C. Zweite Phase: Von Der Segregationspolitik Zur Vertreibung Der Juden Aus NS-Deutschland (1938–1945) Und Vichy-Frankreich (1942–1944)
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C. Zweite Phase: Von der Segregationspolitik zur Vertreibung der Juden aus NS-Deutschland (1938–1945) und Vichy-Frankreich (1942–1944) I. „NS-Judenpolitik“ und Ministerialbürokratie in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich 1. Der Bruch: Ministerialbürokratie und Deportation der Juden Durch die Organisation der Deportation der Juden aus Deutschland und Frank- reich wurden die Verwaltungen beider Länder in den Vernichtungsprozess der europäischen Juden einbezogen. In diesem Kapitel soll nun erforscht werden, in welcher Weise und in welchem Ausmaß diese hieran mitwirkten, wobei die Ein- führung des „Judensterns“ als Vorstufe zur eigentlichen Deportation der jüdischen Bevölkerung zu sehen ist. Prolog: Die Einführung des „Judensterns“ Mit dem Pogrom gegen die Juden begann in Deutschland im November 1938 eine neue Phase in der „Judenpolitik“. Auf der Konferenz im Reichsluftfahrtministe- rium am 12. November 1938 schlug Heydrich vor, dass alle Juden „ein bestimmtes Abzeichen tragen“ müssten.1 Göring holte daraufhin Stellungnahmen verschiede- ner Reichsressorts ein, die sich demgegenüber jedoch ablehnend zeigten. Der „Reichsmarschall“ trug den Sachverhalt schließlich Hitler vor, der in dieser Frage entschied, dass der „Kennkartenzwang“ für die Juden eine „hinreichende“ „Kennt- lichmachung“ darstelle. In einem Schreiben teilte dieses Göring am 6. Dezember 1938 dem RMdI mit, das in der Folgezeit mit Hinweis auf die ergangene „Führer- entscheidung“ alle „Vorschläge“, ein „sichtbar zu tragendes Abzeichen“ für die Juden einzuführen, abweisen konnte.2 Im folgenden Jahr bemühte sich das Haupt- amt Sicherheitspolizei erneut, eine allgemeine „Kenntlichmachung der Juden“ 1 Stenographische Niederschrift der Besprechung vom 12. 11. 1938, abgedruckt in: IMG, Bd. XXVIII, S. 499–540, hier S. 534. 2 Cf. das Rundschreiben Stuckarts vom 7. 5. 1940, in: PA/AA, R 100.847, Bl. 235. So hatte es etwa einen entsprechenden „Vorschlag“ des Reichsverkehrsministers Julius Dorpmüller gegeben. Cf. hierzu sein Schreiben vom 30. 12. 1939 an das RMdI, in: PA/AA, R 100.847, Bl. 236 f. Zur gleichen Zeit kam auch etwa ein Vorschlag von der Reichspropagandaleitung der NSDAP. Cf. hierzu den Vermerk der Abt. II B vom 5. 12. 1939 für den Stabsleiter, in: BA, NS 18/1134, Bl. 93. Diese „Anregungen“ wurden etwa vom RMdI oder vom AA abgelehnt. Cf. neben dem genannten Rundschreiben Stuckarts vom 7. 5. 1940 auch das Schreiben des AA (i.A. Luther) vom 16. 5. 1940 an das RMdI, in: PA/AA, R 100.847, Bl. 238 f. 263-390 Kap. C Mayer.indd 263 08.02.2010 11:09:20 Uhr 264 C. Zweite Phase durchzusetzen.3 Doch hatte Hitler bereits bestimmt: „Abzeichen und Ähnliches täten es nicht. Er würde sich aber mit Himmler und Heydrich überlegen, wieweit man auf diese Weise, nachdem man das polnische Länd hätte, den größten Teil der jüdischen Bevölkerung nach dort oder in das Protektorat abschieben könne.“4 Auch in Frankreich hatte es Versuche gegeben, eine „Kennzeichnung“ der Ju- den einzuführen. Nachdem in Deutschland im September 1941 das Tragen des „Judensterns“ beschlossen wurde, beauftragte das RSHA seine Pariser Dienststel- le, bei der französischen Regierung anzufragen, ob diese bereit sei, eine vergleich- bare Maßnahme auch hier durchzuführen. Die Antwort war jedoch eindeutig: „Le Gouvernement français avait écarté la demande allemande et laissé aux Autorités occupantes l’entière responsabilité des mesures qu’elles ordonneraient en ce domaine.“5 Somit haben in einer ersten Phase die Vertreter des RSHA in beiden Ländern die Einführung eines „Kennzeichens“ für die Juden gefordert, ohne sich jedoch gegen den Widerstand der traditionellen Verwaltung durchsetzen zu können, wobei in Deutschland die Ablehnung Hitlers von ausschlaggebender Be- deutung war. Im Frühjahr 1941 wurde die Frage in Deutschland jedoch durch den Reichs- propagandaminister und Gauleiter von Berlin, Joseph Goebbels, erneut auf die Agenda gesetzt. Dieser hatte Hitler darum gebeten, dass alle in der Hauptstadt lebenden Juden deportiert werden sollten, um so seinen „Gau“ „judenfrei“ zu ma- chen. Die Einsprüche, insbesondere von Seiten der Ministerialbürokratie und aus Wirtschaftskreisen, führten jedoch dazu, dass Goebbels’ „Ansinnen“ nicht weiter verfolgt wurde. Aus diesem Grunde erklärte der Reichspropagandaminister am 21. April 1941, „daß man für die Juden von Berlin – die wir augenblicklich nicht herausbringen können, weil sie als Arbeitskräfte unentbehrlich seien – ein Ab- zeichen schaffen werde“.6 Goebbels beauftragte seinen Staatssekretär Leopold Gutterer damit, ihm Vorschläge zu dieser „Kennzeichnung“ zu machen: „Dieses soll entweder am Rockaufschlag und Mantel oder in Form eines Ärmelstreifens getragen werden.“7 Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RVP) nahm daraufhin Kontakt zum Leiter des Amtes IV (Gestapo) des RSHA, SS-Brigadeführer Heinrich Müller, auf, der mitteilte, dass sich seine Dienststelle mit einem ähnlichen Vorschlag bereits im Herbst 1940 an den Stellvertreter des Führers sowie an Göring gewandt habe.8 Der Reichsamtsleiter im RVP, Walter Tießler, trug diesen Sachverhalt am 26. April 1941 Goebbels vor, der entschied, 3 Cf. hierzu den Vermerk der Reichpropagandaleitung der NSDAP, Abt. II B, vom 5. 12. 1939 für den Stabsleiter, in: BA, NS 18/1134, Bl. 93. 4 Heeresadjutant bei Hitler 1938–1943. Aufzeichnungen des Majors Engel. Hrsg. von Hil- degard von Kotze. Stuttgart 1974, S. 65 (Eintrag vom 8. 10. 1939). 5 Vermerk des Officier de Liaison der D.S.A. bei der D.G.T.O. vom 30. 5. 1942 für die D.S.A, in: AN, F60 357. 6 Protokoll der 11-Uhr-Konferenz im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propa- ganda (RVP) vom 21. 4. 1941, in: BA, R 55/20001g, Bl. 55. Zu den Juden in der Rüstungs- industrie cf. Hilberg: Vernichtung, Bd. II, S. 459–464. 7 Vermerk des Reichsamtsleiters im RVP, Walter Tießler, vom 21. 4. 1941, in: BA, NS 18/1134, Bl. 73 oder Bl. 889. 8 Cf. hierzu das Schreiben des Leiters des Sachgebietes „Rassefragen“ des RVP, ORR Eber- hard Taubert, vom 22. 4. 1941 an Tießler, in: BA, NS 18/1134, Bl. 888. 263-390 Kap. C Mayer.indd 264 08.02.2010 11:09:20 Uhr I. „NS-Judenpolitik“ und Ministerialbürokratie 265 dass die Frage mit den Vertretern des „Braunen Hauses“ in München verhandelt und dann Hitler vorgetragen werden sollte.9 Dort war Oberregierungsrat Herbert Reischauer mit der Sache befasst, der die Vorschläge des RSHA und des RVP ko- ordinierte und gleichzeitig die Einwände Görings in dieser Angelegenheit berück- sichtigte.10 Am 17. August 1941 schließlich, nachdem sich alle Beteiligten auf eine gemeinsame Vorgehensweise geeinigt hatten, sprach Goebbels bei Hitler vor und erklärte diesem, dass die „Kennzeichnung der Juden“ notwendig sei, um so die Gefahr zu beseitigen, „dass die Juden sich als Meckerer und Miesmacher betätigen können, ohne überhaupt erkannt zu werden“.11 Goebbels verfolgte mit seinem Handeln ein klares Ziel: „Wird dieses Zeichen von jedem Juden getragen, so kön- nen die Juden sich sehr bald im Zentrum unserer Städte nicht mehr sehen lassen. Sie werden aus der Öffentlichkeit herausgedrängt.“12 Der Propagandaminister konnte sich mit seiner Argumentation bei Hitler durchsetzen und besaß nun die Vollmacht, „für alle Juden im Reich ein grosses sichtbares Judenabzeichen“ ein- zuführen.13 Diese Verhandlungen im Frühjahr und Sommer 1941 fanden völlig ohne Betei- ligung der traditionellen Verwaltung statt. Das RMdI etwa erfuhr erst auf einer Konferenz im RVP am 15. August 1941, dass es Pläne des RSHA und des Propa- gandaministeriums gab, eine entsprechende Entscheidung bei Hitler zu erwirken. Wütend schrieb Lösener am 18. August 1941 – ohne zu wissen, dass es längst zu spät war – in einem Vermerk an Stuckart, dass es sich hierbei um einen Versuch handele, „den wichtigsten Teil der Federführung, nämlich die Erörterung und Prü- fung der Notwendigkeit u. Zweckmäßigkeit von Maßnahmen in der Judenfrage zum Prop[aganda]Min[isterium] zu ziehen und durch baldigen alleinigen Vortrag des Herrn Reichsministers Dr. Goebbels beim Führer die Ansichten des Prop.Min. durchzudrücken und insoweit vollendete Tatsachen zu schaffen.“ Gleiches gelte für das in dieser Frage beteiligte RSHA. Lösener erkannte sehr deutlich die angewand- te Taktik des Reichssicherheitshauptamtes: „Nachdem ein Versuch dieses Amtes, einen solchen Antrag beim Reichsmarschall über den GBV14 durch zusetzen, daran gescheitert war, daß die Reichskanzlei unsere Stellungnahme einholte und es dar- 9 Cf. den Vermerk Tießlers vom 25. 4. 1941, in: BA, NS 18/1134, Bl. 69 oder 887. 10 Cf. hierzu das Fernschreiben Reischauers vom 24. 5. 1941 an Tießler, in: BA, NS 18/1134, Bl. 880. Zu den Verhandlungen cf. Fernschreiben Tießlers vom 30. 4. 1941 an die Partei- kanzlei in München (z.Hd. Pg. Witt), in: Ibid., Bl. 75 oder 893; Fernschreiben Tießlers vom 16. 5. 1941 an Witt, in: Ibid., Bl. 883; Fernschreiben Witts vom 16. 5. 1941 an Tießler, in: Ibid., Bl. 881; Vorlage Tießlers vom 21. 4. 1941 und 25. 4. 1941, in: Ibid., Bl. 887 und 889. 11 So Goebbels’ Tagebucheintrag vom 19. 8. 1941, in: Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 1. Hrsg. von Elke Fröhlich. München 1996, S. 265. Cf. auch die Vorlage vom 17. 8. 1941 für Goebbels zum Vortrag bei Hitler, in: BA, NS 18/1133, Bl. 4. 12 Goebbels’ Tagebucheintrag vom 20. 8. 1941, in: Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 1, S. 278. 13 Goebbels’ Tagebucheintrag vom 19. 8. 1941, in: Ibid., S. 265. Longerich: Die Deutschen und die Judenverfolgung, S. 163–167 ordnet die Einführung einer „Kennzeichnung“ der Juden vor allem in den Kontext der Unruhe der Bevölkerung aufgrund der Ermordung von Anstaltsinsassen sowie der ausbleibenden Siegesmeldungen des Krieges gegen die Sowjetunion ein. 14 Wilhelm Frick war Generalbevollmächtigter für die Reichsverwaltung. 263-390 Kap. C Mayer.indd 265 08.02.2010 11:09:20 Uhr 266 C. Zweite Phase aufhin ablehnte, den Antrag an den Reichsmarschall weiterzuleiten, wird jetzt der Weg über Reichsleiter Bormann zum Führer gewählt, wodurch unsere Ausschal- tung u[nd] die der Reichskanzlei für sichergestellt gehalten wird.“15 Ohne die Ausführungen Eichmanns auf der Sitzung vom 15. August 1941 hätte Lösener von diesem Plan nichts erfahren. Offiziell lag zu diesem Zeitpunkt die Federführung in der Frage der „Kennzeichnung“ der Juden noch beim RMdI.