BRGÖ 2014 Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs

MIRIAM GASSNER, Wien Der Kreis um in Lateinamerika Wie die Reine Rechtslehre Lateinamerika eroberte*

Hans Kelsen, one of the most important legal theorists of the 20th century, was and in fact still is as popular in Latin America as he is in Europe. The article examines Kelsen’s reception in the Spanish speaking world, especially his reception by the legal philosopher Carlos Cossio and gives an overview of Kelsen’s visits to Latin America, namely to in 1941, to , and in 1949 and to in 1960.

Einleitung Rechtslehre“. Der Untertitel erklärt sich aus dem Umstand, dass die 28 in diesem Band porträtier- Ein wesentlicher Grund für den Einfluss, den ten Personen allesamt mit Kelsen noch vor des- die von Hans Kelsen entwickelte „Reine Rechts- sen Flucht aus Europa 1940 „in persönlichen lehre“ weltweit gewinnen konnte, war der Um- Kontakt gekommen waren“.1 Die Kontakte, die stand, dass Kelsen stets schulenbildend wirkte, Kelsen nach seiner Emigration in die Vereinig- d.h. bemüht war, seine Theorien und Methoden ten Staaten neu knüpfen konnte, blieben also an zumeist jüngere Kolleginnen und Kollegen ausgeklammert; ihre Recherche ist von Europa weiterzugeben. Vermutlich schon 1913 begann aus weit aufwändiger als jene zu den Anfangs- er, in seiner Wohnung im VIII. Wiener Gemein- jahren. debezirk in der Wickenburggasse 23 Privatse- In diesem Sinne möchte die gegenständliche minare abzuhalten, woraus die „Wiener rechts- Arbeit einen ersten Überblick über die persönli- theoretische Schule“ entstand. Aber auch wäh- chen Kontakte Hans Kelsens zu lateinamerikani- rend seiner Tätigkeit in Köln (1930–1933), Genf schen Rechtswissenschaftern geben und darstel- (1933–1940) und in den Vereinigten Staaten (ab

1940) trachtete Kelsen nicht nur danach, den * Der Artikel enthält Ergebnisse des FWF-Projekts P Kontakt zu seinen alten Schülerinnen und Schü- 23747 „Hans Kelsens Leben in Amerika (1940–1973) lern zumindest im Briefweg aufrecht zu erhal- und die weltweite Verbreitung seiner Rechtslehre“. ten, sondern immer wieder auch neue Schüle- Im Rahmen dieses Projekts hatte die Autorin des gegenständlichen Beitrages u.a. die Aufgabe, die rinnen und Schüler für seine Lehre zu gewin- Beziehungen Kelsens zu lateinamerikanischen Juris- nen. So entstand ein weltumspannendes Netz- ten zu untersuchen und unternahm 2012 gemeinsam werk von Wissenschafterinnen und Wissen- mit dem Projektleiter, Prof. Thomas Olechowski, zwei schaftern, die die Reine Rechtslehre direkt von Amerika-Reisen (Argentinien, Brasilien, Mexiko, Uruguay, USA), bei denen eine Reihe von Interviews ihrem Begründer kennen gelernt hatten und mit Zeitzeugen geführt wurden, worauf an entspre- wenigstens zum Teil – und auf sehr unterschied- chender Stelle noch gesondert hingewiesen werden liche Art und Weise – fortführten und weiter- wird. Gedankt sei Frau Dr. Tamara Ehs für das Zur- entwickelten. verfügungstellen ihrer Rechercheergebnisse im Rah- men des genannten Projektes, namentlich zu Kelsens 2008 veröffentlichte das Wiener Hans Kelsen- Beziehungen zur Rockefeller Foundation. Institut einen Sammelband, betitelt „Der Kreis 1 WALTER, JABLONER, ZELENY, Einleitung 5. um Hans Kelsen. Die Anfangsjahre der Reinen http://dx.doi.org/10.1553/BRGOE2014-1s64 Der Kreis um Hans Kelsen in Lateinamerika 65 len, inwieweit diese bemüht waren, die Reine schungsaufenthalten (u.a. bei José Ortega y Rechtslehre in ihren Ländern fortzuführen und Gasset5 in , bei Rudolf Stammler und weiterzuentwickeln. Im Zentrum stehen dabei Hermann Heller in Berlin und bei Giorgio del Kelsens Lateinamerika-Reisen 1941, 1949 und Vecchio in Rom) von November 1926 bis April 1960 sowie insbesondere die Auseinanderset- 1927 nach Wien, um Hans Kelsens Vorlesungen zung mit dem argentinischen Juristen Carlos zu hören.6 Er nahm an Kelsens Privatseminaren Cossio, der zwar schon bald ein von Kelsen in der Wickenburggasse teil, wo er auch Kelsens deutlich abweichendes Theorem, die sog. Ego- Schüler Rudolf A. Métall und Josef L. Kunz – die logische Rechtslehre, entwickelte, der aber viel- beide spanisch sprachen – kennengelernt haben leicht gerade dadurch wesentlich zu der bis wird.7 Schon während Recasens Siches Aufent- heute ungebrochenen Popularität Kelsens in halt in Wien entwickelte sich eine enge Freund- Lateinamerika beigetragen hat. schaft zwischen Métall, Kunz und Recasens Siches, die später bei der Verbreitung von Kelsens Reiner Rechtslehre in der spanischspra- Erste Kontakte in die chigen Welt eine große Rolle spielen sollte. Re- spanischsprachige Welt casens Siches war in Kelsens Vorlesungen aller- dings keineswegs der einzige Student aus der Hans Kelsens Kontakte nach Südamerika be- spanischsprachigen Welt gewesen, denn zeit- standen ab Mitte der 1920er Jahre. So verfasste gleich mit Recasens Siches war auch der Kuba- Hans Kelsen 1926 einige „Bemerkungen zur ner Antonio Sanchez de Bustamante y Montoro Chilenischen Verfassung“,2 wobei heute unklar zu Kelsen nach Wien gekommen, um Kelsens ist wie es dazu kam. Manchen südamerikani- Vorlesungen zu hören.8 Über Bustamante kam schen Kelsenforschern zufolge3 könnte der chi- später der Kontakt zwischen Kelsen und dem in lenische Staatspräsident Aturo Alessandri, der Kuba lebenden spanischen Rechtsphilosophen von September 1924 bis März 1925 in Frank- Emilio Fernandez Camus zustande, zu dessen reich, der Schweiz und Italien im Exil war,4 Kel- Werk „Gegenwärtige Rechtsphilosophie” Kelsen sen mit einem Gutachten über die chilenische 1932 ein Vorwort verfasste.9 Verfassung von 1925 beauftragt haben, wofür es allerdings keinerlei Hinweise gibt. Auch ist über 5 Siehe dazu Anm. 28. eventuell aus Chile stammende Schüler bzw. 6 „Durante el período que cubrieron los meses de noviembre sonstige Kontakte Kelsens nach Chile während de 1926 a abril de 1927 se trasladó a la Universidad de Viena. En dicha institución estudió Teoría del Derecho, seiner Wiener Zeit nichts bekannt. Filosofía, Teoría General del Estado y Sociología, becado Als Kelsens „Eintrittskarte“ in die spanischspra- por el Ministerio de Instrucción Pública de España, a chige Welt kann wohl der ursprünglich aus Gu- propuesta de la Junta para la Ampliación de Estudios e atemala stammende Jurist Luis Recasens Siches Investigaciones Científicas, por Real Orden de 19 de junio de 1926 (Gaceta del 31 de julio). Estuvo bajo la dirección de bezeichnet werden: los profesores Hans Kelsen, Fritz Schreier, Félix Kaufmann Luis Recasens Siches, 1903 in gebo- y R. Reininger. También acudió a las lecciones de los ren, hatte in Rechtswissenschaften profesores Bühler y Adler.“ (http://www.uc3m.es/portal/page/portal/instituto_fig studiert und kam im Zuge einer Reihe von For- uerola/programas/phu/diccionariodecatedraticos/ lcatedraticos/rsiches – abgerufen am 08. 08. 2013). So 2 KELSEN, Bemerkungen zur Chilenischen Verfassung. NOGUEIRA DIAS, Recaséns Siches 366. 3 So z.B. Augustin Squella von der Universität von 7 MÉTALL, Hans Kelsen y su escuela 23. Valparaiso. 8 Ebd. 4 COLLIER, SATER, History of Chile 211. 9 FERNÁNDEZ CAMUS, Filosofia juridica 5–8.

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1928 kehrte Bustamante y Montoro nach Kuba durch Lacambra,16 womit Kelsens Eintritt in die und Recasens Siches nach Spanien zurück, wo spanische rechtstheoretische Landschaft als letztgenannter sich dem Kreis um José Ortega y vollzogen betrachtet werden kann. Gasset anschloss und gemeinsam mit Justino de Ebenfalls 1934 wurde Hans Kelsen, wohl über Azcárate Flores Hans Kelsens „Grundriß einer die Kontakte seines ehemaligen Schülers und allgemeinen Theorie des Staates“ ins Spanische Assistenten Rudolf A. Métall, von der brasiliani- zu übersetzen begann.10 Nach kurzen Stationen schen Nationalversammlung mit der Erstellung an den Universitäten von de Com- eines Gutachtens über die Kompetenz der kon- postela, und , erhielt Re- stituierenden Nationalversammlung beauf- casens Siches schließlich eine Professur in Mad- tragt.17 11 rid, wo unter anderem der Spanier Luis Legaz Ab den frühen 1930er Jahren, als die politische y Lacambra bei ihm studierte. Auf Empfehlung Lage in Spanien in Folge eines (misslungenen) Recasens Siches’ kam Legaz y Lacambra im Stu- Militärputschs immer unbeständiger wurde und 12 dienjahr 1929/30 zu Kelsen nach Wien und Spanien unausweichlich auf einen Bürgerkrieg hörte dort neben Kelsens Vorlesungen zur zusteuerte, kam es zu einer Immigrationswelle Staatstheorie auch Vorlesungen bei Alfred Ver- spanischer Rechtsgelehrter und Intellektueller 13 dross, Fritz Schreier und Felix Kaufmann. nach Südamerika. Diese hatte zur Folge, dass Wieder in Spanien, begann Legaz y Lacambra die neuesten europäischen (rechts-)philo- mehrere Artikel über die Wiener Schule im All- sophischen Entwicklungen nach Südamerika gemeinen und Kelsens Rechtstheorie im Beson- „importiert” wurden. Auf diese Weise hielt deren zu publizieren. Auch in seiner Dissertati- wohl auch die Reine Rechtslehre Kelsens Einzug on, zu der Recasens Siches das Vorwort verfass- in viele südamerikanische Universitäten. Unter te, setzte sich Legas y Lacambra kritisch mit den spanischen Immigranten, die Spanien im Kelsen und der Wiener Rechtstheoretischen Zuge des spanischen Bürgerkrieges verließen, 14 Schule auseinander. war auch Luis Recasens Siches. 1937 erhielt Re- 1933 – also noch vor Erscheinen der ersten Auf- casens Siches eine Professur an der Universität lage der Reinen Rechtslehre im deutschsprachi- von Mexiko (UNAM)18 und sollte dort in den gen Raum – verfasste Luis Legaz y Lacambra folgenden Jahrzehnten einen wesentlichen Teil unter dem Titel „Reine Rechtslehre. Methode zur Verbreitung der Reinen Rechtslehre beitra- und fundamentale Konzepte“ eine Teilüberset- gen. zung von Kelsens „Reiner Rechtslehre“ ins Spa- Auch in Argentinien begann sich die Reine 15 nische. 1934 folgte eine Übersetzung von Rechtslehre durch die spanischen Immigranten Kelsens „Allgemeine Staatslehre“ ins Spanische rasch zu verbreiten. Anzunehmen ist, dass auf diese Weise auch ein damals noch nahezu unbe- kannter junger argentinischer Jurist namens 10 KELSEN, Compendio esquemático; Vgl. Carlos Cossio auf Kelsens Rechtslehre aufmerk- (http://www.uc3m.es/portal/page/portal/instituto_fig sam wurde. uerola/programas/phu/diccionariodecatedraticos/ lcatedraticos/rsiches – abgerufen am 08. 08. 2013) 11 NOGUEIRA DIAS, Recasens Siches 366. 12 Siehe dazu Anm. 8 bzw. ROBLES MORCHON, Luis Legaz y Lacambra. 16 KELSEN, Teoría general del Estado. 13 Ebd. (siehe Anm. 13). 17 KELSEN, A competência da Assembléia Nacional 14 LEGAS Y LACAMBRA, Kelsen. Constituinte. 15 KELSEN, Teoria Pura del Derecho. 18 NOGUEIRA DIAS, Recasens Siches 366ff.

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1903 in der Provinz Tucuman im Norden Argen- pes24 oder zum argentinischen Völkerrechtler tiniens geboren, studierte Cossio an der Univer- Luis Podesta Costa,25 die sich schließlich, als sität von Buenos Aires Rechtswissenschaften, Kelsen 1940 Europa im Zuge des 2. Weltkrieges schloss sich noch während seines Studiums der verlassen musste, bemühten, Kelsen ein Visum studentischen Reformbewegung (movimiento in ein lateinamerikanisches Land zu verschaf- reformista) an und verfasste 1927 auch seine Dis- fen.26 Im sprichwörtlich letzten Moment gelang sertation über diese.19 Ab 1934 Dozent an der es Kelsen jedoch, über die New School for Social Universidad Nacional von La Plata, nahm Cos- Research ein ex-quota Visum, welches ihn zur sio in seinem 1936 erschienenen Werk „Das rei- Einreise in die USA berechtigte, zu erhalten und ne Konzept der Revolution“20 erstmals explizit so verließ Kelsen gemeinsam mit seiner Gattin auf Kelsens Reine Rechtslehre Bezug. Genau in Grete am 28. Mai 1940 Genf, um in den USA ein dieser Zeit begann sich auch Kelsens ehemaliger neues Leben zu beginnen. Das akademische Jahr Schüler Josef Laurenz Kunz, der 1934 in die 1940/41 verbrachte Kelsen an der Harvard Law USA immigriert und dort eine Professur an der School wo er eine auf ein Jahr beschränkte Lec- University of Toledo, Ohio, bekommen hatte, tureship erhielt, die von der Rockefeller Foundation intensiv mit der damals gegenwärtigen latein- teilfinanziert wurde.27 amerikanischen Rechtsphiliosophie zu beschäf- Mit Ausbruch des 2. Weltkriegs in Europa, der tigen.21 Zahlreiche Forschungsreisen führten viele, vor allem jüdischstämmige Wissen- Kunz ab 1937 unter anderem nach Argentinien, schaftler dazu zwang, Europa zu verlassen und wo er auch Carlos Cossio kennenlernt haben sich in Nord- und Südamerika eine neue Exis- dürfte. Nach eigenen Angaben stand Cossio ab tenz aufzubauen, kam es in Südamerika zu ei- 1937 – einem Zeitpunkt, der mit Josef Kunz’ nem neuen Einwanderungsschub europäischer Argentinienaufenthalt zusammenfallen dürfte – (Rechts-) mit Kelsen in Briefkontakt und sandte diesem philosophen. So begab sich der spanische Philo- regelmäßig all jene seiner Arbeiten, in denen er soph José Ortega y Gasset28 1939 nach Argenti- auf Kelsen und dessen Reine Rechtslehre Bezug nien ins Exil, wo er auf eine ganze Generation nahm.22 Am 7. November 1938 wurde Kelsen junger Juristen wie Jaime Perriaux großen Ein- vom Instituto Argentino de Filosofia Juridica y fluss ausüben sollte. Neben renommierten Juris- Social, das im selben Jahr von Carlos Cossio gegründet worden war, zum Ehrenmitglied 24 ernannt.23 MÉTALL, Kelsen 76. 25 Interview CAMINOS. Kelsen lebte zu dieser Zeit in Genf, wo sich auch 26 MÉTALL, Kelsen 76. der Sitz des Völkerbundes befand. In Genf 27 MÉTALL, Kelsen 77. knüpfte Kelsen Kontakte zu einigen südameri- 28 José Ortega y Gasset (1883–1955), Hauptvertreter des spanischen „Perspektivismus“, verließ während kanischen Diplomaten und Völkerrechtlern, wie des spanischen Bürgerkriegs Spanien und begab sich zum kolumbianischen Generalkonsul J.M. Ye- zuerst nach , später nach Holland und schließlich bis 1942 nach Argentinien ins Exil. Der (spanische) „Perspektivismus“ geht in Anlehnung an Gottfried Wilhelm Leibniz und Friedrich Nietzsche davon aus, 19 COSSIO, Reforma Universitaria. dass die Wirklichkeit nicht objektiv feststeht, sondern 20 COSSIO, Concepto puro. je nach Perspektive des betrachtenden Individuums 21 KAMMERHOFER, Josef Laurenz Kunz 246. variieren kann. Das menschliche Denken, Erkennen 22 COSSIO, Como ve Kelsen. und Handeln unterliegt zahlreichen Beschränkungen, 23 MÉTALL, Kelsen 99; so auch SARLO, Gira sudameri- die sich aus Zeit und Raum oder anderen Bedingun- cana 406. gen ergeben.

68 Miriam GASSNER ten und (Rechts-) philosohen wie dem Spanier Rechtslehre bekannt werden – und Kelsen einige Ortega y Gasset oder dem deutschen Prozess- harte Auseinandersetzungen – bereiten sollte. rechtler James Goldschmidt,29 bis 1934 Profes- sor für Verwaltungsrecht an der Friedrich- Wilhelms-Universität Berlin, immigrierten auch Kelsens erste Reise nach einige Kelsen-Schüler nach Südamerika, unter Lateinamerika ihnen Rudolf A. Metall30 und Hans Klinghof- fer,31 die sich 1940 bzw. 1941 in Rio de Janeiro, Kelsens erste Reise nach Lateinamerika führte Brasilien niederließen. Otto E. Langfelder, der ihn im November 1941 nach Kuba, wo er von 15. um 1929 bei Kelsen und Felix Kaufmann in bis 22. November 1941 in Havanna an der Second Wien studiert hatte, immigrierte 1941 nach Bue- American Conference of National Committees on nos Aires. Dort schloss er sich dem Kreis um Intellectual Cooperation teilnahm. Die Kosten von den argentinischen Rechtsphilosophen Carlos Kelsens Kuba Reise wurden von der Rockefeller Cossio an, zu dem damals auch Rechtstheoreti- Foundation36 übernommen, die sich insbesonde- ker wie Ambrosio Lucas Gioja, Julio Cesar Cueto re zu Beginn der 1940er Jahre um eine Vertie- Rua, Genaro Carrió, José Vilanove, Enrique Af- fung der kulturelle Beziehung zu Lateinamerika talión und Abel Aristegui angehörten.32 Eben- bemühte.37 Auf Kuba kam es zu einem Wieder- falls nach Argentinien gelangt war ein gewisser sehen Kelsens mit seinen ehemaligen Schülern Rodolfo Bledel, den Kelsen 1941 mit der spani- Antonio Sanchez de Bustamante y Montoro, schen Übersetzung seines Aufsatzes „The Pure mittlerweile Professor für Rechtsphilosophie an Theory of Law and Analytical “33 be- der Universität von Havanna und Luis Recasens auftragte, welche noch im selben Jahr in der Siches, mittlerweile an der UNAM in Mexiko, argentinischen Zeitschrift „La Ley“ erschien.34 der in Begleitung seines mexikanischen Kolle- Zeitgleich mit Langfelders Eintreffen in Argen- gen Eduardo Garcia Maynez nach Kuba gereist tinien erschien 1941 die erste vollständige spani- war.38 Zwar hatte Garcia Maynez 1932 und 1933 sche Übersetzung der Reinen Rechtslehre, zu gemeinsam mit seinem Kollegen Mario de la 39 der Carlos Cossio das Vorwort verfasste.35 Ob- Cueva Studienaufenthalte in Wien und Berlin wohl Cossio Kelsen im Vorwort geradezu Rosen verbracht, doch lernte er Hans Kelsen erst auf streute und ihm seinen Lob und seine Anerken- 1941 auf Kuba persönlich kennen.40 nung aussprach, fiel dieses, liest man es genau- Auch den auf Kuba lebenden spanischen er, durchaus kritisch aus und enthielt bereits (Rechts-) Philosophen Emilio Fernandez Camus, erste „Anzeichen“ für jene von Cossio vorge- mit dem Kelsen seit den frühen 30er Jahren in nommene Interpretation der Reinen Rechtslehre, die später als egologische Auslegung der Reinen 36 Rockefeller Archive Center, Collection RF, Record Group 1.1, Series 2003, Box 344, Folder 4089. 37 LÜBKEN, Bedrohliche Nähe 112. 38 „[…] Me refiero a una conversación que hace algunos 29 http://de.wikipedia.org/wiki/James_Goldschmidt años tuvimos con Kelsen, Antonio Sánchez de Bustamante (abgerufen am 08. 08. 2013). y Montoro, Emilio Fernández Camus y yo, en la residencia 30 BERSIER LADAVAC, Rudolf Aladár Métall 316. del segundo”: GARCÍA MAYNEZ, Introducción 9. 31 KLEIN, Hans (Itzhak) Klinghoffer 176. 39 RODRIGUEZ ESPINOZA, Quien fue Eduardo Garcia 32 PETTORUTI, Verbindung zwischen Wien und La Maynez? Plata 232. http://www.hectorrodriguezespinoza.com/noticias.ph 33 KELSEN, Pure Theory of Law. p?categoria=110 (abgerufen am 08. 08. 2013). 34 KELSEN, Teoria pura del derecho. 40 Siehe dazu: Eduardo Garcia Maynez an Hans Kel- 35 COSSIO, Prólogo. sen, 10. 1. 1947, HKI, Nachlass Kelsen 15r.58.

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Kontakt stand, traf Kelsen 1941 im Rahmen der 1946 neuerlich Kelsens Kommen angekündigt.45 besagten Konferenz zum ersten Mal persönlich. Aber auch dieser Einladung Garcia Maynez‘, Während Kelsens Aufenthalt in Kuba, dürfte infolge deren Kelsen zwischen 9. und 22. Febru- unter anderem über Carlos Cossio und dessen ar 1947 an der UNAM Vorträge über „auser- beginnende egologische Auslegung der Reinen wählte Probleme der Reinen Rechtslehre“46 (ge- Rechtslehre gesprochen worden sein, zumal nauer gesagt auf Wunsch des Dekans der Bustamante y Montoro (offensichtlich in einem rechtswissenschaftlichen Universität Virgilio Brief vom 28. November 1841) Cossio berichtete, Dominguez über „The Metamorphoses of the Idea Kelsen habe ihm auf Kuba die Frage gestellt, wie of Justice“47 auf französisch, sowie drei Vorträge er der egologischen Interpretation der Reinen über die Charter der UN am Instituto Mexicano Rechtslehre gegenüberstünde. Als er sich mit de Economia in englischer Sprache) halten soll- der egologischen Auslegung d’accord zeigte, sei te,48 konnte Kelsen keine Folge leisten. In letzter Kelsen wütend geworden und habe betont, dass Minute sagte er seine Mexikoreise aufgrund von diese insofern unrichtig sei, als es ein und die- gesundheitlichen Problemen ab.49 selbe Logik – und nicht eine eigene juristische Logik – sei, die allen Wissenschaften zugrunde liege. 41 Kelsens Cossio zu verdankende Nach dem Treffen auf Kuba luden Recasens wachsende Popularität in Siches und Garcia Maynez sowie der damalige Lateinamerika Dekan der juristischen Fakultät der UNAM Al- fonso Noriega Kelsen nach Mexiko ein, wo er Am 12. Oktober 1941 veröffentlichte Carlos Cos- im Jänner 1943 einige Vorträge halten sollte.42 sio, anlässlich von Kelsens 60. Geburtstag, einen Wie sich aus der Korrespondenz Kelsens ergibt, Artikel, in dem er Kelsen als den größten Juris- konnte er diese Reise aber aufgrund „administ- ten der Gegenwart bezeichnete.50 Von da an rativer Schwierigkeiten“ (anscheinend weil er begann sich Cossio jedoch mehr und mehr von 1943 noch nicht US-Staatsbürger war) nicht an- Kelsen abzuwenden: Der Hauptvorwurf Cossios treten.43 Die bereits vorbereiteten Vorträge wur- bestand zunehmend darin, dass Kelsen die Exis- den von Kelsen jedoch nach Mexiko gesandt tenz einer eigenen Logik, die den Rechtswissen- und dort in der Übersetzung von Eduardo Gar- schaften zugrunde liege, grundlos ablehne. 1944 cia Maynez publiziert. Ebenso übersetzte May- war der Bruch zwischen Reiner und Egologi- nez 1943 mit einer Einleitung von Alfonso scher Rechtslehre endgültig vollzogen, als Cos- Noriega Kelsens „Der innerstaatliche Vertrag sio sein Buch „Die egologische Rechtslehre und und der völkerrechtliche Vertrag“44 ins Spani- sche und publizierte es in Mexiko.

In der Revista de la Escuela Nacional de Jurispru- 45 Revista de la Escuela Nacional de Jurisprudencia, dencia wurde in der letzten Ausgabe des Jahres Nr. 32 (octubre-diciembre 1946) 373. 46 Hans Kelsen an Eduardo Garcia Maynez, 22. 7. 1946, HKI, Nachlass Kelsen 15r.58. 41 COSSIO, Como ve Kelsen 1. 47 Revista de la Escuela Nacional de Jurisprudencia, 42 FLORES, Una visita a Hans Kelsen 3. Nr. 44 (octubre-diciembre 1949) 83–123. 43 Hans Kelsen an Eduardo Garcia Maynez, 22. 7. 48 Hans Kelsen an Eduardo Garcia Maynez vom 22. 7. 1946, HKI, Nachlass Kelsen 15r.58; Luis Recasens 1946, HKI, Nachlass Kelsen 15r.58. Siches an Hans Kelsen, 28. 5. 1946, HKI, Nachlass 49 Hans Kelsen an Garcia Maynez, undatiert, HKI, Kelsen 15r.58. Nachlass Kelsen 15r.58. 44 KELSEN, Contracto y el tratado. 50 COSSIO, Jurista de la epoca contemporanea.

70 Miriam GASSNER das Konzept der Freiheit“,51 zu dem Kelsens das Konzept der Freiheit“, schrieb Kunz am ehemaliger Schüler Otto E. Langfelder das Vor- 15. Mai 1945 einen Brief an Kelsen und kam wort verfasste, publizierte. Zwar sah Cossio in dabei zu folgenden Schluss: diesem Buch die egologische Rechtslehre wei- „[…] Ich glaube, dass Cossio Ihre Rechtslehre terhin als bloße Interpretation und kritische richtig entfaltet und sie haben ihm in einem Ergänzung der Reinen Rechtslehre an, in Wirk- Brief die Orthodoxie seiner Auffassung bestä- lichkeit hatte ging es ihm jedoch um etwas tigt. (Nur ist nach ihm der Rechtssatz ein dis- mehr: Er analysierte die Verbindung zwischen junktives, nicht ein hypothetisches Urteil) Aber: Norm und Verhalten und machte dabei das er reduziert Ihre Reine Rechtslehre zu nackter Verhalten primär zum Gegenstand der Rechts- formaler Rechtslogik. Sie ist daher keine voll- wissenschaften.52 Fast entschuldigend, so, als ständige Rechtstheorie, denn sie ist nach ihm hätte Langfelder ein schlechtes Gewissen, das nur im geringen Grade transzendentale Rechts- Vorwort zu Cossios Werk verfasst zu haben, logik. Sie ist keine Rechtsphilosophie im meta- schrieb dieser an Kelsen, dass er, obwohl er das physischen Sinn, sie ist aber auch nicht Rechts- Vorwort zu Cossios Egologie verfasst habe, wissenschaft.“ Abschließend meinte Kunz: „[…] „nicht immer mit ihm [Cossio] gehe.“53 Das alles klingt ganz nett. Cossio bleibt inner- Die eigene Gestalt, die Kelsens Reine Rechtsleh- halb der Positivität und vermeidet im Gegensatz re durch die etwas eigenwillige Interpretation zu Garcia Maynez und Recanses Siches den Cossios im spanischsprachigen Raum anzuneh- Rekurs in die Metaphysik. […] Das gefährlichste men drohte, wurde von Hans Kelsen von Ber- an Cossio ist aber, dass er Recht dem menschli- keley aus, wo er seit 1942 am Political Science chen Verhalten gleichsetzt und so in die Sozio- Department lehrte, gespannt verfolgt. Das logie abdriftet.“ 55 Hauptproblem dabei war, dass Kelsen kein Spa- Kelsens Antwortschreiben an Kunz ist nicht nisch sprach und sich somit sein eigenes Urteil erhalten, doch scheint er dessen Analyse der über die Egologie Cossios nur mit Hilfe Dritter egologischen Rechtslehre zuzustimmen, zumal bilden konnte. In diesem Sinne kam vor allem Kunz in seinem Brief vom 19. Juni 1945 aus Kelsens ehemaligem Schüler Josef Kunz eine Cambridge an Kelsen schreibt: „[…] Ihre Zeilen wichtige Rolle zu. 1942 war er von der Associati- bestärken mich in meiner Skepsis gegenüber der on of American Law Schools mit einer Untersu- Grundlage von Cossios Theorie.“56 chung der gegenwärtigen lateinamerikanischen Aber auch in Argentinien wurden Kunz’ und 54 Rechtsphilosophie beauftragt worden und Kelsens Reaktionen auf Cossios Werk genau hatte sich im Rahmen dieser Untersuchungen verfolgt: So äußerte sich Kelsens ehemaliger ausgiebig mit der Egologie Cossios auseinan- Schüler Otto E. Langfelder, der mittlerweile dergesetzt. Anlässlich seiner Buchbesprechung durch Cossios Unterstützungen zum Dozenten zu Cossios „Die egologische Rechtslehre und an der Universität von Buenos Aires aufgestie- gen war, in einem Brief an Kelsen zu Kunz` Re- 51 COSSIO, Teoría egológica. zession. Langfelder schrieb, Kunz habe die geis- 52 GASSNER, OLECHOWSKI, Egologische Rechtslehre 6. tige Situation hier richtig, aber doch etwas zu 53 Otto Langfelder an Hans Kelsen, 20. 12. 1947, HKI, Nachlass Kelsen: 16b2. 59. pessimistisch geschildert, denn immerhin habe 54 Das Ergebnis von Kunz Recherchen waren drei Teilberichte, die im Jahr 1949 in der April-, Juli- und 55 Josef Kunz an Hans Kelsen, 15. 5. 1945, HKI, Nach- Oktober-Ausgabe der New York Law Quarterly Review lass Kelsen 16b1.59. veröffentlicht wurden; gesammelt in: KUNZ, Latin- 56 Josef Kunz an Hans Kelsen, 16. 6. 1945, HKI, Nach- American philosophy. lass Kelsen 16b1.59.

Der Kreis um Hans Kelsen in Lateinamerika 71 der starke Druck Cossios dazu geführt, dass ten Ambrosio L. Gioja zu bewegen, zu Kelsen Kelsens Name nicht mehr mit der Etikette For- nach Berkeley zu reisen.62 malismus behaftete sei.57 Im Jahre 1945 kam über Rodolfo Bledel, den Im Zuge der Conference on Inter- Kelsen gebeten hatte, „Society and Nature“ ins national Organization, die vom 25. April 1945 bis Spanische zu übersetzen, der Kontakt Kelsens zum 26. Juni 1945 in San Francisco stattfand, um zum jungen argentinischen Juristen Jaime Perri- die Charta der Vereinten Nationen auszuarbei- aux zustande. Bledel, der den Übersetzungsauf- ten, nutzten zahlreiche Konferenzteilnehmer die trag von „Society and Nature“ mit der Begrün- Möglichkeit, Kelsen, der zwar nicht an der Kon- dung ablehnte, nicht ausreichend mit der Mate- ferenz teilnahm58, diese aber doch mit großem rie des Werkes vertraut zu sein, empfahl Kelsen Interesse von Berkeley aus verfolgte,59 zu besu- Jaime Perriaux als Übersetzer, zumal dieser mit chen. Unter ihnen befand sich der Kolumbianer „dieser Art von Übersetzungen mehr Erfahrung Luis E. Nieto Arteta. Wie Kelsen ihm zu verste- habe und auch schon Werke Ortega y Gassets hen gab,60 betrachtete Kelsen die egologische ins Spanische übersetzt hätte.“63 So übersetze Auslegung Cossios als eigenständige Rechtsthe- der damals erst 25-jährige Argentinier Jaime orie, die mit der Reinen Rechtslehre nur ober- Perriaux 1945 Kelsens „Society and Nature“ ins flächliche Gemeinsamkeiten habe und lehnte sie Spanische. Im Herbst erhielt Perriaux ein Sti- daher im Hinblick auf die Reine Rechtslehre ab. pendium an der University of Michigan in Ann Kelsens ablehnende Haltung der egologischen Arbor. Obwohl Perriaux das Studienjahr 1945/46 Interpretation dürfte auch Cossio über gemein- in den USA verbrachte, kam es vorerst zu kei- same Bekannte wie Luis E. Nieto Areteta oder nem persönlichen Treffen mit Kelsen. Doch auf- Antonio Sanchez de Bustamente y Montoro zu grund seiner ausgezeichneten Englischkenntnis- Ohren gekommen sein.61 Cossio jedoch war nach se konnte er Kelsens Werke „aus erster Hand“ wie vor davon überzeugt, dass Kelsens Ableh- kennen lernen. Als Perriaux daher nach seinem nung einzig und alleine auf sprachlichen Miss- Studienaufenthalt in den USA 1947 nach Argen- verständnissen und Verständigungschwierigkei- tinien zurückkehrte, wurde er zu einem der ten beruhte. Um Kelsen von der egologischen heftigsten Kritiker Cossios und warf ihm vor, Interpretation der Reinen Rechtslehre zu über- die Reine Rechtslehre Kelsens zu missbrauchen. zeugen und im persönlichem Dialog sprachliche Gleiches gilt für die beiden jungen Argentinier Missverständnisse auszuräumen, versuchte Hugo Caminos und Ernesto Hermida, die im Cossio seinen ehemaligen Schüler und Assisten- Sommersemester 1945 bei Kelsen in Berkeley studiert hatten.64 Inzwischen war in Argentinien 1946 Juan Peron 57 Otto Langfelder an Hans Kelsen, 3. 12. 1944, HKI, an die Macht gekommen, der das Land mit Un- Nachlass Kelsen: 16b2.59. terstützung des Militärs, der Arbeiterverbände 58 MÉTALL, Kelsen 80. 59 So berichtete der Argentinier Hugo Caminos, der und der Gewerkschaften autoritär regierte. Im 1945 als 24-Jähriger gemeinsam mit seinem Kollegen Zuge der Regierung Perons kam es 1946 zu einer Ernesto Hermida bei Kelsen in Berkeley studiert hatte „Universitätsreform“ im Zuge deren Peron- und für die Voice of America an der Konferenz von San Franciso teilnahm, jeden Abend Kelsen in seinem Haus besucht und ihm von den Geschehnissen auf 62 GASSNER, OLECHOWSKI, Egologische Rechtslehre 10. der Konferenz „Bericht erstattet“ zu haben: Interview 63 Rodolfo Bledel an Hans Kelsen, 20. 5. 1945, HKI, CAMINOS. Nachlass Kelsen 16c1.59. 60 NIETO ARTETA, Dialogo con el professor Kelsen. 64 Caminos an Kelsen, 24. 6. 1946, HKI Nachlass Kel- 61 COSSIO, Como ve Kelsen. sen 15s.58.

72 Miriam GASSNER kritische Universitätsangehörige sowie all jene, Berkeley.71 Bevor Gioja allerdings zu Kelsen die sich weigerten, die Ideologie Perons in ihre nach Berkeley reiste, dürfte er im Juni 1948 Josef Lehre einfließen zu lassen, aus den argentini- Kunz an der Universität von Toledo besucht schen Universitäten entfern wurden.65 haben.72 Alleine in ihrer ersten Amtszeit ersetzte die Re- Kelsen dürfte Gioja bereits vor dessen Eintreffen gierung Perons alle Richter des Obersten Ge- in Berkeley zumindest vom „Hörensagen“ ge- richtshofes durch regimetreue Juristen und sus- kannt haben, zumal dieser zum Einen 1945 das pendierte ca. 1.500 regimekritische Hochschul- Vorwort zur spanischen Ausgabe von „Peace lehrer. Auch die Pressefreiheit wurde im Argen- through law“73 verfasst hatte und zum Anderen tinien Perons stark eingeschränkt. Aufgrund in Langfelders Briefen häufig erwähnt worden seiner Nähe zum peronistischen Regime66 war war. So hatte Langfelder etwa in einem Brief aus Carlos Cossio 1946 zum Institutvorstand der dem Jahre 1945 an Kelsen geschrieben, dass Rechtsphilosophie an der Universität von Bue- Gioja der einzige unter Cossios Schülern sei, der nos Aires aufgestiegen, während sein ehemali- „[…] innerlich das Verhältnis Reine Rechtslehre ger Assistent Ambrosio L. Gioja zu jenen Uni- und Teoria Egologica nicht ganz im Sinne von versitätsangehörigen zählte, die sich weigerten, Altes Testament/Neues Testament ansehe.“74 In Perons Ideologie in ihre Lehre einfließen zu einem kurz vor Giojas USA-Reise verfassten lassen und so ihre Stellen an der Universität Brief an Kelsen bezeichnet Langfelder Gioja verloren. Nunmehr als selbständiger Rechtsan- dann „[…] trotz einigen leichten Defekten, die walt in Buenos Aires tätig, entschied sich Gioja an seinen skolastischen Anfängen hängen, als Ende des Jahres 1947, dem Drängen Cossios einen der tüchtigsten jüngeren Rechtsphilospo- nachzugeben und als „Bote der egologischen hen Argentiniens.“75 Rechtslehre“ zu Kelsen nach Berkeley zu reisen, Im Herbst 1948 besuchte Gioja zahlreiche Vorle- um diesen im persönlichen Gespräch von der sungen bei Kelsen in Berkeley und diskutierte „Richtigkeit der egologischen Interpretation der nach eigenen Angaben mit Kelsen regelmäßig Reinen Rechtslehre“ zu überzeugen.67 Mit über die egologische Interpretation der Reinen „Empfehlungsschreiben“ seines ehemaligen Rechtslehre.76 In welcher Form diese Diskussio- Kollegen Otto E. Langfelder68 – mit dem ge- nen allerdings wirklich stattfanden ist insofern meinsam er 1944 ein Seminar über die Reine Rechtslehre und Cossios Ergänzungen gehalten 71 Aus einem Brief des italienischen Rechtstheoreti- hatte69 – und seines Maestros Carlos Cossios70 kers Elis Gianturcos, der Italien aufgrund des zweiten ausgestattet, reiste Gioja in Begleitung seiner Weltkrieges verlassen musste und an der University Ehefrau Elda im Sommer 1948 zu Kelsen nach of Chicago eine Anstellung als Lehrbeauftragter für italienische Literatur fand, sowie aus einen Brief Josef Kunz an Kelsen vom 25. 6. 1948 lässt sich erschließen, dass es erst frühestens im Juli 1948 erstmals zu einem 65 So etwa: RIEKENBERG, Kleine Geschichte Argentini- persönlichem Treffen zwischen Kelsen und Gioja ens 56. kam: HKI, Nachlass Kelsen 16c4.60. 66 SARLO, Gira suramericana 404. 72 Josef Kunz an Hans Kelsen, 25. 6. 1948, HKI, 67 GASSNER, OLECHOWSKI, Egologische Rechtslehre 10. Nachlass Kelsen 16b1.59. 68 Otto Langfelder an Hans Kelsen, 20. 12. 1947, HKI, 73 KELSEN, Paz por medio del derecho. Nachlass Kelsen 16b2.59. 74 Otto Langfelder an Hans Kelsen, 6. 12. 1945, HKI, 69 Otto Langfelder an Hans Kelsen, 3. 12. 1944, HKI, Nachlass Kelsen 16 b2.59. Nachlass Kelsen 16b2.59. 75 Otto Langfelder an Hans Kelsen, 21. 12. 1947, HKI, 70 Carlos Cossio an Hans Kelsen, 19. 12. 1947, HKI, Nachlass Kelsen 16 b2.59. Nachlass Kelsen 12IIg.52. 76 GASSNER, OLECHOWSKI, Egologische Rechtslehre 10.

Der Kreis um Hans Kelsen in Lateinamerika 73 fraglich, zumal Gioja kaum Englisch und Kelsen rungen Kelsens hinsichtlich der Gespräche mit wie bereits erwähnt kein Spanisch sprach.77 Gioja, dass er sich das genau so vorgestellt hätte. Während seines Aufenthalts bei Kelsen in Ber- Gioja sei zwar ein reizender Mensch, dennoch keley dürfte Gioja regelmäßig Cossio von seinen sei im persönlichen Gespräch mit Gioja Vorsicht „Erfolgen“ in den Diskussionen mit Kelsen be- geboten.79 richtet haben. So berichtet etwa Josef Kunz in Vermutlich durch die Berichte Giojas aus Ber- einem Brief vom 8. November 1948 an Kelsen, keley veranlasst, entwickelte Cossio im Laufe von Cossio per Luftpost einen Brief erhalten zu des Jahres 1948 eine regelrechte Obsession, Kel- haben, indem Letztgenannter von einem langem sen nach Argentinien zu holen und ihm dort ein Brief Giojas aus Berkeley berichtet, in welchem Bekenntnis zur egologischen Interpretation der Gioja stolz verkündete, Kelsen nun „vollständig Reinen Rechtslehre abzugewinnen.80 In seinem egologisiert“ zu haben. Kunz zufolge zitierte am 31. Dezember 1948 in der argentinischen Cossio in seinem Schreiben wörtlich folgende Zeitschrift La Ley veröffentlichten Aufsatz „Wie Passage aus dem besagten Brief Giojas: „[…] sieht Kelsen die egologische Rechtslehre?“, also Kelsen gibt zu, dass Cossios Interpretationen der zu einem Zeitpunkt, als Kelsen sich nicht einmal Reinen Rechtslehre als bloß formale Logik, nicht noch zur Einladung Cossios offiziell geäußert Rechtswissenschaft, korrekt ist. Kelsen gibt zu, hatte, kündigte Cossio bereits an, Kelsen werde dass das Objekt der Rechtswissenschaft nicht im Sommer 1949, nach Argentinien kommen, Rechtsnormen sondern menschliches Verhalten um mit der egologische Rechtslehre in einen ist. Kelsen sagt ferner, dass er die rationalen Dialog zu treten.81 Aspekte bloß gegen den Rechtssoziologen be- Auch Kelsen war durch die Berichte seiner (ar- tont hat. Kelsen stellt sich ganz auf den Boden gentinischen) Schüler und Freunde wie Josef Cossios egologischer Theorie.“ Cossio sei nun Kunz, Jaime Perriaux oder Otto Langfelder von ganz aufgeregt und verlange eine offizielle Be- der eigenen Gestalt, die seine Reine Rechtslehre stätigung von Kelsen, so Kunz in seinem Brief in Argentinien durch die Auslegung Carlos Cos- an Kelsen weiter. Wie aus dem Brief weiter her- sios anzunehmen drohte, beunruhigt. So ent- vorgeht, hielt Kunz persönlich Giojas Berichte schied er sich zu Beginn des Jahres 1949 nach an Cossio für ein Missverständnis, das wahr- Argentinien zu reisen und der dortigen Ausle- scheinlich durch Giojas mangelhaftes Englisch gung seiner Reinen Rechtslehre ein Ende zu ausgelöst und durch die Tatsache, dass Gioja setzen.82 nur das hörte, was er hören wollte, verschlim- mert wurde.78 Anscheinend nahm Kelsen auf das Schreiben Kelsens Südamerikareise 1949 Kunz’ in einem Antwortschreiben vom 22. No- und das Nachspiel in den vember 1948 Bezug, denn in seinem Brief vom 8. Dezember 1948 meint Kunz zu den Ausfüh- 50er Jahren Die Nachricht von Kelsens für den Sommer 1949 77 So entschuldigt sich Gioja in einem Brief an Kelsen geplante Südamerikareise verbreitete sich nicht vom 27. 3. 1949, dass er erst jetzt schreibe, aber daran sei sein schlechtes Englisch schuld, dass es nötig ma- che immer einen Übersetzer zu haben, um sich an 79 Josef Kunz an Hans Kelsen, 8. 12. 1948, HKI, Nach- Kelsen wenden zu können: HKI, Nachlass Kelsen lass Kelsen 12IIg.52. 15s.58. 80 Interview CAMINOS. 78 Josef Kunz an Hans Kelsen, 8. 11. 1948, HKI, Nach- 81 COSSIO, Como ve Kelsen. lass Kelsen 16b1.59. 82 GASSNER, OLECHOWSKI, Egologische Rechtslehre 11.

74 Miriam GASSNER zuletzt aufgrund von Cossios Artikel „Wie sieht inszenieren versuchte,86 was zur Folge hatte, Kelsen die egologische Rechtslehre?“ wie ein dass einige von Kelsens Anhängern diesen vor Lauffeuer am gesamten südamerikanischen einer Reise nach Argentinien warnten.87 So hatte Subkontinent. Ehemalige Kelsenschüler und sogar im argentinischen Parlament anlässlich Kelsenanhänger aus ganz Südamerika wandten vom Kelsens bevorstehenden Besuch eine hefti- sich an Kelsen und luden ihn ein, im Rahmen ge Debatte diesbezüglich stattgefunden.88 Noch seiner Südamerikareise Vorträge an ihren Uni- wenige Tage vor seiner Abreise aus den USA versitäten zu halten. Kelsen wollte allerdings ereilte Kelsen ein Brief seiner ehemaligen argen- vorerst nur den Einladungen aus Argentinien83 tinischen Schüler Hugo Caminos und Ernesto Folge leisten. Hermida, indem diese ihm dringend von seiner Zum Zeitpunkt von Kelsens Argentinienreise Argentinienreise abrieten,89 zumal er auf Einla- waren die rechtsphilosophischen Lager in Ar- dung der Universität von Buenos Aires nach gentinien äußerst gespalten: Anhänger Carl Argentinien reise und er somit per se zum Gast Schmitts, Exil-Spanier, die wegen ihrer linken der argentinischen Regierung würde.90 Nichts- politischen Einstellung aus Spanien vertrieben destotrotz trat Kelsen, begleitet von seiner Gat- worden waren, und natürlich eine große Zahl tin Grete, seine Argentinienreise an und schiffte von Kelsen-Anhänger standen einander gegen- sich am 15. Juli 1949 in New York auf der „SS über.84 Die Kelsen-Anhänger ihrerseits spalteten Argentina“ der Schifffahrtsgesellschaft Moore- sich einerseits in die Anhänger Cossios und McCormack ein, die ihn über Trinidad, Rio de seiner egologischen Rechtslehre und anderer- Janeiro, Sao Paulo und Montevideo, nach Bue- seits in die „orthodoxen“ Kelsenianer, die dem nos Aires bringen sollte.91 Gerüchten zufolge an den argentinischen Universitäten eingeführ- hatte ein ehemaliger Schüler Kelsens, der nun- ten „Peronismus“ kritisch gegenüberstanden mehr für die Schifffahrtsgesellschaft Moore- und Cossio als einen Opportunisten des peroni- McCormack arbeitete, Kelsen ein Ticket erster schen Systems betrachteten.85 Kurz vor Kelsens Klasse angeboten, was Kelsen aber dankend Argentinienreise im Sommer 1949 wurde die ablehnte. In Rio de Janeiro unterbrach Kelsen für ohnehin schon angespannte Lage neuerlich an- einige Tage seine Reise, um seinen ehemaligen geheizt, zumal sich Cossios einstiger Freund, Schüler Hans Klinghoffer wiederzusehen.92 Schüler und Vertrauter Ambrosio L. Gioja von diesem lossagte und sich nunmehr auf die Seite 86 So etwa war 1949 eine neue Verfassung erlassen der „orthodoxen Kelsianer“ schlug. Hinzu kam worden, die wegen der zahlreichen weitgehenden außerdem, dass die Regierung Peron Kelsens Befugnisse, die sie dem Staatspräsidenten einräumte, Besuch in Argentinien zu eigenen Zwecken zu zahlreiche Kritik erntete. Vgl. dazu RIEKENBERG, Klei- ne Geschichte Argentiniens 153. 87 GASSNER, OLECHOWSKI, Egologische Rechtslehre 11. 88 METALL, Kelsen 84; dies bestätigte auch im Inter- 83 Kelsen wurde sowohl von der Rechtswissenschaftli- view CAMINOS. chen Fakultät der Universität von Beuenos Aires, als 89 GASSNER, OLECHOWSKI, Egologische Rechtslehre 11. auch vom Colegio de Abogados de Buenos Aires 90 Hugo Caminos und Ernesto Hermida an Hans (einer der österreichischen Anwaltsakademie entspre- Kelsen, 25. 6. 1949, HKI, Nachlass Kelsen 15s.58. chende Institution) und dem Instituto de Filosofia 91 SARLO, Gira sudamericana 410. Juridica y Social, dem Cossio vorstand, nach Argenti- 92 Dies ergibt sich aus: Hans Klinghoffer an Hans nien eingeladen. Siehe dazu auch SARLO, Gira Kelsen, 4. 8. 1949, HKI, Nachlass Kelsen, 15s.58; Darin sudamericana 408. schrieb Klinghoffer: „[…] Selbstverständlich rechne 84 SARLO, Gira sudamericana 413. ich damit, dass Ihre Frau Gemahlin und Sie in der 85 Interview CAMINOS. Ihnen schon bekannten Feiglschen Wohnung Quartier

Der Kreis um Hans Kelsen in Lateinamerika 75

Klinghoffer veranlasste, dass Hans Kelsen und dung gesetzt, aber leider nur mehr erfahren, seine Gattin während ihres kurzen Aufenthalts dass das Schiff schon wieder ausgelaufen ist. in Rio de Janeiro in der Wohnung des aus Wien […].“96 immigrierten Ehepaar Feigl in der Rua Gomes Kelsen und seine Gattin Grete verbrachten den Carneiro 161 Unterkunft fanden. Während Tag gemeinsam mit Couture, Caminos und Kelsens Zwischenstopp in Rio de Janeiro dürfte Hermida in Montevideo, wo sie mit anderen ihn Klinghoffer von seinen Plänen, nach Israel uruguayschen Juristen zusammentrafen. Kelsen auswandern zu wollen und von seiner Bewer- wurde gebeten, seinen Aufenthalt in Buenos bung an der neu gegründeten Hebräischen Uni- Aires zu unterbrechen und am 15. August einen versität von Jerusalem, berichtet haben, zumal Vortrag an der Universität von Montevideo zu Kelsen am 27. Juli 1949 aus Rio de Janeiro ein an halten, was er auch zusagte. Bereits vor seiner den Dekan der neuen Fakultät in Jerusalem Abreise aus den USA, hatte sich Werner Gold- Nathan Feinberg gerichtetes Empfehlungs- schmidt, Sohn des nach Montevideo immigrier- schreiben für Klinghoffer verfasste.93 Am ten und 1940 dort verstorbenen deutschen Pro- 1. August lief das Linienschiff mit Hans und zessrechtlers James Goldschmidt, der die „drei- Grete Kelsen an Bord im Hafen von Montevideo dimensionale Rechtslehre“ Miguel Reales aus ein, wo sie von Prof. Eduardo Couture94 von der Brasilien „importiert“ und in Argentinien salon- Rechtswissenschaftlichen Fakultät von Monte- fähig gemacht hatte und zu diesem Zeitpunkt in video bereits erwartet wurden.95 Aber auch Argentinien an der Universidad Nacional de Hugo Caminos und Ernesto Hermida waren Tucuman internationales Privatrecht lehrte, in nach Montevideo gekommen, um Kelsen vor einem Brief an Kelsen gewandt und ihn im Na- der Weiterreise nach Argentinien nochmals per- men seiner uruguayischen Freunde eingeladen, sönlich zu warnen. Offensichtlich war Kelsens in Uruguay vorzutragen,97 doch dürfte Kelsen Argentinien-Reise in manchen uruguayischen die Einladung damals ausgeschlagen haben. Tageszeitungen angekündigt worden, zumal ein Während eines gemeinsamen Mittagessens im gewisser Guillermo (vormals Wilhelm) Kessler, Golfclub von Montevideo wurde Kelsen mit der der um 1926 bei Kelsen in Wien promoviert Erstellung eines Rechtsgutachtens über das sich haben dürfte, am 1. August 1949 an Kelsen in uruguayischem Gewahrsam befindende itali- schrieb: „[…] Soeben lese ich in der hiesigen enische Kriegssschiff „Fausto“ beauftragt98, ehe Tageszeitung, dass Sie auf der ‚Argentina‘, die er am folgenden Tag, dem 2. August 1949, nach heute hier anlegte, nach Buenos Aires fahren. Buenos Aires weiterreiste, wo er am Hafen von Ich habe mich sofort mit dem Hafen in Verbin- Buenos Aires von einer Delegation der Universi- täten von Buenos Aires und La Plata, der unter nehmen, ich werde dafür sorgen, dass Verpflegung, anderem neben Carlos Cossio, Ambrosio Gioja, Bedienung usw. diesmal besser klappen.“ Sebastian Soler Abel 93 Empfehlungsschreiben Hans Kelsens vom 27. 7. Jaime Perriaux, auch 1949 abgedruckt in: KLEIN, Klinghoffer 177. Aristegui und Roberto Vernengo angehörte, 94 Eduardo J. Couture, Professor für Verfahrensrecht empfangen und in sein Hotel in der Florida 1005 an der Universität von Montevideo und Rechtsanwalt in Montevideo, war ein großer Bewunderer Hans Kelsens und trug wesentlich zur Verbreitung von Kelsens Rechtslehre in Uruguay bei. Vermutlich 96 Guillermo (Wilhelm) Kessler an Hans Kelsen, 1. 8. nahm Eduardo J. Couture im Jahre 1941 ebenfalls an 1949, HKI, Nachlass Kelsen, 15s.58. der Konferenz in Kuba teil und lernte so Hans Kelsen 97 Werner Goldschmidt an Hans Kelsen vom 26. 6. damals persönlich kennen: Interview SARLO. 1949, HKI, Nachlass Kelsen, 15s.58. 95 SARLO, Gira sudamericana 411. 98 KELSEN, Opinion Concerning the Ship Fausto.

76 Miriam GASSNER

(heute Mariott Plaza)99 begleitet wurde. In Bue- wohl er selbst als auch seine (kranke) Mutter nos Aires hielt Kelsen am 5., 10., 13. und sich über ein Wiedersehen freuen würden.105 18. August an der Rechtswissenschaftlichen Der Besuch Kelsens in Argentinien wurde von Fakultät von Buenos Aires vier Vorträge in fran- der Diskussion um die richtige Auslegung der zösischer Sprache. Am 8. August hielt Kelsen Reinen Rechtslehre überschattet, sodass Kelsen am Instituto de Filosofia Juridica einen Vortrag erleichtert zu sein schien, am 15. August Argen- über „Die Doktrin des Naturrechts vor dem tinien für ein paar Stunden verlassen zu können Tribunal der Wissenschaften“100 und am um per Flugzeug nach Montevideo zu reisen 19. August trug Kelsen am Colegio de Aboga- und dort an der Universität von Montevideo doa de Buenos Aires über „Kollektive und Indi- über „die Doktrin des Naturrechts vor dem Tri- viduelle Verantwortlichkeit für Staatsakte im bunal der Wissenschaft“ vorzutragen.106 Aber Völkerrecht“101 vor. Am 22. August sprach Kel- selbst in Uruguay entging Kelsen kritischen sen schließlich im Haus der oppositionellen Fragen über seine Haltung zur egologischen Zeitung La Prensa über „Die NATO und die Rechtslehre Cossios nicht. Die Eröffnungsrede UN-Charta“.102 Auch leistete Kelsen der Einla- zu seinem Vortrag wurde vom Institutsvorstand dung der nahe Buenos Aires gelegenen Univer- der Rechtsphilosophie Antonio M. Grompone sidad de La Plata folge, wo er am 23. August gehalten, der mit Kritik an Kelsens Reiner 1949 im Gebäude der kunstgeschichtlichen Uni- Rechtslehre nicht sparte.107 Bei einem abschlie- versität einen Vortrag hielt.103 Abgesehen von ßenden Mittagessen antwortete Kelsen auf die der Universität von Buenos Aires und der von Frage des Professors Eduardo Jimenez de La Plata hatten zahlreiche andere argentinische Arechaga, wie Kelsen zu Cossios Lehre stehe, Universitäten Kelsen zu Vorträgen eingeladen, „[…] C’est pas de l‘ egologie, mais de l’egolatrie.“108 deren Einladung Kelsen jedoch keine Folge leis- Anlässlich Kelsens Besuch in Montevideo publi- tete. Hervorzuheben ist die Einladung durch zierte Eduardo J. Couture eine Übersetzung Robert Goldschmidt (Sohn von James und Bru- Roberto Vernengos von Kelsens „Absolutism and der von Werner Goldschmidt)104 an die Univer- Relativism in Philosophy and Politics“109. sidad Nacional de Cordoba. In einem Brief von In Argentinien konnte Kelsen keinen Vortrag August 1949 schrieb er an Kelsen, wie sehr so- abhalten, ohne dass er von Cossio coram publico zu einer Art Duell herausgefordert wurde, wo- 99 Interview CAMINOS. bei Cossio jedes Mal überzeugt war, als Sieger 100 KELSEN, Natural Law Doctrine. 101 KELSEN, Collective and Individual Responsability aus diesen Diskussionen hervorgegangen zu for. sein. Cossio berichtete nach Kelsens Abreise, 102 KELSEN, Atlantic Pact and UN Charta 10. Kelsen habe der egologischen Rechtslehre (vor 103 Universidad de La Plata an Hans Kelsen, Dezem- allem in privaten Unterhaltungen) wesentlich ber 1949, HKI, Nachlass Kelsen, 15s.58. Aus dem Schreiben geht auch hervor, dass Kelsen für seinen mehr Zugeständnisse gemacht, als er sich selbst Vortrag 1.000 argentinische Pesos erhielt; auch die eingestand. So habe er etwa seine aus Berkeley übrigen Vorträge dürften – wie damals üblich – fürst- lich honoriert worden sein. 104 Wie aus einem Schreiben von Werner und Robert 105 Robert Goldschmidt an Hans Kelsen, August 1949, Kelsen an Hans Kelsen aus Anlass von dessen Argen- in: HKI, Nachlass Kelsen, 15s.58. tinien-Besuch hervorgeht, lernten die beiden Brüder 106 SARLO, Gira sudamericana 412. Kelsen (wahrscheinlich in den 30er Jahren) über ihren 107 Abgedruckt in: SARLO, Reception of the Pure Theo- Vater in Berlin kennen, wo Kelsen die Goldschmidts ry of Law 293. auch in deren Haus in Berlin-Grünewald besucht 108 Siehe Anm. 107. haben dürfte. 109 KELSEN, Absolutismo y Relativismo.

Der Kreis um Hans Kelsen in Lateinamerika 77 fertig mitgebrachten Vorträge abgeändert, um in um die richtige Auslegung der Reinen Rechts- seinen Vorträgen der egologischen Rechtslehre lehre wenige Tage vor Kelsens Abreise aus Bue- so manches Zugeständnis zu machen. Auch nos Aires ihren Höhepunkt: So soll Kelsen nach habe sich Kelsen während seines Aufenthaltes in einem Vortrag von Cossios Schüler, dem damals Argentinien, nicht wie sonst in der Rolle des erst 25-jährigen José Vilanova, auf ein ständiges Angreifers und Aufdeckers befunden, sondern Nachfragen Cossios über Kelsens Auffassung in der des Angegriffenen.110 hinsichtlich des Logikbegriffs ein „Eh bien, mon In der Kontroverse zwischen Cossio und Kelsen vieux, va faire l’amour!“ entkommen sein.115 ging es hauptsächlich darum, wer über die Abgesehen von den Streitigkeiten mit Carlos „richtige Anschauung der Reine Rechtslehre“ Cossio nutzte Kelsen seinen Argentinienaufent- verfügte. So schrieb Kelsen etwa: „Prof. Cossio halt, um langjährige Freunde, wie Otto E. Lang- tritt mit dem erstaunlichen Anspruch auf, dass felder oder etwa seinen Jugendfreund Fritz die Vorstellung, die die Egologische Theorie von Schey, der aufgrund des 2. Weltkrieges nach der Reinen Rechtslehre besitzt, die richtige und Argentinien emigriert war, wiederzusehen.116 die Vorstellung die Kelsen von der Reinen Auch konnte Kelsen Kollegen, mit denen er Rechtslehre besitzt die falsche sei.“111 Dieser schon seit Jahren in engem brieflichen Kontakt Anspruch sei schon deshalb abzulehnen, da er stand, wie etwa Jaime Perriaux, erstmals persön- der Autor der Reinen Rechtslehre sei und er lich treffen. Perriaux schrieb anlässlich Kelsens wohl oder übel wisse, was er wie gemeint habe, Besuch in Argentinien, dass Kelsen in seinen als er die Reine Rechtslehre schrieb.112 Cossio Konferenzen, für all jene, die ihn kannten, nichts seinerseits verwies insbesondere darauf, dass es wirklich Neues gesagt habe. Da aber der Groß- gerade das Grundmerkmal einer wissenschaftli- teil der Rechtsgelehrten in Argentinien Kelsen chen Theorie sei, dass diese von der Auslegung nur über die Anhänger der egologischen Rechts- ihres Schöpfers verschieden interpretierbar ist. lehre kennen gelernt hatten und somit nur die So soll Cossio Kelsen in einem persönlichem bereits von der Egologie beeinflusste Rechtsleh- Gespräch anlässlich eines gemeinsamen Abend- re Kelsens kannten, brachten die Vorträge essen in Buenos Aires, bei welchem Kelsen Cos- Kelsens insofern sehr wohl eine neue Sichtweise sio sagte, er sei der Autor der Reinen Rechtsleh- zutage, als sich für viele nicht deutschsprachige re und wisse daher gut was er wie gemeint ha- Argentinier zum ersten Mal die Möglichkeit bot, be, erwidert haben: „Dr. Kelsen, Ihnen passiert Kelsens Rechtslehre aus erster Hand kennen zu dasselbe wie Kolumbus, dieser glaubte auch lernen.117 Indien entdeckt zu haben und war in Wirklich- Als Kelsen am 25. August 1949 gemeinsam mit keit in Amerika gelandet.“113 Wie zahlreiche seiner Gattin zum Flughafen von Buenos Aires Zeitzeugen114 berichteten, erreichte der „Streit“ fuhr, um mit dem Morgenflug der argentini- schen Fluggesellschaft FAMA nach Rio de 118 110 COSSIO, Egologische Theorie und Reine Rechtslehre Janeiro zu reisen, wurde ihm – im Gegensatz 26. 111 KELSEN, Reine Rechtslehre und Egologische Theo- rie 453. 115 SARLO, Gira sudamericana 413. Aristegui, der bei 112 Interview ARISTEGUI; Aristegui war Zeitzeuge bei diesem Gespräch zugegen war, bestätigte dies im den Gesprächen zwischen Cossio und Kelsen im genannten Interview. Sommer 1949 in Argentinien. 116 Fritz Schey an Hans Kelsen, 18. 8. 1949, HKI, 113 Interview ARISTEGUI. Nachlass Kelsen, 15s.58. 114 So etwa: Interviews VERNENGO, ARISTEGUI, 117 PERRIAUX, Balance cientifico 1. CAMINOS. 118 SARLO, Gira sudamericana 414f.

78 Miriam GASSNER zu seiner Ankunft – kein großer Abschied berei- doch nichts bekannt. Am 1. September 1949 tet. Die argentinische Delegation, die Kelsen am kehrten Kelsen und seine Gattin Grete per Schiff Flughafen offiziell verabschieden hätte sollen nach New York zurück. und der auch Cossio angehörte, war (angeblich) Nach Kelsens Abreise verfasste Cossio einen im Stau steckengeblieben und schaffte es so Aufsatz,122 indem er über Kelsens Argentinien- nicht rechtzeitig, zum Flughafen zu kommen.119 aufenthalt Bilanz zog. Dieser Aufsatz wurde von In Rio de Janeiro, wo Kelsen und seine Gattin Otto E. Langfelder ins Deutsche übersetzt und vom 25. August bis zum 1. September 1949 weil- erschien 1953 in der von Kelsen begründeten ten, bezogen die Kelsens abermals in der Woh- und nunmehr von seinem ehemaligen Schüler nung der Feigls Quartier. Die Einladung Kelsens Alfred Verdross herausgegebenen Zeitschrift für nach Rio de Janeiro erfolgte einerseits vom bra- Öffentliches Recht (ZÖR).123 Im Zusammenhang silianischen Rechtswissenschaftler und Politiker mit der Publikation von Cossios Artikel versi- Prof. Bilac Pinto, der zu dieser Zeit an der Uni- cherte sich Verdross im Vorfeld bei Kelsen, ob versidade do Brasil (nunmehr UFRJ) Verwal- dieser gegen eine Veröffentlichung von Cossios tungsrecht lehrte und andererseits von der Artikel in der ZÖR etwas einzuwenden habe.124 Fundação Getulio Vargas,120 wo Kelsen am Kelsen erwiderte, er freue sich auf das Erschei- 29. August 1949 seinen Vortrag über „Die nen von Cossios Beitrag „[...] in der exzellenten NATO und die UN-Charta“ wiederholte. Am Übersetzung von Otto E. Langfelder“125, behalte 31. August 1949 hielt Kelsen an der Universidad sich aber das Recht auf eine Gegendarstellung do Brasil einen weiteren Vortrag und im An- vor. Die Gegenäußerung Kelsens erschien schluss daran entschied der Universitätssenat, schließlich 1953 ebenfalls in der ZÖR,126 wozu Hans Kelsen eine Ehrenprofessur der Univer- sich Cossio im Jahre 1954 in La Ley bzw. in sidad do Brasil (Prof. honoris causa) zu verleihen, deutscher Version in der ZÖR 1956 abermals die er schließlich am 26. Juni 1952 erhielt, wobei äußerte.127 Währenddessen hatte Carlos Cossio Kelsen bei der offiziellen Verleihungszeremonie noch 1952 im Guillermo Kraft Verlag Buenos nicht zugegen war. Das Verleihungsdekret wur- Aires die von Kelsen während seines Argentini- de vom österreichischen Botschafter stellvertre- enaufenthaltes 1949 gehaltenen Vorträge, er- tend für Hans Kelsen entgegengenommen.121 gänzt um die angeblich zwischen ihm und Cos- Während seines Aufenthaltes in Rio de Janeiro sio geführten Dialoge, unter dem Namen Kelsen lernte Hans Kelsen auch den brasilianischen – Cossio veröffentlicht.128 Als Kelsen über seine Rechtsphilosophen und Begründer der Dreidi- spanisch-sprachigen Schüler, allen voran über mensionalen Rechtslehre Miguel Reale, damals Josef Kunz und Jaime Perriaux, von der Existenz Professor an der Universidad de São Paulo, dieses Buches erfuhr, schrieb er am 30. Novem- kennen. Über das Verhältnis der beiden ist je-

122 COSSIO, Teoria egologica y teoria pura. 119 Interview CAMINOS. 123 COSSIO, Egologische Theorie und Reine Rechtslehre 120 DRUMMOND, Kelsen in Rio de Janeiro. An dieser 15ff. Stelle sei Dr. Thiago Thannous für seine zahlreichen 124 Die Korrespondenz befindet sich in: HKI, Nachlass inspirierenden Hinweise, sowie Filipe Drummond, Kelsen, 16 c2.59. M.A. aufrichtig gedankt. 125 Ebd. Siehe Anm. 125. 121 Unrichtig daher die Angaben von JESTAEDT, Hans 126 KELSEN, Reine Rechtslehre und Egologische Theo- Kelsen Werke 1, 102, der den 25. 6. 1949 als Datum rie 449ff. nennt; und von SARLO, Gira sudamericana 415, der 127 COSSIO, Polemica anti-egologica; COSSIO, Anti- von der Verleihung eines Ehrendoktorats am 31. egologische Polemik. August 1949 schreibt. 128 KELSEN, COSSIO, Problemas escogidos.

Der Kreis um Hans Kelsen in Lateinamerika 79 ber 1952 an die Zeitschrift La Ley und bat, sein Aufenthalts galt Kelsens ganze Aufmerksamkeit Schreiben, in welchem er erklärte hatte, dass das seinen Untersuchungen über die (juristische) Buch Kelsen – Cossio ohne seine Zustimmung Logik: 1951 war Georg Henrik von Wrights und sein Zutun verfasst und veröffentlicht wor- Werk „Deontische Logik“ erschienen und Kel- den war, zu veröffentlichen. Gleichzeitig forder- sen machte dieses Werk zum Gegenstand eines te er den Verlag Kraft auf, die bereits gedruck- Privatseminars, an dem nur er, Gioja und Ver- ten Auflagen des Werkes Kelsen – Cossio einzu- nengo teilnahmen.132 ziehen, was schließlich im Sommer 1953 auch geschah.129 Im Streit um die nicht autorisierte Veröffentlichung von Kelsens in Argentinien Kelsens Mexikoreise und gehaltenen Vorträgen sowie im Hinblick auf die der Vorschlag für den Veröffentlichung von Cossios vorläufiger Bilanz von Kelsens Besuch in Argentinien, kam insbe- Friedensnobelpreis sondere Kelsens ehemaligem Schüler Otto Parallel zu den vorhin geschilderten Kontakten E. Langfelder, der in Buenos Aires lebte und mit den Juristen der La Plata-Staaten hatte Kel- Cossios Aufsätze ins Deutsche übersetzte, eine sen auch weiter seine Kontakte zu Mexiko, das wichtige Rolle zu, zumal er Kelsen in vertrauli- er ja schon 1943 besuchen hätte sollen, gepflegt, chen Briefen immer schon vorab über den Inhalt und noch bevor er jemals dorthin gereist war, von Cossios Aufsätze informierte130 und es Kel- am 27. August 1951, hatte die Universidad Na- sen so ermöglichte, dass dieser sich bereits vor cional Autónoma de México entschieden, Hans offiziellem Erscheinen der Aufsätze mit einer Kelsen ein Ehrendoktorat zu verleihen.133 Dies Gegendarstellung beschäftigen konnte. Über dürfte vor allem auf die beiden Professoren der einem direkten Kontakt zwischen Kelsen und UNAM Guillermo Hector Rodriguez und Emi- Cossio nach dem Jahre 1952 ist nichts bekannt, lio O. Rabasa zurückzuführen sein, die Kelsen – ein solcher kann aufgrund der eben dargelegten so wie auch Guillermo Floris Margadant – in Vorfälle jedoch nahezu ausgeschlossen werden. Berkeley besuchten.134 Emilio O. Rebasa dürfte Im Winter- und Sommersemester 1950/51 trat neben Kelsens altem Bekannten Garcia Maynez der damals 70-jährige Hans Kelsen einen Teil auch federführend daran beteiligt gewesen sein, seiner Vorlesungen in Berkeley an Josef L. Kunz dass Kelsen im März/April 1960, damals 79 Jah- ab; am 25. April 1952 trat er in den Ruhestand re alt, auf Einladung der UNAM eine Woche und konnte mithilfe einer Subvention der Ro- lang Mexiko D.F. besuchte und als Gastprofes- ckefeller Stiftung der Einladung des Institut sor Vorträge an der UNAM hielt. Die Rolle, die Universitaire des Hautes Etudes International nach Kelsens ehemaliger Schüler Recenses Siches bei Genf folgen.131 So kehrte er für das Studienjahr Kelsens Besuch in Mexiko spielte, ist nicht ganz 1952/53 nach Genf zurück und nahm die beiden klar: Anzunehmen ist, dass – da Recenses Siches Argentinier Ambrosio L. Gioja und Roberto Kelsen und Kunz zufolge den „Fehler“ began- Vernengo mit ans Institut Universitaire des Hautes gen hatte, in die Metaphysik abzudriften und Etudes International. Während seines Genf- zudem im Konflikt um die „richtige Auslegung

129 Guillermo Kraft Ltda an Hans Kelsen, 16. 6. 1953, 132 Interview VERNENGO. HKI, Nachlass Kelsen 16 c2.59. 133 Rolando Tamayo y Salmoran behauptet hingegen, 130 Otto Langfelder an Hans Kelsen, 7. 10. 1949, HKI das Ehrendoktorat wurde am 21. 6. 1951 verliehen: Wien Nachlass Kelsen 15s.58. FLORES, Una visita a Hans Kelsen 59 Anm 6. 131 MÉTALL, Kelsen 85. 134 FLORES, Una visita a Hans Kelsen 64.

80 Miriam GASSNER der Reinen Rechtslehre“ Partei für Carlos Cossio Während seines Mexiko-Aufenthaltes wurde und dessen egologische Rechtslehre ergriffen Kelsen nicht nur zum Ehrenmitglied der hatte – die Beziehung zwischen letztgenannten Sociedad Mexicana de Filosofia, sondern auch von und Kelsen 1960 deutlich abgekühlt und distan- deren Vorsitzenden José Luis Curiel im Namen ziert war. Zwar war Recenses Siches Teil der der Gesellschaft auch für den Friedensnobel- Delegation, die Kelsen und seine Gattin Grete preis vorgeschlagen – ein Vorschlag, dem be- am 29. März 1960 am Flughafen von Mexico kanntlich jedoch keine Folge geleistet wurde.140 City abholten, doch berichtet der spätere UN- AM-Professor und damalige Student Ulises Schmill Ordóñez , dass das Verhältnis der bei- Nachwort den „äußerst gespannt“ war.135 Im Vordergrund Bis heute scheint die Popularität Kelsens in La- von Kelsens Mexiko-Besuch stand dessen 1960 teinamerika ungebrochen, und die Zahl seiner in Mexiko erschienenes Werk „Einführung in Anhänger ist kaum geringer als jene, die er heu- die Reine Rechtslehre“,136 zu welchem Emilio O. te in Europa hat. Die Reine Rechtslehre ist an Rabasa auch das Vorwort verfasst hatte. Auch vielen Universitäten fixer Bestandteil des juristi- die vier an der UNAM anberaumten Vorträge, schen Studiums, und noch immer finden Nach- von denen Kelsen lediglich zwei hielt, da er drucke und Übersetzungen seiner Werke ins schon nach wenigen Tagen an der „Rache des Spanische und Portugiesische statt. Dies steht in Montezuma“ erkrankte,137 sollten sich mit die- einem denkwürdigen Kontrast zu den USA, wo sem Werk beschäftigen. Kelsen immerhin zwölf Jahre lang unterrichtete Kelsens Mexiko-Besuch wurde in allen großen und bis zu seinem Tod 1973 lebte, und wo seine mexikanischen Tageszeitungen (wie beispiels- Lehre kaum Widerhall gefunden hat. weise der „Novedades“) angekündigt, weshalb Die Gründe dafür sind vielfältig. Hinzuweisen die Hörsäle, in denen Kelsen am 30. März und ist zunächst auf die unterschiedlichen Rechts- am 2. April 1960 seine Vorträge hielt, sprich- systeme; denn wenn auch Kelsen mit dem An- wörtlich aus allen Nähten platzten.138 Kelsen, spruch aufgetreten war, eine Theorie des positi- der in Mexiko im Hotel Presidente (heute Hotel ven Rechts „schlechthin“ zu verfassen,141 also InterContinental) residierte, stattete am 2. April eine Theorie, die auf jedes Rechtssystem an- 1960 – begleitet von Emilio O. Rabasa, Leiter der wendbar sei, so war doch sein ganzes Denken Doktoratstudiums an der UNAM, Riccardo Gar- vom kontinentaleuropäischen System mit dem cia Villalobos, Dekan der juristischen Fakultät Vorrang des Gesetzesrechtes geprägt und ist der UNAM und Nabos Carillo, Rektor der UN- etwa der Stufenbau der Rechtsordnung viel AM – dem damaligen mexikanischen Staatsprä- leichter einem Juristen zu erklären, der es ge- sidenten Adolfo Lopez Mateos in dessen Amts- wohnt ist, mit einer geschriebenen Verfassung, räumlichkeiten in Los Pinas einen Besuch ab, mit vom Parlament erlassenen Gesetzen und wobei sich Kelsen und Mateos, Zeitungsberich- von Ministern erlassenen Verordnungen zu ten zufolge,139 über die „guten Beziehungen arbeiten, als einem Juristen, der vorwiegend mit zwischen Österreich und Mexiko“ unterhielten. Richterrecht arbeitet. Hinzuweisen ist hier auf den beinahe schon vergessenen Umstand, dass 135 Interview SCHMILL ORDÓÑEZ. 136 KELSEN, Introducción a la Teoria Pura del Derecho. 137 Interview SCHMILL ORDÓÑEZ. 140 FLORES, Una visita a Hans Kelsen 60 f; METALL, 138 FLORES, Una visita a Hans Kelsen 59. Kelsen 90. 139 Zeitung „Novedades“ vom 3. April 1960, 2. 141 KELSEN, Reine Rechtslehre1 1.

Der Kreis um Hans Kelsen in Lateinamerika 81 die juristischen Kontakte zwischen Österreich Korrespondenz: und Lateinamerika seit jeher eng waren, und Dr. Miriam Gassner sowohl das österreichische Strafgesetzbuch 1803 Seilerstätte 28, 1010 Wien, Österreich als auch das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch [email protected] 1811 vorbildhaft für eine Reihe lateinamerikani- scher Kodifikationen waren.142 So fielen die Leh- ren Kelsens in Lateinamerika auf fruchtbaren Abkürzungen: Boden. D.F. Distrito Federal Dann aber, und dies haben die vorstehenden HKI Hans Kelsen-Institut Ausführungen gezeigt, waren es vielfach die UFRJ Universidade do Brasil persönlichen Kontakte und somit auch Zufällig- UNAM Universidad Nacional Autónoma de México keiten, die Kelsens Lehre in Lateinamerika po- ZÖR Zeitschrift für öffentliches Recht pulär machten. Hatten vor 1930 einige latein- amerikanische Studierende bei Kelsen in Wien studiert, so waren es später die Kelsen-Schüler Literatur: Métall, Klinghoffer, Kunz und Langfelder, die Nicoletta BERSIER LADAVAC, Rudolf Aladár Métall, in: vor der NS-Verfolgung nach Südamerika flohen WALTER, JABLONER, ZELENY, Kreis um Hans Kelsen und hier für die Verbreitung der Reinen Rechts- 315–324. lehre sorgten. Eine Schlüsselrolle aber kam si- Bernardino BRAVO LIRA, El código penal de Austria cherlich Carlos Cossio zu. Seine „egologische (1803) epicentro de la codificación penal en tres Rechtslehre“ hatte zwar – bei näherer Betrach- continentes, Anuario de Filosofía Jurídica y Social (Valparaíso 2003) 299–344. tung – mit der Reinen Rechtslehre nur sehr we- Emilio Fernández CAMUS, Filosofia juridica nig zu tun, berief sich aber auf sie und trug so contemporanes (La Habanna 1932). wesentlich zur Popularität auch der Reinen Simon COLLIER, William F. SATER, A History of Chile Rechtslehre in Argentinien bei. Bemerkenswer- 1808–1994 (Cambridge–New York–Melbourne ter Weise überdauerte diese bis heute, während 1996). die egologische Rechtslehre selbst heute kaum Carlos COSSIO, La Reforma Universitaria o el Problema de la Nueva Generación (Buenos Aires noch gelehrt wird. So verdankt Kelsen seinem 1927). Kontrahenten Cossio vielleicht mehr, als ihm Carlos COSSIO, El concepto puro de la revolution selbst jemals bewusst wurde. (Barcelona 1936). Carlos COSSIO, El jurista de la epoca contemporanea, in: „La Ley“ vom 12. 10 1941. Carlos COSSIO, Prólogo in: Hans KELSEN, La Teoria Pura del Derecho (Buenos Aires 1941) 7–15. Carlos COSSIO, La teoría egológica del derecho y el concepto jurídico de libertad (Buenos Aires 1944). Carlos COSSIO, Como ve Kelsen a la Teoria Egologica del Derecho? in: „La Ley“ vom 31. 12. 1948, 1–3. Carlos COSSIO, Teoria egologica y teoria pura – Balance provisional de la visita de Kelsen a la Argentina in: „La Ley“ vom 25. 10. 1949. Carlos COSSIO, Egologische Theorie und Reine Rechts- lehre. Eine vorläufige Bilanz von Kelsens Besuch in Argentinien, in: ZÖR NF 5 (1953) 15–69.

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82 Miriam GASSNER

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Der Kreis um Hans Kelsen in Lateinamerika 83

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