Schweizer Sicherheitspolitik Im Umbruch: Der Bericht 2000 Vor Dem Hintergrund Des Kosovo-Konflikts Von Jon A
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Schweizer Sicherheitspolitik im Umbruch: Der Bericht 2000 vor dem Hintergrund des Kosovo-Konflikts von Jon A. Fanzun und Andreas Wenger Einleitung 1999 war nicht nur für die schweizerische Sicherheitspolitik ein bewegtes und vielleicht richtungsweisendes Jahr. Auch auf internationaler Ebene waren die ver- gangenen Monate reich an sicherheitspolitisch relevanten Ereignissen. Aus Schweizer Perspektive begann das Jahr durchaus hoffnungsvoll, denn der aussen- politische Druck auf die Schweiz nahm in zweierlei Hinsicht ab: Erstenskonnten die bilateralen Verträge mit der Europäischen Union nach über vierjährigen Ver- handlungen erfolgreich abgeschlossen werden. Zweitensregelten die Schweizer Banken die letzten Details des Vergleichs mit den Vertretern der jüdischen Sam- melkläger und des World Jewish Congress. Ende Januar beruhigte sich die ange- spannte aussenpolitische Situation merklich, doch nicht für lange. Bereits im Februar rückten als Folge der Verhaftung des Kurdenführers Abdullah Öcalan die Gewaltaktionen und Demonstrationen der Kurden in Bern, Genf und Zürich das Thema der inneren Sicherheit in den Brennpunkt der öffent- liche Debatte. Nach Eingang entsprechender Gesuche der Kantonsregierungen beschloss der Bundesrat, die Polizeikräfte im Hinblick auf weitere mögliche Gewaltakte durch einen subsidiären Sicherungseinsatz der Armee zu unterstützen. Mit dem Beginn der Nato-Luftangriffe auf die Bundesrepublik Jugoslawien Ende März rückten dann aber schlagartig die Entwicklungen rund um den Kosovo in das Zentrum des öffentlichen Interesses.1Im Rahmen der schweizerischen Debatte intensivierte der Krieg im Kosovo das Spannungsfeld zwischen Neutralität und internationaler Kooperation.2 * Die Autoren danken Béatrice Eigenmann und Daniel Möckli für die Durchsicht des Manuskripts. 1 Siehe zum Kosovo-Konflikt allgemein: Reiter, Erich (Hrsg.). Der Krieg um das Kosovo 1998/99. Mainz 2000; Roberts, Adam. NATO’s Humanitarian War’ over Kosvo. In:Survival 3 (1999): S. 102-123. Für einen Überblick über die Vorgeschichte des Konflikts siehe: Judah, Tim. Kosovo’s Road to War. In: Survival2 (1999): S. 5-18. Für die völkerrechtlichen Aspekten des Konflikts siehe: Lutz, Dieter S. (Hrsg.). Der Koso- vo-Krieg. Rechtliche und rechtsethische Aspekte.Baden-Baden 1999/2000; Saxer, Urs. Kosovo und das Völkerrecht. Ein Konfliktmanagement im Spannungsfeld von Menschenrechten, kollektiver Sicherheit und Unilateralismus.Basler Schriften zur europäischen Integration Nr. 42/43 1999. Für die Lehren und Folgen des Konflikts für die europäische Sicherheitspolitik siehe: Spillmann, Kurt R./Krause, Joachim (Eds.), with the assistance of Claude Nicolet. Kosovo: Lessons Learned for International Cooperative Security.Bern et al. 2000. 2 Siehe dazu: Gabriel, Jürg Martin. Schweizerische Aussenpolitik im Kosovokrieg. (forthcoming) Bulletin2000zur schweizerischen Sicherheitspolitik 10 AKTUELLE DISKUSSION Die Schweiz bekam die Folgen des Kosovo-Konflikts insbesondere in Form einer massiven Zunahme von Flüchtlingen zu spüren. Bereits Ende 1998 beschloss der Bundesrat, die Armee für die Betreuung der grossen Zahl von Asylsuchenden einzusetzen, da die zivilen Kapazitäten erschöpft waren. Angesichts der humanitä- ren Katastrophe im Kosovo engagierte sich die offizielle Schweiz auch direkt im Krisengebiet. So stellte sie kurz nach Beginn der Luftangriffe dem Uno-Hoch- kommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) drei Helikopter für Hilfseinsätze zur Ver- fügung und leistete im Rahmen der Aktion „Focus“ humanitäre Hilfe. Auf militä- rischer Ebene stand die Entsendung der sogenannten „Swiss Company“ (Swisscoy) im Rahmen der multinationalen Kosovo-Force(Kfor) zur Befriedung und zum Wiederaufbau des Kosovo im öffentlichen Rampenlicht.3 Parallel zum Abflauen der Konflikte Mitte des Jahres und von der breiteren Öffentlichkeit nur wenig beachtet, stellte der Bundesrat am 10. Juni 1999 den neuen sicherheitspolitischen Bericht unter dem Motto „Sicherheit durch Ko- operation“ vor.4Die Veröffentlichung des Berichts bildete den Abschluss eines längeren Prozesses, der mit der Einsetzung der Studienkommission für strategi- sche Fragen (Kommission Brunner) ihren offiziellen Anfang genommen hatte. Weitere Etappen waren die Veröffentlichung des Berichts der Studienkommission mit anschliessender Vernehmlassung sowie die Festlegung sicherheitspolitischer Leitlinien durch den Bundesrat im September 1998.5 Mittlerweile hat der Nationalrat den Bericht zustimmend zur Kenntnis genommen, und die Nachfolge- arbeiten an der Armeereform XXI und der Reform des Bevölkerungsschutzes lau- fen auf Hochtouren. Damit scheint ein guter Zeitpunkt gegeben, um erste Gedan- ken zum Stellenwert des Berichts im Rahmen der vergangenen und künftigen Entwicklung der schweizerischen Sicherheitspolitik zu Papier zu bringen. In einem erstenTeil wird der Bericht 2000 in seinen Grundzügen skizziert und eine kurze Zusammenfassung seiner Hauptaussagen vorgenommen. In einem zweitenTeil wird der Bericht einer genaueren Beurteilung unterzogen. Hierbei geht es einerseits darum, die aktuelle Konzeption in einen historischen Zusam- menhang zu stellen und die Kontinuitäten und Veränderungen im Vergleich zu den bisherigen sicherheitspolitischen Berichten der Schweiz herauszuarbeiten. 3 Siehe für eine Zusammenstellung wichtiger sicherheitspolitischer Ereignisse des vergangenen Jahres die Chronologie zur schweizerischen Sicherheitspolitik in diesem Bulletin. Diese ist auch im Internet verfüg- bar unter: http://www.spn.ethz.ch/chrono.htm. 4 Sicherheit durch Kooperation. Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Sicherheits- politik der Schweiz (SIPO B 2000) vom 7. Juni 1999 (Sonderdruck), nachfolgend als Bericht 2000 zitiert. 5 Bericht der Studienkommission für strategische Fragen (Kommission Brunner). Bern, 26. Februar 1998; Politische Leitlinien für den sicherheitspolitischen Bericht 2000. Sicherheit durch Kooperation. Bern, 14. September 1998. Bulletin 2000zur schweizerischen Sicherheitspolitik AKTUELLE DISKUSSION 11 Andererseits wird der Bericht inhaltlich auf die drei Dimensionen der Risikoana- lyse, der sicherheitspolitischen Interessen, Ziele und Strategien sowie der Instru- mente und Aufgaben der Sicherheitspolitik analysiert. Ein dritterTeil befasst sich mit dem sicherheitspolitisch bedeutendsten Ereignis auf internationaler Ebene, dem Kosovo-Konflikt. Dabei wird die Kosovo-Politik der Landesregierung gleich- sam als erster Testfall für die Umsetzung der neuen Sicherheitskonzeption analy- siert, die bereits damals in ihren Grundzügen feststand. Der Artikel endet mit einem Ausblick auf die zentralen Herausforderungen im Rahmen der künftigen Umsetzung der neuen sicherheitspolitischen Strategie. 1 Der sicherheitspolitische Bericht 2000 Der aktuelle sicherheitspolitische Bericht stellt nach den Berichten der Jahre 19736 und 19907die dritte umfassende Sicherheitskonzeption dar, welche die sicher- heitspolitische Strategie der Schweiz in einen einheitlichen konzeptionellen Rahmen stellt.8Der Publikation des Berichts war eine breit angelegte Vorberei- tungsphase vorausgegangen, die unter anderem das Ziel verfolgte, eine sicher- heitspolitische Diskussion in der Bevölkerung auszulösen und den innenpoliti- schen Spielraum für die Formulierung einer neuen sicherheitspolitischen Strategie auszuloten.9 Zu Beginn des Berichts erläutert der Bundesrat, weshalb eine Neuformulie- rung der schweizerischen Sicherheitskonzeption notwendig sei. Er stellt fest, dass die Möglichkeiten einer autonomen Bewahrung der eigenen Sicherheit einerseits 6 Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Sicherheitspolitik der Schweiz (Konzeption der Gesamtverteidigung) vom 27. Juni 1973 (Sonderdruck), nachfolgend als Bericht 73 bezeichnet. 7 Schweizerische Sicherheitspolitik im Wandel. Bericht 90des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Sicherheitspolitik der Schweiz vom 1. Oktober 1990 (Sonderdruck), nachfolgend Bericht 90 genannt. 8 Diese Aufzählung vernachlässigt den Zwischenbericht zur Sicherheitspolitik von 1979 sowie den Bericht über die Friedens- und Sicherheitspolitik der Schweiz von 1988. Diese beiden Dokumente sind unter dem Gesichtspunkt der sicherheitspolitischen Konzeptionierung von geringerer Bedeutung. Während der Bericht von 1979 im grossen und ganzen die Konzeption von 1973 bestätigte, enthielt der Bericht aus dem Jahre 1988 im wesentlichen eine Zusammenstellung der bis dahin geleisteten schweizerischen Beiträge zur internationalen Friedenssicherung. 9 An dieser Diskussion beteiligten sich verschiedene Gruppierungen und Einzelpersonen mit Stellungnah- men zum Bericht Brunner sowie mit eigenen sicherheitspolitischen Entwürfen. Siehe dazu u. a.: Spillmann, Kurt R./Wenger, Andreas/Fanzun, Jon A./Lehmann, Patrick. Der Bericht Brunner: Impulse und Reaktio- nen. In: Bulletin zur Schweizerischen Sicherheitspolitik(1999): S. 9-34; SIPO 2000: Erwartungen an den nächsten sicherheitspolitischen Bericht. Arbeitsgruppe Sicherheitspolitik. Beiträge der Forschungsstelle für Internationale Beziehungen 16. Zürich 1998; Von der Lagebeurteilung zur Strategie: Gedanken zur Schweizer Sicherheitspolitik der Zukunft. Verein Sicherheitspolitik und Wehrwissenschaft (VSWW). Zürich, Mai 1998; Däniker, Gustav. Sicherheit durch Kooperation. Zum Konzept der neuen Sicherheitspo- litik. In: ASMZ1 (1999): S. 7-9; Für eine wirksame Friedens- und Sicherheitspolitik als Teil einer solida- rischen Aussenpolitik. Grundlagenpapier der SP Schweiz. Vom Parteivorstand der SP Schweiz verabschie- det am 6. Juni 1998; Blocher, Christoph. Strategischer Wandel: