinischen Forschung profitieren. und liefern mit ihren Untersuchungen die Grundlagen für Strafuntersuchungen und Gerichtsurteile. Das Sie haben die Nähe zum Inselspital erwähnt. Ist das Institut braucht moderne Labors, um die notwendigen der Hauptvorteil des Standorts Murtenstrasse 20–30? Grundlagen weiterhin zuverlässig liefern zu können; der Die Murtenstrasse ist Teil der langfristigen Entwicklungs- Neubau ist für uns unabdingbar. planung – sowohl von der Universität wie vom Insel-

32 UniPress 166/2015 Gespräch «Der Gesundheitsstandort Bern wird durch das Bauprojekt Murtenstrasse 20–30 in unmittelbarer Nähe zum Inselspital massgeblich gestärkt. » Christian Leumann

spital. Geografisch bildet sie das Bindeglied zwischen eingerichtet werden. Ist die Zucht und Haltung von den Standorten der Universität in der Länggasse und Labormäusen auch eine Dienstleistung des DKF? dem Inselspital – und inhaltlich, wie erwähnt, zwischen Ja. Bereits heute unterhält das DKF Tierställe und der Grundlagenforschung und der patientenorientierten züchtet Mäuse für Tierversuche im Zusammenhang mit klinischen Forschung. Der Gesundheitsstandort Bern der biomedizinischen Forschung. Für uns entscheidend wird durch das Bauprojekt Murtenstrasse 20–30 in un- ist, dass dank dem geplanten Neubau an der Murten- mittelbarer Nähe zum Inselspital massgeblich gestärkt. strasse 20–30 die Zucht und Haltung der Mäuse von den Versuchen klar getrennt werden können. Damit Wie soll das Gebäude aussehen? werden zeitgemässe Voraussetzungen für die Zucht von Gebaut werden soll ein Laborgebäude mit einer Haupt- Mäusen geschaffen und ihre Haltungsbedingungen nutzfläche von 9200 Quadratmetern. Das Gebäude hat optimiert, was die Tiere vor Infektionen schützt und fünf Untergeschosse, ein Erdgeschoss, fünf Oberge- letztendlich hilft, die Anzahl benötigter Tiere pro unum- schosse und ein Attikageschoss. Das Gebäude verfügt gänglichem Versuch ebenfalls zu reduzieren. über eine anspruchsvolle Haustechnik, da für die Labors aufwändige Lüftungs- und Sicherheitsanlagen erforder- Sie sprechen von unumgänglichen Versuchen. Aber lich sind. Das Gebäude ist allerdings nutzungsneutral braucht es heute noch Tierversuche? geplant. Das heisst, dass Labor- und Büroräume je Tierversuche sind in der Schweiz seit 1991 streng regu- flexibel an wandelnde Raumbedürfnisse angepasst liert. Für Kosmetik und Haushaltsprodukte dürfen in der werden können. Zudem wird der Neubau zeitgemäss im Schweiz seit 1995 keine Tierversuche mehr durchge- Minergie-P-Eco-Standard für nachhaltiges Bauen erstellt; führt werden. Um hingegen neue Therapien gegen die Umweltbelastung durch das Gebäude wird also Krankheiten wie Krebs, Demenz, Diabetes und andere gering sein. entwickeln zu können, sind zum heutigen Zeitpunkt neben Computersimulationen und Untersuchungen an Kantonsparlament und Regierungsrat stehen dem Bauprojekt positiv gegenüber. In der Schluss- abstimmung wurde die Vorlage ohne Gegen- Laborneubau Murtenstrasse 20–30 stimmen angenommen. Trotzdem wurde von Tier- versuchsgegnern das Referendum ergriffen, womit In unmittelbarer Nähe des Inselspitals in Bern soll ein das Projekt der Volksabstimmung unterbreitet wird. neues Laborgebäude für das Institut für Rechtsmedizin Waren Sie überrascht? und das Departement Klinische Forschung der Uni- Der Grosse Rat hat den Kredit an das Bauvorhaben mit versität Bern erstellt werden. Mit dem Neubau sollen 139 zu 0 Stimmen genehmigt. Insofern konnte dieser die dringend benötigten Räumlichkeiten für die Fortgang tatsächlich nicht erwartet werden, zumal nicht moderne medizinische Forschung und die Rechts- über Tierversuche, sondern über einen Ausführungs- medizin bereitgestellt werden. Der Grosse Rat hat mit kredit für ein Laborgebäude abgestimmt wird. 139 zu 0 Stimmen bei 2 Enthaltungen einen Aus- führungskredit von 141,6 Millionen Franken für das Der Stein des Anstosses: Auf 1000 Quadratmetern – Bauvorhaben bewilligt. Gegen diesen Beschluss wurde knapp zehn Prozent der Hauptnutzfläche – soll eine das Referendum ergriffen. Die Abstimmung findet am Zuchtanlage für Labormäuse mit Nebenräumen 28. Februar 2016 statt.

Gespräch UniPress 166/2015 33 Zellen und Geweben in Kulturen auch Versuche mit organisationen. Das Bundesamt für Lebensmittelsicher- lebenden Tieren von entscheidender Bedeutung. heit und Veterinärwesen BLV hat die Oberaufsicht und gleichzeitig auch ein Beschwerderecht gegen die kanto- Gemäss offizieller Statistik des Bundesamts für nalen Bewilligungen. Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV Die Antragsstellenden müssen im Gesuch aufzeigen, waren an der Universität Bern 2014 rund 36 000 dass der Erkenntnisgewinn durch einen Versuch höher Tiere in Tierversuchen. Eine beträchtliche Anzahl. zu gewichten ist als die negativen Einflüsse auf die Die Zahl wirkt hoch. Aber bedenken Sie: Als Tierversuch Versuchstiere (sogenannte «Güterabwägung»). gilt in der Schweiz jede Handlung mit einem lebenden Ausserdem muss belegt werden, dass der Tierversuch Tier, die dem Erkenntnisgewinn dient. Diese allgemeine unumgänglich ist für den Erkenntnisgewinn und keine Definition schliesst also an der Universität Bern auch Alternativmethode angewendet werden kann. Auch Versuche zur Verbesserung des Tierwohls oder die Erfor- muss über die Belastung der Versuchstiere Rechenschaft schung von Wildtieren mit ein. So gilt ein Versuch mit abgelegt werden. Hühnern zur Optimierung von Haltungsbedingungen genauso als Tierversuch wie wenn das Verhalten von Wie ist die Haltung und die Zucht von Versuchs- Kohlmeisen in der Natur beobachtet wird oder Versuche tieren geregelt? in der biomedizinischen Grundlagenforschung durchge- Die Haltung und Zucht von Versuchstieren ist genauso führt werden. In der Schweiz ist grundsätzlich jeder bewilligungspflichtig. Es gelten hohe Anforderungen an Versuch mit einem lebenden Tier bewilligungspflichtig! die Unterbringung und die Pflege: Nur ausgebildete Tierpflegerinnen und Tierpfleger sowie Veterinäre Es ist also wichtig, die Art und Weise der Tierver- kümmern sich um die Tiere. Die Verantwortlichen der suche zu unterscheiden? Versuchstierhaltungen sind verpflichtet, den kantonalen Damit man die absolute Zahl der Tierversuche besser Behörden die Anzahl der in ihrem Betrieb geborenen einordnen kann, ist die Differenzierung nach Schwere- und gehaltenen Tieren zu melden. Alle Personen, die graden hilfreich: In der Schweiz werden 4 Schweregrade Tierversuche durchführen, müssen eine entsprechende von 0 bis 3 unterschieden. Die Schweregrade 0 und 1 Aus- und Weiterbildung absolviert haben. Sodann bezeichnen keine, respektive bloss leichte Auswir- kontrollieren der Veterinärdienst und die Mitglieder der kungen auf das Wohlergehen der Tiere. Der Schwere- Tierversuchskommission die Versuchstierhaltungen jähr- grad 2 entspricht einer mittleren Belastung, der Schwe- lich nach den Vorgaben der eidgenössischen Tierschutz- regrad 3 einer massiven Belastung des Versuchstiers. gesetzgebung.

Wie sehen die Zahlen für die Universität Bern aus? Die Referendumsträger werfen der Universität Bern In den Jahren 2004 bis 2014 waren 85,5 Prozent der vor, die Suche nach Alternativen zu vernachlässigen. Tierversuche an der Universität Bern den Schwere- Damit spielen Sie auf ein Thema an, über das die breite graden 0 (41,4 Prozent) und 1 (44,1 Prozent) zuzu- Bevölkerung in der Schweiz zu wenig weiss: das ordnen, was keine oder nur eine leichte Belastung Konzept der 3R. Die 3R stehen für Replace (Ersatz von bedeutet. 12,2 Prozent entfielen auf den Schweregrad Tierversuchen mit geeigneten Alternativmethoden), 2. Einem Versuch mit Schweregrad 3 waren 2,3 Prozent Reduce (Reduktion der Anzahl benötigter Tiere im der Versuchstiere ausgesetzt. Es ist gesetzliche Pflicht, Versuch) und Refine (Verminderung der Belastung der die Belastung der Versuchstiere möglichst gering zu Tiere bei der Haltung und im Versuch). In der Schweiz halten und in den Versuchen nur die kleinst notwendige fördert die «Stiftung Forschung 3R» die Forschung auf Anzahl Tiere einzusetzen. dem Gebiet der Alternativmethoden zu Tierversuchen durch die Finanzierung von Forschungsprojekten. Die Warum braucht die Universität Bern eine neue Universität Bern stellt im Expertenausschuss der «Stif- Zuchtstation für Labormäuse? tung Forschung 3R» vier von neun Vertreterinnen und Das neue Laborgeäude schafft zeitgemässe Voraus- Vertretern der universitären Hochschulen sowie den setzungen für die Versuchstiere und optimiert die Vorsitzenden. Wenn Sie die Forschungsdatenbank der Haltungsbedingungen von der Unterbringung bis zur Stiftung durchsuchen, stossen Sie auf viele Projekte von Pflege. Eine qualitativ hochwertige Tierhaltung ist Bernerinnen und Bernern. Zudem verfügt die Universität Voraussetzung für aussagekräftige und reproduzierbare Bern mit Professor Hanno Würbel über die einzige Resultate – zum Beispiel in klinischen Tierversuchen im Professur für Tierschutz in der Schweiz mit Schwerpunkt Dienst der Gesundheit von Patientinnen und Patienten. auf den 3R-Prinzipien. Würbels Forschung hat beispiels- Der Einsatz von Versuchstieren ist streng reglementiert weise auch dazu beigetragen, die Haltungsbedingungen und muss, wo immer möglich, durch Alternativme- von Labormäusen weltweit zu verbessern. Der Universi- thoden ersetzt werden. tät Bern vorzuwerfen, dass sie im Bereich der 3R inak- tiv sei, ist schlicht falsch. Wir haben unseren Willen zum Es wird immer wieder gesagt, die Schweiz habe eine Fortschritt in diesem Bereich in einem Grundsatzpapier der konsequentesten Tierschutzgesetzgebungen, der Konferenz der Universitätsrektorinnen und -rektoren auch im Versuchstierbereich. CRUS (heute: swissuniversities) klar unterstrichen. Zu Recht: Sämtliche Eingriffe und Handlungen an Tieren zu Versuchszwecken bedürfen einer Bewilligung der Muss zur Stärkung der 3R in der Schweiz aber nicht zuständigen kantonalen Behörde aufgrund einer mehr unternommen werden? Der Bundesrat schlägt Empfehlung der unabhängigen kantonalen Tierver- in einem Bericht vom Juli 2015 zum Beispiel die suchskommission. Diese besteht aus Fachspezialistinnen Schaffung eines nationalen 3R-Kompetenzzentrums und Fachspezialisten sowie Mitgliedern von Tierschutz- vor.

34 UniPress 166/2015 Gespräch «Wir stimmen Ende Februar 2016 über einen Ausführungskredit für ein Laborgebäude ab, nicht über Tierversuche.» Christian Leumann

Das Konzept der 3R ist an der Universität Bern bei allen, die Zucht und Haltung von Labormäusen eine Belas- die mit Tieren forschen, tief verankert. Entsprechend tungsminderung für diese Tiere. unterstützt die Universität Bern im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch diesen Vorschlag des Bundesrats. Kontakt: Prof. Christian Leumann, Vizerektor Forschung, 2012 hat die CRUS das Swiss Animal Facilities Network [email protected] SAFN gegründet. Das Netzwerk verfolgt auch das Ziel, die Standards für die Haltungsbedingungen von Versuchstieren zu vereinheitlichen und zu verbessern. Dadurch soll der Austausch von Versuchstieren zwischen Weitere Informationen zum Laborneubau an der Forschenden verschiedener Standorte in der Schweiz Murtenstrasse 20–30 finden Sie ab Dezember auf der gefördert und die Anzahl der Versuchstiere reduziert Website der Universität Bern www.unibe.ch werden. Wir sind der Ansicht, dass auch die geplante hochmoderne Zucht- und Haltungsanlage an der Murtenstrasse 20–30 ein Beitrag zur Belastungsminde- rung unserer Labormäuse ist und damit ein Beitrag im Prof. Christian Leumann ist seit 1993 als ordentli- Sinne der 3R. cher Professor für bioorganische Chemie am Departe- ment für Chemie und Biochemie der Universität Bern Ende Februar 2016 wird über das Finanzreferendum tätig. Von 2000 bis 2009 war er Mitglied des For- abgestimmt. Warum sollen die Bernerinnen und schungsrats des Schweizerischen Nationalfonds. Seit Berner den Kredit für das neue Laborgebäude 2011 betreut Leumann als Vizerektor die Forschung bewilligen? an der Universität Bern. Ebenfalls seit 2011 gehört er Wir stimmen über einen Ausführungskredit ab, nicht dem Stiftungsrat und dem Stiftungsratsausschuss des über Tierversuche. Der Laborneubau an der Murten- Nationalfonds an. Im April 2015 wählte der Berner strasse 20–30 ist eine dreifache Investition in die Regierungsrat Christian Leumann zum künftigen Zukunft: Sie sichert die hochprofessionelle Arbeit der Rektor der Universität Bern. Rechtsmedizin und trägt damit zur Stabilität des Rechts- staats bei. Sie erlaubt mit der weiterführenden Konzen- tration des Departements Klinische Forschung in unmit- telbarer Nähe zum Inselspital hochstehende klinische UniPress Gespräch als Podcast Forschung zum Wohl von Patientinnen und Patienten. Sie können ein Interview mit Christian Leumann Und sie ermöglicht mit der hochmodernen Anlage für hören. Podcast unter www.unipress.unibe.ch.

Gespräch UniPress 166/2015 35 «Ich mache keine halben Sachen»

Noemi Zbären ist Hürdenläuferin und Master- Studentin an der Universität Bern. Eine Begegnung mit einer sympathischen jungen Frau, die trotz grosser Selbstdisziplin ein kleines Laster hat.

Von Brigit Bucher

Noemi Zbären hat mit ihren 21 Jahren bereits Beachtliches schaften wie Physik und Chemie habe sie schon immer geleistet. Nicht nur ist sie vergangenen Juli U-23-Europa- gerne gemocht. Sie habe nicht erwartet, dass das Stu- meisterin über 100 Meter Hürden geworden und belegte dium so viel Zeit in Anspruch nimmt, erzählt sie mit ent- im August den sechsten Rang im WM-Finale in Peking. waffnender Ehrlichkeit. Ihr gefällt es, häufig im Labor tätig Neben diesen sportlichen Erfolgen hat Noemi Zbären zu sein. Und wissbegierig sei sie, sagt sie. Den Bachelor in soeben den Bachelor in Biochemie an der Universität Bern Biochemie hat Noemi Zbären in der kürzest möglichen abgeschlossen und studiert nun im Master Immunologie Zeit absolviert. Für ihre Bachelorarbeit hat sie das Protein und Mikrobiologie. TbMsp1 in Trypansoma brucei, einem einzelligen Parasiten und Krankheitserreger, charakterisiert. Für den Master will Noemi Zbären überlegt nicht lange. Ihre Antworten sind sie sich etwas mehr Zeit nehmen. Es stehen nämlich bestimmt, manchmal holt sie aus, antwortet aber am Ende nächsten Sommer mit den Europameisterschaften in immer präzis auf die Frage, die ursprünglich gestellt wurde. Amsterdam und den Olympischen Spielen in Rio zwei Sie scheint jünger als am Fernsehen und auch zierlicher. tolle sportliche Herausforderungen vor der Tür. Erkennt- nisse aus dem Studium helfen ihr zu verstehen, wie ihr Auf zwei Gebieten unter grossem Leistungsdruck zu Körper funktioniert. Und auch, warum sie überhaupt zu stehen – wie hält die junge Frau das aus? Insbesondere da solchen Spitzenleistungen fähig ist im Sport. Mit dem ihr im Bereich des Sports quasi die Welt zuschaut – bei Studium sorge sie aber vor allem für ihre Zukunft vor, Erfolg und Misserfolg. Sie sagt, dass sei für sie kein grosses wenn sie dann vom Sport pensioniert sei. Auf die Frage Problem, da sie selbst es sei, die sich den grössten Druck nach dem Berufswunsch sagt sie, dass es eine grosse Rolle auferlege. Schwieriger wäre es, wenn der Druck vor allem spiele, zu welchem Thema man seine Master- und Doktor- von aussen käme. Paradox daran ist: «Je bessere Leis- arbeit schreibe. In der Forschung möchte sie jedenfalls tungen ich erbringe, umso grösser ist der Druck, den ich später tätig sein. mir selber mache.» Es liege in ihrer Natur, dass sie immer besser werden wolle. Selbstbestimmt und energisch ist sie. Wichtig ist ihr, dass sie immer gut vorbereitet ist und sich «parat» fühlt, egal Immer wieder betont Noemi Zbären, dass sie Freude hat, ob sie bei einem Wettkampf oder für eine Prüfung an der an dem, was sie tut, an der Uni und auch im Sport. Das Uni antritt. Selbstbewusst sagt Noemi Zbären: «Ich mache nimmt man ihr ab. keine halben Sachen».

Wie kam sie dazu, Biochemie zu studieren? Ihr Onkel ist Für die Disziplin Hürdenlauf hat sie sich nicht bewusst Immunologe, das habe sie geprägt. Die exakten Wissen- entschieden. Sie trainiert auch Mehrkampf. Dazu gehören

36 UniPress 166/2015 Begegnung auch Kugelstossen, Weitsprung und Hochsprung. Die geübt ist im Umgang mit Medienschaffenden. Sie hat Hürden, das sei halt die Disziplin, wo sie die besten Leis- sich den alten Anatomiehörsaal als Ort ausgesucht, wo tungen erbringen könne und die grössten Chancen habe, sie fotografiert werden möchte. Noemi Zbären mag den sich international zu profilieren. Aber ein breites Spektrum Raum, in dem sie oft Vorlesungen besuchte. Die Böden an Übungen sei wichtig, erklärt sie, weil Hürdenlaufen knirschten so schön, findet sie. Sie posiert gekonnt, ist doch etwas einseitig sei und verhindert werden soll, dass aber sichtlich froh, als die Bilder im Kasten sind. Vom sie in eine muskuläre Dysbalance gerät. Bescheidene acht Verband aus konnte sie ein Medientraining absolvieren. Stunden pro Woche beträgt der zeitliche Aufwand fürs Zeitungen liest sie aber keine mehr. Zu sehr hat sie sich ein Training. Aussergewöhnlich ist auch, dass Noemi Zbären paar Mal geärgert, wenn sie falsch zitiert, ihr Worte in den nicht in einem Zentrum für Hochleistungssportlerinnen und Mund gelegt oder sie von Medienschaffenden in eine -sportler trainiert. Sie ist ihrem Verein, dem SK Langnau bestimmte Rolle gedrängt wurde. Fragen, die die Antwort treu geblieben. Das Umfeld ist familiär: Das Betreuerteam bereits implizit enthalten, mag sie gar nicht. Oft wird sie um sie besteht aus ihrer Trainerin Gabi Schwarz, deren direkt nach dem Rennen um eine persönliche Analyse Mann und ihrem Vater. Oft sind auch die Kinder von Gabi vor laufender Kamera gebeten. Das sei manchmal unan- Schwarz dabei. An den Wettkämpfen wird sie auch von genehm, insbesondere, wenn sie das Rennen als technisch ihrer Familie angefeuert, die sie sowieso sehr unterstütze. gut empfand, ihre Bestzeit aber vielleicht nicht unter- Noemi Zbären sieht keinen Anlass, an diesem Setting etwas boten hat. Und sie sagt, sie sei froh, dass sich die Medien zu ändern, denn «meine Leistungen sind ja bestechend». nicht für ihr Privatleben interessieren; sie sei schliesslich Und dann erwähnt sie nebenbei, dass sie auch im Verein vergeben und deswegen uninteressant, fügt sie lakonisch Konkurrenz habe, es sei halt einfach so, dass sie gegen die hinzu. Männer antrete oder dass die Person, die neben ihr läuft, keine Hürden habe, die es zu überlaufen gilt. Bei so viel Selbstdisziplin und Ehrgeiz bleibt die Frage, ob sie denn ein Laster habe. Sie lacht: «Ich mag gerne Süsses. Eine gewisse Geborgenheit scheint also wichtig zu sein in Ich ernähre mich zwar ausgewogen, aber einen strikten ihrem Leben. Die Mutter sorgt sich, dass die Tochter nicht Ernährungsplan habe ich nicht. Das würde meine Lebens- genug Zeit für sich und die Regeneration hat. «Das ist ja qualität dann doch zu stark einschränken.» aber normal für eine Mutter. Ich kenne meine Grenzen schon», sagt Noemi Zbären dazu. Kontakt: [email protected]

Das Medieninteresse an Noemi Zbären ist gross und wird immer mehr. Auch beim Fotoshooting merkt man, dass sie

Begegnung UniPress 166/2015 37 Peter V. Kunz, Prof. Dr. iur., Rechtsanwalt, LL.M. (Georgetown University/USA), war viele Jahre als praktizierender Rechtsanwalt in der Zürcher Wirtschaftsadvokatur tätig. Seit dem Jahr 2005 ist er als Ordinarius der geschäftsführende Direktor am Institut für na- tionales und internationales Wirtschaftsrecht der Universität Bern (www.iwr.unibe.ch) und beschäftigt sich mit wirtschaftsrechtlichen Themen (etwa zum Aktienrecht oder zum Bankrecht) sowie mit rechtsvergleichenden Fragestellungen. Seit dem 1. August 2015 ist Kunz ausserdem Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät; in diesem Zusammenhang kümmert er sich um Anliegen und um die Ausbildung von Studierenden.

Die hier geäusserte Meinung muss nicht der Auffassung von Redaktion oder Universitätsleitung entsprechen.

Ein Weckruf für Studierende

Von Peter V. Kunz

Als Dekan an der Universität Bern ist es mir Sie umgehend ab. Sie sind es niemandem 7. Allgemeinbildung und Sprachen- ein Anliegen, den Neustudierenden – nicht schuldig zu studieren, doch Sie schulden es kompetenz: Grundlage jeder akademischen allein den angehenden Juristen – einige nicht zuletzt sich selber, weder Zeit noch Ausbildung, als Basis einer vertieften Fach- subjektive «Wahrheiten» für ein erfolg- Ressourcen unnütz zu verschwenden. Sie ausbildung, ist eine umfassende Allgemein- reiches Studium darzulegen. Genauso ange- haben zahlreiche Alternativen: Gehen Sie bildung. Zwar lese auch ich «20 Minuten» sprochen sind fortgeschrittene Studierende «richtig arbeiten», wechseln Sie an eine sowie «Blick am Abend» und weiss, welche sowie das Umfeld – etwa Eltern, Politik, Fachhochschule, gründen Sie «Facebook II». Hobbies der aktuelle «Bachelor» hat, doch Lehrerschaft und Universitätsleitung. Ich 4. Leistungen und Leistungsbereit- dies allein genügt an einer Universität nicht. wende mich in direkter Rede an die Studi- schaft: Seien Sie nicht naiv, machen Sie sich Zudem muss ein Auslandsaufenthalt renden mit folgenden Gedanken, sozu- keine Illusionen. Weder blaue Augen noch während oder nach dem Studium dringend sagen als persönlicher Weckruf: «innere Werte», sondern messbare Leis- empfohlen werden. Als zentral, und zwar 1. Stolz und Dankbarkeit: Seien Sie tungen (Stichwort: gute Noten) entscheiden für jedes Studium, erweist sich schliesslich stolz, studieren zu dürfen. Sie haben das über Ihr Fortkommen, zumindest beim die Sprachenkompetenz – und jetzt Recht dazu weder gestohlen noch ge- ersten Job. Wir sind eine Leistungsgesell- kommt’s: Im Vordergrund stehen nicht schenkt erhalten, sondern hart erarbeitet schaft («Survival of the Fittest»), wenn auch unsere Amtssprachen, sondern Englisch. und nicht in irgendeiner talentfreien mit schlechtem Gewissen dafür, deshalb 8. Studierende und Lehrkörper: Es ist Talentshow «er-sungen», «er-tanzt» oder sollten Sie schon früh an Ihrem Lebenslauf nicht Aufgabe der Dozierenden, Show- «er-modelt». Doch bleiben Sie auf dem arbeiten. master zu sein. Professorinnen und Profes- Boden, denn Sie haben es wohl nicht gänz- 5. Seriosität des Studierendenlebens: soren sollten gegenüber Studierenden lich alleine geschafft, sondern hatten Ihr Studium ist ein unbezahlter Beruf und unterstützend und professionell sein, aber: Unterstützung etwa bei der Familie, bei nicht ein lustiges Hobby, also sollten Sie Wir sind nicht Ihre Babysitter. Wenn wir uns Freunden, bei Mentoren und nicht zuletzt sich entsprechend verhalten, denn studieren für Sie vorbereiten, sollten Sie sich ebenfalls beim Staat; vergessen Sie auch in Zukunft bedeutet investieren in die eigene Zukunft. (etwa für Vorlesungen) vorbereiten. Ich will diese Förderer nicht. Dies darf durchaus im Auftritt erkennbar nicht «Götti» Ihrer Kinder werden, sondern 2. Studienwahlfreiheit: Es gehört zum sein; für Vorlesungen sollte somit eigentlich möchte mit Ihnen als jungen Kolleginnen guten universitären Ton, die Studienwahl- ein ähnlicher Dresscode wie beim Job und Kollegen debattieren können. freiheit ebenso stark zu verteidigen wie den gelten: keine rückwärts gedrehten Baseball- Diese Ansichten dürften teils «politisch Numerus clausus abzulehnen. Doch machen Kappen, und die Jeans gehören nicht an die unkorrekt» erscheinen und werden wir es uns da nicht zu einfach? Bei aller Knie. sicherlich nicht von allen Universitäts- Übereinstimmung zum Grundsätzlichen 6. Eigenverantwortung: Vieles – wenn kolleginnen und -kollegen geteilt – sei’s müsste klar sein, dass jeder Studierende das nicht sogar fast alles – hängt von Ihrer drum! Eine starke Gesellschaft zeichnet Studium wählen sollte, das ihn (erstens) Einstellung ab. Als Studierende sind Sie sich dadurch aus, dass sich Andersden- interessiert, für das er (zweitens) geeignet eigenverantwortlich. Sollten Sie im Studium kende pointiert zu äussern vermögen. erscheint und das ihm (drittens) eine gute scheitern, sind weder Ihre Eltern noch die Persönlich hoffe ich darauf, dass die ak- Jobperspektive gewährt. Das Motto lautet: «Gesellschaft» und wohl erst recht nicht tuelle Studierendengeneration wieder etwas rationaler Egoismus und gesunder Men- die Professorenschaft, sondern (vermutlich) unangepasster wird und vermehrt konstruk- schenverstand statt Numerus clausus. Sie selber schuld. Bemühen Sie sich also tive Querdenkerinnen und Querdenker 3. Abbruch des Studiums: Investieren Sie selber um studentischen Erfolg. Dabei ist hervorbringt. keine wertvolle Lebenszeit, wenn Ihnen die Fleiss meist wichtiger als Talent. Unbesehen Begeisterung zum Studieren fehlt. Wenn dessen: Geniessen Sie das Studium in sinn- Kontakt: Prof. Dr. Peter V. Kunz, Sie eine Studienrichtung oder das Studium voller Weise, denn Sie werden nie wieder Institut für Wirtschaftsrecht (IWR), generell nicht überzeugen, dann brechen solche Freiheiten erleben. [email protected]

38 UniPress 166/2015 Meinung BÜCHER

Expertenkritik im Mittelalter Intermedialität in der Literatur Der Herzchirurg und seine Patienten Die Beiträge der Reihe «Randgänge der Me- Dieses Handbuch bietet einen Überblick über Zwanzig Patientinnen und Patienten erzählen diävistik» befassen sich mit vermeintlich entle- das Forschungsfeld der Intermedialität und in diesem Buch, wie sie die Eingriffe an ihrem genen Phänomenen der mittelalterlichen thematisiert laufende akademische Debatten Herzen in der Klinik für Herz- und Gefäss- Kultur. Band 4 beschäftigt sich mit der Kritik ebenso wie theoretische Konzepte und chirurgie des Inselspitals erlebt haben. an den Scholastikern und an Experten im Methodologie. Die Beiträge beinhalten nebst Prof. Thierry Carell kommentiert die Eingriffe Mittelalter, Band 5 mit den Wiederholungs- theoretischen Ansätzen auch praktische aus ärztlicher Sicht und erzählt, was ihn als strukturen in hochhöfischem Erzählen. Analysen literarischer Texte aus verschiedenen Chirurg und als Mensch bewegt. Er spricht Jahrhunderten und anglophonen Kulturen. über Teamarbeit in der Klinik und im Opera- Die Kritik an den Scholastikern und an Ex- tionssaal, über Möglichkeiten der Medizin, perten während des späteren Mittelalters Handbook of Intermediality: Organmangel und Organspende, Erfolg und Randgänge der Mediävistik – Band 4, Literature – Image – Sound – Music Misserfolg. Michael Stolz (Hrsg.), Frank Rextroth – 2015, Handbooks of English and American Studies 54 S., broschiert, Stämpfli Verlag AG, (Text and Theory) Thierry Carrel – von Herzen ISBN 978-3-7272-1449-3 Gabriele Rippl (Hrsg.) – 2015, 691 S., geb. Walter Däpp – 2015, 212 S., geb. Ausgabe, Wiederholungsstrukturen Ausgabe, De Gruyter Mouton, Weber Verlag, ISBN 978-3-85932-762-7 in hochhöfischem Erzählen ISBN-13 978-3110308365 Randgänge der Mediävistik – Band 5, Michael Stolz (Hrsg.), Rainer Warning – 2015, 36 S., broschiert, Stämpfli Verlag AG, ISBN 978-3-7272-1450-9 ......

Das Werk von Karl Jaberg 50 Jahre Fuzzy Sets Modelle der Kunstbetrachtung Der Band widmet sich dem Schweizer Vor fünfzig Jahren publizierte Lotfi Zadeh den Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich Linguisten Karl Jaberg und seinem um- Beitrag «Fuzzy Sets» in der Zeitschrift Informa- mit der Beziehung zwischen Werk und Rezi- fangreichen Gesamtwerk, das sich über mehr tion and Control. Das Themenheft des Infor- pient. Thematisiert werden sowohl künstle- als ein halbes Jahrhundert erstreckt. Der Band matik-Spektrums geht auf die grundlegenden rische Konzeptionen sowie Projekte zur beinhaltet zudem ein «Dossier K. Jaberg», Konzepte und Methoden von Fuzzy Sets ein Vermittlung von Kunst und Rezeptions- das die komplette Bibliografie des Autors und stellt exemplarisch ihre Anwendung in ästhetik. Fallstudien und Diskussionen thema- sowie eine Auswahl seiner weniger bekannten unterschiedlichen Bereichen dar. Gastheraus- tisieren den Grad an Freiheit, die der Figur des Texte umfasst. geber des Themenhefts «50 Jahre Fuzzy Sets» Betrachters zugestanden werden soll. sind Prof. Edy Portmann, Universität Bern und Karl Jaberg: linguistique romane, PD Rudolf Seising, Universität Jena. Paradigmen der Kunstbetrachtung – géographie linguistique, théorie du Aktuelle Positionen der Rezeptionsästhetik langage 50 Jahre Fuzzy Sets und Museumspädagogik Anne-Marguerite Fryba-Reber, Pierre Swiggers Edy Portmann, Rudolf Seising (Hrsg.) – Heft 6 Kunstgeschichten der Gegenwart, Band 12 (Hrsg.) – 2015, 235 S., Orbis Supplementa, (2015) Informatik-Spektrum, Peter J. Schneemann (Hrsg.) – 2015, 280 S., 42, Peeters Publishers, ISSN 0170-6012 (gedruckte Version) 68 s/w Abbildungen, Softcover broschiert, ISBN 978-90-429-3192-3 Peter Lang, ISBN 978-3-0343-1515-9 ......

Bücher UniPress 166/2015 39 Impressum

UniPress 166 Dezember 2015 / 39. Jahrgang Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern Herausgeberin: Corporate Communication Leitung: Marcus Moser Redaktion: Marcus Moser (marcus.moser@ kommunikation.unibe.ch); Timm Eugster ([email protected]) Mitarbeit: Brigit Bucher (brigit.bucher@kommunika- tion.unibe.ch); Julia Gnägi (julia.gnaegi@ kommunikation.unibe.ch); Marla Moser (marla. [email protected]) Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe: Vorschau Heft 167 Tara L. Andrews ([email protected]); Thomas Berger ([email protected]); Mira Burri ([email protected]); Sara D´Onofrio (sara. [email protected]); Hanna Krasnova (krasnova@ IN ALLER MUNDE uni-potsdam.de); Peter V. Kunz (peter.kunz@iwi. unibe.ch); Thomas Myrach (thomas.myrach@iwi. Essen ist in aller Munde: «Von allem nun, was den Menschen unibe.ch); Edy Portmann ([email protected]. ch); Vicenzo Sciacca ([email protected]); gemeinsam ist, ist das Gemeinsamste: dass sie essen und Matthias Stürmer ([email protected]); trinken müssen.» Damit formulierte Georg Simmel bereits Eno Nipp ([email protected]); Susanne Wenger 1910 den kleinsten gemeinsamen Nenner. Über alle anderen ([email protected]) Bildnachweise: Titelbild, Seiten 1, 3, 4, 9, 10, 14, Aspekte aber wird seither gestritten. Das Collegium generale 19, 20 und 24: © Daniel Osterwalder der Universität Bern widmet dem Essen den Vorlesungszyklus Seite 29: © Abb. li: Anna Wyss, Abb. re: Tobias Eule im Frühjahr; UniPress seinerseits den Schwerpunkt der Seite 31: © www.stapferenquete.ch/db/559 Seite 33 und 35: © Adrian Moser nächsten Nummer. Seiten 36 und 37: © Manu Friederich, Aufnahmen im alten Anatomiehörsaal mit freund- licher Genehmigung des Instiuts für Anatomie Seite 38: © Peter V. Kunz Seite 40: © iStock Gestaltung: 2. stock süd, Biel ([email protected]) Layout: Patricia Maragno (patricia.maragno@ kommunikation.unibe.ch) Redaktionsadresse: Universität Bern Corporate Communication Hochschulstrasse 6 3012 Bern Tel. 031 631 80 44 [email protected] Anzeigenverwaltung: Stämpfli AG Postfach 8326 3001 Bern Tel. 031 300 63 88 Fax 031 300 63 90 [email protected] Druck: Stämpfli AG, Bern Auflage: 13 500 Exemplare Erscheint viermal jährlich, nächste Ausgabe April 2016 Abonnement: UniPress kann kostenlos abonniert werden: Stämpfli AG, Abonnements-Marketing, Wölflistrasse 1, Postfach 8326, 3001 Bern, Tel. 031 300 63 42, Fax 031 300 63 90, [email protected] ISSN 1664-8552

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck von Artikeln mit Genehmigung der Redaktion.

PERFORMANCE

neutral Drucksache No. 01-15-524381 – www.myclimate.org © myclimate – The Climate Protection Partnership

40 UniPress 166/2015 Collegium generale in aller munde essen und ernährung

Frühjahrssemester 2016, jeweils am Mittwoch von 18.15–19.45 uhr hauptgebäude der universität Bern, hochschulstrasse 4, Auditorium maximum (raum 110) die Veranstaltungen sind öffentlich und der eintritt ist frei. www.collegiumgenerale.unibe.ch, Tel.031 631 86 35

24.2.2016 13.4.2016 4.5.2016 keine Vorlesung Warum ist das natürlichste – die pandemie adipositas - essen! – sozial und kulturell unterGehen trotz rettunGsrinG 11.5.2016 kompliziert? Prof. dr. med. Zeno stanga, Leitender mediterrane ernährunG - Prof. dr. eva Barlösius, Institut für Arzt, universitätsspital Bern mythen und fakten soziologie, univerisität hannover Prof. dr. Peter Ballmer, Chefarzt Innere macht fett Wirklich fett? Medizin, Kantonsspital Winterthur 2.3.2016 dr. med. reinhard Imoberdorf, Chefarzt Innere Medizin, Kantonsspital Winterthur kunst der diätetik / diätetik der 18.5.2016 kunst um 1600 fleischlos essen als lebensphilo- spieGlein, spieGlein an der Prof. dr. Christine göttler, Institut für sophie? über den JünGsten Wand... – selbstWahrnehmunG Kunstgeschichte, universität Bern aufschWunG von veGetarismus und adipositas und veGanismus dr. phil. nadine Messerli-Bürgy, departe- 9.3.2016 Prof. dr. Jens schlieter, Institut für ment für Psychologie, universität Freiburg eine kurze Geschichte des religionswissenschaft, universität Bern Gesunden lebens und service d’endocrinologie, diabétolo- gie et métabolisme, ChuV Lausanne Pd dr. detlef Briesen, historisches Institut, 25.5.2016 universität giessen kulinarische GlobalisierunG – 20.4.2016 ein verGleich ihrer ausWirkun- seelenhunGer – vom sinn der 16.3.2016 Gen auf drei lokale esskulturen: essstörunGen ernährunG und leistunGsfähiG- deutschland, thailand, schWeiz dr. med. Bettina Isenschmid, M.M.e. keit im sport Prof. dr. Marin Trenk, Institut für Chefärztin, Kompetenzzentrum für Prof. em. dr. hans hoppeler, Institut für ethnologie, universität Frankfurt Anatomie, universität Bern essverhalten, Adipositas und Psyche, spital Zofingen 1.6.2016 eiGene erfahrunGen aus dem nutriGenetik: auf dem WeG zur spitzensport natürlicher körper und Wahr- hafter ausdruck im späten 18. personalisierten ernährunG? simone niggli, Weltmeisterin Prof. dr. hannelore daniel, Lehrstuhl für Orientierungslauf, Münsingen Jahrhundert Prof. dr. Julia gelshorn, Kunstgeschichte, ernährungsphysiologie, Technische universität Freiburg universität München 23.3.2016 das WelternährunGssystem: lebensmittel für die schWeiz 27.4.2016 aus aller Welt molekulare küche: Gastronomi- Prof. dr. nina Buchmann, World Food sche GaGs oder chancen für die system Center, eTh Zürich Geriatrische ernährunG? Prof. dr. Thomas A. Vilgis, Max-Planck- Institut für Polymerforschung, Mainz 30.3.2016 keine Vorlesung

rolf Caviezel, Freestyle Cooking, 6.4.2016 ernährunGsempfehlunGen im grenchen Wandel der zeit: die rolle der lebensmittelpyramide dr. Christine römer-Lüthi, Institut für Biochemie und Molekulare Medizin, universität Bern THE SPIRIT OF BERN Wirtschaft, Wissenschaft, Politik

Die Kraft des Dialogs Topic 1: Internet und Digitalisierung: Heute wird viel über drängende Probleme der Gesellschaft Chancen und Risiken? diskutiert und geredet. «The Spirit of Bern» offeriert eine Jaron Lanier (Informatiker, Künstler und Preisträger des einzigartige Plattform des Dialogs, weil sie in einem inspi- Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2014) im rierenden Umfeld Experten und Vertreter aus Wirtschaft, Gespräch mit Matthias Stürmer, Mira Burri (beide Uni- Wissenschaft und Politik zusammenführt, um gemeinsam versität Bern), Egon Steinkasserer (Swisscom), Balthasar Ansätze für nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Glättli (Nationalrat) und André Gollier (opendata.ch)

Wir laden Sie herzlich ein, sich an dem Dialog zu Topic 2: Klimaveränderung beteiligen. Kommen Sie am Montag, 18. Januar 2016, Thomas Stocker berichtet von der 21. UN-Klimakonferenz in den Kursaal Bern! in

Anmeldung sowie weitere Informationen unter Topic 3: Das Freihandelsabkommen TTIP und die www.spiritofbern.ch Implikationen für die Schweiz Mit einem Einführungsreferat von Joe Francois (Leiter World Trade Institut, Universität Bern) und einem Podiumsgespräch mit Vertretern aus Verwaltung und Diplomatie

18. Januar 2016 Kongress + Kursaal Bern