DÖW DOKUMENTATIONSARCHIV DES ÖSTERREICHISCHEN WIDERSTANDES

FOLGE 242 Mitteilungen SEPTEMBER 2019 „... EIN GEFÄHRLICHER FÜHRENDER VERSCHWÖRER“ Hanns Georg Heintschel-Heinegg 5. September 1919 – 5. Dezember 1944

Zu einer Zeit, als NS-Presse und -Wochenschauen die Erfolge der Deutschen im „Westfeldzug“ bejubelten, verfasste der 20-jährige Hanns (Hans) Georg Heintschel-Heinegg einen „Friedensvorschlag“ für die Neugliederung Europas: Nach dem Zusammen- bruch des „Dritten Reiches, der militärischen Niederlage Italiens, des Zusammenbruchs Rumäniens und Jugoslawiens sowie eines in- neren Umschwunges in Russland“ sollte ein föderativer Staat unter Führung Österreichs und Böhmens und unter Einschluss Bayerns und Schlesiens gebildet werden. Heintschel-Heinegg, dessen Geburtstag sich heuer zum 100. Mal jährt, war Leitungsmitglied der bür- gerlich-katholischen „Österreichischen Freiheitsbewegung – Gruppe Scholz“ (Ö. F.). Der Text des „Friedensvorschlags“ und dazuge- hörige selbst gezeichnete Landkarten, die Deutschland als „vollkommen zertrümmerten Kleinstaat“ darstellten, wurden bei seiner Fest- nahme von der Wien am 23. Juli 1940 sichergestellt.

Hanns Georg Heintschel-Heinegg, 1919 ligsten Eid, der alle anderen Eide bricht, nes Eides.“ Nach Fischer-Ledenices Ein- auf Schloss Kneschitz (Knezice, heute dass ich der Sache der Österreichischen rückung zur Wehrmacht im Mai 1940 Tschechische Republik) geboren und ab Freiheitsbewegung mit dem Einsatz aller übernahm Heintschel-Heinegg dessen Po- 1925 in Wien aufgewachsen, galt als meiner Kräfte dienen, ihrer Führung unbe- sition als „Reihenführer“ und leitete die „überzeugter Anhänger der legitimisti- dingten Gehorsam leisten und ihr Geheim- politische Schulung der Mitglieder, mehr- schen Idee“. (Schlussbericht der Gestapo nis jederzeit und vor jedermann wahren heitlich StudentInnen und SchülerInnen. In Wien über die „Österreichische Freiheits- werde. Gott ist der Zeuge und Rächer mei- dieser Funktion hielt er mehrere Vorträge, bewegung“ und die „Großösterreichische Freiheitsbewegung“, 17. 12. 1940) Der Absolvent des traditionsbewussten Gym- nasiums Theresianum war 1934 dem „Verband legitimistischer Studenten“ bei- getreten. Das im Herbst 1937 in begonnene Theologiestudium – seine nach eigenen Aussagen glücklichste Zeit – fand ein jähes Ende, als nach dem „“ 1938 die Katholisch-Theologische Fakul- tät an der Universität Innsbruck und im Herbst 1938 das daraufhin ersatzweise im Canisianum errichtete Priesterseminar ge- schlossen wurden. 1939 kehrte Heintschel- Heinegg in Erwartung seiner Einberufung zur Deutschen Wehrmacht nach Wien zu- rück, wo er über Vermittlung eines Onkels eine Anstellung als Volkszählungshilfs- kraft im Statistischen Amt antrat. Im Herbst 1939 wurde er von Gerhard Fischer-Ledenice (1919–1944), einem Schulfreund und Aktivisten der Ö. F., für die Widerstandsorganisation um den Aus der Erkennungsdienstlichen Kartei der Gestapo Wien, die 2001 im DÖW Augustiner Chorherr in einer Bilddatenbank erfasst wurde. Die fotografischen Aufnahmen von Hanns angeworben und wie alle Mitglieder feier- Georg Heintschel-Heinegg sind in der Kartei nicht mehr enthalten. lich vereidigt: „Ich schwöre meinen hei- Foto: Wiener Stadt- und Landesarchiv 2 Mitteilungen 242

„wobei er auch außenpolitische Fragen er- örterte und trotz der Niedergeschlagenheit, die infolge der deutschen Siege im Westen in der Organisation Platz gegriffen hatte, dazu aufforderte, der ÖFB treu zu bleiben und weiter für sie zu werben“, wie es im Urteil des Volksgerichtshofs vom 22. und 23. Februar 1944 heißt. Als Angehöriger des Leitungsgremiums der Ö. F. („Voll- zugsausschuss“) entwickelte er im März 1940 einen – allerdings von Scholz wegen der fehlenden Massenbasis als nicht ak- tuell verworfenen – Plan zur Neuorgani- sation: Ein fünfköpfiges Direktorium sollte „mit gegenseitiger Konsultationspflicht“ die Leitung übernehmen; die Mitglieder sollten in drei Gruppen erfasst werden:

„1.) Politische Gruppe, zu Schulungs- zwecken und zur organisatorischen Leitung. 2.) Betriebsgruppen, die die eigentli- chen Mitglieder erfassen sollten, und zwar nach ihrer Zugehörigkeit zu Arbeitsbetrieben. 3.) Kampfgruppen, die eigentlichen po- litischen Stoßtrupps und Werbegruppen der Bewegung.“ (Schlussbericht Gestapo Wien)

Bei Heintschel-Heineggs Vorstellung des Organisationsschemas waren nicht nur Scholz und Fischer-Ledenice anwesend, sondern auch der Burgschauspieler , der Ende 1939 zur Gruppe ge- stoßen und schnell in den „Vollzugsaus- schuss“ aufgestiegen war. Am 17. Juni 1940 zeigte Hartmann die Ö. F. bei der Gestapo Wien an:

„Da Otto Hartmann zu diesem Zeitpunkt selbst Mitglied und Funktio- Roman Karl Scholz, Hans Zimmerl und Hanns Georg Heintschel-Heinegg wurden vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Rudolf Strasser-Györvar und Luise när dieser Organisation war, für sich Kanitz wurden mit zehn bzw. sechs Jahren Zuchthaus bestraft. aber durch die Anzeigeerstattung die Begünstigung der Straffreiheit nach § 82/3 RStG in Anspruch nehmen den Tag und forderte zu Sabotageakten „Ich weiß nicht, wann der Ewige meine konnte, wurde er von hier beauftragt, und Anschlägen auf. Hartmann wurde Prüfung beenden wird und ich nach der weiterhin als Mitglied in der Bewe- 1947 zu lebenslanger Haft verurteilt (1957 leidenden noch eine tätige Bewährung gung zu verbleiben, um auf diese Wei- begnadigt). werde antreten dürfen. Ich weiß nicht, se eine restlose Erfassung aller führen- Ab 22. Juli 1940 wurden die drei „Frei- was mir bevorsteht, und lege mein Ge- den Organisationsangehörigen und heitsbewegungen“ von der Gestapo aufge- schick in Seine Hände. Mach es Du ihrer Hintermänner zu ermöglichen.“ rollt und eine große Anzahl von Akti- auch so. Was Er anordnet, ist unendlich (Schlussbericht Gestapo Wien) vistInnen, darunter Heintschel-Heinegg, weise, was wir beginnen, blindes verhaftet. Während der folgenden mehr- Stückwerk ohne Seinen Segen. Und Durch Hartmann war die Gestapo nicht jährigen Untersuchungshaft in Wien und in diesen müssen wir verdienen, nicht nur nur über die Pläne der Widerstandsgruppe den deutschen Strafanstalten Anrath und erbitten. Verdienen – das ist aber zum und deren Verbindungen bzw. Gespräche Krefeld verfasste er eine Reihe von guten Teil ein Erleiden.“ über einen Zusammenschluss mit den bei- Gedichten; sie wurden 1947 unter dem den anderen „Freiheitsbewegungen“ um Titel Vermächtnis von seinem Jugend- Nach der zweitägigen Verhandlung in Karl Lederer (1909–1944) und Jakob freund Rüdiger Engerth herausgegeben. Wien (22. und 23. Februar 1944) wurde Kastelic (1897–1944) gut informiert, als Kurz vor seinem Prozess vor dem Volks- Heintschel-Heinegg ebenso wie die Lei- Agent provocateur legte er in den folgen- gerichtshof schrieb er am 30. Jänner 1944 tungsmitglieder Roman Karl Scholz und den Wochen eine besondere Aktivität an an seine Schwester Eva: Hans Zimmerl zum Tode verurteilt. Im September 2019 3

Urteil des Volksgerichtshofs wird wieder- holt auf den „Eifer, den Heintschel- Heinegg zeigte, seine Intelligenz und seine große Beredsamkeit, von der er in der Hauptverhandlung in seinem Schlusswort ein besonders eindrucksvolles Zeugnis ab- legte“, hingewiesen. Wie dort weiter aus- geführt wird, machte er sich

„zum Saboteur der deutschen Wehr- kraft und damit zugleich zu einem Helfer des äußeren Kriegsfeindes. Und das wollte er auch. Die bei ihm gefun- denen schimpflichen Machwerke (‚Friedensvorschlag‘ und Landkarten) schließen insoweit vollends jeden Zweifel aus. Sie widerlegen in Ver- bindung mit seiner gesamten hier erör- terten Tätigkeit eindeutig insbesondere auch seine Behauptung, er habe sich bei allem nur von der schweren Sorge leiten lassen, die ihn nach dem Ab- schluss des deutschrussischen Nicht- angriffspaktes um das Schicksal Deutschlands erfüllt habe. Dabei mag Heintschel-Heinegg ohne weiteres ge- glaubt werden, daß er ein entschiede- ner Gegner des Bolschewismus ist. Gleich große, wenn nicht noch größere Feindschaft hegt er aber auch gegen das vom Nationalsozialismus getrage- ne Großdeutsche Reich und überhaupt gegen ein machtvolles Deutschland. […] Als minder schwerer Fall kann seine Hanns Georg Heintschel-Heinegg Tat keinesfalls gelten. Er war bei seiner wurde am 5. Dezember Festnahme allerdings erst 20 Jahre alt 1944 im Landesgericht und steht nach dem Umfang seiner Wien hingerichtet. Betätigung an sich weit hinter Scholz und Zimmerl zurück. Andererseits hat aber auch er sich als ein gefährlicher Oben: führender Verschwörer erwiesen, der Abgangsmitteilung der bei seinem Eifer, seiner großen geisti- Untersuchungshaft- gen Regsamkeit und seiner Rednergabe anstalt Wien I an den sicher noch weiter unheilvoll gewirkt Oberreichsanwalt beim haben würde, wenn seinem Treiben Volksgerichtshof, nicht ein Ende gesetzt worden wäre.“ 19. 12. 1944

So wie Scholz und Zimmerl hätte auch Heintschel-Heinegg am 10. Mai 1944 hin- Rechts: Hanns-Georg gerichtet werden sollen; er verbrachte die- Heintschel-Heinegg als sen Tag bereits in der „Armensünderzelle“, Priesterseminarist, als durch eine Intervention seines Vaters in 1937/38 Berlin die Justifizierung aufgeschoben Foto: DÖW wurde. Dass Heintschel-Heinegg sich über seine Lage keine Illusionen machte, aber gefasst blieb, zeigt ein Brief vom 2. Okto- ber 1944, wiederum an seine Schwester Eva gerichtet:

„Ich weiß nicht, was Du in Berlin er- reicht hast, fürchte immer, daß Ihr Euch einem falschen Optimismus hin- 4 Mitteilungen 242

gebt. Meine Sache schaut doch sehr brenzlich aus! Wenn Du nur erreichst, daß die Sache eine Weile liegen bleibt, so kann man ja dann weiter sehen u. event. noch eine Wiederaufnahme versuchen. Die Zeit ist bei mir halt doch schon recht vorgeschritten, darum kann es nicht mehr lang bis zur Ent- scheidung sein, welche aber nur schwerlich positiv ausfallen dürfte, es sei denn, daß wirklich gute Interven- tionen erfolgen. Ich weiß im übrigen mein Geschick in Gottes Hand u. dan- ke Dir innig für alle Deine Bemühun- gen um mich. […] Ich selbst bin inner- lich stark durch Gottes Gnade, aber mit den Nerven (rein physisch) durch die lange Zeit schon sehr kaputt. Aber für meinen Geist ist nichts zu fürchten, bin (bis auf Gedächtnislücken) ganz in Ordnung.“

Hanns Georg Heintschel-Heinegg wurde am 5. Dezember 1944 im Landesgericht Wien hingerichtet. In der Publikation Zeu- gen für Christus. Das deutsche Martyrolo- gium des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Helmut Moll im Auftrag der deut- schen Bischofskonferenz, ist er als Glau- benszeuge angeführt.

Von oben nach unten: Roman Karl Scholz, Jakob Kastelic (mit seiner Frau Maria und dem 1938 geborenen Sohn Norbert) und Karl Lederer

Die Verfolgung ehemaliger Funktionäre des österreichi- schen „Ständestaats“ nach dem „Anschluss“ 1938 führte ebenso wie kirchenfeindliche Maßnahmen des NS-Regimes und eine österreichisch- patriotische Haltung zur Bildung dreier großer, fast namensgleicher bürgerlich- katholischer „Freiheits- Der Spitzel Otto Hartmann berichtete bewegungen“ mit durchwegs unter dem Decknamen „Burgler“ an großösterreichischen die Gestapo. „Hartmann war in den politischen Vorstellungen. monarchistischen Gruppen der öster- Roman Karl Scholz, Jakob reichischen Freiheitsbewegung veran- Kastelic und Karl Lederer kert und brachte von dort sehr gute wurden 1944 hingerichtet. und schöne Meldungen“, gab Lambert Leutgeb – 1941 bis 1944 Leiter des Nachrichtenreferats IV N der Gestapoleitstelle Wien, 1946 von der sowjetischen Militärbehörde verhaftet und später nach Jugoslawien ausgelie- fert – beim Verhör in Belgrad an. Fotos: DÖW September 2019 5 Fleeing the Nazis: Austrian Jewish Refugees to the United States

Bis 1942 mussten über 130.000 Menschen, von denen die überwältigende Mehrheit Juden im Sinne der „Nürnberger Gesetze“ waren, aus Österreich flüchten. Mehr als 28.000 fanden bis November 1939 Zuflucht in den USA. Ein gemeinsames Symposium des USHMM, Washington, der Österreichischen Botschaft in Washington und des DÖW befasste sich im Sommer 2019 mit neuen Forschungen und Studien zur Verfolgung und erzwungenen Emigration der österreichischen Jüdinnen und Juden mit Schwerpunkt auf dem österreichischen Exil in den USA.

Im Mittelpunkt des 2014 bis 2017 am DÖW durchgeführten Projekts Vertrei- bung und Vernichtung. Neue quantitative und qualitative Forschungen zu Exil und Holocaust stand die Sozialstruktur der österreichischen jüdischen Bevölkerung. Von besonderem Interesse war dabei die Frage, in welchen empirisch erfassbaren Parametern sich die im Holocaust ermor- deten bzw. ums Leben gekommenen Per- sonen von jenen unterscheiden, denen die Flucht bzw. das Überleben gelang. Die Ergebnisse wurden nun auch im Rah- men des Symposiums am 18. Juni 2019 im United States Holocaust Museum in Washington vorgestellt. Die Veranstal- tung, an der von Seiten des DÖW Gerhard Baumgartner (wissenschaftlicher Leiter) sowie Brigitte Bailer und Winfried R. Garscha teilnahmen, kann als Video auf YouTube nachverfolgt werden: Friedrich Adler mit Muriel Gardiner in den USA www.youtube.com/watch?v=KTwa5G Muriel Gardiner (1901–1965) und ihr Mann Joseph Buttinger (1906–1992) verhalfen XN9MA&list=PLWQC3P4psZP57wf Hunderten Menschen zur Flucht aus Europa. MlexI2yJnUXV2ZZ7vt Foto: DÖW

Die Sandgrube 13 und die Gründung Prof. Rudolf der Winzergenossenschaft Krems 1938 Gelbard-Bibliothek

Im Rahmen eines DÖW-Projekts – in de am 14. Juli 1942 im Alter von 75 Jah- Am 24. Oktober 2018 starb der Holocaust- Auftrag gegeben von WINZER KREMS, ren von Wien in das Ghetto Theresienstadt überlebende, Antifaschist und Zeitzeuge Sandgrube 13 – arbeiten Brigitte Bailer deportiert; sie kam dort im März 1943 um. Rudolf Gelbard, der dem Vorstand des und der wissenschaftliche Leiter des DÖW angehörte. Seine umfassende DÖW Gerhard Baumgartner sowie die 2018 haben Bernhard Herrman und Büchersammlung mit Werken über die Historiker Bernhard Herrman und Robert Robert Streibel die Vorgänge in ihrem his- Shoah, den Nationalsozialismus, den Streibel an der wissenschaftlichen Doku- torischen Roman Der Wein des Vergessens Kommunismus und andere Formen des mentation des Arisierungsvorgangs und erstmals aufgearbeitet. Totalitarismus ebenso wie mit Büchern Rückstellungsverfahrens betreffend das über Israel, den Zionismus und die Ge- Weingut von Paul Robitschek, das 1939 Seit 3. Juli 2019 erinnert in Krems auf schichte des Judentums wird am 8. Sep- von der Winzergenossenschaft Krems er- dem Gelände der Sandgrube 13 eine tember 2019 im Jüdischen Museum Eisen- worben wurde. 1948 fand dazu ein Resti- Gedenktafel an Paul und Johanna stadt, Unterbergstraße 6, feierlich eröffnet. tutionsverfahren statt. Robitschek. Anlässlich der Enthüllung, Rudolf Gelbard bleibt unvergessen durch bei der auch Juana-Charlotta Robitschek, sein Engagement im Bund Sozialdemo- Paul Robitschek musste 1938 aufgrund eine Nichte Paul Robitscheks, anwesend kratischer FreiheitskämpferInnen, Opfer seiner jüdischen Herkunft flüchten. Über war, wurde von Brigitte Bailer ein erster des Faschismus und aktiver Anti- Italien und Frankreich, wo er nach Beginn Zwischenbericht vorgestellt. faschistInnen und seine Teilnahme an anti- des Zweiten Weltkriegs im September Der Bericht, der auf Recherchen von faschistischen Kundgebungen sowie als 1939 wegen Spionageverdachts festge- Bernhard Herrman und Robert Streibel für unermüdlicher Zeitzeuge und Vortragen- nommen wurde, erreichte er schließlich das DÖW basiert, ist auf der Website des der in Schulen, im Rahmen von Lehrver- Venezuela. Seine Mutter Johanna DÖW als PDF abrufbar: anstaltungen, Symposien und anderen Robitschek (geb. am 17. März 1868) wur- www.doew.at/neues zeitgeschichtlichen Veranstaltungen. 6 Mitteilungen 242

REZENSIONEN

stands- und Partisanenbewegungen in konnte. Fred Mayer ging in seinen Akti- Pirker, Peter: Codename Brooklyn. Europa in die alliierte Kriegsführung ein- vitäten aber darüber weit hinaus und baute Jüdische Agenten im Feindesland. Die zubinden. Das in der OSS-Basis in Bari im Raum Innsbruck ein weitverzweigtes Operation Greenup 1945. Innsbruck: vorbereitete Fallschirmspringerkomman- Widerstandsnetz, insbesondere unter Verlagsanstalt Tyrolia 2019. 368 S.1 do bestand aus zwei jungen, vor den Nazis Eisenbahnern und in der Polizei, auf. aus Europa in die USA geflüchteten Seine historische Stunde schlug allerdings Quentin Tarantinos Spielfilm Inglorious Juden, Fred Mayer aus Freiburg und Hans erst nach seiner durch Verrat eines Basterds war ein großer Erfolg und brach- Wijnberg aus Amsterdam, sowie dem Gestapospitzels erfolgten Verhaftung te Christoph Waltz für seine Rolle als SS- Tiroler Franz Weber, einem in Italien zur durch die Gestapo im April 1945. Offizier den Oscar; die Darstellung über US-Armee desertierten Wehrmachtsoffi- Der Tiroler NSDAP-Gauleiter Franz rachsüchtige jüdische Agenten, die mög- zier. Als Betreuer der Gruppe fungierte ein Hofer, als Reichsstatthalter, Reichsvertei- lichst viele Nazis grausam töten wollten, gleichfalls in die USA geflüchteter deut- digungskommissar und Oberster Kommis- stieß aber auf einige Kritik. Der 2012 fer- scher Jude, Dyno Löwenstein, Sohn des sar für die Operationszone Alpenvorland tiggestellte Spiel- und Dokumentarfilm sozialdemokratischen Reformpädagogen ein mächtiger Mann in der NS-Hierarchie, The Real Inglorious Basterds der Kana- und Reichstagsabgeordneten Kurt der am Rande schon in die Verhandlungen dierin Min Sook Lee orientierte sich am Löwenstein. zur deutschen Kapitulation an der Italien- tatsächlichen Einsatz einer jüdischen Der Autor schildert – auf der Grundlage front Ende April 1945 involviert war und Agentengruppe bei der Befreiung Inns- von Personalakten, Erinnerungsberichten in dieser Zusammenbruchsphase vor allem brucks 1945. Der Historiker und Politik- und Interviews – relativ ausführlich den seine Haut retten wollte, sah in dem OSS- wissenschaftler Peter Pirker legt nun eine Werdegang und das gesellschaftliche Agenten eine Schiene zur heranrückenden präzise, auf solide Quellen gestützte Ar- Milieu der Protagonisten. Mayer und US-Armee, der 103. Infanteriedivision. beit über diese Operation Greenup vor, Wijnberg waren durch die ihre Familien Für diesen Zweck ließ er den schwer ge- die den Schwerpunkt von Action und Fik- zerstörende nazistische Judenverfolgung folterten Fred Mayer durch den Inns- tion auf das reale Geschehen und dessen in Europa hochmotiviert, identifizierten brucker NSDAP-Kreisleiter Max Primbs wissenschaftliche Interpretation verlegt. sich mit ihrer neuen Heimat USA und aus der Gestapohaft herausholen. Mayer Pirkers bisherige Publikationen über trans- wollten aktiv an der Befreiung Europas gelang es, am 3. Mai 1945 den Kontakt nationalen Widerstand, insbesondere über mitwirken. Bei dem aus einem bäuerlich- mit den in Zirl vor Innsbruck kämpfenden Kooperationen mit west-alliierten Kriegs- katholischen Milieu kommenden Franz US-Truppen herzustellen und Kapitula- geheimdiensten, zeichnen sich durch Weber, der nur kurz, 1938, vom National- tionsverhandlungen einzuleiten. Noch am gründliche Recherchen in Archiven, Ein- sozialismus beeindruckt war, führten seine selben Tag unterzeichnete Hofer in An- bettung in größere historisch-politische Erlebnisse als Wehrmachtssoldat – im wesenheit von weiteren führenden Tiroler Zusammenhänge sowie präzise Analysen Warschauer Ghetto sowie bei der Partisa- NS-Funktionären die kampflose Kapitu- aus und brachten z. T. aufsehenerregende nenbekämpfung in Russland und in Kroa- lation vor den Unterhändlern der US- Ergebnisse, wie z. B. die Herausarbeitung tien – zur entschiedenen Ablehnung des Armee. der aus geostrategischen Überlegungen re- NS-Regimes. Parallel zum Vorgehen des Greenup-Kom- sultierenden Ermordung des britischen Greenup wurde eine der erfolgreichsten mandos und z. T. aus den nichtverhafteten Verbindungsoffiziers Alfgar Hesketh- OSS-Operationen im Zweiten Weltkrieg. Resten von Mayers Widerstandsnetzwerk Prichard und des österreichischen Parti- Ausschlaggebend dafür waren die familiä- hatte sich der Widerstand in Tirol unter der sanen und SOE-Offiziers Hubert Mair ren und freundschaftlichen Kontakte Leitung des späteren Landeshauptmannes durch slowenische Partisanen 1945.2 Webers in seinen Heimatort Oberperfuss – Dr. Karl Gruber neu formiert und konnte Diese Vorzüge weist auch die vorliegende ein kleines, durch und durch katholisch- durch den nach Zirl entsandten Ober- Arbeit über die Operation Greenup des konservativ und weitgehend Nazi-freies leutnant Ludwig Steiner, einen nachmali- US-Kriegsgeheimdienstes Office of Stra- Dorf, westlich oberhalb von Innsbruck, wo gen ÖVP-Politiker, ebenfalls den Kontakt tegic Services (OSS) in Tirol 1945 auf, mit die Gruppe Unterschlupf fand und bis zur zur US-Armee aufnehmen. Praktisch zeit- der der Autor bisherige österreich-national Befreiung 1945 operieren konnte. In die- gleich mit den Verhandlungen der Unter- orientierte Versionen der Befreiung Inns- sem Zusammenhang hebt der Autor den händler in Zirl bzw. am Hachhof, dem Sitz brucks radikal infrage stellt. Greenup war wichtigen und mutigen Beitrag von einhei- des Gauleiters, am 3. Mai 1945 besetzten ein Projekt in dem Bemühen, die Wider- mischen Frauen als Quartiergeberinnen, Widerstandskämpfer gewaltsam und unter Kurierinnen, Kontaktherstellerinnen und Verlusten wichtige Punkte in Innsbruck, dergleichen hervor und qualifiziert sie als sodass Innsbruck beim kampflosen Ein- 1 Die Rezension ist modifiziert veröffentlicht in: das „operative Rückgrat“ von Greenup. marsch der US-Truppen bereits in der www.hsozkult.de. Die im Februar 1945 mit Fallschirmen ab- Hand der Widerstandsbewegung war. 2 Peter Pirker, Gegen das „Dritte Reich“. Sabotage und transnationaler Widerstand in Österreich gesetzte Gruppe hatte primär nachrich- Obwohl Pirker den Tiroler Widerstand und Slowenien 1938–1940, Klagenfurt–Wien tendienstliche Aufträge: Informationsbe- und dessen Beitrag zur Befreiung sowie 2010; ders., Subversion deutscher Herrschaft. schaffung über die (von der NS-Propa- die für das Unternehmen Greenup gerade- Der britische Kriegsgeheimdienst SOE und ganda hochgespielte) „Alpenfestung“, zu lebenswichtige Zusammenarbeit mit Österreich (= Zeitgeschichte im Kontext, hrsg. Auskundschaftung der für den alliierten Einheimischen keineswegs leugnet oder von Oliver Rathkolb, Bd. 6), Göttingen 2012; Peter Pirker/Ivo Jevnikar, So geheim wie mög- Vormarsch wichtigen Brennerstrecke und bagatellisiert, wurde in Tiroler Medien lich, in: Die Presse, Spectrum, 14. 4. 2018, Daten für Bombenziele zu funken, was diesbezügliche Kritik laut. Kinder von S. 111. auch erfolgreich durchgeführt werden Akteuren versuchten in emotionalen Stel- September 2019 7 lungnahmen unter Berufung auf „Erzäh- Debatte die Sicht auf das Verhalten der Ungar-Klein, Brigitte: lungen meines Vaters und die persönlichen Österreicher in der NS-Zeit zu ändern be- Schattenexistenz. Jüdische U-Boote Gespräche mit Herrn Ludwig Steiner“ den gann, konnte Weber in einem von Hans in Wien 1938–1945. Picus: Wien 2019. Mythos der alleinigen „Selbstbefreiung“ Haider für die Presse durchgeführten In- 376 S. aufrechtzuerhalten und die Rolle der US- terview seine Anerkennung des Einsatzes Agenten zu marginalisieren. In diesem der US-Agenten öffentlich machen. Zusammenhang ist insbesondere auf den Ein wesentlicher Teil von Pirkers Arbeit Schon früh hat das Schicksal Anne Franks, vom DÖW 1984 veröffentlichten, detail- ist die Auseinandersetzung mit einer öster- deren Familie versucht hatte, durch ein lierten und präzisen schriftlichen Bericht reichisch-patriotischen Historiografie, die Leben im Verborgenen der Deportation zu Steiners vom August 19453 zu verweisen, einseitig die Innsbrucker Widerstands- entgehen, internationale Bekanntheit er- in dem die Vorgänge am 3. Mai 1945 und aktion hervorhob, zu einer „Selbstbefrei- langt. Das Faktum, dass auch in Wien die entscheidende Rolle von Lt. Fred ung“ hochstilisierte und den entscheiden- Menschen als sogenannte „U-Boote“, als Mayer beschrieben werden. Hier ist wohl den Anteil Fred Mayers und der Greenup- „Untergetauchte“, die nationalsozialisti- auch die generelle Feststellung ange- Operation immer stärker ausblendete. sche Verfolgung überlebt hatten, themati- bracht, dass die in einer heroisieren- Insbesondere mit dem damaligen OSS- sierte in Österreich als Erste Erika den Geschichtsschreibung dargestellten Agenten und nachmaligen Wiener Ver- Weinzierl 1969 in ihrer Arbeit Zu wenig Selbstbefreiungen, wie z. B. KZ Buchen- leger Fritz Molden geht Pirker hart ins Gerechte. Doch trotz einiger Aufsätze von wald, Prag, Paris und andernorts, insofern Gericht („fantastische Erzählungen“, Brigitte Ungar-Klein, Beiträgen von wesentlich zu modifizieren sind, als diese „imaginäre Fabrikation von österreichi- Gwyn Moser und Eleonore Lapin sowie Aktionen nur vor dem Hintergrund der un- schen Partisanenverbänden“).4 öffentliches Aufsehen erregender Ver- aufhaltsam vorrückenden alliierten Streit- Es ist das besondere Verdienst Peter öffentlichungen wie jene über Dorothea kräfte erfolgreich sein konnten. Wo diese Pirkers, die bis vor Kurzem tradierten Le- Neff, die ihre Freundin bis Kriegsende bei Hilfe ausblieb, wie in Warschau 1944, genden falsifiziert und den entscheidenden sich versteckt und gerettet hatte, blieb eine endeten die Aufstände in Niederlagen. Anteil von jüdischen US-Agenten an der umfassende wissenschaftliche Auseinan- Peter Pirker beschränkt sich nicht auf die kampflosen Befreiung Innsbrucks heraus- dersetzung mit diesem Thema bislang aus. Darstellung der – dramatischen und span- gearbeitet zu haben. Diese Geschichts- Mit der vorliegenden Publikation füllt nend erzählten – Ereignisse bis zum Mai revision erfolgt ohne polemischen oder Brigitte Ungar-Klein nunmehr in umfas- 1945. Er zeichnet auch ein – aus heutiger moralisierenden Ton, und sie ist auch nicht sender Weise diese Forschungslücke zu ei- Sicht – skandalöses Bild des Umgangs der einseitig, weil die Rolle des Tiroler Wider- nem wesentlichen Thema von Überlebens- USA und Deutschlands mit den inhaftier- stands durchaus anerkannt wird. Der von strategien von Jüdinnen und Juden wäh- ten NS-Verbrechern. Die opportunistische Pirker nun schon in mehreren Publika- rend der NS-Zeit in Wien. Gleichzeitig Rechnung Gauleiter Hofers ging auf: Aus tionen entwickelte Gesichtspunkt des präsentiert die Arbeit aber auch relevante amerikanischer Haft entsprungen erhielt er transnationalen Widerstandes, des Zusam- Erkenntnisse zu einem Teilaspekt des hu- in der BRD nur eine geringe Strafe und menwirkens von Widerstands- und Parti- manitär motivierten Widerstandes gegen wurde nicht an Österreich ausgeliefert, wo sanengruppen mit militärischen und nach- die Vorgaben des NS-Regimes. ihm die Todesstrafe drohte. Ebenso kamen richtendienstlichen Stellen der Alliierten, Ausgehend von der Definition des von ihr die in Folter und Mord involvierten Inns- ist ein Kontrapunkt zu einer die europäi- untersuchten Personenkreises behandelt brucker Gestapobeamten glimpflich da- sche Widerstandsforschung jahrzehnte- die Autorin alle denkbaren Aspekte des von. Pirker spricht von „offensichtlichem lang dominierenden, eindimensionalen pa- Lebens im Verborgenen, ausgehend von Justizversagen und möglichen politischen triotisch-nationalen Historiografie5 und den Motiven und Umständen zur Ent- und geheimdienstlichen Interventionen“. bietet neue und fruchtbare Perspektiven scheidung unterzutauchen. Sie betrachtet Der Autor macht auch den innenpoliti- für zukünftige Forschungen. dabei nicht nur die Überlebenden, sondern schen Klimawandel in Tirol und Öster- Wolfgang Neugebauer widmet einen Teil der Arbeit auch den ge- reich bald nach 1945 sichtbar: Im Zuge scheiterten „U-Booten“, also jenen Ver- der gesellschaftlichen Reintegration der folgten, deren die Gestapo als Verfol- 4 Diese Sichtweise bestimmte insbesondere die ehemaligen NS-Mitglieder, der Wehr- Arbeiten von Otto Molden, Der Ruf des Gewis- gungsbehörde habhaft werden konnte – in machts- und Waffen-SS-Angehörigen wa- sens. Der österreichische Freiheitskampf vielen Fällen infolge von Verrat. Die ren Widerstand, Desertion und Kampf für 1938–1945, Wien 1958, und Fritz Molden, Verhaftung bedeutete für die meisten den die Alliierten nicht mehr opportun. Franz Fepolinski und Waschlapski auf dem berstenden Ausgangspunkt für Deportation und nur Weber, der eine politische Karriere machte Stern, Wien–München–Zürich 1976, auf denen allzu oft der folgenden Ermordung. Mit wiederum der tschechisch-amerikanische Histo- und ÖVP-Nationalratsabgeordneter wur- riker Radomir Luz`´a aufbaute (Der Widerstand in Hilfe verschiedener Quellen, nicht zuletzt de, sprach und schrieb bald nicht mehr Österreich 1938–1945, Wien 1985). Selbstkri- der Datenbank der österreichischen Holo- über seine OSS-Tätigkeit, weil er Schaden tisch muss ich feststellen, dass auch in meiner caustopfer des DÖW, konnte Ungar-Klein für seine Laufbahn befürchten musste. Publikation Der österreichische Widerstand in vielen Fällen den weiteren Spuren der Seine aufhellenden Interview-Aussagen 1938–1945 (Wien 2015) die Rolle des Greenup- Verhafteten folgen. Die HelferInnen der Kommandos bei der Befreiung Innsbrucks uner- für die TV-Sendung Österreich II von wähnt blieb. Versteckten mussten im Falle der Ver- Hugo Portisch 1982 blieben ungesendet. 5 Siehe dazu u. a.: M. R. D. Foot, Resistance. An haftung gleichfalls mit dem Transport in Erst 1988, als sich im Zuge der Waldheim- Analysis of European Resistance to ein Konzentrationslager rechnen – einer 1940 to 1945, London 1976; Ger van Roon der bekanntesten Fälle, auch von Ungar- (Hrsg.), Europäischer Widerstand im Vergleich, Klein aufgegriffen, ist die Ärztin Ella 3 Widerstand und Verfolgung in Tirol 1934–1945. Berlin 1985; Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Eine Dokumentation, hrsg. vom Dokumenta- Handbuch zum Widerstand gegen National- Lingens, die die Haft im KZ Auschwitz er- tionsarchiv des österreichischen Widerstandes, sozialismus und Faschismus in Europa litt. Ausführlich widmet sich die Autorin Wien 1984, Bd. 2, S. 527–530. 1933/39–1945, Berlin–New York 2011. dem Leben im Verborgenen an sich – den 8 Mitteilungen 242 unzähligen Schwierigkeiten, mit denen heliegenden Gründen kaum Unterlagen sen Arbeitsleistung der Kunsthistorikerin Untergetauchte ebenso wie HelferInnen aus der NS-Zeit selbst vorhanden waren – und Spezialistin für Fragen von Art konfrontiert waren: Versorgung mit Nah- konnten doch aus konspirativen Gründen brut/Outsider Art Elisabeth Telsnig zu ver- rungsmitteln in einer Zeit der Lebens- keine Korrespondenzen geführt oder Fotos danken. Eine „Pioniertat“ hat dies Thomas mittelrationierungen; Probleme im Falle angefertigt werden. Die Arbeit beruht da- Röske, Leiter der Sammlung Prinzhorn einer Erkrankung, da ja illegal Lebende her einerseits auf Dokumenten der Ver- am Universitätsklinikum Heidelberg und keine Krankenversicherung hatten und folgungsbehörden, insbesondere der Kenner der Kunst von Psychiatrie- auch nicht einfach ein Arzt geholt werden Gestapoleitstelle Wien, andererseits vor PatientInnen, genannt. Denn als Telsnig, konnte; die ständige Angst, ertappt oder allem auf Nachkriegsquellen der verschie- die seit vielen Jahren den Art-brut- verraten zu werden, die Abhängigkeit vom denen mit NS-Opfern befassten Behörden, Künstler Josef Hofer betreut, im Jahre Stillschweigen der Umwelt. Alles dies for- wie der Registrierungsstelle für NS-Opfer 2015 aus den Salzburger Nachrichten zu- derte auch nach der Befreiung hohen Zoll im Wiener Rathaus oder dann später den fällig erfuhr, dass es gelungen war, über von den Überlebenden in Form von post- Akten der Opferfürsorgebehörden, die seit 20.000 vom Schimmel befallene psychia- traumatischen Störungen, chronischen einigen Jahren im Wiener Stadt- und trische Patientenakten aus einem feuchten Erkrankungen oder auch nur allgemeinen Landesarchiv zugänglich sind. Eine wich- Keller der Salzburger Christian-Doppler- Problemen, in der normalen Welt wieder tige Quelle stellten auch die sehr sorgfältig Klinik in das Salzburger Landesarchiv zu zurechtzukommen. Manchen Verfolgten recherchierten Dokumentationen dar, die verlagern, um sie wissenschaftlich bear- war es auch gelungen, unter der Tarnung die israelische Gedenkstätte Yad Vashem beiten zu können, handelte sie schnell und einer falschen, nicht-jüdischen Identität zu anlegt, wenn jemand als „Gerechter“, also schlug dem Landesarchiv dieses Projekt überleben. Sie standen 1945 dann vor der Retter von Jüdinnen und Juden, ausge- vor. Dabei konnte sie auf ihre seit Jahr- paradoxen Situation, den Behörden ihre zeichnet wird. Ergänzt werden diese zehnten erworbenen umfangreichen wahre Identität wieder glaubhaft machen Quellen durch von der Autorin selbst ge- Kenntnisse zur Geschichte der künstleri- zu müssen. Auch die Nachkriegsschwie- führte biografische Interviews mit überle- schen Leistungen von Psychiatrie- rigkeiten gegenüber Behörden, vor allem benden „U-Booten“ und deren Helfern. patientInnen in Europa seit dem 19. Jahr- auch angesichts des Unverständnisses von Wenn auch – wie Ungar-KIein richtiger- hundert zurückgreifen. Gesetzgeber – das „Leben im Verborge- weise anmerkt – solche Nachkriegserzäh- Nachdem die Direktion des Salzburger nen“, allerdings nur bei Vorliegen „men- lungen entsprechend quellenkritisch zu Landesarchivs der Durchsicht der Akten schenunwürdiger Bedingungen“, wurde betrachten sind, stellen sie doch eine wert- nach kreativ-künstlerischen Spuren – es erst in der 12. Novelle zum Opferfürsorge- volle Ergänzung zum amtlichen Doku- sollten schließlich 27.800 (!) Aktenbestän- gesetz 1961 als Verfolgungstatbestand an- mentenfundus dar. de zwischen 1849 und 1969 (!) sein – zu- erkannt – und Beamten der Entschädi- Brigitte Ungar-Klein ist mit dieser Publi- gestimmt hatte, begann Telsnigs zweijäh- gungseinrichtungen wie Opferfürsorge kation, die auf ihrer 2017 vorgelegten Dis- rige Sichtung. In 153, also nur in etwa werden von Ungar-Klein sachkundig dar- sertation beruht, nicht nur ein wichtiger einem halben Prozent der Krankenakten gestellt. Beitrag zur Forschungsliteratur über die seit 1849, fand sie Spuren, die schöpferi- Ein eigener Abschnitt ist den Helferinnen NS-Zeit gelungen, sondern darüber hinaus sches Schaffen anzeigen. Schließlich und Helfern gewidmet, deren uner- eine überaus gut lesbare, über Strecken wählte sie – mit exemplarischem An- schrockener Einsatz erst das Überleben spannende, aber auch erschütternde Ar- spruch – etwa ein Drittel von Arbeiten möglich machte. Nur wenige von diesen beit, der eine große Zahl von Leserinnen (Zeichnungen, Malerei, Kalligrafisches, leisteten ihre Unterstützung aufgrund von und Lesern zu wünschen ist. Wenn heute Montagen, Literarisches u. a. m.) aus, die Bezahlung, meistens standen Motive der Menschen davor zurückschrecken, im in diesem Band in erstaunlich guter Qua- Freundschaft, Mitmenschlichkeit oder Alltag eines demokratischen Rechtsstaates lität abgebildet sind. Telsnigs nüchternes auch eine Beziehung zum/zur Versteckten Zivilcourage zu zeigen und Rassismus und zugleich erschütterndes Resümee lau- im Vordergrund. und Fremdenfeindlichkeit entgegenzutre- tet, nicht zuletzt mit kritischem Blick auf Um die sehr divergenten Schicksale sowie ten, dann können die HelferInnen aus der die bis in die 1960er-Jahre in der „Salz- sozio-strukturelle Merkmale sowohl der Zeit einer unmenschlichen Diktatur ein burger Landesheilanstalt für Geistes- und „U-Boote“ als auch der HelferInnen bes- gutes Vorbild geben. Gemütskranke“ („Nervenklinik“) tätige ser erfassen zu können, gab Ungar-Klein Brigitte Bailer Ärzteschaft: diese in eine umfassende Datenbank ein, die ihr Aussagen zu demografischen und „Leider kam mir zu keiner Zeit ein sozialen Merkmalen, wie Alter, Ge- Dohle, Oskar, Ulrike Feistmantl, Hinweis unter, der belegen würde, dass schlecht, Beruf, Religionszugehörigkeit Elisabeth Telsnig: „… Trotl bin ich es in der Salzburger Landesheilanstalt (nicht alle als Juden Verfolgten gehörten nicht“. Kreatives Schaffen in der Ärzte gab, die dem kreativen Schaffen auch der jüdischen Religionsgemeinschaft Landesheilanstalt Salzburg 1849–1969 ihrer Patientinnen und Patienten jen- an) sowie Art und Orte der Unterkunft er- (= Schriftenreihe des Salzburger seits der ärztlichen Diagnose Beach- möglichten. Insgesamt erfasste sie auf die- Landesarchivs, Nr. 28). Salzburg: tung geschenkt, geschweige denn diese se Weise 1634 „U-Boote“, von denen Land Salzburg 2018. 352 S. Werke wertgeschätzt, gefördert oder 1022 mehr als ein Jahr lang versteckt leb- gar gesammelt hätten. Mehrfach fin- ten. Weiters nahm sie Daten zu 1827 Eine außergewöhnliche, zugleich beein- den sich in den Krankenakten sogar Helferinnen und Helfern auf, nur 397 von druckende, auch beklemmende Publika- abwertende Anmerkungen über das diesen hatten das „U-Boot“ schon vor tion ist mit diesem umfangreichen Band in Gezeichnete und Geschriebene. Wur- 1938 gekannt. der Schriftenreihe des Salzburger Landes- den Werke aufbewahrt, so geschah es Wie erwähnt gestaltete sich die Quellen- archivs erschienen. Er ist hauptsächlich wohl vielmehr, um die Diagnose zu lage für diese Arbeit schwierig, da aus na- der Initiative, Unberirrbarkeit und immen- untermauern.“ (S. 23) September 2019 9

Keinesfalls wurden die kreativen Arbeiten gegen die „etablierte ‚Art culturel?“ favo- dem sogenannten Normalen“. (S. 25) So- in ihrer künstlerischen Qualität wahrge- risierten „Art brut“ aus psychiatrischen dann bietet Telsnig einen äußerst informa- nommen. Zudem dürften viele Kreationen Anstalten. Röske skizziert in seinem ex- tiven und zugleich mit zahlreichen und be- angesichts solchen Desinteresses und ärzt- zellenten Text zugleich sinnvolle Mög- eindruckenden Illustrationen versehenen licher Insensibilität verloren gegangen lichkeiten der interpretatorischen Analyse Überblick über ihre Fundstücke. Sie hat und, wie angedeutet wird, als nutzlos und von Kunstwerken aus der Psychiatrie: 53 – aufgrund der geltenden Gesetze lei- unwert vernichtet worden sein. Umso der anonym bleibende – Beispiele sorgfäl- dringlicher ist nun diese Publikation. „Kunst- und gestaltungspsychologi- tig ausgewählt. Die Stigmatisierungen, die Der Band wird von einem kompakten sche sowie psychoanalytische Be- diese Menschen aufgrund ihrer psychi- Aufriss zur Geschichte des „Irren-, trachtungen bestimmten bereits das schen Erkrankungen ohnehin erfahren Narren- und Siechenwesens“ im Lande Buch ‚Ein Geisteskranker als Künst- mussten, werden auf diese Weise prolon- Salzburg seit dem 18. Jahrhundert eröff- ler‘ (1921) von Walter Morgenthaler giert. Eine einzige Ausnahme gibt es, da net. Oskar Dohle, der Leiter des Landes- und Prinzhorns Studie von 1922 [Hans das Schicksal dieses Patienten bereits archivs, hat ihn gemeinsam mit Ulrike Prinzhorn: Bildnerei der Geistes- 1991 in einem Beitrag über „,Euthanasie’ Feistmantl, einer seiner Mitarbeiterinnen, kranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Zwangssterilisierung“ von Inghwio verfasst. Die beiden skizzieren den steini- und Psychopathologie der Gestaltung]. aus der Schmitten und Walter Reschreiter gen Weg von der „Verwahrung“ über die Nach dem Zweiten Weltkrieg prägten in dem Band Widerstand und Verfolgung NS-„Euthanasie“ bis hin zu den wissen- lange Zeit biografische Blickwinkel in Salzburg 1934–1945 des DÖW publi- schaftlich fundierten und heute internatio- die Betrachtung. […] Heute dominie- ziert wurde: Sie betrifft das Schicksal des nal anerkannten Behandlungsmöglichkei- ren zeit- und kulturhistorische Ansätze k.u.k. Offiziers Johann Georg Mayrhofer ten auf der Basis moderner Organisations- […] Es ist aber zu erwarten, dass gera- (1891–1952), der wegen einer „schweren strukturen. Sie nehmen sich kein Blatt vor de von Seiten der Bildwissenschaft posttraumatischen Belastungsstörung, an- den Mund, wenn es darum geht, die mit- und der Disability Studies in den dauernder Persönlichkeitsänderung und verantwortlichen Salzburger Ärzte für die nächsten Jahren wichtige Anregungen Opiatsabhängigkeit“ – die Ärzte hatten erwähnten Morde zu nennen (d. h. die kommen. Denn […] bislang [sind] pauschal „Schizophrenie“ diagnostiziert – zwischen 1934 und 1945 tätigen Direk- Fragen nach der anthropologischen seit 1929 mehrmals in die Klinik eingelie- toren Leo Wolfer und Günther Vogelsang und bildkritischen Verortung dieser fert wurde und trotz vorgesehener Er- sowie den Arzt Heinrich Wolfer). Etwa Werke weitgehend ungeklärt […].“ mordung im Zuge der NS-„Euthanasie“ 400 psychisch kranke und beeinträchtigte (S. 18) Hartheim überlebte. Unmittelbar nach PatientInnen aus dem Gau Salzburg, da- Ende des Krieges lieferte Mayrhofer einen von 262 aus der Landesheilanstalt, wurden Schließlich versucht Röske eine erste be- erschütternden und zugleich für die histo- ermordet (reichsweit waren es zwischen schreibende Annäherung und Systema- rische Forschung unschätzbaren „Erleb- 1939 und 1941 ca. 100.000). Zugleich be- tisierung der von Elisabeth Telsnig vorge- nisbericht“ über seine Deportation aus der richten Dohle/Feistmantl auf knappstem legten Materialien. Klar bleibt dabei, dass Klinik. Dass sich der damalige interimisti- Raum äußerst informativ über alle nur für die noch ausstehenden Interpretationen sche Leiter der Klinik im Mai 1945 an- denkbaren Probleme dieses Teils des der Werke nicht alle zu berücksichtigen- maßte, den Bericht des Patienten in ver- Gesundheitswesens (z. B. bauliche Maß- den Aspekte ausgeschöpft werden konn- harmlosender Weise zu verändern, spricht nahmen, medizinisch-psychiatrische The- ten, etwa Bildkultur-Kontexte der Pa- Bände. Telsnig liefert das Faksimile dieses rapien im Wandel der Zeit, Träger-Insti- tientInnen, ihre künstlerischen Vorbildun- Berichtes und eine weitere Arbeit des tutionen, Leiter der Einrichtung seit 1848 gen sowie „persönliche und kollektive Patienten, etwa die gereimte „Geschichte bis heute, statistische Daten). Erinnerungen“ usf. eines Traumes“ mit Illustrationen. Von Thomas Röske stammt ein besonders Für mehr als 300 Seiten zeichnet die Die ausgewählten Beispiele stammen von wertvoller Beitrag, der nicht zuletzt den Kunsthistorikerin Elisabeth Telsnig ver- PatientInnen (Geburtsjahrgänge von 1833 Stellenwert der vorliegenden Publikation antwortlich – zuerst für ihren präzisen bis 1921), die zwischen 1855 und 1962 in klar macht. Denn Röske bietet – erneut auf Arbeitsbericht im Kontext ihres Wissens der Salzburger Anstalt für kurze Zeit oder knappstem Raum und für jedermann/je- über die seit dem 19. Jahrhundert in praktisch lebenslang betreut und behandelt derfrau in klarer Lesbarkeit – nicht nur ei- Europa virulente und zugleich wider- wurden – zwölf von diesen künstlerisch nen Überblick über die europäischen sprüchlichen Konzepten folgende Be- tätigen Menschen wurden von der NS- Sammelzentren für Art brut/Outsider Art schäftigung mit Kunst aus der Psychiatrie Medizin „erbbiologisch erfasst“ bzw. als seit dem 19. Jahrhundert (z. B. Heidel- (z. B. Joseph Rogues de Fursac, Paul „erbkrank angezeigt“: Auf der Basis von berg/Hans-Prinzhorn-Sammlung mit heute Meunier, Cesare Lombroso, Auguste Telsnigs Rechercheleistung wird ein For- ca. 26.000 künstlerischen Werken aus psy- Forel, Eugen Bleuler, Charles Ladame, schungsprojekt der Universität Salzburg chiatrischen Anstalten seit 1840; Bethlem Arthur Kielholz, Karl Gehry, Walter alle mit der Salzburger Klinik in Verbin- Museum of the Mind in Beckenham/Kent Morgenthaler, Hermann Rorschach), na- dung stehenden „Euthanasie“-Fälle aufar- mit ca. 1000 Werken seit dem 17. Jahr- türlich auch mit den für Österreich bahn- beiten – nach fast 80 Jahren. hundert; Museo della Mente/Ospedale brechenden Leistungen von Leo Navratil Die künstlerisch tätigen PatientInnen Santa Maria della Pietà/Rom; Crichton (1921–2006) nach 1945. Grundlage von stammten aus fast allen Teilen des alten Royal Institution/Scotland seit 1839; Telsnigs Denken und Engagement stellt Österreich (z. B. auch aus Galizien, Tsche- Collection de l’Art Brut/Lausanne seit dabei Jean Dubuffets Überzeugung dar, chien, Slowenien), aber auch aus Bayern. 1976), sondern auch eine Skizze der wis- dass „die Mechanismen des künstlerischen Nicht weniger als 25 unterschiedliche senschaftlichen Meilensteine der Aus- Schaffens, die [die Insassen psychiatri- Diagnosen hatten die Ärzte seit dem einandersetzung mit „Kunst in Akten“ scher Kliniken] zur Verfügung haben, bei 19. Jahrhundert ausgestellt, deren Halt- bzw. der von Jean Dubuffet (1901–1985) ihnen genau die gleichen sind wie bei je- barkeit bzw. Fehleinschätzung von den 10 Mitteilungen 242 heute in der Psychiatrie und Neurologie nisse nicht in abstrakten Statistiken ver- tätigen Ärzten (Wolfgang Aichhorn, Schoeps, Julius H.: Düstere schwinden. Es geht um die Entrechtung Leonhard Thun-Hohenstein, Eugen Vorahnungen. Deutschlands Juden jüdischer Ärzte, Rechtsanwälte und Wis- Trinka) auf der Basis der Krankenakten am Vorabend der Katastrophe. Berlin: senschaftler. Immer wieder wird auch aus- evaluiert wurden – leider ohne nähere Er- Hentrich & Hentrich-Verlag 2018. führlich auf konkrete Ereignisse eingegan- läuterungen. Umso größere Mühe und 612 S. gen, sei dies der Sturm auf Magnus Aufmerksamkeit ließ Telsnig walten. Hirschfelds „Institut für Sexualwissen- Denn jedem ihrer Beispiele widmet sie Wie reagierte die jüdische Bevölkerung schaft“ oder das Schicksal der Kinder- eine bis zu drei Seiten umfassende Infor- auf die Machtübertragung an die National- buchautorin Else Ury, sei es die Ermor- mation der einzelnen Menschenschick- sozialisten? Diese Frage nimmt die Opfer- dung des Schriftstellers Theodor Lessing sale, wie sie sich aus den Krankenakten und nicht die Täterperspektive ein. oder die Verfolgung des Sozialdemokraten ablesen lassen. Dabei beschränkt sich die Während die Forschung die Repressions- Felix Fechenbach. Man findet bei diesen Autorin nicht allein auf wesentliche bio- politik durch den NS-Staat breit aufgear- eindrucksvollen Beschreibungen auch grafische Fakten, sondern transkribiert beitet hat, widmete sie weniger Aufmerk- wichtige Detailinformationen wie zum bzw. erläutert relevante Passagen der krea- samkeit den davon betroffenen Juden und „Ha’avara-Transferabkommen“ und der tiven Fundstücke, indem sie u. a. kunst- Jüdinnen. Erkannten sie die Bedrohung „Zusammenarbeit“ von Nationalsozia- und literarhistorische Bezüge aufmacht ihrer Existenz? Oder hielten sie den Natio- listen und Zionisten (vgl. S. 371–378, (z. B. Adelbert von Chamisso, J. W. von nalsozialismus für ein vorübergehendes 453–459). Dabei findet sich eine histo- Goethe, Ferdinand Hodler, Pablo Picasso, Phänomen? War eher die Anpassung oder risch korrekte Beschreibung mit differen- Marc Chagall, Kriegslyrik, Architektur, mehr die Auswanderung die dominierende zierten Einschätzungen, kursieren doch Popart, Tamara de Lempicka, Gustave Handlungsoption? Antworten darauf ge- gerade dazu von geneigter Seite ominöse Doré), beschreibt skizzenhaft die Fund- ben will der Historiker und Politikwissen- Zerrbilder. Bilanzierend heißt es: Die Ju- stücke und bietet den interessierten Lesern schaftler Julius H. Schoeps, Gründungs- den hätten die Gefahr des Nationalsozia- und Leserinnen überdies zeitgeschichtli- direktor und langjähriger Leiter des Moses lismus gesehen, aber „deren Entschlossen- che Zusammenhänge und Dokumente an, Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jü- heit“ (S. 499) unterschätzt. um die Arbeiten der PatientInnen besser dische Studien an der Universität Pots- Wie der Autor selbst schreibt, sind viele verstehen und verorten zu können. Somit dam. Mit Düstere Vorahnungen. Deutsch- Ausführungen nicht „neu“, aber als „Nar- legt Telsnig mit ihren Salzburger Bei- lands Juden am Vorabend der Katastrophe rativ der Zusammenschau“ (S. 13) wich- spielen die Grundlage etwa für verglei- legt er eine umfangreiche Studie vor. tig. Genau darin ist die Bedeutung des chende Studien über Art brut in anderen Darin geht es um die Entwicklung zwi- Buchs zu sehen, wobei die Opferperspek- Sammlungen weltweit. schen 1933 und 1935 und die Frage „Wie tive wichtig ist. Schoeps gelang damit ein Prinzipiell orientiert sie sich an ihrer […] haben die deutschen Juden die Ereig- überaus lesenswertes Werk. Er schreibt in- Überzeugung – Thomas Röske hat es auf nisse vor und nach der Machtübernahme dessen mehr als Historiker, weniger als den Punkt gebracht –, wonach es darum erfahren, erlebt und verarbeitet?“ (S. 12). Politikwissenschaftler. Insofern lässt der geht, den Menschen in der Psychiatrie „als Dabei blickt der Autor zunächst auf die Autor hauptsächlich die Fakten sprechen Künstler/innen die Identität zurückzuge- Entwicklung in der Weimarer Republik, und ist mit Urteilen eher zurückhaltend. ben, die ihnen als Patient/innen genom- konnte dort doch bereits ein Anstieg des Bei alldem spielt auch die Erinnerung an men worden war“. (S. 18) Umso schmerz- Antisemitismus ausgemacht werden. Dies seinen Vater eine Rolle, hatte dieser doch licher erscheint Telsnig die noch immer waren für ihn „Vorboten des Kommen- als deutsch-nationaler Jude seinerzeit auf gültige Rechtslage, die Anonymisierung den“ (S. 19). Ein Bewusstsein davon sei eine Mäßigung der Nationalsozialisten ge- notwendig macht und somit weiterhin kol- innerhalb des keineswegs homogenen hofft. Entgegen mancher Einwände macht lektiver Stigmatisierung Vorschub leistet. Judentums sehr wohl vorhanden gewesen. dieser persönliche Hintergrund aus dem Diese Publikation sollte Anlass für weiter- Aufgrund der starken Assimilation und Buch aber keine Rechtfertigungsschrift. führende medizingeschichtliche, insbe- Integration konnte und wollte man sich in- Es wird hier anhand eines konkreten sondere psychiatriehistorische Forschun- dessen nicht die folgenden Konsequenzen Falles die Komplexität des Themas deut- gen unter Berücksichtigung künstlerischer und Verbrechen vorstellen. Es gab zwar lich. Wünschenswert wäre noch gewesen, Dimensionen psychisch kranker Men- die erwähnten Bedenken, gleichwohl hoff- die damaligen Juden und Jüdinnen in ihrer schen sein und zugleich das Bewusstsein te die jüdische Bevölkerung auf eine Vielfalt stärker zu unterscheiden. Welche für die Vielfalt des Schöpferischen in je- Mäßigung des Regimes. Der Autor zitiert genauen Ausrichtungen gab es, wie rea- dem „individuellen Sein“ (S. 25) schär- etwa eine Erklärung des „Centralvereins gierten diese auf den Nationalsozialismus? fen. Denn, wie Jean Dubuffet präzise for- deutscher Staatsbürger jüdischen Glau- Ansonsten: Es handelt sich um beklem- mulierte: „Alle Beziehungen […], die wir bens“, wo von der unbeirrten „Pflege mendes und wichtiges Werk. zu unseren Kollegen mit der Schellen- der deutsch-vaterländischen Gesinnung“ Armin Pfahl-Traughber kappe hatten, haben uns überzeugt, dass (S. 118) die Rede war. Man habe so auf die Mechanismen des künstlerischen ein Arrangement mit den Nationalsozia- Diese Zeitung ist eine von Schaffens, die sie zur Verfügung haben, listen gehofft. Doch es kam bekanntlich 1.800 aus dem Leseprogramm von bei ihnen genau die gleichen sind wie bei ganz anders: Die Ausgrenzungs- und Dis- jedem sogenannten Normalen; übrigens kriminierungspraxis nahm zu, tagtäglich APA-DDeFacto GmbH scheint uns diese Unterscheidung zwi- erfolgten Entrechtungen und Gewalttaten. MEDIENBEOBACHTUNG schen normal und anormal nicht recht Den Betroffenen wurde die soziale 1060 WIEN, LAIMGRUBENGASSE 10 fassbar zu sein. […] Wo ist er, der normale Existenzgrundlage entzogen. TEL.: 01/360 60 - 5123 E-MAIL: [email protected] Mensch?“ (S. 25) All dies wird anhand von Beispielen ein- INTERNET: http://www.apa-defacto.at Karl Müller drucksvoll geschildert, wodurch die Ereig- September 2019 11 Nisko 1939: Erste Massendeportation aus Wien Deportation und Vernichtung – Maly Trostinec Internationales Symposion / Buchpräsentation des DÖW in Kooperation mit Wohnprojekt Gleis 21 Dienstag, 17. September 2019 / Renner-Institut, Karl-Popper-Straße 8, 1100 Wien

Koordination: Claudia Kuretsidis-Haider, Christine Schindler, Winfried R. Garscha, Wolfgang Schellenbacher Gesamtmoderation: Claudia Kraft, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien / Programm: www.doew.at

Symposion, 12.30–17.45 Uhr

Der vom NS-Regime am 1. September 1939 entfesselte Zweite Weltkrieg be- schränkte die Möglichkeiten zur weiteren Flucht und Vertreibung der Juden und Jü- dinnen aus dem Deutschen Reich. Die NS-Führung forcierte deshalb die Planun- gen zur Schaffung eines „Judenreservates“ im Gebiet östlich von Nisko am Fluss San an der Grenze des „Generalgouverne- ments“. Dieser Plan gelangte zwar nicht zur Durchführung, dennoch ließ der Chef des RSHA Reinhard Heydrich, dem von Reichsführer SS Heinrich Himmler die Organisation der Zwangsumsiedlung übertragen worden war, von Adolf Eichmann, Leiter der Zentralstelle für jü- dische Auswanderung in Wien, Deporta- Aus der Deportationsliste Wien–Nisko, 20. 10. 1939 tionszüge zusammenstellen. Im Rahmen dieser Aktion gelangten von Wien aus wjetische Demarkationslinie gejagt. Die 1939: Erste Massendeportation aus Wien zwei Transporte nach Nisko, am 20. und meisten von ihnen wurden vom sowjeti- stellt den Auftakt eines vom DÖW für die 27. Oktober 1939. Die Erstellung der Liste schen Geheimdienst NKWD als „politisch nächsten Jahre geplanten Forschungs- wurde der Israelitischen Kultusgemeinde unzuverlässig“ eingestuft und in Zwangs- schwerpunktes dar. Ziel ist die über das übertragen. Allerdings konnte nur ein klei- arbeitslager verbracht. 198 Männer, die in wichtige Werk von Jonny Moser, Nisko – ner Teil der rund 1500 Deportierten, etwa Nisko verblieben waren, kamen nach dem Die ersten Judendeportationen, hinausge- 200 Männer, im Lager, das sie selbst auf- Ende der Aktion nach Wien zurück. Viele hende Erschließung von weiteren Quellen bauen mussten, unterkommen. Die Mehr- von ihnen wurden später in den national- zur Nisko-Aktion sowie das Sichtbar- heit hingegen wurde unter Abfeuerung sozialistischen Vernichtungsstätten ermor- machen des Schicksals der deportierten von Schreckschüssen über die deutsch-so- det. Das internationale Symposion Nisko Männer.

Buchpräsentation, 18.00–19.30 Uhr puffgasen erstickt. Österreicher waren an der Ermordung der Juden und Jüdinnen, DÖW (Hrsg.) sowjetischen Kriegsgefangenen, Parti- sanInnen, ZivilistInnen in Weißrussland Deportation und Vernichtung beteiligt. Keiner von ihnen wurde nach Maly Trostinec dem Krieg in Österreich für seine Verbre- Jahrbuch 2019 chen verurteilt. Das Jahrbuch 2019 des DÖW publiziert neue Forschungsergeb- Zwischen 1942 und 1944 ermordeten die nisse zu diesem Ort der Massenvernich- Nationalsozialisten in Maly Trostinec bis tung, aber auch zur Verfolgung der öster- zu 60.000 Menschen. Mehr als 9700 öster- reichischen Roma und Sinti, zum belgi- reichische Juden und Jüdinnen wurden an schen SS-Auffanglager Breendonk und zu dieser Mordstätte im besetzten Weißruss- einer tschechisch-österreichischen For- land umgebracht bzw. gingen im nahe ge- schungskooperation, die verstreute Doku- legenen Ghetto Minsk zugrunde, wurden mente zu Flucht und Vertreibung online erschossen oder in Gaswagen mit Aus- zusammenführt.

An der Herstellung dieser Nummer wirkten mit: Brigitte Bailer, Eva Kriss, Karl Müller, Wolfgang Neugebauer, Armin Pfahl-Traughber. Impressum: Verleger, Herausgeber und Hersteller: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wipplingerstraße 6–8 (Altes Rathaus), 1010 Wien; Redaktion ebenda (Christa Mehany-Mitterrutzner, Tel. 22 89 469/322, e-mail: [email protected]; Sekretariat, Tel.: 22 89 469/319, e-mail: [email protected]; web: www.doew.at). Ich bestelle folgende Publikationen:

Kombiangebot 80 Jahre Internationale Brigaden. Neue Forschungen über ös- Gedenken und Mahnen in Wien, Gedenkstätten zu Widerstand terreichische Freiwillige im Spanischen Bürgerkrieg, hrsg. v. und Verfolgung, Exil, Befreiung. Eine Dokumentation, hrsg. v. DÖW u. Vereinigung österreichischer Freiwilliger in der Spani- DÖW, Wien 1998 schen Republik 1936–1939 und der Freunde des demokratischen Gedenken und Mahnen in Wien. Ergänzungen I, Wien 2001. Spanien, Wien 2016, 157 S., i 12,50 ... Stück i 13,– (statt i 15,–) ... Stück Wieder erhältlich: Jakob Rosenberg / Georg Spitaler, Grün-weiß Heinz Arnberger / Claudia Kuretsidis-Haider (Hrsg.), Gedenken unterm Hakenkreuz. Der Sportklub Rapid im Nationalsozialis- und Mahnen in Niederösterreich. Erinnerungszeichen zu Wi- mus, hrsg. v. SK Rapid und DÖW, Wien 2011, 303 S., EUR 18,99 derstand, Verfolgung, Exil und Befreiung, Mandelbaum Verlag ... Stück 2011, 712 S., Ladenpr. i 39,90 ... Stück „Vor unserem Herrgott gibt es kein unwertes Leben“. Die Institut Theresienstädter Initiative/DÖW (Hrsg.) Theresien- Predigt von Diözesanbischof Michael Memelauer bei der Silves- städter Gedenkbuch. Österreichische Jüdinnen und Juden in terandacht am 31. Dezember 1941 im Dom zu St. Pölten, hrsg. v. Theresienstadt 1942–1945, Prag 2005, 702 S., i 29,– DÖW u. Diözesanarchiv St. Pölten, St. Pölten 2017, 42 S., i 5,– ... Stück ... Stück Herbert Exenberger/Heinz Riedel, Militärschießplatz Kagran, Österreichische Ärzte und Ärztinnen im Nationalsozialismus, Wien 2003, 112 S., i 5,– ... Stück Jahrbuch 2017, hrsg. v. Herwig Czech u. Paul Weindling im Auftrag des DÖW, Wien 2017, 303 S., i 19,50 ... Stück DÖW, Katalog zur permanenten Ausstellung. Wien 2006, 207 S., 160 Abb., i 24,50 ... Stück Zeithistoriker – Archivar – Aufklärer. Festschrift für Winfried R. Garscha, hrsg. v. Claudia Kuretsidis-Haider u. Christine DÖW, Catalog to the Permanent Exhibition, Wien 2006, 95 S., Schindler im Auftrag des DÖW u. der Forschungsstelle Nach- über 100 Abb., i 14,50 ... Stück kriegsjustiz, Wien 2017, 500 S., i 19,50 ... Stück Forschungen zum Nationalsozialismus und dessen Nachwir- Claudia Kuretsidis-Haider, Österreichische Pensionen für jüdi- kungen in Österreich. Festschrift für Brigitte Bailer, hrsg. vom sche Vertriebene. Die Rechtsanwaltskanzlei Ebner: Akteure – DÖW, Wien 2012, 420 S., i 19,50 ... Stück Netzwerke – Akten, hrsg. v. DÖW, Wien 2017, 319 S., i 19,50 Barry McLoughlin / Josef Vogl, „... Ein Paragraf wird sich fin- ... Stück den“. Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer (bis Forschungen zu Vertreibung und Holocaust, Jahrbuch 2018, 1945), hrsg. v. DÖW, Wien 2013, 622 S., i 24,50 ... Stück hrsg. v. DÖW, Wien 2018, 382 S., i 19,50 ... Stück

Florian Freund, Die Toten von Ebensee. Analyse und Dokumen- Herwig Czech / Wolfgang Neugebauer / Peter Schwarz, Der tation der im KZ Ebensee umgekommenen Häftlinge 1943–1945, Krieg gegen die „Minderwertigen“. Zur Geschichte der NS- Braintrust, Verlag für Weiterbildung 2010, 444 S., i 29,– Medizin in Wien / The War against the “Inferior.” On the ... Stück History of Nazi Medicine in . Katalog zur Ausstellung in Wolfgang Neugebauer, The 1938–1945, der Gedenkstätte Steinhof im Otto-Wagner-Spital der Stadt Wien. Edition Steinbauer 2014, 336 S., i 22,50 ... Stück hrsg. v. DÖW, Wien 2018, 243 S., i 25,– ... Stück Wolfgang Neugebauer, Der österreichische Widerstand Josef Eisinger, Flucht und Zuflucht. Erinnerungen an eine be- 1938–1945, überarb. u. erw. Fassung, Edition Steinbauer 2015, wegte Jugend, hrsg. v. DÖW, Wien 2019, 240 S., i 20,– 351 S., i 22,50 ... Stück ... Stück Rudolf Agstner / Gertrude Enderle-Burcel / Michaela Follner, Claudia Kuretsidis-Haider / Rudolf Leo, „dachaureif“. Der Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky. Österreichertransport aus Wien in das KZ Dachau am 1. April Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswär- 1938. Biografische Skizzen der Opfer, hrsg. v. DÖW u. Zentraler tigen Dienstes 1918 bis 1959, Wien 2009, 630 S., i 29,90 österreichischer Forschungsstelle Nachkriegsjustiz, Wien 2019, ... Stück 344 Seiten, zahlr. Abb., i 25,–...... Stück Fanatiker, Pflichterfüller, Widerständige. Reichsgaue Nieder- Deportation und Vernichtung – Maly Trostinec. Jahrbuch donau, Groß-Wien, Jahrbuch 2016, hrsg. v. DÖW, Wien 2016, 2019, hrsg. v. DÖW, Wien 2019, 359 S., i 19,50 412 S., i 19,50 ... Stück ... Stück

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