Der Kreis Um Hans Kelsen in Lateinamerika Wie Die Reine Rechtslehre Lateinamerika Eroberte*

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Der Kreis Um Hans Kelsen in Lateinamerika Wie Die Reine Rechtslehre Lateinamerika Eroberte* BRGÖ 2014 Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs MIRIAM GASSNER, Wien Der Kreis um Hans Kelsen in Lateinamerika Wie die Reine Rechtslehre Lateinamerika eroberte* Hans Kelsen, one of the most important legal theorists of the 20th century, was and in fact still is as popular in Latin America as he is in Europe. The article examines Kelsen’s reception in the Spanish speaking world, especially his reception by the legal philosopher Carlos Cossio and gives an overview of Kelsen’s visits to Latin America, namely to Cuba in 1941, to Brazil, Uruguay and Argentina in 1949 and to Mexico in 1960. Einleitung Rechtslehre“. Der Untertitel erklärt sich aus dem Umstand, dass die 28 in diesem Band porträtier- Ein wesentlicher Grund für den Einfluss, den ten Personen allesamt mit Kelsen noch vor des- die von Hans Kelsen entwickelte „Reine Rechts- sen Flucht aus Europa 1940 „in persönlichen lehre“ weltweit gewinnen konnte, war der Um- Kontakt gekommen waren“.1 Die Kontakte, die stand, dass Kelsen stets schulenbildend wirkte, Kelsen nach seiner Emigration in die Vereinig- d.h. bemüht war, seine Theorien und Methoden ten Staaten neu knüpfen konnte, blieben also an zumeist jüngere Kolleginnen und Kollegen ausgeklammert; ihre Recherche ist von Europa weiterzugeben. Vermutlich schon 1913 begann aus weit aufwändiger als jene zu den Anfangs- er, in seiner Wohnung im VIII. Wiener Gemein- jahren. debezirk in der Wickenburggasse 23 Privatse- In diesem Sinne möchte die gegenständliche minare abzuhalten, woraus die „Wiener rechts- Arbeit einen ersten Überblick über die persönli- theoretische Schule“ entstand. Aber auch wäh- chen Kontakte Hans Kelsens zu lateinamerikani- rend seiner Tätigkeit in Köln (1930–1933), Genf schen Rechtswissenschaftern geben und darstel- (1933–1940) und in den Vereinigten Staaten (ab 1940) trachtete Kelsen nicht nur danach, den * Der Artikel enthält Ergebnisse des FWF-Projekts P Kontakt zu seinen alten Schülerinnen und Schü- 23747 „Hans Kelsens Leben in Amerika (1940–1973) lern zumindest im Briefweg aufrecht zu erhal- und die weltweite Verbreitung seiner Rechtslehre“. ten, sondern immer wieder auch neue Schüle- Im Rahmen dieses Projekts hatte die Autorin des gegenständlichen Beitrages u.a. die Aufgabe, die rinnen und Schüler für seine Lehre zu gewin- Beziehungen Kelsens zu lateinamerikanischen Juris- nen. So entstand ein weltumspannendes Netz- ten zu untersuchen und unternahm 2012 gemeinsam werk von Wissenschafterinnen und Wissen- mit dem Projektleiter, Prof. Thomas Olechowski, zwei schaftern, die die Reine Rechtslehre direkt von Amerika-Reisen (Argentinien, Brasilien, Mexiko, Uruguay, USA), bei denen eine Reihe von Interviews ihrem Begründer kennen gelernt hatten und mit Zeitzeugen geführt wurden, worauf an entspre- wenigstens zum Teil – und auf sehr unterschied- chender Stelle noch gesondert hingewiesen werden liche Art und Weise – fortführten und weiter- wird. Gedankt sei Frau Dr. Tamara Ehs für das Zur- entwickelten. verfügungstellen ihrer Rechercheergebnisse im Rah- men des genannten Projektes, namentlich zu Kelsens 2008 veröffentlichte das Wiener Hans Kelsen- Beziehungen zur Rockefeller Foundation. Institut einen Sammelband, betitelt „Der Kreis 1 WALTER, JABLONER, ZELENY, Einleitung 5. um Hans Kelsen. Die Anfangsjahre der Reinen http://dx.doi.org/10.1553/BRGOE2014-1s64 Der Kreis um Hans Kelsen in Lateinamerika 65 len, inwieweit diese bemüht waren, die Reine schungsaufenthalten (u.a. bei José Ortega y Rechtslehre in ihren Ländern fortzuführen und Gasset5 in Madrid, bei Rudolf Stammler und weiterzuentwickeln. Im Zentrum stehen dabei Hermann Heller in Berlin und bei Giorgio del Kelsens Lateinamerika-Reisen 1941, 1949 und Vecchio in Rom) von November 1926 bis April 1960 sowie insbesondere die Auseinanderset- 1927 nach Wien, um Hans Kelsens Vorlesungen zung mit dem argentinischen Juristen Carlos zu hören.6 Er nahm an Kelsens Privatseminaren Cossio, der zwar schon bald ein von Kelsen in der Wickenburggasse teil, wo er auch Kelsens deutlich abweichendes Theorem, die sog. Ego- Schüler Rudolf A. Métall und Josef L. Kunz – die logische Rechtslehre, entwickelte, der aber viel- beide spanisch sprachen – kennengelernt haben leicht gerade dadurch wesentlich zu der bis wird.7 Schon während Recasens Siches Aufent- heute ungebrochenen Popularität Kelsens in halt in Wien entwickelte sich eine enge Freund- Lateinamerika beigetragen hat. schaft zwischen Métall, Kunz und Recasens Siches, die später bei der Verbreitung von Kelsens Reiner Rechtslehre in der spanischspra- Erste Kontakte in die chigen Welt eine große Rolle spielen sollte. Re- spanischsprachige Welt casens Siches war in Kelsens Vorlesungen aller- dings keineswegs der einzige Student aus der Hans Kelsens Kontakte nach Südamerika be- spanischsprachigen Welt gewesen, denn zeit- standen ab Mitte der 1920er Jahre. So verfasste gleich mit Recasens Siches war auch der Kuba- Hans Kelsen 1926 einige „Bemerkungen zur ner Antonio Sanchez de Bustamante y Montoro Chilenischen Verfassung“,2 wobei heute unklar zu Kelsen nach Wien gekommen, um Kelsens ist wie es dazu kam. Manchen südamerikani- Vorlesungen zu hören.8 Über Bustamante kam schen Kelsenforschern zufolge3 könnte der chi- später der Kontakt zwischen Kelsen und dem in lenische Staatspräsident Aturo Alessandri, der Kuba lebenden spanischen Rechtsphilosophen von September 1924 bis März 1925 in Frank- Emilio Fernandez Camus zustande, zu dessen reich, der Schweiz und Italien im Exil war,4 Kel- Werk „Gegenwärtige Rechtsphilosophie” Kelsen sen mit einem Gutachten über die chilenische 1932 ein Vorwort verfasste.9 Verfassung von 1925 beauftragt haben, wofür es allerdings keinerlei Hinweise gibt. Auch ist über 5 Siehe dazu Anm. 28. eventuell aus Chile stammende Schüler bzw. 6 „Durante el período que cubrieron los meses de noviembre sonstige Kontakte Kelsens nach Chile während de 1926 a abril de 1927 se trasladó a la Universidad de Viena. En dicha institución estudió Teoría del Derecho, seiner Wiener Zeit nichts bekannt. Filosofía, Teoría General del Estado y Sociología, becado Als Kelsens „Eintrittskarte“ in die spanischspra- por el Ministerio de Instrucción Pública de España, a chige Welt kann wohl der ursprünglich aus Gu- propuesta de la Junta para la Ampliación de Estudios e atemala stammende Jurist Luis Recasens Siches Investigaciones Científicas, por Real Orden de 19 de junio de 1926 (Gaceta del 31 de julio). Estuvo bajo la dirección de bezeichnet werden: los profesores Hans Kelsen, Fritz Schreier, Félix Kaufmann Luis Recasens Siches, 1903 in Guatemala gebo- y R. Reininger. También acudió a las lecciones de los ren, hatte in Barcelona Rechtswissenschaften profesores Bühler y Adler.“ (http://www.uc3m.es/portal/page/portal/instituto_fig studiert und kam im Zuge einer Reihe von For- uerola/programas/phu/diccionariodecatedraticos/ lcatedraticos/rsiches – abgerufen am 08. 08. 2013). So 2 KELSEN, Bemerkungen zur Chilenischen Verfassung. NOGUEIRA DIAS, Recaséns Siches 366. 3 So z.B. Augustin Squella von der Universität von 7 MÉTALL, Hans Kelsen y su escuela 23. Valparaiso. 8 Ebd. 4 COLLIER, SATER, History of Chile 211. 9 FERNÁNDEZ CAMUS, Filosofia juridica 5–8. 66 Miriam GASSNER 1928 kehrte Bustamante y Montoro nach Kuba durch Lacambra,16 womit Kelsens Eintritt in die und Recasens Siches nach Spanien zurück, wo spanische rechtstheoretische Landschaft als letztgenannter sich dem Kreis um José Ortega y vollzogen betrachtet werden kann. Gasset anschloss und gemeinsam mit Justino de Ebenfalls 1934 wurde Hans Kelsen, wohl über Azcárate Flores Hans Kelsens „Grundriß einer die Kontakte seines ehemaligen Schülers und allgemeinen Theorie des Staates“ ins Spanische Assistenten Rudolf A. Métall, von der brasiliani- zu übersetzen begann.10 Nach kurzen Stationen schen Nationalversammlung mit der Erstellung an den Universitäten von Santiago de Com- eines Gutachtens über die Kompetenz der kon- postela, Valladolid und Salamanca, erhielt Re- stituierenden Nationalversammlung beauf- 17 casens Siches schließlich eine Professur in Mad- tragt. 11 rid, wo unter anderem der Spanier Luis Legaz Ab den frühen 1930er Jahren, als die politische y Lacambra bei ihm studierte. Auf Empfehlung Lage in Spanien in Folge eines (misslungenen) Recasens Siches’ kam Legaz y Lacambra im Stu- Militärputschs immer unbeständiger wurde und 12 dienjahr 1929/30 zu Kelsen nach Wien und Spanien unausweichlich auf einen Bürgerkrieg hörte dort neben Kelsens Vorlesungen zur zusteuerte, kam es zu einer Immigrationswelle Staatstheorie auch Vorlesungen bei Alfred Ver- spanischer Rechtsgelehrter und Intellektueller 13 dross, Fritz Schreier und Felix Kaufmann. nach Südamerika. Diese hatte zur Folge, dass Wieder in Spanien, begann Legaz y Lacambra die neuesten europäischen (rechts-)philo- mehrere Artikel über die Wiener Schule im All- sophischen Entwicklungen nach Südamerika gemeinen und Kelsens Rechtstheorie im Beson- „importiert” wurden. Auf diese Weise hielt deren zu publizieren. Auch in seiner Dissertati- wohl auch die Reine Rechtslehre Kelsens Einzug on, zu der Recasens Siches das Vorwort verfass- in viele südamerikanische Universitäten. Unter te, setzte sich Legas y Lacambra kritisch mit den spanischen Immigranten, die Spanien im Kelsen und der Wiener Rechtstheoretischen Zuge des spanischen Bürgerkrieges verließen, 14 Schule auseinander. war auch Luis Recasens Siches. 1937 erhielt Re- 1933 – also noch vor Erscheinen der ersten Auf- casens Siches eine Professur an der Universität lage der Reinen Rechtslehre im deutschsprachi- von Mexiko (UNAM)18 und sollte dort in den gen Raum – verfasste Luis
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