STUTTGARTER ZEITUNG 26 KULTUR Nr. 198 | Freitag, 28. August 2015

Unterkühlte Oscar-Kandidaten „Victoria“ reist nicht Autorität nach Hollywood des Postpunk Der Film „Im Labyrinth des Schweigens“ über die Frankfurter Auschwitz-Prozesse geht für Deutschland ins Rennen um den Konzert Die US-Band Interpol Auslands-Oscar. Dem Regisseur Giulio Ric- hat im Theaterhaus gastiert. ciarelli und seinem Team gelinge in seinem Debütfilm ein spannendes und bewegendes Von Christof Hammer Drama, urteilte die Jury am Donnerstag in München. Ihre Sprecherin Dagmar Hirtz be- tonte: „Ich finde den Film einfach unglaub- ür Szenebands war Stuttgart zuletzt lich wichtig, weil über dieses Kapitel in eher eine No-go-Area als ein Hot Deutschland überhaupt noch nie ein Film F Spot. Nun hat mit Interpol nach lan- gemacht wurde.“ Giorgio Ricciarelli zeigte ger Zeit mal wieder eine Ikone der Indie- sich erfreut: „Dass dieser Film jetzt auf diese branche richtige Autobahnausfahrt nach Reise geschickt wird . . . ich bin sehr bewegt.“ Stuttgart gefunden. Und was gab es zu se- Der Favorit, Sebastian Schippers Er- hen? Ein zwar ordentlich gefülltes, aber folgsfilm „Victoria“, ging dagegen leer aus. keineswegs ausverkauftes Theaterhaus. In „Victoria“ wird zu 49 Prozent Englisch Waren also weite Teile der heimischen Sze- gesprochen, von der Academy sind in der neklientel im Urlaub? Oder spielte da nur Kategorie nichtenglischsprachiger Film noch eine ehemalige Kultband mit inzwi- aber nur 40 Prozent erlaubt. „Es lag keine schen beschränkter Anziehungskraft – ob- Ausnahmegenehmigung vor“, sagte Dag- wohl dem Trio aus New York mit dem mar Hirtz. „Es gibt Regularien, an die wir jüngsten Werk „“ ja ein prächtiges uns halten mussten.“ Der Aufsichtsratsvor- Comeback gelungen ist? sitzende von German Films, der Auslands- Im Theaterhaus präsentierte sich die vertretung des deutschen Films, Peter Formation, durch Gastkeyboarder und Herrmann, sagte zur Filmauswahl: „Dieses –bassisten zum Quintett aufgestockt, als Gremium ist dazu da, den Film unter den eine im besten Sinne fortschrittsresistente eingereichten deutschen Filmen auszu- Autorität des Postpunk. Nahtlos, aber eben wählen, der nach dem Fachwissen und der ohne jeglichen Innovationswillen knüpfen Expertise der Jury die größten Chancen die Songs von 2014 an das Debüt „Turn on hat, den Oscar zu gewinnen.“ the bright Lights“ von 2002 und den Nach- Leer ausgegangen sind auch „Elser – Er folger „Antics“ an. Material aus den drei Al- Ein Garten in Irland hätte die Welt verändert“ von Oliver ben mit den Hits „Evil“, „C’mere“ und Hirschbiegel, Til Schweigers Alzheimer- „“ als Ankerpunkten dominierte Bildband „Irland ist grün und wild. Mit vielen sanften Ecken. Aufnahmen (unsere Abbildung), auf denen Wasser, Wolken, flir- Film „Honig im Kopf“, „Jack“ von Edward denn auch das 75 Minuten kurze Set, ge- So sollte unser Garten Glenkeen werden.“ Auf 100 000 Quadrat- rende Blätter und windgeneigte Bäume „die Seele dieser Land- Berger, „Schmidts Katze“ von Marc Schle- spielt mit routinierter Lässigkeit, die gera- metern Land haben die Frankfurter Psychologin Ulrike Crespo schaft“ einfangen, wie es im Nachwort heißt. Alle Bände dieses gel und „Wir sind jung, wir sind stark“ von de noch die Kurve bekam vor einem Auf- und der Wiener Gastronom Michael Satke im irischen Westcork hinreißenden und mit dem Gartenbuchpreis 2015 ausgezeichne- Burhan Qurban. Eine offizielle Nominie- tritt Marke Dienst nach Vorschrift. einen Landschaftspark angelegt – ihr Lebenswerk. Das Ergebnis ten Kompendiums sind in einer Kassette zusammengefasst. Die rung bedeutet die deutsche Entscheidung Der Bewegungsradius des Sängers und ist nicht nur in einem, sondern gleich neun Prachtbänden zu be- in limitierter Auflage erschienene Box (999 Exemplare) hat für „Im Labyrinth des Schweigens“ noch Gitarristen Paul Banks umfasste kaum sichtigen, die Glenkeen Garden – zu deutsch: schönes Tal – zu ihren Preis, ist aber auch mehr Buchkunstwerk als Buch. Garten nicht. Die Academy of Motion Picture Arts mehr als den berühm- unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten und aus der Perspek- und Fotografie gehen hier eine ideale Wahlverwandtschaft ein. – and Sciences in Los Angeles wählt fünf Kan- Optische ten Bierdeckel; ähnlich tive von fünf verschiedenen Fotografen zeigen. Zu den stim- Michael W. Satke (Hg.): Irland Glenkeen Garden, Hirmer Verlag didaten aus den Einsendungen aller Länder Attraktionen? statisch agierte auch mungsvollsten Bildern gehören Gerald Zugmanns Schwarzweiß- München, 546 Seiten, 389 Euro. (say) Foto: © Gerald Zugmann aus. Die 88. Oscar-Verleihung findet am Leider der Rest der Truppe. 28. Februar statt. dpa Optische Attraktio- Fehlanzeige. nen? Fehlanzeige. Ein zwar üppig dimensio- niertes, aber einfach strukturiertes Büh- nenlicht mit dem typischen Interpol-Rot als Leitfarbe reichte fürs Theaterhaus. Die- Die Welt aus Sicht der Halbhöhenlage ser minimale Aufwand genügte allerdings für beachtliche Intensität. Die strenge Jubiläum Die in Stuttgart erscheinende Kulturzeitschrift „Das Plateau“ Hentig und Gert Ueding, die Musiker Entscheidung, prinzipiell auf jede Wer- Stimme von Banks, die schweren Drums Christoph Eschenbach und Wolfgang bung zu verzichten. Auch die Abfolge der von und Daniel Kesslers feiert ihr 25-jähriges Bestehen. Von Rolf Spinnler Rihm, die Künstler Emil Schumacher und Zeitschriftenbeiträge gehorcht einem Heulbojen-Gitarre, die das ganze Spektrum Günther Uecker bis zu den Theologen strengen Plan. Die ersten zwei Seiten gehö- zwischen kantig, sphärisch und singend Eberhard Jüngel, Friedrich Schorlemmer ren einem Kolumnisten, der ein Jahr lang auslotete, die Achtelnoten splittern ließ ass sich ein Verlag zur Flankierung Wolfgang Erk, der zugleich als Herausgeber und Fulbert Steffensky. über Themen schreiben darf, die ihm gera- und insgesamt so klirrend kühl klang, dass seines Programms eine Zeitschrift fungiert und auch das beratende Kurato- Damit sind auch schon die Licht- und de wichtig sind. 2015 ist das die Schriftstel- manchmal Eiszapfen von den Saiten zu fal- D hält, ist nichts Ungewöhnliches. S. rium beruft. Das Verlagsprogramm von Ra- Schattenseiten des Verlagsprogramms wie lerin Asta Scheib, die im aktuellen Jubilä- len schienen: zwischen diesen Eckpfeilern Fischer mit der „Neuen Rundschau“, Han- dius, das auf dem Vierklang von Theologie, der Zeitschrift erahnbar. Wenn man die re- umsheft über die Schwierigkeiten von Be- entwickelte sich ein Spannungsfeld, das ser mit den „Akzenten“ oder Klett-Cotta Politik, Belletristik und Kunst beruht, soll novierte Altbauwohnung in der Stuttgarter hinderten im Alltag räsoniert. rauher Lärmigkeit und unkalkulierbarer mit dem „Merkur“ sind nur die prominen- sich auch in der Zeitschrift und ihren Mit- Alexanderstraße in bester Halbhöhenlage Als nächstes folgt entweder ein längerer Nervosität den Vorzug vor bloßem Schön- testen Beispiele. Von einem eher kleinen arbeitern niederschlagen. Erk wider- betritt, in der der Verlag residiert und Wolf- literarischer Text oder ein Essay, die fol- klang gab und durch Tempo und Dringlich- Haus wie dem Stuttgarter Radius-Verlag spricht nicht, wenn man die Verlagslinie gang Erk seine Gäste empfängt, dann um- genden sechzehn Seiten stehen dann keit überzeugte. Die durchgehend druck- würde man das aber nicht unbedingt er- mit dem von Ernst Troeltsch und Adolf von fängt einen sofort jene bürgerliche Gedie- einem zeitgenössischen Künstler zur Ver- volle Gangart ließ allerdings kaum drama- warten. 1962 von Horst Bannach gegründet Harnack Anfang des letzten Jahrhunderts genheit, die auch „Plateau“ kennzeichnet. fügung. Das ist in Ausgabe Nr. 150 der Lü- turgische Abwechslung zu. und seit 1978 von dem Theologen Wolfgang geprägten Begriff des „Kulturprotestantis- Der Hausherr hört beim Arbeiten klassi- pertz-Schüler Jochen Mühlenbrink, der Als Szeneband geht man damit anno Erk als GmbH mit 25 Gesellschaftern gelei- mus“ charakterisiert. Unter den „Pla- sche Musik, an den Wänden hängen Bilder unter dem Titel „Badende“ zwölf Aquarelle 2015 nicht mehr durch. Eher wirkte dieser tet, gibt der Verlag seit 1990 die Zeitschrift teau“-Autoren wie den Mitgliedern des Ku- von Künstlern, mit denen man wahrschein- beigesteuert hat. Die restlichen Seiten ge- Auftritt wie eine Schwarz-weiß-Aufnahme „Das Plateau“ heraus. Sie erscheint sechs- ratoriums findet man denn auch zahlreiche lich schon einmal zusammengearbeitet hat, hören der Lyrik und Beiträgen zu aktuellen aus dem London der späten achtziger Jah- mal im Jahr, umfasst nicht mehr als 48 Sei- Zeitgenossen, die man im engeren oder und ein Konzertflügel zeigt an, dass hier ge- politischen und gesellschaftlichen The- re. Aber wie diese britischste aller amerika- ten, kostet als Einzelexemplar 15 und im weiteren Sinn diesem Milieu zuordnen legentlich vor Gästen musiziert wird. men. Die Gedichte stammen diesmal von nischen Bands mit ihrem heißkalten Post- Jahresabonnement 75 Euro und feiert jetzt kann: angefangen von Inge Jens über die Einen ähnlichen Eindruck gewinnt man Elisabeth Plessen. Das Heft schließt mit punk das Theaterhaus in einen Drei-Ster- im August mit ihrer 150. Ausgabe ein dop- Schriftsteller Peter Härtling und Adolf nach der Lektüre der Zeitschrift, die, so der dem Abdruck der Laudatio, die Peter Ruzi- ne-Kühlschrank verwandelte, das hätten peltes Jubiläum. Muschg, die ehemaligen Politiker Björn Herausgeber Erk, mit dem Anspruch auf- cka kürzlich in München auf den diesjähri- auch die Genre-Kollegen aus England Man habe einen Abonnentenstamm von Engholm, Reinhard Höppner und Henning tritt, in der „höchsten inhaltlichen Liga“ gen Ernst-von-Siemens-Musikpreisträger kaum besser hingekriegt. etwa tausend Lesern, sagt der Verlagschef Scherf, die Wissenschaftler Hartmut von mitzuspielen. Puristisch wirkt schon die Christoph Eschenbach gehalten hat.

Galerienotizen

Da & dort Tropisch erotisch Aus der Perspektive der Götter Sie scheinen regelrecht gemästet vom Serie „Unverkäuflich“: Stuttgarter Galeristen stellen Werke vor, die untergemischten Weiß, die ovalen Farb- flecken und -flächen auf den Bildern von sie für sich behalten. Heute: Thomas Niecke. Von Georg Leisten Elly Weiblen . Offenbar hat die Stuttgarter Akademieabsolventin das große Einmal- eins des Malkastens von Josef Albers ge- hr Beruf ist es, mit Bildern zu handeln. Kompositionen. Niecke, damals noch Ma- lernt, denn in der Städtischen Galerie Fell- Doch viele Galeristen sammeln Kunst cher des Kunstkabinetts Kirchheim/Teck, bach lässt sie auch dickflüssiges Bunt feder- I auch privat. Für unsere Sommerserie war um 1990 einer der ersten kommerziel- leicht schweben. Indem manche Elemente haben wir einige nach ihrem Lieblings- len Galeristen, der zeitgenössische Dot vor-, andere dagegen zurücktreten, be- stück, das sie niemals veräußern würden, Paintings auch in Deutschland anbot. kommt alles räumliche Tiefe. Unverhofft gefragt. Heute: Thomas Niecke vom Kunst- „Viele waren überrascht. Eine etwas erkennt man in sattgrünen Lanzettformen haus Keim. merkwürdige Sammlerin hat mich sogar ge- italienische Zypressen oder in amorpher fragt hat, ob denn auch ‚welche von den Wil- Masse einen fliegenden Felsbrocken wie bei Kreise mit Kringeln und Häkchen drum- den’ zur Vernissage kämen.“ Während die Magritte. (Bis 13. September, Marktplatz 4, herum. So simpel das Bild auf den ersten Formensprache anderer Naturvölker dem Di–Fr 16–19, Sa, So 14–18 Uhr.) Blick angelegt ist, so komplex wird seine europäischen Publikum bereits durch Ex- Struktur bei näherem Hinschauen. „Ich be- pressionismus oder Kubismus vertraut war, Kein Surrealismus ohne sexuelle Symbole. sitze es seit über zwanzig Jahren“, sagt ließen sich die Werke der australischen Bei Anna Claudi sind es phallische Blüten- Thomas Niecke, „trotzdem entdecke ich Stammeskunst auf nichts hierzulande Be- Thomas Niecke mit seinem Dot Painting von Ray Loy Foto: Lichtgut/Max Kovalenko stände und der Schlitz im Fruchtfleisch immer wieder neue Einzelheiten – ver- kanntes beziehen. „Außerdem“, fügt Nie- einer Wassermelone, die das Exotische mit steckte Querverbindungen, Schlangen- cke, von Haus aus Architekt, hinzu, „ist Zugeständnisse ans Poppige, Ray Loy hin- mer um. Dort nimmt es den Galeristen dem Erotischen vermählen. Im Stuttgarter linien und Farbvariationen.“ Ray Loy, der Down Under nun mal der am weitesten von gegen halte sich noch relativ streng an die dreimal täglich mit in die mythologische Rathaus erinnert eine vom Italienischen Name des Künstlers, ist ähnlich unbekannt Europa entfernte Kontinent.“ indigene Tradition: erdige Farben und ein Traumzeit der australischen Wüste. „Das Kulturinstitut ausgerichtete Schau an die wie das Genre, für das er steht: das Dot Die Bilder fanden nur mäßigen Absatz, fest definierter Formenschatz. Bild“, erklärt er „stellt eine Landschaft von nach ihrem Tod 1976 in Vergessenheit gera- Painting, die Punktmalerei der australi- sodass Niecke, als er kurz darauf das Kunst- „In den USA“, sagt der Kunsthändler, oben dar: die Welt aus der Perspektive der tene Malerin, deren naiv-fantastische schen Ureinwohner. Hatten sich die Abori- haus Keim in Stuttgart übernahm, keine „überschreiten Spitzenwerke des Dot Pain- Götter.“ Aber manche, so Niecke, glaubten Landschaften und Stillleben die Schönheit gines zuvor nur auf Felsen oder Baumrinde Aborigine-Kunst mehr führte. Aber er hat- tings manchmal sogar die Millionengren- immer noch, Dot Paintings wären eine des Kreatürlichen feiern. In mango- und pa- verewigt, begannen sie in den siebziger te ein Bild aus der Kirchheimer Ausstellung ze.“ In welcher Preisklasse Ray Loy heute „rein dekorative Angelegenheit.“ Gleich payafarbener Tropenpalette träumte Anna Jahren ihre Bildwelt auf Leinwände zu für seine Privatsammlung erworben. Eines gehandelt wird, weiß Niecke nicht. Das Ge- mehrere Käufer, erinnert sich der Galerist, Claudi von ausgelassenen Mädchenspielen bringen. Bald schon interessierten sich der der besten, wie der gebürtige Münchner mälde ist ein fester Bestandteil seines All- kamen aus der regionalen Mode-Industrie. in üppiger Naturkulisse. (Bis 13. September, einheimische, dann der amerikanische findet. Für seinen Geschmack machen die tags geworden. Hing es anfangs im Büro, „Die Motive der Bilder habe ich später auf Marktplatz 1, Mo–Fr 8–18 Uhr.) lei Kunstmarkt für die minutiös getüpfelten Aborigine-Künstler mittlerweile zu große zog das Tüpfelmosaik später ins Esszim- T-Shirts und Kleidern wiederentdeckt.“