Verein für historisch- politische Bildungsarbeit und internationalen Dialog Association for historical and political education and international dialogue

Studienfahrt nach Auschwitz und Krakau

04.-07.12 2012

Inhaltsverzeichnis

1) Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager von: Wolf Oschlies, aus: shoa.de

7) Auszüge zum Konzentratztionslager Auschwitz aus der „Enzyklopädie des Holocaust“(1993)

13) Auschwitz heute. Das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau Aus: Doujak, Michael: Möglichkeiten der Darstellung der Geschichte der Verbrechen der Nationalsozialisten im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau am Beispiel einer Neugestaltung der Österreich-Ausstellung (2009)

21) „Das erste Opfer“. Auschwitz-Birkenau: Eine Ausstellung aus einer anderen Zeit von: Peter Larndorfer

24) Antisemitismus aus: shoa.de

29)Volksgemeinschaft von: Bernd Kleinhans, aus: shoa.de

33) Das „erste Opfer“. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik von: Heidemarie Uhl, aus: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2001/1, 19-34

46) „Revisionismus“ – Pseudowissenschaftliche Propaganda des Rechtsextremismus von: Brigitte Bailer-Galanda, aus: Enzyklopädie des Holocaust (1993)

60) Homosexuelle Männer in Konzentrationslagern. Das Beispiel Buchenwald

79) Homophobie und männliche Homosexualität in Konzentrationslagern Von: Alexander Zinn, aus: Homophobie und Devianz (2012)

90) Euthanasie und Eugenik im Dritten Reich, aus: shoa.de

95) Wiener Psychatrie und NS-Verbrechen Von: Wolfgang Neugebauer, Referat auf einer Arbeitstagung des IWK, 1997

101) NS-Verfolgung von „Zigeunern“ und „Wiedergutmachung“ nach 1945 Von: Frank Sparing, aus: Aus Politik und Zeitgeschichte, 22-23/2011, 11-15

109) „Ich bin Roma und habe dieses Land verteidigt“ Von: Edward Paczowski, aus: www.asf-ev.de

113) Polen von: Adam Kreminski, aus: Enzyklopädie des Holocaust (1993)

118) Fotograf in Auschwitz Aus: Süddeutsche Zeitung (01.06.2009)

122) Das deutsche Verfahren von: Annabel Wahba, aus: Der Tagesspiegel, 21.12.2003

129) Judenvernichtung. Die Erinnerung der Täter von: Bruno Schirra, aus: Der Spiegel, 40/1998

137) Auszug aus: Primo Levi, Ist das ein Mensch

147) Auszug aus: Ruth Klüger, Weiterleben 1

Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager

Geschrieben von: Wolf Oschlies

Von Anfang an haben deutsche KFZ-Zulassungstellen die Buchstabenkombinationen "SS" und "KZ" nicht für Autokennzeichen vergeben. Das ist verständlich, auch wenn es sachlich dafür keinen Grund zu geben scheint: Offiziell gab es in Deutschlands niemals "KZs" - weil die amtliche Abkürzung dafür "KL" lautete; um welches Lager es sich jeweils handelte, verrieten die angehängten Buchstaben, also etwa "KLD" für "Konzentrationslager Dachau" (oder " Kann Lange Dauern" im Häftlingsjargon). Die Deutschen haben das Konzentrationslager auch nicht erfunden und nicht als erste eingerichtet - ihnen kamen im bereits im 19. Jahrhundert Spanier (Kuba 1896) und Briten (Süd-Afrika 1899) zuvor. Danach machten Lenins Bolschewiken 1918 in Rußland das schlechte Beispiel nach, Stalin vervollkommnete es in den 1930er Jahren, nach dem Zweiten Weltkrieg gab es entsprechende Lager in ganz Osteuropa, auch in Griechenland, später in Chile, in Kambodscha und anderswo.

Das alles ist mehr oder minder vergessen, denn von 1933 bis 1945 existierten die von Deutschen eingerichteten und betriebenen Konzentrationslager, die in ihrer unwiederholbaren Grausamkeit diese Institution prägten und sie ein für allemal im Gedächtnis der Menschheit mit dem deutschen Namen verknüpften. Eben das ist das bleibende "Erbe" von Hitlers Herrschaft - alle Deutschen für alle Zeit mit dem verbunden zu haben, was in Dachau, Auschwitz und Tausenden weiterer Konzentrationslager geschah.

Hier soll keineswegs der deutschen "Kollektivschuld" (oder ähnlichem) das Wort geredet werden, denn die gab es selbstverständlich nicht. Was es aber gab, hat die Historikerin und Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) beschrieben, nämlich daß die Existenz totalitärer Herrschaftsformen "mit der Existenz von Konzentrations- und Vernichtungslagern steht und fällt". Warum? Hannah Arendt: "Diese Lager sind die eigentliche zentrale Institution des totalen Macht- und Organisationsapparates".

Wie viele KZs gab es eigentlich? Polnische Autoren haben gelegentlich die allein in Polen bestehenden Lager, Nebenlager, Zuchthäuser, Gefängnisse, Polizeiarreste etc. addiert und sind auf über 6.000 gekommen. Deutsche Autoren meinten, "die SS überzog Europa mit 1.634 Konzentrationslagern", polnische hielten dagegen, es wä-ren "mindestens 8.800 gewesen". Kurz nach Kriegsende versuchten manche, das Netz der KZs kartographisch zu erfassen - heraus kamen Europa-Karten, die bis zu Unkenntlichkeit mit Punkten übersät waren, bei denen für die Nennung von Ortsnamen gar kein Platz mehr war.

Hinzu kommt, daß KZ nicht gleich KZ war. Die Lager entstanden zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zwecken - was zwar eine bis Kriegsende beibehaltene Differenzierung einschloß.

Zu Opferzahlen in KZs gibt es verschiedenste Daten. Aber alle Zahlen zu KZs sind nur annähernde Schätzungen. Die "Herren" der Lager waren absichtlich keine guten Buchhalter, sie legten es vielmehr darauf an, die genaue Zahl der Häftlinge nirgendwo exakt zu vermerken. In den meisten Lagern "im Osten" wurden Häftlingsnummern nur bis 20.000 ausgegeben - war diese Zahl erreicht, fing man wieder von vorn an. So erklären sich gewisse 2

Diskrepanzen der obigen Aufstellung, die zwischen den Angaben zu den Häftlingen und denen der Toten bestehen.

Hinzu kommt die Vermutung, daß alle KZ-Zahlen zu niedrig sind. Beweisen kann man das nicht, aber doch die eigene Vermutung stützen: Auschwitz bestand 1.778 Tage, auf seinem Gelände waren vier große Krematorien in Betrieb, die 6.000 Leichen pro Tag verbrennen konnten. Hinzu kamen einige kleinere Krematorien und mehrere "wilde". Wer hier anfängt zu multiplizieren, gelangt zu schwindelerregenden Zahlen - die wiederum erheblich vermindert werden müssen, weil nicht jeden Tag Tausende Menschen getötet und verbrannt wurden. Aber wie viele Opfer gab es genau, nicht nur in Auschwitz?

Die Antwort wird nie gegeben werden können, weil Konzentrationslager, wie Hannah Arendt sagte, die Verkörperung absoluter, uneingeschränkter Macht waren. Nämlich die Macht der Betreiber, denen die absolute Rechtlosigkeit der Häftlinge gegenüber stand. Dieses System wurde "Schutzhaft" genannt.

"Schutzhaft"

Die Schutzhaft war eines der schlagkräftigsten Instrumente des NS-Regimes zur Bekämpfung seiner Gegner. Mit Hilfe der "Schutzhaft", deren formaljuristische Grundlage die "Reichstagsbrandverord-nung" vom 28. Februar 1933 bildete, schuf sich die Gestapo einen von jeder rechtsstaatlichen Bin-dung gelösten Raum staatlicher Willkür. Erste Opfer der "Schutzhaft" waren vor allem Funktionäre der Arbeiterbewegung sowie Juden, die in den zunächst "wilden" Konzentrationslagern festgesetzt wur-den. Ende Juli 1933 befanden sich in ganz Deutschland mehr als 26.000 Menschen in "Schutzhaft". Anfänglich wandten sich die Justizbehörden noch gegen gerichtlich nicht überprüfbare Verhängung der "Schutzhaft". Doch der Hausjurist der Gestapo, Werner Best (1903-1989), konnte Hitler schon 1935 überzeugen, daß "Schutzhäftlinge" keinen Anspruch auf rechtlichen Beistand hätten. Drei Jahre später sanktionierte das Reichsinnenministerium die gängige Praxis einer "unmittelbaren normfreien Anwendung der Staatsgewalt". Die Ausweitung der von "Schutzhaft" bedrohten Personengruppen auf "Bibelforscher" (= Zeugen Jehovas), "Arbeitsscheue", "Asoziale" sowie "Zigeuner" spiegelt den Anspruch des nationalsozialistischen Systems wider, die "Volksgemeinschaft" radikal umzugestalten. "Rassisch", politisch und sozial Unerwünschte wurden systematisch ausgegrenzt. Im Zuge des November-Pogroms wurden 1938 mehr als 26.000 Juden in "Schutzhaft" genommen. Die 1933 noch mit der Notwendigkeit der Stabilisierung des NS-Systems begründete Schutzhaft war nun endgültig zu einer festen Institution der Repression geworden. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs sollten "Schutzhäftlinge" für die Dauer des Kriegs prinzipiell nicht mehr entlassen werden.

Theodor Eicke (1892-1943)

Die Schutzhaft wurde etwa ab Februar 1933 praktiziert: Nach dem Reichstagsbrand verhaftete die SA willkürlich politische Gegner und hielt sie in den eigenen Räumlichkeiten gefangen - etwa 25.000 Menschen sind durch diese sog. "wilden Konzentrationslager" gegangen. Im März 1933 wurde in Dachau in einer ehemaligen Munitionsfabrik das erste Konzentrationslager geschaffen, das ab Juni von (1892-1943) geleitet wurde. Der betrieb das Lager von Anfang an als eine Art Berufsschule, als "SS-Übungslager". Eicke, 3

der in jüngeren Jahren ärztlich für geisteskrank erklärt worden war, schuf die "Besondere Lagerordnung", die später für alle KZs obligatorisch wurde: "Schutzhaftgefangenen" wird niemals der Grund für ihre Inhaftierung genannt; gegenüber den Bewachern sind sie "ausnahmslos in einem untergeordneten Verhältnis"; für sie gilt "militärische Zucht und Ordnung vom ersten Tage an"; es sind "allen SS-Angehörigen militärische Ehrenbezeugungen zu erweisen"; die Organisation der Gefangenen unterliegt "Ordnungsmännern" aus ihren Reihen, die von der SS Befehle erhalten und diese "unter allen Umständen durchzudrücken" haben; "die Unterkunftsstuben müssen sich zu jeder Zeit in einem musterhaft sauberen Zustand befinden"; "die Gefangenen sind ausnahmslos zur körperlichen Arbeit verpflichtet"; Briefverkehr mit Angehörigen ist gestattet, aber "alle auslaufenden Briefe und Postkarten sind frankiert und offen dem Gef. Kompanieführer zu übergeben" - und so weiter, wobei bei jeder Bestimmung angefügt war, daß jedweder Verstoß gegen diese "bestraft" würde. Details regelte die (ebenfalls von Eicke entworfene) "Disziplinar- und Strafordnung für das Gefangenenlager", die gleich in der "Einleitung" bestimmte (in originaler Orthographie):

"Die vollziehende Strafgewalt liegt in den Händen des Lagerkommandanten, welcher für die Durchführung der erlassenen Lagervorschriften dem Inspekteur der Konzentrationslager (= Eicke, W.O.) persönlich verantwortlich ist. (...) Toleranz bedeutet Schwäche. Aus dieser Er- kenntnis heraus wird dort rücksichtslos zugegriffen werden, wo es im Interesse des Vaterlan- des notwendig erscheint. (...) Den politisierenden Hetzern und intellektuellen Wühlern - gleich-welcher Richtung - aber sei gesagt, hütet euch, dass man euch nicht erwischt, man wird euch sonst nach den Hälsen greifen und nach eurem eignen Rezept zum Schweigen bringen".

"Papa" wurde Eicke von seinen Untergebenen genannt, die zwar alle der SS angehörten, aus dieser aber wegen ihrer besonderen Aufgaben - Bewachung der KZs - organisatorisch ausgegliedert waren. Wegen ihres Zeichens auf Mützen und rechtem Kragenspiegel wurden sie Totenkopfverbände genannt, und unter eben diesem Na-men wurden sie im März 1936 offiziell anerkannt.

Ausbildung und Organisation der Wachverbände des KZ-Systems, der SS- Totenkopfverbände

Emblemen der SS Totenkopfverbände

Der Einteilung in sechs regionale Sturmbanne (Bataillone) 1934 folgte die Anerkennung Hitlers als Verbände der Partei und deren Finanzierung über den Reichshaushalt im September 1935; bis zum März 1936 wurden die Verbände dann auf 5.500 Mann vergrößert, bis März 1938 bestanden - ein-schließlich einer neu aufgestellten Einheit in Oberösterreich - vier SS-Totenkopfstandarten (Regimenter) zu je 3 Bataillonen. Bis zum Kriegsbeginn betrug mit ausdrücklicher Billigung und Unterstützung Hitlers nach einem Geheim-Erlaß vom 17. August 1938 (...) eine verstärkte Polizeireserve "zur Lösung von Sonderaufgaben polizeilicher Natur" zu schaffen, die Stärke der Totenkopf-Verbände 22.033 Mann, die als motorisierte Infanterieregimenter ausgerüstet waren, bis zum Kriegsbeginn gar 24.000 Mann. Diese wurden zum Stammpersonal jener "3. SS-Division Totenkopf", die als Teil der Waffen-SS im Krieg zu einer der militärisch erfolgreichsten, vor allem aber angesichts ihrer Kriegsverbrechen ge-fürchtetsten Einheiten der Waffen-SS wurde. Ihre 4

Ausbildung als KZ-Wächter wie als fanatische, weil politisch und ideologisch motivierte Soldaten war Eickes zentrale Aufgabe zwischen 1936 und 1939, aber auch in den Folgejahren als Kommandeur dieser Division.

Kennzeichnung der Häftlinge in den Konzentrationslagern

Die in jeder Hinsicht variierende Kommunität der Häftlinge wurde etwa ab 1938 allmählich durch Dreiecke ("Winkel") auf der blau-weiß gestreiften Sträflingsuniformen unterschieden: Rot bezeichnete "Politische", grün Kriminelle, schwarz "Asoziale", blau Emigranten, rosa Homosexuelle, violett Zeugen Jehovas ("Ernste Bibelforscher") und braun "Zigeuner". Später wurden die Zigeuner den Asozialen zugerechnet, womit der braune Winkel entfiel und fortan nur noch sechs Kategorien von Häftlin-gen existierten. Juden wurden mit gelb- schwarzen Davidsternen markiert. Weitere Differenzierungen wurden nach Nationalitäten vorgenommen (roter Winkel + P = Pole), Haftumständen ("Strafkompanie", "Fluchtverdächtige" etc.) Oberhalb der Winkel waren Leinenstreifen mit den Häftlingsnummern aufgenäht. "Funktionshäftlinge" waren durch Armbinden herausgehoben: gelb für "Capos" (Vorarbeiter), schwarz für "Stuben- " bzw. "Barackenälteste".

Als Phänomen blieb das Konzentrationslager zwar zeit seines Bestehens unverändert, machte aber dennoch einige Wandlungen durch. Sehr grob lassen sich folgende drei Entwicklungsabschnitte konstatieren:

• 1933-1936: Übergang von "wilden" KZs zu institutionalisierten, strukturelle Festle- gungen aufgrund des "Musterlagers" Dachau, Herausbildung von Verwaltungs- strukturen, Herrschaftsverhältnissen und Strafbestimmungen.

• 1936-1941: Ausweitung der Inhaftierten auf Kriminelle, Asoziale, Zigeuner etc. Anfänge einer wirtschaftlichen Nutzung der Häftlinge durch auszubeutende Zwangsarbeit, vermehrte Inhaftierung von Juden, nach Kriegsbeginn auch von Polen.

• 1942-1945: Totale Nutzung der Häftlinge für Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion, "fabrikmäßige" Massenvernichtung im Zuge der "Endlösung der Judenfrage", darum starke Expansion von "Nebenlagern" (in der Nähe von Produktionsstätten) und reinen Vernichtungslagern.

Vergleicht man die dritte mit der ersten Phase, dann kann man nur staunen: Anfänglich galt, daß die KZs nur als "vorbeugende Maßnahe" zu verstehen seien und die überfüllten Polizeigefängnisse entlasten sollten. Das traf sogar zu: Bis 1939 waren Entlassungen aus dem KZ so sehr die Regel, daß eine durchschnittliche Haftdauer etwa 12 Monate betrug. Erst mit der "großdeutschen" Territorialerweiterung, die im Verlauf des Kriegs erfolgte und immer neue, immer größere und immer mehr "fremdvölkische" Massen in die KZs brachte, hörte das auf: Man brauchte und baute größere Lager, in denen Menschen auf unbestimmte Zeit 5

festgehalten wurden, weil sie für die Zwangsarbeit oder den Tod bestimmt waren - im Regelfall für beides, sobald sie für die Arbeit zu erschöpft waren.

Jedes KZ war ein äußerlich hermetisch abgeriegelter Komplex, dessen Existenz die Außenstehenden zwar wahrnahmen, von dessen Interna sie jedoch so gut wie nichts erfuhren. Das lag an der ausgeklügelten Organisation funktionaler Entmischung, die in den Lagern die Norm war. Die Lagerverwaltung hatte die von Eicke in Dachau geschaffenen fünf Abteilungen: I - Kommandantur (Dienst- und Personalangelegenheiten), II - Politische Abteilung (Gestapo, verantwortlich für Einweisungen, Entlassungen, Verhöre, Exekutionen etc.), III - Schutzhaftlager (innerer Dienstbetrieb, Arbeitseinsatz), IV - Verwaltung (ökonomisches Zentrum), V - Sanitätswesen. Darüber hinaus war ein KZ geradezu urban gegliedert: 1

Das Lagergelände wurde zoniert, in Regionen aufgeteilt. Ein Konzentrationslager besteht nicht nur aus einer Ansammlung von Holzbaracken. Je nach Ausbaustadium befanden sich auf seinem Areal Werkstätten, Fabrikhallen und landwirtschaftliche Betriebe, Heizwerk und Löschteich, Kasernen und Büros, Bordell und Kino, Kantinen, Lazarette, Gefängnis und Krematorium. Vollständig ausgebaut war es eine Ortschaft mit Straßennetz und Gleisanschluß, eine Stadt für Personal und Gefangene, in der Tausende, zeitweilig Zehntausende Menschen untergebracht waren. In einer modernen Standardform ist das Lager eine geschlossene Ortschaft mit Einrichtungen, die der Infrastruktur einer Stadt entsprechen. Das Machtzentrum lag im Verwaltungsbezirk. Die Betriebe der Privatfirmen (...), die Steinbrüche, Ziegeleien, Textil- und Holzbetriebe lagen etwas weiter entfernt. (...) im KZ (herrscht) das Prinzip der verdichteten und segmentierten Masse. Der Raum ist nicht in kleine Zellen aufgeteilt, sondern in Felder und Blocks. Die Insassen wurden als kompakte Einheiten überwacht. Sie wurden so dicht zusammengepresst, daß persönliche Handlungsräume nahezu ausradiert waren. Das System der Felder war, sofern keine natürlichen Hindernisse im Weg standen, unendlich ausdehnbar".

Israelische und andere Autoren haben mitunter die Fragen verständnisloser Nachfahren thematisiert, "warum habt ihr euch das alles im KZ gefallen lassen". Die Frage erscheint berechtigt: Warum sind Millionen Juden und andere widerstandslos in Gaskammern gegangen und haben sich umbringen lassen? Die Antwort kann nur in genauerer Kenntnis KZ-interner Verhältnisse gegeben werden, und sie ist schmerzlich: Die SS hatte auch die größten Lager - Auschwitz, Majdanek - so lückenlos "im Griff", daß sie zwar allgegenwärtig war, aber nicht immer präsent sein musste. Beispielsweise war nachts kein SS-Mann in einem Lager. Das war auch nicht nötig, denn das "Erfolgsgeheimnis" der KZ-Betreiber waren die zahlreichen Hierarchien, die die Häftlinge so auseinander dividierten, daß von ihnen keine kollektive "Gefahr" mehr drohen konnte. Die wichtigsten Hierarchien waren:

• Soziopolitisch: Politische versus kriminelle Häftlinge, "rot" gegen "grün". Zwar wur- den die "Grünen" von der SS bevorzugt, aber die "Roten" waren ihnen zumeist in Bezug auf Intelligenz und internen Zusammenhalt überlegen.

• Funktional: "Lageraristokratie" (Capos, Älteste etc.) gegen den Rest der Häftlinge.

• Temporär: Neuankömmlinge ("Zugang") versus "alte Nummern".

• Ethnisch: In absteigender Linie Deutsche, Nord-Europäer, West-Europäer, Ost- Europäer, Slaven. 6

• Rassistisch: Juden und "Zigeuner" als verachtetste Gruppen.

Vor langen Jahren hatte der Verfasser Gelegenheit, anlässlich einer Tagung in Bad Boll den Vortrag eines ehemaligen Auschwitz-Häftlings anzuhören (der inzwischen in Österreich zum Leiter der dortigen KZ-Gedenkstätten avanciert war). Er berichtete, daß in Auschwitz seine Aufgabe gewesen war, Wände der einzelnen "Blöcke" mit künstlerischen Malereien zu versehen - "und glauben Sie mir, ich habe mich mit allem Können bemüht, gut zu malen, denn nur wenn meine Arbeit den Capos, Blockältesten, SS-Männern gefiel, hatte ich wieder einen Tag heil herumgebracht, und nur darum ging es in Auschwitz".

Nur darum ging es wirklich in Auschwitz, denn vor einem waren alle Häftlinge wieder gleich - vor dem Tod. Der Tod war allgegenwärtig, der langsame Tod durch Hunger und Erschöpfung, oder der rasche Tod durch Erschießen, Erschlagen etc. Diesem Tod wieder einen Tag entkommen zu sein, war im Bewusstsein der Häftlinge eine große Tat. Und ein KZ gar überlebt zu haben, erschien ihnen als glänzendster Beweis von Widerstand. 2

Literatur Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997. Benz, Wigbert / Bernd Bredemeyer / Klaus Fieberg: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Beiträge, Materialien Dokumente. CD-Rom, Braunschweig 2004. Gutman, Israel / Eberhard Jäckel / Peter Longerich (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. München 1998 Orth, Karin: Die Konzentrationslager der SS. Sozialstrukturelle Analysen und biografische Studien. Göttingen 2000. Orth, Karin: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Hamburg 1999. Schwarz, Gudrun: Die nationalsozialistischen Lager. Frankfurt am Main 1996. Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors - Das Konzentrationslager, Frankfurt a.M. 1993 Zdislaw Ryn, Stanislaw Klodzinski: Smierc i umiranie w obozie koncentracyjnym (Tod und Sterben im Konzentrationslager), in: Przeglad Lekarski - Oswiecim Nr. 1-3/1982, S. 56-90

Anmerkungen

1Nach Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors - Das Konzentrationslager, Frankfurt a.M. 1993 2Zdislaw Ryn, Stanislaw Klodzinski: Smierc i umiranie w obozie koncentracyjnym (Tod und Sterben im Konzentrationslager), in: Przeglad Lekarski - Oswiecim Nr. 1-3/1982, S. 56-90

108 Auschwitz Auschwirz JOY

AUSCHWITZ (Oiwiycim), grofltes natio- sche Grf.lngene. An1 I. M.ir7 11)41 ~i~kenau,was zum Namen fur das gesamte trreinheiten, die durch rlektrisch grl.ldenc nalsozialisti\ches Konzentrations- und Ver- 10900 Hiiftlinge registriert. Lager Auschwitz I1 wurde), Broszkowirce, Stacheldrahtzaunc getrennt waren. Diese Br- nichtungslager, 60 Kilometer westlich von Sehr bald wurdr :Iusrhwitz .ll\ das t,il.tcste prawy und Harmeze aus ihren Hausern ver- standteile wurden hrzeichnet ~lrdie Lager I3 Krakau. Auschwiu war sowohl das griiflte Konzentrationslager bek'innt. n~lt,~,n,ll- &ben; diese wurdrn zerstor~,urn Platz fur la. B 1b, B IIa, B I1 h, 1%IIc, €3 IId, B IIc. B I1 f der etwa z ooo Konzentrations- und Arbritsla- sozialistische Unterdricku11~s~~~~~~wur(ic die beiden Teile des Auschwitz-Lagers zu er- und I3 111. ger wie auch das gr6Rte Lager, in dem Juden h~erbesonders unrnenschlich dut-c[lse~uhrt, halten. Ein groRer freier Raum von etwa 40 Im Marz 1942 wurde im Stnmmlager mit Gas ermordet wurden. In einem Gebiiude dcs I.~gel-s,dem \l,srn.lnn- ~uadratkilometernFlache wurde zum Sperr- Auschwitz I eine E'raucnabteilung cingericli- Am 27. April 1940 betahl der Reichsfiihrer- ten Block 11, wurdc rln Bunker- iur (]ic ll:lrtc. gebiet erklart. tet, iedoch am 16. August 19,z in eincn Tell SS und Chef der Drutschen Polizei, Heinrich cten Strafen errichtet. Vor

n.~ch der Niederlnge Polens irn September gende groRe Inschrift: -.Arbcit macht fre1. ,939 an das Reich angeschlossen worden war. Im MirZ 1941 befahl Hirnmlrr den Bau Mit dern Bau des Lagers in Zasole, der Vor- einer zwriten, grCiRerrn Sektion. drri Kil('me- stadt von Oiwircim, wurde kurz danach be- ter vorn urspriinglichrn Lager cnrtcrnt. 1)''- gonnrn. Die ersten Arbeiter, die fir den Bau ser liomplex wurde Auschwitz I1 oder des Lagers herangezogen wurden, warrn joo kenau genannt. Das urspriingliche 1-3S" Juden aus C);wiycim und Umgebung. Ab aurde als Stamnilager bekannt - Au5ihwitz1. 15 Borocken der Wostherei fijr die SS Juni 1940 brachte die SS Gefangrncntrans- Auger den Einwohnern der ~orsr.ldtz"""" porre in das Lager. Wahrend der ersten Phase wurdrn rtwa 2000 Polen aus den DGrfern B"- handeltc cs sich meisrens um polnische politi- bice, Budy, Rajsko, Brzezink.1 (auf deutsih B I 1. Abteilung B 10 Frnu~~lloger B lb Monnerloger, ob 1913 elektristh elodener Frouenlnger ~lotheldiitzoun B ll 2. Abteilung B llo Quorontone Abte~lung (1 @ fur Mori~ier B Ilb Fo~r~Ienour lheresenstndt B IIc Loger der Ungor~nnen B lld Hnupt-Mbnrrerloyer B lle I~geuner-Lager 0 Ilf Revier., dni Krnnkerlhoui B Ill aMexikoa, nitht iertig gestellte 3. Abteilung

--

das Familienl;~gerfur die tschcchischen Juden karnmern geschickt \burden, wurden noch 8 angesiedelt. am gleichen Tage rrn~ordetund ihre Lrichen In Birkenau u-urden die Gaskammern und in den Krrniatorien verbrannt, oder, wenn Krematorien von Auschwitz hetrieben. die Kapazititen del- Krematorirn iibertordert Auschwitz 111 (Buna Monowitz und die ande- waren, auf frcier Flache. Llie in den Wagcn rrn 41 Nebenlager) brst;~ndin rrster Linie aus zuriickgelassenen Habseligkriten der Opfer ZK~ngsarbeitslagern; die wichtigsten wnren wurden von eifiern Zwangsarbeitskonimando Budy, Czechowitz, Gliwice (Gleiwitz), eingewmmelt, das unter de~nNnrnen nKa- Rajsko und \Y;'esoka (Furstengrube). Die ln- nada- hekannt war (es trug diesen Namen, sassen, hat~~tsichlichJuden, \burden fur deut- wcil Kan.ida fur die Gef~ngenenein Synihol sche Firmen, darunter die I.G. FAKHENund des Reichtu~nswar). Unter strcnger Aucaicht die Oberschlesischcn Hydrierwerke, bis zur der SS mufltrn diese Gefangenen das Bcutegut volligen Erschopfung ausgebeutet. in zu diesem Zweck angrlegte L~gerhauser bringrn. Spater wurde es nach I)eutschland Die Einlieferung. Bei der Ankunft in Rirke- uhcrtiihrt. nau wurdrn die Insassen gezwungen, die ebrnso groBe Zahl jiidischrr Frauen aus Po- nowitz wurden weiterc Lager errichtet und Wer nicht sofort in die Gaskammrrn ge- Zuge in aller Eilr zu verlassen. Sie muBten ihr prad in der Slowakei; Ende MErz wurdrn ebenfalls alc Xi[ von ~uschuitz111 bezrich- schickt wurdr, kam in den Teil des Lagers, personliches Eigentum zuriickl.~sscn und uber 6000 weibliche Gefangene in der ncuen net. Im hut drr Zeit wurden weitere 41 Ne- der als ,,Qu.~rantane<Srlektionen<< witz (Monowice) wurdr rin drittes Lager ge- bcfanden sich die mristen Gefangenen hracht, die .Sauna~.. Ihrt wurden ihnen ihre durch, hei denen sie Menschen enta.edu - Kleider und letzten Habseligkeitrn .ihgrnom- haut, das Auachwitz I11 (Buna Monowitz) KC- Auschwitz-Komplexes. Die Gefangrncn zum groRten Teil - in die Gaskarnmern nannt wurde. Der Name Buna leitete aich Lagers Birkrnau waren hauptsachlich juden, men, Minnern und Frauen wurdrn glcicher- schickten odur - zum kleinen Teil - zur von den synthetischen Gummiwerkcn Buna Polen un~iDeutsche. Einr Zeitlang wurde maBen ~iieHaare geschoren. und sic rrhielten Zwangsarbeit. Die Personen, die in die Gas- in Monowitz ab. Irn Zusammenh.lng lnit Mo- hier auch das Familienlager fiir Zigeuner unj gestreittc Gefangenenkl~idun~. 9 I 116 Auschwitz Auschwitz I 17 Kriegsgefangenr und ryo nndere Gefangcne, Srktic~nvon Birkenau internierr, die als das die untrr den Kranken ausg~wihlt ordm dm Theresienstadr-Familienlager hrkannr wurdr. zihltc Josef MENGELF,im Lager ,>Xodesengele Politische Abteilung. Daa ganzr Systern nraren. Nach diewrn Experiment erhielt die Nach sechs Monaten in diesem Lager wurden gerlannt. Opfer seiner barbarischen Expcrl- wurde von elner bcsondera organisierten Ein- Firma]. A.?bpf und Sohne den Auftrag, grii- die Insassen plotzlich in die Gaakammern ge- rnentc wurden hauprsiichlich Kinder, jugend- heit der TOTENKOPI.VERBANIJEDER SS hexvaihr, &re, dauerhattr Gaskammern zus.imrncn mit iriebcn und getiitet. An1 2. Mai 1944 traf der liche Zwillinge und Kleinaiichsige. eine~n SS-Totenkopf-Sturmbann, hestchend sehr groRen Kremarorirn in Auschwitz- erste Deportationszug mit Juden aus dcm he- Am lo. Januar rqqq betrug die Gesamtzahl aus zwiilf Wachkompanien, die zu vcrschiedc- Birkenau zu haurn, wo die Vcrg~sunghaupt- acizicn Ungarn ein, ein Vorbote der groflen drr Hiitlinge in Auschwitz 80839 Personen: nen Zeiten zwischen z yoo und 6000 SS-Lcute sichliclr durchgriuhrt wurde. Insgesarnr vier Deportat~onrn,die am 16. hlai des Jahres be- 18437 in Auschwitz I; 49114 in Auschxvitz I1 ?ahlren. derarrise Anlagen a,urdcn in Birkenau gebaut ganrlen und bib in die zweite Juliwochc an- (22061 in der MBnnerabteilung und 27053 In Das deutsche Personal des Lagers wurde - 11. 111. IV und V. In jeder konnten tiglich hieltcn. Den 'liansporcen aus Ungarn folgren der Frauenabtellung); unJ 13288 in Auschwirz untrrsturzt von einer Keihe privilegrertcr Ge- 6000 Menschrn getOtet werden. Die Csskam- wihrend des ganzen Augusts 1944 solche aus 111 (wo\.on 6571 in Monowirz waren). Am 12. tangcner, die bessere Nahrungsmittel und 1.e- mern \ahen wie Duschriiurne aus. Dm an- Lodz, dem Ierzten Ghetto, das in Polen aufgc- Juli 1944 betrug die Zahl dcr Gefangenen bcnsbedingungen erhielten und griiiicrc kommenden Opfern aurde gesagt. sic wiir- liisi wurde. 9z~08,und dm zz. August war diese Zahl aut Ubrrlebenschancen hatten, vomusgc~etzt. den zur Arbeit geschickt, mui3ten ahcr crat Nach Auschwitz-Birkenau wurden auf 105~68gestiegen. Zuiitzlich wurden pooa daR sie mithalfen, das Terrorregime XcTn- desinfiziert wrrden und sich duschcn. Urlrhl des Keichssichetrugin dicsenl Zeitraurn 15jooo. Die und Vorarbriter. warrn und Juden aus den hesetztrn Landern heit wurdc in den Gaskammcrn gctiiret. Zahl der Hiftlinge wuchs stindig. trotz der In seincn Mtmoircn beschrieh Kudoit Europas brachten, fast tiglich in Auschwitz- Au~heinige hundrrr polnisshc politischr Ge- pr~iudischen \'eAnderungen autgrund drr Ho13, wie Auschwitz zum Tiirungszentrum Birkenau ein. Manchlnal kamcn an einern fangene wurden in Jcn Gaskammern cr- hlassenvernichrung und trorz der hohen bestimmr a-urde: .Irn Sornmer 1941, den gc- Tage rnehrere Ziige an, gewiihnlich Giiter- murder. Ste~~blichkeicsrate,die durch Hunger. schwere nauen Zeitpunkt vermag ich 2.21. nicht an- zuge. In jedem dicser Zugt wurden fin- bis Arbeit, ansteckende Krankheiten und die "61- zugrbcn, wurde iih pliirzlich zum Keichsfuh- mehrere tauseni iiidi~cheOpler ]nit Ccwalt Widerstand. Trotz der schnrercn Bedingun- aus dcn aufgelijstcn Ghettos Polens und ande- gen lcisteren die Gefangenen ihren Unter- rer osreuropiisiher I inder wie nuch aus Lan- dl-iickrrn Widerstand. Er nahm verschiedenr 10 dern im Wcsrcn und Sii~lenherangebracht. Formen an, meistens die der gegen~eiti~en "on vier Meter HGhe aurden sonrohl Beisein seincs Adjutanten, den1 Sinnc nach Die Ziige hielten :iuf einem hesondcrcn 1 Iillc. Es gab jedoch auch viele Fille kiirper- um Ausc.lrwit~I als auch um Auschwitz I1 folgendes: Der Fiihrer hat die Endliisung dcr Nrbengleis, d~sinnerhalb des Lagers lichen W!iderstands und der Sabotage. Eine gczogen. Sie wurden von SS-Leutcn auf den Judenfrage befohlcn, wir - die SS - haben die- Auachwitz-Birkenau gebaut worden war. nichl idcntifizierte judische Frau, die am zahlreicherl Wachtiirrnen bewachr, die mit sen Betehl durchzufuhren. Die bestehenden Die crsten Opier dsa Massenmordes in Bir- zj. Okrober 1943 mit einem Transport aus Macchinengewehren und automarischen Ge- Vernichrungsstellrn in1 Oxen sind nicht in kenau waren Juden aus Ostoberschlesien. BEKGEN-ULLSLNankan?, enrril3 einem SS- wehren auagr~~iia~etwaren. AuRerdenl war der Lage, die beabsichtigten groflen Akrionrn Ende Mirz 1941 trafen die ersten Judentrans- hlnnn seine Pistole und erschoB zwri andrre. Auschwitz I1 umgeben von einem Nerz von durchzufiihren. Ich habe daher Auschn,itz porre aus der Slowakei i~ndFrankreich ein; Oberscharfuhrer Schillinger und Unrerschar- K~nilcnvcln in\gcsdrnt rj Kilomrrer Llnge. dnfiir besrirnmt, einmal wcgen der gunst~gen im Juli AUS den Niederlanden; irn August aus tuhrrr Emmerich. Auih die anderen Frauen Der gesamte Komplex von Auscha~itzl und I1 verkehrstechnischen Lage, und zweitens lafit Belgien und J~~os1awic.n.Im Oktobrr 1942 des T~arlaporrssetzten aich zur \Vrhr; sir wur- war dariihrl Iiindua eingeschloasen von eincr sich das datiir dort zu bestin~mende(;ebler kamen die ersren Transporre aus den1 Ghetto den von SS-Minnern getiiter. Eine hiufigc Kettr -,,on \Vachtposrrn, rtwa einen Kilome- lricht ahsperrrn und tarnen ... Wir hcspra- THERESIENSTADTund im Nove~libcraus Grie Form dea Widerstands war tiie kluchr. 667 ter ~uflerhalhdc, Systems dcr Stacheldmhr- chen welter die Durchfuhrung der ~ernich- chenland und aus den Kegionen Ciechnnhw Gefangenc, die meisten Polen, Ruaaen und Ju- ziune. Die Kette, gcn.innt Postenkerte, wurde rung. Es kame nur Gas in Fmge, denn dutch und Biahstok in Polen. Der erstc Deporta den, entkL~nlerrunter schvierigsren Bedin- rionszug aus Berlin rraf irn Januar 1943 ein. gunb.cn. 270 der Enrflohenen wurden jedoch beseitigen, wire schlechterdings un~niiglich Das ganze Jahr 1943 tandcn 1)cportatianen in der Nihr Jea Lagers wirder aufgegritfen Auschwitz I, 11 urrd 111 aowie die 45 Neben- und auch eine zu grolSe Belastung tur die SS- aus versehiedenen Landern unter deutschcr und aofort hingerichtet. Besonders bekannr lager nurden von einem Stab beaufsichtigr, Manner, die dies durchfuhren miillten, im Besatzung oder mit Deutcchland verbunde- und dramatiach war die Flucht eines pol- der im Hauprlager Ausihwirz I residierte. Die Hinblick ~ufdie Frauen und Kinder.<< ten Staaten an. Ein Transport am 8. Scptem- nisch-jiidischen Paares, Maln ZIMETBAUMund Ko~nmandantendes Lagers waren nachrinan- Die erste: relativ kleine Gaskammer wurde her r94z brachte iiber yooo hlenrchen aus Edward G~linski.Sic wurden am ry. Septem- der Rudolf Hiiss, Ar~ur LI~BEHENSCHEL,in Auschwitz 1 gebaut. Hier wurde an1 3. Sep- dem Ghetto Theresienstadt, die als geschlos- ber 1944 gefangen und vor anderen Gefange- und wieder Rudolt Hiias. Sie [ember 1941zum ersten Mal mit ZYKLONI3 g~- Familien einrrafen; sir wurdrn nicht in nen, die zum Zuhrhen gezwungen wurden, hatten dcn Rang vnn sS-Obersrurmbann- mordet. Die Opfer waren 600 sowjetischc die Gaskammern gefiihrt. sondern in riner hingcriehtet. Bekannt wurde auch die erfolgreiche Auktnnd und zcrstorten zumindcst cinr der Flucht zweier junger Juden, Alfred Wetzlers Gaskalnmern. Alle Teilnehmer an diesem und Walter Rosenberp (Rudolf Vrba), am Auf,tdnd fielcn im Gefecht. Nach dem Aut- 7. April 1944. Den beiden gelang es, PRESS- stand entdcckte die SS, dafi eine Gruppe jun- BURG LU errrichen und einigr der dort vrrblle- ger Jiidinnen aus dem Lager Monowit7 untcr benen jiidischen Fiihrer zu rreffrn. Sie schr~r- der Fuhrung von Ko7a K(~R~da~l'ulver, ci.~g ben einen sehr detaillierten Hericht iibrr hci dzm Aufstand benutzr xnrdcn war. her- ,4uschwitz, der in die frriz Welt hinausgc- ausgeschmuggelt und iie~nSonderkornn~~ndc, schmuggelt wurde (stelw Ausr~wr~z-PROTO-geliefert hatte. Vicr dieser Frauen, ddrunter aush Kobota, wurden arn 6. Januar 1945 hin- 1943 wurde auf Initiative osterrt.ichischcr gerichtct. (iefangener eine multinationalc Widerstands- Vor dern Aufstand gelang den (;ef~n~c.ncn organisation mit dem Namrn KampfgrupFe dec Soncierkommandos ein wcitcrcr wi~1iri~rri.l- Auschwitz gebildet. Diese Gruppc operierte .4kt des Widerstands: Einige von ihnen fiihr- irn Stammlager und in Birkenau. Monowitz ten Ibgebiicher~in denen sie detalllierr die hatte eine eigene Gruppe, und die beidrn Ereignisse in Aubchwitz beschrieben, Iliew standrrl irl Konrakt mireinander. Die Wider- Tagebiicher wurden vetgraben. Nach dem standsbewegung im Lager war in vielen Berei- Krieg wieder auisc.fundrn, ~indrie authenti chen aktiv: Sie half den Gefangenrn mit Me- schc 1)okurnente der nationalsozialistischen dikamenren und Nahrung; sie dokurnentierte Greuel in Auschwitz (slehc. TA(;EH~~(;HFKAI:~ die Verbrechen an den Gefangenen; sit. orga- I)ER ZEIT I)ER VERPOLLIJNGVND ERMORIIUNG nisierte Fluchten, Sabotagr ur~dpolirischr D~R~UROPAISCH~N JLIDEN). DI~ wichrigrren Proteste; sie versuchte, politische Gefangene dicser 'Tagehiicher wurden von Zalm~nGn- 1,442: -- - . in verantwortliche I'osltionen zu bringen; dowski und Zalman Levental verfai3t. -3,. F , 11 und sie bereitetr einen Aufstand im Lager Letzte Monate. Unrnittelbar nach dern Aui- Fiihrendr jiidische Pers6nlichkcitm in dcr stand deb Son~lerkomrnandnswurdcn die 1.6- Armee elne Offensive in Kichtung Krakau geplunderten Eigentum der (lpfer zu leeren. freien Welt verlangten, die alliirrten Staa- tungen in den Gaskarnmern eingsrellt. und und Auschwitz. Die Deutscher~ brganncn In clen L~gerhPusern fanden die Sowjets tcn sollten Auacliwirz bombardieren (siehe Hirnmler befahl, die Krernatorien abzurel- einen iiberstiirzten Kiickzug. Die 58000 Ge- jcoooo Miinneranzijgc, 8j7oO0 Frauenkleider Ausc~wrrz,BOMBARI)IERUNG VON). Dies hatre Ren. Im November und Dezernher 1944 uur- fangenen, fast a11c Juden, wurden aus den und groRe Mengen an Kinder- und ~~b~- miiglicherweise die Fortretzung der Masscn- den die technischcn Inst~llationender Gas- Lagern von Auschwitz auf TOI)ESMARSCHEge- kleidung. Zusitzlich fanden sie Zchntsu- trieben. Die meisten wurden wihrend dieser morde beenden kiinnen. Bereirs im Hcrhst kammrrn und dic iircm.~roricn1 und 11 .II>~C- sende Paar Schuhe und 7,7 Tonnen mensch- 1943 hittrn die alliierten Luftstreitkrafte die baut und in das Lager (;to&-Roscn iihrrfi~hrt. Marsche umgebracht: andere wurden noch liehes Haar in Papiertiiten, fertig fiir den Todesinstallationen in Auschwitz von ihrerl Besondere Sonderkommandos rninnlichcr 'Or der Evakuierung der Lager errnordct. Transport \,rrpackt, Am NachmittaK des 27. Januar betraten neueroherren Basen in Italien aus ohne grof3e und weiblicher Gefangener wurden geb~ldet. ,%uschwitz ;st der grfilke Frirdhof der S~hwierigkeiten zerstoren konnen. Tatskh- deren Aufgabe es war, die Krematorien .~ufzu- Soldaten der Roten Armee Auschwitz. In Bir- mcnschlichen Geschichte. Die Zahl der lich bombardierrrn sic industrirlle Zielc in faumen. die dann mit der rnrnschlirhc1~ kcmu tanden sir die Leichen von 600 Gefan- Juden, die dorr ermordet wurden, muR auf der Nachbarschaft des Lagers. Die Zerstiirung Asche gcfullt, mit Erde bedeckt und he- genen. die nur Stundrn vor der Befreiun~des iiber cine Million geschPtzt werden: Manncr, von Auschwitz dutch die sowjetische Luft- ~flanztwurden. Einigr der Lagerhiuser mil Lagrrs gethtet worden waren. 7650 krankr Frauen und Kinder. Ein Funftel his ein vier- waffe wire sogar noch einfacher gewcsen. Ab den von den Juden gestohlenen Gutern und erschiipfte Gefangene wurden iedoch tcl dt.r w:ihrrnd des Zweiten \Veltkriegs gerii- Juli 1944 war die ~owjetiachrFront nur noch den in Eile geleert; die wertvolien Gegrn- gerettet: 1200 in Auschwitz I, 5800 in Ausch- teten Juden wurde in Auschwitz rrmordet. Birkenau und 650 in .4u\chwirz 111- Nur etwa 65000 der 405ooo registrierten 150 Kilometer von Auschwirz entfernt. stir~dewurden per Zug nach ~eutschlandge- G~- iieine der alliierrcn Miichtr ergriff direkre schickr. dcr Rest der Beute wurde zrrstijrr. Monowitz. Die Eilz, in der sic sich zu- fangenen, die Auschwit;..-Nummern erhicl- liickziehen nruRten, hatte es den Dcutschen Mafinahmen, um den Massenmord in Ausch- Zwi~chrndem 1. Dezember 1944 und dem ten, iiberlrbren. 96 der 16000 hier internier- witz zu brenden. Keine Gaskammer wurde 15. Januar 1945 wurden nicht weniger Unmoglich gemacht, diese letzten Gefange- ten sowietisshcn Kriegsger~ngenen iiberleb- von den alliizrten Luftstreitkraften zcrstort. 51484j Teile Manner-, Fr~uen-und ~inder- auf den Todesrnarsch zu zwingrn. Ihr ten. Nach versehiedenen Schltzungn wur- Die Grfangenrn des Sonderkom~nandosorga- kleidung aus dem Lager abtransporticrt. iiberhasteter Ruckzug hindrrte sie auch den ~,rbis 1.6 Millionen Menschen im Ver- nisicrtcn iedocli an1 7. Okrober 1944 einen Mittc Januar 1945 begann die sowietischc daran, die Lagerhiuser vollsrindig von dem nichtungszentrum Birkenau ermordet, Auschaiti.-Iugc rz I

Nach dem Krieg wurden verschiedrne Gr- KOLLE).ZU jcner Zeit kontrollierten die ,iIIi- einer mehrerc Mc~nate 2ltt.n Entscheidung das Industriegebiet in Auschwirz selh~tan, rii[l~averhhren in Polen und Westdeutsch- icrten Luftstreitkritte den Luftraum ubcr Eu- orientiert, Kcttungsn~nfin~hmcnrriit~t zu un- kaum ac.hr Ki11,nierer von dcn vier riesi~en land gegrn Dcu~achedurchgcfiihrt, die Ver- rop.1 und vcrfugtrn uffrnsichtlich ubcr re- Gaskamlnern entfcrnt. brcchen in Auschwitz begar~gcn hattrn. Reichweite, urn sowohl Auschwitz .ila such riurn daraut reagiert, dat\ Priilidenr I:I-anklin Der f~hereLaSerkommandant Rudolf IIiiaa die dorthin fuhrenden Eisenbahnlinien zu L). Koostvr~~im muar ienes J:ilirrs dxs X'AR ~itrsatur K. I.xrggur, Tt,rl~nl~nlAna1v.n hlr.llll,d\ I,, B,I~~I, wurJe im Msr7 1947 it1 Auschwitz vor das bon~b~rdieren.Dennoih kani es trotz z:lhl- R~rucf:r: BoAKL)(\JifRn) in> Leben gerufen Die tiea Prjsldentrn zur Bil- 1112 <;,I, <'h,~l>ibtr\in .41h~h%ll,, fio/,,~.z:~~!,,)?,I Oberste Nationalgericht gcsrellt und atn reichcr Fordrlungerl zu keincr Homhartiie- <;t,,jOL~OcS:n,lu\ i (>p90),S. 40, 421 z. April 1947 zurn Tode verurreilt. Iln polni- rung der Gaskanimern odcr der 1)eporta- dung des X'Rfi ham fesrgclcgt, dafl die Mini- M. (;i'hcri, A ,,. Angrklagten. Neun wurden zu lehens- Jewish Agency hieR cs wahl heitswidrig. gehalten. sowie die tendenziose und trivialisicrcrl(1e Bc- ]ing]icher Haft verurteilt, die andere" zu ,,technischr Schwierigkeiten<< rnachteli clic Alle folgcnden Anforderungcn, die Gas- hauptung aufgestcllr wird, dafi diescr Vorgang Strafen zwischen drei und neun jahren. vorgeschlagene Operation un~niiglich (,z~~/~~~ karnrnern und die hsenbahnlin~cnzu born nicht einrn~li~gcnr~en sei, sondern \'orliiuhr Die Schrecken von Ausshwitz sind in1 in- GROSSBKITANNIEN). bardieren, wurden mit de~glelchen militari- gehabt habe, die sogar als Vorbild gedient tcrnation~len~prach~ebrauch zum Synonym Auch die Regierung der Vereinigtrn St.1.v schen Argumrrlta~ionabgclehnt. r>~eletzte h5tren. tur Unmcnschlichkeit geworden. ten wurde - hauptsachlich von iudischcr Scitc. derartige Ahlehnuni: cl~folgtrMirte Novem- Solche Versuchc, das Geschehcnc zu leug- - sebetcn, die Totungsinst,1llationen iri ber 1944. Es ist heutr hekannt, Jail Jic. US- nen, gab rs bcrcits vor deli] Ende des Zweiten 12 I.itcrarur Auachwitz und die Eisrnbahnlinien n.1~11 Luitwatfe in Italien diese Hon~bardierungen Weltkriegs, und sle sind seither auf die vcr- I 1 I !it2 r .4USchWitz ZU zerstGren. Diese VorschlEgc durchaus hattc durchfuhrrn konnen: sie h5t- achiedensre Weise in ~ielc111,Endcrn syste- iu;ipi~~i.n,Kc, nhck ly82. tiiuften rich im Friihiahr 1944, aldic Ilepor- ten sogar im Zusanimenhang nit wichtigen rn.ltisch vei-blritct wordcn. Der Ausdruck l)iv /tii,rhi..i~~He;lir,r Hdc.. U;~nhr\rn 1987 tation der groflen ungarischen iudischen Ge- Kriegsoperationen erfolp kijnnm. nhuschwitz-Liigc~sollte jedoch nicht aui dle (,,i.ch, h;lle,,iii,,u,,r iir, ,X,,,b, ,,,, &-u,,7irJ iionr/.ip7 ~us~hi.ii/~iiiril.~~r~~~iyi~i94,?i,Rclnhrk 1989. n~eindebegann. Die eralr dirser Eordrrungen Weil zu dem Komplex Auschwitz auch cin falschen Anschuldigungcn oJcr Verdrchun- I I. L.tngi,i.rn. I!~~~~,(~~.N,ti .4a.,~bi~ii,. \\',en ,972. wurde vorn Kriegsrninistcrium der \'errinis- wichtiges Industriegebier in der Niihe der L.1- Ken hiscorischrr Tarsachen eir~geschr;inktwet- 1. KuL,w,k~, ~!f!/>/M,~r,z,t?., ~11~wukv~i<.~r~rr.#sie heJurfe brtfichtllch(~r rischrs Ziel. Das wichrlgstc Obiekr dorr war Jes narionalsozialistischcn Regimes g.lh). Da- , , , , , , ,., A,,, Hcrkelc?/ ,AngcIc\ 1979. Luftunrerstiitzung, die jedoch fur den Erfolg cine syntherischc ~lratfinerie. Lhe Dcut- mit verbunden ist auch die Unrerdriick~~n~ I: 1'tpi.r. I.st~rn.tr~ngLIIC Nu~>ilwrc)t UCPOIICC~ I,,ind unserer Streitkrifte gebraucht wird, die 7ur $,?hen betriehcn sicberi weitere ~~nthetischevon Fakten un~idic Ablehnung und Vcrnich- \'ILLIIIIS 111 chii AU.CIIUIII~I r, (rppr), S. ;y-~o) ~icrh., /iii~iid~,(.,ii~ir,ic,,ii,,i-, AI~~t+xhvir/, AUK^ den sindxt. auf die groflen Kohlevorkommcn von OLer- men. \I~I, 19x1. In Wirklichkeir hatte d.is Kriegsmini>~e- xhlesien stutzten und tich .iusnahrnalos in Die Lcugner des Mords an den Judcn Eurn- J,-<'. I'~~L,.IL, ,~,,X/WL,:!Y ~~~cin~~,,~~~,,,N/ ~)pt~r.~:~,v4rh riurn die Durchfihrbarkeit solcher Lutt- einem Umkreis von jo Kilon~etern urn paa brdiencn sich verschiedener l'ersionen (Li W,,ivil>cn,New York ,989. waffrllo~rrarionrn nie anal~siert.Es h"'tc Auschwitz befanden. Von Juli bis November und Mcthodcn. An1 weiresten gehen dieleni- A ';rr?clcc~,, I:ic,,~,,s;,k 1,,,, /Ay., wi,7wo~c,zle I944 bombardierten uber 2800 schwcre amc- ,~nwh..!ir/. \\'anLh,~~~I~XL. nicht cinmal Infur~r~acioncnbei den in Italiell gen, die behaupten, dic Beliirden des .>Drit- htationiertcn Luftwaffcnkor~~mandosein, Jic l~ikanischeBomber die acht B~~~n~agen.Auf ten Reiche\<%hitten niemals grpl.~~~~,die Ju- in dzr hrsten Position gewcsen wiren. un) dcmWeg zu ihren Zielen iiberflogcn all dirse den Eumpas zu errnorden, es seien kcine V~I- I AUSCHWITZ, BOMBARDIERUNG VON. Auschwitz anzugrrifrn. F1ugzcuge wichtige Bahnlinien. auf denen nichtungslagcr gehaur und hrtriehen worden, Im I.ruhiahr 1944 waren die urnfangreichen Tatsachlich hatten sich die Reamten d~\ De~~rtationstmnsp(~rteabgewickclt wurden. und die Beh,~uprung,die Nariunalsnj.ialisten M.~ssrnmordcin Aucc~ul,~rzden alliier-ten Re- Kriegsrninisteriums, nls sie im Juni 1944 ZUI" Zweimal (am 20. August und 13. September) hitten systemarisch funf bis sechs Millioncn gierungrn bck~nnt(s~chr ALSCHWITZ-PROTO- ersten h4al mit der Frage befafit waren. .In griffen grofle amerikaniscl~rBomber-Flotren Juden errnordet, sci ertunden. Andere beatmi- 13

Kapitel 4. Auschwitz heute. Das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau

4.1 Einleitende Gedanken Auf Teilen des ehemaligen Lagergeländes des KL Auschwitz-Birkenau ist heute das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau untergebracht. Zusätzlich befinden sich auf dem Gelände das Museum, die Museumsverwaltung und das Archiv. Die Gedenkstätte umfasst heute das ehemalige „Stammlager“ und das Gelände von Birkenau. Während im „Stammlager“ die gemauerten Ziegelbauten noch stehen und für Ausstellungen und Büros genutzt werden, sind in Birkenau nur mehr wenige Baracken erhalten. So stehen sich in der Gedenkstätte zwei Landschaften gegenüber: einerseits das geordnete, dicht bebaute Stammlager, andererseits das weitläufige, mit Gebäuderesten übersäte, wiesenbedeckte Gelände Birkenaus. Das „Stammlager“ hat nicht nur aufgrund der Exponate und Ausstellungen, sondern auch wegen dem geordneten Erscheinungsbild der Anlage musealen Charakter. Birkenau hingegen – abgesehen davon, dass man es als ein einziges großes Exponat sehen könnte – hat einen meditativen Charakter und erinnert an einen riesigen Friedhof. Das Museale gerät hier in den Hintergrund. Zwar finden sich in Birkenau Weg- und Informationspläne, schwarze Marmorsteine als Zeichen der Erinnerung an die Orte des Massenmords sowie das große Denkmal am Ende der Rampe und eine Ausstellung im ehemaligen Saunagebäude im hinteren Teil des ehemaligen Lagerabschnittes b II. Dennoch steht wohl das Bild eines Friedhofs als die Stätte des Massenmordes an den europäischen Juden im Vordergrund der Wahrnehmung. Die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau ist in ihrer Funktion ebenso vielschichtig und heterogen wie die Geschichte des Konzentrationslagers und die Formen des Gedenkens. Jonathan Webber konstatiert: „(...) Auschwitz [ist] kein Museum, auch wenn es oberflächlich betrachtet eines zu sein scheint. Es ist kein Friedhof, auch wenn es einige Merkmale eines Friedhofs trägt. Es ist kein touristischer Zielort, auch wenn es manches Mal von Touristen überschwemmt wird. Es ist all dies zugleich.“ Andererseits ist aber die Gedenkstätte auch nicht das Konzentrationslager, sondern vielmehr ein Abbild dieser. „The memorial site is not and can not be Auschwitz, but is merely and inevitably a representation – preserved, constructed, reconstructed, or distorted – of Auschwitz as it existed in the years from 1940 to 1945.“ Dieser Zustand kann in vielerlei Hinsicht verstören, da die erzeugten Bilder von Auschwitz, also etwa Fotografien aus der Lagerzeit verbunden mit den hier begangenen Verbrechen, nicht mit dem heute noch vorhandenen Ort übereinstimmen. Gottfried Kößler stellt fest: „Die Erwartung, daß der Ort des Mordes außerhalb der realen Welt liegt, wird enttäuscht.“ Die Erwartung wäre also, dass Auschwitz, wie es existiert hat, unverändert weiterbesteht. Für Webber kommt es hier zu einem Konflikt „zwischen Wirklichkeit und Symbolik, zwischen Geschichte und Mythos, zwischen dem Sichtbaren und dem 14

Unsichtbaren (…).“ Young spricht einen weiteren Effekt dieses Konfliktes der Erwartungshaltungen an: „Der erste Besuch der Gedenkstätten in Majdanek und Auschwitz kann ein Schockerlebnis sein: Nicht wegen der des blutigen Schreckens, den diese Orte vermitteln, sondern wegen ihrer unerwarteten, ja unziemlichen Schönheit.“ Der Idylle, die man der Gedenkstätte äußerlich zuschreiben könnte, steht die Vermittlung der Geschehnisse durch die verschiedenen Ausstellungen gegenüber. Am Originalschauplatz wird die Geschichte des Ortes anhand der noch stehenden Gebäude, Ruinen, Dokumente und Relikte der hierher deportierten Menschen vermittelt.

4.2 Entwicklung des Museums Bereits während des Bestehens des KL Auschwitz entstand es in diversen Häftlingskreisen der Gedanke, nach der Befreiung – sofern sie überleben würden – am Ort des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau eine Gedenkstätte zu errichten. Konkret wurden diese Ideen schließlich ab März 1946, als Anfang des Jahres große Teile des Lagers an die polnische Regierung übergeben wurden. Davor fungierte das ehemalige Konzentrationslager als Hospital für die ehemaligen Häftlinge und Flüchtlinge sowie als Kriegsgefangenenlager. Am 14. Juni 1947 – am Jahrestag der Ankunft des ersten Transports – eröffnete die Staatliche Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau schließlich die erste Ausstellung. Die Gedenkstätte umfasste fortan Großteile des Geländes des „Stammlagers“ und Birkenau. Aus finanziellen Gründen wurden das Nebenlager Monowitz und andere Komplexe nicht erhalten. Die erste Ausstellung umfasste die Blöcke 4 bis 11. Neben einem Gedenkraum wurden Pläne, Modelle, Überreste der Krematorien sowie Hab und Gut der in Auschwitz Getöteten ausgestellt. Die Ausstellung wurde bis 1954 ständig erweitert, aber auch mit politischen Motiven konnotiert. Vor allem der Block 15 und 21 der damaligen Ausstellung befassten sich mit Themen, die „nicht nur absolut nicht mit der Lagerthematik, sondern auch nichts mit dem 2. Weltkrieg zu tun hatten.“ Diese Räume waren ideologisch – vor allem stalinistisch – aufgeladen und wiesen in der Anfangsphase des „Kalten Krieges“ einen stark antiamerikanischen und antiimperialistischen Charakter auf. Mit dem Tod Stalins und dem damit zusammenhängenden Nachlassen der staatlichen Kontrolle Polens über seine kulturellen Einrichtungen wurde 1954 die Ausstellung komplett überarbeitet und am 17. April 1955 wiedereröffnet.146 Diese Ausstellung war, wenn auch in geringerem Ausmaß aus die vorherigen, weiterhin politisch eingefärbt – diesmal antideutsch – doch „[the exhibition] would (…) bring the landscape of the site and its exhibits closer to the historical reality of Auschwitz and the experience of its victims“. Die Ausstellung war in 15

insgesamt sieben ehemaligen Häftlingsblöcken (Block 4, 5, 6, 7, 11, 15 und Neue Wäscherei) untergebracht:

• Einführung (Quellen und Verbrechen des Hitler-Systems) [Anm.: Block 15]

• die Vernichtung von Millionen (Transporte, Beweisstücke, Personaldokumente, Haare, Kleidung, Koffer, etc. Ein plastisches Modell mit der Lage der 4 Krematorien in Birkenau, die Ermordung der Opfer in den Gaskammern, die an einem Modell von Mieczysław Stobierski gezeigt wurde)[Anm.: Block 4]

• der Raub des Besitzes der Opfer [Anm. Block 5]

• der Weg des Martyriums der Häftlinge (Ankunft und Quarantäne, Kleidung, Nahrung, Wohnverhältnisse, Hygiene und gesundheitliche Verhältnisse, die nazistische Medizin, Arbeit, physischer und moralischer Terror, die Widerstandsbewegung und Befreiung) [Anm.: Block 6, 7 und 11]

• die Pläne der Nazis bzgl. des Ausbaus von Auschwitz [Anm.: Neue Wäscherei] die Gefahr einer Wiedergeburt des Militarismus und der Kampf gegen ihn [Anm.: Neue Wäscherei].“

Der „Todesblock“ Block 11 war, wie Huener schreibt, schon Teil der Führung, wird aber bei Zbrzeska nicht ausdrücklich erwähnt. Neben der ideologischen „Entschärfung“ nahm die Ausstellung von 1954 auch nur mehr sieben anstatt zwölf ehemalige Häftlingsblöcke ein. James Young stellt bei seinem Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau zur Zuschaustellung des geraubten Gutes und dem Raum voller Menschenhaar in Block 4 fest, dass der Schwerpunkt der Erinnerung auf den materiellen Verlust gelegt wird. „Daß ein ermordetes Volk überall in den Holocaustmuseen durch seine verstreuten Habseligkeiten und nicht durch sein geistiges Leben bekannt bleibt, dass sein Leben in erster Linie durch Bilder des Todes ins Gedächtnis gerufen wird, mag die letztendliche Ironie sein.“ Für ihn stellt sich die Frage, welcher Sinn hinter dieser Ausstellungsweise steckt, denn außer Emotionalität und Zeugenschaft bergen die Objekte wenig historisches Wissen. Bis zum heutigen Datum ist die ständige Ausstellung abgesehen von einigen Änderungen und Ergänzungen auch in der Form von 1954 erhalten geblieben. Im Zuge der Änderungen entfielen die Einführung im Block 15 und der letzte Block. Die Einführung liefern heute die FremdenführerInnen. Eine völlige Neugestaltung der Ausstellung ist schon seit längerer Zeit 16

in Planung, konnte aber auch aufgrund fehlender finanzieller Mittel noch nicht realisiert werden.152 Birkenau blieb weiterhin relativ unberührt; es war nicht wirklich in das museale Programm von 1954 eingebunden und die spärlichen Besucher bekamen hauptsächlich nur die Ruinen zu sehen.153 1967 wurde in Birkenau das Denkmal zum Gedenken der Opfer des Konzentrationslagers eingeweiht. Als einer der zentralen Momente der frühen Museums- bzw. Gedenkstättengeschichte ist der Besuch von Papst Johannes Paul II. am 7. Juni 1979 zu erwähnen. Der Mauerfall 1989 und der darauf folgende Niedergang der Sowjetunion veränderte die Situation der Gedenkstätte erneut. Seit Beginn der 90er Jahre wurden viele kleine Neuerungen eingeführt, wie etwa neue Beschilderungen und eine stärkere Einbindung Birkenaus in das Museumskonzept – so wurde etwa ein Shuttle-Bus zwischen dem „Stammlager“ und Birkenau eingerichtet. Weiters wurden schwarze Marmorblöcke als Gedenksteine eingeführt. Zwischen 2002 und 2005 wurden zwei weitere Vorhaben realisiert, nämlich die Einbindung der „alten Judenrampe“ und die Sanierung und Installierung einer Ausstellung im „Saunagebäude“ – dem zentralen Bad – in Birkenau. Die angesprochene Neuadaptierung sowie eine Kunstausstellung stehen noch aus. Dass die Neuadaptierung der Ausstellung noch nicht erfolgt ist, bedeutet nicht, dass dies auch das pädagogische Programm betrifft. Die Vermittlung erfolgt wie schon angesprochen über die FremdenführerInnen und auch über die Homepage. Die wichtigsten Gedenkanlässe der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau sind der 14. Juni (Ankunft des ersten Transports) und der 27. Januar (Befreiung des Konzentrationslagers). Hinzu kommen zahlreiche Gedenkfeierlichkeiten, wie der „Marsch der Lebenden“ oder die Gedenkfeierlichkeiten der Roma und Sinti zum Jahrestag der Liquidierung des „Zigeunerlagers“ am 2. August. 17

4.3 Die Länderausstellungen Die Länderausstellungen nehmen neben der ständigen Ausstellung den wichtigsten Platz im „Stammlager“ ein. Kurioserweise werden die Länderausstellungen von James E. Young in seine Ausführungen schon erwähnt und diskutiert, bevor er auf die ständige Ausstellung eingeht.156 Die Errichtung dieser Ausstellungen war bereits in den ursprünglichen Plänen von 1946 angedacht. Die Idee wurde aber erst 1957 durch das Internationale Auschwitz- Komitee wieder aufgenommen und umgesetzt.157Dahinter stehen zwei Überlegungen: Nach der politischen Abschottung in den ersten Jahren, ermöglichte die zunehmende Internationalisierung der Gedenkstätte verstärkt Kontakte ins Ausland. Andererseits wurden den einzelnen Völkergruppen die Möglichkeit gegeben, durch das Errichten einer eigener Ausstellung ihrer Opfer zu gedenken. Die Ansicht, dass die Ausstellungen eine Gedenkfunktion innehaben, vertritt vor allem James E. Young. Wie Jonathan Huener konstatiert er, dass die Erinnerung an Auschwitz pluralistisch ist und diese durch die Vielfalt der Ausstellungen bewahrt wird.158 Teresa Zbrzeska sieht weniger die Gedenkfunktion der Ausstellung als vielmehr deren Vermittlungsrolle historischen Wissen: „Man war der Meinung, es sei notwendig, das Wissen über die Nazi-Okkupation in allen Ländern zu verbreiten, deren Bürger im KL Auschwitz umkamen, die Zusammenhänge zwischen der Geschichte der Okkupation in dem gegebenen Land und der Geschichte des Lagers aufzuzeigen, das Schicksal der Bürger des gegebenen Landes und die Widerstandsbewegung zu veranschaulichen.“159 Die Vorgaben des Museums in Bezug auf Gestaltung und Inhalt der Ausstellung waren relativ offen und breit gefächert. So dürfen in den Ausstellungen „(…) keinerlei Akzente auftreten, die die patriotischen, nationalen oder rassischen Gefühle verletzen“ und sie „sollen das Naziregime verurteilen und die Menschen zum Kampf um Frieden aufrufen“. Eine der wenigen Einschränkungen betraf das Äußere des Blocks: Das Erscheinungsbild durfte nicht verändert werden.161 Restriktionen hinsichtlich einer Veränderung des Innenraums des Blocks scheint es keine gegeben zu haben. Als erste Länderausstellung eröffnete 1960 jene der Tschechoslowakei, bis 1985 werden folgende Ausstellungen eröffnet: Ungarn (1960), UDSSR, DDR (1961), Jugoslawien (ohne Jahr), Belgien (ohne Jahr), Dänemark (1968), die Ausstellung „Martyrium, Kampf und Vernichtung der Juden 1933 – 1945“ (1968) Bulgarien (1977), Österreich (1978), Frankreich (1979), Holland, Italien (1980) und Polen (1985). Auffallend dabei ist, dass unter den Ausstellern Länder sind, aus denen keine direkten Deportationen nach Auschwitz stattfanden (Dänemark), aber auch – im Falle der DDR – ein Staat, der während des 2. Weltkrieges gar nicht existierte. Die DDR-Ausstellung wurde 1989 im Zusammenhang mit dem Fall der Berliner Mauer geschlossen, die Ausstellungen Bulgariens und Dänemarks existieren ebenfalls nicht mehr. Die anderen Länderausstellungen sind inzwischen – bis auf 18

Italien, Polen und Österreich – in anderen Räumlichkeiten untergebracht und/oder wurden immer wieder überarbeitet. Die relativ großen Freiheiten für die Aussteller führten dazu, dass die Inhalte meist vom Schicksal der jeweiligen Bevölkerung, die nach Auschwitz deportiert wurde, abwichen und der Ausstellungsraum als politische Plattform genutzt wurde. Zu starke Bezugnahme auf aktuelle Geschehnisse führte laut Zbrzeska auch dazu, dass die Ausstellungen oft überarbeitet werden mussten.164 Als Beispiel sei hier die Länderausstellung der Tschechoslowakei genannt, die zwischen 1960 und 1989 drei Mal umgestaltet und ein Mal an einen neuen Standort (Block 16) umgesiedelt wurde, bis sie schließlich 2002 als separate tschechische und slowakische Ausstellung neu eröffnet wurde. Die Frage, ob die Nutzung der Ausstellungsfläche für eigene – politische – Interessen angemessen ist oder nicht, soll für den Moment unbeantwortet bleiben. Es sollte jedoch hervorgehoben werden, dass Länder wie die Tschechoslowakei, Ungarn oder die ehemalige Sowjetunion auf die Veränderungen reagierten bzw. den Ausstellungen Beachtung schenkten, so dass sie öfters verändert wurden und nicht einfach veralteten. Die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau bzw. die Länderausstellungen gerieten Ende der 1980er und Anfang 1990er Jahre aufgrund diverser politischer Inhalte zunehmend unter Kritik, so dass die Museumsleitung neue Richtlinien für die Länderausstellungen entwarf.165 Dabei sollten sich die Ausstellungen thematisch von der neuen geplanten ständigen Ausstellung des Museums abgrenzen und als Ergänzung fungieren. Die neuen Länderausstellungen sollten erst nach dem Umbau der Ausstellung der Gedenkstätte entstehen. Die Vorgaben der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau sind deutlich strikter als jene von 1955. Als Ausstellungsländer sollen nach der Museumsleitung nur Länder zugelassen sein, aus denen Transporte in das Konzentrationslager kamen. Inhaltlich sollen die „Nationalausstellungen […] die Deportationen aus gegebenem Land [sic!] und deren Hintergrund zeigen. Was die Darstellung einer gegebenen Nation im KL Auschwitz anbetrifft, so müsste man die besonders bekannten Persönlichkeiten vorstellen, z.B. hervorragende Schöpfer oder führende Politiker, die nach Auschwitz deportiert wurden, die Persönlichkeiten (oder Gruppen), die wegen ihrer Tätigkeit im Lager bekannt sind [sic!] sowie auch darstellen, wie hoch die Zahl der Deportierten war, wie viele ums Leben gekommen sind.“167 So soll nach den neuen Vorgaben einerseits die Vorgeschichte der Deportationen und andererseits das Schicksal der jeweiligen Bevölkerung in Auschwitz schildern. Zudem sollte die Ausstellung historisch ausgerichtet sein und das Thema nicht künstlerisch dargestellt werden. Die Ausführung der Texttafeln soll dreisprachig (jeweilige Landessprache, Polnisch und Englisch) erfolgen. Generell geht aus den Vorgaben des Museums auch hervor, dass Rücksprache mit dem Museum gehalten werden muss: Sämtliche Ausführungen und Inhalte 19

müssen vom Museum genehmigt werden. So erhält das Museum Auschwitz-Birkenau große Kontrolle über die Gestaltung der Länderausstellung. Die Kosten für die Ausführung und Erhaltung der Ausstellung müssen ebenfalls vom Ausstellerland getragen werden.168 Die Eröffnung der Ausstellung der Roma und Sinti – eine Opfergruppe, die bis dahin nicht mit einer eigenen Ausstellung vertreten war – im Jahr 2001 ermöglichte auch anderen Ausstellerländern, ihre Ausstellungen zu überarbeiten. Die Vorgabe des Museums, erst die eigene Ausstellung erneuert zu haben, bevor die Länderausstellungen diese Möglichkeit hätten, wurde so obsolet. Die neuen Vorgaben der Museumsleitung wurden dabei jedoch schon berücksichtigt. Bezüglich der Aufteilung der ständigen Ausstellung und der Länderausstellungen ergibt sich heute ein getrenntes und geordnetes Bild: Die ständige Ausstellung und die Länderausstellungen nehmen je eine der längsverlaufenden Lagerstraßen in Anspruch (siehe auch Abb. 2). Die Ausstellungen im Einzelnen:

• Block 27: Martyrium, Kampf und Vernichtung der Juden; seit 1968; einige Jahre durch das Museum geschlossen; Umgestaltung 1978; nimmt den gesamten Block in Anspruch

• Obergeschoß Belgien; 1. Ausstellung in den 1960ern; Verlegung in heutigen Block und Neugestaltung 1984; erneuter Umbau 2006

• Block 18: Ungarn, 1. Ausstellung 1960 in Block 13, 1965 Umsiedlung nach Block 15; 1970 erneute Umsiedlung; zahlreiche Umgestaltungen; Neugestaltung 2004; die Ausstellung nimmt das Obergeschoß in Anspruch

• Block 17: Untergeschoß Österreich, seit 1978; Obergeschoß Jugoslawien, seit den 1960ern; letzter Umbau 1988; mittlerweile geschlossen

• Block 16: Vormals Tschechoslowakei; Untergeschoß. Slowakei, seit 2002; Obergeschoß Tschechien, seit 2002

• Block 15: Polen, seit 1985, nimmt beide Stockwerke in Anspruch

• Block 14: Ehemalige Sowjetunion, seit 1961 als UdSSR; Umbauten 1977 und 1985; geschlossen; Umgestaltung seit längerer Zeit in Planung

• Block 13: „Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma“, Eröffnung 2001; die Ausstellung nimmt das Obergeschoß in Anspruch.

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Es ist ersichtlich, dass die Ausstellungen Italiens, Polens und Österreichs in ihrer ursprünglichen Form erhalten sind und die Ausstellung über das Schicksal der Juden Europas, die vom staatlichen Museum erstellt wurde, seit 1978 nicht mehr überarbeitet wurde. Mit der Ausstellung Jugoslawiens ist ein Land vertreten, das heute nicht mehr existiert. Alle bestehenden Ausstellungen – mit Ausnahme der italienischen Ausstellung – haben einen historischen bzw. text- und quellenorientierten Zugang gewählt. Italiens Ausstellung fällt durch ihren künstlerischen Zugang völlig aus dem Rahmen und ist wohl die Zielscheibe der Vorgaben für die Gestaltung der Länderausstellungen des Museums, die vorschreiben, dass ein historischer Zugang gewählt werden muss. Die italienische Ausstellung verarbeitet die Themen Verfolgung, Deportation und Vernichtung in einem Kunstwerk. Man muss in diesem Fall schon fast von einem Denkmal sprechen. Der/die BesucherIn durchschreitet auf einem Holzsteg eine Spirale, deren bemalte Flächen die oben angesprochenen Themen darstellen. Nur ein kleines Schild am Eingang weist auf die Opfer Italiens hin. Auf der einen Seite ist dieser Zugang aufgrund seiner Einzigartigkeit und Kreativität bemerkenswert. Andererseits ist man jedoch ohne vor Ort vorhandene Information zu dem Kunstwerk recht ratlos, da dieses nicht selbsterklärend ist. Die Eröffnungen der neu gestalteten Ausstellungen fielen alle auf bedeutende Gedenktage bzw. -jahre: Belgien eröffnete am 7. Mai, Tschechien und Slowakei am 8. Mai, die Ausstellung der Roma und Sinti am 2. August 2001, also zum Jahrestag der Liquidierung des Zigeunerlagers. Frankreich und Holland eröffneten im 60. Jahr nach der Befreiung von Auschwitz. Frankreich eröffnete sogar am Befreiungstag also am 27.1. Ungarn eröffnete die Ausstellung zum Jahrestag des Einsetzens der Deportationen der ungarischen Juden. Es bedarf also selbst an einem Ort wie der Gedenkstätte Auschwitz einer starken Verbindung zwischen der Gedenkaktivität, also der Einweihung einer Ausstellung und dem Gedenktag, also die Erinnerung an einen wichtigen Tag. Die Inszenierung des Gedächtnisses, um mit Jan Assmann zu sprechen, wird in diesem Fall verdoppelt. Die Ausstellung gedenkt der Opfer bzw. erinnert an sie und hält die historischen Geschehnisse fest. Die Eröffnung dieser Ausstellung wird dadurch inszeniert und verstärkt, dass als Anlass des Gedenkens ein Gedenktag gewählt wird. Andererseits wird durch die Wahl eines Gedenktages auch das öffentliche Interesse gesteigert. 21

„Das erste Opfer“ Auschwitz-Birkenau: Eine Ausstellung aus einer anderen Zeit

Nationale Geschichtsmuseen und Gedenkstätten zeigen bei ihrer Initiierung, während der Realisierung und nach der Eröffnung an, welche geschichtspolitischen Debatten in einer Gesellschaft geführt werden und welche Geschichtsbilder jeweils dominieren. Insofern erzählt eine historische Ausstellung mindestens so viel über die Zeit ihrer Entstehung, wie über jene Zeit, der ihr Inhalt gilt. In den Debatten rund um ihre Eröffnung und danach spiegelt sich das Verhältnis der Gesellschaft zum dargestellten Thema wider.

Nun ist die klassische historische Ausstellung ein relativ starres Medium: Haben HistorikerInnen, Financiers, AusstellungsarchitektInnen, die ausstellende Institution und alle anderen Beteiligten einmal eine Darstellungsweise ausverhandelt, dann präsentiert die Ausstellung meist eine geschlossene, unveränderliche Erzählung. Während die historische Ausstellung also auf Eindeutigkeit und klare narrative Strukturen abzielt, stellt sich das Gedächtnis einer Gemeinschaft als dynamischer Prozess dar, der durch die konkurrierenden Interessen unterschiedlicher gesellschaftlicher AkteurInnen geprägt ist. Jedoch tritt die Relativität der als „kollektives Gedächtnis“ verstandenen hegemonialen Vergangenheitserzählungen schlagartig zu Tage, wenn die vorherrschende Vergangenheitsversion durch Skandale, Debatten und ähnliches in die Krise gerät. Dann können nämlich Vergangenheitsnarrative, die jahrzehntelang unhinterfragte Gültigkeit besaßen, plötzlich in sich zusammenbrechen und jede gesellschaftliche Verbindlichkeit verlieren.

Erosionen nach Waldheim

Dieser Prozess der Erosion eines hegemonialen Geschichtsbildes entwickelte sich in Österreich zuletzt ausgehend von der Waldheimdebatte. Die von Waldheim zu seiner Verteidigung geäußerten Worte „Ich habe ja nur meine Pflicht getan wie tausende andere Österreicher auch“, legten plötzlich den unüberbrückbaren Widerspruch zwischen dem Konsens über die Opferrolle Österreichs und der seit den 1950er Jahren vorherrschenden ehrenden Erinnerung an Österreicher in der Wehrmacht frei. Es folgte eine Phase verdichteter gesellschaftlicher Kommunikation über die Beurteilung von „Anschluss“ und NS-Herrschaft – als paradigmatischer Prozess des Neuverhandelns von Geschichte. Dabei gelangten Themen ins Blickfeld der Wissenschaft, die unter den Vorzeichen des Opfermythos kaum erforscht wurden, etwa der Antisemitismus in allen Bevölkerungsschichten, die Verbrechen der Wehrmacht und die Beteiligung von ÖsterreicherInnen an den NS-Verbrechen.

Eines zeigt dieser Prozess der Neuverhandlung der Vergangenheit recht deutlich: Dass es eine gewisse Zeit braucht, bis sich neue Vergangenheitsversionen kulturell ausformen und etablieren. So wurde die Erkenntnis, dass Österreich doch nicht nur Opfer des Nationalsozialismus war, erst einige Jahre nach Waldheim ins Standardrepertoire politischer Reden zu historischen Gedenktagen aufgenommen. Erst 2000, fast 15 Jahre nach Waldheim, wurde in Wien ein Denkmal für die Opfer des Holocaust errichtet. Und erst in den letzten Jahren wurde mit der Neugestaltung der zentralen Ausstellungen zum Nationalsozialismus in Österreich begonnen: Jene des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes wurde 2005 überarbeitet und neu eröffnet, die Neugestaltung jener in der Gedenkstätte Mauthausen ist derzeit im Gange.

Rot-weiss-rote Landkarte …

Eine bezüglich ihrer Verbindlichkeit ziemlich wichtige Ausstellung an einem sehr symbolträchtigen 22

Ort, einem Ort, der wie kein anderer für die Katastrophe des 20. Jahrhunderts steht, wird in diesem Zusammenhang oft vergessen. Im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau durften zwölf Nationen, aus denen Menschen nach Auschwitz deportiert wurden, nationale Ausstellungen errichten, die meist von Gruppen ehemaliger Häftlinge als Gedenkstätten konzipiert wurden, in deren Mittelpunkt das Leiden und Sterben der Häftlinge, weitgehend unter martyrologischen Vorzeichen – im politischen wie religiösen Sinn –, stand. Diese Verbindung von historischer Information und Gedenken macht die „Länderausstellungen“ zu Orten der Sinnstiftung, zu Darstellungen des Selbstbildes der ausstellenden Länder in Bezug auf ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus. Die österreichische Ausstellung steht dort seit 1978 unverändert, wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, und repräsentiert ein Geschichtsbild, das geschichtsbewussten österreichischen BesucherInnen der Gedenkstätte heute eigentlich nur peinlich sein kann. Schon beim Betreten des roten Ziegelsteingebäudes, das zwischen 1940 und 1945 ein Häftlingsblock im Konzentrationslager Auschwitz I war, wird man durch ein Bild begrüßt, das symbolhaft für die Botschaft der Ausstellung steht. Da wird eine rot-weiß-rot eingefärbte österreichische Landkarte von schwarzen Soldatenstiefeln niedergetrampelt, links daneben prangt der programmatische Titel der Ausstellung: „Österreich – Erstes Opfer des Nationalsozialismus“. Dieser Titel gibt den Grundtenor der Ausstellung vor, die 1978 zum Jahrestag des „Anschlusses“ eröffnet und von ehemaligen Häftlingen im Auftrag des Bundesministeriums für Kunst und Wissenschaft und mit maßgeblicher Unterstützung der Bundesländer, des ÖGB und der Arbeiterkammer gestaltet wurde. Der Narrativ der Ausstellung entspricht dem vom Opferkonsens geprägten Geschichtsbild im Österreich der 1970er Jahre: Erzählt wird die Geschichte von den politischen Kämpfen der Ersten Republik, der Errichtung des „Ständestaates“, des „Anschlusses“ Österreichs an Deutschland und – auf einem guten Drittel der Ausstellungsfläche – jene des Widerstandes aus allen politischen Richtungen.

Kaum erwähnt werden die Begeisterung vieler ÖsterreicherInnen über den „Anschluss“, die rege Beteiligung der Bevölkerung bei Demütigung, Enteignung, Misshandlung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung und die beeindruckenden Karrieren, die viele Österreicher (und manche Österreicherinnen) im Vernichtungssystem des Nationalsozialismus gemacht haben. Österreich war – ganz im Sinne der eröffnenden Tafel – das erste Opfer des Nationalsozialismus. Dieser die gesamte Nation umfassende Opferstatus wird gegen Ende der Ausstellung noch einmal auf den Punkt gebracht. Auf einer Glastafel vor dem symbolbeladenen Bild des brennenden Stephansdoms sind sämtliche österreichischen Opfer des Nationalsozialismus aufgeführt: von den politischen GegnerInnen und WiderstandskämpferInnen über jene ÖsterreicherInnen, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ermordet wurden bis hin zu den österreichischen Wehrmachtssoldaten, die nicht aus dem Krieg heimgekehrt sind, und den zivilen Opfern des Krieges.

Wie kann es nun sein, dass jene, die während der NS-Zeit in den Konzentrationslagern gelitten haben, jene, die die Brutalität der SS-Männer, von denen viele aus Österreich stammten, am eigenen Leib erfahren haben, 25 Jahre später eine Ausstellung machen, in der ein allumfassender Opferkonsens die Verbrechen der Landsleute zudeckt? Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten: Erstens ist die Ausstellung in Auschwitz eine Ausstellung der Opfer, eine Ausstellung, in der jene, die vom NS- System verfolgt wurden, ihre Geschichte darstellen. Für sie war, so Ernst Hanisch, der Opfermythos kein Mythos, sondern gelebte Erfahrung.

Zweitens muss der Vergangenheitsnarrativ von Österreich als Opfer des Nationalsozialismus auch als Gegenentwurf zur Interpretation der „Ehemaligen“, der Veteranen und der MitläuferInnen verstanden werden. In deren Geschichtsbild war die NS-Zeit eine große Zeit und jene, die in der Wehrmacht für Führer, Volk und Vaterland gekämpft haben, waren die Helden der Heimat. Dieses Geschichtsbild wurde zentral vom Kameradschaftsbund vertreten und wird in nahezu jedem österreichischen Dorf 23

durch ein Kriegerdenkmal repräsentiert. Und drittens – auch das soll nicht vergessen werden – haben einige der KZ-Überlebenden nach der Debatte um Waldheim ihre Haltung zum „Opfermythos“ überdacht und relativiert. So äußerte sich etwa , der wesentlich an der Gestaltung der österreichischen Ausstellung in Auschwitz beteiligt war und im persönlichen Gespräch leidenschaftlich gegen deren Umgestaltung eintrat, 1993 wie folgt: „Da ist nur der Widerstand, Widerstand – aber dass es Österreicher gab, die in entscheidender Funktion in Auschwitz in der SS tätig waren, kommt nicht vor. Das müsste repariert werden.“

…und ein schwarzer Fleck

Diese Überlegung Langbeins kann vielleicht auch als Reaktion auf die Kritik an der Ausstellung verstanden werden, die in den 1990er Jahren aufkam und zusehends stärker wurde. Am Anfang waren es vor allem Zivildiener, die seit 1992 ihren Dienst als „Gedenkdienst“ im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau leisten konnten, die die Ausstellung und ihr verstaubtes Geschichtsbild kritisierten. Ein schwarzer Fleck nach dem Titel der Ausstellung zeugt noch heute von dem Fragezeichen, das von einzelnen Zivildienern und kritischen AusstellungsbesucherInnen immer wieder aufgemalt wurde. Dazu kamen zahlreiche an die Museumsleitung gerichtete Briefe von BesucherInnen, die eine Umgestaltung der Ausstellung forderten. Die Kritik führte 2005 zur Anbringung eines Zusatzbanners auf Anregung der österreichischen Generalkonsulin in Krakau, Maga. Hermine Poppeller, der österreichischen Delegation bei der ITF (Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance, and Research) und mit Unterstützung des Österreichischen Nationalfonds. Darauf wird festgestellt, dass das in der Ausstellung vertretene Geschichtsbild „nicht mehr dem historischen Selbstverständnis des heutigen Österreich“ entspreche: „Das Bekenntnis zu einer moralischen Mitverantwortung für die Beteiligung zahlreicher Österreicher an nationalsozialistischen Verbrechen hat zu einer viel differenzierteren Sicht der historischen Ereignisse geführt.“ Weiters wird auf dem Zusatzbanner eine Neugestaltung der Ausstellung angekündigt, die diesen neuen Erkenntnissen Rechnung tragen solle. 2008 erschien dann ein vom Nationalfonds finanzierter und von Brigitte Bailer-Galanda, Bertrand Perz und Heidemarie Uhl erarbeiteter Bericht, in dem die Notwendigkeit einer Neugestaltung unterstrichen und Schritte zur Realisierung beschrieben werden.

Der politische Beschluss zur Neugestaltung bleibt jedoch weiterhin aus, obwohl an der peinlichen Verstaubtheit der Ausstellung wohl kein Zweifel besteht und sie, so Brigitte Bailer- Galanda bei der Präsentation des Berichtes, „zunehmend zu einem außenpolitischen Problem“ werde – immerhin wird die Gedenkstätte Auschwitz jährlich von mehr als einer Million Menschen besucht. Zudem wurden in den letzten fünf Jahren beinahe alle nationalen Ausstellungen in Auschwitz neu gestaltet – nur die italienische Ausstellung, die als einzige einen künstlerischen Zugang wählt, und die jugoslawische, die Ausstellung eines Staates, der nicht mehr existiert, sind noch im Originalzustand. Die Erinnerungsjahre 2005 und 2008 wurden als Chance, eine Neugestaltung in Auftrag zu geben, nicht genutzt. Jetzt sollten die politischen EntscheidungsträgerInnen rasch handeln, bevor die Ausstellung, genau wie die jugoslawische, für das Museum untragbar und geschlossen wird. Bei einer etwaigen Neugestaltung sollte die alte Ausstellung jedoch nicht einfach abgebaut und entsorgt werden. Nicht nur aus Respekt vor der Erinnerungskultur der Überlebenden – sondern auch, weil die Ausstellung ein einzigartiges Dokument österreichischer Gedächtnisgeschichte ist.

Peter Larndorfer 24

Antisemitismus www.shoa.de Vom religiösen Antijudaismus bis zur Endlösung

Zur Geschichte des Antisemitismus

Antisemitismus bzw. Antijudaismus ist ein spezifisches rassistisches Phänomen, das die Menschheit seit mehr als zweitausend Jahren begleitet. Der Begriff des Antisemitismus entstand im 19. Jahrhundert (1879 von Wilhelm Marr geprägt) und bezeichnet den Hass (Feindschaft?) einzelner Menschen oder ganzer Völker gegen die Juden. Das Phänomen ist existent seitdem die Juden außerhalb Palästinas, d.h. in der Diaspora leben. Nach Aufständen der Juden im Jahr 70 n.Chr. gegen die römischen Besatzungstruppen wurde Jerusalem zerstört, die jüdische Bevölkerung getötet oder vertrieben und der jüdische Staat zerschlagen. Die geflohenen Juden assimilierten sich in den folgenden Jahrhunderte in ihren Zufluchtsländern. Allerdings hielten die meisten an der Religion ihrer Vorfahren und ihrem Volkstum fest. Auf diese Weise entstand in vielen Staaten der Welt eine religiöse und ethnische Minderheit bis in die heutige Zeit.

Der analytische Blick auf die Geschichte zeigt: Der Antisemitismus begann nicht erst mit dem Nationalsozialismus. Verfolgungen von Juden gab es in großem Ausmaß bereits im Mittelalter. Im Jahr 1096 z.B. wurden in ganz Europa Tausende von Juden getötet und vielerorts ganze jüdische Gemeinden ausgerottet. Diese Pogrome entstanden z.T. aus der christlich-religiösen Überzeugung, die Juden seien die Feinde der Christen. Die Opfer wurden so zu Sündenböcken gestempelt und für damals rational nicht erklärbare Naturkatastrophen, Hungersnöte und Seuchen verantwortlich gemacht. Infolge weiterer Stereotypisierungen wurden Juden als Mörder kleiner Kinder, als Hostienschänder und Brunnenvergifter verleumdet und verfolgt. Als 1348 eine Pest Europa verheerte, stellte man dies als Strafe Gottes dafür dar, dass die Christenheit die Juden noch nicht aus ihrer Mitte entfernt habe. Fortan kasernierte man Juden in gesonderten Stadtteilen, den Ghettos und zwang sie, sich durch besondere Kleidung als Juden zu erkennen zu geben. Das fanatisierte Klima der Kreuzzüge (11.-13. Jahrhundert) trug wesentlich zu dem von der katholischen Kirche bis in die 1960er Jahre offiziell aufrechterhaltenen Vorwurf gegenüber den Juden als „Christusmörder“ bei.

Oft hatte der Antisemitismus wirtschaftliche Ursachen. Beispielsweise warf man Juden vor, sich auf Kosten von Nichtjuden zu bereichern. Da es Christen im Mittelalter aus religiösen Gründen versagt war Zinsen zu nehmen, blieben die Geldgeschäfte oft den Juden vorbehalten. Dies führte dazu, dass viele Christen bei Juden verschuldet waren. Die meisten anderen Berufe waren ihnen verschlossen. Aus der Landwirtschaft wurden sie verdrängt, und ein Handwerk konnten sie nicht ausüben, weil sie als Nichtchristen kein Mitglied einer Zunft werden durften. So blieb ihnen nur das Geldgeschäft und der Kleinhandel.

In den ersten Reformationsjahren begegnete man in den protestantischen Gebieten den Juden zunächst mit Toleranz. Auch Martin Luther äußerte sich positiv über sie und zeigte ein besonderes Interesse an der hebräischen Sprache. Er hegte die missionarische Hoffnung, die Juden für den christlichen Glauben gewinnen zu können - ein Trugschluss, der einen 25

radikalen Meinungswandel bewirkte. Die Juden erschienen Luther nun als ein Volk, das willentlich Gottes Liebe verschmähte. Noch wenige Jahre vor seinem Tod verfasste er eine Schrift mit dem Titel "Von den Juden und ihren Lügen". Darin verstieg er sich zu der Forderung, die Synagogen abzubrennen, die Wohnungen der Juden zu zerstören, den Rabbinern das Lehren zu verbieten und den Juden auf jede erdenkliche Weise das Leben schwer zu machen: eine verhängnisvolle antijudaistische Agitationsschrift, denn seitdem haben sich protestantische Judenfeinde immer wieder auf Luther berufen.

Nachdem es im 18. Jahrhundert vorübergehend eine Zeit der Toleranz gegenüber Juden gegeben hatte und sie auf allen gesellschaftlichen Gebieten eine gewisse Gleichberechtigung erfuhren, entstand im 19. Jahrhundert vor allem in Deutschland eine neue Welle der Judenfeindschaft. Sie war weniger religiös als vielmehr nationalistisch-rassistisch geprägt. Juden wurden nun als "national unzuverlässig", als "heimatlose Gesellen", als "völkisch minderwertig" bezeichnet. Man forderte die "Reinigung" des deutschen Volkes von allem Jüdischen. In einer Nation dürfe nur eine Seele sein. Auch die Kirchen waren nicht frei von dieser Judenfeindschaft. Es wurde behauptet, Juden seien im Gegensatz zu den wahren Deutschen ohne jegliche tiefere Religiosität und liefen nur den "Götzen des Goldes" nach. Auf diesem nationalistisch geprägten Antisemitismus konnten die Nazis später aufbauen, als sie die Vernichtung der Juden planten und durchführten.

Antisemitismus im Dritten Reich

Der Höhepunkt antisemitisch bedingter Verfolgungen wurde in den Jahren 1933-1945 unter der Herrschaft der Nationalsozialisten erreicht. Hitler und die NSDAP propagierten den rassistischen Antisemitismus. Das nationalsozialistische Weltbild ist geprägt durch Vorstellung des angeblich ständigen Kampfes zwischen der "hochwertigen" Rasse, den Ariern, und der "minderwertigen" Rasse, den Juden weg. Durch Vermischung mit den Juden werde die germanische Rasse verdorben und sei auf lange Sicht zum Untergang verurteilt. "Die Juden sind unser Unglück" lautete eine von den Nazis verbreitete Parole. Ziel der nationalsozialistischen Politik war es deshalb, die "Reinheit des deutschen Blutes" zu bewahren bzw. wiederherzustellen. Bei der deutschen Bevölkerung, in der viele Menschen antisemitisch und nationalistisch dachten und fühlten, fanden die Nazis damit breite Zustimmung. Die Feindschaft gegen das Judentum gehörte von Anfang an zum Parteiprogramm der Nationalsozialisten.

Nach der Machtergreifung im Jahre 1933 wurden sofort antijüdische Maßnahmen durch die Nazis eingeleitet, weg ständig verschärft und ausgeweitet.

1933: Boykott aller jüdischen Geschäfte in Deutschland durch die SA. Die Aktionen richteten sich auch gegen jüdische Rechtsanwälte und Ärzte sowie gegen den Besuch von Schulen und Universitäten durch Juden. Jüdische Beamte wurden aus den Ämtern entfernt, Künstler und Schriftsteller und Schriftleiter bei den Zeitungen erhielten praktisch Berufsverbot.

1935: Die "Nürnberger Gesetze" werden beschlossen und in Kraft gesetzt. Darin heißt es:

• §1: Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig, auch wenn sie zur Umgehung dieses Gesetzes im Ausland geschlossen sind. 26

• §2: Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen und artverwandten Blutes ist verboten. • §3: Juden dürfen weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren in ihrem Haushalt nicht beschäftigen.

1937: Beginn der "Arisierung" der Wirtschaft. Die jüdischen Besitzer von Unternehmen und Geschäften werden gezwungen, ihren Besitz meist weit unter Wert an Deutsche zu verkaufen. Viele deutsche Geschäftsleute bereichern sich an jüdischem Eigentum.

1938: Einweisung aller so genannten vorbestraften Juden in Konzentrationslager. Die jüdischen Ärzte verlieren ihre Approbation. Sie dürfen nur noch als "Krankenbehandler" für Juden tätig sein. Juden müssen ihrem offiziellen Namen die Vornamen "Israel" oder Sara" hinzufügen. "Reichskristallnacht" am 9./10. 11.: Zerstörung von Synagogen, Geschäften und Wohnhäusern der Juden. Verhaftung von über 26000 männlichen Juden und Einweisung in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen. Mindestens 91 Juden werden getötet.

Juden dürfen keine Kinos, Theater und Konzerte mehr besuchen.

1939: Hitler kündigt vor dem Reichstag im Falle eines Krieges die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Europa an. Deutscher Angriff auf Polen am 1.9., Beginn des Zweiten Weltkriegs. Beginn der Judenverfolgungen und -vernichtungen in allen von deutschen Truppen eroberten Gebieten: in Polen, Rumänien, in Estland, Lettland und Litauen und in der Sowjetunion.

1941: Einführung des Judensterns. Juden über sechs Jahren ist es verboten, sich in der Öffentlichkeit ohne den gelben Judenstern zu zeigen. Juden dürfen ihren Wohnbezirk ohne Genehmigung der Polizei nicht verlassen.

1942: Verbot der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel durch Juden. Weitere Einschränkungen im Laufe des Krieges: Es war Juden verboten, Fernsprecher zu benutzen, Zeitungen zu beziehen, sich auf Bahnhöfen und in Gaststätten aufzuhalten. Radios, andere elektrische und optische Geräte mussten abgeliefert werden. Juden erhielten keine Fleischkarten, keine Kleiderkarten, keine Milchkarten, keine Raucherkarten, kein Weißbrot, kein Obst, keine Obstkonserven, keine Süßwaren.

10/43: Auswanderungsverbot

Antisemitismus und Holocaust/Shoah

Nach der Machtergreifung im Jahr 1933 begannen die Nationalsozialisten, die jüdische deutsche Bevölkerung durch gesetzliche Verordnungen und Willkürmaßnahmen zu verfolgen und zu terrorisieren. Auf der so genannten "Wannseekonferenz" am 20.1.1942 beschlossen die Nazis die Deportation und Ausrottung des gesamten europäischen Judentums. Hitler machte damit wahr, was er schon lange als seine Absicht angekündigt hatte und was eigentlich jeder in Deutschland voraussehen konnte, sofern er es sehen wollte. wurde mit der Organisation der "Endlösung" beauftragt. 27

1942-45: Beginn der Massenvernichtungen in Auschwitz und anderen großen Vernichtungslagern wie Maidanek, Sobibor, Treblinka. In diese (von den Konzentrationslagern zu unterscheidenden) Lager wurden die Menschen jüdischer Herkunft aus dem ganzen Machtbereich des "Dritten Reiches" nach und nach deportiert, sofern sie nicht schon den Erschießungskommandos der SS- in den eroberten russischen Gebieten zum Opfer gefallen waren. Die absolut genaue Zahl der Opfer lässt sich nicht mehr feststellen. Doch wurden insgesamt wohl in den Jahren 1942 bis 1945 ca. sechs Millionen Juden aus ganz Europa getötet, wie in den NS-Prozessen der Nachkriegszeit festgestellt wurde.

Dazu die Aussage des KZ-Kommandanten Rudolf Höß: "... Ich befehligte Auschwitz bis zum 1. 12.1943 und schätze, daß mindestens 2,5 Millionen Opfer durch Vergasung und Verbrennen hingerichtet und ausgerottet wurden; mindestens eine weitere halbe Million starben durch Hunger und Krankheit, was eine Gesamtzahl von ungefähr 3 Millionen Toten ausmacht. Unter den hingerichteten und verbrannten Personen befanden sich ungefähr 20.000 russische Kriegsgefangene. Der Rest umfaßte ungefähr 100.000 deutsche Juden und eine große Anzahl von Einwohnern aus Holland, Frankreich, Belgien, Ungarn, Griechenland und anderen Ländern." Zwei Drittel der in Europa lebenden Juden fielen dem Holocaust zum Opfer. An den Folgen dieser Vernichtungsaktion leiden nicht nur die Überlebenden der Vernichtungslager, die die eintätowierte Lager-Nummer zeitlebens mit sich herumtragen. Sehr viele der heute lebenden Juden, deren Familien aus Europa stammen, haben nahe Angehörige unter den Opfern.

Schuldfrage/ Erklärungsansätze

Der Holocaust war in Deutschland auch deshalb möglich, weil die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung Hitlers "strengem Vorgehen" gegen die Juden zunächst positiv gegenüber stand und es billigte. Die Kirchen blieben stumm, ja sie übernahmen z.T. die Nazi- Rassegesetze und belegten Pfarrer jüdischer Herkunft mit Berufsverbot. Diese Sympathie gegenüber dem judenfeindlichen Gedankengut der Nazis bedeutet nicht, dass die Deutschen in ihrer Mehrheit auch die entsetzliche Vernichtungsaktion gebilligt hätten. Als man das Ausmaß und die Umstände des Holocaust nach und nach erkannte, war es für Protestaktionen längst zu spät. Sich für das Schicksal der Juden zu interessieren oder ihnen gar zu helfen, war lebensgefährlich. Nur einzelne wie z.B. Oskar Schindler oder Raoul Wallenberg fanden dazu den Mut und die Möglichkeit, unter Einsatz ihres Lebens.

Als nach Kriegsende die Wahrheit über den Holocaust immer deutlicher wurde, berief man sich weitgehend auf angebliche Unwissenheit, um die Mitverantwortung von sich wegzuschieben. Bis heute finden in der deutschen Bevölkerung auch diejenigen noch Gehör, die behaupten, so schlimm könne alles doch nicht gewesen sein und dass es eine Lüge sei zu behaupten, 6 Millionen Juden umgekommen seien (so genannte Auschwitz-Lüge).

Die Evangelische Kirche hat am 30. 10.1945 die "Stuttgarter Schulderklärung" veröffentlicht, in der sie sich zu ihrer Mitverantwortung an den Vorgängen im "Dritten Reich" bekennt. In diesem Schuldbekenntnis heißt es: „... Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. ... Wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." An diesem Bekenntnis wird jedoch kritisiert, dass es nicht konkret die Mitschuld an den Nazi-Verbrechen nennt und 28

mit keinem Wort auf den Holocaust eingeht. Von vielen Christen in der Evangelischen Kirche wurde auch dieses vage formulierte Schuldbekenntnis als zu weit gehend abgelehnt.

Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg

In den westlichen Demokratien hat das abschreckende Beispiel der nationalsozialistischen Politik der Judenvernichtung dazu geführt, dass der Antisemitismus in der Nachkriegszeit abnahm. Dennoch zeigten Umfragen in den achtziger und neunziger Jahren in Deutschland und Österreich, dass 10 bis 15 Prozent der jeweiligen Bevölkerung als überzeugte Antisemiten einzustufen sind, ein weiteres Drittel antijüdischen Ressentiments anhängt. In den neunziger Jahren sind in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und anderen europäischen Ländern und den USA erneut reaktionäre und rassistische Parteien und Gruppen entstanden, die antisemitische Ideologien vertreten und häufig in enger Verbindung zu neofaschistischen Gruppierungen stehen. Nach dem Fall der Mauer nahm die Zahl antisemitischer Übergriffe in Deutschland erneut zu.

Literatur

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Volksgemeinschaft

Geschrieben von: Bernd Kleinhans

"Volksgemeinschaft" ist ein zentraler Begriff der NS-Ideologie. Er steht programmatisch für die Idee des nationalen Sozialismus. Das Volk als Rasse- und Weltanschauungsgemeinschaft soll sich geschlossen hinter seinem Führer versammeln. Klassen- und Standesschranken sind aufgehoben. Durch Gleichschaltung der öffentlichen Meinung in der NS-Propaganda und durch ein konsequent nationalsozialistisches Erziehungssystem sollte die Volksgemeinschaft verwirklicht werden.

Geschichte des Begriffes

"Volksgemeinschaft" war bereits um 1900 ein häufig gebrauchter Begriff. Als Gegenbild zur modernen von Konflikten und sozialen Gegensätzen geprägten Gesellschaft war er für die verschiedensten politischen Gruppierungen, völkischen und konservativen, aber auch liberalen und christlichen, attraktiv. Insbesondere in der romantisch geprägten Jugendbewegung des Wandervogels wurde die Volksgemeinschaft als Ideal der künftigen Gesellschaft propagiert. "Volksgemeinschaft! Die Jugend erbebt in hohem, höchsten Gefühl, wenn dieses Wort fällt", konstatiert im Rückblick ein Zeitgenosse (Jonas Lesser: Von deutscher Jugend, Berlin 1932, S.131) Großen Einfluß hatte der Soziologe Ferdinand Tönnies. Mit seinem erstmals 1887 erschienen Buch "Gemeinschaft und Gesellschaft" prägte er wesentlich die Diskussion bis in die Weimarer Zeit. Tönnies konstatiert, daß sich das Individuum in der modernen Gesellschaft immer in zwei Typen sozialer Bindung befindet. Zum einen in einer Verbindung, die durch gewachsene Strukturen und Zugehörigkeitsgefühl geprägt ist: Familie, Nachbarschaft, Volk. Diesen Typus nennt Tönnies "Gemeinschaft". Dagegen steht die "Gesellschaft", ein Bindungstyp, der vor allem durch Nutzenüberlegungen bestimmt wird: Ökonomische und politische Verbindungen, Vereine und Versammlungen. Was von Tönnies als soziologische Beschreibung der modernen Welt gedacht war, entwickelte sich in der politisch zerrissenen Situation nach dem 1. Weltkrieg zu einem politischen Kampfbegriff: Gegen die anonyme, von ökonomischen Nutzenüberlegungen, egoistischem Individualismus und Parteienstreit bestimmte "Gesellschaft" sollte die Gemeinschaft des Volks verwirklicht werden.

In der Euphorie der Kriegsbegeisterung vom August 1914 und der anschließenden Kameradschaft im Feld, sahen viele konservative, aber auch linke Kräfte geradezu das Modell der verwirklichten Volksgemeinschaft, in der alle Klassen- und Standesschranken gefallen waren. Der "Geist von 1914" wurde in der politischen Diskussion der Weimarer Zeit immer wieder beschworen. Der Begriff der "Volksgemeinschaft" vermittelte die Illusion, persönliche enge Verbindungen ließen sich auf den Status einer gesamten modernen Gesellschaft übertragen. "Volksgemeinschaft" war so ein idealer Begriff für die politische Propaganda. Das nationalsozialistische Konzept von Volksgemeinschaft

Der Begriff der "Volksgemeinschaft" spielte bereits in den 20er Jahren in den Kampfreden Hitlers eine große Rolle. Vage bestimmte das NSDAP-Programm, daß in einer künftigen nationalsozialistischen Volksgemeinschaft "alle Staatsbürger die gleichen Rechte und Pflichten besitzen sollten" und "die Tätigkeit des einzelnen nicht gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen, sondern (...) im Rahmen des Gesamten und zum Nutzen aller erfolgen" sollte. Einen Begriff der "Volksgemeinschaft", der auch theoretischen Ansprüchen 30

genügt, haben die Nationalsozialisten nicht entwickelt. Aus den Reden der führenden NS- Ideologen und der Praxis läßt sich aber ein Konzept von Volksgemeinschaft rekonstruieren, das im wesentlichen auf zwei Elementen beruhte: Rasse und Weltanschauung.

Volksgemeinschaft als Rassegemeinschaft

Grundvoraussetzung für die Teilhabe an der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft war die Angehörigkeit zur arischen Rasse. Hitler verkündet beim Erntedankfest auf dem Bückeberg am 1. Oktober 1933, das Volk sei eine "blutsmäßig bedingte Erscheinung". Während das einzelne Individuum "vergänglich" sei, sei das Volk "bleibend". Obgleich es eine Vielzahl von rassekundlichen Publikationen im Dritten Reich gab und auch ein - vages - Idealbild des blonden, blauäugigen und großgewachsenen nordischen Menschen, fehlte eine exakte Bestimmung von "Rasse". Tatsächlich war Volksgemeinschaft als Rassegemeinschaft vor allem ein negativer Begriff: So unpräzise "Rasse" war, so klar war, gegen wen der Begriff sich richtete: Vor allem gegen die Juden. Diese galten der NS-Ideologie als dem Arier entgegengesetzte Rasse. Damit war der Rassebegriff vor allem ein Instrument, die Juden aus der Volksgemeinschaft auszuschließen. Klar bestimmt wurde dies lange vor dem Holocaust in den sogenannten Nürnberger Rassegesetzen, die auf dem Reichsparteitag 1935 beschlossen wurden. Mit dem Verbot von Eheschließungen und Verkehr von Juden mit Nichtjuden, wurde auch juristisch der Ausschluß der jüdischen Menschen aus der Volksgemeinschaft besiegelt.

Volksgemeinschaft als weltanschauliche Gemeinschaft

Der Nationalsozialismus hat sich nicht nur als politische Bewegung gesehen, sondern als Weltanschauung. Als Quasireligion hatte er den Anspruch auf umfassende Deutung und aktive Gestaltung der Welt bis ins Privatleben des einzelnen. Die Zugehörigkeit zur arischen Rasse war zwar eine notwenige Bedingung für die Zugehörigkeit zur deutschen Volksgemeinschaft, aber sie war nicht hinreichend. Diese hätte einen - gerade von Propagandachef Goebbels immer wieder abgelehnten - "Rassenmaterialismus" bedeutet. Volksgemeinschaft war eine Gesinnungsgemeinschaft, die das Bekenntnis zur nationalsozialistischen Weltanschauung erforderte. In der Praxis bedeutete dies vor allem das uneingeschränkte Bekenntnis zum "Führer". Nur wer sich dazu bekannte, war vollwertiges Mitglied der Volksgemeinschaft. Wer sich abwartend verhielt, mußte durch Propaganda noch zur Volksgemeinschaft erzogen werden. "Das Wesentliche" der nationalsozialistischen Revolution war nach Hitler, nicht "Machtübernahme, sondern die Erziehung des Menschen" (Rede am 03.07.1933 vor SA-Führern in Bad Reichenhall) Ausgeschlossen von der Volksgemeinschaft blieben dagegen grundsätzlich und unabhängig von ihrer Rassezugehörigkeit diejenigen, die sich gegen den Nationalsozialismus stellten und die sich auch der weltanschaulichen Umerziehung widersetzen. Kommunisten, Demokraten und Widerstandskämpfer waren so nicht einfach Gegner des NS-Regimes, sondern per definitionem keine Mitglieder der Volksgemeinschaft. Es entspricht konsequent dieser Logik, daß in Urteilen gegen Widerständler im Dritten Reich immer wieder beschlossen wurde, diese hätten ihre die "Bürgerehre verwirkt."

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Inszenierung und Realisierung von Volksgemeinschaft

Die Formatierung des Volkes zu einer nationalsozialistischen Volksgemeinschaft erfolgte in einer bereits 1933 einsetzenden und bis 1945 ununterbrochenen Propaganda. Dies begann bereits im offiziellen Sprachgebrauch in Behörden, Schulen und Presse. An Stelle des demokratischen Begriffs "Bürger" trat jetzt das Wort "Volksgenosse", womit bereits eine gewissen Zusammengehörigkeit suggeriert werden sollte. In den Betrieben sollte nicht mehr die nach Ansicht der NS-Propagandisten klassenspalterischen Begriffe Arbeitnehmer und Arbeitgeber gebraucht werden. Statt dessen war von Betriebsgemeinschaft die Rede, in der "Arbeiter der Stirn und Faust" vereint waren. Die Firmenchefs mußten sich nun "Betriebsführer" nennen. Die Propagierung einer Volksgemeinschaft war auch der Grund, warum bereits in den ersten Jahren der NS-Diktatur alle selbständigen Vereine, Verbände und Organisationen - selbst dann wenn sie sich positiv zum Regime stellten - verboten bzw. in die entsprechenden NS-Organisationen integriert wurden. Es sollte jeder Partikularismus vermieden werden.

Dabei verfielen die NS-Propagandisten auf immer neue Einfälle, um die vermeintliche klassen- und standeslose Volksgemeinschaft zu inszenieren. Ein Beispiel dafür war der sogenannte "Eintopfsonntag", der mehrfach im Jahr veranstaltet wurde. Das ganze Volk wurde an diesem Tag verpflichtet, Eintopf zu essen. Während es den privaten Haushalten immerhin noch freigestellt blieb, wie der Eintopf zubereitet wurde, gab es für Gaststätten und Wirtshäuser genaue Anweisungen für die Zutaten. Effektvoll präsentierten sich die NS- Größen, allen voran Hitler selbst und Propagandaminister Goebbels, beim Eintopfessen in Presse und Wochenschau. Das ganze Volk vom einfachen Arbeiter bis zum Führer selbst als Volksgemeinschaft vor dem Eintopf vereint, sollte modellhaft die klassenlose nationalsozialistische Volksgemeinschaft zeigen. Die Differenz des billigen Eintopfes zu einem regulären Sonntagsessen sollte über NS-Organisationen gespendet werden und ärmeren "Volksgenossen" zugute kommen. Goebbels sprach vom "Sozialismus der Tat".

Eine andere Aktion, die ganz der Inszenierung der Volksgemeinschaft diente, war das sogenannte Winterhilfswerk (WHW). Im September 1933 als "Winterkampf gegen Kälte und Hunger" gegründet, veranstaltete das Winterhilfswerk ganzjährig Sammelaktionen, mit denen notleidende Volksgenossen unterstützt oder Sonderaktionen wie Theater- und Filmveranstaltungen für Arme organisiert wurden. Nachdem sich der deutsche Angriff im russischen Winter festgefahren hatte, macht das Winterhilfswerk mit einer spektakulären Sammlungsaktion von Wintermänteln in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam. Obwohl es für eine Diktatur ein Leichtes gewesen wäre, die nötigen Abgaben zwangsweise zu erheben oder durch Steuern zu finanzieren, wählte die NS-Propaganda bewußt den umständlichen Weg über die Sammelbüchse. Das persönliche Gefühl der Volksgenossen für die anderen etwas zu tun, sollte gestärkt werden. Die WHW-Parole "Ein Volk hilft sich selbst" ließ sich überdies durch solche Sammelaktionen, zu denen immer wieder auch prominente Filmschauspieler wie Heinz Rühmann oder Zarah Leander herangezogen wurden, besser illustrieren. Das Tragen der WHW-Abzeichen, die bei den Sammlungen ausgegeben wurden, erschienen daher wie ein Bekenntnis zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft.

Die tatsächliche Struktur der NS-Volksgemeinschaft

Die propagandistische Attraktivität der "Volksgemeinschaft" beruhte auf einer einfachen Psychologie: der Vorstellung, die persönliche Bindung im Bereich der kleinen 32

Gemeinschaften - Familie etc. - lasse sich übertragen auf den Bereich eines Millionenvolkes. Tatsächlich ist ein solcher Transfer nicht nur nicht möglich, sondern war in Wahrheit von der NS-Diktatur auch gar nicht angestrebt. Denn eine wirkliche Gemeinschaft hat ja gerade freie Individuen zur Voraussetzungen, an denen die NS-Diktatur kein Interesse hatte. Die "Parole" der Volksgemeinschaft diente den NS-Herren dazu, ein ganz anderes Konzept zu realisieren. Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft war in Wahrheit ein Verhältnis von Führer und Masse. Diese bestand nicht mehr aus freien Individuen, sondern aus willenlosen Teilchen, die vom Willen des Führers zu beliebigen Formationen organisiert werden konnten. Goebbels spricht entlarvend davon, das Volk zu einem "Stahlblock" zusammenzuschweißen. Das Ideal der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft ist daher nicht das einer kommunitären Gemeinschaft sich gegenseitig helfenden Individuen, sondern das einer gut funktionierenden Maschine. Diese sollte willenlos und mechanisch den Befehlen ihres Führers gehorchen. In der Umwandlung des Volkes zu einer Heimat und Front verbindenden Militärmaschine fand die nationalsozialistische Volksgemeinschaft ihre eigentliche Bestimmung.

Literatur

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Benz, Wigbert / Bernd Bredemeyer / Klaus Fieberg: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Beiträge, Materialien Dokumente. CD-Rom, Braunschweig 2004.

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Janka, Franz: Die braune Gesellschaft. Ein Volk wird formatiert, Stuttgart 1997

Stöver, Bernd: Volksgemeinschaft im Dritten Reich. Die Konsensbereitschaft der Deutschen aus der Sicht sozialistischer Exilberichte, Düsseldorf 1993

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt, 3. Aufl. 1991 (erstmals 1887)

Verhey, Jeffrey: Der "Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000

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Aus Österreichische Zeitschrift für http://www.oezp.at/oezp/online/online.htm Politikwissenschaft ÖZP 2001/1, 19-34 Heidemarie Uhl (Wien/Graz) Das "erste Opfer". Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der

Zweiten Republik Der spezifisch österreichische Umgang mit der NS-Vergangenheit wird durch die These charakterisiert, dass das Land im März 1938 zum "ersten Opfer" des Nationalsozialismus wurde. Der Beitrag analysiert einerseits die Veränderungen dieses Interpretationsmodells von 1945 bis zur Gegenwart vor dem Hintergrund von politischen und generationsspezifischen Transformationsprozessen, andererseits die "Gegenerzählungen" einer Populartradition, die sich vor allem im Gefallenengedenken artikuliert haben. Diese beiden widersprüchlichen Narrationen, die das österreichische Geschichtsbewusstsein geprägt haben, bilden die Ausgangskonstellation für die Waldheim-Debatte 1986, die eine geschichtspolitische Zäsur markiert: die Erosion der Opferthese bzw. ihre Modifikation durch das Bekenntnis des offiziellen Österreich zu einer Mitverantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes. Auch die jüngsten Aussagen von Bundeskanzler Schüssel markieren diesbezüglich keine grundsätzliche Richtungsänderung, allerdings erweist sich mit der politischen Wende, der Regierungsbeteiligung der rechtspopulistischen FPÖ, die Frage des Umgangs mit dem "Zivilisationsbruch Auschwitz" erneut als Indikator für die politische Kultur. Einleitung Die Opfertheorie als offizielles Erklärungsmodell Das Gefallenengedenken als Antithese zur Opfertheorie Widersprüchliche Gedächtniskulturen Die Erosion der Opferthese in der Waldheim-Debatte

Einleitung

Wenn aus heutiger Sicht die Frage nach dem Selbstverständnis Österreichs als "erstem Opfer" des Nationalsozialismus, nach Geschichtsmythen und Verdrängungen im Geschichtsbewusstsein der Zweiten Republik gestellt wird, so ist festzuhalten, dass gegenwärtige Analysen des "österreichischen Gedächtnisses" aus einer Post- Waldheim-Perspektive argumentieren. Die Auseinandersetzung um die Kriegsvergangenheit Kurt Waldheims hat die Legitimität der Opferthese entscheidend in Frage gestellt, seit der Zäsur der späten 1980er Jahre ist diese Sichtweise innerhalb der Geschichtswissenschaft von einer differenzierten Analyse des "Anschluss"-Geschehens und der NS-Herrschaft (Haas 2000) abgelöst worden, wobei insbesondere die Verdichtung des öffentlichen Interesses im Gedenkjahr 1938/88 zu einer umfangreichen Vermittlung von Forschungsergebnissen durch die Medien, durch Symposien, Ausstellungen etc. geführt hat (Uhl 1992; Rust 1988). Auch in weiten Bereichen des politischen Diskurses verband sich seither mit dem Beharren auf der Opferthese eine weitgehend marginalisierte bzw. defensiv argumentierende Position. Dass diese Haltung vor allem vonseiten der Österreichischen Volkspartei vertreten wurde (Manoschek 1995b), mag ein Erklärungshintergrund für ihre neuerliche Bekräftigung durch Bundeskanzler Wolfgang Schüssel im November 2000 sein.1 Demgegenüber wurde die "Entlarvung" des Opfermythos seit 1986 zu einem der zentralen Themenfelder eines vor allem von Intellektuellen und KünstlerInnen, aber auch von WissenschaftlerInnen geführten Diskurses der Kritik an der "unbewältigten Vergangenheit" Österreichs (Botz/Sprengnagel 1994), der in der medialen Berichterstattung breite Resonanz erfuhr. Gerade angesichts der weitgehenden Zurückweisung einer einseitig-verfälschenden Berufung auf den Opferstatus - die auch in den öffentlich-medialen Reaktionen auf die erwähnte Schüssel-Erklärung vorherrschend ist - erscheint es nicht mehr notwendig, die Opfertheorie auf der Ebene der Fakten zu widerlegen, sondern nach ihren Funktionen und Verwendungsweisen in der Zweiten Republik und damit nach dem spezifisch österreichischen Umgang mit der NS- 34

Vergangenheit zu fragen. Die These, die im Folgenden vertreten wird, geht davon aus, dass die Argumentation der Opfertheorie zwar den institutionalisierten Rahmen für die Perzeption der Jahre 1938 bis 1945 bildete, dass die kollektiven Erzählmuster über die NS-Zeit aber weitaus vielschichtiger waren und dass auch das Verständnis von Österreich als "erstem Opfer" mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten gefüllt werden konnte. Betrachtet man das "österreichische Gedächtnis" (Ziegler/Kannonier-Finster 1997) nicht als statisches Modell, sondern im Rahmen einer "Sozialgeschichte des Erinnerns" (Burke 1991), deren Erkenntnisinteresse auf die Kontextualisierung und Historisierung von Gedächtnisdiskursen und ihre Verortung in der Matrix gesellschaftlicher Machtverhältnisse gerichtet ist,2 so lassen sich auch in der österreichischen Variante der Konstruktion von politischen Mythen in Bezug auf die NS-Phase (Judt 1993) unterschiedliche und widersprüchliche Narrative feststellen. Diese Konkurrenz um die Deutung der Vergangenheit konnte sowohl in synchronen Formen eines "Kampfs um die Erinnerung" als auch in diachronen Modifikationen des Interpretationsrahmens erfolgen, wobei die Veränderung der politischen Rahmenbedingungen und generationsspezifische Bruchlinien als wesentliche Einflussfaktoren zu nennen sind. Im Hinblick auf synchrone Differenzierungen und diachrone Transformationen des Umgangs mit der NS- Vergangenheit können drei zentrale narrative Muster herausgearbeitet werden: 1. das offizielle Erklärungsmodell der Opfertheorie und seine Funktionalisierungen; 2. ein geschichtspolitisches Umschwenken auf innenpolitischer Ebene, das sich im Rahmen des Gedenkens an die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs artikulierte und in engem Zusammenhang mit der Reintegration der ehemaligen Nationalsozialisten steht. Diese Gedächtniskultur prägte das Geschichtsbewusstsein weiter Teile v.a. der Kriegsgeneration, obwohl es im Widerspruch zur Opfertheorie stand - eine Konstellation, die maßgeblich das Konfliktpotential der Waldheim-Debatte bestimmte. Diese Politik des "double speak" (Anton Pelinka) kann als das eigentliche Charakteristikum der österreichischen Geschichtspolitik gesehen werden; 3. die neuen Interpretationen der Jahre 1938 bis 1945, die seit 1986/88 für die Beurteilung der NS- Vergangenheit in weiten Bereichen bestimmend geworden sind. Abschließend soll auf die Debatte um die Reaktivierung der Opfertheorie nach der innenpolitischen "Wende", der Bildung einer rechtskonservativen Regierungskoalition von ÖVP und FPÖ, eingegangen werden.

Die Opfertheorie als offizielles Erklärungsmodell

Am 19. August 1945 wurde am Wiener Schwarzenbergplatz das Denkmal für die Gefallenen der Roten Armee enthüllt. Die Enthüllungsfeierlichkeiten eröffneten auch Politikern der drei Gründungsparteien der Zweiten Republik die Gelegenheit, ihrer Sichtweise der NS-Jahre Ausdruck verleihen. So erklärte der spätere Kanzler Leopold Figl: "Sieben Jahre schmachtete das österreichische Volk unter dem Hitlerbarbarismus. Sieben Jahre wurde das österreichische Volk unterjocht und unterdrückt, kein freies Wort der Meinung, kein Bekenntnis zu einer Idee war möglich, brutaler Terror und Gewalt zwangen die Menschen zu blindem Untertanentum".3 Leopold Figls Rede kann als exemplarisches Beispiel für die Selbstdarstellung Österreichs im Rahmen der Opfertheorie gesehen worden. Grundgelegt wurde dieses Geschichtsbild in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, als die von Vertretern der Sozialistischen Partei (SPÖ), der Volkspartei (ÖVP) und der Kommunistischen Partei (KPÖ) gebildete provisorische Regierung die Wiederherstellung der demokratischen Republik Österreich proklamierte. In diesem Gründungsdokument der Zweiten Republik wurden zugleich grundsätzliche Aussagen zur Frage nach der Mitverantwortung Österreichs am NS-Regime getroffen. Unter wörtlicher Bezugnahme auf die Moskauer Deklaration der alliierten Außenminister vom 30. Oktober 1943 wurde Österreich als "das erste freie Land, das der Hitlerischen Aggression zum Opfer gefallen ist", bezeichnet und der "Anschluss" vom März 1938 als Okkupation dargestellt, die durch "militärische kriegsmäßige Besetzung (...) dem hilflos gewordenen Volke Österreichs aufgezwungen worden ist".4 Die Unabhängigkeitserklärung enthält aber auch ausführliche Erörterungen zur Frage nach dem Einsatz von Österreichern in der Deutschen Wehrmacht. Dieser Punkt war von einiger Brisanz, denn in der sogenannten Mitschuldklausel der Moskauer Deklaration war Österreich unmissverständlich auf seine Verantwortung für die Beteiligung am Krieg auf Seiten Hitlerdeutschlands hingewiesen worden. Diesem Vorwurf begegnete die provisorische Regierung in der Unabhängigkeitserklärung mit dem Hinweis auf die "Tatsache, daß die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers (...) das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat". Die sogenannte Opfertheorie, wie sie ausgehend von der zitierten Unabhängigkeitserklärung bis in die 1980er Jahre das Selbstverständnis und die Selbstdarstellung des offiziellen Österreich prägte, kann somit folgendermaßen zusammengefasst werden: Österreich wurde im März 1938 gewaltsam besetzt und im April/Mai 1945 vom österreichischen Widerstand und den Alliierten befreit. Die Jahre 1938 bis 1945 wurden als Fremdherrschaft dargestellt und - soweit es um den österreichischen Anteil ging - unter dem Aspekt von Widerstand und Verfolgung, vor allem aber als Kampf um die Befreiung Österreichs betrachtet. Diese Sichtweise durchdrang die politische Symbolik und die Darstellung der NS-Zeit unmittelbar nach Kriegsende in allen Bereichen des öffentlichen Lebens: Sie wurde bereits im österreichischen Staatswappen - mit Beschluss vom 35

1. Mai 1945 - zum Ausdruck gebracht, wobei der aus der Ersten Republik übernommene Adler nun mit gesprengten Ketten als Symbol der Befreiung versehen wurde (Spann 1994, 59; Diem 1995, 124 f.). Die Errichtung von Denkmälern für die Opfer des Freiheitskampfes in Wien (Lauber 1987; Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 1998), aber auch in den anderen Bundesländern (Fein 1975; Uhl 1994; Uhl 2001) sollte diese Geschichtsauffassung ebenso bekräftigen wie die offiziöse antifaschistische Ausstellung "Niemals vergessen" im Wiener Künstlerhaus 1946 (Kos 1994) und die Herausgabe des "Rot-Weiß-Rot-Buches" durch die Regierung im Jahre 1946, das die Argumentationsstrategie der Opfertheorie mit "amtlichen Quellen" untermauern und die Bedeutung des österreichischen Widerstandes dokumentieren sollte. Im Kapitel "Die Österreicher und der Krieg" wurde zudem erklärt: "Die Einstellung der österreichischen Bevölkerung zum ,Hitlerkriege' war von allem Anfang ablehnend, sofern sie nicht von seinem Ausgange die einzige Möglichkeit einer Befreiung vom Nazijoche erhoffte" (Rot-Weiß-Rot-Buch 1946, 94 f.). Der Widerspruch zwischen dieser Auffassung und der historischen Realität, insbesondere hinsichtlich der Leugnung der breiten Zustimmung zum "Anschluss", der Identifikation mit der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und der Virulenz eines aggressiven Antisemitismus (Hanisch 2000, 11-25; Bukey 2001), brauchen nicht näher erläutert zu werden. Bereits beim Rückgriff auf die Moskauer Deklaration handelte es sich um eine Instrumentalisierung, denn die Beschlüsse der Außenministerkonferenz waren nicht als Konzept für die österreichische Nachkriegsordnung, sondern als letztlich wenig wirksames Propagandainstrument zur Stärkung eines österreichischen Widerstandes gedacht, wie Robert H. Keyserlingk und Günter Bischof dargelegt haben (Keyserlingk 1988; Bischof 1999; 1993). Dennoch wurde die Berufung auf den völkerrechtlich begründeten Opferstatus zur zentralen Strategie in den Verhandlungen um den Staatsvertrag, wobei v.a. das "Österreicher, aber kein Österreich"-Argument vertreten wurde: Da es keinen Staat und keine österreichische Regierung gegeben habe, bestehe auch keine Mitverantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes. In der Frage der Kriegsteilnahme wurde der Standpunkt vertreten, dass die Österreicher ebenso wie die Bewohner anderer besetzter Gebiete gezwungen worden seien, in der "verhaßten Kriegsmaschine zu dienen" (Csáky 1980, 130). Bekanntlich ist es der österreichischen Regierung mit dieser Argumentation gelungen, noch in der letzten Verhandlungsrunde die Streichung der "Mitverantwortungsklausel" zu erreichen (Stourzh 1985, 167). Obwohl mit dem Abschluss des Staatsvertrages die "geschichtliche Fiktion" ihre pragmatische Rechtfertigung verloren hatte (Johnson 1987, 50), beruhte die offizielle Selbstdarstellung weiterhin auf dem Opfermythos, er hat letztlich bis zur Waldheim-Diskussion erfolgreich ein weitgehend unhinterfragtes, positives Image Österreichs im Ausland geprägt. Die internationale Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die BRD, die als Nachfolgestaat des Dritten Reiches für die Folgen des Holocaust haftete und ihre demokratischen Lernprozesse in einer kritischen Öffentlichkeit unter Beweis stellen musste (Bergmann/Erb/Lichtblau 1995). Österreich präsentierte sich hingegen als "erstes Opfer", als "besetztes Land", ungeachtet des hohen Anteils österreichischer NationalsozialistInnen - 1942 waren rund 688.000 Personen bzw. 8,2 Prozent der Gesamtbevölkerung Mitglieder der NSDAP (Botz 1986; Safrian 1989, 47 ff.) -, der Vertreibung von rund 120.000 und der Ermordung von rund 65.000 österreichischen Juden, und ungeachtet der führenden Rolle von Österreichern innerhalb des nazistischen Besatzungs- und Terrorapparats: Ernst Kaltenbrunner, ab 1943 "zweiter Mann" des SS-Apparats nach Himmler, Adolf Eichmann und eine ganze Reihe von aus Österreich stammenden Organisatoren der "Endlösung" - wie Odilo Globocnik, verantwortlich für die "Aktion Reinhard" (1,9 bis 2,2 Millionen jüdische Opfer) und , Kommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka (Botz 1986, 28; Black 1991; Sereny 1997) - sie wurden als Deutsche, nicht als Österreicher wahrgenommen. Die Verhaftung und Verurteilung Adolf Eichmanns (1961) war ein Schlüsselereignis für die deutsche Aufarbeitung der Vergangenheit (Lamm 1961; Steinbach 1981, 52f.) und der Anstoß für die öffentlich vielbeachtete strafrechtliche Verfolgung von SS-Verbrechen vor bundesdeutschen Gerichten (Auschwitz-Prozesse); in Österreich führten ähnliche Verfahren, oft unter Verhöhnung der Belastungszeugen, zu skandalösen Freisprüchen (Tramontana 1979; Wiesenthal 1967; Grabitz 1994). Die Opfertheorie beschränkte sich aber nicht auf eine Politik der Symbole, sondern hat auch die konkreten Maßnahmen im Umgang mit Opfern und Tätern, vor allem im Hinblick auf die Entschädigungs- und Wiedergutmachungspolitik sowie auch die Entnazifizierungsmaßnahmen geprägt. Während die Entnazifizierung nach einer kurzen Phase der rigorosen Säuberung von Entlastungsbemühungen und Integrationsmaßnahmen gegenüber den ehemaligen Nationalsozialisten (Blänsdorf 1987) geprägt war - bereits 1946 wurden rund 90 Prozent als "minderbelastet" eingestuft und in der Folge amnestiert -, wurde die Entschädigungspolitik gegenüber den jüdischen Opfern von den Abwehrstrategien der Opfertheorie bestimmt. Insbesondere in der Frage nach materiellen Wiedergutmachungsleistungen gelangte die rigide Auslegung des "Österreicher, aber kein Österreich"-Arguments zu Anwendung. Als die Jewish Claims Conference nach Abschluss des Abkommens mit der BRD, wo 1953 das Bundesentschädigungsgesetz beschlossen worden war, ähnliche Forderungen an Österreich richtete, zog sich die Regierung auf den Standpunkt zurück, Österreich sei als ein von den Deutschen besetztes Land staatsrechtlich nicht zu Leistungen verpflichtet und trage auch keine moralische Verantwortung, da die Verbrechen von den Deutschen begangen worden wären. Den Mitgliedern des Committee for Jewish Claims on Austria wurde erklärt, "alle Leiden der Juden während dieser Zeit wurden ihnen von den Deutschen und nicht von den Österreichern zugefügt; Österreich trage an allen diesen bösen Dingen keine Schuld, und wo keine Schuld, da keine Verpflichtung zu einer Wiedergutmachung" (Jellinek 1967, 398). Erst auf Druck der Weltöffentlichkeit und des Alliierten Rates fand sich die Regierung schließlich zu Leistungen bereit, ohne jedoch das Prinzip der Verantwortlichkeit anzuerkennen 36

(Bailer 1993, 77-98). Dass dem Rückzug auf staatsrechtliche Standpunkte in der Entschädigungsfrage durchaus auch antisemitische Konnotationen zugrunde lagen, geht aus Robert Knights Veröffentlichung der diesbezüglichen Unterredungen im Ministerrat hervor (Knight 2000). Es ist insbesondere die Anwendung des Opferarguments zur Verweigerung von Entschädigungs- und Wiedergutmachungsmaßnahmen für die eigentlichen Opfer nationalsozialistischer Verfolgung - den österreichischen Juden, aber auch von Sinti und Roma und anderen Opfergruppen (Homosexuelle, "Asoziale", Kriegsdienstverweigerer) -, an der sich bis in die jüngste Zeit Kritik entzündet. Im Hinblick auf Antisemitismus und die Diskriminierung dieser Opfergruppen war 1945 keine "Stunde Null", wie aus zahlreichen Forschungsarbeiten der letzten Jahre hervorgeht (Knight 2000; Rathkolb 1989; Embacher 1995). Dieser Befund korreliert mit der Verweigerung, die Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Vernichtungspolitik in die Gedächtniskultur aufzunehmen - der Holocaust war bis in die 1980er Jahre die "Schweigestelle" (Mitten 1992b) im Geschichtsverständnis der Zweiten Republik. Dennoch hat die Position der Opfertheorie - obwohl oder weil ihre Geschichtsdarstellung so wenig mit der historischen Wahrheit und den Erfahrungen der überwiegenden Mehrzahl der ÖsterreicherInnen zu tun hatte - bis in die 1980er Jahre den offiziellen Umgang mit der NS-Zeit weitgehend geprägt. Österreich betrachtete die Jahre der NS-Herrschaft als Teil der deutschen, nicht der eigenen Vergangenheit. Anders als in der BRD, wo die NS-Zeit als negatives Bezugsereignis "normativ internalisiert" wurde, wurde der Nationalsozialismus in Österreich als außerhalb der eigenen Geschichte stehende Phase der Fremdherrschaft "externalisiert" (M. Rainer Lepsius), er wurde als etwas von außen Kommendes betrachtet, für das Österreich keine Verantwortung zu tragen hätte (Lepsius 1989). Dasselbe gilt für den Zweiten Weltkrieg: In einem historischen Standardwerk, der "Geschichte Österreichs" von Ernst Joseph Görlich und Felix Romanik, wurde dazu bemerkt: "Der Zweite Weltkrieg gehört zur Weltgeschichte, nicht aber zur eigentlich österreichischen Überlieferung. Er war kein österreichischer Krieg; Österreich hat als Staat an ihm nicht teilgenommen" (Görlich/Romanik 1970, 551).

Das Gefallenengedenken als Antithese zur Opfertheorie

Die Argumentation im Sinn der Opferthese, wie sie bisher geschildert wurde, beschreibt jedoch nur eine Seite der österreichischen Geschichtspolitik, nämlich die offizielle Selbstdarstellung, vor allem im außenpolitischen Bereich, aber auch in den Schulbüchern (Utgaard 1997) und anderen offiziösen Publikationen. Auf innenpolitischer Ebene lässt sich jedoch bereits wenige Jahre nach Kriegsende eine veränderte Haltung feststellen, die sich im Zusammenhang mit der Konsolidierung der politischen Situation in der Nachkriegszeit herausgebildet hat. Neben der zunehmenden Entspannung im Verhältnis v.a. zu den Westalliierten wirkte sich auch die Eskalation des Kalten Krieges (Bischof 1999; Schmidl 2000) integrativ aus - mit Antikommunismus und dem Feindbild Sowjetunion konnten sich auch ehemalige NationalsozialistInnen identifizieren. Eine Neuorientierung der Geschichtspolitik erfolgte jedoch vor allem im Kontext der Integrationspolitik gegenüber den ehemaligen NationalsozialistInnen, insbesondere im Hinblick auf die Wahlen des Jahres 1949, als die "Minderbelasteten" wieder wahlberechtigt waren und das "würdelose Buhlen um die Stimmen der Ehemaligen" (Rudolf Neck) seinen Höhepunkt erreichte (Blänsdorf 1987, 11). Je stärker sich die beiden Großparteien um dieses Stimmenpotential bemühten, auf umso größere Distanz gingen sie zu den WiderstandskämpferInnen und Opfern des Faschismus - auch in den eigenen Reihen. Der Sozialist Josef Hindels hat kurz vor seinem Tod berichtet, dass ehemalige KZ-Häftlinge damals von prominenten Politikern aufgefordert wurden, "nicht mehr von den Greueln in den Konzentrationslagern zu reden, weil das die Leute nicht mehr hören wollen" (Hindels 1987, 22; vgl. Manoschek 1995a; Joskowicz 2000). In zeitlicher Übereinstimmung mit dem Werben um die ehemaligen NationalsozialistInnen lässt sich eine partielle Wende in der Geschichtspolitik feststellen, vor allem was die Beurteilung des Widerstandes und des Kriegsdienstes in der deutschen Wehrmacht betraf. Die Berufung auf den österreichischen Freiheitskampf, nach Kriegsende die von allen gesellschaftlichen Kräften getragene Legitimation des neuen Österreich, wandelte sich bereits wenige Jahre später auf innenpolitischer Ebene zu einem politisch etikettierten Geschichtsverständnis, das sich im Wesentlichen auf die Organisationen der Widerstandskämpfer, auf Teile der Sozialistischen Partei, vor allem aber auf die KPÖ beschränkte (Garscha/Kuretsidis-Haider 1993). Am deutlichsten sichtbar werden diese Veränderungen in der Denkmallandschaft (Gärtner/Rosenberger 1991; Uhl 1994; 2000a; 2001; Menkovic 1999; Perz 2001): Während Widerstandsdenkmäler außerhalb Wiens kaum noch politisch durchsetzbar waren - Denkmäler für die "Opfer des Faschismus" galten Mitte der 1950er Jahre als Instrumente "kommunistischer Propaganda", wie Gustav Canaval 1954 in den Salzburger Nachrichten ausführte 5 - setzte um 1950 eine breite Bewegung für die Errichtung von Gefallenengedenkstätten ein. Diese Erinnerungskultur wurde zunächst durchaus nicht als selbstverständlich, sondern als Paradigmenwechsel im Umgang mit der NS-Zeit und zugleich - im Hinblick auf die Beurteilung des Widerstandes - als Antithese zum Geschichtsbild des Opfertheorie gesehen. "Von nun an", hieß es in einem Zeitungskommentar zum Totengedenken aus dem Jahr 1949, werden die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs "auch im Gedächtnis unseres Volkes einen Ehrenplatz einnehmen", und zwar nicht als Opfer des Krieges - "es ist nicht wahr, daß all die Hunderttausende nur durch ein raffiniertes System in den Tod getrieben" wurden -, sondern als "Helden der Pflichterfüllung und der Tapferkeit". 6 37

Die in dieser Phase errichteten Kriegerdenkmäler sind nicht nur als Erinnerungszeichen für die Gefallenen, sondern ebenso als öffentliches Bekenntnis zu den Soldaten und damit als Zeichen für die Rehabilitierung auch der überlebenden Kriegsteilnehmer zu betrachten. Ab 1949/50 entwickelte sich diese Denkmalkategorie gewissermaßen zur Norm kollektiven Erinnerns, in den 1950er Jahren wurde in nahezu jeder Gemeinde ein Kriegerdenkmal geschaffen bzw. das Gefallenendenkmal des Ersten Weltkriegs erweitert. Getragen wurde diese Denkmalbewegung vom Kameradschaftsbund (bzw. seinen Vorläuferorganisationen), einer Veteranenvereinigung, in der sich Soldaten des Ersten und des Zweiten Weltkrieges zusammenschlossen und die sich die "positive Imagebildung über den Soldaten des Zweiten Weltkriegs" zur Aufgabe machte. 7 Die Unterstützung, die dieses Anliegen in der Öffentlichkeit fand, wurde in den Denkmälern sichtbar gemacht; sie brachten zum Ausdruck, "daß sich die Heimat durch die Erneuerung und Neugestaltung von Kriegerdenkmälern wieder zu ihren im härtesten Kampf gefallenen Söhnen bekennt", wie anlässlich der Weihe des ersten Grazer Kriegerdenkmals im Jahr 1951 konstatiert wurde. 8 Die Kameradschaftsvereine begrüßten diese "große Wendung" in der Einstellung zum Kriegsdienst: "Während 1945 und später der Soldat in jeder erdenklichen Weise diffamiert wurde, soldatische Pflichterfüllung als Verbrechen, Desertion und Mord an den eigenen Kameraden jedoch als Heldentat gewertet wurde, hat sich nunmehr in Österreich eine gesunde Auffassung durchgesetzt". 9 Politiker aller Parteien setzten sich in dieser Phase - durchaus auch aus wahltaktischen Gründen - öffentlich für eine volle Ehrenrettung der Wehrmachtssoldaten ein. In öffentlichen Gedenkfeiern, Denkmalweihen und Erklärungen würdigten führende Landespolitiker, aber auch Vertreter der Bundesregierung die Gefallenen als Soldaten, "die unser Vaterland im Kampf schützten" und bereit waren "unter Einsatz ihres Lebens ihre Pflicht zu erfüllen", wie etwa der steirische Landeshauptmann Josef Krainer bei der Enthüllung des Ehren- und Mahnmales der Landeshauptstadt Graz im Jahr 1961 ausführte (Uhl 2000b). Zur selben Zeit, als in den Bundesländern Landesehrenmäler für die Gefallenen zur Errichtung kamen, wie die Gedenkstätte am Kärntner Ulrichsberg (Sima 2001), wurden Denkmäler zur Erinnerung an die Opfer der Judenvernichtung zerstört, so das Denkmal am KZ-Friedhof von Ebensee und die Grabstätte für jüdische KZ- Häftlinge in St. Florian (Seiler 1997). Im Jahr 1955 wurde auch die im Mai 1946 enthüllte Erinnerungstafel für den Widerstandskämpfer Franz Mair am Innsbrucker Landhaus auf Beschluss der Tiroler Landesregierung wegen ihrer offenkundig Anstoß erregenden Textierung entfernt und durch eine neue ersetzt, die auf die Umstände des Todes nur sehr vage einging. Während der ursprüngliche Text den Wortlaut trug "Nach siebenjähriger Unterdrückung wurde an diesem Hause die Fahne Österreichs gehisst. Am 1., 2. und 3. Mai kämpften hier Männer des österreichischen Widerstandes für die Freiheit Tirols. Im Kampf um das Landhaus fiel Professor Franz Mair", so lautete die neue, zudem nur schwer lesbare Inschrift: "Vor diesem Haus fiel im Mai 1945 Professor Dr. Franz Mair im Kampf um die Freiheit Tirols". Begründet wurde die Abnahme der Gedenktafel damit, dass sich deutsche Touristen über den Text beschwert hätten; im katholischen Volksboten wurde allerdings die Vermutung geäußert, dass sich der Einfluss ehemaliger Nationalsozialisten geltend gemacht habe. 10 Die Tafel musste allerdings nach Protesten von katholischer Seite wieder angebracht werden. Resümierend - und vereinfachend - lassen sich die widersprüchlichen Narrationen, die das "österreichische Gedächtnis" in den ersten Nachkriegsjahrzehnten bestimmten11 , folgendermaßen charakterisieren: Seit dem Beginn der 1950er Jahre bildete sich jenes widersprüchliche Geschichtsverständnis, jener "double speak" heraus, durch den die spezifisch österreichische Geschichtspolitik charakterisiert ist: Nach außen stellte sich Österreich als erstes Opfer und - mit Hinweis auf den österreichischen Widerstand - als antinazistischer Staat dar. In Österreich selbst wurde die Erinnerung an den Widerstand, vor allem aber an die Verbrechen des NS-Regimes marginalisiert oder als "kommunistisch" diffamiert. Während bei den Verhandlungen um den Staatsvertrag die Forderung nach Streichung der Mitschuld-Klausel erhoben wurde, mit der Begründung, dass die Österreicher ebenso wie die Angehörigen anderer besetzter Gebiete gezwungen worden waren, "in der verhassten Kriegsmaschine zu dienen", sprachen österreichische Politiker bei Kriegerdenkmalenthüllungen den ehemaligen Wehrmachtssoldaten ihren Dank für die Pflichterfüllung und Opferbereitschaft bei der Verteidigung der Heimat aus. Wenn aber die Frage nach der Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes gestellt wurde - wie bei den Forderungen nach materieller Entschädigung für jüdische NS-Opfer -, entzog man sich unter Hinweis auf die Rechtsposition der Opfertheorie, wonach seit März 1938 kein österreichischer Staat und keine österreichische Regierung bestanden hätten.

Widersprüchliche Gedächtniskulturen

Mitte der 1960er Jahre lässt sich auch in Österreich im Kontext einer gesellschaftlichen Aufbruchssituation eine partielle Transformation des Geschichtsbewusstsein feststellen. Mit dem Generationenwechsel wurde in beiden Großparteien begonnen, neue Modelle von Politik zu entwickeln. Die Grenzen zwischen den politischen Lagern wurden durchlässiger, "Modernisierung" und "Demokratisierung" wurden zu den Schlagworten einer Reformphase, die innenpolitisch durch das Ende der Großen Koalition und die zunächst konservative (1966), seit 1970 sozialistische Alleinregierung ("Ära Kreisky") geprägt war. Die zunehmende Festigung eines Österreichbewusstseins kam im einstimmigen Beschluss des Nationalrates, den 26. Oktober zum Nationalfeiertag zu erklären, zum Ausdruck, wobei diese Aktivitäten vor allem bei deutschnational orientierten Gruppierungen bzw. der 38

FPÖ auf Ablehnung stießen (Spann 1986); die Politisierung vor allem der studentischen Jugend und das Entstehen eines neuen Typs von kritischem Journalismus trugen ebenfalls dazu bei, die Rahmenbedingungen des Geschichtsbewusstseins langfristig zu verändern (Hanisch 1994, 456 f.). Im Umfeld der Affäre um Taras Borodajkewycz - die Debatten um deutschnationale und antisemitische Äußerungen des Professors an der Wiener Hochschule für Welthandel lösten Demonstrationen von AnhängerInnen und GegnerInnen aus, bei denen Anfang April 1965 ein Demonstrant, der ehemalige kommunistische Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger, getötet wurde (Kasemir 1995) - begannen sich auch in den Gedächtnisdiskursen Wandlungsprozesse abzuzeichnen. Am 20. Jahrestag der österreichischen Unabhängigkeitserklärung im April 1965 wurde im Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg ein Weiheraum für den österreichischen Freiheitskampf seiner Bestimmung übergeben, das erste staatliche, von der Republik Österreich errichtete Widerstandsdenkmal (Uhl 2001). In den politischen Erklärungen zu diesem Jahrestag finden sich deutliche Worte der Abgrenzung gegenüber einer Verharmlosung des Nationalsozialismus, mit hervorgerufen durch den Schock über das erste Opfer politischer Auseinandersetzungen in der Zweiten Republik.12 In seiner vielbeachteten Rede bei der gemeinsamen Festsitzung von Nationalrat und Bundesrat im Parlament versicherte Nationalratspräsident Alfred Maleta (ÖVP), "wir lassen uns das Haus, das wir gebaut haben, nicht in Brand stecken". Maleta bekannte sich zur "Einbeziehung der ehemaligen Nationalsozialisten in die demokratische Gemeinschaft", erklärte aber unmissverständlich: "Wir pardonierten Menschen, aber wir akzeptierten nicht das Geschichtsbild der nationalsozialistischen Vergangenheit".13 Der Gedenkraum für die "Opfer im Kampfe für Österreichs Freiheit" (so die Inschrift) befindet sich in unmittelbarer Nähe zum 1934 geweihten Heldendenkmal des Ständestaates für die militärischen Opfer des Ersten Weltkriegs, das nach 1945 auch den Gefallenen des Zweiten Weltkriegs gewidmet wurde. Bei seiner Übergabe legten Vertreter von SPÖ und ÖVP ein einmütiges Bekenntnis zum Widerstand als historische Legitimation der Zweiten Republik ab, damit wurde den politischen Opfern des NS-Regimes erstmals die gleiche offizielle Ehrung zuteil wie den gefallenen Wehrmachtssoldaten. Als Zeichensetzung des offiziellen Österreich markiert diese Gedenkstätte das Ende jener Phase, in der die Formulierung des Geschichtsbildes auch auf bundespolitischer Ebene weitestgehend vom Entgegenkommen gegenüber den ehemaligen Nationalsozialisten geprägt war, und die Erneuerung des Konsenses der politischen Eliten beider Großparteien (auf der Ebene der dabei eingebundenen Verbände der politisch Verfolgten auch unter Einbeziehung der KPÖ) über das Geschichtsverständnis der Opfertheorie. Die Gedenkstätte war ein sichtbares Zeichen dafür, dass sich das offizielle Österreich auf Bundesebene (in den politischen Kulturen der Bundesländer bestimmte die Tradition des Gefallenengedenkens vielfach bis Mitte der 1980er Jahre die Erinnerungskultur) nunmehr auf die Geschichtsauffassung des Freiheitskampfes verständigt hatte, zugleich wurden die beiden Paralleldenkmäler - auch durch separate Gedenkakte bei staatlichen Feierlichkeiten - zum Symbol für die getrennten Gedächtniskulturen und widersprüchlichen Geschichtserzählungen, die sich im Gedenken an den Freiheitskampf einerseits, an die gefallenen Wehrmachtssoldaten andererseits herausgebildet haben und die - vielfach bis heute - die öffentliche Erinnerungskultur strukturieren.

Die Erosion der Opferthese in der Waldheim-Debatte

Erst der Fall Waldheim hat Österreich mit seiner NS-Vergangenheit konfrontiert. Waldheims Bemerkung über die Pflichterfüllung - "Ich habe im Krieg nichts anderes getan als Hunderttausende andere Österreicher, nämlich meine Pflicht als Soldat erfüllt" (Neues Österreich o.J.) - machte schlagartig die Widersprüche der österreichischen Geschichtspolitik bewusst, vor allem in ihrem zentralen Gegensatz: der Beurteilung des Kriegsdienstes in der Deutschen Wehrmacht. Dieser Konflikt kann hier nicht ausführlicher erörtert werden (Born 1987; Wodak et al. 1990; Mitten 1992a, Gehler 1997), vielmehr sollen seine längerfristigen Auswirkungen diskutiert werden. Die Waldheim-Debatte hat den Bruch des traditionellen Geschichtsbildes ausgelöst und veränderte Sichtweisen auf die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs eröffnet, die vor allem in zwei Bereichen wirksam wurden: in der Geschichtswissenschaft, wo von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden kann, und im öffentlich-politischen Diskurs, der von einer neuen Sensibilität in der Beurteilung der NS-Vergangenheit bestimmt wird. In der Geschichtswissenschaft wurde erstmals die Frage nach der "Rolle Österreichs beim Zustandekommen und Funktionieren des Nationalsozialismus" (Botz 1987, 146) in den Mittelpunkt gerückt, während sich die Zeitgeschichtsforschung bislang im Hinblick auf den Zeitraum 1938-45 weitgehend auf Untersuchungen zum Thema "Widerstand und Verfolgung" konzentriert hatte (Botz 1990; Blänsdorf 1995). Seit der Bruchlinie 1986 hat sich das "Koordinatensystem der historischen Analyse" (Hanisch 1996, 38) verschoben, das Interesse vor allem einer jungen Generation von HistorikerInnen hat sich auf neue Fragestellungen gerichtet, vor allem auf jene Themen, die zu den "blinden Flecken" und "Tabus" des österreichischen Geschichtsverständnisses zählten. Zu nennen sind insbesondere: • die Ambivalenz des "Anschluss"-Geschehens, das sich eben nicht nur auf die militärische Besetzung "von außen" beschränkt, sondern auch als "eine Art Machtübernahme des Nationalsozialismus von innen her" (Botz 1989, 108 f.) zu sehen ist; 39

• der österreichische Anteil an den NS-Gewaltverbrechen (Freund/Perz 1988; Freund 1989; Manoschek 1995c), die Beteiligung von Österreichern an führender Stelle an der Judenvernichtung (Safrian 1995), aber auch der alltägliche Antisemitismus bei den Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung in den Märztagen des Jahres 1938 und während des Novemberpogroms 1938 (Safrian/Witek 1988; Schmid/Streibel 1990), weiters die "Arisierungen" sowie der Umgang mit den jüdischen Opfern und das unterschwellige Weiterleben antisemitischer Ressentiments nach 1945 (Knight 2000; Rathkolb 1989; Embacher 1995; Etzersdorfer 1995). Thematisiert wurde aber auch der nach wie vor konfliktträchtigste Diskussionspunkt: die Rolle der Wehrmacht, vor allem im "Vernichtungskrieg" gegen die Sowjetunion und auf dem Balkan (Manoschek 1999; Manoschek/Safrian 2000; Heer/Naumann 1995). Auch auf der Ebene des politischen Diskurses lassen die Aussagen von führenden Repräsentanten der Republik auf eine Erosion der Argumentation im Sinn der Opferthese bzw. auf deren Modifikation durch die "Mitverantwortungsthese" schließen, die sich von 1988 bis zum Ende der Großen Koalition als neuer Grundkonsens des offiziellen Österreich herauskristallisiert hat und die auch eine selbstkritische Distanz zum bisherigen Umgang mit der österreichischen Vergangenheit einschließt. Dieses Bekenntnis zu den "dunklen Seiten" der eigenen Vergangenheit geht davon aus, dass Österreich als Staat zwar zum "ersten Opfer" wurde, dass unter den ÖsterreicherInnen aber nicht nur Opfer, sondern auch Täter - "manche der ärgsten Schergen der NS-Diktatur", wie Bundespräsident Thomas Klestil 1994 vor der Knesset erklärte14 - zu finden sind. Die Anerkennung der Mitverantwortung geht davon aus, dass der Nationalsozialismus zur "eigenen" Geschichte gehört und dass die Zweite Republik eine zumindest moralische Verantwortung für den österreichischen Anteil an den Verbrechen des Nationalsozialismus und an der Ermordung und Vertreibung der jüdischen BürgerInnen trägt. Dieses Eingeständnis und die damit verbundene Entschuldigung bei den Opfern zählt zu den wesentlichen Elementen dieses Konsenses, der am deutlichsten im sozialdemokratischen Diskurs, aber auch vonseiten der Kirche artikuliert wird. In Antithese dazu steht - sieht man von rechtsextremen Gruppierungen ab - vor allem die Geschichtspolitik der FPÖ, wie aus den Aussagen Jörg Haiders bei einer Gedenkfeier ehemaliger Wehrmachtssoldaten am Kärntner Ulrichsberg im Jahr 1990 ("Eure Opfer werden in den nächsten Jahren in das richtige Licht gerückt werden, weil an der Gesamtentwicklung dieses Europa deutlich gemacht wird, dass die Grundlage für Frieden und Freiheit von Euch gelegt wurde", zit. n. Czernin 2000) und bei einem Treffen ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS in Krumpendorf im Jahr 1995 hervorgeht (Czernin 2000, 46-48; Bailer-Galanda 1995; Scharsach/Kuch 2000). Anlässlich des "Anschluss"-Gedenkens im März 1988 erfolgte erstmals eine Entschuldigung "der Republik Österreich für von Österreichern begangene Verbrechen des Nationalsozialismus" (Zitat aus der Fernsehansprache von Bundespräsident Waldheim15 ), seither ist die Forderung, "vor unserer Geschichte in Wahrheit zu leben, mit ihren hellen wie mit ihren dunklen Stunden" (so Bundespräsident Klestil in seiner Antrittsrede)16 in zahlreichen politischen Erklärungen zum Ausdruck gebracht worden - zu nennen ist vor allem das Bekenntnis zur "Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben" in der Erklärung von Bundeskanzler Vranitzky vor dem Nationalrat am 8. Juli 1991 (zit. n. Botz/Sprengnagel 1994, 575 f.), ähnliche Aussagen erfolgten bei den Staatsbesuchen des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers in Israel. Wie Umfragen zeigen, wurden diese Äußerungen mit großer Zustimmung aufgenommen: Der Aussage von Bundeskanzler Vranitzky in Jerusalem (1993), Österreich trage kollektive Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus, stimmten 81 Prozent der Befragten ganz oder teilweise zu, nur 17 Prozent äußerten sich ablehnend.17 Auch bei den Gedenkfeiern zur 50. Wiederkehr des Kriegsendes gedachte das offizielle Österreich im ehemaligen KZ Mauthausen und im Parlament vor allem auch der Opfer des Nationalsozialismus. In diesem Rahmen wurden zudem konkrete Maßnahmen materieller Wiedergutmachung getroffen: 1995 erfolgte die Einrichtung eines "Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus", der auch als "Geste der Entschuldigung, des Trosts und des Respekts" (Nationalratspräsident Heinz Fischer) aufgefasst werden sollte.18 Im Herbst 1998 wurde eine Historikerkommission eingesetzt, mit dem Auftrag, den Vermögensentzug auf dem Gebiet der Republik Österreich während der NS-Zeit sowie Rückstellungen bzw. Entschädigungen seit 1945 zu untersuchen.19 In den 1990er Jahren fanden diese neuen Sichtweisen der NS-Vergangenheit auch in Zeichensetzungen des kulturellen Gedächtnisses ihre symbolische Repräsentation. Im November 1997 wurde aufgrund einer gemeinsamen Initiative der drei Präsidenten und der fünf Klubobleute des Nationalrates beschlossen, als "deutliches Zeichen" im Hinblick auf das "Europäische Jahr gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" einen NS-Opfer-Gedenktag am 5. Mai, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen, einzurichten.20 Die Errichtung des Holocaust- Denkmals am Wiener Judenplatz (Wiesenthal 2000) und andere lokale Denkmalinitiativen für Opfer des NS- Regimes, viele davon der Erinnerung an jüdische NS-Opfer gewidmet, sowie Aktivitäten wie die Neuerrichtung der Grazer Synagoge (Sotill 2001) verweisen darauf, dass sich die "Mitverantwortungsthese" nicht auf das offizielle Österreich bzw. auf Wien beschränkt, sondern auch in kleineren Kommunen politisch mehrheitsfähig geworden ist. Mit den Wahlen vom Oktober 1999, in denen die FPÖ zweitstärkste politische Kraft wurde, bzw. seit der Bildung der Koalitionsregierung von ÖVP und FPÖ im Februar 2000 steht die Frage des "offiziellen" Umgangs mit der Vergangenheit wieder im Kontext einer neuen Aktualität, denn mit der FPÖ wurde eine politische Kraft zur Regierungspartei, die ihre Geschichtspolitik als explizite Gegenposition zu der seit Ende der 1980er Jahre entwickelten Kultur des Erinnerns an die Verbrechen des Nationalsozialismus artikulierte. Das Agieren der neuen Regierung auf der symbolischen Ebene der Gedächtniskultur zeigt dabei durchaus widersprüchliche Bezugnahmen: 40

Während seitens der ÖVP eine bereits obsolet geglaubte Opfertheorie in der außenpolitischen Selbstdarstellung reaktiviert wurde - bereits vor dem breit diskutierten Interview des Bundeskanzlers in der Jerusalem Post hatte Außenministerin Benita Ferrero-Waldner im September 2000 im Rahmen der Auslandskulturtagung erklärt, dass "Hitler-Deutschland am 13. März 1938 Österreich militärisch überfallen und okkupiert hat"21 -, wurde in der von Bundespräsident Thomas Klestil geforderten Präambel zur Regierungserklärung der seit Ende der 1980er Jahre entwickelte selbstkritische Erinnerungsdiskurs unter die normativen Grundlagen des demokratiepolitischen Wertekanons gereiht: Die Verantwortung Österreichs "für die hellen und dunklen Seiten seiner Vergangenheit und die Taten aller Österreicher, gute wie böse", wurde darin ebenso festgeschrieben wie das Bekenntnis der Bundesregierung "zur kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit".22 Insofern gewannen die Verhandlungen um materielle "Wiedergutmachungen" (Forum politische Bildung 1999) für die neue Regierung einen wichtigen politischen Stellenwert. Die Einrichtung des sogenannten Versöhnungsfonds zur Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern (2000)23 und der erfolgreiche Abschluss des Vertrages hinsichtlich der Restitution "arisierten" Vermögens (2001)24 wurden auch zu einem geschichtspolitischen Signal der neuen Regierung im Hinblick auf die Bereinigung der bisherigen Versäumnisse in der Entschädigungspolitik. Parallel dazu verläuft seit der erwähnten Aussage des österreichischen Bundeskanzlers gegenüber Jeff Barak, dem Chefredakteur der Jerusalem Post, dass nicht nur "der souveräne österreichische Staat (...) das erste Opfer des Nazi- Regimes war", sondern dass auch "die Österreicher (...) das erste Opfer (waren)"25 , eine neuerliche Debatte um die offizielle Standortbestimmung gegenüber der NS-Vergangenheit, die bezeichnenderweise kaum die Beurteilung des "Anschluss"-Geschehens selbst zum Thema hat. In ihren Fokus rückte vielmehr die Frage des angemessenen Umgangs mit der NS-Vergangenheit, die nun unter verändertem Vorzeichen verläuft. Seit 1986/88 war die kritische Haltung zu den Verdrängungen und Tabuisierungen der NS-Zeit ein wichtiger Indikator für die rechts-links Positionierung, nun zeichnet sich eine Verschiebung der Konstellationen im "intellektuellen Feld" ab: Die Kritik richtete sich im Laufe der Debatte weniger auf die mangelnde Sensibilität der Schüssel-Aussage, die - im zeitlichen Kontext mit dem Gedenken an das Novemberpogrom in einer israelischen Zeitung veröffentlicht - als "Verhöhnung der jüdischen Leserschaft der Jerusalem Post empfunden (wurde)" (Rabinovici 2001), sondern zunehmend auf die Legitimität des seit 1986 entwickelten Diskurses der Kritik an der "unbewältigten Vergangenheit". So sieht der Publizist Karl Markus Gauß darin eine "Täter"-These wirksam werden, die sich nun als Umkehrung der Opferthese präsentiere, den RepräsentantInnen dieses "anderen Österreich" wirft Gauß "Konformismus", "kritische Attitude" und "marktgängige Inszenierung" vor (Gauß 2000). Was sich in dieser Debatte abzeichnet, ist die Etablierung einer "Antithese" zur gesellschaftskritischen Thematisierung des "österreichischen Gedächtnisses", wobei Argumentationsmuster, die bislang in der Regel einem "rechten" Diskurssegment zuzuordnen waren - etwa die zynische Abqualifizierung von "Vergangenheitsbewältigung" - nun von Intellektuellen vertreten werden, die (ehemals) eher dem linksliberalen Milieu zugehörig waren. Die Ursachen dafür sind nicht nur in der Persönlichkeitsstruktur bzw. in einem generationsspezifisch geprägten Habitus (etwa des "Widerstands" gegen die etablierte Meinung) zu sehen, sondern wohl auch von Strategien der öffentlichkeitswirksamen Inszenierung im intellektuellen Feld bestimmt - zu denen nach Pierre Bourdieu in erster Linie die Häresie gegenüber dem etablierten mainstream zählt (Bourdieu 1993) -, nicht zuletzt von der Konkurrenz um die knappe Ressource "Aufmerksamkeit". Zu den erfolgreichsten Vertretern der neuen "dissidenten Stimmen" (Fleischhacker 2001) im intellektuellen Feld zählt - neben Konrad Paul Liessmann - Rudolf Burger, der bereits im Frühjahr 2000 einen viel beachteten Artikel im Merkur publiziert hatte, in dem er die "Aufarbeitung der Vergangenheit" als mittlerweile abgeschlossenes Projekt bezeichnete, das in der Gegenwart seine Legitimität verloren habe, vielmehr kontraproduktiv geworden sei, und den VerfechterInnen politisch-historischer Aufklärung die "Sekundärausbeutung der einstigen Opfer" vorwarf (Burger 2000, 393). Die noch laufende Debatte, die vor allem in den Feuilletons der Tages- und Wochenpresse geführt wird, kann auch als Konkurrenz um die Hegemonie im intellektuellen Feld gelesen werden; was in diesem Rahmen zweifellos entwickelt wird, ist ein argumentatives Instrumentarium, das auf eine tendenzielle Entlegitimierung von Kritik am Umgang mit der NS-Vergangenheit gerichtet ist (und damit auf einen Kernbestand eines liberal-regierungskritischen Diskurses), die nun von einem sich selbst als Avantgarde verstehenden Intellektuellenkreis mit den Konnotationen von Zynismus oder aber andererseits von "Gutmenschentum" und Moralismus versehen wird. Welche Ausformungen das offizielle "österreichische Gedächtnis" in den Ritualen und Symbolen der Gedächtniskultur einer Koalitionsregierung der ÖVP mit der FPÖ, einer "rechtspopulistischen Partei mit radikalen Elementen"26 , gewinnen wird, ist noch nicht klar zu erkennen. Die Reaktionen auf den "Systemwechsel" in Österreich, die Argumentation der in- und ausländischen Kritik und nicht zuletzt die skizzierte Entwicklung von neuen Positionen im intellektuellen Feld, die sich selbst vorrangig durch die Abgrenzung von der "Aufarbeitung der Vergangenheit" definieren, zeigen Österreich als ein exemplarisches Fallbeispiel für die Relevanz, die die Erinnerung an den "Zivilisationsbruch Auschwitz" (Diner 1988) am Ende des 20. Jahrhunderts gewonnen hat.

ANMERKUNGEN 1 Vgl. Kanzler: Österreich erstes NS-Opfer, in: Der Standard, 10.11.2000, 10. 2 Diese Fragestellung kennzeichnet die Ausgangsthesen des interdisziplinären Forschungsprojekts "Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Interdisziplinäre Forschungen zur österreichischen 41

Gedächtnisgeschichte in der Zweiten Republik", gefördert im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Forschungsschwerpunktes des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, und Kultur (Wien), in dessen Kontext dieser Beitrag entstanden ist. 3 Mahnmal unerbittlicher Gerechtigkeit, in: Das Kleine Volksblatt, 21.8.1945, 1 f. 4 Proklamation vom 27. April 1945, in: Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich, 1. Mai 1945. 5 G(ustav) A(dolf) Canaval, Paulus und das geistige KZ, in: Salzburger Nachrichten, 27./28.3.1954. 6 Helden und Opfer. Totengedenken im vierten Jahr nach Kriegsende, in: Murtaler Zeitung, 29.10.1949, 3. 7 Zeitgemäße Aufgabenstellungen, in: Kleine Zeitung, 27.9.1977, 16. 8 Dem Andenken der Gefallenen, in: Kleine Zeitung, 5.6.1951, 4. 9 Ehrenrettung des Soldaten, in: Sonntagspost, 30.11.1952, 8 f. 10 Zit. n. Dem Fremdenverkehr geopfert, in: Der Volksbote, 30.11.1957, 5. 11 Weitere Differenzierungen wären vor allem auf synchroner Ebene im Hinblick auf die parteipolitisch segmentierten Geschichtsbilder zu treffen - wenn im Vor-Waldheim-Österreich von einem "Kampf um die Erinnerung" gesprochen werden kann, dann fokussierte er sich auf die Konflikte zwischen SPÖ und ÖVP in der Frage der Beurteilung der Ständestaat-Diktatur (Klamper 1997). - Diachrone Verschiebungen lassen sich zum einen an geschichtspolitisch akzentuierten Skandalen bzw. den davon ausgelösten öffentlichen Debatten verfolgen, aber auch an den unterschiedlichen Strategien politisch-historischer Aufklärung, etwa im Kontext der TV-Ausstrahlung von "Holocaust" (Wassermann 2000). 12 Das Vermächtnis der Toten - Aufruf an die Jugend, in: Volksblatt, 28.4.1965. 13 Maleta: Wir lieben dich, Vaterland!, in: Wiener Zeitung, 28.4.1965, 1 f. 14 Last der Geschichte, Chancen der Zukunft, in: Der Standard, 16.11.1994, 27. 15 Fernsehansprache des Bundespräsidenten Dr. Kurt Waldheim am 10. März 1988 anlässlich der 50. Wiederkehr der Besetzung Österreichs, zit. n. Jahrbuch der österreichischen Außenpolitik. Außenpolitischer Bericht 1988, Wien 1989, 459-462. 16 Ohne Geschichte auch keine Zukunft. Ansprache von Bundespräsident Thomas Klestil nach der Vereidigung, in: Wiener Zeitung, 9.7.1992. 17 Hohe Zustimmung für Vranitzky-Worte in Israel, in: Der Standard, 16.6.1993. 18 NS-Opferfonds konstituiert, in: Der Standard, 7.7.1995. 19 Siehe http://www.historikerkommission.gv.at. 20 Bundesrat beschließt Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus am 5. Mai. Parlamentskorrespondenz, Nr. 785, 20.11.1997. 21 Zit. n. Falsche Auslegung der Vergangenheit, in: Der Standard, 13.9.2000, 10. 22 Zit. n. dem Abdruck im "Weisenbericht". Der Weisenbericht im Wortlaut, in: Wiener Zeitung. Dokumentation, 12.9.2000, 27. 23 Am 7. Juli 2000 wurde mit den Stimmen aller im Parlament vertretenen Parteien das Versöhnungsfondsgesetz verabschiedet. Vgl. Bundesgesetzblatt I, Nr. 74/2000. 24 Vgl. Rede des Herrn Bundeskanzlers zum Thema "Restitution" im Parlament, 31.1.2001, http://www.austria.gv.at. 25 "Das erste Nazi-Opfer", in: Die Presse, 10.11.2000, 7. 26 So die Charakterisierung der FPÖ im "Weisenbericht". Der Weisenbericht im Wortlaut, in: Wiener Zeitung. Dokumentation, 12.9.2000, 28.

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AUTORIN Heidemarie UHL, geb.1956; Mag. Dr., Historikerin an der Abteilung Zeitgeschichte der Universität Graz im Rahmen von drittmittelfinanzierten Forschungsprojekten. 1994-2000 Mitarbeiterin des Spezialforschungsbereichs "Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900" an der Universität Graz; seit Januar 2000 Tätigkeit im Rahmen des Forschungsprogramms "Orte des Gedächtnisses" an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte (Leitung: Prof. Moritz Csáky). Aktuelle Publikationen: Heidemarie Uhl (Hg.): Kultur - Urbanität - Moderne. Differenzierungen der Moderne in Zentraleuropa um 1900, Wien 1999; Antje Senarclens de Grancy/Heidemarie Uhl (Hg.): Moderne als Konstruktion. Debatten, Diskurse, Positionen um 1900. Wien 2001; Heidemarie Uhl (Hg.): Steinernes Bewußtsein. Die öffentliche Repräsentation staatlicher und nationaler Identität Österreichs in seinen Denkmälern, Bd. 2. Wien, Köln, Weimar (erscheint im Sommer 2001). Adresse: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Postgasse 7/3, 1010 Wien e-mail: [email protected]

ÖZP - Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft

,,REVISIONISMUS" - PSEUDO- Beschonigung, Rechtfertigung oder Entkrirninalisierung des National- WISSENSCHAFTLICHE PROPAGANDA soziajisrnus fur personliche, vor allem aber politische Zweclie umzuschrei- DES RECHTSEXTREMISMUS bzw, durch Aufrechnung alliierter Grausamkeiten die Verbrechen des Nationalsozialism~~zu relativieren. Jeder Versuch dieser Art ist untrennbar mit den politischen Beinuhungen rechtsextremer bzw. neonazistischer Krei- Brigitte Bailer-Galanda se verbunden. Selbst Arbeiten von ursprunglich nicht rechtsextremen Autoren werden rasch vom Rechtsextremismus instrurnentalisiert. die Ver- fasser finden rneist bald den Weg in einschlagige Zirkel oder zumindest Der Begriff des ,,Revisionismusa deren ~rnfeld.~

Die Verbreitung nationalsozialistischer Ideen und Werthaltungen stiel3 nach Geschichte des ,,Revisionismus" 1945 nicht zuletzt auf die Schwierigkeit, daS diese untrennbar mit den Verbrechen des Nationalsozialisrnus verbunden waren. Zur Beseitigung Die Anf;inge des ,.Revisionismus" liegen nicht nur in den Kernlandern des dieses Stigmas entstanden schon in den ersten Nachkriegsjahren in West- ~~ti~~alsozialismu~,Deutschland und Osterreich, sondern in nicht ge- europa ~ublikationen,"ie das NS-Regime zu beschonigen versuchten und den Holocaust leugneten oder verharmlosten. In einer Selbstbezeichnung nennen sieh die Reprasentanten dieser zu einer internationalen Bewegung angewachsenen Spielart rechtsextremer Publizistik ,,Revisionisten". In der Fachliteratur uber den Rechtsextremisrnus wird der ,,Revisionismus" vielfach mit Holocaust-Leugnung gleichgesetzt4 bzw. vorgeschlagen, diesen Begriff anstelle des an sich verharmlosenden Ausdrucks ,,Revisionismus" zu verwenden. In der neuesten Literatur wird fur diese Form rechtsextremer

46 Tendenzgeschichtsschreibung der Begriff ,,Negationismus" eingefuhrt.' Beide Konzepte ubersehen jedoch, daS ,,revisionistische" Literatur ein weiteres Themenspektrum umfal3t als die Leugnung des national- sozialistischen Massenmords an den europaischen Juden. Die Holocaust- Leugnung kann nicht von den ubrigen Inhalten dieser Pseudogeschichts- schreibung getrennt werden. Daher verwendet das Dokumentationsarchiv des osterreichischen Widerstandes trotz der noch zu diskutierenden Pro- blematik der Verharmlosung in seinen Publikationen den Begriff des Computer-Bildschirtmchor~pro~rat~inrder NSI)AI'/AO, 1993 ,,Revisionismus", aber stets unter Anfiihrungszeichen gesetzt, um ihn von den sonst iiblichen Verwendungen des wortes6 abzuheben. Wir verstehen ringem AusmaS in Frankreich und den IJSA. In den USA betiehl sich der darunter alle Bemuhungen, Geschichte im Sinne einer Verharmlosung, Begriff des Revisionismus auf Bemiihungen der seriiisen Historiographic, nach Ende des Ersten Weltkriegs regierungsoffiziellen Darstellungen iiber die Rolle der Vereinigten Staaten wiihrend des Kriegs kritisch entgegen- 3 So veroffentlichte der Franzose Maurice Hardeche bereits 1947 und 1948 ,,revisioni- stische" Literatur. Siehe dazu: Anne Frank Stichting, The Extreme Right in Europe and zutreten. Damals schon vertrat der Zivilisationshistorilier Harry Elmer the United States. International Seminar November 1984, Amsterdam 1985, S. 18 f.: Barnes einen prononciert deutschfreundlichen Standpunkt. Bereits wahrend Dehorah E. Lipstadt, Betrifft: Leugnen des Holocaust, Zurich 1994, S. 72 ff. des Zweiten Weltkriegs wurde daraus eine deutlich pronazistische Haltung, 4 Siehe dazu beispielsweise: Lipstadt, S. 38 ff.; Shelly Shapiro (Hrsg.), Truth Prevails. k- rnolishing Holocaust-Denial: the end of ,,The Leuchter-Report". New York 1990, S. I. die er such nach Kriegsende beibehielt. Barnes wurde r~ichtzuletzt als I 5 Hellnluth Auerbach, .,Auschwitz-Luge" in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Legenden Liigen Betreuer des US-.,Revisionisten" David L. ~oggan~zu einer Art ,,Stam",- Vorurteile. Ein Worterbuch zur Zeitgeschichte, durchgesehene und env. Aufl. Miinchen 1992, S. 36 f.; Rainer FromdBarbara Kernbach, Europas braune Saat. Die internationale I Verflechtung der rechtsradikalen Szene, Bonn 1994. Beispie1 &fur ist Dipl. Ing. Walter ~ufti. i 6 Sishe dazu dm Beitrag von Wolfgang Benz. ,,R~visionisrnus'~in Deutschlmd, HOggan siehc den Reitrag von Wolfgang Benz sowie von Wilhelm Lasek, ..Revisio-

- 17 - vater" des amerikanischen ,,Revisionismus". Diese sich selbst als ,,Revisio- sung der deutschen Kriegsschuld und Verherrlichung brw. Entschuldigung nisten" bezeichnenden NS-Apologeten versuchten in den USA aus propa- nationalsozia]istischer Fuhrerpersonlichkeiten gekennzeichnet. Erst Ende gandistischen Grunden an die erwahnte geschichtswissenschaftliche Tra- der sechziger, Anfang der siebziger Jahre griff die neonazistisch-,,re- dition der zwanriger Jahre anzuknupfen und ihren Geschi~htsfalschun~e~ visionistische" ~~blizistikdas gegenwiirtige Zentralthema auf, die Leug- damit den Anschein von Seriositat zu verleihen. In Europa wurde diese .nung des ~01ocaust.l Selbstbezeichnung iibernommen, deren Traditionen im deutschsprachigen Aus der Geschichte des Nationalsozialismus wahlen die ,,Revisionisten" Raum Wolfgang Benz im vorliegenden Band erlautert. Mittlerweile ist sic jene gereiche, die am deutlichsten den kriminellen Charakter des Regimes im gesamten internationalen Netzwerk und Zitierkartell der NS-Apologetik verdeut]ichen und daher die schwerwiegendsten Hindernisse fur eine neuer- gebrauchlich geworden. lithe propagierung des nationalsozialistischen Gedankenguts darstellen Von diesen geographisch breit gestreuten Anfangen her hat sich in der aber am stkksten geeignet sind, innerhalb der deutschen und oster- Zwischenzeit eine offensichtlich gut funktionierende internationale KO- reichischen BeV6lkerung, vor allem der sogenannten ,,Kriegsgenerationg', operation zwischen Europa und ~berseeentwickelt, deren Zentren ver- Reaktionen von Schuld und Scham auszu~osen.'~Etwas vereinfacht kiinnen mutlich nicht zuletzt als Folge der dortigen Rechtslage in den USA und zwei grofle thematische Bereiche ,,revisionistischer" Geschichtsver- Kanada beheimatet sind. In den Vereinigten Staaten ubernimmt das ,,In- f;ilschungen festgestellt werden, die sich mit zum Teil unterschiedlicher stitute for Historical Review" mit seiner Zeitschrift ,,Journal of Historical Intention teilweise auch an ein unterschiedliches Publikum wenden. Review" die Rolle einer amerikanisch-europaischen Drehscheibe, in Kanada ist der aus Deutschland kommende Ernst Zundel publizistisch a) Kriegsschuld und Kriegsverbrechen hochst aktiv. Er versorgt von Toronto aus auch Deutschland und ~sterreich mit Publikationen sowie seit Iangerem auch mit einschlagigen Videopro- Der eine Bereich befaRt sich mit dem Themenkomplex des Zweiten Welt- d~ktionen.~ kriegs, wobei vor allem die Frage der Kriegsschuld (1939 und 1941) im Der Bereich des ,,Revisionismus" stellt nicht nur funktionierende Kontakt- Mittelpunkt steht. Die Verantwortung fur den Ausbruch des Zweiten Welt- schienen fur Apologeten des Nationalsozialismus dar, sondern ist daruber kriegs wird Polen bzw. GroBbritannien und seinen Verbiindeten angelastet. hinaus ein wesentliches Vehikel fur die Vermittlung von weltweiten Kon- Angeblich wke diesen Deutschland zu machtig geworden, worauf sie Polen 47 takten rechtsextremer und neonazistischer Organisationen. Einschlagige angestiftet hatten, den Krieg vom Zaum zu brechen. Eine in den letzten Kongresse werden bzw. wurden von Aktivisten der deutschen Neonazi- Jahren wieder stiirker belebte Spielart dieses Argumentationsstranges be- Szene ebenso besucht wie vom Organisator der NSDAP-A0 in den USA, hauptet, der Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 ware zur Abwehr Gary La~~ck,oder vom mittlerweile inhaftierten osterreichischen Fuhrer der eines sowjetischen Angriffs auf das Deutsche Reich erforderlich gewesen.l' ,.Volkstreuen AuBerparlamentarischen Opposition" (VAPO) Gottfried In diesem Kontext steht auch die Idealisierung fuhrender Nationalsozia- ~ussel.lo listen, wie z. B. des Stellvertreters des ,,Fuhrersu Rudolf HeB als angeb- lichen FriedensbringerI4 oder die Stilisierung des Kriegsverbrechers Walter Themen ,,revisionistischer" Geschichts(um)schreibungen Reder, verantwortlich fur den Massenmord an italienischen Zivilisten im Raum von Marzabotto, zu einem unschuldig inhaftierten ~artyrer.'~Nach Die Entwicklung des thematischen Spektrums des ,,Revisionismus" kam bis zum Ende der siebziger Jahre zu einem AbschluB. Seither haben zwar Me- I I thoden und Technik nochmals Veranderungen bzw. ,,VerfeinerungenS' er- Zur Entwicklung siehe neben Lipstadt auch Hermann Graml, Alte und neue Apologeten in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Rechtwxtremismus in Deutschland. Voraussetzungen. fahren, inhaltlich neue Bereiche jedoch wurden kaum mehr aufgegriffen. Zusammenhkge, Wirkungen, Frankfurt am Main 1994, S. 30-66, sowie den Reitrag von Die Anfange des ,,Revisionismus" waren vor allem von einer Verharmlo- Ben2 im vorliegrnden Band. l2 Siehe dazu u. a. Wolfgang Benz, Die Abwehr der Vergangenheit. Ein Problem nur fiir Hi- stOriker und Moralisten?, in: Dan Diner (Hrsg.), 1st der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Frankfurt am Main 1987. S. 17-33. nistische" Autoren und ihre Publikationen. l3 9 sogenannten ,,Pr3ventivschlagsthese" siehe den Beitrag von Gerd UeberschSr 9 Zu ZiindeI und dem ,.Institute for Historical Review" siehe den Beitrag von Wilhelm lm vorliegenden Band, Lasek, ,,Revisionistische" Autoren und ihre Publikationen. l4 2u HeR Brigitte Emmerer, HeR' Englandflug, in: Benz (Hrsg.), Legenden, S. 94 f. 10 Zu diesem Netzwerk siehe u. a. den ausgezeichneten Film von Michael Schmidt, Wahr- Zu. Redelsiehe: Dokumentationsarchiv des iisterreichischen Widerstandes (Hrsg.), Am heit macht frei, publiziert als: Heute gehort uns die StraDe. Der Inside-Report aus der 'elspiel Walter Reder. Die SS-Verbrechen in Marzabotto und ihre BewSltigung, Wien Neonazi-Szene. Diisseldorf-Wien-New York-Moskau 1993. 1985.

- 19- seiner Entlassung aus italienischer Haft verlor Reder deutlich an Bedeutung geht es der ,,~euenKronen Zeitung" um Lesermaximierung, wenn der ein- fur das rechtsextrerne Lager. Als in dsterreich lebender alter Mann war er schllgig bekannte Publizist lngomar Pust sich in sejnen Kolumnen der Ver- als Kultfigur nicht rnehr recht brauchbar. Der Mythos von HeB lebt hin- ueibung der Deutschen aus Osteuropa oder der Verherrlichung der Deut- gegen fort. Derzeit kolportieren rechtsextrerne Autoren entgegen den fest- schen wehrmacht annimmt.I9 gestellten Tatsachen, HeB sei irn Gefangnis von Spandau errnordet worden, Obschon die Situation der dsterreicher anders war als jene der Deutschen, Eine jener ,,revisionistischen" Verdrehungen, denen ubrigens der ehernals solche ~ntlastungsapologetik auch in bsterreich auf fruchtbaren seriose Faschisrnusforscher Ernst Nolte gewisse Glaubwurdigkeit nicht ab- Boden wird die Zwiespaltigkeit der Zweiten Republik deutlich. Das spricht.16 Auf diese Weise wertet Nolte rechtsextrerne Geschichtsschrei- offizielle &terreich begriff und begreift sich als erstes Opfer der national- bung auf und wurde daher in den letzten Jahren zu einern beliebten Alibi sozialistischen ~roberungspolitik und leitet aus seinem Untergang als und Aushangeschild des ,,Revisionismus". subjekt des V~lkerrechtsseine Unschuld an allen im Namen des Na- Wenn nationalsozialistische Kriegsverbrechen nicht ganzlich geleugnet tionalsozialismus begangenen Verbrechen ab, wahrend die Bundesrepublik werden, bernuhen sich ,,revisionistische" Autoren urn Verniedlichung, Ver- Deutschland such rein rechtlich gesehen die Nachfolge des Deutschen harmlosung oder aber Aufrechnung rnit Verbrechen anderer Regime ode1 Reiches antrat. Trotz dieser Abgrenzung dsterreichs blieben zahlreiche Staaten. So werden z. B. die alliierten Bombenangriffe auf deutsche Stadte, ehemalige Angehorige der Deutschen Wehrmacht deren Traditionen ver- insbesondere Dresden, angeprangert, so als ob die deutschen Taten weniger bunden und haben - uneingestandenermafien -- ein Bediirfnis nach Schuld- kriminell wiirden, wenn auch die Kriegsgegner unverhaltnismaBige MaB- und Rechtfertigung, woraus sich die Attraktivitat apologetischer nahmen ergriffen haben. &iegsdarstellungen fur diesen Personenkreis sowie deren Nachkommen Ausgehend von einern Buch des kanadischen Journalisten James Bacque, ableitet. Selbst fur die nachfolgenden Generationen gestaltet es sich schwie- behauptet eine neue Argurnentationslinie, in US-arnerikanischen Kriegsge- rig, sich den Taten der Vater und GroBvater zu ~tellen.~' fangenenlagern hatten die Verantwortlichen rund eine Million deutscher Kriegsgefangener absichtlich verhungern lassen. Obschon Bacque den b) Antijudische Verbrechen, Holocaust Beweis fiir seine Behauptungen schuldig bleibt und nur auf der Ebene Der zweite zentrale Themenbereich des ,,Revisionismus", nur in Teilaspek-

48 ungeklarter Statistiken operiert, wird sein Buch in rechtsextrernen Blattern sowie in Organen von Veteranenve,rbanden positiv besprochen und be- ten rnit dem ersten verzahnt, umfaBt die Verharmlosung oder L,eugnung der worben.17 an den Juden begangenen Verbrechen, insbesondere des Holocaust. In Eben diese Veteranenverbande wie der ,,dsterreichische Karneradschafts- diesem Bereich dominiert neben der Entlastungsfunktion von etwaigen bund" oder die ,,Kameradschaft 1V" (Vereinigung ehernaliger Waffen-SS- Scham- und Schuldgefuhlen die antisemitische Ausrichtung. Deutlich wird Angehoriger) sind Zielpublikurn der rnit der deutschen Kriegsfuhrung dies u. a. daran, daB wohl die Giftgasrnorde an den Juden, nicht jedoch die zusarnrnenhangenden Geschichtsklitterungen. Die Wirkung dieser Art der tausendfachen Morde an Behinderten und Geisteskranken bestritten wer- Verharrnlosungen weist aber weit uber den Personenkreis der ehemaligen den, die ebenfalls mittels Giftgas begangen wurden." Die Leugnung der Soldaten hinaus, wie es der Slogan der ,,Deutschen Na~ional-Zeitung" antijiidischen Gewaltverbrechen benutzt lange tradierte antisemitische Vor- verdeutlicht: ,,Unsere Vater waren keine Verbrecher". Die Entschuldigung und Entlastung der Kriegsgeneration sowie deren Nachkommen betreibt l9 Aus einer Vielzahl von Artikeln sei als Beispiel die Serie ijber die Vertreibung der gezielt auch der Obmann der Freiheitlichen, Jorg Haider, wenn er beim deutschen Minderheiten im MirdApril 1994 herausgegriffen. Pust ist auch Autor in Neujahrstreffen 1992 den ,,SchluR" der ,,Kriminalisierung der eigenen rechtsextremen Zeitschriften, wie z. B, der ,,Aula", und Verfasser einschlrgiger Biicher. Geschichte" forderte.18 Zielen die ,,FreiheitlichenU auf Stimmengewinne, 20 Vgl. Peter Sichrovsky, Schuldig geboren. Kinder aus Nazifamilren, KBln 1987; Nadine Hauer- NS-Trauma und kein Ende, in: Anton PelinkidErika Weinzierl (Hrsg.), Das groBe Tabu. ostemeichs Umgang rnit seiner Vcrgangenhcit, Wien 1987, S. 2841; Peter Malina, 16 Ernst Nolte, Streitpunkte. Heutige und kiinftige Kontroversen urn den Nationalsozialis- Erin"erung stat[ Entschuldigung. Fiir cine neue Ged2ch~niskultur,in: Dokumentations- mus, Frankfurt am Main 1993. des ostemeichischen Widerstandes (Hrsg.), Handbuch dcs oster~eichischenRechts- 17 Zu Bacque siehe: Rolf Steininger, Knegsgefangenschaft, In: Benz (Hrsg.), Legenden, S. extremismus, Wien 1993. S. 527-545, 21 Der 126 ff.; Hitler's Apologists: The Anti-Semitic Propaganda of Holocaust ,,Revisionism". Ernst Gauss (verrnutlich ein Decknarnc) ncnnt die Morde irn Kahrncn An Anti-Defamation League Publication, New York 1993. S. 49 ff. der "genannten .,Euthanasic"-Aktion unter den ,,weitgehend unstrittigcn Fragen des NS- 18 Neue Freie Zeitung, 15. 1. 1992. Zur Entlastungsfunk~ionderartiger Haider-Auftritte sie- Unrechts": Emst Gauss, Streitpunkt Judenvernichtung. Eine Einleilung, in: ders. (Hrsg.), hr: Harald Goldrnann/Hannes KralVKlaus Ottomeyer. Jorg Ii~iderund sein Publikurn Grund'agen zur Zeitgeschichte. Ein Handbuch ijber stnttige Fragen des 20. Jahrhunderts, Eine sozialpsychologische Studie, Klagenfi~rt!Celovec 1992. Tiibingen 1994, S. 25.

-21 - urteile als Argumentationshilfen und stellt insgesarnt eine neue F~~~ Trotzdem werden mit dieser angeblichen ,,jiidischen KriegserklCung" anti- antiseniitischer Artikulation dar." Da es tausende Dokumente, Zeugenaus- jyirche Mafinahmen des NS-Regimes, wie beispielsweise die Deportation sagen und andere Beweise fur die Tatsachlichkeit der nati~nalsozi~lj- der ~~d~~in ~onzentrationslager.von ..Revisionisten" und Rechtsextremen stischen Gewaltverbrechen gibt, setzt die ,,revisionistische" Leugnung zu- gerechtfertigt. Denn als ..Feindnation" des .,Dritten Reiches" hatten die rnindest iniplizit voraus, daB eine weltulnspannende Falscherfabrik bZw, ~~d~~ eben mit Internierung zu rechnen gehabt. Damit wird letztlich ,judische Weltverschworung" alle diese Beweise in ihrem Sinne ,,pro- behauptet, dafi die Juden ,,selbst schuld" gewesen seien an ihrern Schicksal duziert", Zeugen beeinflufit, TBtergestandnisse erpreRt hat und die inter- - cine Argumentation, die weit uber den Rechtsextremismus hinaus ver- nationalen Medien beherrscht. Denn anders kann wohl logisch nicht erklart breitet ist. so meinte beispielsweise in einer 1991 vorn Gallup-Institut werden, dal3 nur die ,,Revisionistenu im Besitze der ,,historischen Wahrheit" durchgef"hrten Studie die Halfte der Befragten, daB die Juden zumindest seien. Als Motive des ,,Weltjudenturns" werden die alten antisemitischen teilweise an ihrem Schicksal selbst schuld seien." Zentralen Stellenwert Stereotype der ,.Geldgierh'und des Ringens nach ,,WeltherrschaftL'genannt, innerha]b der ,,revisionistischen" Propaganda nimrnt seit den siebziger Der Holocaust sei nur erfunden worden, urn ,,auf ewig" von Deutschland Jahren die Leugnung der Massenmorde rnittels Giftgas ein, wobei sich die Wiedergutmachungsgeldrr erpressen und die Ileutschen selbst rnit Kol- .hgumentation vorwiegend auf die Verbrechen irn Konzentrations- und lektivschuldvorwiirfen unterdrucken zu konnen. Die Argumentation der vernichtungslager Auschwitz konzentriert. In Auschwitz bzw. Auschwitz- Holocaust-Leugner bedient sich also der Strategic der Opfer-Tater-Urnkehl, Birkenau wurden einerseits iiber einen langeren Zeitraurn als in anderen wie sie aus anderen Entlastungsdiskursen bekannt Ein klassisches .4r- Vernichtungsstatten Massenmorde veriibt, andererseits kehrten aus keinem gument dieser Art verbindet die Negierung von Kriegsschuld und Kriegs- Vernichtungslager vergleichsweise so viele ~berlebendezuriick, die von verbrechen mit der Leugnung der antijiidischen Gewaltverbrechen. Die den Vorgangen im Lager Zeugnis ablegen konnten. Beide Faktoren rniigen Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird in ,,revisionistischer" zur Zentralitat von Auschwitz beigetragen haben." Der Titel einer Bro- Sichtweise nicht nur den Westalliierten, in erster Linie GroBbritannien, schiire des in Danemark lebenden Alt- und Neonazis Thies Christophersen, sondern auch einer ,,Kriegserkl2ung des Weltjudentums" angelastet. Dabei ,,Die Auschwitz-Luge", wurde sogar zum Synonym fur die rechtsextreme handelte es sich um einen Bericht einer englischen Tageszeitung, die unter und neonazistische Leugnung des ~olocaust.~~Die Leugnung und Ver-

49 der ~berschrift,,Judea declares War on Germany" am 24. Marz 1933 ihre harmlosung der gegen Juden gerichteten nationalsozialistischen Gewalt- Leser ,,iiber Proteste und Androhungen von Boykottrnafinahnien englischer verbrechen beinhaltet knapp gefaBt folgende Argumentationslinien: und arnerikanischer Juden als Gegenreaktion gegen antijiidische Aktionen - die Leugnung der Absicht und PlanmaBigkeit der Ausrottung der der Nationalsozialisten" inforrnierte.'"eiters veriiffentlichte die britische Juden ausschlieBlich wegen deren behaupteter Rassezugehorigkeit; Zeitung ,,Times'' am 6. September 1939 einen mit 29. August 1939 datier- - die Leugnung des Gebrauchs und der Funktionsfahigkeit von Gas- ten Brief des Prisidenten des Zionistischen Weltkongresses und Leiters der kammern zur planmaBigen, industriell durchgefuhrten Ermordung der Jewish Agency for Palestine, Chaim Weizrnann, an den britischen Premier- Juden sowie Zweifel an der technischen Durchfiihrbarkeit der niassen- minister Neville Chamberlain, worin Weizrnann, wiederurn als Reaktion auf haften Leichen~erbrennung;~~ die antijudischen h4aBnahmen in Hitlerdeutschland, erklkte, daB irn Ko~i- - Zweifel an der Zahl der Opfer, die in imrner neuen Varianten vorge- fliktfall .,die Juden bei GroBbritannien stehen und an der Seite der Demo- bracht we~den.~' kratien kampfen werden". Die von Weizrnann vertretene zionistische Welt- organisation unifaBte 1939 ,,etwas iiber eine Million Juden (nur wenig mehr als 6 % der gesarnten judischen Bevolkerung auf der Welt) und nur einen 26 Osterreichisches Gallup-lnstitut/Dr. Karmasin Marktforschung, Fremdenfeindlichkeit und Bruchteil der darnals noch in Deutschland lebenden Glaubensjuden"'~ Antisemitismus. Prbentation der Ergebnisse einer international vcrgleichenden Keprh- sentativbefrapng in &te,eich an13Blich einer Pressekonferenz am 24. 10. 1991 im Presseclub Concordia. 22 Brigitte Hailer. Die sogenannte ,,Auschwitz-Liigc" - neue Ausdrucksfor~n fiir althcrgc- 27 Pierre Vidal-Naquet, Who are the Assassins of Memory'?. in: ders. (Ed.), WolOcau~t brachten Antisemitisrnm~s,in: [lie Macht der Bilder. Katalog zur gleichnamigen Ausstd- Denial in France. Analysis of a Unique Phenomenon, Limor Yagil. Tel Aviv University, lung in dcr Volkshallc des Wiener Rathauscs, erscheint Apr~l1995. Faculty of Humanities, o. J.. S. 10. 23 Ruth Wodnk u. a,. ,,Wir sind alle unschuldige Thter!" Diskurshistorische Studien zum 28 Zu Christo~hersensiehe den Beitrag van Wilhelrn Lasek, ,.Revisionistische" Autoren und Nachkriegsantisen~itismus,Frankfurt am Main 1990. ihre Publikationen. 24 Siehe: Hellmuth Auerbnch, ,,Kriegscrklhrungcn" der Juden an Deutsehland, in: Henz 29 Siehe den Beitrag van Josef Bailer irn vorliegenden Band. (Hrsg.), Legcnden, S. 1 I8 f. 30 Siehe dazu den Beitrag von Wolfgang Neugebauer, ,,Revisionistische" Manipulation der 25 Siche ebenda, S. 120 f. Zahl der H~locausto~fer,sowie Wolfgang Benr., Die ,,Auschwita-Liige", in: Rolf ,,REVISIONISMUS" - PSEUDO- Beschonigung, Rechtfertigung oder Entkrirninalisierung des National- WISSENSCHAFTLICHE PROPAGANDA soziajisrnus fur personliche, vor allem aber politische Zweclie umzuschrei- DES RECHTSEXTREMISMUS bzw, durch Aufrechnung alliierter Grausamkeiten die Verbrechen des Nationalsozialism~~zu relativieren. Jeder Versuch dieser Art ist untrennbar mit den politischen Beinuhungen rechtsextremer bzw. neonazistischer Krei- Brigitte Bailer-Galanda se verbunden. Selbst Arbeiten von ursprunglich nicht rechtsextremen Autoren werden rasch vom Rechtsextremismus instrurnentalisiert. die Ver- fasser finden rneist bald den Weg in einschlagige Zirkel oder zumindest Der Begriff des ,,Revisionismusa deren ~rnfeld.~

Die Verbreitung nationalsozialistischer Ideen und Werthaltungen stiel3 nach Geschichte des ,,Revisionismus" 1945 nicht zuletzt auf die Schwierigkeit, daS diese untrennbar mit den Verbrechen des Nationalsozialisrnus verbunden waren. Zur Beseitigung Die Anf;inge des ,.Revisionismus" liegen nicht nur in den Kernlandern des dieses Stigmas entstanden schon in den ersten Nachkriegsjahren in West- ~~ti~~alsozialismu~,Deutschland und Osterreich, sondern in nicht ge- europa ~ublikationen,"ie das NS-Regime zu beschonigen versuchten und den Holocaust leugneten oder verharmlosten. In einer Selbstbezeichnung nennen sieh die Reprasentanten dieser zu einer internationalen Bewegung angewachsenen Spielart rechtsextremer Publizistik ,,Revisionisten". In der Fachliteratur uber den Rechtsextremisrnus wird der ,,Revisionismus" vielfach mit Holocaust-Leugnung gleichgesetzt4 bzw. vorgeschlagen, diesen Begriff anstelle des an sich verharmlosenden Ausdrucks ,,Revisionismus" zu verwenden. In der neuesten Literatur wird fur diese Form rechtsextremer

50 Tendenzgeschichtsschreibung der Begriff ,,Negationismus" eingefuhrt.' Beide Konzepte ubersehen jedoch, daS ,,revisionistische" Literatur ein weiteres Themenspektrum umfal3t als die Leugnung des national- sozialistischen Massenmords an den europaischen Juden. Die Holocaust- Leugnung kann nicht von den ubrigen Inhalten dieser Pseudogeschichts- schreibung getrennt werden. Daher verwendet das Dokumentationsarchiv des osterreichischen Widerstandes trotz der noch zu diskutierenden Pro- blematik der Verharmlosung in seinen Publikationen den Begriff des Computer-Bildschirtmchor~pro~rat~inrder NSI)AI'/AO, 1993 ,,Revisionismus", aber stets unter Anfiihrungszeichen gesetzt, um ihn von den sonst iiblichen Verwendungen des wortes6 abzuheben. Wir verstehen ringem AusmaS in Frankreich und den IJSA. In den USA betiehl sich der darunter alle Bemuhungen, Geschichte im Sinne einer Verharmlosung, Begriff des Revisionismus auf Bemiihungen der seriiisen Historiographic, nach Ende des Ersten Weltkriegs regierungsoffiziellen Darstellungen iiber die Rolle der Vereinigten Staaten wiihrend des Kriegs kritisch entgegen- 3 So veroffentlichte der Franzose Maurice Hardeche bereits 1947 und 1948 ,,revisioni- stische" Literatur. Siehe dazu: Anne Frank Stichting, The Extreme Right in Europe and zutreten. Damals schon vertrat der Zivilisationshistorilier Harry Elmer the United States. International Seminar November 1984, Amsterdam 1985, S. 18 f.: Barnes einen prononciert deutschfreundlichen Standpunkt. Bereits wahrend Dehorah E. Lipstadt, Betrifft: Leugnen des Holocaust, Zurich 1994, S. 72 ff. des Zweiten Weltkriegs wurde daraus eine deutlich pronazistische Haltung, 4 Siehe dazu beispielsweise: Lipstadt, S. 38 ff.; Shelly Shapiro (Hrsg.), Truth Prevails. k- rnolishing Holocaust-Denial: the end of ,,The Leuchter-Report". New York 1990, S. I. die er such nach Kriegsende beibehielt. Barnes wurde r~ichtzuletzt als I 5 Hellnluth Auerbach, .,Auschwitz-Luge" in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Legenden Liigen Betreuer des US-.,Revisionisten" David L. ~oggan~zu einer Art ,,Stam",- Vorurteile. Ein Worterbuch zur Zeitgeschichte, durchgesehene und env. Aufl. Miinchen 1992, S. 36 f.; Rainer FromdBarbara Kernbach, Europas braune Saat. Die internationale I Verflechtung der rechtsradikalen Szene, Bonn 1994. Beispie1 &fur ist Dipl. Ing. Walter ~ufti. i 6 Sishe dazu dm Beitrag von Wolfgang Benz. ,,R~visionisrnus'~in Deutschlmd, HOggan siehc den Reitrag von Wolfgang Benz sowie von Wilhelm Lasek, ..Revisio-

- 17 - vater" des amerikanischen ,,Revisionismus". Diese sich selbst als ,,Revisio- sung der deutschen Kriegsschuld und Verherrlichung brw. Entschuldigung nisten" bezeichnenden NS-Apologeten versuchten in den USA aus propa- nationalsozia]istischer Fuhrerpersonlichkeiten gekennzeichnet. Erst Ende gandistischen Grunden an die erwahnte geschichtswissenschaftliche Tra- der sechziger, Anfang der siebziger Jahre griff die neonazistisch-,,re- dition der zwanriger Jahre anzuknupfen und ihren Geschi~htsfalschun~e~ visionistische" ~~blizistikdas gegenwiirtige Zentralthema auf, die Leug- damit den Anschein von Seriositat zu verleihen. In Europa wurde diese .nung des ~01ocaust.l Selbstbezeichnung iibernommen, deren Traditionen im deutschsprachigen Aus der Geschichte des Nationalsozialismus wahlen die ,,Revisionisten" Raum Wolfgang Benz im vorliegenden Band erlautert. Mittlerweile ist sic jene gereiche, die am deutlichsten den kriminellen Charakter des Regimes im gesamten internationalen Netzwerk und Zitierkartell der NS-Apologetik verdeut]ichen und daher die schwerwiegendsten Hindernisse fur eine neuer- gebrauchlich geworden. lithe propagierung des nationalsozialistischen Gedankenguts darstellen Von diesen geographisch breit gestreuten Anfangen her hat sich in der aber am stkksten geeignet sind, innerhalb der deutschen und oster- Zwischenzeit eine offensichtlich gut funktionierende internationale KO- reichischen BeV6lkerung, vor allem der sogenannten ,,Kriegsgenerationg', operation zwischen Europa und ~berseeentwickelt, deren Zentren ver- Reaktionen von Schuld und Scham auszu~osen.'~Etwas vereinfacht kiinnen mutlich nicht zuletzt als Folge der dortigen Rechtslage in den USA und zwei grofle thematische Bereiche ,,revisionistischer" Geschichtsver- Kanada beheimatet sind. In den Vereinigten Staaten ubernimmt das ,,In- f;ilschungen festgestellt werden, die sich mit zum Teil unterschiedlicher stitute for Historical Review" mit seiner Zeitschrift ,,Journal of Historical Intention teilweise auch an ein unterschiedliches Publikum wenden. Review" die Rolle einer amerikanisch-europaischen Drehscheibe, in Kanada ist der aus Deutschland kommende Ernst Zundel publizistisch a) Kriegsschuld und Kriegsverbrechen hochst aktiv. Er versorgt von Toronto aus auch Deutschland und ~sterreich mit Publikationen sowie seit Iangerem auch mit einschlagigen Videopro- Der eine Bereich befaRt sich mit dem Themenkomplex des Zweiten Welt- d~ktionen.~ kriegs, wobei vor allem die Frage der Kriegsschuld (1939 und 1941) im Der Bereich des ,,Revisionismus" stellt nicht nur funktionierende Kontakt- Mittelpunkt steht. Die Verantwortung fur den Ausbruch des Zweiten Welt- schienen fur Apologeten des Nationalsozialismus dar, sondern ist daruber kriegs wird Polen bzw. GroBbritannien und seinen Verbiindeten angelastet. hinaus ein wesentliches Vehikel fur die Vermittlung von weltweiten Kon- Angeblich wke diesen Deutschland zu machtig geworden, worauf sie Polen 51 takten rechtsextremer und neonazistischer Organisationen. Einschlagige angestiftet hatten, den Krieg vom Zaum zu brechen. Eine in den letzten Kongresse werden bzw. wurden von Aktivisten der deutschen Neonazi- Jahren wieder stiirker belebte Spielart dieses Argumentationsstranges be- Szene ebenso besucht wie vom Organisator der NSDAP-A0 in den USA, hauptet, der Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 ware zur Abwehr Gary La~~ck,oder vom mittlerweile inhaftierten osterreichischen Fuhrer der eines sowjetischen Angriffs auf das Deutsche Reich erforderlich gewesen.l' ,.Volkstreuen AuBerparlamentarischen Opposition" (VAPO) Gottfried In diesem Kontext steht auch die Idealisierung fuhrender Nationalsozia- ~ussel.lo listen, wie z. B. des Stellvertreters des ,,Fuhrersu Rudolf HeB als angeb- lichen FriedensbringerI4 oder die Stilisierung des Kriegsverbrechers Walter Themen ,,revisionistischer" Geschichts(um)schreibungen Reder, verantwortlich fur den Massenmord an italienischen Zivilisten im Raum von Marzabotto, zu einem unschuldig inhaftierten ~artyrer.'~Nach Die Entwicklung des thematischen Spektrums des ,,Revisionismus" kam bis zum Ende der siebziger Jahre zu einem AbschluB. Seither haben zwar Me- I I thoden und Technik nochmals Veranderungen bzw. ,,VerfeinerungenS' er- Zur Entwicklung siehe neben Lipstadt auch Hermann Graml, Alte und neue Apologeten in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Rechtwxtremismus in Deutschland. Voraussetzungen. fahren, inhaltlich neue Bereiche jedoch wurden kaum mehr aufgegriffen. Zusammenhkge, Wirkungen, Frankfurt am Main 1994, S. 30-66, sowie den Reitrag von Die Anfange des ,,Revisionismus" waren vor allem von einer Verharmlo- Ben2 im vorliegrnden Band. l2 Siehe dazu u. a. Wolfgang Benz, Die Abwehr der Vergangenheit. Ein Problem nur fiir Hi- stOriker und Moralisten?, in: Dan Diner (Hrsg.), 1st der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Frankfurt am Main 1987. S. 17-33. nistische" Autoren und ihre Publikationen. l3 9 sogenannten ,,Pr3ventivschlagsthese" siehe den Beitrag von Gerd UeberschSr 9 Zu ZiindeI und dem ,.Institute for Historical Review" siehe den Beitrag von Wilhelm lm vorliegenden Band, Lasek, ,,Revisionistische" Autoren und ihre Publikationen. l4 2u HeR Brigitte Emmerer, HeR' Englandflug, in: Benz (Hrsg.), Legenden, S. 94 f. 10 Zu diesem Netzwerk siehe u. a. den ausgezeichneten Film von Michael Schmidt, Wahr- Zu. Redelsiehe: Dokumentationsarchiv des iisterreichischen Widerstandes (Hrsg.), Am heit macht frei, publiziert als: Heute gehort uns die StraDe. Der Inside-Report aus der 'elspiel Walter Reder. Die SS-Verbrechen in Marzabotto und ihre BewSltigung, Wien Neonazi-Szene. Diisseldorf-Wien-New York-Moskau 1993. 1985.

- 19- seiner Entlassung aus italienischer Haft verlor Reder deutlich an Bedeutung geht es der ,,~euenKronen Zeitung" um Lesermaximierung, wenn der ein- fur das rechtsextrerne Lager. Als in dsterreich lebender alter Mann war er schllgig bekannte Publizist lngomar Pust sich in sejnen Kolumnen der Ver- als Kultfigur nicht rnehr recht brauchbar. Der Mythos von HeB lebt hin- ueibung der Deutschen aus Osteuropa oder der Verherrlichung der Deut- gegen fort. Derzeit kolportieren rechtsextrerne Autoren entgegen den fest- schen wehrmacht annimmt.I9 gestellten Tatsachen, HeB sei irn Gefangnis von Spandau errnordet worden, Obschon die Situation der dsterreicher anders war als jene der Deutschen, Eine jener ,,revisionistischen" Verdrehungen, denen ubrigens der ehernals solche ~ntlastungsapologetik auch in bsterreich auf fruchtbaren seriose Faschisrnusforscher Ernst Nolte gewisse Glaubwurdigkeit nicht ab- Boden wird die Zwiespaltigkeit der Zweiten Republik deutlich. Das spricht.16 Auf diese Weise wertet Nolte rechtsextrerne Geschichtsschrei- offizielle &terreich begriff und begreift sich als erstes Opfer der national- bung auf und wurde daher in den letzten Jahren zu einern beliebten Alibi sozialistischen ~roberungspolitik und leitet aus seinem Untergang als und Aushangeschild des ,,Revisionismus". subjekt des V~lkerrechtsseine Unschuld an allen im Namen des Na- Wenn nationalsozialistische Kriegsverbrechen nicht ganzlich geleugnet tionalsozialismus begangenen Verbrechen ab, wahrend die Bundesrepublik werden, bernuhen sich ,,revisionistische" Autoren urn Verniedlichung, Ver- Deutschland such rein rechtlich gesehen die Nachfolge des Deutschen harmlosung oder aber Aufrechnung rnit Verbrechen anderer Regime ode1 Reiches antrat. Trotz dieser Abgrenzung dsterreichs blieben zahlreiche Staaten. So werden z. B. die alliierten Bombenangriffe auf deutsche Stadte, ehemalige Angehorige der Deutschen Wehrmacht deren Traditionen ver- insbesondere Dresden, angeprangert, so als ob die deutschen Taten weniger bunden und haben - uneingestandenermafien -- ein Bediirfnis nach Schuld- kriminell wiirden, wenn auch die Kriegsgegner unverhaltnismaBige MaB- und Rechtfertigung, woraus sich die Attraktivitat apologetischer nahmen ergriffen haben. &iegsdarstellungen fur diesen Personenkreis sowie deren Nachkommen Ausgehend von einern Buch des kanadischen Journalisten James Bacque, ableitet. Selbst fur die nachfolgenden Generationen gestaltet es sich schwie- behauptet eine neue Argurnentationslinie, in US-arnerikanischen Kriegsge- rig, sich den Taten der Vater und GroBvater zu ~tellen.~' fangenenlagern hatten die Verantwortlichen rund eine Million deutscher Kriegsgefangener absichtlich verhungern lassen. Obschon Bacque den b) Antijudische Verbrechen, Holocaust Beweis fiir seine Behauptungen schuldig bleibt und nur auf der Ebene Der zweite zentrale Themenbereich des ,,Revisionismus", nur in Teilaspek-

52 ungeklarter Statistiken operiert, wird sein Buch in rechtsextrernen Blattern sowie in Organen von Veteranenve,rbanden positiv besprochen und be- ten rnit dem ersten verzahnt, umfaBt die Verharmlosung oder L,eugnung der worben.17 an den Juden begangenen Verbrechen, insbesondere des Holocaust. In Eben diese Veteranenverbande wie der ,,dsterreichische Karneradschafts- diesem Bereich dominiert neben der Entlastungsfunktion von etwaigen bund" oder die ,,Kameradschaft 1V" (Vereinigung ehernaliger Waffen-SS- Scham- und Schuldgefuhlen die antisemitische Ausrichtung. Deutlich wird Angehoriger) sind Zielpublikurn der rnit der deutschen Kriegsfuhrung dies u. a. daran, daB wohl die Giftgasrnorde an den Juden, nicht jedoch die zusarnrnenhangenden Geschichtsklitterungen. Die Wirkung dieser Art der tausendfachen Morde an Behinderten und Geisteskranken bestritten wer- Verharrnlosungen weist aber weit uber den Personenkreis der ehemaligen den, die ebenfalls mittels Giftgas begangen wurden." Die Leugnung der Soldaten hinaus, wie es der Slogan der ,,Deutschen Na~ional-Zeitung" antijiidischen Gewaltverbrechen benutzt lange tradierte antisemitische Vor- verdeutlicht: ,,Unsere Vater waren keine Verbrecher". Die Entschuldigung und Entlastung der Kriegsgeneration sowie deren Nachkommen betreibt l9 Aus einer Vielzahl von Artikeln sei als Beispiel die Serie ijber die Vertreibung der gezielt auch der Obmann der Freiheitlichen, Jorg Haider, wenn er beim deutschen Minderheiten im MirdApril 1994 herausgegriffen. Pust ist auch Autor in Neujahrstreffen 1992 den ,,SchluR" der ,,Kriminalisierung der eigenen rechtsextremen Zeitschriften, wie z. B, der ,,Aula", und Verfasser einschlrgiger Biicher. Geschichte" forderte.18 Zielen die ,,FreiheitlichenU auf Stimmengewinne, 20 Vgl. Peter Sichrovsky, Schuldig geboren. Kinder aus Nazifamilren, KBln 1987; Nadine Hauer- NS-Trauma und kein Ende, in: Anton PelinkidErika Weinzierl (Hrsg.), Das groBe Tabu. ostemeichs Umgang rnit seiner Vcrgangenhcit, Wien 1987, S. 2841; Peter Malina, 16 Ernst Nolte, Streitpunkte. Heutige und kiinftige Kontroversen urn den Nationalsozialis- Erin"erung stat[ Entschuldigung. Fiir cine neue Ged2ch~niskultur,in: Dokumentations- mus, Frankfurt am Main 1993. des ostemeichischen Widerstandes (Hrsg.), Handbuch dcs oster~eichischenRechts- 17 Zu Bacque siehe: Rolf Steininger, Knegsgefangenschaft, In: Benz (Hrsg.), Legenden, S. extremismus, Wien 1993. S. 527-545, 21 Der 126 ff.; Hitler's Apologists: The Anti-Semitic Propaganda of Holocaust ,,Revisionism". Ernst Gauss (verrnutlich ein Decknarnc) ncnnt die Morde irn Kahrncn An Anti-Defamation League Publication, New York 1993. S. 49 ff. der "genannten .,Euthanasic"-Aktion unter den ,,weitgehend unstrittigcn Fragen des NS- 18 Neue Freie Zeitung, 15. 1. 1992. Zur Entlastungsfunk~ionderartiger Haider-Auftritte sie- Unrechts": Emst Gauss, Streitpunkt Judenvernichtung. Eine Einleilung, in: ders. (Hrsg.), hr: Harald Goldrnann/Hannes KralVKlaus Ottomeyer. Jorg Ii~iderund sein Publikurn Grund'agen zur Zeitgeschichte. Ein Handbuch ijber stnttige Fragen des 20. Jahrhunderts, Eine sozialpsychologische Studie, Klagenfi~rt!Celovec 1992. Tiibingen 1994, S. 25.

-21 - urteile als Argumentationshilfen und stellt insgesarnt eine neue F~~~ Trotzdem werden mit dieser angeblichen ,,jiidischen KriegserklCung" anti- antiseniitischer Artikulation dar." Da es tausende Dokumente, Zeugenaus- jyirche Mafinahmen des NS-Regimes, wie beispielsweise die Deportation sagen und andere Beweise fur die Tatsachlichkeit der nati~nalsozi~lj- der ~~d~~in ~onzentrationslager.von ..Revisionisten" und Rechtsextremen stischen Gewaltverbrechen gibt, setzt die ,,revisionistische" Leugnung zu- gerechtfertigt. Denn als ..Feindnation" des .,Dritten Reiches" hatten die rnindest iniplizit voraus, daB eine weltulnspannende Falscherfabrik bZw, ~~d~~ eben mit Internierung zu rechnen gehabt. Damit wird letztlich ,judische Weltverschworung" alle diese Beweise in ihrem Sinne ,,pro- behauptet, dafi die Juden ,,selbst schuld" gewesen seien an ihrern Schicksal duziert", Zeugen beeinflufit, TBtergestandnisse erpreRt hat und die inter- - cine Argumentation, die weit uber den Rechtsextremismus hinaus ver- nationalen Medien beherrscht. Denn anders kann wohl logisch nicht erklart breitet ist. so meinte beispielsweise in einer 1991 vorn Gallup-Institut werden, dal3 nur die ,,Revisionistenu im Besitze der ,,historischen Wahrheit" durchgef"hrten Studie die Halfte der Befragten, daB die Juden zumindest seien. Als Motive des ,,Weltjudenturns" werden die alten antisemitischen teilweise an ihrem Schicksal selbst schuld seien." Zentralen Stellenwert Stereotype der ,.Geldgierh'und des Ringens nach ,,WeltherrschaftL'genannt, innerha]b der ,,revisionistischen" Propaganda nimrnt seit den siebziger Der Holocaust sei nur erfunden worden, urn ,,auf ewig" von Deutschland Jahren die Leugnung der Massenmorde rnittels Giftgas ein, wobei sich die Wiedergutmachungsgeldrr erpressen und die Ileutschen selbst rnit Kol- .hgumentation vorwiegend auf die Verbrechen irn Konzentrations- und lektivschuldvorwiirfen unterdrucken zu konnen. Die Argumentation der vernichtungslager Auschwitz konzentriert. In Auschwitz bzw. Auschwitz- Holocaust-Leugner bedient sich also der Strategic der Opfer-Tater-Urnkehl, Birkenau wurden einerseits iiber einen langeren Zeitraurn als in anderen wie sie aus anderen Entlastungsdiskursen bekannt Ein klassisches .4r- Vernichtungsstatten Massenmorde veriibt, andererseits kehrten aus keinem gument dieser Art verbindet die Negierung von Kriegsschuld und Kriegs- Vernichtungslager vergleichsweise so viele ~berlebendezuriick, die von verbrechen mit der Leugnung der antijiidischen Gewaltverbrechen. Die den Vorgangen im Lager Zeugnis ablegen konnten. Beide Faktoren rniigen Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird in ,,revisionistischer" zur Zentralitat von Auschwitz beigetragen haben." Der Titel einer Bro- Sichtweise nicht nur den Westalliierten, in erster Linie GroBbritannien, schiire des in Danemark lebenden Alt- und Neonazis Thies Christophersen, sondern auch einer ,,Kriegserkl2ung des Weltjudentums" angelastet. Dabei ,,Die Auschwitz-Luge", wurde sogar zum Synonym fur die rechtsextreme handelte es sich um einen Bericht einer englischen Tageszeitung, die unter und neonazistische Leugnung des ~olocaust.~~Die Leugnung und Ver-

53 der ~berschrift,,Judea declares War on Germany" am 24. Marz 1933 ihre harmlosung der gegen Juden gerichteten nationalsozialistischen Gewalt- Leser ,,iiber Proteste und Androhungen von Boykottrnafinahnien englischer verbrechen beinhaltet knapp gefaBt folgende Argumentationslinien: und arnerikanischer Juden als Gegenreaktion gegen antijiidische Aktionen - die Leugnung der Absicht und PlanmaBigkeit der Ausrottung der der Nationalsozialisten" inforrnierte.'"eiters veriiffentlichte die britische Juden ausschlieBlich wegen deren behaupteter Rassezugehorigkeit; Zeitung ,,Times'' am 6. September 1939 einen mit 29. August 1939 datier- - die Leugnung des Gebrauchs und der Funktionsfahigkeit von Gas- ten Brief des Prisidenten des Zionistischen Weltkongresses und Leiters der kammern zur planmaBigen, industriell durchgefuhrten Ermordung der Jewish Agency for Palestine, Chaim Weizrnann, an den britischen Premier- Juden sowie Zweifel an der technischen Durchfiihrbarkeit der niassen- minister Neville Chamberlain, worin Weizrnann, wiederurn als Reaktion auf haften Leichen~erbrennung;~~ die antijudischen h4aBnahmen in Hitlerdeutschland, erklkte, daB irn Ko~i- - Zweifel an der Zahl der Opfer, die in imrner neuen Varianten vorge- fliktfall .,die Juden bei GroBbritannien stehen und an der Seite der Demo- bracht we~den.~' kratien kampfen werden". Die von Weizrnann vertretene zionistische Welt- organisation unifaBte 1939 ,,etwas iiber eine Million Juden (nur wenig mehr als 6 % der gesarnten judischen Bevolkerung auf der Welt) und nur einen 26 Osterreichisches Gallup-lnstitut/Dr. Karmasin Marktforschung, Fremdenfeindlichkeit und Bruchteil der darnals noch in Deutschland lebenden Glaubensjuden"'~ Antisemitismus. Prbentation der Ergebnisse einer international vcrgleichenden Keprh- sentativbefrapng in &te,eich an13Blich einer Pressekonferenz am 24. 10. 1991 im Presseclub Concordia. 22 Brigitte Hailer. Die sogenannte ,,Auschwitz-Liigc" - neue Ausdrucksfor~n fiir althcrgc- 27 Pierre Vidal-Naquet, Who are the Assassins of Memory'?. in: ders. (Ed.), WolOcau~t brachten Antisemitisrnm~s,in: [lie Macht der Bilder. Katalog zur gleichnamigen Ausstd- Denial in France. Analysis of a Unique Phenomenon, Limor Yagil. Tel Aviv University, lung in dcr Volkshallc des Wiener Rathauscs, erscheint Apr~l1995. Faculty of Humanities, o. J.. S. 10. 23 Ruth Wodnk u. a,. ,,Wir sind alle unschuldige Thter!" Diskurshistorische Studien zum 28 Zu Christo~hersensiehe den Beitrag van Wilhelrn Lasek, ,.Revisionistische" Autoren und Nachkriegsantisen~itismus,Frankfurt am Main 1990. ihre Publikationen. 24 Siehe: Hellmuth Auerbnch, ,,Kriegscrklhrungcn" der Juden an Deutsehland, in: Henz 29 Siehe den Beitrag van Josef Bailer irn vorliegenden Band. (Hrsg.), Legcnden, S. 1 I8 f. 30 Siehe dazu den Beitrag von Wolfgang Neugebauer, ,,Revisionistische" Manipulation der 25 Siche ebenda, S. 120 f. Zahl der H~locausto~fer,sowie Wolfgang Benr., Die ,,Auschwita-Liige", in: Rolf Die Auffassung, Verbrechen an den Juden waren nur die Taten unter- ersten Ansche,n beeindruckenden Anmerkungsapparat ausgestattet; der ~eordneter Funktionare des NS-Staates gewesen, fuhrende National_ zahlreiche Zitate anerkannter Historiker aufweist. anderer- einerseits sozialisten wie Hitler oder HeO hatten davon nichts gewuljt, ist in den seitr aber seine subStanz aus dem wechselweisen Zitieren zinderer ..Revi- letzten Jahren etwas in den Hintergrund getreten. Ebenso haben die Zweifel sionisten.. bezieht, Ein wichtiges Moment ..revisionistischcr" Argumenta- an der Echtheit des Tagebuchs der Anne Frank an Bedeutung verloren, seit tionstechnik ist daS Helaussuchen eines unklaren oder vorgeblich falschen eine umfangreiche Studie des Niederlandischen Staatlichen Instituts fur Details, anhand ,-jessen dann ein ganzer Bereich in Frage gestellt oder die Kriegsdokumentation die Authentizitat der Tagebucher zweifelsfrei nach- kFmte~l~~b~u~di~keit eines Zeugen oder Wissenschafters angezweifelt weisen k~nnte.~'Vergleichsweise neu hingegen sind Versuche der ,,Re- wird. ~ll~uber dieses Detail hinausgehende seriiise Information wird visionisten", selbst andere antijudische MaBnahmen, wie beispielsweise die kinfac,, weggelassen, soda13 fur einen uninformierten Leser der Eindruck Verbrechen im Rahmen des Novemberpogroms 1938, in Frage zu ob tats2chlich nur dieses eine zweifelhafte Beweisstuck vor- telle en.^' aentsteht, - Offenkundig ist die rechtsextreme Publizistik bestrebt, nach und nach die handen w&e, die Tatsachlichkeit z. B. des Holocaust zu untermauern. gesamte Judenverfolgung durch das NS-Regime ins Reich der ,jiidischen so erw$hnt beispielsweise der US-Amerikaner John Clive Ball Luftauf- Erfindungen" zu verweisen. Fur Osterreich und die zeitgeschichtliche Bil- nahmen des ~~~z~ntrationslagersAuschwitz-Birkenau. die seiner Meinung dungsarbeit unter Jugendlichen spielt die Gedenkstatte im ehemaligen KOn- nach vom CIA gefalscht worden seien, um den Holocaust zu beweisen. Er zentrationslager Mauthausen in Oberosterreich eine wichtige Rolle. Es "rngibt diesc Bchauptung mit einer anschaulichen Geschichte uber seine verwundert daher nicht, dal( der osterreichische Neonazi Gerd Honsik oder Recherchen in den National Archives, Washington, wo diese Fotos seiner der nur kurzfristig in der ,,Revisionisten"-Szene wichtig gewesene Elnil Angabe nach nun fur alle Zeiten gesperrt seien, cla er die Falschung Lacliout sich bemuhen, die Morde mittels Giftgas in Mauthausen in Abrede nachgewiesen hatte. Er verschweigt, daB dieselben Fotos irn Staatlichen zu stellen. Unterstutzung erhielten sie dabei durch den selbsternannten US- Museum Auschwitz eingesehen werden kijnnen und da13 eine Fulle weiterer Gaskammerexperten Fred Leuchter, der auch einen ,,Berichtg' iiber Maut- Fotos die Vorgange in Auschwitz-Birkenau in vieler Hinsicht be~egt.'~ hausen3%erfa8te. Dieser erzielte jedoch nicht annahernd jene Wirkung wie Grab konnen die Arten ,,revisionistischer" Propaganda folgenderlnalien ka- sein erster Bericht uber Auschwitz, den er im Rahmen des Gerichtsver- Fegorisiert werden: a) die einfache Leugnung, die ohne wissenschaftliche

54 fahrens gegen den Deutsch-Kanadier Ernst Zundel in Toronto vorgclegt oder seriose Verbramung die Massenmorde in den Konzentrationslagern hatte. einfach in Abrede stellt; dazu gehort z. B. Gerd ~onsiks" Buch ,,Frei- spruch fur Hitler? 37 ungehorte Zeugen wider die Gaskammer", das trotz gerichtlicher Beschlagnahme weiter aus dem Ausland bezogen werden Methoden des ,,~evisionismus"~~ kann; b) die Herstellung gefalschter ,,GegenbeweiseG',wie etwa die von Wahrend in der Nachkriegszeit vor allem mit angeblichen ,,ErinnerungenG Emil Lachout verbreiteten gefalschten ,,~okumente",~'die seit ihrem ersten oder geschBnten Autobiographien die Verharmlosung dcs National- Erscheinen 1987 betrachtlich an Aktualitat eingebiiflt haben; c) die selekti- sozialismus betrieben w~rde,~~hat sich seither eine ganze Reihe von ,,re- ve nd manipulative Interpretation historischer Quellen, wie sie der Brite visionistischen" Methoden etabliert. Vor allem ist es den Apologeten des David Irving betreibt, der mit historischem Material arbeitet, dieses jedoch Nationalsozialismus darum zu tun, sich den Anschein serioser Wissen- entsprechend seinen Propagandathesen tendenzios auswalilt und inter- schaftlichkeit zu geben. Dazu werden dic Publikationen mit einem auf den pretie*;39 d) die Herstellung angeblich naturwissenschaftlicher ,,Gutach-

Steininger (Hrsg.), Ilcr Umgang rnit dem Holucaust. Europa-USA-Israel, Wien-Kbln- Weimar 1994. S. 103-1 15 (Institut fiir Zeitgeschichte der UniversitSt Innsbruck, Jiidi- 36 John Clive Ball, Luftbild-Beweise, in: Gauss (Hrsg.). S. 235-248. Zu Fijrugrafien iiher Auschwitz siehe den ausgezeichneten Band: Tcresa Swiebocka (Hrsg.). Auschwitr. sches Museum Hohenems, Bd. 1). A 3 1 Siehe dazu den Beitrag von Brigitte Bailer-Galanda, Das Tagebuch der Anne Frank. Erst in Photographs, Oswiecim-Bloomington and Indianapolis-Warsaw 1993 jiingst ssnh sich allerdings der Bundesvorsitzende des ,,Burgerschutz Osterreich (BSO), 37 Z" Honsik siehe den Beitrag von Wilhelm Lasck, ,.Kevisionistischc" Autoren und ihre Publikationen. Peter Kurt WeiB, in einem Sehreiben an den ,,Standard" vom 14. 3. 1995 bemuaigt, das 38 Sirhe Tagebuch als ,,totale Pllschung" zu bezeichnen. Dokumentationsarch~r des Bstcrreich~sch~.nWiderstandes (Hrsg.). Do 92 Vgl. beispielsweise Udo Walendy, Aspekte jiidischen Lehens im Dritten Reich, 11. Ted. L;lchcut-.*Dokument". Anatornie cincr F2lschung, Wierl 19x9, Historische Tatsachen 6211994. 39 Z" den Methoden Irvings siche: Martin Broszat, Hiller und dic Genesis dcr ,.Endlbsungk'. 33 Der zweite Leuchter-Report. Dachnu, Mauthausen, Ha~theim,o. 0. 15. Juni 1989. der Thesen \on David Irving, in: Herman" Gm~nlIKlaus-Dietmar Henke 34 Siehe dazu ausfiihrlich dcn Beikag von Gustav Spar~nirn vorliegenden Band. (Hrr;g')' Nach Hitler. Der schwierige Umgang !nit unserer Geschichte. Bcitrhge von 35 Siehe dazu ausfihrlich Graml. Broszat. Miinchen 1986, S. ]87-21_9,

- 24 - - 25 - Die Auffassung, Verbrechen an den Juden waren nur die Taten unter- ersten Ansche,n beeindruckenden Anmerkungsapparat ausgestattet; der ~eordneter Funktionare des NS-Staates gewesen, fuhrende National_ zahlreiche Zitate anerkannter Historiker aufweist. anderer- einerseits sozialisten wie Hitler oder HeO hatten davon nichts gewuljt, ist in den seitr aber seine subStanz aus dem wechselweisen Zitieren zinderer ..Revi- letzten Jahren etwas in den Hintergrund getreten. Ebenso haben die Zweifel sionisten.. bezieht, Ein wichtiges Moment ..revisionistischcr" Argumenta- an der Echtheit des Tagebuchs der Anne Frank an Bedeutung verloren, seit tionstechnik ist daS Helaussuchen eines unklaren oder vorgeblich falschen eine umfangreiche Studie des Niederlandischen Staatlichen Instituts fur Details, anhand ,-jessen dann ein ganzer Bereich in Frage gestellt oder die Kriegsdokumentation die Authentizitat der Tagebucher zweifelsfrei nach- kFmte~l~~b~u~di~keit eines Zeugen oder Wissenschafters angezweifelt weisen k~nnte.~'Vergleichsweise neu hingegen sind Versuche der ,,Re- wird. ~ll~uber dieses Detail hinausgehende seriiise Information wird visionisten", selbst andere antijudische MaBnahmen, wie beispielsweise die kinfac,, weggelassen, soda13 fur einen uninformierten Leser der Eindruck Verbrechen im Rahmen des Novemberpogroms 1938, in Frage zu ob tats2chlich nur dieses eine zweifelhafte Beweisstuck vor- telle en.^' aentsteht, - Offenkundig ist die rechtsextreme Publizistik bestrebt, nach und nach die handen w&e, die Tatsachlichkeit z. B. des Holocaust zu untermauern. gesamte Judenverfolgung durch das NS-Regime ins Reich der ,jiidischen so erw$hnt beispielsweise der US-Amerikaner John Clive Ball Luftauf- Erfindungen" zu verweisen. Fur Osterreich und die zeitgeschichtliche Bil- nahmen des ~~~z~ntrationslagersAuschwitz-Birkenau. die seiner Meinung dungsarbeit unter Jugendlichen spielt die Gedenkstatte im ehemaligen KOn- nach vom CIA gefalscht worden seien, um den Holocaust zu beweisen. Er zentrationslager Mauthausen in Oberosterreich eine wichtige Rolle. Es "rngibt diesc Bchauptung mit einer anschaulichen Geschichte uber seine verwundert daher nicht, dal( der osterreichische Neonazi Gerd Honsik oder Recherchen in den National Archives, Washington, wo diese Fotos seiner der nur kurzfristig in der ,,Revisionisten"-Szene wichtig gewesene Elnil Angabe nach nun fur alle Zeiten gesperrt seien, cla er die Falschung Lacliout sich bemuhen, die Morde mittels Giftgas in Mauthausen in Abrede nachgewiesen hatte. Er verschweigt, daB dieselben Fotos irn Staatlichen zu stellen. Unterstutzung erhielten sie dabei durch den selbsternannten US- Museum Auschwitz eingesehen werden kijnnen und da13 eine Fulle weiterer Gaskammerexperten Fred Leuchter, der auch einen ,,Berichtg' iiber Maut- Fotos die Vorgange in Auschwitz-Birkenau in vieler Hinsicht be~egt.'~ hausen3%erfa8te. Dieser erzielte jedoch nicht annahernd jene Wirkung wie Grab konnen die Arten ,,revisionistischer" Propaganda folgenderlnalien ka- sein erster Bericht uber Auschwitz, den er im Rahmen des Gerichtsver- Fegorisiert werden: a) die einfache Leugnung, die ohne wissenschaftliche

55 fahrens gegen den Deutsch-Kanadier Ernst Zundel in Toronto vorgclegt oder seriose Verbramung die Massenmorde in den Konzentrationslagern hatte. einfach in Abrede stellt; dazu gehort z. B. Gerd ~onsiks" Buch ,,Frei- spruch fur Hitler? 37 ungehorte Zeugen wider die Gaskammer", das trotz gerichtlicher Beschlagnahme weiter aus dem Ausland bezogen werden Methoden des ,,~evisionismus"~~ kann; b) die Herstellung gefalschter ,,GegenbeweiseG',wie etwa die von Wahrend in der Nachkriegszeit vor allem mit angeblichen ,,ErinnerungenG Emil Lachout verbreiteten gefalschten ,,~okumente",~'die seit ihrem ersten oder geschBnten Autobiographien die Verharmlosung dcs National- Erscheinen 1987 betrachtlich an Aktualitat eingebiiflt haben; c) die selekti- sozialismus betrieben w~rde,~~hat sich seither eine ganze Reihe von ,,re- ve nd manipulative Interpretation historischer Quellen, wie sie der Brite visionistischen" Methoden etabliert. Vor allem ist es den Apologeten des David Irving betreibt, der mit historischem Material arbeitet, dieses jedoch Nationalsozialismus darum zu tun, sich den Anschein serioser Wissen- entsprechend seinen Propagandathesen tendenzios auswalilt und inter- schaftlichkeit zu geben. Dazu werden dic Publikationen mit einem auf den pretie*;39 d) die Herstellung angeblich naturwissenschaftlicher ,,Gutach-

Steininger (Hrsg.), Ilcr Umgang rnit dem Holucaust. Europa-USA-Israel, Wien-Kbln- Weimar 1994. S. 103-1 15 (Institut fiir Zeitgeschichte der UniversitSt Innsbruck, Jiidi- 36 John Clive Ball, Luftbild-Beweise, in: Gauss (Hrsg.). S. 235-248. Zu Fijrugrafien iiher Auschwitz siehe den ausgezeichneten Band: Tcresa Swiebocka (Hrsg.). Auschwitr. sches Museum Hohenems, Bd. 1). A 3 1 Siehe dazu den Beitrag von Brigitte Bailer-Galanda, Das Tagebuch der Anne Frank. Erst in Photographs, Oswiecim-Bloomington and Indianapolis-Warsaw 1993 jiingst ssnh sich allerdings der Bundesvorsitzende des ,,Burgerschutz Osterreich (BSO), 37 Z" Honsik siehe den Beitrag von Wilhelm Lasck, ,.Kevisionistischc" Autoren und ihre Publikationen. Peter Kurt WeiB, in einem Sehreiben an den ,,Standard" vom 14. 3. 1995 bemuaigt, das 38 Sirhe Tagebuch als ,,totale Pllschung" zu bezeichnen. Dokumentationsarch~r des Bstcrreich~sch~.nWiderstandes (Hrsg.). Do 92 Vgl. beispielsweise Udo Walendy, Aspekte jiidischen Lehens im Dritten Reich, 11. Ted. L;lchcut-.*Dokument". Anatornie cincr F2lschung, Wierl 19x9, Historische Tatsachen 6211994. 39 Z" den Methoden Irvings siche: Martin Broszat, Hiller und dic Genesis dcr ,.Endlbsungk'. 33 Der zweite Leuchter-Report. Dachnu, Mauthausen, Ha~theim,o. 0. 15. Juni 1989. der Thesen \on David Irving, in: Herman" Gm~nlIKlaus-Dietmar Henke 34 Siehe dazu ausfiihrlich dcn Beikag von Gustav Spar~nirn vorliegenden Band. (Hrr;g')' Nach Hitler. Der schwierige Umgang !nit unserer Geschichte. Bcitrhge von 35 Siehe dazu ausfihrlich Graml. Broszat. Miinchen 1986, S. ]87-21_9,

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ten". Wurde bis 1988 mit vorgeblich geschichtswissens~haftli~h~~B,- Voraussetzungen auSgehend - die technische Moglichkeit der Menschen- hauptungen und Widerlegungen argumentiert, stehen seit darnals natur- in den Caskammern van Auschwitz-Birkenau bestritt." Liiftl selbst wissenschaftlich verbramte angebliche ,,Gutachtena'im Mittelpunkt der ,,re- tijtung aus rec~tlichenGrunden bedeckt - sine Vuruntersuchung gegen visionistischen" Propaganda europaischer und amerikanischer neonazisti- hilt Unvee"tandlicherweisevon der Oberstaatsanwaltschaft Wien ein- scl~erGruppen. Als erstes derartiges ,,Gutachten4' wurde der sogenannte geSteIItihn wurde-, seine ~l~b~~~teweiden aber in der osterreichischen und inter- ,,Leuchter-Bericht", ausgehend von Kanada, international ~erbreitet.~~D,, nationalen ,,revisionistischen" Literatur verbreitet. Inshesondere die Ein- US-Arnerikaner Fred Leuchter, selbsternannter Ingenieur ohne technische sfellung des ~~~f~h~~sgegen ihn wird als ..Sieg" des ..Revisionismus" ge- ~usbildung,~'erstellte irn Auftrag des kanadischen ,,Revisionisten" Ernst Zundel einen Bericht ijber die angebliche Unmoglichkeit von Menschen- feier~~~ totungen rnittels Giftgas in den Konzentrationslagern Auschwitz und Ma.jdanek. Mittlerweile liegt eine Fulle von Literatur vor, die den Der ,,Revisionismus" in ~sterreich ,,Leuchter-Bericht" und auch die folgenden von Leuchter verfaBten Wie oben bereits ausgefiihrt, besteht ein beinahe weltunlspannendes inter- Elaborate eindeutig widerlegt und in den Bereich neonazistischer Propagan- nationales Netzwerk des ,,Revisionismus", dessen Auslaufer sogar bis Japan da ~erweist.~'Die internationale ,,Revisionistenu-Szene reagierte prompt. reichen Eln japanisches Nachrichtenmagazin wurde Anfang 1995 wegen Leuchter gilt heute als ,,ErfinderC'der naturwissenschaftlichen Argumen- der ver"ffent]ichung eines Artikels eingestellt, der die Existenz von Gas- tationsweise; seine Behauptungen haben aber in der neuesten ,,revisioni- k-ern in nationalsozialistischen Vernichtungslagern bestritten hatte.4h stischen" Literatur nur mehr untergeordnete Bedeutung. Er hat jedoch lm Rahmen der internationalen Kontakte spielen auch osterreichische Nachah~nergefunden. Dabei ist vor allern der deutsche Diplomchemiker Rechtsextreme und ,,Revisionisten" eine nicht unbetrachtliche Rolle. Vor Germar Rudolf zu erwahnen. dessen ,,Untersuchungen" uber die Ver- allem die vom Vorarlberger Neonazi Walter Ochensberger herausgegebene wendurig von zur Menschentotung irn Vernichtungslager Ausch- Zeitschrift ,,Sieg" erfiillte eine wichtige kommunikative Funktion, die von witz-Birkenau mittlerweile in einigen verschiedenen, jeweils angeblich (jsterreich und Deutschland iiber das iibrige Westeuropa bis in die USA ,,verbesserten" Fassungen ~orlie~en.~'In Osterreich verfaflte 1991 der und Siidafrika rei~hte.~'Nach der Verurteilung von Walter Ochensberger

56 damalige Prasident der Bundesingenieurskarnrner Walter Luftl, zu dieser wurde eine Briefkampagne fur Ochensberger und andere ,,Revisionisten" Zeit pesuchler Gerichtsgutachter, Stellungnahmen, worin er - von falschen gestartet. Beirn Helsinki-Kornitee in Wien langte irn Fruhjahr bzw. Friih- sornmer 1993 eine betrachtliche Zahl von Briefen ein, die angebliche Menschenrechtsverletzungen bei der gerichtlichen Verfolgung von Neo- 40 Siche dazu die ausfiihrliche Auseinandersetzung in: Dokumentationsarchiv des osterrei- nazis beklagten. Die - offensichtlich auf ein und dasselbe Musterschreiben chiqchcn Widerstandcs/Bundearninisteriurn fur Unterricht und Kunst (Hrsg.), Amoklauf gegen die Wirklichkcit. NS-Verbrechen und ,,revisionistische" Geschichtsschreibung, 2. zuriickgehenden - Schreiben kamen rnehrheitlich aus Deutschland, einige ubernrb. Au~.Wicn 1992. aber auch aus den USA, Australien und ~iidafrika.~'Gerd Honsik. Her- 41 Mitlleni8eile n~uflteLeuchter offentlich zugcben, den Titel ..lngenieurU (engineer) un- ausgeber der neonazistischen Zeitschrift ,,HaltG'und Verfasser rnehrerer I-echlrndBig gcfuhrt zu habcn. Er vertreibt in den USA selbstentworfene Hinrichtungs- 9~evisionistischer"Bucher, entzog sich einer drohenden rechtskraftigen vol-richtungen, das Illino~sDepartment of Corrections kundigte 1990 den Vertrag mit ihm. Sichc dazu: Washington Post. 18. 6. 1991; Special Edition. A periodic update from lhc 4nti-Defamation-League of B'nai B'rith -Civil Rights Division. January 1991. 44 Liiftl mufite - nachdem cr als Verfasscr des in ,,Halta' verbffentlichten ,,Gutachtens" bc- 42 Sichc dam u. 2.: Jean-Claude Pressac, Auschwitz. Technique and Operations of the Gas kannt geworden war - seine Funktion als Prlsident zurhcklegen. Siehe dam: Wirt- Chambers. New York 1989; Shapiro; Wemer Wegner, Keine Massenvergasungen in schaftswoche. Nr. 11, 12.-18. 3. 1992; Kleine Zeitung, 11. 3 199,.7 Zur Auseinander- Auschwitz? Zur Kritik dcs Leuchter-Gutachtens, in: Dokurnentationsarchiv des oster- mit seiner Argumentation siehe den Beitrag von Josef Bailer irn vorliegenden reichischen Widerstnndes/Bundesrninisterium fir Unterricht und Kunst (Hrsg.), Amok- Band. 45 lauf, S. 53-66; ~owieden Beitrag von Josef Bailer, Die ,,Revisionisten" und die Chemie. 7-811994; fakten 3211994; Deutschland in Geschichte und Gegenwart 311994; 43 Gerrnar Rudolf, Gutachten uber die Bildung und Nachweisbarkeit von Cyanidverbin- lnformationsdiens~~itteilungsblattder Gesellschaft fiir Freie Publizistik 311994 U. a. dungen in den Gaskarnmern von Auschwitz, o. 1.; Rudiger KammererlArmin Solnls 46 ''dische Rundschau Maccabi, 9. 2. 1995; Salzburger Nachrichten, 27. 1. 199.5; Siid- (Hrsg.), Wissenschaftlicher Erdrutsch durch ,,Da Rudolf Gutachten". Eine Besprechung deutsche Zeitung, 2. 2. 1995, tlcs .,Gutachten5 uber die Bildung und Nachweisbarkeit von Cyanidverbindungen in den 47 Siehe die grofie Zhl von Kontakten, die in ,,Sieg" immer wieder genannl wcrden: Brigitte .Gaskanirnem' von Auschwitz" sowie weitercr neuer Forschungsergebnisse urn den B!lertWO1fgan~ Neugebauer, Rechtsextreme Vereine. Parteien, Zeitschriften, informel- .,Hnlocausl", London 1993; eine weitere, urn vieles aufuhrlichere Fassung mit demselben id"'egaie Gru~~en,in: Dokumentationsarchiv des Gsterreichischen Widerstandes (Hrsg.), Titel wie die erste wurde von Otto Emst Remer verbreitet. Als letzte Fassung erschien: Handbuch des ostemcichischen Rechtsextrernismus, aktualisicrte und em. Neuausgabe Wien l994, S. 240-243. Germar Rudolf/Emst Gauss. Die ,,Gaskammem" von Auschwitz und Majdanek, in: Gauss 48 (Hrsg.), S. 249-279. liegen in dcr K~~h~~trernism~~-~~~~~gdes DOW auf.

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Verurteilung und Haftstrafe durch Flucht ins Ausland. Er fand bei GeSin- ,hinaus finden verharmlosungen des Nationalsozialismus Raum in nungsfreunden der spanischen CEDADE (Circulo Espanol Je An1ieos de gIg;ttemund publikationen der ,,Freiheit~ichen",'~aber ouch in der ,Neuen Europa) in Barcelona ebenso Unterschlupf wie der aus Deutschland g,_ Zcitungg', der mil Abstand meistgelesenen Tageszeitung bster- fliichtete Alt- und Neonazi Otto Ernst ~emer.~'Deutlich werden die gut- eichs. Neben dem oben erwihnten Ingomar Pust schreibt des ofteren funktionierenden Kommunikationsnetze cinerseits in1 durchorganisierten Nimmerrjchter (,,St~erl"")ommentare an der Grenze zum internationalen Versandhandel ,,revisionistischer" ~rodukte,~"andererseits pev,sionismus~L, 1992 stellte er unter dun Titel ,,Methuden eines vor allem dann, wenn es gilt, neue ,,revisionistische" Argumentations. . muster, Publikationen oder ,,BeweiseG'gegen den Holocaust zu verbreiten, Als der osterreichische evangelische Religionslehrer Emil Lachout Ende 1987 ein angebliches .,Dokument" in Umlauf brachte, worin die Existenz von Gaskammern in einer Reihe von Konzentrationslagern, darunter such Mauthausen, bestritten wurde," avancierte er binnen kurzem zu einer international bekannten Personlichkeit des ,,Revisionismus". Er reiste sogar Nalutges&e gelten fit Wazis und " 1988 nach Toronto, Kanada, um dort als Zeuge der Verteidigung fur den Antifasc histen ,,Revisionisten" Ernst Ziindel auszusagen. Der Anfang der neunziger Jahre international am meisten beachtete iisterreichische ,,Revisionist" war der ehemalige Prasident der Bundcsingenieurskar~~merDipl. Ing. Walter L~iftl. --- Vmd HANS ha,,r.I,~~~~~ cs vllilirhIlo17gn~~netalorm ah~r\hwui~rhl%gl,cNcnckL Mcr

57 lull&LYp': Verfahrenseinstellung gegen Walter Liiftl. Unter der ~berschrift),Natur- *olr M-vwunp Gt -"BE- R& ,$# mhniub, ll,,vmn ,,,,.. $~~2=~y~~,"e~*~:;~;,~;y:~~~,fi;;;~;;:, .$Ti4'.".:%2r;. ..,A,~ ..,.. gesetze gelten fiir Nazis und Antifaschisten" meint der ,,Aula"-Autor .,Hans . , ~ ,. (I, .. A I~i ., .- , Moser" (moglicherweise ein Pseudonym), Liiftls Arbeit sei als ,.seriose Auf~runddieses Berichts erfolgen gerichrliche Schrirre gegen den wissenschaftliche" vom Gericht anerkannt worden. In Hinkunft durfe daher Herausgeber der ,,Ada ", Herwig Nachtmunn, uJegen Verdachts der ,,ungestraft0 festgestellt werden, daR ,,MassenvergasungenU weder rnit nationalsozialistischen Wiederberiiligung, Auln 7-8/1994 Zyklon B noch mit den Abgasen von Dieselmotoren moglich gewesen waren. Aufgrund dicses Artikels wurde gegen die Zeitschrift ein Gerichts- Massenmords" fest, es seien ,,nu1 verhaltnisrnaRig wenige der jiidischen verfahren wegen Verdachts des VerstoRes gegen das Verbotsgesetz einge- O~fer"tatsachlich ,,vergasta worden, ,,die anderen sind verhungert oder leitet. Unverhohlen leugnen neonazistische Blatter wie ,,Haltg' oder ,,Siege' erschlagen ord den".^^ Der Artikel fiihrte zu keinem Gerichtsverfahren ge- (seit der Verhaftung Ochensbergers nicht mehr erschienen) den Holocaust, gen 9*Staberl6',da dieser die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen nicht wahrend Publikationen des eher gemaBigt auftretenden Rechtsextrernismus 9m0blich" verharmlost habcs5 Nur der osterreichische Presserat verurteilte auch in ihrer Verharmlosung des NS-Regimes vorsich'tiger auftreten und die Schreibweise.s6 Daraufhin bekundete die Leitung der Zeitung ihrc ihren Schwerpunkt - mit Ausnahnien - eher in der positiven DarstellunE - nationalsozialistischer Fiihrerpersonlichkeiten bzw. tier Relativierung der 53 ''Iern die KZmtner FPO-Zeitung ,.Kiirntner Nachrichten" trat hier in der Vergangen- deutschen Kriegsschuld setzen. ~berdeli engeren Kreis des Rechtsextre- he't den F~iheitlichenherausgegebene ,.Jahrbuch fiir politische Erneu- emng 1995" enthdt gleichfalls einschliigige Passagen, wenn beispielsweise der bekannte 49 Halt 7 111994. NS-Apologet Schickzl fiir die Abschaffung seiner Meinung nach die Wissm- 50 Vor allem Ernst Ziindels Samisdat-Verlag nimmt hier eine fiihrcnde Kolle ein. Dieser ve' Schaftsfreiheit einschriinkender Gesetze und ~~h~~ cintr.tt, sendet Videofilrne mit Aussagen deutscher, franzosischer und amerikanischer ,.~~vlsi~- I4Neue lronenZeit~nl. 10. 5. 1992 Zu dem Artikel siehe Gerhard Bolr .,Neona~smus nisten" ebenso wie eine Vielzahl ,,revisionistischer" Publikationen. Ohne Neonui?" Inszeniene NS-Apllogetik in der ,,Neuen Kronen EitungCL,in: Doku- 51 Siehe dazu den Beitrng von Brigitte Bailer-Galanda, Dns .\ogenannte f,acho\~t-,.~ok~- men?tions?rchiv des ostemeichischen Widerstandes (Hrsg.), Handbuch, S. 595-615. ment". Joach'm 'led'. 79Staberl"und die Juristen, in: Win~chafiswoch~,18. 2, 1991. 56 Der Standad, 21.5.1992. 52 Siehe dam den Beitrag von Wilhelm Lasek, ,,Rcvisionistische.' Propaganda in 0

- 28 - -29- Absicht, aus dem osterreichischen Presserat ausz~treten.~~Die \Yiikung Demohatie und Vernunft aber nicht ihrer Aufgabe solcher uber die ,,Neue Kronen Zeitung" verbreiteter Verharrnlosungen ~ Ihenste aus der Offentlichkeit. insbesondere aus Lehrerkreisen, NS-Regimes sowie antisemitischer Stereotype darf nicht untcrschgpLt ,,, ilueMuiehen, UnterStutzung gefordert wird. Je erfolgreicher die .,Revisionisten" an SJlulen Oder - wie in den USA - sogar an Colleges und universitaten6' desto grii~erdie Herausforderung fur die Fachwissenschaft. Trotz- schaftliche Studien be~tiitigen.~'Publikationen wie der irn einschl@ig be- dem laun man be, dieser Auseinandersetz,ung stets Gefahr, ,.versehentlich karinten Grabert-Verlag erschienene, rnehrfach zitierte ,,revisionistische'. Debatte hineingezogen zu werden, die keine Debatte ist, in einen in Sarnmelband ,,Grundlagen zur Zeitgeschichte" reichen nur wenig iiber den Smit, der kein streit ist-.61 'ber die geeignete Strategic der Bekampfung unmittelbaren Kreis des organisierten Rechtsextremismus hinaus. l'rot7.dem Jevisi,nis~scherL~Geschi~hts\rerzerrungen und Lupen gehen die Meinun- zeigen auch sie in eingeschranktern Rahrnen Wirkung. So fiihlte sich ejn ken auseinander, seit Martin Broszat in den siebziger Jahren als einer der wegen militant auslanderfeindlicher Haltunp sogar aus der FPO ausge- die ~~~~i~~~dersetzu~~grnit NS-Apologetik auch auf einer inhalt- schlossener Bezirksrat, Dipl. Ing. Wolfgang Friihlich, berniifiigt, in cinem lichen ~b~~~ aufgenommen hat,62 wurde - vor allern in den letzten Jahrcn - Schreiben an Univ. Prof. Dr. Gerhard Jagschitz unter Berufung auf dieses mgesichts des such international anwachsenden ,.Revisionisrnus" eine Rei- Buch die Frage zu richten, ob es denn 1-iteratur gebe, dic die Massentotun. he ~ii~h~~~ver6ffentlicht, die versuchten, auf rationaler Ebene gegen gen rnittels Zyklon I3 ,,naturwissenschaftlich untermauert": ,,Es wgre die neonazistischen Propagandabehauptungen anz~kampfen.~-as Vor- schlieBlich abwegig, ein halbes Jahrhundert in allen Medien der Weit Uber gehen mit juristischen Mitteln, wie es etwa bsterreich, Deutschland, Frank- millionenfachen Mord in Gaskamrnern zu berichten [...], ohne dalj dies reich und Kana& versuchen, 1st gleichfalls nicht unumstritten. Die oster- auch naturwissenschaftlich abgesichert w21-e."~~ reichischen Erfahrungen der letzten Jahre weisen jedoch auf gewisse Erfolge legistischer und gerichtlicher Mafinahmen hin. Die Verurteilungen ~berdie Auseinandersetzung mit dem ,,Revisionismusu rnehrerer neonazistischer Aktivisten, darunter die auch in der internatio- nalen ,&evisionisten"-Szene bekannten Zeitungsherausgeber Walter Die Notwendigkeit der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem ,,Re- Ochensberger (,,Sieg6') und Gerd Honsik (,,Halts'), bewirkten einen deut-

58 visionismus" ist unter Wissenschaftern nicht unumstritten. In einer ersten lichen Ruckgang neonazistischer und ,,revisionistischer" Publizistik in Reaktion auf derartige Parnphlete ist man stets geneigt, die oft absurden Osterreich. Die manchmal gehorte, auch vorn irnrner weiter nach rechts Behauptungen einfach zu negieren. Jede ernsthafte Auseinandersetzung niit abdriftenden Fachhistoriker Ernst Nolte vertretene Klassifizierung des den Geschichtslugen birgt die Gefahr der Aufwertung dieser Liigen in sich. .&evisionisrnus" als diskutierenswerte ,,abweichende Meinung" verkennt Wenn die seriose Wissenschaft sich die Widerlegung einer solchen ,,Argu- dessen zentrale Kornponente: Es geht nicht urn Meinung oder Wissenschaft, mentation" aufzwingen 1a13t, wen11 sie sich genotigt sieht. die Wahrheit aufs such wenn die ,,Revisionisten" selbst diese Argurnente gerne ins Treffen neue zu beweisen, gesteht sie den ,,Revisionisten'' dann nicht den Rang - whren, sondern um die eindeutig politisch rnotivierte Leugnung geschicht- , ernstzunehrnender Beweisfiihrungen zu? In ~sterreichentbrannte diese Dis- !?her Tatsachen und des millionenfachcn Leidens der Opfer und deren . kussion u. a. in1 Rahrnen des Prozesses gegen den Neonazi Gerd Honsik, Hinterbliebener. Damit weist die Holocaust-Leugnung eine ganzlich andere als das Gericht den Wiener Universitatsprofessor Dr. Gcrhard Jagschitz mit Qualitat auf als jede einfache MeinungsauBerung oder wissenschaftlich der Erstellung eines Gutachtens iiber die Tatsache der Massenrnorde in Auschwitz beauftragte. Die Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens des Gerichtes 60 Vgl. Lipstadt, hes. S. 221-252. wurde darnals von Historikern und Journalisten in Frage gestellt, ins- 61 Ebenda, S. 13. 62 besondere als der Angeklagte Honsik dies als Zweifel des Gerichts an der Broszat, Zur Kritik der Publizistik des antisetnitischen Rechtsextremismus, in: Tatsachlichkeit der Giftgasrnorde interpretierte. Die Wissenschaft kann sich Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 19/76 (8. 5. widmete eine in Wien abgehaltene in~ernationaleKonferenz gegen Neonatis- der Frage NS-apologetischer Publizistik hrcitcn Raum. Tagungsunterlagcn in der 63 des Dokumentationsarchi~sdes Gsterreichischen Widers(andrs. 57 Neue Kronen Zeitung, 24. 5. 1992. z'B E"gen Kngod~ermrnnLrngbcidAdrlhert Riickerl (Hrsg.). Nationalsozia- 58 Vgl. z. B. Fritz Plasst.r/Pcter A. CJlram, Auslanderangst als med~enpolitischesProhleln. listische Massentbtungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1983; Ein Forschungsbericht des Fessel+GtK-Institutes und des Zentrums fiir angewandte Benz.(~rsg:), kenden; Dokurr~entationsarchivdes Gsterreichischen Widerstandes/Bun- desmln'stenum Politikforschung, Wien, Ilezember 1992. Unterricht und Kunst (Hrsg.), Amoklauf, sowie cine FOlle von Publi- 59 Schreiben von Dip]. lng. Wolfgang FrGhlich an Univ. Prof. Dr. Gerhard Jagschitz, 15. ?. FraW im gr6Ueren Zusamrnenhang ron Rechtaxtremis~nusund Neo- 19Y5. Kopie irn DOW. ""lsmus abhandeln.

-30- - 31 - fundierte These. Insbesondere die Achtung gegenuber den Opfern d,s Holocaust gebietet unseres Erachtens die vehemente Z~riickweis~~gjed dieser Geschichtsliigen. Denn neben deren politischen Implikationen darf nicht iibersehen werden, daR damit die Toten und die uberlebenden der Wolfgang Benz NS-Verfolgungen xutiefst verletzt werden. Letztlich verunglimpfen und verhohnen die ,,Revisionistend' die Trauer aller jener Menschen, die ~l~~~~ Kinder, Freunde, andere Verwandte durch die nationalsozialistischen Ge: Dcr Begriff Revis~onismusbezeichnet in der Ceschichte der Arbeiter- waltverbrechen verloren haben. b.wegung die historische ~i~htungsdiskussionder Jahrhundertwende, in die Sozialdemohatie vom dogmatischen Marxismus loste und sich der neg der ~~f~~n~statt der Revolution entschied. SO erbittert der den die politische Linie zwischen Eduard Bernstein, den1 Protago- Streit ~~~i~i~~i~mu~,und August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Rosa nisten des clara Zetkin und anderen Funktionken und Intellektuellen der partei gef"hrt wurde, SO ernsthaft wurden Argumente ausgetauscht und gewogen, D~~ damalige Richtungsstreit, den Lenin fiir gefahrlich hielt und den spgter die Kornmunisten als Angriff auf ihren weltrevolutionaren ~~~h~~~~~~~~~~~~hverstanden, war ein sakularer Akt der Positionsbestim- mung mit weitreichenden intellektuellen und politischen Folgen. Revisionismus steht im Sprachgebrauch des Volkerrechts aher auch fiir Beseebungen, Vertrage abzuandern, sich mit internationalen vertraglichen Regelungen, vor allem mit Grenzen, nicht abfinden zu konnen und auf die Revision der entsprechenden Abmachungen hinzuarbeiten. Das Diktat von

59 Versailles war AnlaB fur den wohl folgenreichsten Revisionismus der jun- geren Geschichte. Mit der Forderung nach Revision des Friedensvertrages von 1919, nach Ruckgewinn der verlorenen Territorien, nach Tilgung der den deutschen Patriotismus beleidigenden ,,Schmach-Paragraphen", nach Wiederherstellung militarischer Macht und Geltung gewann Hitler Anhan- ger fiir seine NSDAP und Biindnispartner im deutschnationalen und konser- vativen Biirgertum. Die Forderung nach Revision des Versailler Vertrags gehorte LU den Trieb- kr8ften9die Hitler 1933 ins Amt des deutschen Kanrlers brachten, und je mehr ihm die Fruchte des Revisionsbegehrens zufielen, desto starker ap~laudiertenihm die Massen, desto miichtiger wurde der Fuhrermythos. Stationen der Apotheose im Zeichen des Revisionismus waren der Austritt der Abriist~n~skonferenzund dem Volkerbund 1933, die Wieder- einfiihrung der Wehrpflicht 1935, der Ein~narsch ins entmilitarisierte Rhein'and 1936, der ,,AnschluRG'nsterreichs irn Fruhjahr 1938, die erpreBtc Ab'etung der Sudetengebiete von der Tschechoslowakei im Herbst 1938 angeblich letzte territoriale Revisionsforderung Deutschlands in Eumpa), die Zerstorung der Tschechoslowakei irn Fruhjahr und der ~ber- fa': a~fPolen im Spatsommer 19-39. Die Folgen des dadurch ausgelosten Zweiten Weltkriegs waren so nieder- xhmetternd7 dafl fur revisionistische Bestrebungen wie nach dem Ersten

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Gleichwohl gilt, dass Persönlichkeiten wie die Chronistin des KZ Ravens­ brück, Erika Buchmann, immer wieder auch vergleichsweise sachlich über Lie­ ALEXANDER ZINN besbeziehungen im Lager berichtet haben. Irma Trksak, jahrelang Vorsitzende der österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück, reflektierte in einem Inter­ view 1987 die Veränderungen in der Wahrnehmung weiblicher Homosexualität Homophobie und männliche Homosexualität im Lager wie folgt: "Schau, die Einstellung zu diesen Dingen war zu dieser Zeit, in in Konzentrationslagern unserer Jugend anders. Obwohl wir schon frei gedacht haben, haben wir uns doch durch die herrschende Meinung beeinflussen lassen. Man hat es belächelt, es war Zur Situation der Männer mit dem rosa Winkel ein biß! suspekt. Auch wenn man es nicht verurteilt hat, war es ein bißt anrüchig. Das ist ihre Sache, hat man gesagt." 5l Die prekäre Situation der homosexuellen KZ~HäftlJnge

Zw ischen 1933 und 1945 wurden in den nationalsozialistischen Konzentrations­ lagern etwa 10 000 Männer aufgrund ihrer Homosexualität inhaftiert.l Sie wur­ den als eigene Haftgruppe mit dem rosa Winkel gekennzeichnet.2 Doch nur in den ersten Jahren der NS-Diktatur stellten die homosexuellen Männer eine im Verhältnis zur Gesamtzahl der KZ-Häftlinge rele, a.nte Gruppe dar. So waren am 11. Juni 1935, zu Beginn der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung, mindestens 413 homosexuelle "Schutzhäftlinge" in den preußischen Geslapo­ Gefangnissen inhaftiert, darunter allein 325 im Konzentrationslager Lichtenburg. Das waren zu diesem Zeitpunkt fast ein Viertel aller Schutzhäftlinge in Preußen ..! 79 Weibliche Homosexualität wa r hingegen weder ein strafrechtlicher Verfolgungs­ grund, noch ist nachweisbar, dass Frauen aufgrund ihrer lesbischen Veranlagung in Konzentrationslagern inhaftiert wurden. Die immer wieder kolportierten Berichte, wonach in den KZ Ravensbrück und Flossenbürg oder auch im KriegsgeCangenenla­ ger ßützow Frauen aufgrund ihrer lesbischen Veranlagung inhaftiert gcwesw seien. lassen sich nicht belegen. Joachim Müller hat dazu eine imposante Quellensammlung zusammengestellt: Zum Mahnmalsstreit in Berlin 2006/200;- um Kuss-Symbole - Widmung - Zielsetzung. Unveröff. Manuskript, Berlin 2007. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Claudia Schoppmann in diesem Band. Zur Anzahl der Rosa-Winkel­ Häftlinge in den Konzentrationslagern vgJ. Rüdiger Lautmann (Hrsg.), Seminar:

Gesellschaft und Homosexualität, Frankfurt a. M. 197 I, $. 333. Demnach können es auch 5000, aber auch an die 15000 Häftlinge gewesen sein. 2 Der rosa Winkel wurde wie die anderen Winkel im Winter 1937:38 eingeführt. Zuvor waren homosexuelle Männer in den Konz.entrationslagern unter anderem mit einem großen A gekennzeichnet worden, das wohl für .. Arschficker" sta nd. \ gl. Andreas Sternweiler, Ch ronologischer Versuch zur Situation der Homosexuellen im KZ Sach­ senhausen, in: Joachim MüUer/Andreas Siernweiier. Homosexuelle Männer im KZ Sachsenhausen, Berlin 2000, S. 29- 55, hier S. 34. 51 Irma Trk:.ak, Ein Sommerkleid für irgendwann, in: Karin Berger u. a. (Hrsg.), nleh Am 11. Juni 1935 waren in Preußen insgesamt 1770 Schutzhäftlinge mehr als sieben gebe Dir einen Mantel, daß du ihn noch in Freiheit tragen kannst." Widerstehen im Tage inhaftiert. Die SchutzhäftUnge des Geheimen Staatspoliz.eiamtes Haren kate­ KZ. Österreichische Frauen erzählen, Wien 1987, S. 117- 130, hier S. 122. gorisiert in politische Häftlinge (103) und Homosexuelle (413 ). Bei den Häftlingen '" bU/l Eschebil ch Gleichwohl gilt, dass Persönlichkeiten wie d ie Chronistin des KZ Ravens­ brück, Erika Buchmann, immer wieder auch vergleichsweise sachlich über Lie­ ALEXANDER ZINN besbeziehungen im Lager berichtet haben. Irma Trksak. jahrelang Vorsitzende der österreich ischen Lagergemeinschaft Ravensbrück. reflektierte in einem Inter­ view 1987 die Veränderungen in der Wahrnehmung weiblicher Homosexualität Homophobie und männliche Homosexualität im Lager wie folgt: "Schau, die Einstellung zu diesen Dingen war zu dieser Zeit, in in Konzentrationslagern unserer Jugend anders. Obwohl wir schon frei gedacht haben, haben wir uns doch durch die herrschende Meinung beeinflussen lassen. Man hat es belächelt, es war Zur Situation der Männer mit dem rosa Winkel ei n biß! suspekt. Auch wenn man es ni cht verurteilt hat. war es ein biß! anrüchig. Das ist ihre Sache, hat man gesagt."5! Die prekäre Situation der homosexuellen KZ-Häftlinge

Zwischen 1933 und 1945 wurden in den nationalsozialistischen Konzentrations­ lagern etwa 10 000 Männer aufgrund ihrer Homosexualität inhaftiert.! Sie wur­ den als eigene Haftgruppe mit dem rosa Winkel gekennzeichnet.2 Doch nur in den ersten Jahren der NS-Diktatur stellten die homosexuellen Männer eine im Verhältnis zur Gesamtzahl der KZ-Häftlinge relevante Gruppe dar. So waren am 11. Juni 1935. zu Beginn der nationalsozialistischen Homosexuelle n v~ rfolgung, mindestens 413 homosexuelle .. Schutzhäftl inge" in den preußischen Gestapo­ Gefangnissen inhaftiert. darunteraUein 325 im Konzentrationslager Lichtenburg. Das waren zu diesem Zeitpunkt fas t ein Viertel aller Schutzhäftlinge in Preußen.3 80 Weibliche Homosexualität war hingegen weder ein st rafrf'chtlicher Verfolgungs­ grund, noch ist nachweisbar, dass Frauen au fgrund ihrer lesbischen Veranlagung in Konzentrationslagern in haftiert wurden. Die immer wieder kolportierten Berichte. wonach in den KZ Ravensbrück und FJossenbürg oder auch im KriegsgefangcnenJa ­ ger Bützow Frauen aufgrund ihrer lesbischen Veran lagung inhaftiert gewesen seien, Jassen sich nicht belegen. Joachim Müller hat dazu eine imposante Quellensamrnlung zusammengestellt: Zum Mahnmalsstreit in Berlin 2006/2007 um Kuss-Symbole - Widmung - Zielsetzung. Unveröff. Manuskript. Berlin 2007. Vgl . hierzu auch den Beitrag von C1audia Schoppmann in diesem Band. Zur Anzahl der Rosa-Winkel­ Häftlinge in den Konzentrationslagern vgJ. Rüdiger Lautmann (Hrsg.), Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Frankfu rt a. M. 1977, S. 333. Demnach könnl!l1 es auch 5000, aber auch an die 15000 Häftlinge gewesen sei n. 2 Der rosa Winkel wurde wie die anderen Winkel im Winter 193; :3R eingeführt. Zuvor waren homosexuelle Männer in den Konzentrationslagern unter anderem mit einem großen A gekennzeich net worden. das wohl fü r "Arschficker" stand. Vg!. Andreas Sternweiler. Ch ronologischer Versuch zur Situation der Homosex uellen im KZ Sach­ senhausen, in: Joachi m Müller/Andreas Sternwei ler, Homosexuelle Männer im KZ Sachsenhausen, BerHn 2000. $. 29-55. hier S. 34. 51 lrma Trksak, Ein Sommerkleid für irgendwann, in: Karin Berger u. a. (Hrsg.), .,Ich 3 Am 11. Juni 1935 waren in Preußen insgesamt lila Schutzhäftli nge mehr als sieben gebl' Dir einen Mantel, daß du ihn noch in Freiheit tragen kannst." Widerstehen im Tage inhaftiert. Die Schutzhäftlinge de ~ Geheim en Sta atspolizeiamtes waren kate· KZ . Österreichische Frauen erzählen. Wien 1987. S. 117-130. hier S. 122. gorisiert in politische Häftli nge (I03) und Homosexuelle (413). Bei den Häftlingen '0 Alexander Zinn HOlI!ophobie lind männliche Homosexualität in Konzentrationslagern 81

.\uch wenn die absolute Zahl der homosexuellen KZ·Häftlinge in den folgenden hielten sie das für ihre Kriegs- und Sicdlungspläne angestrebte Bevölkerungs• Jahren weiter stieg, sank ihr Anteil an der Gesamtzahl der Häftlinge stetig. Lag wachstum für bedroht. Zum anderen befürchtete Reichsführer 55 Heinrich er .\nfang der 1940er-Jahre im Schnitt noch bei etwa einem Prozent. so sank er Himmler, dass Homosexuelle den nationalsozialistischen "Männerstaat" unter­ inlolge der ins Unermessliche steigenden Gesamtzahl der KZ·Häftlinge im Laufe wandern würden: .. [n dem Augenblick aber, wo (... J ein geschlechtliches Prinzip der Kriegsjahre immer weiter. im Männerstaat von Mann zu Mann einkehrt, beginnt die Zerstörung des Staa­ Die Tatsache. dass die Rosa·Winkel·l-läftlinge in den Konzentrationslagern tes." In den Augen Himmlers waren homosexuelle Männer eine verschworene eine \'er~chwindend kleine Minderheit darstellten, erwies sich als prägend für Gemeinschaft, die das Leistungsprinzip durch "ein erotisches Prinzip" ersetzen ihre soziale Stellung und ihre Überlebensbedingungen. Im Gegensatz zu anderen und so den Staat zerstören würde.6 Häftlingsgruppen hatten sie kaum eine Chance, sich selbst zu organisieren und Die Nationalsozialisten hielten die Homosexualität für eine ansteckende gegenseitig zu schützen.4 Einer Selbstorganisalion wenig förderlich war auch, dass "Seuche". Folgerichtig unterteilten sie homosexuelle Männer in zwei Gruppen, die den Homosexuellen, im Gegensatz zu politischen oder religiösen Gruppen, eine "Verführten" und die "Verführer". Josef Meisinger, Leiter der Reichzentrale zur gemeinsame Weltanschauung fehlte. Viele Rosa·Winkel-Häftlinge waren Ein· Bekämpfung der Homosexualität und Abt reibung, erklärte 1937, "da ~s es sich nur zelgänger, nicht selten mit geringem Selbstbewusstsein und gebrochener homo· bei einem verschwindend kleinen Teil der Homosexuellen um wirklich homose­ sexueller Identität ausgestattet. Eine Karriere in der Lagerhierarchie, die beste xuelle Veranlagung handelt", die meisten hätten sich "zu irgendeinem Zeitpunkt Möglichkeit, den SS·Terror zu überleben, blieb ihnen, von wenigen Ausnahmen sehr normal betätigt und dann lediglich aus übersättigung" zur Homosexuali­ abgesehen, verschlossen. Homosexuellenfeindlichen Vorurteilen, Diskriminie­ tät verführen lassen? Die SS-Zeitschrift Das Sc.hwarze Korps schätzte die Zahl rung und Gewalt waren die Rosa-Winkel-Häftlinge deswegen meist schutzlos der "Verführer" auf nur zwei Prozent aller Homosexuellen: "Ihre Gefährlichkeit ausgeliefert. Von der SS wurden sie oft besonders brutal behandelt. Und auch die übersteigt jede \-orstellungskraft. Vierzigtausend Anormale, die man sehr wohl I\lithäftlinge schikanierten die Männer mit dem rosa Winkel häufig. aus der Volksgemeinschaft ausscheiden könnte, sind, wenn man es ihnen zulässt. imstande, zwei Millionen zu vergiften."g W:ihrend man glaubte. dil. .,V~rführ­ ten" in der Regel über die normale Strafverfolgung nach Paragraf 175 RStGH auf

81 Die Behandlung der homosexuellen Häftlinge durch die S5 den "rechten V/eg" bringen zu können, wurden die ,,"erführer" besonders hart bestraft und dauerhaft "aus der Volksgemeinschaft ausgeschieden", indem man Die Nationalsozialisten sahen in der männlichen Homosexualität eine "Staats­ sie nach Verbüßung ihrer Haftstrafe in ein Konzentrationslager einwies. .... efahr minde<;tens vom gleichen Umfange wie der Kommunismus".5 Zum einen Die in die Konzentrationslager deportierten Homosexuellen hatten in der Regel keine Chance, jemals entlassen zu werden. Das Ziel der SS war ihre "Ver­

der Staatspolizeistellen au~ den Provinzen fehlte eine solche Kategorisierung, sodass nichtung durch Arbeit". Gleichwohl spielte auch bei den homosexuellen KZ ­ lllan davon ausgehen kann, dass die Zahl und der Anteil der homosexuellen Häftlin• Häftlingen der Gedanke ihrer "Umerziehung" eine RolleY Ausch\\ itz-Komman- ge noch höher lagen. Vgl. Günter Grau, Homosexualität in der N$-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und VerfOlgung, Frankfurt a. M. 1993, S. 8-:--89. 6 Himmler unterstellte übrigens, dass heterosexuelle Männer ihre Mitarbeiterinncn ·1 Die wohl einzige Ausnahme bildete das Konzentrationslager Mittelbau-Dora, in dem ebenfalls nach dem .,erotischen Prinzip" ausv._thlten. Dies hielt er aber für unschäd• Rosa-Winkel-Häftlinge (gemeinsam mit den Kriminellen) einen privilegierten Sta ­ lich, weil Frauen im ~Männerstaat" nur auf unbedeutenden Stellen verwendct wür. tus in der Lagerhierarchie erobern konnten. Ihr vergleichsweise hoher Anteil unter den: "Das ist harmlos und hat gar nichts zu besagen, denn wenn sie hübsch ist, wird Jen Häftlingen und die Beherrschung der deutschen Sprache waren dafür wichtige sie bald heirat en, und außerdem ist die Dienststelle einer Stenotypistin ja nicht ma'~­ \ oraussetzUJlgen, ebenso wie die insgesamt schwache Repräsentation der ublicher­ gebend für den Staat. sie hat ja nun nicht wieder andere auszusuchen." \'gl. Himmlers weise um die Macht konkurrierenden Häftlingsgruppen der Politischen und Krimi­ Geheimrede vom 18. Februar 193"', in: Bradley F. Smith/Agnes E Peterson (Hrsr.). nt'llen. Vg l. Olaf Mußmann, Häftlinge mit rosa Winkel im KZ Mittelbau-Dora, in: Heinrich Himmle!': Geheimreden 1933-1945 und andere Ansprachen, frankfurt Jers. (Hrsg.), Homosexuelle in Konzentrationslagern. VortIJ.ge. "'\'issenschaftliche a. M. 19-:-4, S. 95 f. Tagung. 12.113. September 1997, KZ-Gedenkstätte Mittelbau-DOfa, Nordhausen. Vortrag Josef Meisingers vom 5./6. April 1937. Grau, Homosexualität, S. 14 . -153. Rad rdünslereifel2000, S. 133-138, hier S. 136 f. 8 Das sind Staatsfeinde, in: Das Schwarze Korps vom 4. März 1937. 5 Su Jer Gestapo-Mitarbeiter Gerhart Kanthack 1935, zit. nach: Hans Günter Hockerts. ~ Welche Bedeutungdas Ziel der "Umerziehung" Homosexu ... ller für die SS hatte, Zl'igCll Die Si ttlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936-19r auch die sogenannten "Abkehr"-Prüfungen, die Reichführer SS J\lainz 1971, S. 20 und 12. Homophobie und männliche Homosexualitiit in Kon zrntrilliflnsldgcrn 83 Alcxllndcr Zinll ? 2 dallt Rudolf Höß erklärte dazu später: "Während die zur Abkehr Willigen, die 8l1dtolcL I ..-:-::l ~\ _n_'.' ___ '__ den festen Willen dazu hatten, auch die härteste Arbeit durchstanden, gingen die L--=~ ~10...... "'__...... 1.'- .._"'~\ .. _ ..·- ___,, __ o"'-'"'=r=' .-----..:! - -= --. ..!'~~r;.::!=~?,.. anderen langsam, je nach Konstitution, physisch zu Grunde. Da sie VOll ihrem L~~ .----, .---, 110 ...... ,...... Laster nicht lassen konnten oder nicht wollten, wussten sie. dass sie n icht mehr L ·-H . ._, _.s-.'_.... ,-_I [4 ~ I!!:!--....-J w _-c...... frei werden würden. Dieser stärkst wirksame psychische Druck bei diesen meist r-:::;.~ -- zart besaiteten Naturen beschleunigte den physischen Verfall. Kam dazu noch [, \1' ~ Tiilvr btq,nnt 1928 "" Altvl" ""n 8 "}oh '_ m,t lIo... o' .. "" .... n Handlungen. Bi, ...... ~ ..rfUhrt. «'" .. n ~m kl~,nn> Ort tWi.,oadn>- &bcnnorim) etwa der Verlust des ,Freundes' durch Krankheit oder gar durch Tod, so konnt\.. ~J~ge Mensc;nen O~ man den Exitus voraussehen. Viele begingen Selbstmord. Der ,Freund' bedeutete ~ r-::J Mu,tItfI e,t,lilt> b,lo.tutn L..----' ~ ~-;:;- JuStndlicilcn .. rod I". d ic ,n.ct.tl\arUgf "",,~t... "9 dv. diesen Naturen in d ieser Lage alles. Es kam mehrere Male vor, das .. zwei Freunde I' . I!:,. ._\ HOfno,~ ..... lit.:i~ von einem ei nzigen Gtfahrtnhtod ou. zusammen in den Tod gingen."10 :;--1~ Was Rudolf Höß hier dezent verschweigt, ist der tägliche SS-Terror, der r ·-1 L-J~ t:!2.!!P'l\'nNhlt !!!2..:.!ill- /'!!!::...... ;- L~ _ _ nicht selten in Morden gipfelte. Um die "Umerziehung" durch "härteste Arhdl" C~ zu gewährleisten, wurden d ie Rosa-Winkel-Häftlinge in die Strafbataillone der 0" (j"oMr~.boo';-"';'" Konzentrationslager eingewiesen. In Sachsenhausen kamen sie in die Isolierung ~~ ... v.rlol/I....., O ~~D'''''' .,;,t;~- "'-" und später in das berüchtigte Klinkerwerk, in Buchenwald wurden sie im Stein­ bruch geschunden. Im Gegensatz zu anderen Haftgruppen hatten sie kaum eine "~-1!.11 ~...!:-, .. ..._ ..... ~pI ....., ,;'B~ ..... M" Chance, aus den Strafbataillonen entlassen zu werden . .~ ~ ;;;:; :;::::;;:. '::'"::.:.. _.. Die Behandlung durch die Wachmannschaften der SS war oft besonders ~ ~,'=:": :.:J ____ Qo>.~ ":..:::.::::--''''' 1000 __ .... a. brutaL Im Einzelfall war hier sicher weniger das ideologische Ziel der "Umer­ JEEfF[S-=~ ziehung" motivierend als die Homophobie der SS-Männer. Ein Beispiel: Als ein lunger Rosa-Winkel-Häftling des Männerlagers Ravensbrück im Sommer 1942

82 \"or Schw..lche zusammenbricht, wird er von SS-Obersturmführer Rudolf Heer so iange mit Schlägen und Tritten misshandelt, bis er besinnungslos ist. Die Kamt.'­ raden des Strafbataillons müssen ihm schließlich die Füße mit Draht umwickeln und den Geschundenen hinter sich herziehen, sodass sein Kopf über die Erde \ :-.:hleift. Der junge Mann stirbt noch am selben Abend, im Totenschein wird wie

.,_ ... ~ ... , \ \ r----:;-'~~- --- '-" blich "Herz- und Kreisla ufschwäche" eingetragen.]] Es gab Zeiten, zu denen "die SS den Homosexuellen besondere Aufmerksam­ \ill....:..!!i- r;;-'--::;1 i I I' h" H:' -' L-.::J,I I " .... eit schenkte und deren Vernichtung systematisch organiSierte", so der ehemu­ ,.---v' 1 ~ r--J.--'- ?oe Häftling Conrad Finkelmeier in seinem Erlebnishericht über Buchell willd L--.J I L-J ~ ~ :'::1d Ravensbrück.l2 Tatsächlich lässt sich für den Sommer 1942 in verschiede- I 1..... ' .... '!1!'.."1_,_· 1 1944 in Ravensbrück durchführen ließ. VgL Martin Broszat (HrFg.), Kummandant SchaUlafel "Musterbeispiel der homosexuellen Verführun g [... ] und für die scuchenart:~t in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des RudolfHöß, fo.lünchell 1963, A\t~br..:itullg der Homosex ualität von einem Gefahrenherd aus~. 5. 81. In Buchenwald ließ Himmler im Herbst 1944 dagegen fl.lenschenversuche mit Qudle: \\'. Knopp. Kriminalität und Gefährdung der Jugel1d. Lag<:berichr bis zum Srrmd,' ~ .­ künstlichen Hormondrüsen durchführen, um Homosexualität zu "heilen". \"gl. Grau, I.Januar 194L hrsg. vom lugendführer des Deurschen Reiche5, Berlill 1941, S. 91 .. \.m: /I ••! ...... -. Homosexualität, S. 345-356. Mi:llcr, .\usgrenzung der Homosexuc/lw j!US der ~Volksgemeinschaft~· Die Verfolgung I\'~ Broszat (Hrsg.), Kommandant, S. 81. Homos('xuellel1 in Köln /933-/945, Köln 2003, S. J73. \'gl. Bernhard Strebei, Die "Rosa-W inkel-Häftlinge~ im Männerlager des KZ Raven~ ­ brück, in: Mußmann (Hrsg.), Wissenschaftliche Tagung, S. 105-114, hier S. L09. Conrad Finkelmeier, Die braune Apokalypse. Erlebnisbericht eines ehemaligen Rt'­ ,ükteurs der Arbeiterpresse aus der Zeit der Nazityrannei, Weimar 1947. S. 141. "" Alexandcr Zillll Ho/tlophobie lind männliche Homosexualität in Konulltrationslagern 85 nen Konzentrationslagern eine Häufung der Morde an homosexuellen Häftlin• festhielt: "Zu Beginn des Krieges wurden die ,175er' zu Tode gequält, nun aber gen fes tstellen. In Sachsen hausen kam es zu einer Mordaktion, der fast alle dort rückten sie durch Paukerschaft mit den ersten Capos in d ie erträglichsten Positio­ inhaftierten Homosexuellen zum Opfer fielen. Nachdem man sie von der Isolie­ nen auf. Die Herrenmenschen hackten nicht mehr auf die Invertierten ein wie die rung ins Außenlager Klinkerwerk verlegt hatte. wurden von Juli bis September Krähen auf das ihnen vorgeworfene Aas."17 194 2 mindestens 200 schwule Männer getötet.13 In Buchenwald wurde von Ju ni bis September 1942 fast die Hälfte der dama­ ligen Rosa-Winke1-Häftlinge getötet. Anders war hier allerdings die Mordme­ Homophobie und Homosexualität In der Häftlingsgesellschaft thode: Im Häftlingskrankenbau wurde ihnen von den 55-Ärzten Hoven und P]a1.3 eine tödliche Spritze verabreicht.14 Die homosexuellen Häftlinge wurden jedoch nicht nur von den "Herrenmen­ Und auch in Ravensbrück, wo im März ein Transport mit 33 Homosexu­ schen" schikaniert. Auch viele Mithäftlinge ließen ihrer Homophobie freien Lau f. clkn aus Buchenwald eintraf, kamen im Frühjahr und Sommer 1942 auffällig Als besonders problematisch erwiesen sich in dieser Hinsicht die politischen \ iele homosexuelle Männer ums Leben. Sieben Häftlinge wurden Ende März im Häftlinge, vor allem Sozialdemokraten und Kommunisten. Sie hatten zwar nicht Rahmen der Aktion 14fl3 ermordet. Weitere 24 homosexuelle Männer wurden vergessen, dass SPD und KPD noch in den zwanziger Jahren für die Abschaffung '·on März bis Oktober 1942 als verstorben registriert, wobei es auch hier eine auf­ des Paragrafen 175 eingetreten waren. Dem einzelnen Homosexuellen brachten fällige Häufung der Todesfälle im Juni gab. Überd ies wurden 21 Homosexuelle sie deswegen auch oft Mitgefühl entgegen. Gleichzeitig jedoch waren insbeson­ auf sogenannte Krankentransporte nach Dachau geschickt, die nur wenige über­ dere die kommunistischen Häftlinge stark geprägt von homosexllellenfeindlichen lcbten.15 31 von 78 Homosexuellen waren Ende 1942 in Ravensbrück schließlich Vorurteilen. Es war die antifaschistische Propaganda der 1930er-Jahre, die sich in umgekommen oder ermordet worden. ihre Köpfe eingebrannt hatte: Demnach gingen Homosexualität und raschislllUS Handelte es sich dabei um eine reichsweit koordinierte u nd von der SS-Füh• Hand in Hand. rung angeordnete "Vernichtung" homosexueller KZ-Häftlinge? Außer der zeitli­ Seit der ,.Röhm-Affäre" 1931 war das Klischee vom "schwulen Nazi" ein stän• I.: hen Korrelation der Morde von Sachsen hausen, Buchenwald und Ravensbrück diger Wegbegleiter der kommunistischen Politik.18 Und mit den Jahren hatte sich

83 gibt es darauf keinen Hinweis. Auffällig ist allerdings die zeitliche Nähe zu einem der antifaschistische Kampf gegen die angeblich homosexuellen Nazis in immer Himmlcr-Befehl vom 7. März 1942, dem zufolge "alle Angehörigen der 5S und absurdere Wahnvorstellungen gesteigert, bis hin zu der Idee. dass die "NSDA P Polizei Vorkämpfer im Kampfe um die Ausrottung der Homosexualität im deut­ geradezu zur Bewegung der Homosexuellen geworden" sei. l~ Ein trauriger Gip­ schen \·olke sein müssen".16 felpunkt dieser Propagandaschlacht war sicherlich das 1934 von Maxim Gorki Erst in den le tzten Kriegsjahren verbesserte sich die Situation der Rosa-Win­ in Umlauf gebrachte "sarkastische Sprichwort": "Rottet die Homosexuellen aus _ kt:l -Häftlinge, wie der Ravensbrück-Häftling Karl Gerber in seinem Lagerbuch und der Faschismus verschwindet."2o

13 Vgl. Joachim Müller, "Unnatürliche Todesfalle". Vorfälle in den Außenbereichen Klinkerwerk, Schießplatz lind Tongrube, in: MülleriSternweiler, Homosexuelle Män• ner im KZ Sachsenhausen, S. 216- 263. H Vg1. Wolfg,wg Röll, Homosexuelle Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald 1937- 1945. Unveröff., überarb. und en,·. Manuskript, Weimar 2007, S. 3S und 77- 81. 15 Vgl. Strebe!' Die " Rosa - Winke l - Hä ftli n g e~, S. 106- 108. Zur zeitlichen Verteilung der Todesfälle in Buchenwald , Ra \·ensbrück und Sachsen hausen im Jahr 1942 vgL die 17 Karl Gerber, KZ-Lagerbuch. Welzheim - Dachau - Ravcnsbrück, um cröff. ~ l anu . Tabelle auf Seite 95. skript. Nürtingen 1949, MGR/SBG, SKRfl, S. 442. In Tatsächlich setz.ten die Morde in Buchenwald und Ravensbrück erst im März 1942 18 Zum Propaganda klischee vom .,schwulen Nazi" vgl. Alexander Zinn, Die soziale ein und steigerten sicb danach langsam, ehe sie ab September wieder zurückgin­ Konstruktion des homosexuellen Nationalsozialisten. Zu Genese und Etablierung gen. Zu den möglichen Hintergründen vgl. Alexander Zinn, Das Glück kam immer eines Stereotyps, Frankfurt a. M. 1997. LU mir. Rudolf Brazda - Da s Überleben eines Homosexuellen im Dritten Reich. 19 "Die Säuberungsaktion", in: Volksstimme 26 (1934) 295, S. 3. Frankfurt a. M. 2011 , S. 265- 266. Zum Himmler-Befehl vom 7. März 1942 vgl. Grau. 20 Maxim Gorki, Proletarischer Humanismus, in: Rundschau über Politik, Wirtschaft Homosexualität. S. 248- 251. und Arbeiterbewegung (1934) 34, S. 1297- 1299. 1:6 Alex

84 das offizielle Verbot der Homosexualität beständig hinwegsetzte. sich dabei gegen­ .\uch in den Konzentrationslagern für Männer spielte das Klischee vom .,schwu· seitig deckte und ihre Taten vertuschte, indem sie ihre Opfer liquidieren IidH Es ist len Nazi" eine große Rolle. Zum einen standen die homosexuellen Häftlinge nicht auszuschließen, dass Fälle wie der beschriebene vereinzelt vorkamen. Es ist unter dem Generalverdacht, verkappte Nazis zu sein. Diese stereotype Sichtweise aber vollkommen absurd anzunehmen, Derartiges sei von der N5-Führung gedul­ schlug sich auch nach der Befreiung in zahlreichen Erinnerungsberichten nieder. det oder gar protegiert worden. Noch fantastischer ist die Vorstellung, Homosexu­ Bt::ispidhaft sei hier auf Conrad Finkelmeier verwiesen, der 1947 schrieb, »unh> ~ alität sei das geheime Organisationsprinzip des NS -Staates gewesen. Das Gegenteil den Sexualverirrten" hätten "sich meist ehemalige SS- und SA-Angehörige, Pgs. war der Fall: Homosexualität wurde in NS-Organisationen auf das Schärfste \er­ und Führer aus der Hitlerjugend" befunden.21 folgt. 50 ordnete Hitler am 15. November 1941 in seinem Erlass "zur Reinhaltung Umgekehrt wurden aber auch die KZ-5chergen der S5 regelmäßig homosexu­ \'on SS und Polizei" sogar die Todesstrafe für alle 55- und Polizei angehörigen an, eller Neigungen beZichtigt. Und es waren meist die besonders brutalen und »SJdl ~­ die "mit einem anderen Mann Unzucht" trieben oder "sich von ihm zur Unzucht tischen" 55-Männer, die man glaubte als Homosexuelle identifizieren zu könner missbrauchen" ließen. 25 .-\uch vorher waren homosexuelle SS-Männer hart beftraft Beispiels\\eise heißt es in einem Bericht des Internationalen Lagerkomitecs \'( und zum Teil selbst in Konzentrationslager eingewiesen worden ..!t , Buchenwald aus dem Jah r 1949: "Der SS-Hauptscharführer Greue} war ein honw · sexueller Sadist. Er pflegte sich gleich morgens einen Häftling in se ine Bude [. :1 Internationales Lagerkomitee: Konzentrationslager BuchcnwalJ. Bericht de Intt'r- nationalen Lagerkomitees. Bd. 1. , Weimar 1949, S. 151. 21 hnkclmeier, Die braune Apokalypse. S. 14 1. Der ehemalige politische Häftling R. ­ :3 Alexander Zinn, Interview mit RudolfBrazda vom 4. Dezember 2008. Julf Wunderlich behauptete am 5. luli 1945 belüglich Sachsenhausen Ähnlk:: - :4 Internationales Lagerkomitee: Konzentrationslager Buchenwald, S. 150 . .,Oie meisten Homosexuellen waren Mitglieder der NSDAP, SA, SS HJ". Zit. n .l~­ :3 Erlass des Führers zur Reinhaltungvon S5 und Polizei vom 15. November 194 I. Grau . Joachim Müller, "Unnatürliche Todesfalle", in: Müllerf5ternweiler, Homosext't' ~ Homosexualität, S. 244 . ~Iänrlcr im KZ Sachsenhausen, S. 240. :to So wurden der SS-Blockführcr Heinz Beernaum und drei weitere 55-Angehörige des Konzentrationslagers Sachsen hausen im April/Mai 1939 ·,,!gen "widernalürli- F" Alexul1der 2i111/ Homophobie Ul1d mäl1nliche Homosexuulit,H i/1 KOl1unrratiomlagenJ '9

Die angebliche Verbindung von 55, Sadismus und Homosexualität hatte nur der Konzentrationslager eine wichtige Rolle, zumindest bei den Häftlingen, die wenig mit der Realität zu tun. Viel mehr hatte sie mit dem bequemen Klischee noch so kräftig und gesund wJ.ren, dass ihr sexuelles ,"erlangen nicht vollkom­ vom "schwulen Nazi" zu tun, von dem sich viele Antifaschisten auch im Konzen­ men erloschen war. Und das galt insbesondere für die funktionshäftlinge. Rudolf trationslager nicht trennen wollten. Und dafür gab es "gute" Gründe: Die Stig­ Brazda berichtet: "Das war allgemein in den KZ, der Sex lief auch ganz gut. Diese matisierung des politischen Gegners als Homosexueller erfüllte zweifellos den Kapos "aren schon jahrelang Häftlinge in den KZ gewesen und hatten auch noch angestrebten Zweck. ihn zu diskreditieren. Diese altbewährte Strategie wendete sexuelle Gefühle, die wJ.ren nicht drangsaliert worden und hatten besseres Essen man nicht nur gegen Nazis an. Ebenso wurden politisch unliebsame Funktions­ gehabt."30 häftlillge, besonders die brutalen Kapos, von den Mithäftlingen zu Homosexuel­ Funktionshäftlinge hatten aufgrund ihres privilegierten Status mehr MÖf;• len stilisiert. Auch in diesen Fällen wurde oft eine Verbindung von roher Gewalt, Iichkeiten als andere, ihren sexuellen Bedürfnissen nachzugehen. Sie hatten Sadismus und Homosexualität hergestellt. Das schlug sich besonders in den zumeist das Recht, sich auf dem Lagergelände frei zu bewegen, u nd damit auch DarsteJlungen nach der Befreiung nieder. So wie im Fall von Johann Herzog, bis Zugang zu Orten, an denen ein ungestörter Sexualkontakt möglich war. Und sie Dezember 1941 Kapo des Steinbruchs von Buchenwald, den man im Nachhinein hatten Zugang zu Gütern, mit denen man sexuelle GefaHigkeiten "entlohnen" 2 1.1I einem Homosexuellen erklärte: . "Der Kapo namens Herzog war ein früherer konnte. Was sie jedoch nicht hatten. war der Kontakt zu Frauen. Zumindest his hemden legionär, äußerst brutal, anscheinend homosexuell sadistisch und hatte 1942, als auf Weisung Himmlers in zehn Konzentrationslagern damit begonneil eine unheimliche Neigung zu Blutrausch."28 Das Gleiche gilt für einen anderen wurde, sogenannte Lagerbordelle einzurichten - als "Antriebsmittel für höhere Steinbruch-Kapo namens Vogel, der ebenfalls als "ein sadistischer Homosexuel­ Leistungen". Doch auch die Lagerbordelle blieben eine exklusive Angelegenheit: 29 ler" besc hrieben wurde. Juden, Sinti und Roma oder Russen war der Besuch in der Regel verboten ..'! Um In der Lagergesellschaft war die sexuelle Denunziation ein alltägliches Kampf­ sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen, waren die meisten Häftlinge weiterhin auf mittel zur Eroberung und Verteidigung von Machtpositionen der Häftlingsselbst­ ihre Geschlechtsgenossen angewiesen. verwaltung. Kaum et\\ .lS war schlimmer, als als Homosexueller gebrandmarkt zu Es waren besonders junge l\fänner, Jugendliche, manchmal halbe Kindcr, werden. Das freilich korrespondierte nur wenig mit der sexuellen Praxis vieler die das sexuelle Interesse vieler Funktionshäftlinge weckten. Als nach dem deut­

85 Funktionshäftlinge. Denn Homosexualität spielte in den Männergesellschaften schen Überfall auf Polen 1939 viele jugendliche Polen in die Konzentrationslager ,'erschleppt wurden, entwickelten sich zwischen ihnen und einigen Funktiolls­ (ha l'nzucht" lestgenommen, Beerbaum wurde zu fünf Jahren und zwei Monaten häftlingen regelrechte Beziehungen, wie Fritz Lettow später beschrieb: "Wie das Zuchthaus \erurteih. Nach Verbüßung der Zuchthausstrafe \\'urde er um 27. M.ll immer so ist in den Lagern, wo jahrelange AbgeschJossenheit und das Fernsein 1Q44 selbst in die Strafkompanie von Sachsenhausen eingewiesen. Vgl. Fred Brade. \'on Weib und Kind die härtesten Männer bedrückt, so wurden nun diese Kin­ .. \, as Einmaliges im Lager. daß ein Homo solche Machtbefugnisse besaß", Die der und Jugendlichen besonders protegiert. Die Küche gab ihnen mehr Essen, SS-l.l!ule Karl Schwerbel und Heinz Beerbaum, in: MüllerlSternweiler. Homosexue!;e­ Männer im KZ Sachsen hausen, $. 331-337. d ie Kammern bessere Kleidung, einige Kapos und andere interessierten sich für 2 ' lohann Herzog, geb. am I. März 1901, hatte als französischer Fremdenlegionär ge' d iesen oder jenen Jugendlichen. Die ersten Freundschaften beglnnen, Vieles war dient. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland wurde er am 10. Juli 1938 verhaftet une ~a rmlos. Aber die ersten Anzeichen des erwachenden Eros standen am Horizont. um 8. Oktober 1938 als politischer Häftling ins KZ Buchenwald eingeliefert. Di.'r: diente er sich vom Einkäufer der Kantine zum Kapo des Steinbruchs hoch. Die,e ~ Posten halte er bis zu seiner Entlassung am 23. Dezember 1941 inne. Vgl. IT$ Ar..::r.:,. .: } Alexander Zinn, Interview mit Rudolf Brazda vom 4. Dezember 2008, Bad Arolsen, Doc. No. 12203116#2, Doc. No. 6093909#2 und Doc. No. 6093911:;1. -;\ Für das Lagerbordell des Konzentrationslagers Buchenwald wurden am 16. Juli 194.1 28 Ferdinand Römhild, Die Situation der Homosexuellen im Konzentrationslager Bc: ­ zunächst 16 weibliche Häftlinge aus dem Konzentrationslager Ravensbrück nach Bu­ chem ald, Bericht aus dem Jahr 1945, in: David A. Hacken, Der Buchenwald, ;-~ · cheO\','ald gebracht Der Besuch der Bordelle musste beim Rlockältesten angemeldet POft . Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, München :!') ',: und durch die SS genehmigt werden, Er kostete zunächst 2 RM . ab rrbrU

86 darum ging, die eigene Machtposition zu sichern. So zum Beispiel im Konzen· ten Umständen im Häftlingskrankenbau. Es spricht viel dafür, dass er von seinen trationslager Buchenwald. wo mit den kriminellen Häftlingen ein heftiger Macht­ "Kameraden" ermordet wurde.]1 kampf ausgetragen wurde. Am 7. Juni 1942 wurde der bisherige Lagerälteste losef Eugen Kogon hat den Kampf der Kommunisten gegen Wolff später in seinem Ohles, ein .,BVer",J3 von ei nem politischen Häftling bei der 5S als homosexu­ Buch "Der SS ·5taat" geschildert. Darin behauptet er, man habe diesem schließlich ell denunziert. Am nächsten Tag war Ohles tot. er fiel einem Fememord ande- gedroht, die SS davon zu unterrichten. "dass WoltfPäderastie betreibe". Letztlich habe man ihn aber mit der Behauptung denunziert, "es sei unter Wolffs Führung

.\2 rritz Lettow, Zäune rings um uns . 10 Jahre Gestapohaft und Konzentrationslager. ein polnisches Komplott in Gang. um einen Aufstand hervorzurufen". 3 ~ Tatsäch• S. 52 f. , Buchenwaldarchiv 311587 1., zit. nach: Röll, Homosexuelle Häftlinge, 5. 32. lich scheint bei der Denunziation Wolffs im Juni 1943 aber auch der Vorwurf der 33 Wofür die von der Lager-S5 verwendete Abkürzung HBV~ stand, ist bislang nicht Homosexualität eine wichtige Rolle gespielt zu haben. zw... ifelsfrei gek lärt. Oft wird sie mit "Befristete Vorbeugehäftli nge" übersetzt. Wahr­ Die SS setzte nach der Denunziation umfangreiche Ermittlungen in Gang. scheinl icher ist, dass die Abkürzung für "Berufsverbrecher" stand: Zum einen ging Entgegen den Gepflogenheiten wurden die Beschuldigten nicht von der Politi­ die Inhaftierung der Betroffenen zunächst auf das Konstrukt des .. Berufsverbrechers" zurück (unter Bezugnahme auf Roben Heindis Schrift "Der Berufsverbrecher. Ein schen Abteilung (Lager-Gestapo), sondern vom 5S -Arzt Dr. Waldemar Hoycn Beitrag zur Strafrechtsreform", Berlin 1926). Zum anderen wird in den Erlassen sel­ ber keine Befristung festgesch rieben, in dem Grunderlass vom J4. l2. 1937 heißt es 34 Zur Absetzung Ohres vg!. Gedenkstätte, Konzentrationslag"r, 5. 146. Röll, Hom()~e - bei~piels weis e, die polizeiliche Vorbeugehaft "dauert so lange, wie ihr Zweck es er· xuelle Häftlinge, S. 51, Anm. 253, sowie Kogon, 55-Staat, $. 312 f. fordert". Zit. nach: Wolfgang Ayaß, "Gemeinschaftsfremde". Quellen zur Verfolgung 35 Ebenda, 5. 198. von "Asozialen" 1933 - 1945, Koblenz 1998, S. 97. Vg!. auch Sven Langhammer, Die 36 Auskunft des Archives der Gedenkstätte Buchenwald vom 11 . November 2010. reichsweite Verhaftungsaktion vom 9. März 1937 - eine Maßnahme zur "Säuberun~ 37 Zu den Fememorden und den .. Säuberungen" unter kommunistischen Häftl ingeIl des Volkskörpers", in: Hallische Beitrage zur Zeitgeschichte (2007) 1, S. 55- 77, hier vgL Gedenkstätte, Konzentrationslager, S. 146 f. 5.69. Für diese Hinweise und Literaturangaben da nke ich Dagmar Lieske. 38 Kogon, 5S-Staat, S. 313 f. 02 Alexande:r Zinn Homophobie und mannlielle Homosexualität in KO/1zentratiorljlagern 95

vernommen, einem "Experten" bei der Bekämpfung der Homosexualität. 3\1 Dabei projiziert wurden, denen man eine homosexuelle Veranlagung andichtete, um sie spielten auch die homosexuellen Kontakte Wolfls eine Rolle. Insgesamt"wurden dann bei der 5S zu denunzieren. drei polnische Häftlinge befragt, zwei von ihnen gestanden sexuelle Handlun­ Zweifel und Selbsthass dürften besonders die politischen Häftlinge gequält gen. Zumindest bei einem Häftling wurde das Geständnis wahrscheinlich unter haben, die das Stereotyp vom "schwulen Nazi" pflegten. Die auch unter ihnen Folter erzwungen, denn in der Niederschrift tauchten Formulierungen auf, mit verbreitete homosexuelle Praxis musste in diesem Kontext besonders kompro­ denen die Gestapo ihre handfesten Vernehmungsmethoden gerne bemäntelte: mittierend erscheinen. Infolgedessen wurden die homosexuellen Kontakte in der "auf stärkeres Eindringen", "auf starkes Eindringen" und "auf eindringliche eigenen Häftlingsgruppe oft geleugnet - und stattdessen auf andere Häftlings­ Ermahnung". Dieser Häftling erklärte schließlich, unter seinen Landsleuten seien kategorien projiziert.~3 So zum Beispiel von Werner Koch, der 1937/38 als poli­ illegale ;\ktivitäten wie die Beschaffung von Waffen erörtert worden. Damit war tischer Häftling in Sachsenhausen inhaftiert war und später behauptete: "Unter der angebliche Aufstandsversuch bewiesen. Die drei polnischen Häftlinge und den Politischen ist Sex kein Gesprächsthema, wohl aber unter den GrÜnen.'<44 einige andere Landsleute wurden kurz nach den Vernehmungen als "verstorben" Kar! Gerber äußerste immerhin Verständnis für die sexuellen Bedürfnisse, doch registriert.4u Laut Kogon wurden sie "von Dr. Hoven ,abgespritzt''', das heißt mit auch er erklärte: "Die politischen Häftlinge im Lager Ravellsbrück hatten an die­ 'iner Giftspritze ennordet.41 Fritz Wolff wurde am 15. Juni 1943 in die Heeres­ sem wohl verständlichen Treiben keinen Anteil:<4S versuchsanstalt nach Peenemünde verlegt, wo er wenige Wochen später bei einem Die Situation der wirklich homosexuellen Häftlinge, der Männer mit dcm Luftangriff der Alliierten ums Leben kam.42 rosa Winkel, machte all das umso prekJ.rer. Sie saßen zwischen allen Stühlen: Mit der zweifachen Denunziation angeblich homosexueller Lagerältester Nicht nur, dass sie zu den ersten Opfern der SS zählten, auch in den Augen der gewannen die Kommunisten schließlich den Kampf um die Macht in der Häft• "Lagerprominenz" waren und blieben sie dubiose Subjekte: Heimlich begehrt lingsselbstverwaltung. In den folgenden Jahren stellten sie fast alle Funktions­ zwar als Sexualpartner, sah man sie doch als unsichere Kantonisten, Kriminelle, häftlinge in Buchenwald. Die Häftlingsselbstverwaltung wurde fortan von der latente Nazis, kurz "weniger wichtige und wertvolle" Häftlinge, die man am bes­ illegalen und gegen Abweichler aus den eigenen Reihen unerbittlichen Parteior­ ten in andere Lager abschob.46 ganisation der KPD geführt. Auch Eugen Kogon war von entsprechenden Vorurteilen nicht frei, wenn er

87 Der Kampf um die l\1achtpositionen der Häftlingsselbstverwaltung der Kon­ von einer "sehr \crschiedenrangigen Zusammensetzung dieser Gruppe" sprach, zentrationslager wurde in der Regel unerbittlich und mit allen zur Verfügung ste­ in der sich "neben wertvollen Menschen eine Menge ausgesprochen k rimineller henden Mitteln geführt. Es war der nackte Kampf ums Überleben, den die Häft• lind erpresserischer Existenzen" befunden hätten . 4 ~ Gleichwohl brachte Kogon lingsgruppen untereinander austrugen - ganz im Sinne der SS. Und die homo­ die prekäre Situation der Homosexuellen auf den Punkt: "Im KL genügte schon sexuellen Beziehungen, die gerade unter den Funktionshäftlingen weitverbreitet der Verdacht, um einen Gefangenen als Homosexuellen zu deklarieren und ihn \\'aren, wurden dabei als geeignetes Kampfmittcl erkannt und genutzt. Es liegt so der Verunglimpfung, dem allgemeinen Mißtrauen und besonderen Lebem ge­ nahe, dass hier auch latenter Selbsthass, den die verbreitete "Not-Homosexuali­ fahren preiszugeben. Bei dieser Gelegenheit muß gesagt werden, daß die homo­ tät" bei so manchem ausgelöst haben wird, eine Rolle spielte: Eine Mischung aus sexuelle Praxis in den Lagern sehr verbreitet war; die Häftlinge taten aber nur der eigenen Sehnsucht nach Liebe und tief sitzenden Vorurteilen, die auf Dritte jene in Acht und Bann, die von der SS mit dem rosa Winkel markiert waren . "4 ~ Für die Rosa-Winkel-Häftlinge bestand unter den geschilderten Bedingungen di ,~ ' nahezu einzige überlebenschance dari n, sich mit den herrschenden J\Iachtvcr- 3') W·lldcmar Hoven, geb. am 10. Februar 1903, war seit Oktober 1939 Lager- und Trup­ penarzt im KZ Buchenwald. Im Sommer 1942 war er maßgeblich beteiligt an einer Mordaktion an homosexuellen Häftlingen. Im Sommer 1945 wurde er von den Ame­ 43 Zu einem ähnlichen Befund kommt auch Ima Eschebach hinsichtlich des Frauen­ rikanern festgenommen, 1947 vom US-Militärgerichtshof I in Nürnberg zum Tode Konzentrationslagers Ravensbrück, vgl . ihren Beitrag zum 'rhema in diesem Band. verurteilt und am 2. Juni 1948 in LandsbergILech hingerichtet. Vgl. Gedenkstätte, 44 V'ferner Koch, Sollen wir K. weiter beobachten? Ein Lehen im \"'idcrstand, Stuttgart Konzentrationslager, S. 308. 1982, 5.218, zit. nach: Sternweiler, Chronologischer Versuch, S. 35. 40 Röll, Homosexuelle Häftlinge, S. 50 - 52. 45 Gerber, KZ-Lagerbuch, S. 443. 41 Kogon, SS-Staat, S. 314. 46 Römhild, Die Situation der Homosexuellen, S. 20,. 42 Zur Abst:tzung Woltfs vgl. Gedenkstätte, Konzentrationslager, $. 146. Röll, Homose· 47 Kogon, 55-Staat, S. 50. xuelle Häftlinge, S. 50 - 53. Sowie Kogon, SS·Staat, S. 313 f. 48 Ebenda, S. 263. •• t\lexa"der Zi"" Homophobie und männliche Homosexualität in KonzelllratiotUlag.>rn .5

hältnissen ZU arrangieren, zum Beispiel, indem man sich als "Puppenjunge" ver­ Resümee dingte. Dazu noch einmal Bugen Kogon: "Ihr Schicksal in den KL kann man nur als entselzlich bezeichnen; wenn sie etwas möglicherweise lU retten vermochte, Die besonders prekäre Lage der Männer mit dem rosa Winkel in den national­ so die Aufnahme gleich zweifelhafter Beziehungen im Lager selbst, was ihr Leben sozialistischen Konzentrationslagern erklärt sich nicht nur aus der Homopho­ ebenso erleichtern wie gefährden konnte. Wem aber war das gegeben? Sie sind bie, die ihnen seitens der SS entgegenschlug. Auch ihre Mithäftlinge machten fast alle zugrundegegangen."49 ihnen das Leben oft genug zur Hölle. In diesem Punkt ähnelte ihr Schicksal Tatsächlich mu sste man dafür nicht nu r eine robuste psychische Konstitu­ dem der jüdischen Häftlinge und der Sinti und Roma. Auch sie hatten mit Res­ tion mitbringen, sondern auch jung und attraktiv genug sein. So wie der Buchen­ sentiments innerhalb der Lagergesellschaft zu kämpfen. wurden oft besonders wald -Häftling Rudolf Brazda, der mit seinen 29 Jahren und noch recht weichen schikaniert und unter Mitwirkung der Häftlingsselbstverwaltuog bevorzugt in Gesichtszügen ein begehrter Typ war. Brazda schlug diese Chance nicht aus: "Der die Vernichtungslager deportiert. Verschärft wurde die beschriebene Situation Sex unter den Männern in Buchenwald war stark gewesen. Nun haben sie den durch die geringe Zahl der Rosa-Winkel-Häftlinge. Sie ließ Selbstorganisation rosa Winkel gesehen und gedacht: ,Ah!' Mein Benehmen war irgendwie feminin und -schutz nach dem Vorbild anderer Häftlingsgruppen von vorneherein aus­ und wahrscheinlich hat das die Männer angezogen. Und wo ich hingegangen bin. sichtslos erscheinen. All dies schmälerte die Überlebenschancen der Männer mit dort bin ich freundlich empfangen worden. Da war der Kapo. der Blockwart. der dem rosa Winkel ganz erheblich. Ohne den kollektiven Schutz der eigenen Häft­ Arbeitskapo und der aus dem Schweinestall. wenn ich zu dem gekommen bin. habe Iingsgruppe war ein ü berleben im Konzentrationslager auf die Dauer so gut wie ich immer gutes Essen bekommen. Und alle anderen haben mir was zugesteckt. unmöglich. Ei ne der wenigen Chancen, die eigene Situation zu verbessern. lag für Natürlich hat das die S5 nicht wissen dürfen, das ist alles heimlich gegangen, auch die Homosexuellen darin, den Schutz einzelner Funktionshäftlinge zu suchen. was wir miteinander getrieben haben. Das war so Mode und Sitte in Buchenwald. Diese jedoch erwarteten Gegenleistungen, meist in sexueller Währung. Wer dass Männer untereinander auch geschlechtlichen Verkehr hatten."so nicht jung, attraktiv und skrupellos genug war, sich auf dieses Spiel einzulassen, Diese "Sitte" wurde von vielen Rosa-Winkel-Häftlingen allerdings bewusst hatte nur geringe Chancen, den Terror der SS zu überstehen. Rüdiger Lautmann gemieden. Denn sie standen unter besonderer Beobachtung sowohl der SS wie hat für die homosexuellen Häftlinge eine Todesrate VOll 60 Prozent errechnet,

88 auch ihrer "Kameraden" im Lager: "Weil sie besonders stark beobachtet werden, bei der Vergleichsgruppe der politischen Häftlinge lag sie bei 42 Prozent, bei den haben sie so große .\ngst, dass sie ihre Neigungen lieber unterdrücken als ihnen sogenannten Bibelforschern bei 35 Prozent. ~ 3 nachllIgehen", berichtete Werner Koch.51 Die Gefahr war ihnen einfach zu groß ­ nicht nur, weil Homosexualität in den Machtkämpfe n der Häftlinge instrumenta­ lisiert wurde. Auch aus dem ganz banalen Grund, dass Homosexualität selbstver­ Todesfälle homosexueller KZ-Häftllnge im Jahr 1942* ständlich auch im Lager verboten war, kam es immer wieder zu Denunziationen 1942 Jan . Febr. März April Mai Juni Julj Aug. Sept. Okt. No\'. De ~ . bei der SS. So zum Beispiel im August 1942, als der poln ische Häftling Johann G. Buchenwald o o 6 6 6 24 16 3 2 dem Schutzhaftlagerführer von Buchenwald "zur Bestrafung" gemeldet wurde. Ravensb rück o o 8 4 2 6 2 3 o o Dcr 30-Jährige hatte angeblich versucht. "an jugendlichen Polen seines Blocks 5achsenhausen 6 (14) 10 (29) 12 (33) 3 (15) 5 (6) 6 (13) R2 13 4 5 unzüchtige Handlungen vorzunehmen". Die Betroffenen "brachten dies pflicht­ gemäß 7.ur Meldung". Da G. "seine Verfehlungen nicht eingestanden", sondern 'Erfasst wurden nur namentlich bekannte Todesfalle. In Klammern stehen die Zahlen der Todesfälle in 5achsenhausen, die der Häftling Emil Büge aus 55-Akten notieren konnte. diese "hart abgeleugnet" habe, wurde der Schutzhaftlagerführer um se ine "Ein­ weisung in die Strafkompanie" gebeten. 52 Quellen tür die Übersicht: -1 9 Ebenda, $. 50. Wolfgang Rö ll , Homosexuelle Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald :;0 Alexander Zinn, In terview mit RudolfBrazda vom 5. Dezember 2008. 1937-1945. Unveröff., überarb. und erw. Manuskript, Weimar 2007, S. 27 und 51 Koch, Sollen wir K. weiter beobachten?, S. 218 . 76-81. 52 Neben der zitierten sind aus Buchenwald auch andere Strafmeldungen und Verhö• re wegen ,.homosexueller Verfehlungen" überliefert. Vgl. Grau. Homosexualität. S. 334 -338. :'3 Lautmann. Seminar: Gesellschaft und Homosexualität, S. 350. ')(1 Alexander Zinn 0 ,

Übersicht der homosexuellen Häftlinge im Männerlager Ravensbrück, Mahn­ und Gedenkstätte Ravensbrück. C L AUDIA $CHOPPMANN Liste der namentlich bekannten Toten des KZ Sachsenhausen. in: Joachim Mül• ler/Andreas Sternweiler (Hrsg.), Homos ~xuelle Männer im KZ Sachsenhau­ sen, Rerlin 2000, S. 17-24. Eisa Conrad - Margarete Rosenberg - joachim Müller, Unnatürliche Todesfälle, in: MüllerlSternweiler (Hrsg.), Homo­ Mary Pünjer - Henny Schermann sexuelle Männer im KZ Sachsenhausen, S. 216-263, hier S. 224. Vier Porträts

Eisa Conrad (1667-1963)

Eisa Rosenberg, am 9. Mai 1887 in Berlin geboren, absolvierte eine kaufmän­ nische Lehre. Im Jahr 1910 heiratete sie den Kellner Wilhelm Conrad; die Ehr wurde 1931 geschieden. Möglich ist, dass es sich um eine Scheinehe mit einem homosexuellen Mann handelte. Seit 1925 führte Eisa Conrad - Spitzname Igel ­ eine Weinstube am Oliva.er Platz im Bezirk CharJouenburg. Gemeinsam mil ihrer Freundin Amalie Rothaug,] genannt Mali, die sie um 1919 kennengelernt hatte, eröffnete sie um 1927 das MOMbijou des Westens, einen mondänen, in der

89 Lutherstraße 16 in Schöneberg gelegenen Club (heute Martin-Luther-Str. 2) . Im Monbijou traf sich "die Elite der intellektuellen Welt, Filmstars, Sängerin­ nen, Schauspielerinnen, überhaupt die künstlerisch schaffende und die wissen­ schaftlich arbeitende Frau", so die Worte der szenekundigen Schriftstellerin Ruth RoeUig (1878-1969) in ihrem Clubführer "Berlins lesbische Frauen" von 1928: "Die weitaus interessanteste Vereinigung lesbischer Frauen Berlins isl der ungc­ fahr 600 Mitglieder fassende ,Klub i\Ionbijou des Westens', eine streng geschlos­ sene Gesellschaft. in die man nur du rch Einführung hineingelangen kann. Das Klublokal befindet sich - von zwei intelligenten Freundinnen, Mali und Igel, die eine ein vollendeter Gan;:onnetyp. fein und bewusst, die andere mehr übermüti­ ger Gamin, geschickt geleitet - im vornehmen Westen Berlins, an der Ecke der stillen Wormser- und Lutherstraße."2 Aufsehen erregten auch die großen Bälle und Kostümfeste des Clubs. Sie fanden alljährlich in der Scala, einem bekannten benachbarten \-ariete statt, worüber auch die Tagespresse bericht eIe.

\malie Rothaug, 1890 geboren. als Jüdin verfOlgt, emigrierte 1936 in die U'l .'\, wo sk 1984 \ erstarb. Adele Meyer (Hrsg.), Lila Nächte. Die Damenkillbs im Berlin der Zwanzig"r lahre. Berlin 1994, $. 49 (Reprint von Ruth Roellig, Berlins lesbische Frauen, Berlin 1(28). 90

Euthanasie und Eugenik im Dritten Reich

Geschrieben von: der Redaktion Sterbehilfe, Mord und

Der Begriff Euthanasie (griech.) meint Erleichterung des Todeskampfes, i.d.R. durch Narkotika, um unheilbar Kranke oder Schwerstverletzte von unerträglichem Leiden zu erlösen. Im Gegensatz dazu spricht man von passiver Sterbehilfe bei reiner Unterlassung von lebensverlängernden Maßnahmen. Als aktive Sterbehilfe bezeichnet man eine vorsätzliche Handlung, um den Tod herbeizuführen.

Der Begriff „Euthanasie“ ist bereits in der griechisch-römischen Antike zu finden. Er bezeichnete damals einen „guten“, schmerzlosen, schnellen Tod, der ohne jegliches Einwirken z.B. eines Arztes oder anderer Personen eintritt.

Die ideologischen Hintergründe des neuzeitlichen Vernichtungsgedankens sind u.a. im sozialdarwinistischen Denkmodell zu suchen. Sozialdarwinisten beriefen sich dabei oft auf die Propagandaplakat von 1936 zur Evolutionstheorie von Charles Darwin, insbesondere Wegbereitung der Euthanasie. auf das Konzept der "natürlichen Auslese"; zusätzlich zur moralischen Verwerflichkeit des Sozialdarwinismus war das schon deshalb absurd weil eine Auslese durch Vernichtung keine natürliche Auslese ist. Eine andere Quelle waren die Theorien von Francis Galton (1822- 1911) der 1883 den Begriff der "Eugenik" einführte, ohne das der Begriff damals schon die weitreichende Bedeutung wie während und nach dem "Dritten Reich" hatte. Die Ideen der Auslese und der Eugenik wurden ins völkische gewendet und (tatsächlich bereits zu Zeiten der Weimarer Republik) in den Dienst einer so genannten "Rassehygiene" gestellt. Sozialdarwinismus war in den Augen der Nationalsozialisten im Dritten Reich eine Rechtfertigung für die Ideologie und des Tötens von „Schwächeren“ und von als minderwertig bezeichneten Menschen.

Die Einordnung von Menschen nach rassischen Kriterien existierte schon lange. Die Nationalsozialisten übernahmen diese im Zusammenhang mit dem Sozialdarwinismus als fertige Ideologie, aus der das Bild des "arischen Mensch" als Vorbild geschaffen wurde. Im Zusammenhang mit dem Antisemitismus wurde das z.B. in den Nürnberger Gesetzen genauer definiert und instrumentalisiert.

Mit seinem „Euthanasiebefehl“ vom Oktober 1939 (geheime Anordnung vom 1.9.39) ermächtigte Adolf Hitler die Tötung so genannten „lebensunwerten Lebens". Mit ihm begann die erste systematische Vernichtung von Menschen im Dritten Reich. Verschleiert wurde die Aktion durch den von Hitler in seinem Ermächtigungsschreiben verwendeten Begriff 91

„Gnadentod". Als „lebensunwert" galten nach seiner Definition vor allem missgebildete Kinder und an Geistes- und Erbkrankheiten oder Syphilis leidende Erwachsene, insbesondere wenn sie entsprechend der nationalsozialistischen Rassenkunde einer „minderwertigen Rasse" angehörten. Hitler radikalisierte damit einen Standpunkt, der in Menschen, die für Staat und Wirtschaft nicht nützlich sind, nur noch eine Belastung sieht. Man setzte dies mit lebensunwertem Leben gleich und organisierte dessen systematische Vernichtung.

Organisation und Durchführung

Mit der Durchführung der Tötungsmaßnahmen war die „Kanzlei des Führers der NSDAP" unter Philipp Bouhler und Hitlers Leibarzt Karl Brandt beauftragt. Um die Opfer zu erfassen und auszuwählen, gründete er die Tarnorganisation „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten". Den Transport der „Selektierten" zu den Tötungszentren übernahm das SS- Unternehmen „Gemeinnützige Krankentransport GmbH". Im Schloss Grafeneck in Württemberg nahm gegen Ende 1939 die erste Tötungsstätte ihren Betrieb auf. Weitere Euthanasieanstalten wurden in Hadamar, Brandenburg an der Havel, Bernburg, Schloss Hartheim und Sonnenstein errichtet. Betitelt wurde das Unternehmen als „Aktion T 4", benannt nach der Ende 1939 für den Massenmord eingerichteten Organisationszentrale Karl Brandt (Zentrale der Reichskanzlei) in der Berliner Tiergartenstraße 4. Bis 1941 fielen der „Aktion T 4" mindestens 120 000 Menschen durch Vergasung, Erschießung und tödliche Injektionen zum Opfer. Den Hinterbliebenen teilten eigens für diesen Zweck in den Tötungsanstalten eingerichtete Standesämter den angeblich unerwarteten Tod ihrer Angehörigen mit.

Philipp Bouhler Die T4 Tötungsanstalten

Bundesland Anstalt Ort Zeitraum (heute)

20. 1.1940 - Baden- Grafeneck Gomadingen Dezember Württemberg 1940

8. 2.1940 - Brandenburg Brandenburg Brandenburg Oktober 1940

6. 5. 1940 - Hartheim Alkoven (bei Oberösterreich Dezember 92

Linz) 1944

Juni 1940 - Sonnenstein Pirna Sachsen September 1942

21. 9. 1940 - Bernburg Bernburg Sachsen-Anhalt 30. 7. 1943

Januar 1941 - Hadamar Hadamar Hessen 31. 7. 1942

In den von Deutschland annektierten Gebieten Nord- und Westpolens (Reichsgaue Danzig- Westpreußen und Wartheland) gab es weitere Tötungsanstalten, die aber zunächst nicht der T4 unterstanden.

Proteste

Trotz strenger Geheimhaltung zwangen Gerüchte in der Bevölkerung und besonders Proteste von kirchlicher Seite Hitler am 24. August 1941 zur formalen Einstellung der „Aktion T 4". Insbesondere Bischof Clemens August Graf von Galen hatte sich sehr deutlich zu den Vorgängen geäußert, so in seiner bekannten "Euthanasiepredigt" in St. Lamberti zu Münster am 3.8.1941. Dennoch gingen die Morde im Geheimen noch bis kurz vor Kriegsende weiter. Zwischen 1941 und 1945 wurden nochmals etwa 30 000 Menschen aufgrund des Euthanasiebefehls ermordet. Unter dem Codenamen "14 f 13" (Aktenzeichen des Inspekteurs der KZ) wurden zudem ab 1941 auch in Konzentrationslagern in gesonderten Abteilungen als „lebensunwert" eingestufte Häftlinge getötet. Tiergartenstrasse 4 in Berlin.

Das Personal der „Aktion T 4" wechselte zum großen Teil als Spezialisten für Massentötungen in die Vernichtungslager in Osteuropa. Den Zusammenhang zwischen Euthanasie und Krieg um „Lebensraum" verdeutlicht Hitlers symbolische Rückdatierung des Euthanasiebefehls auf den 1. September 1939, den Tag des Angriffs auf Polen.

Opferzahlen

Eine erhalten gebliebene interne T4-Statistik überliefert die genauen Zahlen der in den sechs "Anstalten" 1940 und 1941 bis zum 1. September 1941 "desinfizierten" (vergasten) Menschen: 93

Anstalt 1940 1941 Summe

A (Grafeneck) 9.839 - 9.839

B (Brandenburg) 9.772 - 9.772

Be (Bernburg) - 8.601 8.601

C (Linz) 9.670 8.599 18.269

D (Sonnenstein) 5.943 7.777 13.720

E (Hadamar) - 10.072 10.072

35.224 35.049 70.273

Quelle: Hartheimer Statistik, gedr. in: Ernst Klee, Dokumente, Dok. 87, S. 232

Diese Zahlen spiegeln jedoch nur einen Teil des Verbrechens wider. Im Ärzte-Prozess von Nürnberg (1947) ging die Anklage insg. von 275000 Getöteten aus (inkl. umgebrachter psychisch Kranker während des Luftkriegs zum Freimachen von Betten und der Ermordung von Behinderten in den besetzten Ostgebieten).

Literatur

Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997.

Benz, Wigbert / Bernd Bredemeyer / Klaus Fieberg: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Beiträge, Materialien Dokumente. CD-Rom, Braunschweig 2004.

Kammer, Hilde / Elisabet Bartsch / Manon Eppenstein-Baukhage / Manon Eppenstein- Baukhage: Lexikon Nationalsozialismus, Berlin 1999

Gutman, Israel / Eberhard Jäckel / Peter Longerich (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. München 1998

Klee, Ernst: Euthanasie im NS- Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. Frankfurt/M 1999.

Klee, Ernst: Dokumente zur Euthanasie. Frankfurt/M 1997. 94

Makowski, Christine Charlott: Eugenik, Sterilisationspolitik, ' Euthanasie' und Bevölkerungspolitik in der nationalsozialistischen Parteipresse. Husum 1996.

Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Göttingen 1992.

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Wolfgang Neugebauer

WIENER PSYCHIATRIE UND NS-VERBRECHEN

(Referat im Rahmen der Arbeitstagung "Die Wiener Psychiatrie im 20. Jahrhundert", Wien, Institut für Wissenschaft und Kunst, 20./21. Juni 1997 , Quelle: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes)

INHALT

1. Ärzte und "Rassenhygiene" 2. Zwangssterilisierung 3. Euthanasie 4. Euthanasie und Holocaust 5. Anstaltsmorde nach 1941 6. Kinder-Euthanasie 7. Humanexperimente und (pseudo)wissenschaftliche Forschung 8. Kinder-Euthanasie und "asoziale" Jugendliche

1. Ärzte und "Rassenhygiene" Naturwissenschaftler, Ärzte und Psychiater haben einen originären und aktiven Beitrag zur Ausformung von Kernstücken der NS-Ideologie, nämlich Rassenlehren und Rassenhygiene geleistet. Im 19. Jahrhundert breiteten sich biologistische Ideen sowohl in den Geistes- und Naturwissenschaften als auch in der Politik aus. Die Sozialdarwinisten meinten, daß die biologischen Prinzipien vom Kampf ums Dasein und von der natürlichen Auslese in der menschlichen Gesellschaft ebenso herrschen müßten wie in der Natur. Auch in der Gesellschaft würden nur die kräftigsten und lebensfähigsten Individuen und Rassen im Kampf ums Dasein Überleben, die Schwächeren unterliegen und zugrunde gehen. Verschiedene Theoretiker entwickelten Vorstellungen von der "Aufartung" des Volkes bzw. der Rasse durch aktive oder passive Auslese. Heute lächerlich anmutende Ansichten von der Höherwertigkeit einer nordischen, germanischen oder arischen Rasse wurden in zahlreichen pseudo- und populärwissenschaftlichen Publikationen und Zeitschriften verbreitet und verfehlten nicht ihre Wirkung. In der 1920 erschienenen Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche wurde erstmals die Ausmerzung der Geisteskranken angesprochen. Die Erb- und Rassenkunde, die Rassenhygiene, etablierte sich als wissenschaftliches Fach; "rassenhygienische" Überlegungen durchdrangen die Sozial- und Gesundheitspolitik und führten insbesondere in der Psychiatrie zur Entwicklung humanitätsabgewandter Vernichtungsprogramme. Selbst fortschrittliche politische Kräfte konnten sich der Attraktivität eugenischer Maßnahmen nicht entziehen, wie z. B. die positive Haltung des ob seiner humanen Leistungen legendären sozialdemokratischen Stadrats für das Wohlfahrtswesen der Stadt Wien Prof. Dr. Julius Tandler zur Sterilisierung bzw. Eliminierung von "minderwertigen" und "lebenunwerten" Leben zeigt. Auch in katholischen und besonders in protestantischen Kreisen wurde die rassenhygienische Sterilisierung propagiert. In der wissenschaftlichen Literatur wird zu Recht von einem "rassenhygienischen" Paradigma gesprochen. Die Nationalsozialisten haben in Ansätzen und Umrissen schon vorhandene Konzepte für die "Ausmerzung der Minderwertigen" radikalisiert und mit beispielloser Konsequenz in die Wirklichkeit umgesetzt. Obwohl die Vorbereitung, Planung, Entschlußbildung, Propaganda und zentrale Steuerung sowohl der Zwangssterilisierung als auch der Euthanasie von Berlin aus erfolgte - dort war der aus Österreich stammende Ordinarius für Psychiatrie in Berlin Max de Crinis mitbeteiligt -, gab es auch in Österreich Protagonisten der "Rassenhygiene". Insbesondere die 1925 an der Universität Wien gegründete Wiener Gesellschaft für Rassenpflege, deren erster Vorsitzender Univ. Prof. Dr. Otto Reche, Vorstand des Anthropologischen Instituts, war, entfaltete eine rege Schulungs- und Vortragstätigkeit. Nach der Annexion Österreichs im März 1938 wurde die "Rassenhygiene" auf verschiedenen Ebenen institutionalisiert. An den Universitäten Wien und Innsbruck wurden Lehrkanzeln für "Erb- und Rassenpflege" geschaffen, und die Rassenhygiene wurde in die Medizinerausbildung integriert. Der kommissarische Dekan der medizinischen Fakultät und spätere Rektor der Universität Wien Eduard Pernkopf hatte schon in seiner ersten Vorlesung 96

am 6. April 1938 ein glühendes Bekenntnis zu den rassenhygienischen Theorien des Nationalsozialismus (und deren praktischen Konsequenzen) abgelegt. Bemerkenswert erscheint mir, daß der Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Wien Prof. Dr. Otto Pötzl, obwohl Altparteigenosse seit 1930, nicht als besonderer Protagonist der Euthanasie in Erscheinung getreten ist. Viktor Frankl, der 1940- 1942 die Neurologische Abteilung des Jüdischen Spitals leitete, erzählte mir in einem Interview, daß ihm Pötzl immer wieder jüdische Patienten Überstellte und damit vor der Euthanasie bewahrte. Als radikale Verfechter der NS-Rassenhygiene und "ausmerzender" Maßnahmen betätigten sich damals die späteren Universitätsprofessoren Walther Birkmayer und Konrad Lorenz. So referierte der damalige SS-Untersturmführer Dr. Birkmayer Über die "Vererbung von Nervenkrankheiten" auf einem SS- Schulungsabend 1938: "Unserem Volk blieb es vorbehalten, ein Genie zu gebären, das instinktiv erkannte und forderte, daß nur die Reinheit der Rasse und die erbbiologische Gesundheit das Volk vor dem Verfall retten kann. Und wir müssen als fanatische Jünger alles Krankhafte, Unreine und Verderbbringende aus unserem Volke ausrotten ...".

2. Zwangssterilisierung Die erste verbrecherische Maßnahme, die die Nationalsozialisten nach ihrer Machtergreifung auf dem Gebiet der "Erb- und Rassenpflege" durchführten, war die zwangsweise, das heißt staatlich angeordnete Sterilisierung (Unfruchtbarmachung) von "Erbkranken" durch das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juni 1933, das mit Verordnung vom 14.11.1939 Über 1.1.1940 in der Ostmark eingeführt wurde. Die Sterilisierungsaktion nahm aber in Österreich nur mehr geringeres Ausmaß an, da zu diesem Zeitpunkt bereits die weitergehende Maßnahme der Euthanasie praktiziert wurde. Nach meinen Schätzungen bzw. Hochrechnungen fanden in Österreich etwa 5000 bis 10.000 Zwangssterilisierungen statt, wobei eine Todesrate von etwa 1,2 % angenommen wird - im Übrigen eine weitere Kategorie von NS- Opfern, von denen bisher nie die Rede war. Aufgrund des Gesetzes waren Amtsärzte und Anstaltsleiter zur Anzeige von sogenannten "Erbkranken" an "Erbgesundheitsgerichte", bestehend aus einem Richter und zwei Ärzten, verpflichtet, wo ein Pseudogerichtsverfahren abgewickelt wurde. Nach Angaben von Horst Seidler kamen beim Erbgesundheitsgericht Wien 20 % der Meldungen von der Wagner Jauregg Heil- und Pflegeanstalt, deren Namensgeber Univ. Prof. Dr. Julius Wagner-Jauregg, Nobelpreisträger für Medizin, Übrigens am 21.4.1940, kurz nach Inkrafttreten des Zwangssterilisierungsgesetzes in Österreich und knapp vor seinem Tod, noch eigenhändig seine Aufnahme in die NSDAP beantragt hatte. Neben der Antragstellung und Richtertätigkeit wirkten Ärzte und Psychiater in Erbgesundheitsgerichtsverfahren auch als Gutachter, wobei sich aufgrund der großen Zahl der Betroffenen beträchtliche Nebeneinkommen ergaben. Obwohl das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zutiefst vom NS-Gedankengut geprägt war und folgerichtig 1945 aus der österreichischen Rechtsordnung eliminiert wurde, wurden die beteiligten Ärzte und Richter strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen; vermutlich weil dieses NS-Verbrechen auf gesetzlicher Grundlage erfolgte und Sterilisierungen von Behinderten bis heute praktiziert werden.

3. Euthanasie Die Zwangssterilisierung genügte den nationalsozialistischen "Rassenhygienikern" jedoch nicht, da sie, wenn Überhaupt, erst nach vielen Generationen Resultate zeigen konnte; die NS-Medizin zielte auf die völlige Ausschaltung aller Psychopathen, Schwachsinnigen, Behinderten und anderer "Minderwertiger" ab. Es ist kein Zufall, daß der Ausrottungsfeldzug gegen die Geisteskranken im Jahr des Kriegsausbruches 1939 begann, hatte doch Hitler bereits 1935 derartige Maßnahmen für diesen Fall angekündigt. Damit sollte der in den Augen der Nationalsozialisten vor sich gehenden "negativen Auslese" durch den Krieg - Tod oder Verstümmelung der Gesunden, Überleben der Kranken - entgegengewirkt werden. Unmittelbarer Anlaß war die Notwendigkeit, Lazarettraum zu schaffen und Spitalspersonal freizustellen. Nach der 1942 verfaßten Hartheimer Statistik wurden insgesamt 93.521 Betten, zum Großteil für militärische Zwecke, "freigemacht" und, berechnet für einen 10-Jahres-Zeitraum, Über 885 Millionen RM (das sind etwa 35 Milliarden Schilling) an Kosten eingespart. Grundlage für diese erste Massenmordaktion des NS-Regimes bildete eine auf den 1. September 1939 rückdatierte "Ermächtigung" des Führers Adolf Hitler zur Gewährung des "Gnadentodes" für unheilbar Kranke, die keinerlei Gesetzeskraft oder Legalität hatte. Im Rahmen dieser von der "Kanzlei des Führers" 97

organisierten Tötungsaktion (nach der Adresse Berlin, Tiergartenstraße 4, "T4" genannt) wurde ein Großteil der PatientInnen der psychiatrischen Anstalten im Deutschen Reich in "Euthanasieanstalten", u. a. nach Hartheim bei Eferding, abtransportiert und dort mit Giftgas getötet. Die Angehörigen der Opfer wurden mit verfälschten Briefen und Totenscheinen zu täuschen versucht. Vorher waren die Patienten von bezahlten "Gutachtern", etwa 40-50, davon zwei aus Wien, Dr. Erwin Jekelius und Dozent Dr. Hans Bertha, im Wege einer Fragebogenauswertung für die Euthanasie ausgewählt worden. Aus der Heil- und Pflegeanstalt Wien-Steinhof, eine der größten Anstalten des Deutschen Reiches, wurden in den Jahren 1940/41 zwischen 3200 und 4000 PatientInnen nach Hartheim deportiert. Weiters wurden 2282 Insassen der der Stadt Wien gehörenden Anstalt Ybbs an der Donau sowie 500-600 Patienten der damals auf dem Gebiet des Reichsgaues Wien liegenden Anstalt Gugging nach Hartheim Überstellt. In die Euthanasie-Aktion waren auch Pfleglinge kleinerer Anstalten und - Über den Kreis der Geisteskranken weit hinaus - Insassen von Pflegeheimen und Altersheimen einbezogen. Allein im Versorgungsheim der Stadt Wien Lainz wurden 346 Fragebögen ausgewertet. Insgesamt sind in der Euthanasieanstalt Hartheim im Zuge der Aktion "T4" 1940/41 18.269 Menschen, zum Großteil aus Österreich, ermordet worden, wobei die Tötungshandlung - das Aufdrehen des Gashahnes - Ärzten, den Psychiatern Dr. Rudolf Lonauer aus Linz und Dr. Georg Renno aus Straßburg, vorbehalten blieb. Von allen österreichischen Anstalten sind die "T4"-Krankenmorde in Wien-Steinhof am schlechtesten dokumentiert, weil nach 1945 kein Gerichtsverfahren gegen die Verantwortlichen zustande kam und eine Anstaltsgeschichte bislang fehlt; eine deutsche Dissertation ist noch nicht fertiggestellt. Das Gerichtsverfahren gegen den schwerkranken langjährigen Anstaltsleiter Hofrat Dr. Alfred Mauczka, einen der wenigen Nichtnazis, wurde eingestellt; gegen den ab 1. 1. 1944 vertretungsweise fungierenden Direktor Dozent Dr. Hans Bertha wurde lediglich ein mit skandalösem Freispruch endendes Verfahren wegen illegaler NSDAP-Tätigkeit durchgeführt, so daß der schwer belastete "T4"-Gutachter seine akademische Karriere fortsetzen und Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Graz werden konnte.

4. Euthanasie und Holocaust Die Aktion "T4" wurde, nicht zuletzt aufgrund der immer stärkeren kirchlichen Proteste, auf Befehl Hitlers am 24. August 1941 abgebrochen; die Euthanasiemorde kamen dadurch jedoch keineswegs vollständig zum Erliegen. Die "Kinder-Euthanasie" wurde weitergeführt, und in den Euthanasie-Anstalten wurden Häftlinge aus Konzentrationslagern im Zuge der Aktion "14f13" vergast. Als einzige Euthanasie-Anstalt blieb Hartheim, bis Dezember 1944, weiter in Betrieb, unter anderen wurden dort Häftlinge der KZ Dachau, Mauthausen und Gusen sowie geisteskranke Ostarbeiter vergast, die keine Leistung mehr erbringen konnten. An dieser Stelle kann ich nur darauf verweisen, aber nicht ausführen, daß die Euthanasie in mehrfacher Hinsicht - ideologisch, psychologisch, organisatorisch und personell - eine wichtige Entwicklungsphase für den 1941 beginnenden Holocaust an Juden und Roma war.

5. Anstaltsmorde nach 1941 In den einzelnen Anstalten wurde die Ermordung von Geisteskranken durch Verhungern, Vergiften u. ä. fortgesetzt; vielfach entsprang diese der Initiative von Gauleitungen, Anstaltsleitungen oder einzelnen Ärzten. Ob eine zentrale Anweisung für diese ungeregelten Mordaktionen vorlag, ist nicht klar. Viktor Brack, einer der Hauptverantwortlichen für die Euthanasie-Aktion in der "Kanzlei des Führers", prägte dafür die Bezeichnung "wilde Euthanasie". Untersuchungen für die Anstalten in Klagenfurt und Wien/Steinhof haben ergeben, daß seitens des Pflegepersonals zeitweise sogar mehr Patienten getötet wurden, als von oben angeordnet worden war. Der Gesichtspunkt der "Pflegeaufwendigkeit" war dabei von entscheidender Bedeutung: Je mehr ein Patient die Pfleger in Anspruch nahm, desto größer war seine Aussicht auf Todesbeschleunigung. H. Rittmannsberger hat für Niedernhart herausgearbeitet, daß 1942/43 zahlreiche Patienten aus kleineren Anstalten überstellt wurden, die innerhalb weniger Tage starben. Ebenso geschah dies in anderen großen Anstalten. Besonders gut dokumentiert ist das Schicksal der im August 1943 aus den Alsterdorfer Anstalten (Hamburg) nach Steinhof gebrachten 228 Frauen und Mädchen, von denen 201 - meist nach beträchtlichen Gewichtsverlusten durch Hungern - umkamen. Offenbar dienten diese Verlegungstransporte zur Verschleierung des raschen Sterbenlassens bzw. dessen Beschleunigung. Zu den in Hartheim ermordeten 15.000 bis 18.000 Österreichern/innen kommen also einige weitere Tausend, die in den Anstalten selbst 98

ums Lebens gebracht wurden. Das heißt, daß die Größenordnung der österreichischen Euthanasieopfer bei mindestens 20.000 bis 25.000 liegt.

6. Kinder-Euthanasie Die Nationalsozialisten begannen die zu Unrecht Euthanasie (griechisch: schöner Tod) oder "Gnadentod" genannte Vernichtung des "lebensunwerten Lebens" mit geistig und körperlich behinderten Kindern. Zur Durchführung wurde nach Beratungen in der "Kanzlei des Führers" und in Zusammenarbeit mit dem Reichsärzteführer Dr. Leonardo Conti im ersten Halbjahr 1939 eine Organisation mit der Tarnbezeichnung "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden" geschaffen. Durch einen geheimen Runderlaß des Reichsinnenministeriums vom 18.8.1939 wurden alle Hebammen und Ärzte verpflichtet, in den Kliniken anfallende Mißgeburten (Idiotie, Mongolismus, Mikro- und Hydrozephalus, Mißbildungen der Extremitäten) sowie Kinder bis zu drei Jahren mit diesen Leiden den Gesundheitsämtern zu melden. Nach einer Pseudo- Begutachtung wurden die den Eltern durch Drohung oder Täuschung weggenommenen Kinder in eine der ca. 30 "Kinderfachabteilungen" eingeliefert, wo sie im Laufe einiger Wochen mittels Morphium- Hydrochloral, Luminal oder durch Nahrungsmittelentzug getötet wurden. Die Geschichte der Kinder-Euthanasie in Wien ist nun durch eine sehr gründliche, mir allerdings nur fragmentarisch vorliegende Göttinger medizinhistorische Dissertation von Matthias Dahl aufgearbeitet. Die "Kinderfachabteilung" wurde auf dem Gelände der Anstalt "Am Steinhof" (Adresse: 14., Baumgartner Höhe 1) am 24. 7. 1940 als Wiener städtische Jugendfürsorgeanstalt "Am Spiegelgrund" eröffnet und wies damals 640 Betten auf. Als im Zuge einer Kompetenzänderung im Magistrat im April 1942 die Jugendfürsorgeanstalten vom Gesundheitswesen zur Hauptabteilung für Jugendwohlfahrt und Jugendpflege wanderten, wurden 7 Pavillons der neuen Hauptabteilung "zur Führung eines Dauerheimes und einer Beobachtungsanstalt" (später Wiener städtisches Erziehungsheim "Am Spiegelgrund", 680 Betten Überlassen, während zwei Pavillons, 15 und 17, mit 220 Betten als "Kinderfachabteilung" geführt wurden. Bis Ende 1942 hieß diese Einrichtung Heilpädagogische Klinik "Am Spiegelgrund", danach Wiener städtische Nervenklinik fÜr Kinder. Die Klinik "Am Spiegelgrund" fungierte zwar als "Kinderfachabteilung" des "Reichsausschusses" in Berlin und ihre Leiter erhielten von dort ihren Spezialauftrag, administrativ unterstand sie aber dem "Hauptgesundheitsamt der Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien". Diese kommunale Institution war für die Durchführung der rassenhygienischen Maßnahmen des NS-Staates zuständig, wofür eine eigene Abteilung "Erb- und Rassenpflege" (mit einem Referat 3 "Ausmerzende Maßnahmen") geschaffen wurde. Als Hauptverantwortliche fungierten die aus Berlin kommenden Ärzte Prof. Dr. Max Gundel als Stadtrat und Dr. Hans Vellguth als Medizinaldirektor, beide langjährige NSDAP- Mitglieder; ebenso waren die Leiter der Abteilung "Erb- und Rassenpflege" (bis Frühjahr 1941) Dr. Arend Lang, ein Ostfriese, und (danach) Dr. Richard Günther, ein Sachse, bewährte Parteigenossen (und SS- Angehörige) aus dem Altreich - eine Feststellung, mit der der österreichische Anteil an diesen NS- Verbrechen keineswegs herabgespielt werden Auch die Leiter der Kinderklinik, zuerst Dr. Erwin Jekelius, dann Dr. Ernst Illing, waren Überzeugte Nationalsozialisten, die ihrer Aufgabe nicht gezwungenermaßen oder mit schlechtem Gewissen nachkamen, sondern in der Euthanasie eine aus ihrer Weltanschauung resultierende Verpflichtung sahen. Der 1905 in Hermannstadt geborene Jekelius war seit 1933 NSDAP- Mitglied, gleichzeitig auch der Vaterländischen Front, und erhielt 1936 durch Intervention des Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrates bei Bürgermeister Dr. Schmitz einen Posten als Amtsarzt der Stadt Wien. Da er an der Konferenz von etwa 30 "Experten" Über das Euthanasie-Gesetz im Oktober 1940 und an zwei weiteren Sitzungen des "Reichsausschusses" im März 1941, also am Höhepunkt der Euthanasie- Mordaktion, teilnahm, ist er zum engsten Kreis der Euthanasie-Verantwortlichen zu zählen. In einer Auseinandersetzung mit Stadtrat Gundel und seinem Kollegen Dr. Hans Bertha zog Jekelius den kürzeren, verlor mit seiner Einberufung 1942 seine Leiterstelle an Dr. Illing und wurde schließlich 1944 in das Altersheim Lainz versetzt. Nach seiner Flucht 1945 wurde er von der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet, weil er auch in Rußland Euthanasie-Handlungen durchgeführt haben soll, und verstarb 1952 in einem Lager. Über Vermittlung von Prof. Heinze vom "Reichsausschuß" wurde der 1904 in Leipzig geborene Ernst Illing, der zuvor in der "Kinderfachabteilung" der Landesanstalt Görden bei Brandenburg tätig gewesen war, zum Nachfolger von Jekelius bestellt. Der bis April 1945 tätige Illing war einer von zwei Euthanasieärzten, die von österreichischen Volksgerichten zum Tod verurteilt und hingerichtet wurden. [...]

7. Humanexperimente und (pseudo)wissenschaftliche Forschung 99

In der neueren einschlägigen Literatur zur Kinder-Euthanasie wird der Aspekt der (pseudo)wissenschaftlichen Forschung bzw. der Forschung bar jeder humaner Schranken stärker hervorgekehrt. Ernst Klee hat die Rolle zweier führender Wissenschaftler beleuchtet, die "gemeinsam Karriere Über Leichen" machten: Professor Julius Hallervorden, noch 1982 als "Altmeister der deutschen und internationalen Neuropathologie" gefeiert, und Prof. Hans Heinze, "der im Dritten Reich zum führenden Kinder- und Jugendpsychiater aufsteigt". Götz Aly etwa weist darauf hin, daß die Begutachtung im Rahmen der Kinder- Euthanasie - im Vergleich zu "T4"-Begutachtungen - sorgfältiger erfolgte und kommt zur Auffassung, daß die "Kinderaktion" "mehr als nur eine Facette der nationalsozialistischen Massenmorde" war und als "zukunftsweisende gesundheitspolitische Maßnahme des nationalsozialistischen Staates" gedacht war. "Wissenschaftlichkeit, Forschungsehrgeiz und Reformeifer", meint er, "verbanden sich in der Institution 'Reichsausschuß' zu einem brisanten Gemisch aus Fortschritt und Vernichtung". Einzelne "Kinderfachabteilungen" hatten Forschungsabteilungen, wo klinische Versuche, diagnostische Experimente und anatomische Forschungen durchgeführt wurden. Solche der ärztlichen Ethik zutiefst widersprechenden Aktivitäten dürften auch an der Wiener Kinderklinik "Am Spiegelgrund" stattgefunden haben. Wie M. Dahl nachweist, hat es auch eine mörderische Kooperation mit der Universitätskinderklinik bei Tbc-Impfversuchen gegeben. Im Illing-Prozeß haben die Sachverständigen, die Professoren E. Stransky und Fritz Reuter, in ihrem Gutachten festgestellt, daß in fast allen Krankengeschichten Encephalographien vermerkt sind - in mehreren Fällen wurde diese belastende und schmerzhafte Untersuchung trotz schlechten Gesundheitszustandes der Patienten und ohne medizinische Notwendigkeit vorgenommen. So starb das dreijährige Kind Johann Wenzl am 18. 6. 1942, als es vom Arzt Dr. Heinrich Gross encephalographiert wurde - die Gutachter sprachen von einem "Mißgriff in der Prozedur". Dr. Heinrich Gross, Jahrgang 1915, seit 1931 in der NS-Bewegung aktiv und ab 1940 am "Spiegelgrund" tätig, dürfte zu jenen vornehmlich jüngeren Ärzten gehört haben, die Über den Tötungsauftrag hinaus die Situation zu "wissenschaftlichen" Zwecken ausnützten. Wie er in einem Interview 1979 selbst zugab, besorgte er sich mehrere hundert Gehirne von in der Kinderklinik bzw. in der Anstalt "Am Steinhof" verstorbener oder getöteter Patienten, die er für Hirnforschungen verwendete. Seine Kollegin Dr. Barbara Uiberrak, seit 1938 am Steinhof und als Prosektor für den ganzen Komplex Steinhof zuständig, erklärte in ihrer Zeugenaussage im Illing-Verfahren am 8. 1. 1946: "Fast jeder der einzelnen Fälle ist wissenschaftlich gesehen hoch interessant. Wir haben 'Am Steinhof' noch alle 700 Gehirne, in den meisten Fällen auch die Drüsen mit innerer Sekretion fixiert, ausgebaut, so daß sie jederzeit einer wissenschaftlichen pathologischen Untersuchung zugeführt werden können. Ich glaube, daß es lohnend wäre, einige Fälle aus jedem Jahr herauszugreifen." Dieser Aufgabe widmete sich Gross gemeinsam mit Uiberrak, nachdem er der Verfolgung durch die österreichische Justiz unter fragwürdigen Umständen entgangen war. Gross baute seine wissenschaftliche Karriere auf den Hirnen jener Menschen auf, für die er nie ein Wort des Bedauerns oder Mitgefühls gefunden hatte.

8. Kinder-Euthanasie und "asoziale" Jugendliche Die Absichten und Planungen der für die Gesundheits- und Sozialpolitik verantwortlichen NS-Funktionäre in Staat, Partei und SS gingen weit Über "Erbkranke", Geisteskranke und Behinderte hinaus; von den verbrecherischen Maßnahmen waren alle den Normen des NS-Regimes nicht entsprechenden Menschen bedroht, insbesondere alle jene, die keine Leistung für die "Volksgemeinschaft" erbrachten oder erbringen konnten, die vom ökonomischen Standpunkt als "unnütze Esser" angesehen wurden. Bei der wissenschaftlichen Definition der Asozialität, die als erblich hingestellt wurde, hatte sich der Österreicher Friedrich Stumpfl, später Ordinarius für Rassenhygiene an der Universität Innsbruck, hervorgetan. Schon 1939 war mit dem Aufbau gigantischer Karteien im Rahmen der "Erbbiologischen Bestandsaufnahme" begonnen worden, in die neben Geisteskranken und Behinderten alle Arten von "Asozialen", verwahrloste Kinder und Jugendliche, Alkoholiker u. dgl., einschließlich aller lebenden Vorfahren und Nachkommen ("Sippschaft"), aufgenommen wurden. In der Wiener Zentralkartei, in der zeitweise 70 MitarbeiterInnen wirkten, waren bis 1943 bereits 700.000 Personen erfaßt, womit die NSDAP- intern geschätzte Größenordnung von 500.000 "Asozialen" - ein Viertel der Bevölkerung von Groß-Wien - noch Übertroffen wurde. Daß diese Menschen als zukünftige Opfer nationalsozialistischer Rassenpolitik ins Auge gefaßt waren, liegt in der Logik des NS- Systems. Manche Forscher (G. Aly, K. H. Roth, K. Dörner, D. Peukert) nehmen an, daß eine Art "Endlösung der sozialen Frage", also eine Ausrottung der gesamten als "minderwertig" angesehenen Unterschichten der Gesellschaft geplant war. 100

In Wien-Steinhof wurde zusätzlich zur Jugendfürsorgeanstalt bzw. zum Erziehungsheim "Am Spiegelgrund" im Pavillon 23 im November 1941 eine unter der Leitung des seit 1931 der NSDAP angehörenden Arztes Dr. Alfred Hackel stehende "Städtische Arbeitsanstalt Steinhof" eingerichtet, wo im Durchschnitt 100 "asoziale" Mädchen und Frauen, großteils um die 20 Jahre, unter lagerähnlichen Bedingungen untergebracht wurden. Den mörderischen Ausmerzungstendenzen wurde vor allem mit der Hinaufsetzung der Altersgrenze der Kinder-Euthanasie von drei auf 17 Jahre Rechnung getragen, wodurch auch die Einbeziehung von verwahrlosten und schwer erziehbaren Kindern ermöglicht wurde. "In der Tötungspraxis des 'Reichsausschusses' spielten die Kriterien 'soziales Verhalten' und 'allgemeine Lebensbewährung' von Anfang an eine entscheidende Rolle", resümiert G. Aly. Aus Schilderungen von Personen, die als Kinder oder Halbwüchsige den Aufenthalt in der Jugendfürsorgeanstalt "Am Spiegelgrund" Überlebten, wissen wir, auch bei kritischer Beurteilung dieser Quellen, daß die Todesdrohung - ausgesprochen oder unausgesprochen - ständig im Raum stand. Zum einen gab es eine permanente Unterversorgung mit Nahrungsmitteln, die zu einer hohen Mortalitätsrate führte, zum anderen hing Über jedem Patienten das Damoklesschwert der "Euthanasierung" durch Vergiften oder Abspritzen, die offenbar auch als schärfste Strafe im Falle von Widersetzlichkeiten zur Anwendung kam. "Nachts schlich sich das Grauen Über Gänge und Räume. Meine Angst war unbeschreiblich", schreibt der ehemalige Zögling des Steinhofer Pavillons 18 Alois Kaufmann in seinen Erinnerungen. Ein anderer Insasse, Friedrich Zawrel, erinnert sich an seinen zweiten Aufenthalt im Pavillon 17 1943/44: "Als ich eines Tages bemerkte, daß der eben geschilderte Knabe nicht mehr in seinem Bett lag, befragte ich die Schwester Sikora nach dem Verbleib des Knaben. Sie antwortete mir wörtlich 'durt hin wirst a bald kummen'. ... Fast täglich wurden nun offensichtlich die Leichen der euthanasierten Kinder, die in Zellstoff eingewickelt waren, wie Brotwecken in diesen Sarg gelegt und so geschlichtet, daß der Sarg ordnungsgemäß gefüllt war. Dann wurde er geschlossen und mit dem Zweiradler weggebracht. Ich beobachtete, wie Anstaltsangehörige diese in Zellstoff eingepackten Kinderleichen zu diesem Sarg hintrugen, meist unter dem Arm." Von der Euthanasie waren also auch die in den Pavillons 17 und 18 untergebrachten schwererziehbaren Kinder und Jugendlichen zumindest bedroht; ebenso waren die im Pavillon 23 inhaftierten Insassinnen der "Arbeitsanstalt für asoziale Frauen" potentielle Opfer, wenngleich hier eher die Zwangssterilisierung zur Anwendung kam. Aus dem oben zitierten Gutachten des Instituts für gerichtliche Medizin der Universität Wien geht hervor, daß bei den 17 untersuchten Krankengeschichten fünf Verstorbene zwischen 13 und 17 Jahre alt waren. (Quelle: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes)

Euthanasie im Nationalsozialismus Jugendstiltheater.Wien. 101

seit dem Beitritt der neuen EU-Staaten in der Frank Sparing Summe nur zugenommen haben.

Es ist kein Wunder, dass seit einigen Jahren NS-Verfolgung insbesondere Roma auf der Suche nach einem besseren Leben und nach Zukunft für ihre von „Zigeunern“ und Kinder nach Westeuropa kommen. In man- chen Ländern Westeuropas wie Italien und „Wieder­gutmachung“ Frankreich werden sie dann wieder diskri- miniert, ausgegrenzt und leben unter men- schenunwürdigen Umständen in Ghettos. Sie nach 1945 werden wieder des Landes verwiesen und in das Herkunftsland abgeschoben. ie rassische Verfolgung von „­Zigeunern“ ❙1 Dim Nationalsozialismus konnte nahtlos Diese Menschen sind jedoch Einwohner an Konzepte und Maßnahmen zur Ausgren- von Ländern, die der Europäischen Union zung dieser Minder- angehören. Die Europäische Kommission heit anknüpfen, die in Frank Sparing hat in Person ihrer Vizepräsidentin Viviane Deutschland bereits M. A., geb. 1963; wissenschaft- Reding mit deutlichen Worten gegen diesen eine lange Tradition licher Mitarbeiter des Instituts nicht hinnehmbaren Zustand Stellung bezo- besaßen. Nach 1945 für Geschichte der Medizin der gen. Ich hoffe, dass man die betreffenden Re- diente die Bezugnah- Universität Düsseldorf, Gebäu- gierungen darauf auch weiterhin ansprechen me auf den bereits vor de 23.12, Universitätsstraße 1, wird. Wir sind doch Europäer und müssen 1933 praktizierten be- 40225 Düsseldorf. dieselben Rechte wie jeder andere Einwohner hördlichen Rassismus [email protected] haben, mit gleichen Chancen, wie sie für je- zur Legitimation fort- den Europäer gelten. gesetzter Diskriminierung und wurde nicht zuletzt zur Abwehr von Entschädigungsan- Es kann und darf nicht sein, dass ein Volk, sprüchen für nationalsozialistische Verfol- das durch die Jahrhunderte hindurch diskri- gung herangezogen. miniert und verfolgt worden ist, heute, im 21. Jahrhundert, immer noch ausgeschlossen Angelehnt an das pädagogische Menschen- und jeder ehrlichen Chance auf eine bessere bild der Aufklärung bildete in Deutschland Zukunft beraubt wird. seit dem 19. Jahrhundert die Forderung nach „Seßhaftmachung der Zigeuner“ in den ein- Ich möchte enden, indem ich die Hoffnung schlägigen Erlassen und Verordnungen gerade- ausspreche, dass unsere Lieben nicht umsonst zu ein Leitmotiv. Die fürsorgerechtlichen Rah- gestorben sind. Wir müssen ihrer auch künf- menbedingungen führten aber in der Praxis tig gedenken, wir müssen auch weiterhin die dazu, dass die einzelnen Gemeinden in der Re- Botschaft des friedlichen Miteinanders ver- gel versuchten, zuziehende Zigeuner so schnell künden und an einer besseren Welt bauen – wie möglich wieder loszuwerden. Die nach der damit unsere Kinder in Frieden und Sicher- Reichsgründung herausgegebenen Erlasse ziel- heit leben können. ten in erster Linie auf die Ausweisung auslän- discher Zigeuner sowie die Erschwerung einer reisenden Lebensweise bei inländischen Zigeu- nern. Sie behielten auch während der Weimarer Republik Gültigkeit. Ende der 1920er Jahre er- folgte insoweit eine Radikalisierung, als durch die Einführung von Sonderausweisen eine lü- ckenlose Erfassung der Zigeuner zur neuen Leitvorstellung aufrückte. ❙2

Nationalsozialistische Rassenpolitik

Bereits unmittelbar im Anschluss an die nati- onalsozialistische Machtübernahme 1933 ge-

8 APuZ 22–23/2011 102 rieten Zigeuner verstärkt ins Blickfeld der Be- folgung werden ließen. Die Anzahl der nach hörden. Die Repression zielte zunächst nach dem Anfang 1934 in Kraft getretenen „Ge- wie vor in erster Linie auf Vertreibung. Den- setz zur Verhütung erbkranken Nachwuch- noch deutete sich schon früh eine Verschie- ses“ zwangssterilisierten Zigeuner lag deutlich bung der Gewichtung bei der Definition des höher als beim Durchschnitt der Bevölke- anvisierten Personenkreises und der zu er- rung und erfolgte meist mit der auf soziale greifenden Maßnahmen an. Seit dem Kaiser- Ausmerzung zielenden Diagnose „angebore- reich waren nahezu alle einschlägigen Bestim- ner Schwachsinn“. ❙4 Auch wenn bei der Um- mungen gleichermaßen gegen die ethnischen setzung der Sterilisationsgesetzgebung bereits Gruppen der Sinti und Roma und die sozi- ein anthropologischer Rassismus zum Tragen al gefasste Gruppe aller Fahrenden gerichtet, kam, so sollten ab Herbst 1935 durch das „Ehe- in der Praxis aber war wegen der Unmöglich- gesundheitsgesetz“ und das „Blutschutzge- keit, beide voneinander zu unterscheiden, in setz“ Ehe- und Fortpflanzungsbeschränkun- erster Linie die Lebensweise zum Kriterium gen ausdrücklich auf „Artfremde“ ausgedehnt für die Anwendung der Zigeunerbestimmun- werden. Obwohl mit Nachdruck auf das Ver- gen gemacht worden. bot von Eheschließungen zwischen „Deutsch- blütigen“ und Zigeunern hingewiesen wurde, Nach der Machtübernahme setzten Pla- waren die Standesbeamten in der Praxis au- nungen für ein „Reichszigeunergesetz“ ein, ßerstande festzustellen, ob einer der Heirats- die eine rassische Unterscheidung zwischen willigen als Zigeuner zu betrachten sei. „echten und unechten Zigeunern“ vorsahen, bestehende Vorschriften verschärfen und Son- derbestimmungen schaffen sollten, die nur Konzentration auf „echte Zigeuner“ zielten. Das „Reichs­ zigeuner­gesetz“ wurde zwar nie erlassen, Vor dem Hintergrund der rassistischen Neu- stattdessen aber am 6. Juni 1936 ein „Erlaß definition der Zigeuner ging die Initiati- zur Bekämpfung der Zigeunerplage“, der die ve für erste ausgrenzende Maßnahmen von bereits in der Weimarer Republik geltenden den Kommunalverwaltungen aus. Seit Mit- Bestimmungen zusammenfasste und zugleich te 1935 wurde, ausgehend von einer Initiati- dringenden Handlungsbedarf signalisierte. ve der Stadt Köln, damit begonnen, Zigeuner Inhaltlich brachte der Erlass nichts Neues, al- zwangsweise in umzäunten und bewachten lerdings wurde der betroffene Personenkreis Lagern am Rand der Städte zu konzentrie- nun als „das dem deutschen Volkstum fremde ren. Angelehnt an das Kölner Modell wurden Zigeunervolk“ deutlich rassistisch gefasst. ❙3 1936 in Berlin, Frankfurt/Main und Magde- burg und 1937 in Düsseldorf, Essen, Kassel Parallel zur Diskussion um das „Reichs­ und Wiesbaden Zigeunerlager eröffnet; die zigeuner­gesetz“ wurde bis Mitte der 1930er Gründung weiterer kommunaler Zwangs- Jahre damit begonnen, eine Reihe von bevöl- lager in verschiedenen Städten schloss sich kerungspolitischen Maßnahmen umzusetzen, an. ❙5 Durch die Konzentration von Zigeunern die Zigeuner zu Objekten einer scheinbar wis- konnten nicht nur teilweise anfallende Miet- senschaftlich begründeten, rassistischen Ver- beihilfen eingespart, sondern wirkungsvoll reduzierte „Zigeunersätze“ in der Fürsorge ❙1 Im Folgenden wird der Begriff „Zigeuner“ aus den durchgesetzt werden. Die Auszahlung wur- Quellen als Bezeichnung für eine rassistisch konst- de meist von der Ableistung von Pflichtarbeit ruierte Population beibehalten und nicht durch die abhängig gemacht, wonach Unterstützungs- Bezeichnung „Sinti und Roma“ ersetzt, da diese eine zahlungen nur gegen Arbeitsleistung gewährt kulturelle Identität beschreibt, die nicht notwendig deckungsgleich mit den rassistischen Zuordnungen während des Nationalsozialismus ist. ❙4 Vgl. Hansjörg Riechert, Im Schatten von Ausch- ❙2 Vgl. Marion Bonillo, „Zigeunerpolitik“ im Deut- witz. Die nationalsozialistische Sterilisationspoli- schen Kaiserreich 1871–1918, Frankfurt/M. 2001; tik gegenüber Sinti und Roma, Münster/New York Rainer Hehemann, Die „Bekämpfung des Zigeuner­ 1995. unwesens“ im Wilhelminischen Deutschland und in ❙5 Vgl. Sybil Milton, Vorstufe zur Vernichtung. Die der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1987. Zigeunerlager nach 1933, in: Vierteljahrshefte für ❙3 Zur Diskussion um das „Reichszigeunergesetz“ Zeitgeschichte, 43 (1995) 1, S. 115–130; Michael Zim- vgl. Michael Zimmermann, Rassenutopie und Geno- mermann, Von der Diskriminierung zum Familien- zid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeu- lager Auschwitz, in: Dachauer Hefte 5: Die vergesse- nerfrage“, Hamburg 1996, S. 156–160. nen Lager, Dachau 1989, S. 87–114.

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wurden. Die Heranziehung zur Pflichtarbeit sondern als selbständige Gewerbetreibende, und nicht zuletzt die immer massivere Behin- wobei es sich durchweg um Tätigkeiten han- derung selbständiger Berufsausübung zwan- delte, die eng mit einer reisenden Lebensweise gen immer mehr Zigeuner, eine Tätigkeit als verknüpft waren. Im Gegensatz zu „deutsch- Hilfsarbeiter aufzunehmen. blütigen“ Personen wurde nur ein kleiner Teil der in „Vorbeugungshaft“ genommenen Zi- Seit September 1933 war eine Berufsaus- geuner wieder aus dem Konzentrationslager übung auf kulturellem Gebiet von der Mit- entlassen. Der größte Teil der während der gliedschaft in einem der Reichskulturkammer Aktion „Arbeitsscheu Reich“ verhafteten Zi- unterstellten Berufsverband abhängig. Be- geuner blieb inhaftiert, da im Juni 1940 die reits im Herbst 1935 begann die auch für Ar- Fortdauer der Haft für alle Juden und Zigeu- tisten zuständige Reichstheaterkammer mit ner angeordnet wurde. ❙7 dem systematischen Ausschluss von „Nicht- ariern“, und um die Jahreswende 1937/38 be- gann auch die Reichsmusikkammer damit, Erfassung Zigeuner auszuschließen. Nicht wenige blie- ben ohne Erlaubnis in ihren Berufen tätig, Eine wesentliche Voraussetzung für die Ra- liefen nun jedoch Gefahr, deswegen krimina- dikalisierung der Verfolgungsmaßnahmen lisiert zu werden. ❙6 bildete die seit 1936 forcierte Zentralisie- rung des Polizeiapparates. Mit der Bildung Der Polizei kam eine immer bedeutende- des Reichskriminalpolizeiamtes (RKPA) im re Rolle bei der Erzwingung der Aufnah- September 1936 wurden Kriminalpolizeistel- me lohnabhängiger Beschäftigungen durch len mit der Führung und Koordination kri- Zigeuner zu. Mit dem im Dezember 1937 in minalpolizeilicher Fragen innerhalb eines Kraft getretenen sogenannten „Asozialener- bestimmten Bezirkes betraut und zur Koor- laß“ bekam sie ausdrücklich die Kompetenz, dination und Anleitung übergeordnete Kri- Zigeuner in ein Konzentrationslager einzu- minalpolizeileitstellen geschaffen. weisen. Der Erlass regelte die schon seit 1933 gegen „Berufsverbrecher“ angewandte „po- Durch den „Runderlaß zur Bekämpfung der lizeiliche Vorbeugungshaft“, einer von der Zigeunerplage“ vom 8. Dezember 1938 wur- Kriminalpolizei veranlassten, unbefristeten den detaillierte Vorgaben für eine reichsweite Inhaftierung in Konzentrationslagern, und Erfassung aller „seßhaften und nichtseßhaf- dehnte diese auf „Asoziale“ aus. Mit der Be- ten Zigeuner“ sowie aller „nach Zigeuner­ gründung, der „Asozialenerlaß“ sei nicht mit art umherziehenden Personen“ gegeben. Als der erforderlichen Schärfe umgesetzt wor- zentrale Erfassungsinstanz war im RKPA die den, wurde im Juni 1938 eine als Aktion „Ar- Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeu- beitsscheu Reich“ bezeichnete Verhaftungs- nerunwesens geschaffen worden. Für die re- aktion angeordnet, während der reichsweit gionale Zentralisierung wurden nun bei den etwa 10 000 Personen in Konzentrationslager Kriminalpolizeileitstellen „Dienststellen für eingewiesen wurden. Zigeunerfragen“ eingerichtet, die im Hin- blick auf eine zunächst vor allem auf Erfas- Bei keiner anderen Gruppe waren die Kri- sung und Identifizierung zielende Ausrich- terien für eine KZ-Einweisung derart nied- tung dem polizeilichen Erkennungsdienst rig angesetzt wie bei Zigeunern, die bereits angegliedert wurden. Das vorrangige Ziel der verhaftet werden konnten, wenn sie nur eine im Erlass angeordneten flächendeckenden Er- einzige Vorstrafe hatten oder Gelegenheits- fassung war zunächst die eindeutige Identifi- arbeiter waren. Allerdings wiesen die festge- zierung jedes einzelnen Zigeuners, aber auch nommenen Zigeuner im Unterschied zu den der Familienzusammenhänge, anhand de- meisten übrigen Verhafteten kaum Vorstrafen auf. Außerdem war der größte Teil der als „ar- ❙7 Vgl. Wolfgang Ayaß, Ein Gebot der nationalen Ar- beitsscheu“ inhaftierten Zigeuner tatsächlich beitsdisziplin. Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ 1938, erwerbstätig, allerdings nicht lohnabhängig, in: ders./Reimar Gilsenbach/Ursula Körber (Hrsg.), Feinderklärung und Prävention. Kriminalbiologie, Zigeunerforschung und Asozialenpolitik, Berlin 1988, ❙6 Vgl. Alan E. Steinweis, Art, Ideology and Econo- S. 43–74; Karola Fings/Frank Sparing, Rassismus, La- mics in Nazi-Germany, Chapel Hill-London 1993, ger, Völkermord. Die nationalsozialistische Zigeuner- S. 107 und S. 126 f. verfolgung in Köln, Köln 2005, S. 93–108.

10 APuZ 22–23/2011 104 rer Widersprüche aufgedeckt werden sollten. chen und die sich am strengsten an ihre Sitten Durch Personenfeststellungsverfahren sollten und Gesetze hielten, sollten Genealogien er- sämtliche Angaben zur Person und Staatsan- hoben werden. So sollte es möglich sein, nicht gehörigkeit mit Hilfe vorhandener Ausweis- nur alle „stammechten Zigeuner“, sondern papiere, zuverlässiger Erkennungszeugen und auch „alle Mischlinge aufzudecken und zu amtlicher Eintragungen überprüft werden, erfassen“. Dem Leiter der RHF Robert Ritter wobei die Betroffenen ihre deutsche Reichs­ zufolge waren weit mehr als 90 Prozent aller angehörigkeit durch Urkunden nachzuweisen als Zigeuner geltenden Personen keineswegs hatten. Gelang ihnen das nach Auffassung der „stammechte Nomaden indischer Herkunft“, „Dienststelle für Zigeunerfragen“ nicht, wur- sondern „Mischlinge“, die ihre Partner unter den sie zu Staatenlosen erklärt. Menschen „minderwertiger Herkunft“ ge- funden hätten, weshalb noch unter entfern- In den Ausführungsanweisungen zum ten Nachkommen ein sehr hoher Prozentsatz „Runderlaß“ wurde zudem angeordnet, an „Asozialität und Kriminalität“ zu finden reichsweit Sonderausweise für „Zigeuner“, sei. „Zigeunermischlinge“ und „nach Zigeuner­ art umherziehende Personen“ auszugeben. Die „Zigeunerfrage“, so wurde daher ge- Ihre Funktion bestand nicht nur darin, Zi- schlossen, sei „vorwiegend ein Mischlings- geuner bei Kontrollen zu identifizieren; ins- problem“. Alle „Zigeuner, Zigeunermisch- besondere bei Behördenkontakten wurden sie linge und nach Zigeunerart umherziehenden damit als solche erkennbar und infolgedessen Personen“ wurden verpflichtet, „Angaben gesondert erfasst. ❙8 Da im „Runderlaß“ be- über ihre Abstammung“ zu machen und sich absichtigt worden war, „bei der endgültigen einer „rassenbiologischen Untersuchung“ zu Lösung der Zigeunerfrage die rassereinen Zi- unterziehen. Die Feststellung der „Abstam- geuner und die Mischlinge gesondert zu be- mung“ diente dabei zugleich der Kriminal- handeln“, sollte die Feststellung darüber, „ob polizei dazu, noch nicht erfasste Zigeuner es sich um Zigeuner, Zigeunermischlinge festzustellen, aber auch der RHF, die diese oder nach Zigeunerart umherziehende Perso- Angaben für ihre separate Erfassungstätig- nen“ handele, durch ein Gutachten der Ras- keit benötigte. Die in Verhören und bei der senhygienischen Forschungsstelle (RHF) er- Auswertung von Akten und Kirchenbüchern folgen. Zu den Zielen dieser im Frühjahr 1936 durch die RHF gewonnenen Informatio- gegründeten und dem Reichsgesundheits- nen wurden im „Zigeunersippenarchiv“ im amt angegliederten Einrichtung gehörte es, Reichsgesundheitsamt in verschiedenen Kar- die biologische Bedingtheit von „Asoziali- teien erfasst und zu „Sippentafeln“ kombi- tät“ exemplarisch an den im Reich vermute- niert. In erster Linie diente das Archiv dazu, ten rund 30 000 Zigeunern wissenschaftlich „gutachterliche Äußerungen“ zu erstellen, nachzuweisen. Daneben hatte sie die Aufga- die von der Kriminalpolizei als Grundla- be, ein Instrumentarium zu entwickeln, wel- ge für die Anordnung von Verfolgungsmaß- ches Aufschluss darüber geben sollte, wer als nahmen benötigt wurden. Dabei wurde je- Zigeuner zu gelten habe, da diese, anders als der als Zigeuner definiert, der „blutmäßig Juden, nicht ohne weiteres über Zugehörig- aus einem Zigeunerstamm hervorgegangen keit zu einer Religionsgemeinschaft identifi- ist“, um „auch den rückgekreuzten Mischling zierbar waren. Von der RHF wurden Zigeu- als Zigeuner gelten zu lassen“. Diese im Ver- ner gleichermaßen rassenanthropologisch als gleich zur juristischen Definition von Juden „Fremdrasse“ und rassenhygienisch als erbli- wesentlich radikalere Vorgehensweise wurde che „Asoziale“ definiert. mit der angeblichen Existenz einer besonders „arbeitsscheuen“ und „asozialen“ „Zigeuner- Ausgehend von den als am „reinrassigsten“ mischlingspopulation“ begründet. ❙9 definierten Zigeunern, die noch vorwiegend nomadisierten, ihre Sprache am reinsten sprä- ❙9 Vgl. Martin Luchterhandt, Der Weg nach Birke- nau. Entstehung und Verlauf der nationalsozialis- tischen Verfolgung der „Zigeuner“, Lübeck 2000, ❙8 Vgl. Frank Sparing, Die Dienststelle für Zigeu- S. 123–137 und S. 206–226; Joachim S. Hohmann, nerfragen bei der Kriminalpolizeileitstelle Köln, in: Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie, Harald Buhlan/Werner Jung (Hrsg.), Wessen Freund Frankfurt/M. 1991; Tobias Schmidt-Degenhard, Ro- und wessen Helfer? Die Kölner Polizei im National- bert Ritter 1901–1951. Zu Leben und Werk des NS- sozialismus, Köln 2000, S. 519–574. Zigeunerforschers, Diss. med., Tübingen 2008.

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Deportation lich etwa 2800 Zigeuner am 21. und 22. Mai 1940 in Güter- und Personenzüge verladen Während bis Ende der 1930er Jahre eine Ra- wurden, mussten sie eine Erklärung unter- dikalisierung der Zigeunerverfolgung im We- schreiben, wonach sie im Falle unerlaubter sentlichen durch lokale Vorstöße erfolgt war, Rückkehr sterilisiert und in ein KZ einge- gingen mit der Etablierung der Reichs­zen­ wiesen werden würden. trale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens im RKPA und verstärkt seit Kriegsbeginn Für die in das Generalgouvernement de- die maßgeblichen Impulse in der Zigeuner- portierten Zigeuner waren durch das RSHA verfolgung zunehmend von der neugeschaf- keine Pläne, sondern lediglich vage Vorgaben fenen Zentrale aus. Mit dem im Oktober 1939 entwickelt worden: Sie wurden auf einzelne erlassenen „Festsetzungserlaß“, dem Verbot Distrikte verteilt, sollten zur Arbeit einge- eines Ortswechsels für Zigeuner bei Andro- setzt und an der Rückkehr gehindert werden. hung einer Einweisung ins KZ, verfügten die Weder waren Unterkünfte vorbereitet, noch „Dienststellen für Zigeunerfragen“ erstmals war die Frage anfallender Kosten geregelt. über ein wirksames Kontrollinstrument. Seit Mitte 1941 wurden die Zigeuner zuneh- mend in Ghettos konzentriert, wo sie unter Unmittelbar nach Kriegsbeginn wurden elenden Bedingungen Zwangsarbeit leisten die Maßnahmen auf eine bevölkerungspoliti- mussten und auch in die Vernichtungsak- sche Gesamtlösung der „Zigeunerfrage“ aus- tionen gegen jüdische Insassen einbezogen gerichtet, die nach der Schaffung des Gene- wurden. Trotz der angedrohten Sanktionen ralgouvernements in einem Teil des besetzten versuchten annähernd zehn Prozent der De- Polen als realisierbar erschien. Die Deporta- portierten aufgrund der lebensbedrohlichen tion aller etwa 30 000 Zigeuner aus dem Reich Situation im Generalgouvernement zurück in ein für die Aufnahme von Juden und Zigeu- ins Reich zu gelangen. Solche Rückkehrver- nern vorgesehenes Gebiet zwischen Bug und suche verliefen jedoch meist erfolglos, da die Weichsel wurde zur zentralen Option natio- Kriminalpolizei in der Regel sofort mit KZ- nalsozialistischer Zigeunerpolitik. Diese von Einweisungen reagierte. ❙10 Heinrich Himmler und dem Reichssicher- heitshauptamt (RSHA) angestrebte Gesamt- lösung scheiterte an den durch erste Mas- Isolation senumsiedlungen geschaffenen Problemlagen vor Ort, aber auch am Widerspruch des Ge- Eine qualitative Veränderung der Zigeuner- neralgouverneurs . Für Mai 1940 politik setzte mit einem Anfang August 1941 wurde daher zunächst die Deportation von von der RHF eingeführten Klassifikations- 2500 Zigeunern aus den westlichen und nord- schema ein, das eine verbindliche Definition westlichen Grenzgebieten des Reiches ange- der als Zigeuner zu fassenden Personen vor- ordnet. In den Morgenstunden des 16. Mai nahm. Mit in kurzer Abfolge erlassenen Son- 1940 wurde überall mit der Verhaftungsakti- derbestimmungen für nahezu alle Lebensbe- on und der Zusammenfassung der Zigeuner reiche wurde der Status von Zigeunern dem in den Sammellagern in der Fruchthalle im von Juden angepasst. Hamburger Hafen, der Köln-Deutzer Messe sowie dem Hohen Asperg, einer Zweigstelle Durch das RKPA wurde ein Verbot unehe- des Zuchthauses Ludwigsburg, begonnen. licher Lebensgemeinschaften mit dem Ziel der vollständigen „Rassentrennung“ ver- Den „Richtlinien für die Umsiedlung von schärft gegen Zigeuner angewendet und so Zigeunern“ zufolge sollten erkrankte Zigeu- der gegen Juden gerichteten Praxis der „Ras- ner oder solche, die aus anderen Gründen senschande“ angeglichen. Durch Androhung Schwierigkeiten im Falle einer Deportati- on erwarten ließen, vom Abtransport ver- ❙10 Vgl. Michael Krausnick, Abfahrt Karlsruhe. schont bleiben. Diese Bestimmungen wurden 16. 5. 1940. Die Deportation der Karlsruher Sinti und jedoch weitgehend ignoriert; vereinzelt wur- Roma, Neckargemünd 1990; Michael Zimmermann, den sogar Personen deportiert, die später als Deportation ins „Generalgouvernement“. Zur nati- onalsozialistischen Verfolgung der Sinti und Roma „Nichtzigeuner“ eingestuft wurden. Offen- in Hamburg, in: Frank Bajohr/Joachim Szodrzyn- bar wurden bevorzugt Arbeitsunfähige für ski (Hrsg.), Hamburg in der NS-Zeit, Hamburg 1995, den Abtransport ausgewählt. Bevor schließ- S. 151–173; K. Fings/F. Sparing (Anm. 7), S. 195–236.

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oder Anordnung von „Vorbeugungshaft“ zu erreichen. Nicht mehr als 200 bis 300 Men- setzte die Kriminalpolizei in der Regel eine schen im Reich blieben als „reinrassige Zigeu- Trennung von Liebesbeziehungen zwischen ner“ von einer Einweisung nach Auschwitz „Deutschblütigen“ und „Zigeunern“ durch. verschont, mussten aber dennoch bis Kriegs- Infolge der Kriminalisierung von ehelichen ende um ihr Überleben bangen. ❙12 und nichtehelichen Beziehungen wurde da- rüber hinaus bereits 1942 damit begonnen, Bei der Auswahl der Deportationsopfer außergesetzliche Sterilisationen an Zigeu- im Frühjahr 1943 war für bestimmte Grup- nern zu erzwingen. pen wie die Roma und die „Sippen westbal- kanischer Bärenführer“ allein die über sie Durch die im März 1942 erfolgte Aus- ausgestellte „Rassendiagnose“ der RHF aus- dehnung der arbeitsrechtlichen Sonderbe- schlaggebend. In den übrigen Fällen verfügte stimmungen für Juden und Polen auf Zi- die Kriminalpolizei über erheblichen Ermes- geuner verschlechterte sich ihre Situation sensspielraum, und da es keinerlei Zahlenbe- drastisch: Arbeitszwang, „Rassentrennung“ grenzung gab, wurde versucht, so viele Zigeu- am Arbeitsplatz, erhebliche Lohneinbußen ner wie möglich zu deportieren. Durch das und fehlende Schutzvorschriften lieferten sie RKPA wurden die Familien bewusst nicht der Willkür von Unternehmen und Krimi- auseinandergerissen, um mögliche Wider- nalpolizei vollständig aus. Der systematische stände gar nicht erst aufkommen zu lassen. Ausschluss von Zigeunern aus allen Massen- Die Zigeuner wurden in einen Teil des im De- organisationen wie Hitlerjugend, Reichs­ zember 1942 neuerrichteten Lagerabschnitts arbeits­dienst oder Luftschutzwarndienst in in Auschwitz-Birkenau eingeliefert, der nach den Jahren 1941 und 1942 verschärfte ihre ge- Beginn der Deportationen als „Zigeunerfami- sellschaftliche Isolation. Vor allem durch ih- lienlager“ in Betrieb genommen wurde. Jede ren Ausschluss aus der Wehrmacht verloren der 32 Baracken war völlig überbelegt, so dass Zigeuner einen für ihren Status bedeutsamen sich jeweils zehn Menschen eine Pritsche tei- gesellschaftlichen Rückhalt. ❙11 len mussten und sich unter diesen Bedingun- gen zahlreiche Epidemien verbreiteten. Inner- halb weniger Monate starben mehr als 10 000 Vernichtung Insassen an Hunger, Seuchen, Misshandlun- gen oder medizinischen Experimenten. Im Kontext der im Herbst 1942 weit voran ge- schrittenen „Endlösung der Judenfrage“ fällte Vermutlich im April 1944 traf Himmler Himmler am 16. Dezember 1942 die Entschei- nach Rücksprache mit dem Kommandanten dung, den größten Teil der noch im Deutschen von Auschwitz Rudolf Höß die Entschei- Reich lebenden Zigeuner nach Auschwitz de- dung, die arbeitsfähigen Häftlinge im Zigeu- portieren zu lassen. Als vorbereitende Maß- nerfamilienlager auszusondern und die üb- nahme war im Herbst die Einsetzung von rigen vergasen zu lassen. Nachdem ein Teil „Zigeunersprechern“ erfolgt, die damit be- der Zigeuner in andere Konzentrationslager traut wurden, „Sippen reinrassiger Zigeuner“ verlegt worden war, wurden die verbliebenen zusammenzustellen. Die „Sprecher“ sollten Insassen des Zigeunerfamilienlagers in der die „reinrassigen Zigeuner“ darüber aufklä- Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in die ren, dass sie „in Zukunft eine gewisse Bewe- Gaskammern getrieben. Dabei versuchten gungsfreiheit“ erhielten und „einer arteige- sie offenbar, der SS nach Kräften Widerstand nen Beschäftigung nachgehen“ könnten. Die entgegenzusetzen. Aber auch fast jeder Drit- Kriterien für die Aufnahme in diese Gruppe te der in andere Lager überstellten Zigeuner waren aber derart restriktiv, dass ohnehin nur wurde nach kurzer Zeit wieder zurück nach das engste familiäre Umfeld der „Sprecher“ Auschwitz verlegt und dort ermordet. Von in Frage kam. Mit der Einsetzung der „Zi- den ungefähr 30 000 Zigeunern, die nach geunersprecher“ gelang es dem RKPA, durch Auschwitz deportiert worden waren, über- Einbindung angesehener Vertreter der Min- lebten nur ungefähr 3000. ❙13 derheit in den Selektionsprozess eine Entso- lidarisierung der im Reich lebenden Zigeuner ❙12 Vgl. K. Fings/F. Sparing (Anm. 7), S. 289–297. ❙13 Vgl. Stowarzyszenie Rom w Polsce (Vereinigung ❙11 Vgl. M. Zimmermann (Anm. 3), S. 193–213; M. der Roma in Polen) (Hrsg.), Das Schicksal der Sin- Luchterhandt (Anm. 9), S. 185–205. ti und Roma im KL Auschwitz-Birkenau, Warszawa

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Nach der Deportation nach Auschwitz rassischen Gründen, sondern wegen „Asozi- konzentrierte sich die Kriminalpolizei auf alität“ inhaftiert worden seien, und konnten die meist unauffällig in „Mischehen“ leben- so Entschädigungszahlungen an ihre Opfer den Zigeuner, die seit 1943 zunehmend ins wie auch eine strafrechtliche Würdigung ih- Fadenkreuz der Erfassungsinstanzen geraten rer eigenen Beteiligung am Völkermord ver- waren. Fast die Hälfte dieser Familien wur- hindern. de durch die Deportation getrennt, wobei die Zurückgebliebenen von Zwangssterilisation Die Absicht, möglichst wenig staat­liche bedroht oder betroffen waren. Die vollstän- Mittel für Entschädigungen aufzuwenden, dige Durchsetzung der beabsichtigten Sterili- führte bei den zuständigen Behörden zur Eta- sierung nichtdeportierter Zigeuner scheiterte blierung von Leitkonzepten, die eng mit anti- an der kriegsbedingten Desorganisation, aber ziganistischen Vorurteilen verwoben waren. auch am Widerstand Betroffener. ❙14 So war beispielsweise in Baden-Württemberg im Februar 1950 durch Erlass festgestellt wor- den, dass die Zigeuner „überwiegend nicht „Wiedergutmachung“ aus rassischen Gründen“, sondern wegen ih- rer „asozialen und kriminellen Haltung“ in- Von den in Ghettos und Konzentrations- haftiert worden seien. Entschädigungsanträ- lagern verschleppten Zigeunern überlebten ge von Zigeunern wurden daher in der Regel nur 4000 bis 5000 die Vernichtung. Die zu- abgelehnt, jedoch beschritt ein kleiner Teil rückkehrenden Personen waren auf beson- der Betroffenen den Rechtsweg, wodurch die dere Fürsorge angewiesen, weshalb auf An- Frage der Anerkennung der NS-Zigeuner- ordnung der alliierten Militärregierung in verfolgung von der Amtsebene auf die Jus- jeder Gemeinde gesonderte Betreuungsstel- tiz überging. Trotz nicht immer einheitlicher len einzurichten waren. In den westlichen Rechtsprechung etablierte sich bis Mitte der Besatzungszonen wurde außerdem die Zah- 1950er Jahre eine Urteilspraxis, die alle vor lung von Entschädigung an NS-Opfer durch dem „Auschwitz-Erlass“ ergriffenen Maß- deutsche Behörden veranlasst. Als entschädi- nahmen gegen Zigeuner nicht als rassische gungswürdig galten die Verfolgung aus ras- Verfolgung erachtete. sischen, politischen oder religiösen Grün- den, während die KZ-Haft bei Kriminellen In den 1954/1955 veröffentlichten Kommen- als legitime Form der Verbrechensbekämp- taren zum „Bundesentschädigungsgesetz“ fung gewertet wurde. Durch die Entschädi- (BEG) wurden alle Verfolgungsmaßnahmen gungsbehörden wurden auch als „Asoziale“ aus der Zeit vor März 1943 als legitime Sicher- inhaftierte Menschen nicht als NS-Verfolgte heitsmaßnahmen interpretiert, da die den Zi- eingestuft. geunern „eigene Eigenschaften“ wie „Asozi- alität“, Kriminalität und „Wandertrieb“ ihre Zur Prüfung, ob unberechtigte Personen Bekämpfung veranlasst hätten. Anfang 1956 Hilfen oder Entschädigung beantragten, be- wurde die Rechtsprechung und Verwaltungs- gannen die Ämter bereits früh damit, An- praxis, eine rassische Verfolgung der Zigeu- träge auf Anerkennung als NS-Verfolgte der ner erst ab März 1943 anzunehmen, durch Kriminalpolizei zuzuleiten. Im Rahmen die- ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofes ser Kooperation wurden zum Teil vormalige (BGH) sanktioniert und festgeschrieben. An- Beamte der „Dienststellen für Zigeunerfra- derslautende Urteile wurden bis Ende 1963 gen“, die nach 1945 mit dem Wiederaufbau regelmäßig von höheren Instanzen kassiert. der polizeilichen Sondererfassung von Zigeu- Dennoch wurde durch Land- und Oberlan- nern befasst waren, nun zu Gutachtern über desgerichte immer wieder abweichend über den Charakter ihrer eigenen Verfolgungs- die Verfolgungsgründe geurteilt und mit dem maßnahmen während des Nationalsozialis- BGH intensiv über die Frage gestritten, was mus. Kaum überraschend gaben die NS-Täter unter rassischer Verfolgung zu verstehen sei. zu Protokoll, dass die Antragsteller nicht aus Ende 1963 erfolgte durch den BGH eine teilweise Revision seines Grundsatzurteils 1994 (poln.); Waclaw Dlugoborski (Hrsg.), Sinti und Roma im KL Auschwitz-Birkenau 1943–44, Oswie- von 1956, wobei nun festgestellt wurde, dass cim 1998 (poln.). für die Verfolgung der Zigeuner seit 1938 ❙14 Vgl. K. Fings/F. Sparing (Anm. 7), S. 332–346. „rassenpolitische Beweggründe mitursäch-

14 APuZ 22–23/2011 108 lich“ gewesen seien. Die meisten Entschädi- Markus End gungsverfahren von Sinti und Roma waren jedoch bereits durch unanfechtbare Beschei- de oder rechtskräftige Urteile abgeschlos- sen. Dem wurde im „Bundesentschädigungs- Bilder und schlussgesetz“ von 1965 Rechnung getragen, da Zigeunern, deren Anträge aufgrund der früheren BGH-Rechtsprechung zurückge- Sinnstruktur des wiesen worden waren, ein Neuantragsrecht für Verfolgungsschäden zugestanden wurde, die in der Zeit vom 8. Dezember 1938 bis zum Antiziganismus 1. März 1943 entstanden waren. Ein Neu­ antrag war jedoch unzulässig, wenn die Tat- ntiziganismus muss gegenwärtig als Spe- sache einer Freiheitsentziehung angezweifelt Azialbegriff gelten, der nur von einer klei- oder eine Freiheitsentziehung aus rassischen nen Gruppe wissenschaftlich und politisch Gründen auch für die Zeit nach dem 1. März Interessierter verwen- 1943 bestritten worden war. Ein Neuantrags- det wird. Für die breite Markus End recht wurde auch dann nicht zugestanden, Mehrheit der deutsch- Dipl.-Pol., geb. 1979; Doktorand wenn Betroffene erst gar keinen Entschädi- sprachigen Bevölke- am Zentrum für Antisemitis- gungsantrag gestellt hatten, weil sie aufgrund rung kann davon aus- musforschung der Technischen der BGH-Rechtsprechung ohnehin mit einer gegangen werden, dass Universität Berlin, TEL 9-1, Ablehnung rechnen mussten. ❙15 ihr der Begriff noch Ernst-Reuter-Platz 7, gänzlich unbekannt 10587 Berlin. Während des Nationalsozialismus war die ist. Damit einher geht markus.end@ zugleich soziografisch und ethnisch gefasste ein weitgehendes Des- zfa.kgw.tu-berlin.de Ausgrenzung von „Zigeunern“ in Kaiserreich interesse an dem Phä- und Weimarer Republik in eine zugleich ras- nomen, das mit dem Begriff bezeichnet wird: senanthropologisch und rassenhygienisch be- Die Stigmatisierung, Diskriminierung und gründete Verfolgung übersetzt worden, die Verfolgung von Menschen als „Zigeuner“ ist daher hinsichtlich des anvisierten Personen- kein Thema, das für Schlagzeilen sorgt; eine kreises eine besondere Radikalität entfaltete Beschäftigung in den Bereichen Bildung, Po- und unter den Bedingungen des Krieges in ei- litik und Wissenschaft muss immer noch als nen arbeitsteiligen Völkermord kulminierte. randständig gelten. Dabei ist der Hass auf Menschen, die als „Zigeuner“ stigmatisiert Die weit zurück reichenden Traditionslini- werden, sehr weit verbreitet und tief ins kul- en der Ausgrenzung von Zigeunern und der turelle Gedächtnis ❙1 der europäischen Gesell- Umstand, dass im Nationalsozialismus nicht schaften eingeschrieben. die nach 1945 als verbrecherische Organisa- tion erachtete Gestapo, sondern die Krimi- nalpolizei die Maßnahmen gegen Zigeuner Begriff und Forschungsansatz umsetzte, hatte nach Kriegsende zur Folge, dass den Opfern dieser Minderheit die An- Der Begriff des „Antiziganismus“ ist in der erkennung ihrer Verfolgung verwehrt wurde wissenschaftlichen Forschung umstritten; ❙2 und die Begründungen hierfür überdies die außerhalb Deutschlands findet er wenig Ver- Grundlage für fortgesetzte Diskriminierun- wendung. Er entstand Anfang der 1980er gen in der Bundesrepublik schufen. ❙1 Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frü- hen Hochkulturen, München 1992. ❙2 Vgl. Michael Zimmermann, Antiziganismus – ein ❙15 Vgl. Gilad Margalit, Die Nachkriegsdeutschen Pendant zum Antisemitismus? Überlegungen zu ei- und „ihre Zigeuner“, Berlin 2001, S. 117–173; Katha- nem bundesdeutschen Neologismus, in: Zeitschrift rina Stengel, Tradierte Feindbilder. Die Entschädi- für Geschichtswissenschaft, 55 (2007) 4, S. 304–314, gung der Sinti und Roma in den fünfziger und sech- sowie Berthold P. Bartel, Vom Antitsiganismus zum ziger Jahren, Frankfurt/M. 2004. antiziganism. Zur Genese eines unbestimmten Be- griffs, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesge- schichte, 60 (2008) 3.

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Edward Paczkowski Ich bin Roma und ich habe dieses Land verteidigt

Edward Paczkowski, Jahrgang 1930, schloss sich als Kind dem polnischen Widerstand an, überlebte Gestapo-Folter und fünf Konzentrationslager. Seine gesamte Familie wurde im NS-Völkermord an den Roma getötet.

Edward Paczkowski, geboren am 20. März 1930 in der polnischen Kleinstadt Grabow, überlebte als einziger seiner Familie den nationalsozialistischen Völkermord an den Roma. Seine Eltern, die beiden zwei älteren Brüder, seine drei jüngeren Schwestern und die Familie des ältesten Bruders wurden im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz- Birkenau inhaftiert und bei der Auflösung des so genannten „Familienlagers“ am 2. April 1944 ermordet.

Im Gespräch mit Anna Meier, der stellvertretenden Leiterin der pädagogischen Abteilung der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Oswiecim/Auschwitz, berichtet Edward Paczkowski über sein Leben als 12-jähriger Roma-Jugendlicher im polnischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung und die dreijährige Gefangenschaft in fünf NS- Konzentrationslagern.

Mit den Pfandfindern in den Widerstand: 20 zerstörte Panzer in 12 Monaten

In den 1930er Jahren führten wir ein Nomadenleben: meine Familie wanderte durch ganz Polen, vor allem im Gebiet von Łódź und der Wojewodschaft Kieleckie. Für die Winterzeit suchten meine Eltern dann Mietwohnungen in kleinen Städtchen. Neben der Wohnung hatten wir auch immer einen Pferdestall für unsere Pferde. Ab März gingen wir dann wieder auf Wanderschaft. Im Jahr 1938 wurde mein Vater in Tomaszów Mazowiecki sesshaft. Er hatte als Kind die Schule besucht und wie mein Großvater eine Ausbildung zum Schmied gemacht.

Als mein Vater sich niederließ, richtete er eine Werkstatt ein und stellte acht Polen ein. Meine Mutter kümmerte sich um den Haushalt. Insgesamt waren wir sechs Geschwister, drei Schwestern und drei Brüder. Von den Jungen war ich der jüngste im Haus. Bis der Krieg ausbrach, besuchten wir in Tomaszów Mazowiecki die Schule. Mein Bruder Jozef Benek, den alle nur Benek nannten, war drei Jahre älter als ich und bei den Pfadfindern. Er schlug mir vor, mich ebenfalls den Pfadfindern anzuschließen. Ab 1940 wurde ich Pfadfinder. Benek gehörte der Armia Krajowa, der polnischen Heimatarmee an. Zuerst wollte er mir nicht sagen, was es damit auf sich hatte. Aber dann erklärte er mir, dass ich Waffen tragen würde: Granaten und Benzinflaschen. Damit würden wir die deutschen Panzer zerstören. „Wir zünden sie an und die Panzer werden brennen. Wenn sie brennen, müssen wir wegrennen“, sagte Benek. Ich zögerte zwei Wochen lang, aber dann gab ich nach. In dieser konspirativen Gruppe waren noch drei Polen. Ich musste einen Schwur ablegen, dass ich niemandem ein Wort erzählen würde.

Dann bekam ich die Granaten und mein Bruder brachte mir bei, wie ich mit ihnen umzugehen hatte. Nach zwei Wochen bekamen wir schon den ersten Angriffsbefehl auf vier Panzer und zwei Panzerwagen in der Stadt Piotrków. Erst galt es auszuspähen, ob die deutsche Patrouille schon da gewesen war. Dann haben wir die Panzer mit den Benzinflaschen angezündet. Sobald sie brannten, sind wir weggerannt. Das waren unsere Befehle für Piotrków, Kielce und Radom. Im Verlauf eines Jahres zerstörten wir 20 Panzer und 12 Panzerwagen des Feindes. Eines Morgens legten wir uns unter deutsche Panzer in Kielce. Aber die Späher hatten uns diesmal schlecht informiert. Die erste deutsche Patrouille war zwar vorbei gefahren, aber dann kam eine zweite. Die Gestapo verhaftete 110 uns. Sie fassten uns so plötzlich und blitzartig, dass wir gar nicht so schnell reagieren konnten. Wir hatten seitlich am Körper jeder zwei Granaten, zwei Flaschen Benzin und rückseitig eine Pistole, die wir uns im Notfall an den Kopf halten konnten. Wir hatten nicht eine Sekunde Zeit, so schnell fesselten sie unsere Hände auf dem Rücken und verfrachteten uns in ihr Auto.

Gestapo-Folter im Gefängnis und Rettung vor dem Erschießungskommando

Wir waren zu fünft und man brachte uns nach Kielce ins Gefängnis in Einzelzellen. Am dritten Tag holte man uns abends zum Verhör ab. Wir saßen auf eisernen Stühlen und ein eiserner Tisch stand davor. Bis zum Knie gab es Fußfesseln und die Arme und Hände waren auch angebunden. Dann bekamen wir Stromschläge. In den folgenden drei Monaten bekamen wir im Wechsel jeweils eine Nacht Stromschläge und in der folgenden Nacht wurden wir geschlagen. Alles immer einzeln, nie zusammen. Aber keiner von uns gab etwas Preis, wir haben niemanden verraten.

Nach drei Monaten hat man uns mit auf dem Rücken gebundenen Händen nach Tomaszów ins Gefängnis gebracht. Nach einem Monat hat man unsere Namen verlesen, unsere Hände auf dem Rücken gebunden und uns Säcke über die Köpfe gezogen. Wir fünf standen nebeneinander und in wenigen Minuten sollten wir erschossen werden. Aber in dem Moment –unser Anführer war ein Schlesier und sein Vater Offizier in der Wehrmacht – kam eine Depesche. Das hat uns gerettet. Alle schrien plötzlich „nicht schießen“, „nicht schießen“. Dann haben sie uns die Säcke vom Kopf gezogen und uns zurück in die Gefängniszellen gebracht. Unsere Eltern wussten bis dahin nicht, wo wir waren.

Als 12-Jähriger im Konzentrationslager Auschwitz

Ende September 1942 brachte man uns in das Konzentrationslager Auschwitz. Mir wurde die Häftlingsnummer 66.485 in den Arm gestochen. Wir waren im 18. Block untergebracht. Ich war nicht im Birkenau, sondern im Zentrallager Auschwitz I, das so genannte Stammlager. Wir waren 30 bis 40 Jungen, alle um die 12,13,14 und 15 Jahre alt und mussten genauso arbeiten wie die älteren Häftlinge. Unsere Essensration für einen Tag war ein Kilogrammbrot, das wir zu viert teilen mussten, und eine Suppe aus Kohlrüben und Brennnesseln. In unserem Block waren insgesamt 1.000 Menschen eingesperrt.

Wenn jemand aus dem Lager floh, dann mussten wir zur Strafe die gesamte Nacht auf dem Appellplatz stehen. Im Winter, wenn wir drei bis vier Wochen minus 40 Grad Celsius hatten, starben Menschen vor Kälte. Morgens gingen wir zur Arbeit, auch dann, wenn wir die ganze Nacht gestanden hatten.

Die Nummer auf dem Arm bereitete mir Probleme. Wenn der Blockälteste und der Schreiber die Nummern verlasen und 500 Menschen auf dem Appellplatz standen, habe ich mich nicht gemeldet, weil ich kein Deutsch konnte und sie nicht verstanden habe. Deshalb wurde ich mehrmals im Monat geschlagen. Ich habe lange nicht verstanden, warum sie mich schlugen. Dann habe ich die Nummer auf Deutsch gelernt.

Eines Tages standen vor dem Küchengebäude 12 Galgen. Unter den 12 Stricken wurden 12 Hocker aufgestellt. Dann wurden die Häftlinge mit den Händen auf den Rücken herangeführt und der Lagerkapo legte ihnen die Stricke um den Hals und sie wurden gehängt. Das Schlimmste war, dass jeder Blockälteste mit seinem Block an den Erhängten vorbeigehen musste.

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1943: Die SS-Männer haben aus jedem Block zehn Menschen ausgewählt, auch meinen Bruder, und sie in die Gaskammer gebracht. Nach dem Appell habe ich meinen Bruder gesucht. Ich habe ihn tagelang in seinem Block gesucht, aber er war nicht da. Nach einer Woche habe ich dann erfahren, dass Benek vergast wurde. Ich weinte und weinte. lltag in Auschwitz

Eines Tages kam ich von der Arbeit. Auf dem Lagergelände befand sich ein Vorratsmagazin. Ich sah dort Brot und dachte, wenn ich ein Brot nähme, hätte ich etwas zu essen. Also griff ich ein Laib Brot und lief davon. Aber ein SS-Mann verfolgte mich, bekam mich zu fassen und ließ mich nicht mehr los. Er zückte seine Pistole und befahl mir zu tanzen. Er schoss mir auf die Füße und ich hüpfte von einem Fuß auf den anderen. Er zerschoss mir dabei einige Zehen. Erst habe ich das nicht bemerkt, dann spürte ich das feuchte Blut in meinen Holzschuhen. Als die Häftlinge von der Arbeit kamen, gelang es mir zu flüchten. Der SS-Mann konnte mich in dem Gewühl nicht finden und ließ von mir ab. Mein Bein begann zu faulen und eiterte, die Knochen waren durch die Schüsse zertrümmert. Nach zwei Wochen im Krankenbau musste ich wieder arbeiten.

Im Steinbruch von Mittelbau-Dora

Mit 14 Jahren kam ich 1944 nach Buchenwald und war dort vier Wochen im Quarantäneblock. Dann ging es weiter ins Konzentrationslager Mittelbau-Dora. An dem einen Ende des Berg-Tunnels fuhren die Züge raus, dort produzierten die Deutschen die V1. Am anderen Ende des Tunnels schlugen wir die Steine ab, warfen sie auf einen Wagen - den ganzen Tag lang ohne Pausen. In dem Steinbruch habe ich ein Jahr gearbeitet [...] Einmal als mit Dynamit gesprengt wurde und wir nicht schnell genug beiseite gelaufen sind, sah ich einen russischen Häftling neben mir, der erst lachte und dann weinte. Das war Steingas. Der Kapo sagte, dass wir den Stollen verlassen sollten. Wir kletterten einen Stollen tiefer, warteten ein bis zwei Stunden bis das Gas entwichen war und kletterten wieder nach oben. So war unser Leben das ganze Jahr über.

Auf tödlichen Transporten und Befreiung in Bergen-Belsen

Zu Beginn des Jahres 1945 brachte man mich von Dora in das Konzentrationslager Harzungen, einem Außenlager von Buchenwald. Dort gab es vier Holzbaracken, in jeder Baracke waren wir zu Hundert. Eines Tages gegen 23 Uhr wurden unsere Nummern verlesen und wir wurden auf ein Bahngleis zu einem Zug mit vier Güterwaggons gebracht. Die Hände auf den Rücken gefesselt, wurden wir zu den Waggons geführt und man steckte uns unter den angewinkelten Arm jeweils einen halben Laib Brot, das war alles. Dann fuhren wir eine Woche lang in den Güterwaggons ohne Verpflegung, ohne Essen, ohne Trinken.

Letztendlich brachten sie uns in das Konzentrationslager Bergen-Belsen zwischen Hannover und Celle. Ich war dort eine Woche und wir mussten die Leichen auf die Karren ziehen. Dort gab es sehr viele Leichen, sehr viele Leichenhaufen. Eine Leiche zogen wir immer zu zweit mit einer Schnur an deren Hand oder Bein. Dann mussten wir die Leichen in Gruben hinein werfen.

Der 17. April war der Tag unserer Befreiung! Hurra! Hurra! Hurra! Hurra! Uns haben die Alliierten befreit. Das Lager habe ich aber erst nach einer Woche verlassen.

Hitler hat meine ganze Familie vernichtet

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Bis zum Herbst 1945 musste ich mit einem Lungenschaden in einem Sanatorium in Deutschland bleiben, dann schloss ich mich dort einer Roma-Gruppe an und kehrte erst 1947 nach Polen zurück. Da war ich 17 Jahre alt und ganz allein: Außer einigen Verwandten mütterlicherseits sind alle Mitglieder meiner Familie während der deutschen Okkupation ums Leben gekommen. Hitler hat meine Familie vernichtet.

Ich bin Roma und ich hab dieses Land verteidigt

Ich mag die Polen sehr gerne. Ich habe von ihnen nie etwas Schlechtes erfahren, Ich habe dieses Land verteidigt, hier wurde ich geboren, hier wurde ich groß und bis zum heutigen Tag achte ich jeden Menschen so wie mich selbst. Ich esse polnisches Brot, es schmeckt m ir.

Ich bin ein Roma. Ich kann mich von meiner Tradition nicht lossagen. Wir versammeln uns jedes Jahr im August in Birkenau zum Gedenken an die ermordeten Roma. In den letzten Jahren habe ich an allen Feiern teilgenommen, aber es ist sehr schwer für mich dort hinzufahren. Alle meine Geschwister, meine Mama, meine Schwester, mein Bruder wurden dort ermordet. Bei der letzten Gedenkfeier musste man mich auf einer Trage herausbringen. Ich habe die ganze Zeit nur geweint und geweint. Von 1942 bis 1945 war ich in den Händen des Satans. Ich habe die Gehenna – die Hölle – durchlebt.

Aus dem Polnischen übersetzt von Anna Meier und Arthur Osinski. http://www.asf-ev.de/aktuelles/thema/roma_und_sinti/edward_paczkowski/ Polen 283

Polen ~~~~~~hl~~dund der Sowjetunion, die drakonische Besatzungspoli- t;k, die in die vorsatzliche Vernichtung der polnischen Intelligenz- Adam Krzeminski schicht miindete, der organisierte Widerstand, der einen vollstandi- gen untergrundstaat zustande brachte, die Beteiligung der ~olni- Ich mochte die polnischen <

ein allein jiidischer Friedhof sei und deswegen dart keine Kreuze der ~i~~~~~hi~der Opfer - wenn es eine solche tatsachlich auf~estelltwerden durften. D;I frage ich tnich: w(, iSt mein gibt - einbauen khnnen, gibt zu denken. Erst in Auschwitz erfuhren wo kann ich mich mit meiner Geschichte identifiricren? Icll will sic, dag das stammlager 1940 sozusagen als ein Lager errichtet ietzt nicht mehr Rede und Antwort steheo und immer wieder nur wurde, in dem die polnische Oberschicht - nicht unbedingt nur lum polnischen Antisemitismus ausgefragt werden, ich bin kein An- Widerstandskampfer, sondern auch Lehrer, Beanlte us~.- nicht .(in- tibiotikum fur deutsche Halsschrnerzen.,. terniert,,, sondern zur Vernichtung freigegeben wurde (und zwar Wir Dozenten sind naturlich zu dieser Debatre hingegangen, und aukrund einer Abmachung von NKWD und Gestapo zeitgleich nlit war wiederum eine klcine deutsche Walpurgisnacht, cine regel- der ~~~~hi~g~~~polnischer kriegsgefangener Offiziere in Katyn). rechre Selbstzerileischung der Deutschen, welches Verhalten gegen- I Diese vorsatz]iche <der polnischen Nation durch die uber der ungeheuren drutschen Schuld angmessen und welches 1 deutschen (und sowjetischen) Besatzer war im BewuGtsein der deut- unangemessen sei. Fine Musikergruppe aollte K]ezmernlllsik spie- ,I schen studenten nicht prasent. Und das ist schon die Folge einer ]en, um diesen Tag << kunstlerisch ausklingen, zu lassen. sofortgab I recht selektiven Erinnerungsarbeit, die man auch - zugespitzt gesagt dagegen Proteste VOII einigen Deutschen, es sei unerhijrt, nach i - in der Berliner Mahnmal-Debatte wicderfinden konnte: Sol] man solch einem Tag friihliche judische Musik zu spielen, das sahe nam- cine Opfergruppe aus der infernalischen Statistik des Grauens lich danach aus, man wolle darnit das Leiden der opfer vor herausnehmen und ihrer allein gedenken, oder - im Zuge der poli- 60 Jahren vernicdlichen. Letztendlich wurde nicht musiziert. E~ be- tical correctness - jeder ein eigenes Denkmal widmen (je nach ihrer gann vielmehr die <(Aufarbeitungder Geschichten, cine ein wenig Geltung "on der Gro13e eines FuRballplatzes, Tenniscourts oder

scholastisch anmutende Debatte iiber ~.singulsr~nund enormale,> 1 ping-Pong-Tischs . . .)? Opfer (die in Auschwitz ermordeten Juden waren demnach < der Opfer gehiirte zur Selbst- war ja ein deutsches Vernichtu~lgslager, von Deutschen konzipiert, aufwertung nicht nur der Uberlebenden, sondern auch der Staats- instandgesctzt und bewacht. Nach einem hetonten Annaherungsver- nationen. In Polen selbst wurden z. B. die meisten Opfer <(nations- such an die jiidischen Opfer und einer Distanzierung von allen an- lisiertn, indern die polnischen Juden auf der Liste der Opfer einfach deren fanden sie sich alle jedoch wieder bei drr iiblichen wohlmei- als Polen eingestuft wurden, was nach staatsbiirgerlichen Katego- nenden Beschwdrungsfrage: Was konnen bvir tun, damit sic11 das stimtnen mochte und dennoch eine Verfiilschung war. Einer der nicht wiederholt? "Aufhanger. fiir die antisemitische Kan~pagne.die faschistoide Na- DaG die Lleutschen wenig iiber die polnische Erfahrung im Zwel- tronalkommunisten unter dem Innenminister Mieczysiaw Moczar ten Weltkrieg wuBten und sie nicht so recht in ihre eigene vorstel- '968 in Polen entfachten, war die Prizisierung der Zahl der christ- 286 111. Berichte zur Gegenutart der Erinnerung

lichen polnischen Opfer und der der polnischen Juden in der cr,- W61tn dargestellt hatte: Das KZ Buchenwald air ein schrecklicher Ben Enz~klopidie,die der offiziellen Lesart von Polen als der N,- Ort, an dem sich die Humanitat dank der Solidaritat der Antifa- tion mit den meisten Opfern der Nazi-Besatzung widersprach, weil schisten duKhXtzt, das Kind gerettet wird. Das war genau entge- sie unbewuRt auf die Singularitat des Holocaust hinauslief, wahrend gengeseut ZU owski ski, der sagte: Schaut her, die Opfer sind keine die offizielle polnische Staatsideologie sie damals verwischte. einer a\s Kapo zum Handlanger der Morder wird oder Jedem polnischen, aber eben nicht nur dem polnischen Besueher ob er sich - wie Maximilian Kolbe - fur einen anderen opfert und Birkenaus in den Goer und 7oer Jahren war die Logistik der Vernich- in den Bunker geht, ist offen, es gibt keine Spielregeln. tung klar. Die Rampe fiihrte ja direkt in die Gaskammern llnd Krematorien. Doch obwohl die ganz iiberwiegende Mehrheit der I ~~~h 1968 wurde der jungen Generation in Polen allmahlich klar, dag mit der staatiich verordneten .Erinnerungskultur)) Schind- Vergasten Juden aus allen besetzten Staaten Europas waren, wurde luder getrieben wurde, weil man sie eben einseitig .(nationalisierte>) es nicht als ein Memorial der Singularitat des Holocaust wahrge- i1 und damit die speziiische jiidische Erfahrung zensierte und aus- nommen, sondern als eine Gedenkstatte einer fundamentalen Grund- grencte. Mitte der 7oer Jahre setzte daher auch die ~Entlugung)) I erfahrung im Zweiten Weltkrieg, der existentiellen Erfahrung, daB I der polnisch-iudischen Erfahrungswelt ein. Den Durchbruch verur- 1 der ideologisch verblendete Mensch einen Massenmord an Men- Sachte whmales Buch von Hanna Krall, Dem Herrgott zuvor- schen kiihl und technokratisch vorbereiten und ausfiihren kann. bornmen, ein Gcsprjch mit , dem letzten uberleben- Fur die polnischen Besucher von Auschwitz war die Identifika- den Anfuhrer des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Edelman be- tion rnit den Opfern selbstverstandlich. Ich erinnere mich, wie ich j sch(jnigte nichts, distanzierte sich auch von seinem eigenen selbst 1958, also im Alter von etwa 13 Jahren, einen Besuch in I heroisiercnden Bericht aus dem Jahre 1946, und gerade dadurch Majdanek erlebte. Jeder polnische Schiiler war durch die Schullek- wirkte das Buch so stark auf die iunge polnische Intelligenz, die ture, in der die Opfer nicht unbedingt ((polonisiert>lwurden, gut nun begann, kritisch uber die polnischen Geschicht~m~thennach- 115 prapariert. Den Auschwitz-Erzahlungen von Zofia Nakowska stand zudenken und das offizielle Geschichtsbild zu revidieren. 1980 - das Motto voran: ((Menschenhaben Menschen dieses Schicksal be- mit der Solidarnosk - gewann diese crevisionistische,) Tendenz bei reitet)); wir kannten auch Tadeusz Borowskis Erzahlungen, eine la- einem grogen Teil der polnischen Intelligenz die Oberhand. konisch-brutale Darstellung der Entwiirdigung durch die Lagerer- Einige Worte noch zur Grundfrage nach dem Herkommen dieser fahrung bis hin zur Bestialisierung mancher Haftlinge. Das war fur Ges~hichtsklitterun~.Edmund Dmitr6w hat hier schon angedeutet. uns als Schuler eine Radikalisierung des Existentialismus. Nicht daR dies ein Teil der offiziellen Politik der Kommunisten nach 1945 mehr die betuliche Floskel von Jean Paul Sartre ..die Hiille sind die war. Sie stutzten sich die polnische Geschichte willkiirlich so zu- Anderenn, sondern .die Holle, das bin miiglicherweise ich selbst)), recht, daB sie zur offiziellen Ideologic pagte. Nun aber, und das ist auch wenn ich ein Opfer bin, und das gait nicht fur eine Nation wichtig, reihte sich die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges auch oder ethnische Gruppe. nahtlos ein in die zoojahrige Tradition der polnischen Leidensge- Diese Sichtweise wurde in Polen 1968 durch eine <(~ationalisie- schichte, der Teilungen und Aufstande, der Germanisierung, Russi- rung,, der Opfer weitgehend abgeblockt. Interessanterweise wurde fizierung und des Verrats durch den Westen. Von Napoleon I 807, sie in der DDR gar nicht erst zugelassen. So gab es dort in den seer der aus Riicksicht auf den Zaren nicht das Kiinigreich Polen, son- und Goer Jahren einen heftigen internen Streit daruber, ob man de~~irgendein ((Herzogtum Warschau,, restituierte, bis zur I'assivi- Borowski (der in der Bundesrepublik bereits erschienen war) in der Frankreichs und Englands im September 1939 oder zu den Ab- DDR veriiffentlichen solle oder nicht. Der Verband der ~azio~~~~machungen in Teheran und Jalta war es im polnischen BewuRtsein hat schlieRlich die DDR-Edition von Borowskis ~uschwitz-Erza~- nUr ein Katzensprung. lungen verhindert. In der DDK galt nur die optimistische Version Das gangige polnische Geschichtsbild war in sich geschlossen und der Solidaritat der Haftlinge, so wie sie Bruno Apitz in ~acktunter Stammte von den Romantikern des 19. Jahrhunderts: Polen als Op- 288 111. Rericbte zur Gegenwart der Erinnerung Polen 289

fer, Christus unter den Volkern, der mit reinem Leiden v,elleicht such die konkrete ~itschuldan einem Pogrom sehr sorgfaltig aria- gleich die ganze Welt, doch zurnindest Europa erl(jsen kann. lyriert, monatelang diskutiert und schlieRlich in einem feierlichen Der Beitrag der *Solidarnosi.)) zur Beseitigung des K~~~~~,~~~~schuldbekenntnis des Staatsprasidenten am Jahrestag des Pogroms hat dann dieses Selbstbild nur bekriiftigt. In den 7oer Jahren erhielt diere Uberhbhung des eigenen Leidens einen Konkurrenten. ~i~ der Dies war m(jglich, Polen mit der Wende 1989 tatsachlich Separierung des Holocaust, mit seiner Einzigartigkeit, die als solche such so etwas wie einen

116 die jiidischen Autoren des (

den ehemaligen deutschen Ostgebieten - und das ist immerhin ein Wir alle in Europa sind mehr oder weniger Geschichtsneurotiker. Drittel des heutigen polnischen Territoriums - eine neue Identitat Und fur Neurosen gibt es keine einheitlichen, vorgeschriebenen gegeben. Im Gesprach deutscher Vertriebener und polnischer ((Re- Therapien. Es gibt Zwangsneurosen, bei denen nur das Kappen der patriantenn entwickelt sich oft ein Zusammengehorigkeitsgefiihl, Erinnerung Linderung verschaffen kann, und es gibt solche, bei das vor eine~nhalben Jahrhundert unvorstellbar gewesen ware. denen es nicht nur denkbar, sondern auch erforderlich ist, die Er- Deutsche und Polen bauen dort gemeinsam alte Kirchen wieder auf, innerung geradezu zu erzwingen, um einen aus seinen Wahnvorstel- errichten Heimatmuseen, griinden Regionalgesellschaften. Und die lungen und Alptraumen zuriick in die Realitat zu fiihren. polnischen Einwohner versuchen nicht selten, auch Nachforschun- Wenn ein Wechsel des Kulturcodes, d. h. auch des Geschichtsbe- gen iiber die Geschichte ihrer deutschen ((Vorfahren)),genauer Vor- wugtseins, tatsachlich moglich ist, dann liegt dem immer ein Lern- ganger, die in ihren Hausern und Stadten lebten, anzustellen. Diese prozeg, ein Lernen aus der Geschichte, zugrunde, und dafiir mug Erfahrung wird rnittlerweile auch auf die polnisch-ukminischen und es unter anderem solche Gedenkstatten wie diese hier in Buchen- polnisch-litauischen Beziehungen iibertragen. Mehr noch: Japaner wald oder die in Auschwitz und verschiedene Mahnmale geben. und Chinesen studierten die Erfahrungen der deutsch-polnischen Nur stellt sich dabei immer die Frage: 1st es ein Selbstzweck, die Historikerkommission und jiingst auch Tiirken und Griechen. Erinnerung standig wachzuriitteln, oder ist sie einem hoheren Ziel Zum SchluB der vierte Punkt, mehr eine Uberlegung und SchluB- untergeordnet, etwa dem, auch in 50 Jahren eine Gesinnung des folgerung als ein konkretes Modell fur eine Erinnerungskultur, die humanen Miteinanders untermauern zu helfen, und das in einer noch in 50 Jahren Bestand hatte. Welt, die immer wieder fur Krisen, HaB und Grausamkeit anfallig Die grundsatzliche Frage ist, wie man sich aus der Gefangen- sein wird. schat't eines nur nationalen Geschichtsbildes befreit. Aber auch, wie man sich - wie im polnischen (obwohl keineswegs nur im polni- 117 schen) Fall - von der Obsession des Historismus befreit, ohne mit der Geschichte zu brechen. Meist ist es doch so, dag das Gedenken an die Opfer der Vergangenheit letztendlich auch eine aktuelle Funktionalisierung bedeutet. Die CJberhohung der Opfer eines na- tionalen Befreiungskampfes soll auch den Grundstein legen fur ei- nen streitbaren Patriotismus in der Zukunft, falls die Nation wieder in Bedrangnis kommen sollte. Die Errichtung der Holocaust-Mahn- male hat einerseits - wie Peter Novick es in seinem vorziiglichen Buch dargestellt hat - eine neue (~weltlicheReligion. gestiftet, an- dererseits soll mit ihnen vor der Wiederkehr ahnlicher Grausamkeit gewarnt werden. Waren wir tatsachlich am ((Ende der Geschichtesi angelangt, wie es Francis Fukuyama nach 1989 sehen wollte, hatten wir wie die alten Agypter nur Pyramiden bauen miissen, um die Erinnerung, in Granit gehauen, vor dem Vergessen zu schiitzen. Wir sind aber weiterhin mitten in der Geschichte, und die ist immer ein Wettlauf des Sich-Erinnerns und des Vergessens. Und beides ist notwendig, was man gerade hier und aus dem gegebenen Anlag vielleicht gar nicht sagen darf. 118

Fotograf in Auschwitz

01.06.2009, Süddeutsche Zeitung

Im Sommer 1941 muss Brasse ehemalige Nachbarn aus seiner Heimatstadt fotografieren, auch sie Juden. Mit ihnen war er groß geworden. Der Fotograf ahnt, dass sie hier im Lager nicht mehr lange leben werden, er kennt den Kapo ihrer Gruppe: "Der war ein brutaler Mörder." Brasse stockt, senkt den Kopf: "Sie können es glauben oder nicht, aber ich sprach ihn an. Ich sagte: Wenn du diese Juden schon tötest, dann töte sie so, dass sie nicht lange leiden." Am nächsten Tag sind sie tot.

Zwischen vierzig- und fünfzigtausend Häftlinge hat Der Auschwitz-Fotograf Wilhelm Brasse in Auschwitz fotografiert, so seine Wilhelm Brasse lebt heute Schätzung. Wohl kein zweiter Mensch hat je so vielen kaum 50 Kilometer vom Todgeweihten ins Gesicht gesehen. ehemaligen Vernichtungslager Im Juli 1943 werden die erkennungsdienstlichen entfernt. Foto: K. Pfeffer Aufnahmen der Häftlinge auf Befehl des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin weitgehend eingestellt. Grund ist der Mangel an Fotomaterial. Nur noch deutsche Gefangene werden bis Januar 1945 fotografiert. Allen anderen wird lediglich eine Nummer auf den linken Unterarm tätowiert.

Doch Brasse hat nicht nur Häftlinge porträtiert, auch SS-Männer: "Mehrere Hundert insgesamt, sie brauchten Bilder für die Lagerausweise und für ihre Frauen." Die Fotos, die Brasse heute im Umschlag dabei hat, zeigen drei der Schlimmsten: die Lagerkommandanten Liebehenschel und Baer sowie den Untersturmführer Grabner, Leiter der Gestapo in Auschwitz.

"Setzen Sie sich bequem hin, entspannen Sie sich, denken Sie an Ihr Vaterland", sagt Brasse damals zu SS-Mann Grabner - und ist erfolgreich. Das Foto zeigt einen milde lächelnden Mann, mit schütterem Haar und makelloser Haut. Nach dem Krieg wird Grabner wegen Mordes in mindestens 25 000 Fällen zum Tode verurteilt und gehängt.

Faltenfrei sind sie alle, die kleinen und großen Täter, die Brasse fotografiert. Denn für ihre Lichtbilder schafft er neue technische Voraussetzungen: "Hauptscharführer Walter organisierte mir ein Retuschepult, Pinsel und weiche Bleistifte, damit die Negative retuschiert werden konnten." Brasse selbst baut ein neues Objektiv, das weich zeichnet. Dafür verwendet er ein Monokelglas aus dem Krankenbau.

Brasses Bilder gefallen, die SS-Leute sind angetan. Auch jener junge Offizier, den er als besonders freundlich in Erinnerung hat. Von ihm bekommt der Fotograf zwischen Herbst '43 und Sommer '44 regelmäßig Sonderaufträge. Zunächst sind es Gruppen junger Jüdinnen, die im Turnus von zwei Wochen ins Studio gebracht werden. Von 119

ihnen soll er Ganzkörperfotos machen: von vorne, im Profil und von hinten. Die Frauen sind nackt.

"Für mich waren das sehr peinliche Situationen." Brasse vermeidet es, sie anzusprechen, selbst sie anzuschauen geniert ihn. Nur einmal ist es anders: "Ich erinnere mich bis heute, es war eine griechische Jüdin aus Athen. Sie war wunderschön. Ich war beeindruckt als Mann und als Fotograf." Mit ihr hat er gesprochen. Aber was für ein Gespräch konnte das sein? "Es war nur schrecklich, ich wusste ja, dass sie sterben würde."

Lob von

Brasses freundlicher Auftraggeber ist der Lagerarzt Josef Mengele, im Lager bekannt als der Todesengel: "Mit mir hat er höflich gesprochen, nicht wie mit anderen Häftlingen. Meine Aufnahmen lobte er als fachmännisch."

Zur fotografischen Dokumentation schickt ihm Mengele auch Zwillinge und Drillinge. Dann jüdische Geschwister aus Ungarn, mit normal entwickeltem Rumpf, aber zu kurzen Armen und Beinen, Zwerge. Zigeuner mit zerfressenem Kieferknochen, Fälle von Wasserkrebs. Wofür der fanatische Rassentheoretiker immer wieder neue Aufnahmen ordert, erfährt Brasse erst nach dem Krieg.

Heute sind fast alle diese Fotos verschwunden. Geblieben ist eine Aufnahme, die zu einem Symbol für Auschwitz wurde: Sie zeigt vier nackte, bis auf die Knochen abgemagerte Mädchen. Mit streichholzdünnen Beinen und Stoppelhaaren, aneinandergedrängt, in einer Reihe.

"Wahrscheinlich sind es ungarische Mädchen gewesen", sagt Wilhelm Brasse, "sie waren vor Schreck wie gelähmt. Habt keine Angst, hab' ich gesagt, und ich hab' ihnen etwas Brot gegeben. Ich hab' mich sehr geschämt."

Hat er je eine Aufnahme verweigert?

"Nein, das ging nicht, ich hätte dann einfach erschossen werden können!"

Die Angst befähigt Brasse damals, noch obszönere Situationen festzuhalten. Etwa ein Dutzend Mal fotografiert er im Auftrag von Standortarzt Dr. Wirths und Frauenarzt Dr. Clauberg. Dafür muss der Fotograf mit seiner Kamera in Block 10 erscheinen, einem isolierten Bau, belegt mit ausschließlich weiblichen Häftlingen. "Kaninchen" nennt man sie im Lagerjargon. An ihnen werden medizinische Versuche unternommen, vor allem Sterilisationen.

Ausführender Arzt ist ein jüdischer Häftling, Prof. Dr. Maximilian Samuel aus Köln. Brasse hat bis heute nicht eine Sekunde der Sterilisationen, denen er beiwohnen musste, vergessen können. Seine Aufgabe unmittelbar nach der OP: Licht setzen und Großaufnahmen von der Gebärmutter in Schwarzweiß, manchmal in Farbe. "Dr. Samuel erklärte mir, dunkle Flecken auf der Gebärmutter würden Wirths besonders interessieren. Angeblich waren das Krebsuntersuchungen." 120

Brasse senkt den Kopf, knetet seine Hände, fährt sich über das Gesicht. Es dauert ein paar Minuten, dann zieht er aus der Innentasche ein vergilbtes Foto. Darauf: ein Mann, eine Frau, etwa Mitte dreißig - und ein vielleicht zweijähriges Kind. Eine Familienidylle.

"Rudi war der Einzige, der jemals in Auschwitz heiraten durfte, er war mein Freund", sagt Brasse - "das ist sein Hochzeitsfoto." Das Bild zeigt den Häftling Rudolf Friemel in Anzug und Krawatte. Daneben die Spanierin Margarita Ferrer, nur für Trauung und Hochzeitsnacht zu Gast im Lager. Dazwischen der gemeinsame Sohn. Rudi hatte in Spanien bei den Internationalen Brigaden gekämpft. Er landete als Kommunist in Auschwitz. "Mich hat er mit Zigaretten versorgt."

Friemel hat einen guten Stand im Lager, nicht nur bei den Häftlingen. Als "Garagenkapo" ist der Kfz-Mechaniker für die SS wichtig. "Rudis Familie, vor allem sein Vater hat sich lange darum bemüht, dass er im Lager heiraten durfte", erzählt Brasse.

Die Trauung findet im Standesamt von Auschwitz statt, wo sonst nur Totenscheine ausgestellt werden. Das Hochzeitsfoto wird in den Räumen des Erkennungsdienstes aufgenommen, wo normalerweise die Häftlingsfotos entstehen. Auch dieses Bild: von Brasse fotografiert. Eine absurde Geschichte - eine Propaganda-Idee der SS?

"Ich weiß nicht, ich weiß es bis heute nicht. Damals konnten wir es überhaupt nicht glauben. Erst nach dem Krieg habe ich erfahren, dass Heinrich Himmler persönlich die Heirat genehmigt hatte, aber warum?" Am 30. Dezember 1944, vier Wochen vor der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee, wird Rudolf Friemel nach einem gescheiterten Fluchtversuch zusammen mit vier Kameraden ermordet. Die vier in Unterwäsche und barfuß, Rudi in seinem weißen, mit Rosen bestickten Hochzeitshemd. Gehängt um fünf Uhr nachmittags beim Appell. Vor den Augen aller Häftlinge - auch Brasse muss zusehen. Wieder nippt der alte Mann an seinem Glas. Die Augen sind feucht. Dann sagt er: "Ich habe Glück gehabt."

Im Januar 1945, wenige Tage bevor die sowjetischen Truppen Auschwitz erreichen, riskiert Brasse sein Leben und widersetzt sich. SS-Hauptscharführer Walter will verhindern, dass die Fotos dem Feind in die Hände fallen: "Er verlangte, dass wir alle Negative und Abzüge verbrennen. Ich hab' einige Pakete in den Ofen gesteckt." Kaum hat der SS-Mann den Raum verlassen, zieht er die Bilddokumente wieder 'raus und löscht sie mit Wasser. Die Papierabzüge sind angekokelt, die Negative aber weitgehend unversehrt, sie sind aus unbrennbarem Material.

Die Rettungsaktion bleibt von der SS unbemerkt. Nach der Befreiung werden 38916 erkennungsdienstliche Fotos gefunden, 31969 von männlichen und 6947 von weiblichen Häftlingen.

Warum hat er dieses Risiko auf sich genommen? "Ich wollte, dass man nachher weiß, was im Lager passiert ist. Ich wusste, dass die Fotos Dokumente waren, über Leben und Tod. Und ich konnte ja nicht sicher sein, dass ich überlebe."

Wilhelm Brasse wird mit dem letzten Transport, am 21. Januar 1945, ins KZ Mauthausen deportiert. Dort geht es ihm schlechter als in Auschwitz: "Es waren schreckliche Zustände, fast wäre ich verhungert. Gott hab' ich verflucht und meine 121

Mutter, dass sie mich geboren hat. Bis heute bin ich ein zweifelnder Katholik, gläubig, aber zweifelnd."

Von den Amerikanern wird er am 5.Mai 1945 befreit. Noch im selben Jahr lernt er seine Frau Stanislawa kennen. Sie ist sein großes Glück, 63 Jahre lang, bis 2008. Über die Erlebnisse im Lager hat er mit ihr nie gesprochen. Mit ihr war so etwas wie Alltag möglich.

"1948 oder 1949 habe ich noch mal versucht, als Porträtfotograf zu arbeiten. Aber das ging nicht mehr. Immer wenn ich durch den Sucher sah, tauchten die nackten jüdischen Mädchen auf."

(SZ vom 1.06.2009/gdo) 122

http://www.tagesspiegel.de/zeitung/das-deutsche-verfahren/475902.html Das deutsche Verfahren

Der Täter weint, der Ankläger hat keine Hoffnung mehr, nur das Opfer ist ruhig: Drei Männer um die 80, vor 40 Jahren sahen sie sich das letzte Mal. Es war 1963 im Gericht, es ging um Auschwitz, eine Nation richtete über sich selbst – oder schob sie nur die Schuld auf ein paar wenige?

Es gibt diesen Ordner, vielleicht einen Zentimeter dick, darin hat der alte Mann seine Vergangenheit abgelegt. Er muss ihn nicht suchen, ein Griff, und er zieht den Schnellhefter aus dem Schrank. Später wird er ihn dort wieder wegschließen.

Er will nicht reden, das hat er schon an der Tür gesagt. „Aber ich möchte Sie nicht einfach so draußen stehen lassen“, sagt er dann noch und bittet den unangemeldeten Besuch herein. „Es lohnt sich eigentlich nicht, dass Sie ablegen.“ Die Zeit sei nicht reif für ein Gespräch. Eine halbe Stunde später hat er dann doch ziemlich viel gesagt und bittet unter Tränen, anonym zu bleiben.

Es geht um Auschwitz. Der Mann war dort von 1940 bis 44 Ermittlungsbeamter in der Lagergestapo, dort wurden Häftlinge verhört, gefoltert und zum Tode verurteilt. Heute ist er Ende 80, ein schwerhöriger Großvater in schokobraunen Hosen. Für einen Moment tut er einem fast Leid, wie er da sitzt und weint. Aber hat er Mitleid gehabt, als vor seinen Augen Menschen in die Gaskammern gingen? Die Täter von damals sind heute nette Opas – das gehört zur deutschen Familiengeschichte. Und genau das ist es, was einen so fassungslos macht.

Der Mann, nennen wir ihn Schmidt, stand für seine Taten vor Gericht. Fünf Jahre musste er ins Gefängnis. In dem Ordner hat Schmidt auf ein paar Schreibmaschinenseiten notiert, wie er seine Zeit im Lager erlebt hat. Für seine Kinder, für niemanden sonst. „Das wird dann wieder alles gegen mich ausgelegt.“

Hinter seinen Aufzeichnungen hat er das Urteil abgeheftet. Er liest vor: „Der Angeklagte hat vor und nach seiner Tätigkeit in Auschwitz ein ordentliches Leben geführt und wäre nicht straffällig geworden, wenn er nicht durch Befehle in Verbrechen verstrickt worden wäre.“ Die Richter kamen zu dem Schluss, er habe „trotz seiner Intelligenz bestialischen Mördern seine Hand“ geliehen. An den Rand hat Schmidt mit Kugelschreiber notiert: „Die haben sich die Hand genommen.“

Am 20. Dezember 1963 stand sein richtiger Name in allen Zeitungen. An diesem Tag begann vor dem Landgericht Frankfurt am Main der Auschwitz-Prozess. 22 Männer waren angeklagt, vom Adjutanten bis zum Kapo. Schmidt ist der letzte, der noch lebt. 356 Zeugen sagten vor dem Schwurgericht aus. Auschwitz stand vor Gericht – endlich, 18 Jahre nach der Befreiung des Lagers.

„Der Auschwitz-Prozess überschattet Weihnachten“, schrieb eine Zeitung zum Auftakt. Anfang der 60er Jahre, das war eine Zeit, in der die Geschworenen Vornamen trugen wie Else, Erna, und Adolf. Was in Auschwitz geschehen war, drang zum ersten Mal ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. Ohne das Engagement des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer wäre der Prozess wohl nie zustande gekommen. Bauer hatte 123

dem israelischen Geheimdienst den entscheidenden Hinweis zur Ergreifung Eichmanns in Argentinien gegeben. Nun sollte ein deutsches Gericht feststellen, dass Auschwitz ein staatlich organisierter Massenmord war. Die Opfer: 965000 Juden, 75000 Polen, 21000 Sinti und Roma, 15000 sowjetische Kriegsgefangene und 15000 andere Häftlinge.

Fritz Bauer hatte dem Bundesgerichtshof umfangreiches Beweismaterial vorgelegt, daraufhin wurde dem Landgericht Frankfurt der Auschwitz-Komplex übertragen. Zwei junge Staatsanwälte führten die Ermittlungen, Joachim Kügler war einer der beiden. „Wir hatten damals keine Ahnung, was auf uns zukommt“, sagt er 40 Jahre später, „die Bilder der Kinder in Auschwitz sehe ich bis heute vor mir.“ Der Pole Kazimierz Smolen trat als Zeuge auf, er war fünf Jahre lang Häftling in Auschwitz. „Gerechtigkeit ist, wenn jemand für ein Verbrechen bestraft wird. Aber wie wollen Sie einen Menschen bestrafen, der 80000 ins Gas geschickt hat? Für jeden Toten eine Stunde Gefängnis?“

Der Angeklagte, der Staatsanwalt und der Zeuge sind heute um die 80. Zum letzten Mal begegneten sie sich vor 40 Jahren in Frankfurt. Ein halbes Leben liegt dazwischen. Sie stehen auf verschiedenen Seiten, und noch immer hat Auschwitz sie fest im Griff. Wenn man mit den drei Männern zurückblickt, versteht man, dass es nicht zu Ende ist und das Land nicht verträgt, wenn ein Hohmann den Massenmord relativiert.

Der Angeklagte

Ein hellbrauner Ledersessel, das ist sein Platz. Darin verbringt er seine Zeit, ein farblich passendes Frotteetuch schützt das Leder vor der Abnutzung. An der Wand ein Heiligenbild, auf dem Tisch Überweisungsformulare von der Bank. „Ich war gerade dabei, ein paar Sachen zu erledigen.“ Ein patenter, freundlicher Herr, das lichte graue Haar streicht er immer wieder glatt nach hinten. Das Fenster ist weit geöffnet, die kühle Luft strömt ins Zimmer.

Ein Zeuge sagte über Schmidt: „Da wir in unserem Saal sein Eintreten nicht bemerkt und versäumt hatten, Achtung zu rufen, ordnete er ,Sport machen’ an.“ Der Sport dauerte eine halbe Stunde, danach mussten sich alle auf den Boden legen. „Mit etwa zehn Eimern Wasser wurden wir überschüttet. Dann wurde das Fenster geöffnet.“ Ein Häftling sprang hinaus in den elektrischen Zaun, in der Nacht starben noch vier weitere Häftlinge an den Folgen des „Sports“. Andere Zeugen sagten aus, Schmidt habe Häftlinge so geschlagen, dass sie daran starben.

Der alte Mann sagt, die Zeugen seien „präpariert“ gewesen, sie hätten sich zuvor abgesprochen. „Ich habe nie einen Menschen getötet, ich war nur begleitender Wachschutz.“

Das Gericht verurteilte ihn jedoch wegen „Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in 32 Fällen“. Ein „Fall“ ist nicht gleichbedeutend mit einem Menschenleben. Es galt als erwiesen, dass Schmidt mindestens zweimal an Selektionen der ankommenden Häftlinge teilgenommen hat, bei denen jeweils hunderte von Menschen für den Tod in den Gaskammern bestimmt wurden. Aber es konnte ihm weder besonderer Eifer nachgewiesen werden, noch dass Häftlinge an seinen Misshandlungen gestorben waren. Einige Zeugen hatten auch für Schmidt ausgesagt, der damalige polnische Ministerpräsident Cyrankiewicz bestätigte sogar, Schmidt habe ihm einmal das Leben gerettet. 124

„Ich hatte ja vorher keine Ahnung, was mich in Auschwitz erwarten würde“, sagt Schmidt und blättert in seiner Vergangenheit. „Hätte ich mich den Befehlen widersetzt, dann wäre ich jetzt tot.“ Das Gericht in Frankfurt kam zu einem anderen Schluss: Wenn sich ein SS-Mann weigerte, an Exekutionen teilzunehmen – was so gut wie nie vorkam –, riskierte er, innerhalb der SS nicht befördert zu werden und wurde oftmals an die Ostfront geschickt. Viele blieben lieber in Auschwitz, wo es für Rampendienste eine Sonderration Schnaps gab, als an der Ostfront ihr Leben zu riskieren.

Schmidt war nicht von Anfang an in der SS, er studierte Maschinenbau und meldete sich 1939 zur Heimwehr seines Ortes, die später von der SS übernommen wurde. „Damals hätte ich wohl nein sagen können.“ Es ist das erste Mal an diesem Morgen, dass Schmidt die Verantwortung bei sich selbst sucht. Im September 1940 wurde er zum Dienst ins Konzentrationslager geschickt. „Schon nach einer Woche“, sagt Schmidt, „wollte ich weg. Was ich dort erlebte, hat mich so schockiert, dass ich bis heute nervenkrank bin.“ Im Frankfurter Prozess sagte seine frühere Frau aus: „Nachts bekam er oft Anfälle. Wenn er lag, wurde er ganz unbeweglich, man musste ihn dann hochreißen.“

Was hat Schmidt gefühlt, wenn er an der Rampe die jüdischen Kinder ins Gas schickte? Er versucht es mit einer Ausrede: „Damals war Krieg, im Irak sterben auch unschuldige Kinder, so grausam es ist.“

„Aber Auschwitz war anders: Die Kinder waren für den Tod bestimmt, sobald sie vor der SS auf der Rampe standen.“

„Sie wissen ja gar nicht, wie schrecklich die Zeit damals war.“ Der alte Mann steht auf, er zeigt auf seine Knie: „Die haben so gezittert, dass ich nicht mehr aufrecht stehen konnte.“ Dann sinkt er in den Sessel zurück, die Hände vorm Gesicht. Man weiß nicht genau, ob er um sich selbst weint oder um die Kinder.

Der Staatsanwalt.

Sechs Jahre lang hat sich Joachim Kügler Tag für Tag damit beschäftigt, SS-Männern wie Schmidt die Schuld nachzuweisen. Als das Ermittlungsverfahren begann, war Kügler ein 33 Jahre junger Staatsanwalt. Als das Urteil gesprochen war, wollte er kein Staatsanwalt mehr sein.

Joachim Kügler, heute 77 Jahre alt, hat keine Illusionen mehr. Nach dem Auschwitz-Prozess schied er aus dem Staatsdienst aus und ließ sich als Anwalt nieder, Spezialgebiet Wirtschaftsstrafrecht. Er lebt in einer Kleinstadt, manchmal hält er dort Vorträge über Auschwitz. „Nicht dass Sie denken, ich bin ein Menschenfeind“, aber Auschwitz hat ihm eine Erkenntnis gebracht: „Wenn bestimmte Dispositionen gegeben sind, dann tun Leute so was.“ Die meisten der 22 Angeklagten seien ja keine Monster gewesen. „Das waren Menschen wie du und ich.“

Kügler lebt alleine in einer hellen Wohnung im vierten Stock, umgeben von Ölgemälden und Porzellan, einiges davon Erbstücke der preußischen Vorfahren. Sein erstes Buch, die Großmutter schenkte es ihm, hieß „Krieg und Sieg 1870/71“. Er hat es nicht besonders gern gelesen. Die Bücher, die sich heute auf seinem Wohnzimmertisch stapeln, haben fast alle nur ein Thema: die NS-Zeit. 125

Dabei wollte er doch nach dem Ende des Prozesses von all dem nichts mehr wissen. Die nächsten NS-Verfahren warteten schon auf ihn. Aber die sechs Jahre mit Auschwitz hatten sein Leben auf den Kopf gestellt: Wenn er in die Straßenbahn einstieg, fragte er sich, welche der Fahrgäste wohl Juden ermordet hatten. Abends trank er, um schlafen zu können. Was die Zeugen im Gerichtssaal erzählt hatten, beschäftigte ihn auch nachts noch. „Irgendwann hat man das Gefühl, selbst in Auschwitz zu sein.“ Er war fast 40 und gab die Beamtenlaufbahn auf.

Die Angeklagten hingegen zeigten sich unbeeindruckt, sagten, sie hätten nicht geahnt, was im Lager vor sich gehe. Der Zeuge Josef Glück bat deshalb nach seiner Befragung noch einmal um das Wort. „Schon am zweiten Tag habe ich alles gewusst. Und nicht nur ich. Dieser kleine Bursche, bitte, der war 16 Jahre alt. Er war in der 11. Baracke. Er hat mit Blut auf Ungarisch geschrieben: ,André Rappaport, gelebt 16 Jahre’.“ Die nächsten Sätze schreit der Zeuge fast. „Er hat mir zugerufen: ,Ich weiß, dass ich sterben muss. Sag meiner Mutter, dass ich bis zum letzten Moment an sie gedacht habe’.“ Josef Glück konnte es ihr nicht sagen, auch die Mutter musste sterben.

Die Aussage wurde wie alle anderen auf Tonband aufgezeichnet, als Gedächtnisstütze für das Gericht. Wenn man die Bänder heute anhört, kann man spüren, wie die Zeugen ihre Zeit in Auschwitz noch einmal durchlebten. Das Fritz Bauer Institut hat die 430-stündigen Aufnahmen transkribiert. Die Texte erscheinen zusammen mit ausgewählten Originaltönen bald als DVD.

Nach dem Prozess fuhr Kügler erst einmal drei Monate in Urlaub. Dann stürzte er sich in die neue Arbeit als Anwalt, er kaufte ein Haus in Südfrankreich und ein Segelboot. „Auf dem Meer gibt es kein Auschwitz“, sagt er. Ein Interview, eigentlich eine Kleinigkeit, brachte Auschwitz zurück in sein Leben. 1993 drehte der Hessische Rundfunk eine Dokumentation über den Frankfurter Prozess. Kügler, der sich schon lange nicht mehr mit dem Thema beschäftigt hatte, wurde befragt. In der Rohfassung des Interviews sieht man einen Juristen in Anzug und Krawatte, in der Hand immer eine Zigarette. Er beantwortet Fragen zu den Ermittlungen und den Zeugen, man sieht, wie er auf dem Stuhl herumrutscht und der Blick immer starrer wird. Irgendwann springt er auf, reißt fast das Mikrofonkabel ab, auf dem Bild bleibt ein leerer Platz zurück.

Als das Interview geführt wurde, war Kügler gerade in den Ruhestand gegangen. Er lebte in Maastricht. Später kehrte er nach Deutschland zurück und hatte auf einmal viel Zeit. Zeit, um sich zu erinnern. Ein anderer hätte sich vielleicht bequem im Sessel zurückgelehnt und voll Stolz daran gedacht, wie aufregend alles war. Die Staatsanwälte waren ja so was wie Nazi- Jäger. Kügler findet den Ausdruck übertrieben.

Aber immerhin spürte er den letzten Kommandanten von Auschwitz auf, Richard Baer. Der lebte unter falschem Namen als Holzfäller im Sachsenwald. Später starb er in Untersuchungshaft an Herzversagen. So wurde , Adjutant des Lagerkommandanten Höß, zum Hauptangeklagten. Kügler war auf ihn aufmerksam geworden, weil sein Sohn 1960 eine Olympiamedaille im Segeln gewonnen hatte. Der Sieg des Sohnes kostete den Vater die Freiheit.

Fünf weitere Angeklagte sorgten schnell für Schlagzeilen: , Buchhalter, in Auschwitz für seine brutalen Foltermethoden berüchtigt. , Tischler, tötete kranke Häflinge mit Phenolinjektionen. Oswald Kaduk, Metzger, nach dem Krieg Krankenpfleger, hat Häftlinge erdrosselt, indem er ihnen eine Eisenstange über den Hals legte und sich darauf 126

stellte. Dr. Victor Capesius, Apotheker, nach dem Krieg Besitzer eines Schönheitssalons, selektierte ankommende Häftlinge. Hans Stark, später Berufsschullehrer, hat bei den ersten Vergasungen Zyklon B in die Einwurfluken der Kammern gefüllt.

Sie alle waren nach dem Krieg in ein bürgerliches Leben zurückgekehrt. Im Gerichtssaal belastete keiner den anderen, alle schwiegen, selbst als der Adjutant Mulka in feinem Hamburger Dialekt erklärte, er habe das Lager nie betreten. Kügler ließ später ins Gerichtsprotokoll aufnehmen, Mulka sei „verlogen und feige“. Ein anderes Mal sagte er zu Mulka, der als ehrenwerter Soldat behandelt werden wollte, er sei Mitglied „eines uniformierten Mordkommandos“ gewesen. Das brachte Kügler eine Beleidigungsklage ein, aber auch etwas Ruhm: Peter Weiss verewigte die Worte in seinem Theaterstück „Die Ermittlung“. Und so hallten sie bei der Uraufführung 1965 gleichzeitig über 15 Bühnen in Ost- und Westdeutschland.

Aber ist es das, was die Staatsanwaltschaft mit ihrer „volkspädagogischen Absicht“ erreichen wollte? Die „Bild“-Zeitung schrieb zu Beginn des Prozesses, die Deutschen könnten nun endlich freikommen vom Vorwurf, sie hätten Auschwitz erst ermöglicht. Der musste in den deutschen Wohnstuben bald unberechtigter denn je erscheinen, wo doch nun „die wirklich Schuldigen gefasst und abgeurteilt“ waren.

Der Auschwitz-Prozess hat das Versagen der deutschen Justiz nach Kriegsende offenbart, wieder gutmachen konnte er es nicht. In Auschwitz taten 8000 SS-Angehörige Dienst. 750 wurden in Polen verurteilt, wohin die Alliierten die Täter in den Nachkriegsjahren auslieferten. „Vor deutschen Richtern standen insgesamt nur 45 Angeklagte“, sagt Werner Renz vom Fritz Bauer Institut. Die deutsche Justiz hat in den 50er Jahren nie systematisch nach den Tätern gesucht, viele Richter und Ankläger hatten selbst eine unrühmliche Vergangenheit. Erst 1958 wurde die Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg gegründet. Sie führt aber lediglich die Vorermittlungen, und nicht selten stellten die Gerichte später die Verfahren ein. Ausgerechnet darüber sind sich der Verurteilte, der Zeuge und der Anwalt einig: Die Deutschen haben sich ihrer Mitschuld nicht gestellt. Schmidt formuliert das so: „Wir Angeklagten mussten stellvertretend für ein ganzes Volk büßen.“ Er war gewiss kein Sündenbock. Aber auch Kügler und Smolen sagen: Einzeltäter befreien das Volk nicht von der Sühne.

Der Zeuge

Nach seiner Befreiung besuchte Kazimierz Smolen einen amerikanischen Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg, damals beschloss er, Jurist zu werden. Er fuhr auch ins ausgebombte Berlin, sah Kinder in Lumpen, die Zigarettenstummel von der Straße sammelten. „Es war ein Elend“, sagt er. Und weil ihm sein Mitleid wohl selbst etwas eigenartig vorkommt, sagt er: „Sie müssen verstehen, ich bin eben etwas mild.“ Er spricht ein schönes Deutsch, mit rollendem „r“, und einem „ü“, das wie ein „i“ klingt.

Smolen kämpfte bei den polnischen Partisanen, nachdem deutsche Soldaten sein Land überfallen hatten. Er wurde verhaftet und kam nach Auschwitz.

Nach 1945 arbeitete Smolen zunächst in der polnischen Hauptkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen, dann wurde er Direktor des Auschwitz-Museums. In Deutschland, sagt er sehr vorsichtig, habe es eine große Lücke bei der Aufklärung der Verbrechen gegeben. Aber 127

das ist auch schon das Kritischste, was ihm über die Lippen kommt. Unter den drei Männern, Täter, Ermittler und Opfer, ist er wohl der nüchternste. Erschreckend nüchtern, möchte man fast sagen.

Es ist dunkel in Oswiecim. Wir fahren in den kleinen polnischen Ort, 40 Jahre, nachdem die Täter in Frankfurt vor Gericht standen. Den Weg zum Lager findet man auch, wenn man noch nie hier war. Immer den Bahngleisen nach. In Auschwitz endete die Menschenjagd quer durch Europa, Tag und Nacht rollten die Waggons ein. Irgendwann geht es links ab, und nach zwei oder drei Kilometern stehen da die roten Backsteinbauten, das so genannte Stammlager Auschwitz.

In der ehemaligen Villa des Kommandanten Höß brennt noch Licht, das Gelände ist nur spärlich beleuchtet. Wenn man nicht aufpasst, läuft man in den Stacheldraht, man sieht in kaum. „Halt! Stoj!“ steht auf einem Schild davor. In Block 23 sitzt Kazimierz Smolen an seinem Bürotisch. Aber der ehemalige Häftling arbeitet nicht nur hier – er wohnt auch in Auschwitz. Wenn er von seinem Büro auf dem Lagergelände nach Hause geht, muss er nur ein paar Schritte durch eine schmale Öffnung im Zaun zurücklegen. Über der Tür zum Wohnhaus steht in eisernen Buchstaben „Kommandantur“. Hier hatte früher Rudolf Höß sein Büro, später zogen Angestellte des Museums ein, weil es nach dem Krieg nicht genügend Wohnungen gab.

Wie kann man an diesem Ort wohnen? Smolen blickt etwas verlegen drein, als kenne er die Antwort selbst nicht. Wenn er durch das Lager geht, sagt er dann, freue er sich einfach, dass er noch lebt. Natürlich gibt es Momente des Trauerns, bei Zeremonien oder wenn er an einer Stelle steht, wo ein Freund ermordet wurde. „Seit Jahrzehnten beschäftige ich mich mit diesem Ort“, sagt Smolen, der mit 83 noch hier arbeitet, „es geht darum, das Verbrechen ans Licht zu bringen. Ich bin nicht kalt, aber ich darf nicht ständig über den Horror nachdenken, ich muss Dokumente auswerten.“

Auschwitz ist das Symbol für den Massenmord, ein „Hohlraum völliger Kulturentleerung“, wie Kügler in seinem Plädoyer sagte. Im Lager ist vieles so geblieben, wie es ursprünglich war. „Chirurgische Abteilung. Zutritt verboten“ steht an einer Tür. Daneben Block 11 mit den Stehzellen. Das sind von außen zugemauerte Hohlräume, weniger als ein Quadratmeter groß, die Häftlinge mussten durch eine kleine Öffnung hineinkriechen. Bis zu vier Menschen pferchten die Deutschen in die Zelle, die Häftlinge erstickten, verhungerten oder wurden wahnsinnig.

Smolen war Schreiber in der Aufnahmeabteilung. Er musste für die Listen der SS registrieren, wie viele Transporte täglich ankamen. Im Frankfurter Prozess sagte Smolen vor allem gegen den früheren Leiter der Aufnahmeabteilung, Hans Stark, aus. Da saß der ehemalige Häftling dem früheren SS-Oberscharführer gegenüber, und der verzog keine Miene. „Stark sah aus wie immer“, sagt Smolen, „ernst und mit erhobenem Kopf, ganz der Herrenmensch.“ Smolen hat nie beobachtet, wie Stark Häftlinge ermordete. Er sah nur, dass Stark sein Gewehr holte und Menschen ins Krematorium brachte. Wenn Stark dann ins Büro zurückkam, musste dort ein frisches Handtuch hängen, er wusch sich die Hände, ließ sich die Schuhe putzen und steckte sich eine Zigarette an. „Stark rauchte eigentlich nicht, aber in dieser Situation nahm er immer einen tiefen Zug.“ Alle wussten dann, dass Stark jemanden erschossen hatte.

Stark wurde zu zehn Jahren Jugendstrafe verurteilt, er war 19, als er seinen Dienst in Auschwitz antrat. Das Gericht sprach sechs Mal lebenslänglich aus, zwei SS-Männer waren zuvor aus dem Verfahren ausgeschieden. Kügler hatte für 16 Angeklagte lebenslänglich 128

gefordert. Denn für die Staatsanwaltschaft war klar: Wer im Lager mit der Waffe Dienst tat, ist Mörder. Sie sah in der Vernichtungsmaschinerie ein einziges, zusammenhängendes Verbrechen. Aber das Gericht vertrat diese Rechtsauffassung nicht.

Für den verurteilten SS-Mann Schmidt ist ohnehin klar: „Das war ein Schauprozess.“ Dann sperrt er die Erinnerung zusammen mit den Papieren zurück in den Schrank.

Kazimierz Smolen blickt bei der Frage nach der Gerechtigkeit aus seinem Bürofenster in Block 23, dort unten kann er die Holzbaracke sehen, in der er als Häftlingsschreiber gearbeitet hat. „Unmoralisch ist es nur, wenn ein Verbrecher nicht bestraft wird. Die Höhe der Strafe ist Sache des Gerichts.“

Und Joachim Kügler? Er sagt, das deutsche Justizsystem habe dafür gesorgt, dass nur „die Hampelmänner“ verurteilt wurden. Man hört ihm die Enttäuschung an. „Wissen Sie“, sagt er dann, als wolle er sich entschuldigen, „durch die 20 Monate im Gerichtssaal bin ich ein Sonderling geworden.“

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JUDENVERNICHTUNG

Die Erinnerung der Täter

Von Schirra, Bruno

Hans Münch ist der letzte noch lebende KZ-Arzt von Auschwitz, damals ein Bewunderer von Josef Mengele und heute geachteter Bürger in Roßhaupten im Allgäu. Er sagt: "Ich konnte an Menschen Versuche machen, das war wichtig für die Wissenschaft." Von Bruno Schirra

Er ist ein liebenswürdiger Herr von 87 Jahren. Zuvorkommend umsorgt er seine Besucher, immer bereit nachzuschauen, ob ihnen auch nichts fehlt, während er erzählt, wie mühsam das war, die Juden zu verbrennen.

Drei Stunden und sieben Minuten sitzt er dann vor dem Fernseher, betrachtet "Schindlers Liste", Spielbergs Stück vom guten Deutschen und seinen Juden, verfolgt das Töten und Vergasen, sieht die Kinder verrecken, die Frauen krepieren. Dr. Hans Münch, Landarzt in Roßhaupten am Forggensee, sitzt ruhig dabei. Er seziert den Film: "Die Selektion ist absolut authentisch dargestellt", sagt er. "Da stimmt jedes Detail. Genau so war es." Er muß es wissen. Er war während der Selektionen auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau. Als SS-Arzt.

Münch erzählt plaudernd: "Die Juden waren zu Haufen aufeinander geschichtet und kohlten vor sich hin. Die wollten einfach nicht brennen. Aber das war ein technisches Problem und wurde natürlich gelöst." Er sitzt in seinem Ledersessel unter dem ans Kreuz genagelten Jesus und krault seinem Kater Peter den Nacken, während er beschreibt, wie die Häftlinge Gräben um die Scheiterhaufen zogen. In denen habe sich das Fett gesammelt: Mit Kellen schöpften die Häftlinge es ab und übergossen die Leiber. Die brannten dann besser. Wenn ein Häftling nicht spurte, konnte es passieren, daß ein SS-Aufseher ihn in die kochende Brühe stieß. Wie schnell der dann starb, darüber wundert sich Münch noch heute. Und reicht Marmorkuchen.

Seine Frau sitzt währenddessen ganz in sich zurückgezogen in ihrem Sessel. Die Gespräche über die Vergangenheit ihres Mannes fließen an ihr vorbei, bis sie plötzlich aufschreckt: "Mein Gott, wie ich mich schäme, eine Deutsche zu sein."

Münch blickt auf. "Ich nicht." Nun gut, sagt er, die Juden hätten es schlimm gehabt in Auschwitz. Aber für ihn sei es auch nicht leicht gewesen. Und wenn er heute einen Juden treffen würde? Hans Münch zuckt mit den Schultern. Er sagt: "Ich kenne keine freilebenden Juden. Ich kenne nur Auschwitz-Juden."

Eine von ihnen ist Eva Kor aus Indiana. 40 Jahre lang hat sie geschwiegen. Darüber, daß sie Mengele überlebt hat. Sie hatte sich ihr Leben eingerichtet, als Immobilienmaklerin in Indiana. Aber dann hatte sich ihre Kraft erschöpft. Sie begann darüber zu reden, was Josef Mengele ihr angetan hat, damals, als sie elf Jahre alt war.

Eva Kor suchte ihre Vergangenheit in den Archiven, und sie stieß auf Dr. Hans Münch, Landarzt in Roßhaupten. Sie telefonierten miteinander, sie schrieben einander, sie trafen sich. Eva Kor lernte einen Menschen kennen, der ihr die Überzeugung gab, daß er sich mit seiner SS-Biographie auseinandergesetzt hatte, daß er einer sei, der aus Opportunismus, nicht aus 130

Überzeugung "in die SS geraten ist". Einer, der bereut. Eva Kor beschloß, diesen Mann zum 50. Jahrestag der Befreiung einzuladen, sie nach Auschwitz zu begleiten.

Hans Münch war 19 Monate im Lager Auschwitz. Im Hygiene-Institut der Waffen-SS leistete er seinen Dienst. Im Schatten der Rampe, der Gaskammern, der Krematorien. Münch verrichtete seine Arbeit so gewissenhaft wie all die anderen SS-Chargen auch. "Juden auszumerzen, das war eben der Beruf der SS damals", sagt Münch. Aber: "Meine Juden haben mich verehrt. Die haben mich geachtet."

Das hat Hans Münch schriftlich: Der Auschwitz-Häftling Kurt Prager beschreibt Münch als "einen Leuchtturm von Menschlichkeit und Güte unter lauter Narren und Mördern". Auch Professor Geza Mansfeld, als Häftling sein wissenschaftlicher Mitarbeiter, rühmt Münch. Er hätte "weit über die üblichen Gesetze der Menschlichkeit hinaus Gutes getan".

"Ich bin ein human eingestufter, nicht verurteilter Kriegsverbrecher", sagt Münch und spricht von den Möglichkeiten, die er als Arzt in Auschwitz hatte: "Ich konnte an Menschen Versuche machen, die sonst nur

* Das Foto wurde nach der Befreiung der Häftlinge aufgenommen. an Kaninchen möglich sind. Das war wichtige Arbeit für die Wissenschaft."

Seine Frau hat eine Brotzeit hergerichtet, und Münch ißt ein Schinkenbrot, während er erzählt, wie er seinen Häftlingen Streptokokken in die Arme und den Rücken injizierte. Im Block 10, wo seine SS-Kollegen ihre medizinischen Versuche an Menschen machten, hatte auch Münch seinen eigenen Laborraum. Er wollte den Zusammenhang zwischen vereiterten Zahnwurzeln und Rheuma nachweisen. Für die Wissenschaft riß er den Häftlingen Zähne aus, "um an den Eiter ranzukommen". Waren deren Zähne gesund, injizierte er ihnen den Eiter anderer Häftlinge.

"Das Menschenmaterial", sagt er, habe er von Dr. Clauberg bekommen, Frauen, "die sonst vergast worden wären". Von , der im Block 10 seine Sterilisationsexperimente an Frauen vornahm. Ein widerlicher Mensch, dieser Clauberg, sagt Münch heute, "hat ausgeschaut wie ein Jud".

Münch wollte immer Wissenschaftler werden. Genau wie sein Vater. Der hatte sich zum Botanikprofessor hochgearbeitet. Seine Erziehungsmaxime war: "Wenn aus dem Bub was wird, dann sind das die Erbanlagen, wenn aus dem Bub nix wird, sind das auch die Gene."

Münch studierte Medizin in Tübingen und München, war Mitglied des Jungdeutschen Ordens und der SA. Er spezialisierte sich als Bakteriologe, war Politischer Leiter in der Reichsstudentenführung und wurde am 1. Mai 1937 Mitglied der NSDAP. 45 Prozent der deutschen Ärzte waren in der Partei. Doch 1939, nach dem Studium, wurde ihm keine wissenschaftliche Stelle angeboten. Münch mußte ins Allgäu, "tumbe Bauern therapieren. Ich bin da versauert", klagt er noch heute. Und das klagte er auch seinem Freund Bruno Weber, Arzt beim Hygiene-Institut der Waffen-SS. Weber war gerade dabei, in Auschwitz eine Außenstelle des Instituts aufzubauen. Er versprach Hilfe.

Es war "ein herrliches Biergartenwetter", als Münch im Sommer 1943 mit seiner Frau in Auschwitz ankam. Er freute sich. Ein strahlender Himmel, die Hitze hätte ihn schläfrig werden lassen, wäre nicht dieser Geruch gewesen. Süß und modernd. "Niemand konnte den 131

Gestank, der über der Gegend lag, ignorieren. Und jeder sah die Flammen, die aus den Schloten kamen", erzählt er. "Man hat nach spätestens zwei Tagen gewußt, was los war." Seine Frau wurde noch am selben Tag von SS-Leuten aufgeklärt. "Das hier ist nichts für uns", sagte sie zu ihm. "Schau, daß du sofort hier wegkommst."

Aber was Münch in Auschwitz vorfand, ließ ihn bleiben: "Das waren ideale Arbeitsbedingungen, eine exzellente Laborausrüstung und eine Auslese von Akademikern mit weltweitem Ruf." Der Landarzt aus dem Allgäu traf unter den Häftlingen "die besten Wissenschaftler des Pasteur-Instituts und hochausge- bildete Fachleute europäischer Universitäten". Daß die Juden waren, störte ihn nicht. "Wir haben sie gepflegt, die spurten, die standen stramm, daß es nur so klapperte."

Münchs Aufgabe war die Seuchenbekämpfung. Fleckfieber, Ruhr, Typhus brachen immer wieder aus, und seitdem SS-Leute daran starben, bestand Handlungsbedarf. Seuchenbekämpfung bedeutete in Auschwitz, "daß die ganze Baracke abgeschlossen wurde, keiner kam raus, keiner kam rein. Die ganze Mannschaft marschierte ins Gas, denn es war ja möglich, daß jeder das weiter überträgt. Das war die übliche Therapie. Die Maschine lief an, und die ganze Baracke wurde eingeschürt".

Er spricht darüber eher beiläufig, und da ist kein Zweifel und kein Gefühl.

"Hat Sie das belastet?"

"Nein, nein, überhaupt nicht, weil es die einzige Möglichkeit war, um die Sache nicht noch viel, viel, viel schlimmer zu machen."

"Vergasen war besser?"

"Auf jeden Fall! Auf jeden Fall! Sie dürfen niemals von dem einzelnen Fall ausgehen. Wenn man die Sache konsequent durchdenkt, war das die einzige Möglichkeit, um zu verhindern, daß das Lager zugrunde geht."

Daß es dagegen nur ein Mittel geben konnte, daran glaubt Münch noch heute. "Isolierung durch Gas". Für Münch ein humaner Akt: "Die wären vielleicht nicht vergast worden, aber sie wären jämmerlich an Seuchen krepiert."

Er habe sich nicht unwohl gefühlt in Auschwitz, sagt der alte Herr Münch heute. Der "ewige Außenseiter" habe "Insider sein" wollen. In Auschwitz wurde er es. Im Kreis der SS- Lagerärzte wurde er respektiert.

Josef Mengele war ihm "der sympathischste Lebensgenosse. Da kann ich nur das Beste sagen". Die beiden kamen zur selben Zeit nach Auschwitz und verließen es am selben Tag. Mengele nahm den Kindern die Köpfe, und Münch untersuchte sie. Am 29. Juni 1944 schickte Mengele den Kopf eines zwölfjährigen Kindes. Münch untersuchte ihn, schickte den Befund am 8. Juli zurück. "Das war Alltag", meint er heute. "Mengele und die anderen schickten uns ihr Material, Köpfe, Leber, Rückenmark, was eben so anfiel. Wir haben analysiert." Sich weigern? Die Idee ist ihm auch jetzt unbegreiflich. "Das war Dienst, und Dienst war Dienst, und Schnaps war Schnaps."

Die Abende verbrachte man im Casino. "Da war eine gute Kameradschaft", erzählt er, "man hat über alles gesprochen." Nur nicht über den Kriegsverlauf. 132

Münch wollte nie weg von Auschwitz. Wozu auch? "Im Hygiene-Institut war ich der König. Das geht ganz schnell, ruhig an einem Platz zu leben, an dem Hunderttausende Menschen vergast werden. Das hat mich nicht belastet."

Münch rühmt Mengeles Intelligenz, seine Eleganz "in der intellektuellen Wüste von Auschwitz". Und dann redet er über dessen Glaube, daß die "germanischen Gruppen Träger der europäischen Kultur sind", zitiert Mengele zum "Judenproblem", daß die "Heilung der Welt" durch die "Judenvernichtung" erreicht würde, und fordert Objektivität und Rationalität in der Diskussion darüber.

"Es gab keine armen Juden, man mußte schon ideologisch sehr verblendet sein, um nicht zu sehen, daß die Juden viele Bereiche, besonders die ärztlichen, weit infiziert hatten." Am schlimmsten, meint der Bakteriologe noch heute, seien die "Ostjuden" gewesen. "Ein furchtbares Gesindel. Die waren so dressiert auf Servilität, daß man sie als Mensch gar nicht mehr qualifizieren konnte."

Als Münch nach Auschwitz zurückkehrte, am 27. Januar 1995, stand er fahrig und ein bißchen zittrig im Blitzlicht der Fotografen. Neben sich die Frau, die als Kind die Menschenversuche seines Freundes Mengele überlebt hatte. Jene Eva Kor aus Indiana, die ihn hergebeten hatte.

Nach den offiziellen Veranstaltungen zum Jahrestag der Befreiung stellte sich Eva Kor auf die Trümmer eines Krematoriums. Sie redete über Josef Mengele. Münch stand neben ihr.

Sie sprach auch über ihn, eher klagend als anklagend. Sie redete darüber, wie ein Mensch sich aus "Opportunität" in ein unmenschliches System integriert. Münch hörte das alles, nickte zustimmend. Und dann reichte Eva Kor dem SS-Arzt die Hand und verzieh ihm, vor sich selbst und vor der Welt.

Wenn er sich heute, zu Hause in Roßhaupten, an diesen Moment in Auschwitz-Birkenau erinnert, kann Münch der symbolischen Versöhnung nichts abgewinnen. "Ein pathologischer Fall, diese Frau." Hätte "eine Mutter-Kind-Beziehung zur SS gehabt, die sie beschützt hat".

Und dann sei da ja dieser Zwischenfall gewesen: Als alle Reden gehalten waren, die Überlebenden sich zerstreut hatten, stand nur Vera Kriegel, auch eine Überlebende der Zwillingsexperimente des Josef Mengele, noch in der Nähe von Münch. Damals, vor 50 Jahren, war die vierjährige Vera in ein Labor geführt worden. Eine Wand aus präparierten Menschenaugen hatte sie angestarrt. "Dutzende Menschenaugen, mit Nadeln aufgespießt, wie eine Schmetterlingssammlung." Dann begannen die Experimente des Josef Mengele: Injektionen in die Augen zur Veränderung der Augenfarbe.

Bei der Befreiungsfeier sah sie Münch, stand neben ihm. Irgendwann konnte sie nicht mehr. "Warum nur haben Sie das getan?" Sie schrie das mit brüchiger Stimme, ein hilfloser Aufschrei, eigentlich an niemanden gerichtet. Münch straffte sich, knirschte mit den Zähnen, wirkte gar nicht mehr alt, konnte sich gerade noch beherrschen, bis Vera Kriegel weitergegangen war. "Die Frau Kriegel ist eine von den ganz miesen Häftlingen", hörte man ihn leise sagen, "diese widerliche kleine Jüdin. Der ging es damals doch gut. Die hat sich durchgefressen, hat sich rangeschmissen bei Mengele, nur um ihr kleines Leben zu retten."

Im Auschwitz-Prozeß in Krakau wird Münch 1947 wegen seiner Rheuma- und Malaria- Experimente als Kriegsverbrecher angeklagt. Wenn er darüber spricht, wird sein Gesicht hart, 133

die Hand verkrampft sich um ein Lineal: "Da marschierten sechs hysterische Weiber auf, darunter ein furchtbar giftiges Weib, die ist extra aus Amerika eingeflogen worden, und alle haben gejammert, was ich ihnen Grausames angetan hätte", sagt er, und das Lineal in seiner Hand zerschneidet mit kurzen Bewegungen die Luft. "Die Malaria-Experimente waren ganz harmlos. Ich habe einen Test gemacht: Ist der Mann immun oder nicht?"

"Wie geschah das?"

Münch zögert und schüttelt den Kopf. "Darüber brauchen wir nicht zu reden. Das war ungefährlich." Mehr will er darüber nicht sagen.

Nach Ansicht von Tropenmedizinern gibt es nur zwei Wege, solche Tests zu machen. Entweder hat er die Häftlinge von Malaria-Mücken stechen lassen, oder er hat gesunde Häftlinge mit malariaverseuchtem Blut infiziert.

Zehn Monate sitzt Münch im Krakauer Montelupi-Gefängnis in Untersuchungshaft: "Eine Reihe meiner Häftlinge hat für mich ausgesagt." Die Richter des Obersten Polnischen Nationalgerichts attestieren Münch, daß er "den Häftlingen gegenüber wohlwollend eingestellt war, ihnen geholfen und sich selbst dadurch gefährdet hat". Am 22. Dezember 1947 ist Hans Münch ein freier Mann. Aus dem Freispruch wächst der Mythos vom guten Menschen in Auschwitz.

Münch schildert das Verhältnis zu den 120 Häftlingen seines Kommandos als eine Lageridylle, plaudert über die "kleinen Streiche", die er so trieb, wenn er mit den Häftlingsfrauen schwarz Orangenschnaps brannte. "Wunderbaren Orangenschnaps, absolut herrlich." Da seien sie "fast so was wie eine Familie" gewesen.

"Der Mann war in der SS! Wir waren Häftlinge! Niemals waren wir eine Familie", erinnert sich Elis Herzberger. Der Bakteriologe war einer von Münchs Häftlingen in Auschwitz. "Sie haben uns wie Haustiere behandelt."

Münch schildert die Transporte aus Ungarn im Sommer 1944. Er erinnert sich an das Kreischen der Züge, wenn sie an der Rampe abgebremst wurden, an das dumpfe Türenschlagen, an die Schreie der SS-Männer, das grelle Licht der Scheinwerfer. Er erinnert sich, wie Häftlingskommandos, unter den Peitschenhieben der SS, die Männer und Frauen und Kinder aus den Viehwaggons treiben, an die Kinderleichen, die die Häftlinge aus den Waggons kratzen, sie wegtragen, so wie man tote Hühner an den Beinen faßt, immer zwei in einer Hand, die Köpfe nach unten.

Über all dies redet Münch nach 53 Jahren entspannt und gelassen, und er merkt nicht, daß seine Worte eine eigene Geschichte erzählen. "Sie müssen wissen, das Umbringen von Leuten, das war so selbstverständlich wie, daß man um soundso viel Uhr das und das zu tun hat. Man gewöhnt sich an den Alltag in Auschwitz. Auch wenn es exzessiv ist. Das geht ganz schnell, zwei, drei Tage."

"Hans, komm bitte sofort her." Frau Münch hat im Flur gestanden und zugehört. Er geht zu ihr. Sie flüstert erregt auf ihn ein, gestikuliert mit den Armen, wird lauter. "Sag ihm, er soll gehen. Bitte. Er soll sofort gehen. Ich will das nicht mehr hören. Ich habe Angst vor Auschwitz." Münch streicht ihr übers Haar, kommt zurück, lächelt um Verständnis bittend: "Sie bleiben natürlich." 134

Und dann redet er, redet wie losgelassen und gerät dabei in den Sog seiner Erinnerungen. Daß er dabei seine eigene Legende niederreißt, merkt er es nicht? Kann er es nicht, oder ist das jetzt im Alter von 87 Jahren, "so kurz vor Toresschluß", unerheblich geworden?

Er spricht von "idealer Selektion", daß "man als Arrangeur" bei aller Oberflächlichkeit der Selektion schnell einen Blick dafür bekommen hat, für "all die kleinen Tricks". Wenn jemand seine Krücke verbergen wollte oder jemand sich als Arzt ausgab, der keiner war. Da mußte schon alles seine Ordnung haben.

Münch hat immer bestritten, selbst auf der Rampe selektiert zu haben. Als er Anfang 1944 vom Standortarzt zur Selektion aufgefordert wurde, habe er sich geweigert. Und wurde doch im Sommer 1944 zum Untersturmführer befördert.

"Warum waren Sie auf der Rampe?"

"Es hat mich interessiert, wie das abläuft. Ich hab'' mir das angeschaut aus Neugierde."

Eine Neugierde, groß genug, um ein dutzendmal an der Rampe gewesen zu sein?

"So schrecklich", sagt Münch, " war das sowieso nicht, die Selektion. Sie hatte ihre menschliche Dimension. Bei den Zuständen im Lager, da war es ein absoluter humaner Prozeß, die Leute zu selektieren. Das hat man nicht als inhuman empfunden. Sie im Lager verrecken zu lassen, das ist sicher inhumaner gewesen."

"Haben Sie je Mitleid mit den Menschen gehabt, dort oben auf der Rampe?"

"Mitleid, das kann ich nicht sagen. Diese Kategorie gab es gar nicht. Ich habe das nie analysiert. Man muß es entweder im Ganzen ablehnen, oder man muß es im Ganzen anerkennen. Es ist einfach, sich mit der Existenz von Auschwitz zu identifizieren und daran beteiligt zu sein. Wenn man mal drin war, mitten drin, dann war man auch schuldig geworden. Ich konnte aber etwas tun in meinem Bereich. Ein paar Häftlinge herauspicken, die sonst ins Gas gehen. Dadurch habe ich mir ein gutes Gewissen verschafft."

Der Landarzt verläßt in seinen Erzählungen das anonyme "man", spricht immer öfter von "ich" und plaudert über Lagerselektionen im Krankenbau. Und wie einfach die doch waren. "Man ist da durchgelaufen, und dann hab'' ich gesagt, der und der und der. Die wurden dann am Montag auf den Lastwagen getrieben und abgefahren." Ins Gas.

Münch ging nach der Selektion ins Krematorium, guckte sich an, wie die Aufseher die Menschen durch die Flügeltüren in die Gaskammer trieben. Sah, wie sie die Kinder hineinprügelten. Durch den Spion schaute sich Hans Münch an, wie die Menschen minutenlang nach Luft schnappten.

Münch imitiert die Gesten der Sterbenden. Sein Gesicht verzerrt sich, er reißt den Mund auf, japst, schlägt die Arme über dem Kopf zusammen, verkrallt die Hände in seiner Kehle. Und dann macht er ihre Geräusche nach. Ein Summen kommt tief und langsam aus seiner Brust, dumpf und brummend, "wie das Summen in einem Bienenstock". Und dann ist das Vergasen vorbei, die Türen werden geöffnet, und "manchmal lagen sie alle zusammengesunken da, manchmal lagen sie wie eine Pyramide aufeinander, die Kinder immer unten, zertreten. Und manchmal standen sie. Wie Basaltsäulen". 135

Darüber wundert Münch sich heute noch: Die standen.

An diesem Abend läuft im Fernsehen ein Film über Josef Mengele, seinen Freund, der ihm "absolut in jeder Weise der Sympathischste" gewesen war. Münch hört die Geschichten der überlebenden Zwillinge, sieht die Tränen, die einem Mosche Offer über das Gesicht laufen, während er erzählt, was Mengele in Auschwitz mit ihm tat, und Münch versteinert. Bewegungslos sitzt er da, mit hartem Gesicht.

"Herr Münch, Sie sagen, Mengele habe den Kindern kein Leid angetan."

"Da steh'' ich absolut dazu. Er hat sie optimal behandelt."

"Verurteilen Sie Mengele?"

"Ich kann ihn nicht verurteilen."

Draußen ist es jetzt, bis auf den Vollmond, vollständig dunkel geworden. Dennoch ist Münch aufgestanden und hat alle Lampen gelöscht.

"Waren Sie ein Helfer?"

"Ein Helfer? Zu was? Daß einige durchgekommen sind oder daß die Grausamkeit von Auschwitz auf die Spitze getragen wurde, indem man auch gesunde Leute vergast hat, bloß weil sie hätten krank werden können?"

"An beidem waren Sie beteiligt?"

"Ja. Man mußte sich dazu bekennen. Aber das war gar nicht schwer."

"Ist Hans Münch ein Täter?"

"Ja, natürlich bin ich ein Täter. Ich habe viele Leute gerettet. Dadurch, daß ich ein paar Leute umgebracht hab''."

Und dann spricht der humane Kriegsverbrecher Hans Münch über die Entscheidung zwischen Leben und Tod. "Selektionen habe ich nur freiwillig gemacht, eben in solchen Fällen, wo ich engagiert war, und wo ich Leuten einen Gefallen tun konnte, daß ich ihnen eine Spritze geben konnte, daß sie nicht die nächsten 14 Tage überleben müssen." Hans Münch redet ruhig und sehr beherrscht über seine Beteiligung. "Selektionen an der Rampe habe ich praktisch nie ...", und dann stutzt er kurz und fährt fort, "nur gesehen, nie persönlich gemacht, sondern immer nur individuell, eben im Krankenbau natürlich und bei besonderen Fragen." Dann schweigt er.

"Haben Sie ein schlechtes Gewissen? Tut es Ihnen leid?"

"Dort gewesen zu sein? Im nachhinein natürlich nicht."

In seinem Bücherregal steht zwischen Konrad Lorenz und Adolf Hitlers "Mein Kampf" das Buch: "Das Leben Jesu Christi". Plunder sei der Glaube, sagt Münch. Der Tod sei das Erlöschen einer biologischen Einheit: "Danach kommt nichts." 136

Münch steht winkend vor seinem Haus, ein liebenswürdiger älterer Herr, braungebrannt, mit schlohweißem Haar. Er hat die letzte Frage gelassen beantwortet. "Was bedeutet Auschwitz für Sie?"

"Nichts."

* Das Foto wurde nach der Befreiung der Häftlinge aufgenommen.

DER SPIEGEL 40/1998 Alle Rechte vorbehalten Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG.

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In der Tiefe Wir miissen uns in Fiinferreihen aufstellen und unterein- ander zwei Meter Abstand halten; dann miissen wir uns ausziehen, die Kleidung in bestirnrnter Art zusammen- bundeln, die Wollsachen auf die eine und den Rest auf die Kaum langer als zwanzig Minuten dauerte diese Fahrt. andere Seite tun und die Schuhe ablegen, dabei aber gut Dann blieb der Lastwagen stehen, und man erkannte ein aufpassen, dafi sie uns nicht gestohlen werden. grofles Tor und dariiber die grell beleuchtete Schrift (die Von wem denn gestohlen? Warurn sollte man uns die mich noch heute in meinen Traurnen bedrangt): ARBEIT Schuhe stehlen? Und unsere Papiere und das biflchen, das MACHT FREI. wir in unseren Taschen haben, und die Uhren? Wir blicken Wir steigen aus. Man bringt uns in einen grofien und allc auf den Dol~i~etsch,und der Dolmetsch iragt den nackten, schwach geheizten Raum. Welchen Durst wir ha- Deutschen, und der Deutsche raucht und sieht ihn an, als ben! Das leise Sumrnen des Wassers in den Heizungsriih- sei er durchsichtig, als habe keiner gesprochen. ren macht uns rasend: Seit vier Tagen haben wir nichts Ich habe noch nie nackte alte Manner gesehen. Herr rnehr getrunken. Imrnerhin ist da ein Wasserhahn; dariiber Bergmann trigt ein Bruchband, er fragt den Dolmetsch, ein Schild, dafi man nicht trinken darf, weil das Wasser ob er es ablegen soll, und der Dolmetsch zogert. Aber der verunreinigt ist. Unsinn, das Schild ist doch bestirnmt nur Deutsche versteht, spricht mit ernster Miene zum Dol- eine Verhohnung, ,,sic- wissen, daR wir es vor Durst nicht rnetsch und deutet dabei auf jernanden. Wir merken, wie rnehr aushalten, stecken uns in einen Raurn, ein Wasser- der Dolmetsch schluckt, dann spricht er: ,>Der Hcrr hahn ist da, und Wassertrinkcn verboten. Ich trinke und Ha~~tscharfiihrerhat gesagt, er soll das Bruchband ab- 137 fordere auch die Kameradcn dazu auf. Aber ich muR aus- nehmen, er bekomrnt das vom Herrn Coen.~Wir sehen, spucken; das Wasser ist lau und suRlich, es riecht nach wie die Worte bitter aus Flcschs Mund kornmen, das war Moor. also des Deutschen Art zu lachen. Dies ist die Holle. Heute, in unserer Zeit, mu8 die Holle Nun crscheint ein anderer Deutscher und verlangt, dafi so beschaffen sein, ein groRer, leerer Raum, und miide ste- wir die Schuhe in eine bestimmte Ecke stellen, und w;r hen wir darin, und ein tropfender Wasserhahn ist da, und stellen sie dahin, denn jetzt ist es zu Ende, und wir fiihlen rnan kann das Wasser nicht trinken, und uns erwartet et- uns auRerhalb der Welt, und es hei8t nur noch gehorchen. was gewiR Schreckliches, und es geschieht nichts und noch Einer kornrnt rnit einern Kehrbesen und kehrt alle Schuhe imrner geschieht nichts. Wie soll man da Gedanken fassen? fort, durch die Tiir, auf einen einzigen tlaufen zusammen. Man kann keine Gedanken rnehr fassen; es ist, als seicn wir Er ist wahnsinnig, er bringt sie ja alle durcheinander, bereits gestorben. Einige setzen sich auf den FuRboden. sechsundneunzig Paar, nachher werden sie nichr mehr zu- Tropfen urn Tropfen verrinnt die Zeit. sammenpassen. Die Tiir fiihrt ins Freie, eiskalter Wind Wir sind nicht gestorben, die Tiir ist aufgegangen. Ein dringt ein, und wir sind nackt und legen die Arrne iibcr den SS-Mann kommt herein, er raucht. Er betrachtet uns ohne Leib. Der Wind schlagt die Tiir zu; der Dcutsche offnrt sie Eile, fragt dann: ).Wer kann Deutsch?((Einer aus unserer wieder und weidet sich an dem Anblick, wie wir uns einer Mitte, den ich noch nie gesehen habe, tritt vor, er heiRt hinter den andern kriimmen, urn Schurz vor dem Wind zu Flesch; er wird unser Dolmetsch sein. Der SS-Mann halt finden. Dann geht er und rnacht die Tiir wieder zu. eine lange, gelassene Ansprache; der Dolrnetsch iibersetzt. Zweiter Akt. Vier Manner stiirzen mit Rasiermessern, Pinseln und Schernlaschinen herein, sie tragen gestreifte hupfen und ab und an versuchen, uns auf den FuRboden zu Hosen und Jacken, auf der Brust eine angenahte Num- setZen und uns nicht setzen konnen, weil da drei Finger mer. Vielleicht gehoren sie zur gleichen Sorte wie die von hoch kaltes Wasser steht. heute abend (heute abend oder gescern abend?); doch Planlos gehen wir hin und her und reden; ein jeder redet diese hier sind ja robust und die Gesundheit selbst. Wir allen, und das macht vie1 Larm. Dic Tiir geht auf, und stellen ihnen viele Fragen, sie aber packen uns, und im ein Deutscher kommt herein, der Ha~~tscharfiihrervon Handumdrehen sind wir rasiert und geschoren. Was fiir vorhin; er spricht nur kurz, der Dolmetsch iibersetzt: blodsinnige Gesichter wir ohne Haare haben! Die vier re- .Der Herr Oberscharfiihrer hat gesagt, ihr sollt ruhig sein, den in einer Sprache, die nicht von dieser Welt zu sein weil hier keine Rabbinerschule ist.~Man sieht, wie die scheint, jedenfalls ist es kein Deutsch, ein biRchen Worte, diese bosen Worte, die nicht die seinen sind, ihm Deutsch verstehe ich schon. den Mund verzerren, wahrend sie herauskommen, als SchlieRlich geht eine andere Tiir auf: Da sind wir jetzt spuckte er einen ekelhaften Brocken aus. Wir bitten ihn zu alle einges~errt,nackt, geschoren, die Fiifle im LVasser, es fragen, worauf wir denn eigentlich warten und wie lange ist ein Duschraum. Wir sind allein, und nach und nach lost wir noch hierbleiben werden; nach unseren Frauen, nach sich die Verwunderung, und wir sprechen; alle fragen und allem sol1 er fragen: Er aber lehnt ab, sagt, dafl er nicht fra- keiner antwortet. Wenn wir uns nackt in einem Dusch- gen will. Dieser Flesch, der sich nur widerwillig dazu ver- raum befinden, so bedeutet das, daR wir duschen werden. steht, frostige deutsche Reden ins Italienische zu iiberset- Und werden wir duschen, so nur darum, weil sie uns noch zen und der sich weigert, unsere Fragen zu verdeutschen, nicht umbringen. Aber warum lassen sie uns dann stehen weil er um dessen Zwecklosigkeit wein, ist ein etwa fiinf- 138 und geben uns nichts zu trinken, und niemand erteilt uns zigjihriger deutscher Jude; im Gesicht hat er eine grofle Auskunft, und wir sind ohne Schuhe und Kleidung, ganz Narbe von einer Verwundung, die er sich am Piave geholt nackt mit den Fiifien im Wasser, und es ist kalt, und seit hat, irn Karnpf gegen die Italiener. Ein verschlossener, funf Tagen sind wir unterwegs, und wir konnen uns nicht schweigsamer Mensch, fur den ich instinktiv Achtung einmal setzen. empfinde, weil ich merke, dad er noch vor uns zu leiden Und unsere Frauen? begonnen hat. Ingenieur Levi fragt mich, ob ich dachte, daR sich unsere Der Deutsche geht; und jetzt sind wir still, obgleich wir Frauen in der gleicher~Lage befanden wie wir, und wo sie uns etwas schamen, so still zu sein. Es ist noch Nacht, und seien, und ob wir sie auch wiedersehen wiirden. Das be- wir fragen uns, ob jemals der Tag kommen werde. Wieder jahe ich, denn er ist verheiratet und hat ein kleines Mid- geht die Tiir auf; einer in gestreiftem Anzug kommt her- chen: bestimmt werden wir sie wiedersehen. Aber nun bin ein. Er ist nicht wie die andern, ist alter, tragt eine Brille, ich doch sicher, daR alles eine Machination im grogen Stil hat ein humaneres Gesicht und ist langenicht so robust. Er ist, um uns zu verspotten und zu schmahen; es ist ja klar, spricht uns an, und er spricht italienisch. dafl man uns umbringen wird, und wer da glaubt, am Le- Nun wundern wir uns schon iiber nichts mehr. Uns ben zu bleiben, ist verruckt, ist auf den Leim gegangen. Ich scheint, als seien wir Zeugen eines verriickten Schauspiels, nicht, ich habe begriffen, daR es bald zu Ende sein wird, eines von denen, wo Hexen, Heiliger Geist und 'I'eufel auf vielleicht in ebendiesem Raum, wcnn sie sich daran sattge- der Biihne erscheinen. Er spricht ein schlechtes Italienisch sehen haben, wie wir nackt von einem Bein aufs andere mit starkem auslindischem Akzent. Er halt eine lange Rede, ist sehr hoflich und bemuht sich, auf alle unsere Fra- im allgemeinen keiner trinkt, weil die Suppe schon waflrig gen eine Antwort zu geben. genug ist, um den Durst zu Ioschen. Wir bitten ihn, uns ir- Wir sind in Monowitz, nicht weit von Auschwitz, in gend etwas Trinkbares zu beschaffen, aber er sagt, dafl er Oberschlesien: eine Gegend, die gernischt von Deutschen ,icht kann, dafl er insgeheim gegen das Verbot der SS zu und Polen bewohnt wird. Unser Lager ist ein sogenanntes uns gekornmen ist, denn wir seien ja noch zu desinfizieren, Arbeitslager; alle Gefangenen (etwa zehntausend) arbeiter, und er rnusse gleich wieder gehen; er sei nur darurn hier, an der Errichtung einer Gurnrnifabrik, die Buna heiflt, und weil er die Italiener gut leiden moge und weil er, wie er sich Buna heiflt darum auch das Lager. ausdrii~kt,.ein biflchen Herz habee. Wir fragen ihn auch, Wir werden Schuhe und Kleidungsstiicke erhalten, ob es noch andere Italiener irn Lager gabe, und er rneint, nein, nicht unsere eigenen, andere Schuhe und andere dafl wohl ein paar da seien, wenige, er wisse nicht, wie- Kleidungsstiicke, solche, wie er sie tragt. Und nackt sind viele, und sofort wechselt er das Therna. Unterdessen lau- wir jetzt darum, weil wir auf die Dusche und auf die Des- tet eine Glocke; er verschwindet a~~enblicklichund laflt infektion warten; beides wird nach dern Wecken gesche- uns betroffen und verwirrt zuruck. Einige haben ja neuen hen, und ohne Desinfektion kommt man nicht ins Lager. Mut gefaflt. Ich nicht, ich mufl in einem fort denken, dafl Naturlich hat man zu arbeiten, alle haben hier zu arbei- auch dieser Zahnarzt, dieses ~nbe~reiflicheIndividuurn, ten. Irnmerhin gibt es Arbeit und Arbeit: Er zurn Beispiel sich seinen Span rnit uns gemacht hat; und kein Wort will ist als Arzt tatig; er ist ein ungarischer Arzt, der in Italien ich ihm glauben. studiert hat und hier Lagerzahnarzt ist. Vier Jahre lebt er Wahrend des Lautens hort man, wie das dunkle Lager 139 schon im Lager (nicht in diesern, Buna besteht erst seit an- wach wird. Unverrnittelt schieflt heifles Wasser aus den derthalb Jahren), und trotzdem, wir konnen ja sehen, dafl Duschen, herrliche funf Minuten Iang; aber gleich darauf es ihm gut geht, dat3 er nicht besonders rnager ist. Waru~n sturzen vier Manner herein (vielleicht die Barbiere) und er sich irn Lager befindet? Ober Jude ist wie wir? .Nein., treiben uns, nafl und dampfend wie wir sind, rnit Geschrei erwidert er schlicht, ,jich bin Krimineller.<< und rnit Puffen in den angrenzenden, eiskalten Raurn. Wir richten eine Menge Fragen an ihn, zuweilen lacht er, Dort schrneiflen uns andere schreiende Kerle ich weifl beantwortet die einen, andere wieder nicht, man merkt ge- nicht was fur Lurnpen zu und driicken uns ein Paar Lat- nau, dafl er gewisse Themen verrneidet. Uber die Frauen schen rnit Holzsohle in die Hand. Wir haben gar keine spricht er nicht; er sagt nur, dafl es ihnen gut geht und dafl Zeit, etwas zu begreifen, und schon sind wir drauflen im wir sie bald wiedersehen werden, sagt aber nicht wie und blauen, eisigen Schnee des fruhen Morgens, barfufl und nicht wo. Statt dessen erzahlt er uns andere, sonderbare, nackt, rnit all den Klamotten in den Handen, und mussen verriickte Dinge, auch er treibt vielleicht seinen Spott rnit zu einer anderen, etwa hundert Meter entfernten Baracke uns. Vielleicht ist er irrsinnig: Irn Lager wird man doch irr- laufen. Und da erst diirfen wir uns anziehen. sinnig. Er sagt, dafl es alle Sonntage Konzerte und Ful3ball- Als wir fertig sind, bleibt jeder in seinem Winkel, und syiele gibt. Er sagt, dafl man Koch werden kann, wenn wir wagen es nicht, einander anzublicken. Es gibt nichts, man gut boxt. Er sagt, dafl man fur gute Arbeit Pramien- worin wir uns spiegeln konnten, und doch haben wir unser scheine erhalt, mit denen man sich Tabak und Seife kaufen Ebenbild vor Augen, es bietet sich uns in hundert leichen- kann. Er sagt, dafl das Wasser wirklich ungenieflbar ist und blassen Gesichtern dar, in hundert elenden und schrnieri- dafl dafiir taglich Kaffee-Ersatz ausgegeben wird, den aber gen Gliederpuppen. So sind wir nun in ebensolche Ge-

2 6 spenster verwandelt, wie wir sie gestern abend gesehcn aber auf Grund reiner ZweckmaRigkeit iiber sein L.eben haben. und seinen Tod wird entscheiden kiinnen. So wird man Da merken wir zurn erstenmal, dafi unsere Sprache denn die zweifache Bedeutung des Wortes VEY?~~C~~N?Z~S- keine Worte hat, diesc Schmach zu auRern, dies Vernich- lager verstehen und ebenso, was ich mit der Definition ,in ten eines Menschen. In einem einzigen Augenblick und der Tiefe liegen. zum Ausdruck bringen mochte. fast mit prophetischer Schau enthullt sich uns die Wahr- heit: Wir sind in der Tiefe angekommen. Noch tiefer geht ,,Hiftling.: Ich lernte, daR ich e~n.Haitling* bin. Mein es nicht; ein noch erbarmlicheres Menschendasein gibt es Name ist I 74 5 I 7; wir wurden getauft, und unser L.eben nicht, ist nicht mehr denkbar. Und nichts ist mehr unser: lang werden wir das tatowierte Ma1 auf dem linken Arm Man hat uns die Kleidung, die Schuhc und selbst die Haare tragen. genommen; werden wir reden, so wird man uns nicht an- Die Prozedur war kaum schmerzhaft und gingaugeror- horen, und wird man uns auch anhoren, so wird man uns dentlich rasch vor sich. Man stellte uns alle der Reihe nach nicht vcrstehen. Auch den Namen wird man uns nehmen; auf, und einer nach dem andern defilierten wir in alphabe- wollen wir ihn bewahren, so mussen wir in uns selber die tischer Namensfolge an einem geschickten Funktionar Kraft dazu finden, mussen dafur Sorge tragen, daR iiber vorbei, der eine Art Pfriem mit winziger Nadel handhabte. den Namen hinaus etwas von uns verbleibe, von dem, wie Anscheinend ist dies die eigentliche Initiation: Nur, wenn wir einmal gewesen. man .die Nummer herzeigt., bekommt man Brot und Ich weiR, daR man mich hierin nur schwerlich verstehen Suppe. Etliche Tage waren notig und nicht wcnige Ohrfei- wird, und es mag gut sein, daR dem so ist. Doch uberlege gen und Faustschlage, bis wir uns daran gewohnten, die

140 ein jeder, was fiir einen \Vert, was fur eine Bedeutung Nummer prompt vorzuweisen, so dai3 die Ausgabe der selbst die geringsten unserer taglichen Gewohnheiten in taglichen Essensrationen nicht behindert wurde; Wochen sich bergen, unsere hundert kleinen Dinge, die auch der und Monate waren notig, bis wir ihren deutschen Klang im armseligste Bettler sein eigen nennt: ein Taschentuch, cin Ohr hatten. Und tagelang, wenn mich die Gewohnheit aus alter Brief, die Fotografie eines lieben Menschen. Diese dem freien Leben nach der Uhrzeit auf meinen Arm blik- Dinge sind Teile unser selbst, sind fast wie Glieder unseres ken liei3, erschien mir dafiir hohnisch mein neuer Name, Korpers; es ist auch in unscrcr Welt nicht denkbar, daR sie die blaulich unter die Haut eingestichelte Numrner. einem genomlnen werden, denn gleich wiirden wir andere Erst vie1 spater und nur nach und nach lernte ein Teil dafiir finden, andere Dinge, die uns gehoren, weil sie un- von uns einiges von der makabren Wissenschaft der sere Erinnerungen erhalten und wecken. Auschwitz-Nummern, in der die einzelnen Etappen der Nun denke man sich einen Menschen, dem man, zusam- Ausrottung des europaischen Judentums enthalten sind. men mit seinen Lieben, auchsein Helm, seine Gewohnhei- Den Alten des Lagers sagt die Nummer alles: die Zeit des ten, seine Kleidung und schlieRlich alles, buchstablich alles Lagereintritts, den Transport, mit dem man Sekommen nimmt, was er besitzt: Er wird leer sein, beschrankt auf ist, und demnach auch die Nationalitat. Jeder wird die Leid und Notdurft und verlustig seiner Wiirde und seines Nummern von joooo bis 80000 mit Achtung behandeln: Urteilsverrnogens, denn wer alles verloren hat, verliert Nicht mehr als einige hundert sind es, die ~berlebenden auch leicht sich selbst; so sehr, daf3 man leichthin und ohne der polnischen Ghettos. Man muR die Augen gut offenhal- jede Regung verbindenden Menschentums, bestenfalls ten, wenn man sich mit einem I 16oooer oder I 17oooer in zR Geschafte einlaflt: Funfzig sind es jetzt vielleicht nicht mehr zu arbeiten. Ich frage ihn (mit einer Naivitat, aber es sind Saloniki-Griechen, man darf sich nicht Gbers die mir einige Tage spater schon sagenhaft vorkommen Ohr hauen lassen. Und was die hohen Numrnern angeht, wird), ob wir denn wenigstens unsere Zahnbursten zu- so hangt ihnen etwas Lacherliches an, wie im normalen Le- riickerhalten werden. Dariiber lacht er nick sondern ben den Begriffen ,,Stift* oder nRekrutK: Die typische macht ein ganz verachtliches Gesicht und wirft rnir die hohe Nurnrner ist ein dickbauchiges, willfahriges und wortehin: ,,~ousn'Ptes pas a la maison.. Das aber ist der dumrnliches Individuum, dern du auf die Nase binden ~~h~~~i~,den wir uns von allen immer und irnmer ~ieder kannst, dafl irn Krankenbau Lederschuhe f"r L~~~~ mit sagen lassen miissen: Ihr seid hier nicht zu Haus, bier ist ernpfindlichen Fuflen ausgegeben werden, und das du kein sanatorium, hier kornmt man nur durch den Kamin dazu iiberreden kannst, rasch hinzulaufen und dir inzwi- raus. (was sol] das heiflen? Wir werden es spater zur Ge- schen seinen Suppennapf ,,in Verwahrung~ie~ist kein Warurn*, gibt er mir zur Antwort und treibt fur uns neue Lebensordnung unter grotesken und sarkasti- mich rnit einem Stofl zuruck. 141 schen Vorzeichen vonstatten. Nach derTatowierungspro- Die Erklarung hierfiir ist gauenhaft und doch so ein- zedur sperrt man uns in eine Baracke, in der sonst kein fa&: An diesem Ort ist alles verboten; nicht aus irgend- Mensch ist. Die Betten sind hergerichtet, aber man unter- welchen unerfindlichen Grunden, sondern weil das Lager sagt uns strengstens, sie zu beruhren, uns daraufzusetzen: zu diesem Zweck geschaffen wurde. Wenn wir darin leben So gehen wir sinnlos den halben Tag lang in dem begrenz- wollen, miissen wir das rasch und gut lernen: ten Raum, der verfugbar ist, auf und ab, noch gequilt vom grausarnen Durst der Reise. Dann offnet sich die Tur, und . , .Hier ist das heil'ge Antlitz keine Ililfe! ein Junge irn Streifenanzug komrnt herein; er macht einen Ein andres Schwimmen ist's hier als im Serchio!" ziernlich anstandigen Eindruck, ist klein, rnager und blond. Dieser hier spricht franzosisch, und Wir urnringen Stunde um Stunde geht dieser erste, lange Tag der Vorholle ihn zuhauf, besturrnen ihn mit allen Fragen, die Wir his seinem ~bschluflentgegen. Als die Sonne in einem Strudel jetzt vergeblich einander gestellt haben. dusterer, blutroter Wolken versinkt, lassen sie uns endlich Doch er redet nicht gern: Keiner redet bier gem. Wir aus der Baracke hinaus. Ob sie uns zu trinken geben? sind neu, wir haben nichts und wir wissen nichts. wozu Nein, stellen uns noch einmal in Reih und Glied auf, also Zeit rnit uns vergeuden? Nur widerstrebend gibt er fiihren uns auf einen grogen, freien Platz, der den Mittel- uns die Auskunft, dafi die andern zur fort sind und am Abend zuriickkornrnen. Er selbst ist heUte fruh aus D~~~~,~o~~1,~h~Komlidie (Holle, XXI, q8-49). Alle In diesem Buch zitierren dem Krankenbau entlassen worden und braucht heUte ~~~t~-versewurden von Heinz Riedt fiberrragen. punkt des Lagers darstellt, und lassen uns dort antreten, rniissen noch sehr jung sein, hochstens sechzehn Jahre alt, und wir mussen uns peinlich genau ausrichten. Dann ge- und beide haben ruflbeschmierte Gesichter und Hande. schieht in der nachsten Stunde nichts mehr; es scheint, als Als wir vor~ber~ehen,ruft mich der eine von ihnen an und

1 warte man auf jemanden. richtet auf deutsch einige Fragen an mich, die ich nicht ver- !I, I : Eine Fanfare ertont neben dem Lagertor: sie spielt )Ro- stehe; dann fragt er mich, woher wir kommen. .Italien*, samunde*, den wohlbekannten sentimentalen Schlager, erwidere ich, und ich mochte selber so vieles von ihm wis- und das kommt uns so eigenartig vor, dafl wir einander an- sen, aber mein deutscher Wortschatz ist zu beschrankt. ,~! grinsen; wir fuhlen uns um eine Spur erleichtert, vielleicht ,,Bist du Jude?. frage ich ihn. I, ~ stellen diese ganzen Zeremonien nichts anderes vor als ei- ,)Ja, polnischer Jude.<< nen riesenhaften Schwank teutonischer Art. Aber nach ,,Wie lange bist du im Lager?. ,Rosamunde* blast die Fanfare noch weiter, spielt einen xDrei Jahre~,und er hebt drei Finger. Marsch nach dem andern, und nun erscheinen unsere Ka- Dann mufl er ja als Kind hergekommen sein, denke ich meraden, die in Gruppen von der Arbeit zuruckkommen. mit Schaudern; doch es bedeutet auch, dafl zumindest ei- Sie marschieren in Fiinferreihen, in einer sonderbaren, un- nige hier leben konnen. naturlichen, harten Gangart wie steife Gliederpuppen, die ,>Was arbeitest du?. nur aus Knochen bestehen: aber ihr Gleichschritt halt sich ,)Schlosser-, antwortet er. Ich versteh nicht. ~Eisen, streng an den Takt der Fanfare. Feuer~,erklart er und bewegt die Hande wie einer, der mit Wie wir, so treten auch sie in genau festgeleger Ord- dem Hammer auf den Ambof3 schlagt.

142 aIch Chemiker<<,sage ich zu ihm; dazu nickt er ernsthaft und meint: ,,Chemiker gut.. Aber das alles betrifft die weite Zukunft, was mich im Augenblick qualt, ist der Durst. .Trinken, Wasser. Wir kein Wasser~,sage ich. Er sieht 'lrupp von SS-Leuten in voller Kriegsausrustung Meldung mich mit ernster, fast strenger Miene an und betont jedes erstattet. einzelne Wort: ~KeinWasser trinken, Kamerad!u Und I: Schliefllich (es ist schon dunkel, aber das Lager ist von was er dann noch redet, verstehe ich nicht. ,~~ j Lampen und Scheinwerfern hell erleuchtet) vernimmt man ),Warurn?*< ~)Geschwollen~~,erwidert er im Telegrammstil. Ich I,, den Ruf ,Absperre!<<,worauf sich samtliche Gruppen in I ein heilloses Durcheinander auflosen. Jetzt gehen sie nicht schuttle den Kopf, weil ich das nicht verstanden habe. Er erklart es mir, indem er die Backen aufblast und mit den Handen eine riesige Anschwellung von Gesicht und Bauch andeutet. .Warten bis heute abend.. Das ubersetze ich mir nen fast waschschusselgroflen Blechnapf tragt. Wort fur Wort. Auch wir Ne~ankommlin~ewandern in der Merlge um- Dann sagt er: ~Ich,Schlome. Du?. Ich nenne ihm meinen her, suchen eine vertraute Stimme, eln befreundetes Ge- Namen, und er erkundigt sich: nWo deine Mutter?. - ,,In Italien.. - Schlome ist verwundert: ~Judinin Italien?<<- ~Jax,erklire ich ihm so gut ich kann, ),versteckt, nie- rnand kennen, fliehen, nicht sprechen, niernand sehen.. Er Die gewohnlichen Wohnblocks sind in zwei Raurne hat begriffen. Jetzt steht er auf, kornrnt auf mich zu, urn- aufgeteilt; in dern einen, dern ,,Tagesraurn~,wohnt der Ba- armt rnich schuchtern. Das Erlebnis ist zu Ende, und ich rackenalte~ternit seinen Freunden. Die Einrichtung be- bin erfiillt von einer reinen Trauer, die beinahe Freude ist. steht aus einem langen Tisch, Stuhlen und Banken. Allent- Ich habe Schlome nie wiedergesehen, aber sein ernstes, ha]ben sieht man eine Menge sonderbarer Gegenstande in sanftes Kindergesicht, das mich an der Schwelle des Toten- bunten Farben, dazu Fotografien, Ausschnitte aus Illu- hauses ernpfing, habe ich nicht vergessen. strierten, Zeichnungen, kunstliche Blurnen, Nippsachen; Wir mussen eine Menge lernen, doch vieles haben wir die Wande sind rnit groRen Inschriften versehen, Losun- schon gelernt. Wir wissen schon ungefahr, wie das Lager gen und Versen auf die Ordnung, die Disziplin und die beschaffen ist, Dieses unser Lager hier ist ein Quadrat von Hygiene; in einer Ecke steht ein Glasschrank rnit den Ge- etwa sechshundert Metern Seitenlange, umschlossen von rstschaften des ~Blockfrisors~~,den Suppenkellen und zwei Stacheldrahtzaunen, deren innerer rnit Hochspan- zwei Gurnmikniippeln, dern massiven und dern hohlen, nung geladen ist. Es besteht aus sechzig Holzbaracken, die zur Aufrechterhaltung ebendieser Ordnung. Der andere man hier Blocks nennt und von denen sich etwa zehn noch Raurn ist der Schlafraum. Darin nichts weiter als hundert- im Bau befinden; dazu komrnen das gernauerte Kuchenge- achtundvierzig dreistockige Betten, die, nur von drei Gan- baude, eine kleine landwirtschaftliche Versuchsstation, die gen unterteilt, so dicht wie die Waben in einem Bienen- von einer Gruppe privilegierter Haftlinge bewirtschaftet stock aneinandergefiigt sind, darnit der ganze Rauminhalt

143 wird, und die Dusch- und Latrinenbaracken, je eine fur bis zur Decke hinauf ohne Verluste ausgefullt wird. Hier sechs bis acht Blocks. SchlieRlich sind einige Blocks fur be- sind die gewohnlichen Haftlinge untergebracht, zweihun- sondere Zwecke bestimmt. So ist vor allem eine Gruppe dert bis zweihunderrfunfzig je Baracke, sie mussen sich von acht Blocks am ostlichen Lagerende als Krankensta- also meistens zu zweien in die Betten teilen, deren Boden tion und Ambulatoriurn eingerichtet. Dann der Block 24, aus losen Holzplatten bestehen und die je einen dunnen der Kratzeblock; der Block 7, den noch kein gewohnlicher Strohsack und zwei Decken haben. Die Gange sind so Haftling betreten hat, weil er fur die ~Prominenz*,also fur schmal, daR zwei Mann nur rnit Muhedurchkornmen; und die Internierten rnit den hochsten Arntern reserviert ist; die gesamte verfugbare Bodenflache ist so beschrankt, daR der Block 47, der den Reichsdeutschen vorbehalten ist die Blockinsassen gar nicht alle hineingehen, wenn nicht (den politischen oder kri~ninellenDeutschen rnit arischer mindestens die Halfte in den Betten liegt. Daher auch das Abstammung); der Block 49, der nur fur die Kapos da ist; Verbot, einen frernden Block zu betreten. der Block 12, dessen eine Halfte fur Reichsdeutsche und In der Mitte des Lagers erstreckt sich der riesige Appell- Kapos als Kantine dient, das heiRt als Ausgabestelle fur platz, auf dern morgens zur Forrnierung der Arbeitskolon- Tabak, Insektenpulver und gelegentlich auch andere Arti- nen angetreten wird und abends, urn gezahlt zu werden. kel; der Block 37, in dern sich das zentrale Fourierburo Vor dern Appellplatz liegt ein sauber geschorenes Rasen- und das Buro des Arbeitsdienstes hefindet; und endlich beet, wo im Bedarfsfall die Galgen errichtet werden. der Block 29, dessen Fenster imrner geschlossen sind, denn Wir wissen sehr bald, daR es drei Kategorien von Lager- das ist der Frauenblock, das Lagerbordell, versorgt von bewohnern gibt: die Kriminellen, die Politischen und die polnischen Haftlingsmadchen und reserviert fur die Juden. Alle tragen sie den gestreiften Anzug und alle sind Reichsdeutschen. sie Haftlinge; doch die Krirninellen haben neben der Nummer ein griines Drcieckauf die Jacke genaht, die Poli- tischen ein rotes Dreieck und die Juden, die bei wcitem In der Mehrzahl sind, den rot-gelben Judenstern. Natiirlich sind SS-Leute da, aber nur wenige und auRerhalb des La- gers, und man sieht sie verhaltnismafiig selten. Doch un- sere eigentlichen Herren sind die Griinen Dreiecke, die frei iiber uns verfiigen konnen, dazu nocll diejenigen der anderen beiden Kategorien, die ihnen an die Hand gehen: und das sind nicht wenige. Noch eines lernen wir, je nach dem Charakter des ein- zelnen mehr oder weniger schnell, namlich rnit )>Jawohl!

wenn wir unser Brot verzehren, damit kein Kriimel verlo- " rengehe. Nun ist auch uns klargeworden, da13 es nicht das- mu13 man sich Bart und Haare scheren lassen und sich die selbe ist, ob man seine Schopfkelle rnit Suppe von oben Klamotten selber stopfen oder stopfen lassen; sonntags oder von unten aus dem Kubel bekommt, und wir konnen mug man sich der allgemeinen Kratzekontrolle und der

144 auf Grund des unterschiedlichen Fassungsvermogens der Kontrolle der Jackenknopfc unterziehen, und die miissen verschiedenen Kubel berechnen, welcher Platz in der Es- fiini an der Zahl sein. sensschlange am erstrebenswertesten ist. Des weiteren gibt es eine Fiille von Dingen, die norrna- Wir lernen, da13 marl alles brauchen kann: Draht, um lerweise ohne Belang sind, hier aber zu lJroblemen wer- sich die Schuhe zu binden, Lumpen, um sich Fufilappen zu den. Wenn die Fingernagel nachgewachsen sind, mufi man machen, Papier, urn sich als Kalteschutz (verbotenerweise) sie kiirzen, was nicht anders als rnit den Zahnen geschehen die Jacke auszufiittern. Wir lernen, da13 andererseits alles kann (fiir die Fuflnigel sorgt schon das stetige Reiben an gestohlen werden kann, ja, auch unfehlbar gestohlen wird, den Schuhen); wenn einem ein Knopf abgeht, mug man sobald die Wachsamkeit nachlaflt; und um dern vorzubeu- ihn sich nlit Draht wieder befestigen konnen; wenn man in gen, miissen wir die Kunst erlernen, rnit dem Kopf auf der die Latrine oder in den Waschr-aurn geht, muR man immer zusammcngebiindelten Jacke zu schlafen, die alle unsere und uberallhin alles mit sich nehmen, und wahrend man Habseligkeiten, vom ERgeschirr bis zu den Schuhen, ent- sich die Augen wascht, mu13 man das Kleiderbiindel zwi- halt. schen den Knien halten, we11es sonst in diesem namlichen Wir kennen jetzt auch schon zum guten Teil die ma13los Augenblick gestohlen wiirde. Wenn einem ein Schuh komplizierte Lagerordnung. Unzahlbar sind die Verbote: Schrnerzen verursacht, mu13 man abends die Zeremonie auf weniger als zwei Meter an den Stachcldraht t~eranzu~e- des Schuhumtausches mitmachen; hier wird die Beschla- hen; mit der Jacke, ohne Unterhosen oder rnit der Kopt%e- genheit des einzelnen auf die Probe gestellt, denn man mug dcckung zu schlafen; besondere Waschraume oder Latri- imstande sein, rnit einem Blick einen (nicht ein Paar, einen) 36 passenden Schuh aus dem unsagbaren Durcheinander aus- Mechanikern, Betonierern usw.), die einer bestimlnten zusuchen, weil nach erfolgter Wahl ein zweiter Tausch werkstatt Oder einer bestimmten Abteilung der Buna zu- nicht mehr erlaubt wird. gereilt sind und mehr den zivilen Meistern, meistens Deut- Man glaube nicht, daR den Schuhen im Lagerleben eine schen oder Polen, unterstehen; das trifft naturlich nur fiir untergeordnete Bedeutung zukommt. Der Tod beginnt die Arbeitsstunden zu, fiir dcn Rest des Tages werden die bei den Schuhen. Fur die meisten von uns haben sich spezialisten (insgesamt nicht mehr als drei- oder vierhun- wahre Marcerwerkzeuge erwiesen, weil sie schon nach we- dert) nicht anders gehalten als die gewohnlichen Arbeiter. nigen Stunden Marsch schmerzende Wunden verursa- ~ii~die Aufteilung der einzelnen auf die verschiedenen chen, die sich unweigerlich infizieren. Wer davon heimge- Kommandos ist eine besondere Dienststelle des Lagers zu- sucht ist, mug SO laufen, als habe er ein Gewicht am Fun stindig, der Arbeitsdienst, der mit der zivilen Direktion hangen (daher die eigenartige Gehweise des Gespenster- Buns in dauerndem Kontakt steht. Die Entscheidun- heeres, das allabendlich zur Parade heimkehrt); er ist iiber- gen des Arbeitsdienstes erfolgen nach unbekannten Ge- all der letzte, und iiberall bekommt er Schlige; er kann sichtspunkten, oft aber eindeutig auf Grund von Protek- nicht davonlaufen, wenn man hinter ihm her ist; seine [ion und Bestechung, so dafi einer, der sich zu essen be- Fune schwellen an, und je mehr sie anschwellen, desto un- schaffen kann, auch praktisch die Gewahr dafiir hat, einen ertraglicher wird die Reibung am Holz und am Leinen der guten Posten in der Buna zu erhalten. Schuhc. So bleibt dann nichts anderes als der Krankenbau. Die Zahl der Arbeitsstunden ist je nach Jahreszeit ver- Doch mit dem Befund ~dickeFiil3e. in den Krankenbau Schieden. Solange es hell ist, wird gearbeitet; demnach va- n~kommen, ist augerst gefahrlich, denn alle, besonders riiert die Arbeicszeit von einem winterlichen MindestmaR 145 aber die SS, wissen sehr wohl, dafl man dieses Leiden hier (8 Uhr his I z Uhr und I 2.30 Uhr bis 16 Uhr) bis zu einem nicht loswerden kann. sommerlichcn Hijchstmafl (6.30 Uhr bis 12 Uhr und 13 Bei all dcm habe ich noch nicht einmal von der Arbeit Uhr bis 18 Uhr). Unter gar keinen Umstanden diirfen die gesprochen, die ihrerseits aus einem Sammelsurium von Haftlinge bei Dunkelheit oder bei dichtem Nebel arbeiten, Gesetzen, Tabus und Problemen besteht, wahrend auch iln Regen oder im Schnee oder im (recht Wir arbeiten alle mit Ausnahme der Kranken (sich hiufigen) Karpaten-Sturmwind normal gearbeitet wird; krankschreiben zu lassen, bedingt ohnehin schon ein ge- der Grund fir das Vcrbot liegt darin, daR Dunkelheit oder ruttelt Mafl von Kenntnissen und Erfahrunp). Jeden Nebel einen Fluchtversuch begiinstigen konnten. Morgen geht es in Marschkolonne vom Lagcr zur Buns; Jeder zweite Sonntag ist gewohnlicher Arbeitstag; an jeden Abend geht es in Marschkolonne wieder zuriick. Fur den sogenannten freien Sonntagen wird meistens, statt in die Arbeit sind wir in rund zweihundert Kommandos un- der Buna, an der lnstandhaltung des Lagers gearbeitet, so terteilt, die jeweils funfzehn bis hundertfiinfzig Mann da8 es nur ganz selten wirkliche Ruhetage gibt. stark sind und je von cinem Kapo befehligt werden. Es gibt gutc und schlechte Kommandos; zum griinten Tei] sind So also wird unser Leben aussehen. Tag fur Tag nach dem fur Transportarbeiten eingesetzt, und das 1st hart, beson- festgesetzten Rhythmus axsriickcn und einrucken; arbei- ders im Winter, und sei es nur darum, weil a]]es im Freien ten, schlafen und essen; krank werden, gesund werden getan wird. Aber es gibt auch Kommandos von Spezialar- oder sterben. beitern (Elektrikern, Schmieden, htaurern, Schweiflern, . . .Und wie lange? Aber die Alten lachen nur auf diese Frage, denn an ihr erkennt man den Neuling, lachen und urnlieyen,den ich mir ungestraft aneignen kann, SO stecke antworten nicht: Fur sie ist seit Monaten, seit Jahren die ich ihn ein und betrachte ihn rnit vollem Recht als mein Ei- Frage nach der weiten Zukunft gegenstandslos geworden, genturn, schOn habe ich auf meinen FuRrucken die stump- hat jeden Sinn vor den so vie1 dringlicheren und konkrete- fen wunden, die nicht heilen werden. Ich schiebe Wag- ren Problernen der nahen Zukunft verloren, namlich, was ich arbcite mit der Schaufel, ich errnatte im Regen, es heute zu essen gibt, ob es schneien wird, ob Kohlen aus- ich ~lttereim Wind. Schon ist mein eigener Korper nicht z~iladensind. rnehr mein: Der Bauch ist gedunsen, die Glieder sind ver- Hielten wir uns an die Vernunft, so miiflten wir uns mit dorrt, das Gesicht ist am Morgen verschwollen und am dieser Gegebenheit abfinden, dafl unser Schicksal absolut Abend ausgehohlt. Einige von uns haben eine gelbe Haut, unerforschlich ist und jede Spekulation dariiber nur miiflig andere graue; sehen wir uns einmal drei oder vier Tage sein kann und nicht die geringste reale Grundlage besitzt. lang nicht, erkennen wir uns kaum wieder. Doch an die Vernunft halten sich die Menschen sehr Wir 1taliener wollten uns jeden Sonntagabend in einem ten, wenn das eigene Schicksal auf dem Spiel steht. In je- Winkel des Lagers treffen, aber das lassen wir gleich wie- dem Fall ziehen sie die extremen Positionen vor. Darum der bleiben, denn es ist zu traurig, uns nachzuzahlen und sind, je nach Veranlagung, die einen von uns augenblick- feststellen zu miissen, dafl wir jedesmal weniger sind und lich davon iiberzeugt, dafl alles verloren ist, dafl man hier unfGrmiger und elender von Gestalt. Und es ist SO miih- nicht leben kann und dafl das Ende mit Sicherheit und bald Sam, diese wenigen Schritte zu gehen. Und wenn wir uns bevorsteht; die andern, dafl trotz all dem harten L.eben, das treffen, so geschieht uns ja iiberdies, dafl wir uns erinnern

146 uns erwartet, die Rettung wahrscheinlich ist und in gar und nachdenken: und das tut man besser nicht. nicht weiter Ferne liegt, und dai3 wir, wenn wir nur Ver- trauen und Kraft aufbringen, ~lnserHeim und unsere Lie- ben wiedersehen werden. Jedoch unterscheiden sich diese beiden Kategorien, die der Pessimisten und die der Upti- misten, nicht so klar voneinander: nicht, weil die Agnosti- ker so zahlreich waren, sondern weil die meisten, ohne Gedachtnis und ohne F~lgerichti~keitund je nach Ge- sprachspartner und Augenblick, zwischen diesen extre- men Positionen hin- und herpendeln.

Nun bin ich also in der Tiefe. Vergangenheit und Zukunft auszuloschen, lernt man rasch, wenn die Not drangt. Vier- zehn Tage nach meiner Einlieferung habe ich schon den re- gelrechten Hunger, den chronischen Hunger, den die freicn Menschen nicht kennen, der nachts Traume hervor- ruft und der in allen Gliedern unseres Korpers wohnt. Schon habe ich gelernt, michnicht bestehlen zu lassen, und sehe ich einen Loffel, einen Bindfaden, einen Knopf her- sack lagen, erklgrte meine Mutter, dal( dcr elektrische stacheldraht draufien tijdlich sei, und machte mir den Vor- Ob die Nazis die deutsche Komantik sarkasrisch verhunzcn schlag, zusammen in diesen Draht zu gehen. Ich traute wollten, wenn sie den Lagern die hiibschen N~~~~ gal,eri; meinen ohren nicht. Wenn das Leben lieben und sich ans Oder waren Buchenwald und Birkenau nus die narGrlichen Lehen klalllmern dasselbe ist, dann habe ich das Leben nie so Einfalle des Kitschdenkens, wenn es vertLlschen und ge]iebr wir im Sommer 1944, in Birkenau, im 1.ager 2 B. harmlosen will? Ein Unwissender k(jnnce nlm]ich schlat: ~~hwar zw61f ]ahre alr, und Jer Gedanke, mit Zuckungen in wandelnd ,)Birkenau und Huchenwajd,< mit vojksliednlc. einem elrktrischen Stacheldraht zu verenden, und das noch lodie vor sich hin tr3llern und such muhelos narurbezogenc dazu auf Vorschlag meiner eigenen Mutter, und ietzr gleich, Verse dazureimen. iiberstieg mein Fassungsverm6gen. Ich rettere mich in die Birkenau war das Verllichtungslager von Auschwitz ",,d uberzeugung, sic hatte es nicht ernst gemeint. Nahm es ihr bestand aus vielen kleinen Lagern odrr Unterteilungen ubel, sole]Ie Spa& getrieben zu haben, um mich zu angsri- Lagern. In jedem war einc Lagerstrage und auf beiden Seiten gen, Eine Spielverdcrberin war sie ja immer gewesen. Meine Baracken. Dahinter kam Stashrldraht und ein iihn[iches L~. M~~~~~nahm meine Weigerung so gelassen hin, als hiitte es ger. B 2 B war eine Ausnahme, insofern als Manner, Frauell sich um cine Aufforderung zu einern kleinen Spaziergang in und Kinder zwar in verschiedenen Baracken, aber iln selben Friedenszeiten gehandelt. )>No,dann cben nicht.(( Und sic Lager ulltergebrachr waren. Auch Kleirlkinder waren dart,n- kam nie wieder auf diesen Vorschlag zuruck. ~~h kenne meine Mutter so schlecht, wie alle Kinder ihre Eltern schlec]lt kennen, und vielleicht war ratsachlich cine ge-

147 wisse selbstm6rderische, destruktive Lust in1 Spiel gewesen. den Wanden enclang. Der Raum war durch cinen langge- Abet wahrschein\ich war ihr gar nicht nach Spaflen zunlute streckten Kanlin geteilc. Auf diesem Kamin am ersten und wollte mir nicht nur Angst machen. Ich frage mich, Abend cine Blockalteste, also die Chef;n einer Baracke, und ob ich iIlr diesen schlimmscen Abend mines Lebens le vet- schrie, schimpfte, behhl oder was inlmer, wShrend wir in ziehen Wir haben nie wieder daruber gcsprochen. Mit den Betteestellen lagen oder sal3en, denn zum Srehen war is[ schon manchmal der Impuls gekommen zu fragen: ))Du, nicht genug hum fur uns alle. Ihr Ton war einschiichrernd, war das damalsdein Ernst?<

148 die Erinnerung schrnalern. Und zweitens steckt hinter dem schleichendes korperliches Unbehagen ist lan~eilig,inso- Hang, falsche Zusarnmenhange zu erfinden eine Faszina- fern es kein Ende nimmt, insofern als man sich wunscht, tion, die leicht in Widerwillen umschlagt. Merkwiirdig, dafl es ware schon spiter. Hier war envas Neues, Verbluffendes, auch die Achselhohlen der SS rnit Tatowierungen verziert diese Nummer, die im Kind nicht so sehr Schrecken aus- wurden. Dasselbe Verfahren fur Ehre und Schande. 16ste, wie eine gesteigerte Verwunderung daruber, was es alles Mit dieser Tatowierung stellte sich bei mir eine neue gab, zwischen uns und den Nazis. Und tatsachlich gelang Wachheit ein, narnlich so: Das Aulierordentliche, ja Unge- es mir, in den Intervallen zwischen den AnAllen von Angst- heuerliche rneiner Situation kam mir so heftig ins BewuRt- zustanden, am Massenmord zu zweifeln, einfach durch den sein, daR ich eine Art Freude empfand. lch erlebte envas, Lebenswillen einer Halbwuchsigen. Ich wurde nicht hier wovon Zeugnis abzulegen sich lohnen wiirde. Vielleicht umkommen, ich bestimmt nicht. wurde ich ein Buch schreiben rnit einern Titel wie ,Hundert Ege irn KZ(. (Derartige Titel hat es nach dern Krieg tat- sachlich gegeben.) Niemand wurdc abstreiten kdnnen, daR ich zu den Verfolgten zahlte, denen man Achtung entgegen- bringen rnuixte (was man mir den einfach Vernachlassigten, Das Proletarierkind I,iesel, die mir schon in Wien Kummer den beiseite Geschobenen nicht tat), wegen der Vielfalt ihrer bereitet hatte, hatte mich auch in l'heresienstadt nicht in Erlebnisse. Man wiirde rnich ernst nehmen miissen, rnit Ruhe gelassen. Es ist mir ratselhaft, warum wir uns uber- rneiner KZ-Nurnmer, so wie rnein Cousin Hans von der haupt miteinander abgaben. lch pochte in ihrer Gegenwart immer, wenn auch insgehcim, darauf; dali ich mehr ge[ccen Cehen sah, rehiell cr sicl~vun der 'X'elt zu endernen. hatre 31s sie und daf3 mein Vater Ant war. Allerdings war eincr, der ill ~~~f~l~K~chegrrufen \vurdc, dart die dieser Hochrnur auch eine Gegenposition ihrem ~~~i~~,~~Asche zusal,,menzu~~ehrcnIch funhrete und mied ihn gegcniiber gewesen, denn nicht nur war sie alter, sic wrlr auzh sl sich vcrdndm, war gedruckt und gciagr .streetwise(<,stragenkundig, wuflte, wo's Iang ging. In ich Sie lhchcrrc uni eillcn %ol>fen Hoffnung>cs ~1)~. Doeh resienstadt hatte sie mir versetzt, daC meine Mutter in ~ii~!, Mnne ja vic\leiehr duch anders bei den Krcmatof-ic~ltugc- ein Verhalrnis mit einem vcrhcirareten Arzt gehabt ]I~~~, hen, es beschrieb, so schutteltc einfach den K"~f: und sic weidete sich an meinern Unbchagen. nJa, llnd hirr im Liesei war kein sentil,lmtale~Midchen. Ihr war illU- Ghetco ist die Frau W. auch draufgekommen unJ hat deirlcr sioneo so wenig wie mir deutscher Lyrik hei7,ukommen. Mutter neulich eine groge Szene gemacht.

149 vom Tad. Ihr Vatu war im Sonderkommando. Er hat bei Durst maehtr rnir weit mehr zu schaffcn als Hunger. WJer nie der Beseitigung der Leichcn mirgeholt-en. Sic sprach vol, wirklich und wiederholt gcdurster hat. hat mehr Syrnparhie den Ein~elheitenSO unbekiimmert, wie Strai3enkinder volll mit den Hungernden. Aher man muli nur bedenken, wie Grschlechtsvcrkehr rederen, abet ehen auch "lit derse[ben Iang ri daoert, bevor ein Mcnsch vcrhungert, snd irn Cie- unterschwclligen Herausfurderung, denlselhen laucmJen gensatz, driu, wit schncil er verdursret. Wan kann wochm-. Angcbot von Korruption. So erfuhr ich von ihr die Perversi- sogar slunarelang fasten und wcitcrlebc~l,dagegen verdurstet taten des Mordes und die Abarten der Leicl~ens~h$~d~~~. ,an in Tagen. Dcmentsprechend ist der Durst qurlvolle~-air Van ihr wuflte ich, daM man unscren Leichen das Go/tfaus der Hunger. In Birkenau rnuR das Esscn, dicse tagliche Sup- den Zahnen gebrochen hat (daran denke ich jedesmal, wcnn pc, sehr ralzig gewesen rein, Jcnn ich war dort immcr dur- ich vom Shylock und seinen fiktiverl Nachkommell und stig, besanders wihrcnd der heikn, stundealangcn hppelle her fktiven Habgier Icse), und ~nderes,das heUte zLlr in der pnllen Sonne. nW'as habt ihr Kinder in Auschwitz Aigcmcinbildung uber das z~vanzigstcJahrhunderr geIlijrr, gemacht! hat micli ~leulichjemand gefr:*t ni1abt ihr ge- in vielen Queilcn steht und daher hier nicht nacherz3hlr spieltic despiclt! Appell gearanden rind wir. in Birkenau bin werden mug. ich Appell geeitanden und hah Durst undlbdcsangsr gchabt. Ihr Vater vertraute ihr und erzahlre ihr alles. I,& sah ihn Das wal- allcs, dxs war es schon. ein- oder zweimal, ein groRer, starker Marln mi[ goben MirteleuropEer in Birkenau. Da war die Studienfdtin, dic Gesichts~iigen,die zerstort und vcrhllen wirkren, wie die nach ihrcr Ankunt't in Auschwirz und angesictlts drr rau- Gesichter von Irren. Wenn ich seinen breicen Kiicken im chenden, flamrnenden Kamille nit Uberzeugung dozicrtc,

1IL) daR das Offensichtliche nichc moglich sei, denn man be- sofort einer abwertenden Bemerkung zu entkraften. Mit fin& sich im 20. Jahrhundert und in Mitteleuropa, also derartigen scheinbaren Zynismen hab ich schon manche in1 Herzen der zivilisierten Welt. Ich wein es no& wie fromnle seele irritiert, der solche lebensspendenden Weis- heUte: Ich fand sie Iacherlich, und zwar *iCht, weij an heiren nicht im Vernichtungslager kund geworden sind. den Massenmord nicht glauben wollte. Das war verstand. Vignette aus Birkenau. Ein Schullehrer, an den ich mit lick denn die Sache war in der Tar nicht ganz plausibel respektloser Ruhrung zuriickdenke, weil er Graser im Staub , (wozu alle Juden urnbringen?), und jeder Einwand kam der fand und sich und uns Kindern damit Gu- meiner zwolfjahrigen l.ebenshoffnung, beziehungsweise tes tun wollte. Geduldig nannte er die Graser beim Namen Todesangst, entgegen. Das Lacherliche waren die Griinde, und sagre, ))Seht ihr, sogar hier in Auschwitz wachsr emas das nlit der Kultur und dem Herzen Europas. Ich n1ochte Grfines,l(Fur mich aber waren Liesels Geschichten die leb- Kultur auch, soweir sie mir durch Biicher zuganglich ge- haftere Realic$t, und es war mir kein Trost, daran ZN denken, wesen war. glaubte aber nicht, daR sie verbindlich sei, dag das Gras uberdauern wiirde. Dieser Lehrer ist mir Gemeinschaft stiftete. Das humanistische Erbe, das die mir kein ))Siehscdu,( geworden. Wie denn auch? ))Siehst du, ich bekannten Ausziige aus der klassischen Literatur durch- leb doch Dann schon eher, wie immer zu den Toten, [rankt hatte, war lescnswert gewesen, abcr ich wunderte beschwichtigend, nKeiner lebt ewig. Ich komm such noch mich nicht, daR die Deutschen nichcs daraus gelernc zu dram<( haben schienen. Dariiber hab ich mir erst als Erwachsene, Zweite Vignette. Zwei Mznner vor einer Baracke screiten. und als mir gutging, Gedanken gemacht. Der didaktische ,,wasschreist du denn so?u sagc der eine. ))Regdich nicht auf. Anspruch dieser Literacur war mir unbekannt und scheint Fur dich brennt der Kamin genauso wie fiir mich.(( 150 mir such jeczt noch eine uberspitzte Forderung. Dichtung E~ gab Diskussionen, ob es technisch moglich sei, SO vide war nicht verbunden mic dem, was auRerhalb ihrer vor sich Menschen zu verbrennen, wie behauptet wurde. Die Opti- ging. Ihr Wert lag darin, daR sie trijsten konnte; dan rneinten, nur die, die eines mehr oder minder ))natiir- such lehren oder bekehren konne, hatte ich nie van ihr lichen(, Todes gestorben waren, wurden in den Kaminen erwartet. Nicht umsonst war ich mit meinem Vater Hand Gaskammern, das heiRt die eigene bevorstehende in Hand nach der Krisrallnacht die MariahilferstraRe in Errnordung, als Tagesrhema. Wien entlanggegangen. Dritte Vignette. Ein Aufseher, hintern1 Stacheldraht, der Jeder kennt heute den Spruch iiArbeit macht frei<(als M~~- mit einem Laib Brat am Ende eines Stockes herumspazierte. (0 einer morderischen Ironie. Es gab noch andere derarcige Was f

151 mei~lcMutter, ich bin ganz entgeisrert, als ich sic damit srhr, gerrennt. Meine Mutter erinnerte sich, daR wir noch ein Pdar Sic muti sich freiwillig gemelder haben, fhr die Extra-Porcion Wo\lsocken hatten, holre sie und schickte sich an, sic uber Suppe. Fur mich. Ich will das nichr. '1" mir das "icht an, den ~~~h~ zu wcrfcn. I& mischte mich rill, ich kdnne besser mir. Meine Mutter weigerte sich, warf, warf Zwei alte Frauen strirten. Worre wechselnd standcn am gib kingang der Raracke. Ich sehc sie gesrikulieren ausge- schlecht, und die Socken blieben nben in1 Draht hangen. rnergelten Handen. Da kam eine dritte Frau, Rlockslcesre Bedaucrn& Worte auf beiden Seitcn. Vergebliche Geste. Am was inlrner, und stiefl den beiden die Kdpfe aneinandeL nachsten Tag waren die u~l~arischenFrauen weg, das Lager Die Brutaliriit dieser Drirtcn, die offefensichtlich dazu befugr stand Fespenstisch leer, im Draht hingen noch immer unscre war, war mir wie ein Schlag auf den eigenen Kopf. Socken. Schreck. Autldsung des lJmgangs uunter Menschen. Sparer hab ich mir gedacht, dieser Sclircck sei dumm oder naiv ge- wesen, es gab krgercs. Heurc denke ich wiedcr umgekchrt, diesel nlein Schreck war schon ganz richrig. Alre Frauen in Auschwitz, ihre Nacktheit ~~ndHilflosigkeit, die Bediirhisse Ich erzahlc nichts Ungewohnliches, wcnn ich sage, ich hgtte alrer Menschen, die geraubte Scham. Alre Frauen auf den "betall, wo ich war, Gedichte aufgesagt und verfagr. Viele Massenlatrinen, wie sch~vrrihnen dcr Srulllgang fie), odel. u-lnsassen haben'fiost in den Versen gefundei~,die sic am- umgekehrt, wie sic I)urchfall harten. Alles 6ffentlich. I)as wendig wuflten. Man fragt sich, worin denn das 'rrostlichc Korperliche so vie1 weniger selbstversrindlich 31s bci jungen an so eincm Aufsagen eigentlich besteht. Meistens werden Mensch und Kindern, und besonders bei dieser meinel Gedichre van religiiisem odcr weltanschaulichem Inhalt er- 3

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1) Unterkunft/MDSM 2) Staatliches Museum Auschwitz 3) Oswiecim Jewish Center