Tennstedt: Ärzte, Arbeiterbewegung Und Die Selbstverwaltung in Der
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Die sozialpolitische Lage des Arztes 13 nicht verstanden. Wer sich zum Sprecher der nach Abhilfe Suchenden machte, wurde als Ideologe abqualifiziert. Ich frage mich, was noch gesche- hen muß, damit die Ärzte endlich hinhören, Geduld und Toleranz bewahren und sich der Verantwortung bewußt werden, die aus Ihrer einzigartigen Machtposition erwächst. Anmerkungen * Überarbeitete Fassung eines Vortrages vor dem Berufsverband der Frauenärzte I Mahler, H.: Tomorrow's medicine and tomorrow's doctors. WHO Chronicle 31:60-62 (1977). 2 World Health Organization: The efflclency of medical care. Report of a syrnposl- um, Copenhagen 4-8 July 1966. Copenhagen 1967 (EURO 294.2). 3 Pflanz, M.: Beurteilung der Qualität ärztlicher Verrichtungen. Münch, med. Wschr. 110:1944-1949 (1968). 4 Deutscher Bundestag (Hg.): Gesundheitsbericht. Bonn 1970. 5 Soztalenqu'te - Kommission: Soziale Sicherung In der Bundesrepublik Deutsch- land; Soztalenqu'te. Stuttgart: W. Kohlhammer, 1966. 6 Kastner, F.: Die allgemeinen Ursachen für das ständige Anwachsen der Arznei- mittelkosten. Ortskrankenkasse 52:646 ff. (1970). 7 Tltrnuss, R. M.: The gtft relatlonshtp. New York: Pantheon Books, 1971. 8 Rohland, L. und Schorr, R.: Der Widerstand der westdeutschen Ärzte gegen die unsoziale Krankenkassenreform. Berlin: VEB Verlag Volk und Gesundheit, 1962. 9 Bundesärztekammer (Hg.): Sammlungen von Entscheidungen der ärztlichen Be- rufsgerichte, Bd. II, Köln 1971. 10 Wilbur, D. L.: Clinical sense, social sense, common sense. J. Amer. med. Ass. 209:680-684 (1969). II Ferber, Chr. von: Gesundheit und Gesellschaft. Haben wir eine GesundheItspo- litIk? Stuttgart: W. Kohlhammer, 1971. Florian Tennstedt Ärzte, Arbeiterbewegung und die Selbstverwal- tung in der gesetzlichen Krankenversicherung Historischer Rückblick aus aktuellem Anlaß In Deutschland gehört es zu den wenig bekannten Folgeerscheinungen des NS-Regimes, daß traditionsreiche Ansätze einer demokratischen und so- zialistischen ÄrztepolitIk ebenso gründlich vernichtet wurden wie eine Inno- vative, die Ergebnisse der Sozialhygiene "umsetzende" Selbstverwaltungspo- litIk der gesetzlichen Krankenkassen in Kooperation mit den Gewerkschaf- ten'. Die heute im Vordergrund der öffentlichen Diskussion stehende Poli- tik der Ärzteverbände hat zwar ebenso ihre Geschichte, aber in ihrer nahezu vollständigen Ausschließlichkeit wäre sie nicht denkbar ohne die nationalso- zialistische Ärztepoltttk". Hinzu kommen dann noch unglaubliche For- schungsdeflztte auf dem Gebiet der Geschichte der medizinischen Versor- ARGUMENT-SONDERBAND AS 17 © 14 Florian Tennstedt gung" und der Arbeiterbewegung', durch die die Leglttrnatton eines erneu-: ten gesundheItspolitischen Engagements der Gewerkschaften aus angeblich wissenschaftlicher Sicht bestritten werden kann". Die HInwendung vieler Ärzte zu den Armen und Arbeitern, Ihr teilwelses Eintreten für deren politische Rechte beschränkte sich keineswegs auf die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts'. So finden sich z. B. bel Frtedrtch Oesterlen viele Anspielungen auf das, was In "monarchisch und bürokratisch ver- hunzten Ländern nicht alles möglich" ist und die Hoffnung auf Zelten, In denen einmal "die wahren Interessen der Völker, nicht bloß diejenigen Ihrer Herren und Dränger überall maßgebend geworden sein werden für alles'''. Louis Pappenhelm empfahl als Mittel gegen "das Elend der dürftigeren Klassen" vor allem "die Aufklärung, den mit Ihr steigenden Wohlstand dieser Klassen, die Mutter und die Tochter belder: die politische Freiheit:", In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts beginnt dann die Hinwendung mancher Ärzte zur sozialistischen Arbeiterbewegung: prominentestes Bei- spiel ist Viktor Adler, der Begründer der österreichischen Sozialdemokratie. Für das Deutsche Reich muß hier an erster Steiler der Berliner Arzt Ignaz Zadek mit seinem Verwandten- und Freundeskreis genannt werden'. Ignaz Zadek war der Schwager Eduard Bernsteins, In seinem Haus versammelten sich August Bebel, Karl Kautsky, Paul Singer, Jakob Bamberger u. a.. In der Berliner Stadtverordnetenversammlung wirkte er mit Kurt Freudenberg für eine arbettnehmerortentterte Gesundheltspoltttk". Aufklärend wirkte er als Herausgeber und MItverfasser einer .Arbettergesundhettsbibltothek" . Sein lebenslanger Freund Alfred Blaschke" brachte die preußische Regierung dazu, den Kampf gegen die Im Memelgeblet eingeschleppte Lepra aufzuneh- men '2, war Begründer und "spiritus rector" der Gesellschaft zur Bekämp- fung der Geschlechtskrankheiten, und letztlich Ist das Gesetz zur Bekämp- fung der Geschlechtskrankheiten auf seine unermüdliche organisatorische und wissenschaftliche Arbeit zurückzuführen". (Daneben wirkte er u. a. mit Julie Zadek als künstlerischer Ratgeber der Freien Volksbühne.) In ihrem Kampf gegen die Tuberkulose, Geschlechts- und GewerbekrankheIten arbei- teten die Freunde eng mit der Krankenkassenbewegung zusammen, vor al- lem mit dem späteren Direktor der Berlinger AOK Albert Kahn 14. Schließ- lich sei noch erwähnt, daß sie mit den KrankenkassenmItgliedern einen er- folgreichen Kampf gegen die unerträglichen MIßstände in der veralteten Berliner Charité führten. Mit seinen ärztlichen Freunden Adolf Braun und Albert Freudenberg sowie den Sozialdemokraten Johannes Tlmm und Paul Karnpffmeyer gründete Ignaz Zadek die Arbeitersanitätskommission 15, die wegweisend war für die spätere Tätigkeit der Wohnungs- und Gewerbein- spektion und die Wohnungsenqu'ten von Albert Kohn. Der Freund und Studienkollege von Alfred Blaschko und Ignaz Zadek, Paul Christeller, wur- de MItbegründer des Arbeitersamariterbundes 16. 1913, als der Kampf zwischen Krankenkassen und Ärzten einen Höhe- punkt erreichte, gründete Ignaz Zadek mit den sozialistischen Ärzten Karl Kollwitz", Ehemann von Käthe Kollwitz, und Ernst Stmmel'", später auch einer der Pioniere der Psycholanalyse, den "Sozialdemokratischen Ärztever- ein" In Berlin, der zum Wohle der Kranken zwischen beiden "Instanzen" vermitteln sollte und später vor allem für die Sozialisierung des Heilwesens ARGUMENT ·SONDERBAND AS 17 © Ärzte und Arbeiterbewegung 15 eintrat. Allerdings führte die Spaltung der Arbeiterbewegung 1924 dazu, daß eine solche auch hier eintrat: die Mehrzahl der "alten" Mitglieder um Ignaz Zadek und Ernst Strnmel grUndete den .Veretn sozialistischer Ärzte", in dem die Mitgliedschaft prinzipiell unabhängig von der Parteibindung war". Der "Sozlaldemokratische Ärzteverein" hatte fortan geringere Bedeutung, 1926 schloß er sich mit dem "Sozlaldemokratlschen Ärztebund" zu der ein- zigen vom Parteivorstand der SPD anerkannten .Arbeltsgernetnschaft sozi- aldemokratischer Ärzte" zusammen, die meist stark auf Abgrenzung be- stand, obwohl Doppelmltgliedschaften existierten. Hier wirkten vor allem der Berliner Stadtarzt Raphael Stlberstem, der Reichstagsabgeordnete und Herausgeber der Zeitschrift "Der Kassenarzt" Julius Moses", der Sozlalhy- glentker Alfred Grotjahn", der preußische Landtagsabgeordnete und Soztal- hyglentker Benno Chajes, der Ambulatoriums- und Gewerkschaftsarzt Franz Meyer-Brodnitz u. a.. In Berlin hatte der .Veretn sozialistischer Ärz- te" etwa 150 bis 200, Im Deutschen Reich etwa 1500Mitglieder. 1930 gelang die freigewerkschaftliche Organisation der Ärzte und die GrUndung einer In- ternationalen sozialistischen Ärztebewegung. Die hier nur angedeuteten "Hauptlinien"" sollen nun noch ergänzt wer- den durch eine ausführlichere Darstellung des Wirkens von ,Friedrich Land- mann und Raphael Friedeberg, die Im Hinblick auf die sozialdemokratische Parteipolitik mehr Außenseiter waren, dagegen als Berater der Ortskranken- kassen exemplarische Bedeutung erlangten. Die Vorschläge und Maßnah- men von Fnedrtch Landmann waren - vor dem Hintergrund der politischen und sozioökonornlschen Gesamtsituation gesehen - der "negatlve Auslöser" für die GrUndung des Hartmannbundes" und damit der heute herrschenden Politik der Ärzteverbände. Raphael Friedeberg ist In der Geschichte der Ar- beiterbewegung durch seinen Gewaltaktionen ablehnenden Anarchosozialis- mus bekannt" - hingegen wird sein praktisch folgenreicheres Wirken als Berater der Selbstverwaltungsorgane der Krankenversicherung nirgendwo erwähnt. Friedrich Landmann wurde am 12. Januar 1864als Sohn eines Baumeisters In Rheydt geboren". Er besuchte das Gymnasium und war von 1883 bis 1894 Gutseleve In Pommern. Hier konnte er seiner bereits In der Schulzeit entstandenen besonderen Vorliebe für die Natur und natürliche Lebensweise nachgehen. Kurze Zelt war er Gutsinspektor und absolvierte dann seinen Militärdienst. Von 1885 bis 1890 studierte er Medizin In Berlin und Greifs- wald und promovierte mit einer kleinen Arbeit über .Dte physiologischen Anschauungen des Aristoteles". 1891 kehrte er In seine Heimatstadt Rheydt zurück und wurde dort praktischer Arzt. Ein Jahr später wurde er Kassen- arzt In Boppard a. Rh., und fortan widmete er sich weniger dem Ausbau der eigenen Praxis als der Durchsetzung seines auf Lebensreform abzielenden gesundheitspolitIschen Programms; die theoretische Grundlage dazu bildete seine 1893 Im Selbstverlag erschienene .Aufklärungsschrtft für Kassenmltg- lleder" und "Ursprung, Wesen und Heilung der Krankhetten=v.ln dieser beleuchtet er zunächst die "kulturgeschlchtliche Entstehung der Krankhei- ten" und kommt zu dem Schluß: "Es hat nicht zu allen Zelten Krankheiten gegeben; vielmehr sind dieselben ge- rade so alt, wie die naturwidrige Lebenswelse der Menschen, welche dieselben ARGUMENT-SONDERBAND AS 17 © 16 Florian Tennstedt hervorgerufen hat, und sie werden nicht eher wieder verschwinden, bis diese Ihre Ursache beseitigt Ist".