532 Kapitel 109: Metalle und Metalloide

Eisen(III)-hexacyanoferrat(II) (Radiogardase®) Kapitel 110 Leichter lassen sich die alten Bezeichnungen Fer- Toxikologie von riferrocyanid oder Preußisch-Blau aussprechen. Die Verbindung wird p.o. gegeben, aber nicht re- Publikumsmitteln sorbiert und bindet Cäsium oder Thallium, das sich noch im Darm befindet oder in den Darm Publikumsmittel sind Erzeugnisse, mit denen ausgeschieden wird. Ist die Magenentleerung ge- Menschen außerhalb der Arbeitswelt umgehen. stört, muss das Mittel durch eine Duodenalson- Einige von ihnen können toxisch wirken. Die Er- de appliziert werden. Die bei Thalliumvergiftung fahrung lehrt, dass es zur Vermeidung von Ver- herabgesetzte Darmperistaltik muss gefördert giftungen nicht ausreicht, Warnsymbole auf den werden. Bei ausreichender Peristaltik gibt man Behältnissen anzubringen, sondern dass es besser eine Anfangsdosis von 3 g, danach zweistündlich ist, gefährliche Stoffe entweder gar nicht mehr zu 0,5 g. produzieren (oder einzuführen) oder nur zur Ver- wendung durch Fachbetriebe zuzulassen, den Er- Calcium-trinatrium-pentetat (Ditripentat®) werb durch Laien aber zu unterbinden. In dieser Richtung bewegt sich die nationale Die Verbindung ist nur noch für die Dekorporati- und europäische Gesetzgebung. Sehr gefährliche on von Transuranen (Plutonium, Americum, Cu- Stoffe wie das Herbizid Paraquat, stark wirksa- rium) zugelassen. Sie bleibt im extrazellulären me Organophospat-Insektizide, auch viele Or- Raum. ganochlorid-Herbizide sind bereits vom Markt ● Bei “alternativ-medizinischem Gebrauch” ist verschwunden, andere werden folgen. mit Nekrosen an den Nierentubuli und mit Eine Übersicht über Vergiftungen auch durch Zinkmangelerscheinungen zu rechnen. Publikumsmittel hat das Bundesinstitut für Risi- kobewertung publiziert1. Zu den Publikumsmitteln zählen - Mittel gegen Bakterien (Desinfektionsmittel), - Mittel gegen Pilze (Fungizide), - Mittel gegen Insekten (Insektizide), - Mittel gegen Weichtiere (Würmer, Schnecken und Muscheln), - Mittel gegen Nagetiere (Ratten, Mäuse, Wühl- mäuse) (Rodentizide), - Reinigungsmittel (Detergentien, Säuren und Laugen, Entkalker), - “Hobby”-Mittel (Klebstoffe, Malerfarben, “Terpentin-Ersatz”, Löt-Flüssigkeiten), - Öle (Lampenöle, ätherische Öle), - Gewürze.

Säuren und Laugen Zu den überaus gefährlichen Verbindungen gehören nicht nur Salzsäure, Schwefelsäu- re und Natronlauge (meist als “Reinigungsmit- tel” gebraucht), sondern auch Ammoniak und konzentrierte Essigsäure. Reiniger, die 23 % Sal- petersäure enthalten, sind in Deutschland verbo- ten, aber der “Ameisenimport” aus dem Ausland ist nicht auszuschließen. 533 Kapitel 110: Toxikologie von Publikumsmitteln

Rohrreiniger Organische Lösemittel Rohrreiniger enthalten Natrium- oder Kaliumhy- Ethanol, Isopropanol und Aceton werden folgen- droxid in hoher Konzentration und sind, wenn sie los metabolisiert und verlangen, wenn in kleiner in den Mund gelangen, extrem gefährlich. Wie Menge eingenommen, in der Regel keine mas- reine Natron- oder Kalilauge erzeugen sie eine sive Therapie. Zur Therapie der Methanolvergif- Kolliquationsnekrose. Rohrreiniger werden in tung und Ethylenglykolvergiftung s. Kap. 107. In Flaschen mit einem “kindersicheren” Verschluss Haushalten mit Kindern sollten sich keine Pub- verkauft. Die Erfahrung lehrt, dass findige Enkel likumsmittel befinden, die Methanol oder Ethy- ihrer Oma zeigen können, wie man solche Ver- lenglykol (in Frostschutzmitteln) enthalten. schlüsse öffnet. Lampenöle, Benzin, Paraffinöl Entkalker Das Trinken einer auch nur kleinen Menge Ben- Die zugelassenen Entkalker enthalten schwache zin, von leichtem Paraffinöl in Massageölen, vor organische Säuren und sind heute nicht mehr ge- allem aber von Lampenölen (“Petroleum”) – bei fährlich. Kleinkindern schon das Saugen am Docht einer Öllampe – führt zu Seifen, Tenside ● schwerer Aspirationspneumonie. Mehrere Gefährlich ist das Einatmen von Schaum. Si- Todesfälle sind bis in die Gegenwart hinein meticon (flüssige Arzneizubereitungen, alsLefax gemeldet! Das Bundesinstitut für Risikobewer- Pump-liqid® oder Sab simplex®) ist ein Ent- tung hat hierzu ausführlich Stellung genom- schäumer, der – p.o. gegeben – die Schaumbil- men und für Lampenöle eine streng restriktive dung beim Erbrechen und Schreien der Kinder Gesetzgebung eingefordert2. verhindern kann. Ätherische Öle Geschirrspülmittel Ätherische Öle werden nicht nur in der alterna- sind heute nur gefährlich, wenn sie Schaum bil- tiven Medizin (Aromatherapie), sondern auch den können. aus anderer Motivation offen in der Wohnung aufgestellt. Das Bundesinstitut für Verbraucher- Desinfektionsmittel schutz hat zu den damit verbundenen Gefahren Stellung genommen3. Bewusstseinsverlust und Zu den aggressiven Mitteln zählen Aldehyde, Krämpfe sind Symptome der akuten Vergif- einige Phenolderivate, ferner starke Oxidanti- tung. Sie wird symptomatisch behandelt. Länger en wie Peressigsäure oder Natriumhypochlorit. dauernde Exposition: Die Verbindungen Safrol, Diese Desinfektionsmittel tragen Warnaufkleber. Methyleugenol und Estragol stehen im Verdacht, Sie verätzen die Haut und beim Verschlucken die Carcinogene zu sein. Schleimhäute. Die Schäden werden ähnlich wie eine Säureverätzung behandelt. Benzalkoniumchlorid ist ein Gemisch von Pestizide: Mittel gegen Pilze, Algen, quaternären Ammoniumverbindungen verschie- “Unkräuter”, Insekten, Milben, dener Kettenlänge. Es wirkt gegen Bakterien, Würmer, Schnecken und Nagetiere Pilze, Algen und Hefen, indem es sich mit sei- nen Alkylresten in den Zellmembranen löst und Nomenklatur: Es wirken Fungizide gegen Pilze, die Membranen permeabel macht. Es wird zur Algizide gegen Algen, Herbizide gegen Pflanzen, Flächendesinfektion verwendet, auch zur Algen- Insektizide gegen Insekten, Akarizide gegen Mil- bekämpfung in Schwimmbecken. In mehr als ben, Nematozide gegen Würmer, Molluskizide einprozentiger Lösung greift es die Schleimhäu- gegen Schnecken, Rodentizide gegen Nagetiere, te an. Vermizide gegen Würmer. 534 Kapitel 110: Toxikologie von Publikumsmitteln

Gemeinsames fung ausgebracht. Kleinkinder und Haustie- re sind gefährdet. Die Wirkung setzt wie bei ○ Viele Pestizide wirken nicht nur gegen eine Phenprocoumon (Kap. 35) langsam ein. Je frü- Klasse von Lebewesen, können also z. B. ge- her die Aufnahme wahrgenommen wird, desto gen Algen und Pflanzen wirken. erfolgreicher ist die Therapie mit Vitamin K. Bei ○ Die als Publikumsmittel zugelassenen Pesti- fortgeschrittener Vergiftung hilft nur die Trans- zide haben mit wenigen Ausnahmen eine ge- fusion der fehlenden Gerinnungsfaktoren. ringe Toxizität beim Menschen, aber oft eine ► Pyrethroide. Die Verbindungen werden the- hohe Toxizität gegen erwünschte Pflanzen rapeutisch zur Bekämpfung von Läusen und (Gartenblumen, Gemüse) und Tiere (Hunde, Krätzemilben eingesetzt und sind mit diesen Katzen, Vögel, Bienen, Fische). Indikationen Arzneimittel. Zugelassen sind hier ○ Es gibt ungefähr 40 Substanzen, die in Pu- nur die Extrakte der nativen Pyrethroide aus blikumsmitteln zugelassen sind4, aber weit Chrysanthemen-Blüten (mit Allethrin, Gold- mehr als 40, die nicht in Publikumsmitteln ent- geist forte®) und das synthetische Permetrin halten sind, sondern nur in Arbeitsmitteln der (in InfectoPedicul extra®, Infectoscab®, Struk- Land- und Forstwirtschaft und in Präpara- turen:5). Die Pyrethroide mit erheblich höhe- ten für geprüfte Schädlingsbekämpfer. Zwar rer Potency dürfen nur gewerblich genutzt führt ihre Beschreibung hier zu weit, aber es werden. – Pyrethroide werden von Menschen ist notwendig zu wissen, dass diese Verbin- kaum durch die Haut aufgenommen, aber sie dungen zu schweren Unfällen führen kön- passieren sehr gut das Integument von In- nen. Dies gilt besonders für Organophosphate sekten. Sie binden in spannungsabhängigen mit hoher Toxizität und für Entwesungsgase. Na+-Kanälen, halten sie offen und verhindern Entwesungsgase dürfen nur in zuverlässig ge- so die Repolarisation von Neuronen. Pyreth- schlossenen Räumen (Laderäume von Schif- roide sind Ester und werden von Menschen fen und anderen Transportmitteln, Räume schnell hydrolysiert. Durch die schlechte Re- eines ganzen Gebäudes) eingesetzt werden, sorption und schnelle Metabolisierung sind Py- aber der Verschluss misslingt zum Beispiel, rethroide beim Menschen wenig toxisch, aber wenn übersehen wird, dass das Gebäude bei starker Exposition erzeugen sie auch bei durch einen Kanal oder einen verschütteten Menschen Parästhesien und Krämpfe. Die Be- oder geheimen Gang mit einem Wohngebäu- handlung ist symptomatisch. de in Verbindung steht. Schwere Vergiftungen ► Metaldehyd (Struktur:5). Metaldehyd tötet mit Todesfolge sind vorgekommen. Schnecken und wird als Fraßköder ausge- ○ Pestizide, die in Deutschland für den Publi- bracht. Ein einziges “Korn” wird im sauren kumsgebrauch nicht zugelassen sind, können Magensaft schnell zu Acetaldehyd hydroly- durch “Ameisenhandel” über die Grenze kom- siert und zu Essigsäure oxidiert. Eine größe- men. Daran ist bei Vergiftungen von Migranten re Menge erzeugt Erregung, Tremor, Ataxie, zu denken. Hyperthermie, Speichelfluss, Erbrechen und ○ Auch gegen Pestizide bilden sich Resistenzen. Durchfall, bei Haustieren (Hunden) auch Beispiel: Resistenzbildung bei Ratten gegen Krämpfe. Die Therapie ist symptomatisch. Antikoagulantien von Dicumaroltyp. ► Zink- und Aluminiumphosphid. Die Verbin- dungen werden zum Begasen von Nagetier- Einzelstoffe gängen (Wühlmausgänge, Mausgänge usw.) ► Organophosphate (z. B. Dimethoat) und eingesetzt. Die Bodenfeuchtigkeit setzt Phos- Carbamate (z. B. Methiocarb, Propamocarb). phorwasserstoff aus den Verbindungen frei. – Siehe Kap. 63 zur Vergiftung durch Hemmstof- Nach oraler Aufnahme wird aus den Salzen im fe der Acetylcholin-Esterase und die Therapie Magen durch die Magensäure schnell der sehr der Vergiftung. toxische Phosphorwasserstoff freigesetzt, und ► Antikoagulantien (z. B. Bromadiolon). Die Mittel der wird so schnell resorbiert, dass die Gabe werden in Fraßködern zur Nagetier-Bekämp- von Aktivkohle oder Oxidationsmitteln in der 535 Kapitel 111: Toxine aus Einzellern (Bakterien, Dinoflagellaten)

Regel zu spät erfolgt. Phosphorwasserstoff ist Kapitel 111 ein starkes Reduktionsmittel. Er hemmt u. a. die Cytochrom-c-oxidase, wodurch die Entste- Toxine aus Einzellern hung von Superoxidradikalen begünstigt wird. (Bakterien, Dinoflagellaten) Die Radikale oxidieren Lipide in allen Zell- membranen, klinisch entwickelt sich ein Multi- Bakterien und Dinoflagellaten bilden Toxine, die organversagen. bei mehrzelligen Lebewesen entweder auf Struk- Leitsymptom einer Phosphorwasserstoffvergif- turen in der Plasmamembran oder auf intrazellu- tung ist eine Hypotonie, die auf Dopamin-Infu- läre Strukturen wirken1. sion nicht anspricht. Bei leicht bis mittelschwer vergifteten Patienten treten Übelkeit, Erbre- chen, Bauchschmerzen, Doppeltsehen und Toxine mit Wirkung auf Ataxie auf. Ein Antidot ist nicht bekannt. Strukturen der Plasmamembran ► Glyphosphat ist das heute am häufigsten ein- Lipopolysaccharide (LPS) gesetzte Herbizid. Bei bestimmungsgemäßem aus gramnegativen Erregern aktivieren Makro- Gebrauch sind die kommerziellen Produk- phagen und Monocyten2. te nicht gefährlich. Suizidversuche (häufig im Ausland) haben jedoch zum Tod geführt6. Die ► Struktur3: Ein Polysaccharid endet in einem Di- Vergiftungssymptome sind unspezifisch: Übel- saccharid, dessen OH-und NH2-Gruppen mit keit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Schwindel, langkettigen Fettsäuren verestert sind. Diese Tachypnoe, Oligurie. Tod durch zunehmende Endstruktur heißt Lipid A. Unterschiedliche Er- Hypotension. – Glyphosat wird kaum metaboli- reger haben auch unterschiedliche LPS. siert und mit 3,1 h HWZ renal unverändert aus- ► Funktion: Lebende Erreger tragen die LPS als geschieden. stabilisierende Elemente in ihrer Zellmembran und geben sie nicht aus der Membran ab. Erst bei Desintegration abgestorbener Erreger wer- den die LPS freigesetzt. ► Mechanismus und Wirkung: Die LPS kombi- nieren mit dem Serumprotein LBP, der Kom- plex besetzt auf der Zelloberfläche die beiden Proteine CD 14 und TRL4. TRL4 ist der signal- gebende Rezeptor. Er startet eine maximale Aktivierung der Makrophagen und Monocyten. Große Mengen vieler Cytokine werden freige- setzt. Sie können einen septischen Schock auslösen.

Superantigene aus grampositiven Erregern aktivieren T-Lym- phocyten4 (siehe hierzu auch Kap. 39). Klinisch relevante Superantigene werden u. a. von Staphy- lococcus aureus und Streptococcus pyogenes pro- duziert. Sie sind relativ klein (20-30 kDa), was für ihren Wirkungsmechanismus wichtig ist: Sie reagieren zunächst mit dem MHC II einer anti- genpräsentierenden Zelle (auch mit einem MHC II, der noch kein Peptidfragment präsentiert), dann mit der Vβ-Struktur eines T-Lymphocyten, 536 Kapitel 111: Toxine aus Einzellern (Bakterien, Dinoflagellaten)

Toxine mit Wirkung Aktivierende Toxine Lipololysaccharide, auf die Plasmamem- Superantigene, bran E. coli hitzestabile Toxine Porenbildende Toxine Staphylokokken-α-Toxin, cholesterinabhängige Toxine Toxische Enzyme Phospholipasen C aus Clostridi- um perfringens, Pseudomonas aeruginosa Toxine aus maritimen Ein- , zellern , Brevetoxine, Ciguatoxine, Maitotoxin, Azaspirazide, Palytoxin Toxine mit intrazellulä- Toxine mit Wirkung auf die Shigatoxin rer Wirkung rRNA Toxine mit Wirkung Diphtherietoxin, auf die Proteinsynthese Pseudomonas aeruginosa-Exo- toxin A, Botulinum C2-Toxin Toxine mit Wirkung auf die Botulinum C3-Toxin, G-Proteine Rho Clostridium difficile-Toxin, E. coli-Toxine CNF1, CNF2 Bordetella-Toxin DNT Toxine mit Wirkung auf die Choleratoxin, G-Proteine Gs und Gi,o E. coli-Toxin LT, Pertussistoxin Toxische Proteasen mit Wir- Tetanustoxin, kung auf synaptische Pep- Botulinum-Neurotoxine tide Toxine und Toxinkombinatio- Toxine aus Bacillus anthracis, nen mit Mehrfachwirkung Toxine aus Erregern mit Typ III-Sekretionssystem (bei Yersi- nien)

Tabelle 111.1. Ordnung der in diesem Kapitel vorgestellten Toxine aus Einzellern.

die kurze Brücke hält MHC II und T-Zellrezeptor Freisetzung von Leukotrienen und Histamin aus- dauerhaft eng beieinander. Folge ist eine starke gelöst. Aktivierung von ca. 20 % aller T-Lymphocyten mit massiver Ausschüttung von Cytokinen, vor Hitzestabile Toxine (ST) allem von IFN-γ und TNF- α. Dies kann einen aus E. coli, besonders STa. Die STa sind zwei toxischen Schock auslösen. Die gastrointestina- chemisch ähnliche Peptide mit 18 oder 19 len Symptome werden anders, nämlich durch 537 Kapitel 111: Toxine aus Einzellern (Bakterien, Dinoflagellaten)

Aminosäuren5. Sie stimulieren eine Rezep- Toxine aus maritimen Einzellern tor-Guanylatcyclase in Darmepithelien. Der re- (Bakterien und Dinoflagellaten)9 sultierende Anstieg von cGMP führt über die Aktivierung einer Proteinkinase zur starken Ab- Diese Toxine werden von Menschen durch den gabe von Wasser und Elektrolyten in den Darm. Verzehr von Muscheln und Fischen aufgenom- Das Toxin ist (neben anderen) ursächlich an der men, aber von Muscheln und Fischen nicht pro- Diarrhoe bei Kleinkindern und bei Fernreisenden duziert, sondern von aquatischen Einzellern. Sie beteiligt. werden in der Nahrungskette angereichert und können in verschiedenen Spezies von Schalentie- Porenbildende Toxine6 ren und Fischen Konzentrationen erreichen, die für Menschen gefährlich sind. Diese Toxine werden u. a. von Staphylokokken (S. aureus), Streptokokken (S. pneumoniae, S. ● Diese Toxine hatten bis ungefähr 1990 für den pyogenes), Bacillus anthracis, Clostridium per- europäischen Fisch- und Schalentiermarkt fringens, Listeria monocytogenes und sehr vielen kaum Bedeutung. Das hat sich seither bedroh- anderen Erregern als Monomere in die Extra- lich geändert, weil Toxin-tragende Fische und zellulärflüssigkeit abgegeben. Sie bilden einen Schalentiere jetzt auch vor den europäischen At- Kontakt mit Zellen aus7, danach wandern meh- lantik- und Mittelmeerküsten gefangen werden. rere der so gebundenen Monomere zusammen und ordnen sich wie die Dauben eines Holzfas- Tetrodotoxin ses zu einer röhrenförmigen Struktur (“barrel-li- ► Struktur:10. ke structure”), die durch die Plasmamembran ► Herkunft: Tetrodotoxin wird durch Erreger der hindurchreicht und eine Pore bildet. Abhängig Arten Vibrio und Pseudomonas gebildet. Die vom Toxin sind die Poren unterschiedlich (1-50 Erreger leben als Gäste (Saprophyten) auf nm) groß. Aus den angegriffenen Zellen strömen vielen Meerestieren. Einige Wirts-Spezies von ­Ionen (und je nach Porengröße höhermolekulare Schalentieren und Fischen sammeln das pro- Stoffe) aus, Wasser und toxische Peptide treten duzierte Tetrodotoxin und benutzen es als An- ein, die Zelle stirbt ab. griffs- oder Abwehrwaffe. Menschen sind durch den Genuss der wohlschmeckenden Kugelfi- Toxische Enzyme8 sche gefährdet. Kugelfische können viel Tetro- Die wichtigen Verbindungen sind Phospholi- dotoxin enthalten – in den Ovarien besonders pasen C. Jede Bakterienspezies produziert ihre viel -, weshalb in Japan die Zubereitung durch individuelle Phospholipase C, und nicht alle eigens ausgebildete Köche erfolgt. Bis vor we- bakteriellen Phospholipasen C sind toxisch. Die nigen Jahren wurde angenommen, dass Ku- toxischen werden in die extrazelluläre Körper- gelfische im Mittelmeer nicht vorkommen. flüssigkeit hinein freigesetzt. Alle hydrolysie- ● Tetrodotoxin-tragende Kugelfische der Spe- ren Phosphatidylcholin, die toxischen zusätzlich zies Lagocephalus sceleratus wurden unge- Spingomyelin, Phosphatidylethanolamin oder fähr ab 2005 vor den Mittelmeerküsten Israels, Phosphatidylserin. In niedriger Konzentration des Libanon, der Türkei, Griechenlands und starten sie damit zuerst die Arachidonsäurekas- 2011 vor der tunesischen Küste gefangen. Die kade und führen dadurch zur Freisetzung von Spezies ist durch den Suezkanal in das Mit- Thromboxan und Leukotrienen. In ausreichend telmeer eingewandert und breitet sich schnell hoher Konzentration öffnen sie die Zellmembran aus. Schwere Vergiftungen sind bereits vorge- unstrukturiert, d. h. es entstehen keine struktu- kommen. Die Behörden der Anrainerstaaten rierten Poren, sondern primitive Löcher. haben die Köche der Fischrestaurants und die Meeresangler eindringlich gewarnt. Kennzei- ● Clostridium perfringens α-Toxin und chen: Die Fische haben lange Frontzähne und ● Pseudomonas aeruginosa-Toxin sind Phospho- heißen deshalb auch Hasenfisch oder Kanin- lipasen C, die über diese Mechanismen wirken. chenfisch. 538 Kapitel 111: Toxine aus Einzellern (Bakterien, Dinoflagellaten)

► Kinetik: Tetrodotoxin wird durch Kochen nicht Azaspirazide13 zerstört und gut aus dem Gastrointestinaltrakt ► Struktur:14. resorbiert. ► Herkunft: Azaspirazide werden durch Dinofla- ► Mechanismus: Tetrodotoxin bindet auf der Au- gellaten der Spezies Protoperidinium crassis ßenseite der Plasmamembran an spannungs- gebildet. Schalentiere an den europäischen abhängige Na+-Kanäle und verschließt sie. Atlantikküsten (Spanien, Frankreich, Nieder- Die Kanäle auf Neuronen sind empfindlicher lande, Irland, Nordengland, Norwegen), be- als die Kanäle auf dem Erregungsleitungssys- sonders aber die Speisemuschel Mytilus edu- tem im Herzen. lis reichern es an. ► Vergiftung: Die tödliche Dosis für Menschen liegt ► Mechanismus: Der Wirkungsmechanismus ist bei nur 10 µg/kg KG. Bei der Vergiftung ist der nicht geklärt, weil nicht genügend Substanz für Patient bei vollem Bewusstsein, motorisch ge- entsprechende Untersuchungen verfügbar ist. Es lähmt, das Herz-Kreislaufsystem aber zunächst hat den Anschein, dass eine Wirkung an Calcium- nur wenig beeinflusst. Vergiftete Patienten wer- kanälen am Anfang einer Reaktionskette steht. den bis zur Wiederherstellung einer ausreichen- ► Vergiftung: Die Azaspirazide erzeugen eine den Spontanatmung beatmet. Zum Zeitpunkt der schwere Gastroenteritis mit Nekrosen in der Diagnose hat das Toxin den Magen bereits ver- Lamina propria des Dünndarms und in lympha- lassen; Aktivkohle p.o. ist indiziert. tischen Organen (Thymus, Milz). Azaspirazide stehen im Verdacht, cancerogen zu sein. Saxitoxin ► Herkunft: Saxitoxin wird an der amerikanischen Palytoxin15 West- und Ostküste von Cyanobakterien und ► Struktur:16. Dinoflagellaten gebildet. Von europäischen ► Herkunft: Palytoxin wird von Dinoflagella- Küsten gibt es keine Berichte aus moderner ten der Gattung Protoperidinium gebildet und Zeit. Es wirkt wie Tetrodotroxin. von Korallen und Schalentieren angereichert. ► Struktur und Sonstiges:11. Es wurde in der östlichen Ägäis in Muscheln nachgewiesen. Es wird auch von Krusten­­­a­ne­ Brevetoxine monen (von „Meeresaquarianern“ gehalten) werden im Golf von Mexiko von Dinoflagellaten angereichert und bei Berührung abgegeben. der Spezies Karenia brevis gebildet, sind giftig ► Mechanismus: Palytoxin bindet an die Mem- für Fische und werden in Schalentieren angerei- bran-Na+/K+-ATPase und verwandelt sie in chert. Brevetoxine öffnen spannungsabhängige einen unspezifischen Kanal für einwertige Ka- Na+-Kanäle, weshalb z. B. an der neuromuskulä- tionen. Dadurch verlieren die Zellen ihr phy- ren Synapse die Frequenz der Miniaturendplat- siologisches Na+/K+-Ungleichgewicht. Eine tenpotentiale zunimmt. Vergiftungen verlaufen in Desorganisation des Actin wurde beobachtet. der Regel leicht. ► Vergiftung: Die Toxizität p.o. ist nicht bekannt, die parenterale Toxizität ist extrem (Bereich Ciguatoxine 25-100 ng/kg KG). Parenterales Palytoxin ver- ursacht extreme Schmerzen. Ciguatoxin-tragende Fische kommen in unseren Breiten nicht vor, aber die Ciguatera-Vergiftungen Bakterielle Toxine sind weltweit die häufigsten Fischvergiftungen. ► Struktur, Mechanismus, Klinik:12. mit intrazellulärer Wirkung Die hier interessierenden Toxine sind Proteine. Maitotoxin Eintritt in die Zielzelle wird von den gleichen Dinoflagellaten wie die Ciguatoxine gebildet. Es öffnet Ca++-Kanäle per- ► Direkte “Transfusion”: Die Bakterien lagern manent. sich an die Zielzellen an und schieben eine 539 Kapitel 111: Toxine aus Einzellern (Bakterien, Dinoflagellaten)

röhrenförmige Struktur durch deren Plasma- molekül, wenn es nur lange genug seinem Ab- membran in das Cytoplasma (Type III secre- bau entgeht, eine Zelle abtöten (Diphtherietoxin) tion system). Durch die Öffnung gelangen oder außer Funktion setzen kann (Neuroxine der bakterielle Toxine (die an der Röhrenbildung Clostridien). nicht beteiligt ist) in die Zelle. Pseudomonas aeruginosa, Salmonellen (mehrere Spezies) N-Glycosidasen mit und Yersinien (z. B. Yersinia enterocolytica) Wirkung auf die rRNA: Shiga-Toxin applizieren so ihre Toxine. Shiga-Toxin hat durch eine Erkrankungswelle in ► Endocytose. Viele Toxine werden durch En- Norddeutschland im Sommer 2011 große Auf- docytose in die Zelle transloziert. Sie nutzen merksamkeit erfahren18, aber nicht alle dabei be- mehrere Endocytosemechanismen. Die Toxi- obachteten Symptome sind allein auf Shiga-Toxin ne sind unverzweigte Proteine und bestehen zurückzuführen, denn der verantwortliche E. coli aus drei Domänen – der Bindungsdomäne, O104:H4 hatte noch weitere Virulenzfaktoren19. der Translokationsdomäne und der Wirkdomä- Er trug nicht nur den STx2-Phagen für die Produk- ne. Die Domänen können unterschiedlich mit- tion von Shiga-Toxin 220, sondern zusätzlich ein einander verbunden sein17. – Die Wirkdomäne Plasmid ähnlich dem Plasmid pAA der enteroag- ist von den beiden anderen Domänen deutlich gregativen E. coli, das für mehrere Virulenzfak- abgesetzt. Beispiel: Bei den neurotoxischen toren kodiert, und in einigen Isolaten ein gegen Clostridientoxinen (Tetanustoxin, Botulinum- Antibiotika schützendes Resistenzplasmid. Die toxine, s. Kap. 64) ist die Wirkdomäne nach Erkrankung war gekennzeichnet durch eine hä- posttranslationaler Modifikation nur noch durch morrhagische Diarrhoe, das hämolytisch-urämi- eine Disulfidbrücke mit dem Bindungs&Trans- sche Syndrom, Störungen der ZNS-Funktion21, lokationsteil verbunden, und nach Aufnahme eine Thrombocytopenie und eine Aktivierung des des ganzen Moleküls wird intrazellulär die Di- Complementsystems auf der Höhe des Comple- sulfidbindung gelöst und damit die Wirkdomä- mentfaktors C3. Die Complementaktivierung er- ne vom Bindungs&Translokationsteil getrennt. wies sich als prognostisch besonders ungünstig. Wegen dieser und anderer “natürlicher” Tren- Ihre Hemmung auf der Höhe von C5 durch Ecu- nungszeichen heißt die Wirkdomäne A-Kette lizumab (Kap. 39, Soliris®) hat die Prognosis ad (acting chain), der Bindungs&Translokations- vitam erheblich verbessert22. – Shiga-Toxin wur- teil B-Kette (binding chain). Wenn zwei Toxine de als Kampfstoff in Erwägung gezogen23. A-Ketten mit gleichem Wirkungsmechanismus haben, aber B-Ketten mit unterschiedlicher ► Herkunft: Shiga-Toxin wird gebildet von Shigel- Rezeptorspezifität, so werden sie auf unter- la dysenterica und von einigen E. coli-Stäm- schiedliche Zellen wirken und unterschiedliche men. Krankheitsbilder auslösen. ► Struktur: Der Bindungs- und Translokations- Der Eintritt der Toxine in die Zelle erfolgt so teil besteht aus fünf gleichartigen B-Domänen, langsam, dass vorhandene Antikörper (z. B. die ringförmig angeordnet sind. Eine einzige durch aktive Immunisierung erzeugt), die A-Domäne taucht in diesen Ring und ist darin Toxine vor Eintritt in die Zelle neutralisie- gebunden. Solche Toxine heißen AB5-Toxine. ren können. Eine passive Immunisierung er- ► Mechanismus (Reaktionsschema Abb. folgt hingegen meist erst nach Auftreten von 111.1.24): Das Toxin wird mit den B-Domänen Symp­tomen, also mit einer Verzögerung. Die an ein Glykosphingolipid25 gebunden, das nur injizierten Antikörper erreichen deshalb nur bei einigen Spezies (auch beim Menschen, diejenigen Toxinmoleküle, die sich noch nicht aber z. B. nicht bei Rindern) vorkommt und im intrazellulären Raum befinden. auf den Oberflächen von Endothelzellen resi- diert. Nach der Bindung wird es in frühe En- Allgemeiner Wirkungsmechanismus dosomen aufgenommen, im sauren pH der endocytotischen Vesikel ändert es seine Konfi- Die Toxine wirken in den Zellen als Enzyme. guration so, dass die toxische A-Domäne über Das hat zur Folge, dass schon ein einziges Toxin- 540 Kapitel 111: Toxine aus Einzellern (Bakterien, Dinoflagellaten)

das Golgi-System und das endoplasmatische (Geschwüre), das Myocard und das ZNS. Retikulum in das Cytoplasma aufgenommen ► Therapie: Strenge Bettruhe, passive Immuni- wird. Sie wandert bis zur rRNA und hydolysiert sierung mit Antiserum (wird in Notfalldepots dort die N-glykosische Bindung des in Posi- vorrätig gehalten). Penicillin i.v. wirkt bakterizid tion 4324 stehenden Adeninribonucleotides. gegen die Erreger. – Die Passage vom Golgi-System zum endo- plasmatischen Retikulum kann durch Magne- ADP-Ribosylierung von Actin siumionen gehemmt werden26. Im Tierversuch durch Botulinum C2-Toxin wurden protektive Konzentrationen erreicht. ► Herkunft: Das Toxin wird von Clostridium botu- linum Typ C und D gebildet. Toxine mit Wirkung ► Struktur: Das Toxin besteht aus dem Wir- auf die Proteinsynthese kungsteil C2I und dem Bindungsteil C2II, die aber getrennt existieren und erst auf der Plas- ADP-Ribosylierung von EF 2 durch Diphthe- mamembran miteinander in Beziehung treten. rietoxin, Pseudomonas Exotoxin A ► Mechanismus: Das komplette Toxin wird durch Endocytose aufgenommen28. Es ADP-ribosi- ► Herkunft: Corynebacterium diphtheriae ist liert Actin G (d. h. das Actin-Monomer)29 am ein grampositiver fakultativer Anaerobier, in Arginin 177 (Reaktionsschema Abb. 111.7.45). dem ein Phage das Diphtherietoxin codiert. – Physiologisch: Actin-Monomere polymerisie- Der Erreger breitet sich durch Tröpfchen- und ren zum F-Actin, wobei am (+)-Ende Mono- Schmierinfektion aus. Aktive Immunisierung mere angebaut und am (-)-Ende Monomere schützt vor der Infektion. Wird sie in Krisenzei- abgebaut werden (s. hierzu auch Kap. 101, die ten versäumt, steigen die Erkrankungszahlen Ausführungen zu Vinca-Alkaloiden). Toxikolo- schnell. gisch: Sobald am (+)-Ende ein ADP-ribosylier- ► Struktur: Diphtherietoxin besteht aus einer tes Monomer angebaut wird, ist die weitere B-Kette und einer A-Kette, die durch eine Di- Verlängerung des F-Actin-Polymers nicht sulfidbrücke verbunden sind. mehr möglich. Der Abbau am (-)-Ende erfolgt ► Mechanismus: Das Toxin bindet an einen aber weiter. In der Folge bricht die Actinstruk- Rezeptor auf der Plasmamembran und wird tur zusammen. in endocytotische Vesikel aufgenommen. In ► Klinik: Das Toxin erzeugt im Darm Blutungen den sauren Vesikeln werden die Domänen und Nekrosen. getrennt, die A-Domäne ADP-ribosyliert im Elongationsfaktor EF 2 in der Position 715 ein modifiziertes Histidin, das Diphthamid (Reak- Toxine mit Wirkung auf Rho-Proteine tionsschema Abb. 111.2.27). Damit ist die ge- Übersicht in Abb. 111.3.30: samte Proteinsynthese gehemmt. Rho-Proteine31 sind G-Proteine. Es gibt mehrere ● Das Exotoxin A von Pseudomonas aeruginosa Rho-Proteine, z. B. Rho A, Rho B, Rho C, Rac hat den gleichen Wirkungsmechanismus, wird und Cdc42. Im Zustand Rho-GTP sind sie aktiv, aber anders in die Zelle aufgenommen. d. h. sie treiben verschiedene biochemische Pro- ● Die ADP-Ribosylierung ist ein häufiger Wir- zesse an. Im Zustand Rho-GDP sind sie inaktiv. kungsmechanismus. Wir finden ihn bei Diph­ Abb. 111.3.30 zeigt den Kreisprozess der Aktivie- therietoxin, Botulinum C2-Toxin, Botulinum rung und Deaktivierung von Rho-Poteinen. Das C3-Toxin, Choleratoxin und Pertussistoxin. Verhältnis von Rho-GTP zu Rho-GDP kann unter ► Vergiftung: Die Symptome der Diphtherie wer- physiologischen Umständen dem jeweiligen Be- den durch das Toxin ausgelöst. Im Nasen-Ra- darf entsprechend gesteuert werden. chenraum bilden sich Pseudomembranen aus Toxine können die physiologische Funktion nekrotischer Schleimhaut und Blut, die zusam- der Rho-Proteine auf mehreren Wegen stören. men mit der Schwellung die Atemwege verle- Die hier vorgestellten Toxine wirken auf folgen- gen können. Das Toxin wirkt auch auf die Haut den Wegen: 541 Kapitel 111: Toxine aus Einzellern (Bakterien, Dinoflagellaten)

► Das Toxin spaltet das Rho-Protein. Der Antrieb zeugend die Entzündung und Zunahme der durch Rho-GTP bleibt deshalb aus. Beispiel: Sekretion im Darm). Die Toxine werden durch YopT aus Yersinia enterocolytica. clathrin-abhängige Endocytose aufgenommen ► Das Toxin desaktiviert die Effektorregion des und in das Cytoplasma transloziert34. Dort gly- Rho-Proteins. Der physiologische Antrieb kosylieren sie Threonin37 in Rho A, Threo- durch Rho-GTP bleibt deshalb ebenfalls aus. nin35 in Rac und Cdc42 (Reaktionsschema in In diese Gruppe gehören die Clostridium diffi- Abb. 111.5.35). Da das Threonin in der Effek- cile-Toxine A und B32. torregion der Rho-Proteine liegt36, werden die ► Das Toxin beschleunigt den Übergang von physiologischen Rho-Wirkungen blockiert. Rho-GDP (inaktiv) zu Rho-GTP (aktiv). Bei- ● Die gleichen Wirkungen hat das letale Toxin spiel: SopE aus Salmonella typhimurium. von Clostridium sordellii (beteiligt an der Ent- ► Das Toxin verhindert den Übergang von Rho- stehung des Gasbrandes). Zusätzlich kann es GDP nach Rho-GTP. Der physiologische An- auch das G-Protein Ras angreifen37. trieb durch Rho-GTP bleibt deshalb aus. ► Klinik: Die Toxinwirkung führt zur pseudo- Beispiel: Botulinum C3-Toxin. membranösen Colitis. Die Erkrankung tritt vor- ► Das Toxin verhindert die Katalyse von Rho- nehmlich in Krankenhäusern auf. GTP zu Rho-GDP. Rho-GTP bleibt deshalb dauernd (konstitutionell) aktiv. In diese Gruppe Stabilisierung von Rho-GDP gehören z. B. die von einigen E. coli-Stämmen durch Botulinum C3-Toxin gebildeten Toxine CNF 1 und CNF 2 und DNT Botulinum C3-Toxin ist ein Einketten-Toxin aus Bordetella-Spezies. ohne offensichtliche Domänentrennung. Es wird ► Das Toxin beschleunigt die Katalyse von Rho- mit einem noch unbekannten Mechanismus in GTP zu Rho-GDP und reduziert dadurch die die Zellen aufgenommen und wirkt dort38. Nur Wirkungsdauer und das Wirkungsmaximum das vollständige Toxin (und keins seiner bekann- von Rho-GTP. So wirken YopE aus Yersinia ten Fragmente) ist in der Lage, Rho-Proteine enterocolytica oder SptP aus einigen Salmo- im Status Rho-GDP zu fixieren. Dies geschieht nella-Spezies. durch ADP-Ribosylierung des Asparagin41 in Rho A (Reaktionsschema Abb. 111.4.39). Inaktivierung der Effektorregion Zu den Wirkungen von Botulinum C3-Toxin durch Clostridium difficile-Toxine gehört eine Aktivierung der Regeneration von Die Clostridium difficile-Toxine stellen wir als verletzten peripheren Nerven40. Diese Wirkung Beispiele vor. Übersicht:33. kommt aber auch einem seiner Peptidfragmente zu, von dem eine ADP-Ribosylierung nicht er- ► Herkunft: Clostridium difficile ist ein gram- wartet werden kann41. positiver Anaerobier, der im Darm auch von gesunden Menschen lebt. Wenn seine Nah- Stabilisierung von Rho-GTP durch rungskonkurrenten durch Antibiotikatherapie Toxine aus E. coli und Bordetella-Spezies reduziert werden, vermehrt er sich. Die Ver- mehrung wird auch durch Strahlentherapie, ► Herkunft: Die Toxine Cytotoxic necrotizing medikamentöse Tumortherapie, Immunsup- factor CNF1 und CNF242 werden von E. coli- pression und HIV-Infektion begünstigt. Der Er- Stämmen gebildet. reger bildet die Toxine A und B. ► Struktur: Die CNF sind einkettige Toxine, ihre ► Struktur: Die Clostridium difficile-Toxine sind Wirkdomäne liegt im C-terminalen Ende43. einkettige Toxine mit den drei Domänen für die ► Mechanismus: Die CNF werden durch En- Bindung (C-Terminus), Translokation und Wir- docytose aufgenommen. Sie desaminieren kung (im N-Terminus). das Glutamin63 bei Rho A bzw. das Gluta- ► Mechanismus: (Der hier beschriebene Wir- min61 bei Rac und Cdc42 (Abb. 111.6.44). Da- kungsmechanismus der beiden Toxine erklärt nach können die Rho-Proteine nicht mehr von die cytotoxische Wirkung, aber weniger über- ihrer aktiven GTP-Form in die inaktive GDP- 542 Kapitel 111: Toxine aus Einzellern (Bakterien, Dinoflagellaten)

Form übergehen und bleiben konstitutionell tergegeben. Bei dieser Passage wird das aktiv. Dies führt besonders zu einer Zunahme Toxin aufgetrennt und die aktive Domäne in der Actinpolymerisation und zur Hemmung des das Cytoplasma transloziert. Dort katalysiert Zellzyklus auf der Stufe G2/M. Die Kontraktion sie die ADP-Ribosylierung des Arginin187 in der vermehrten Aktinfilamente sowohl im Cy- der α-Untereinheit von Gs-GTP (Reaktions- 45 toskeleton als auch unter der Plasmamembran schema Abb. 111.7. ). Danach kann Gs-GTP führt zur Öffnung der tight junctions zwischen nicht mehr in die inaktive GDP-Form überge- den Zellen. Die Toxine wirken auch auf das Im- hen und bleibt konstitutionell aktiv. Der starke munsystem und fördern Entzündungsprozesse. Anstieg von cAMP führt über eine Reaktions- ● Dermonecrotic toxin DNT wird von Bordetel- kette zur Abgabe großer Mengen von Chlorid la-Spezies gebildet. Es hat die gleiche Wirk- in den Dünndarm. Der Chlorid-Ausstrom wird domäne wie die CNF, wird ebenfalls durch passiv begleitet vom Ausstrom von Wasser Endocytose aufgenommen und reagiert mit und Elektrolyten. demselben Glutamin, allerdings herrscht eine Ähnlich, aber schwächer als Choleratoxin wir- Transglutaminierung mit Polypeptiden, die ken die hitzelabilen Toxine LT von E. coli, die Lysin enthalten, vor (Reaktionsschema Abb. Auslöser der “Reisediarrhoe” (“Montezumas 111.6.44). Rache”) sind. ► Klinik: Symptome der Cholera sind schwerer ADP-Ribosylasen, Brechdurchfall, Entleerung reiswasserähnli- die auf Gs- und Gi,o-Proteine wirken cher Stühle, Exsiccose, Verwirrtheit und Koma. Für die Therapie am wichtigsten ist die i.v. Infu-

Nicht nur Rho-Proteine, sondern auch Gs- und sion von Elektrolytlösungen zum Ausgleich der Gi,o-Proteine werden von Toxinen angegriffen. Wasser- und Elektrolytverluste. Über den Nut- zen von Ciprofloxazin und Azithromycin wurde Stabilisierung von Gs-GTP: positiv berichtet. Choleratoxin, LT-Toxine Stabilisierung von G -GDP: Pertussistoxin ► Herkunft: Vibrio cholerae ist ein fakultativ i,o anaerober gramnegativer Erreger, der den ► Herkunft: Bordetella pertussis, die Erreger toxin-codierenden Bakteriophagen CTXΦ in des Keuchhustens, sind gramnegative aero- sein Genom integriert hat. Die Übertragung be Stäbchenbakterien. Sie sind hochinfektiös. auf Menschen erfolgt überwiegend mit unsau- Die Erkrankung wird durch Tröpfcheninfektion berem Trinkwasser. Die Erkrankung trat in Eu- verbreitet. Die Symptome (Fieber, z. T. extre- ropa noch zur Zeit Heinrich Heines in Hamburg mer Husten) werden durch Proteine ausgelöst, auf. Heute brechen Cholera-Epidemien z. B. die von den Erregern produziert werden. Eine nach Überschwemmungen und in Katastro- Impfung ist möglich. phengebieten aus (2011 in Bangladesh, Indi- ► Struktur: Hauptwirkstoff ist Pertussistoxin, ein en, Ghana, Haiti). Einketten-Toxin. Es hat vier Bindungs- und ► Struktur: Der Bindungs- und Translokationsteil eine Wirkungsdomäne. von Choleratoxin besteht aus fünf gleicharti- ► Mechanismus: Pertussistoxin wird durch gen B-Domänen, die ringförmig angeordnet Endocytose aufgenommen und durch das sind. Eine einzige A-Domäne taucht in diesen Golgi-System und das endoplasmatische Re- Ring und ist darin gebunden. Solche Toxine tikulum bewegt. Dabei wird die A-Domäne

heißen AB5-Toxine. (in der S1-Untereinheit) vom Bindungsteil ge- ► Mechanismus: Choleratoxin bindet mit sei- trennt und in das Cytoplasma transloziert. Dort nem B-Teil an das Sialogangliosid GM1 in katalysiert sie die ADP-Ribosylierung des Cy- 46 der Zellmembran. Es wird danach durch stein im C-Terminus von Gi,o-GDP . Dadurch Endocytose aufgenommen und an das en- ist die Aktivierung von Gi,o durch Rezeptorwir- doplasmatische Retikulum/Golgi-System wei- kung nicht mehr möglich, Gi,o-GTP kann nicht 543 Kapitel 111: Toxine aus Einzellern (Bakterien, Dinoflagellaten)

mehr gebildet werden. Dies bedeutet einen veranlasst massive Konformationsänderun- Ausfall der Inhibition durch Gi,o-gekoppelte Re- gen der Proteinkomponenten, in deren Folge zeptoren. (PA63)7 die EF und LF freigibt und eine Pore in der Vesikelmembran bildet. Der pH-Gradient Toxin-Proteasen zum Cytoplasma treibt die EF und LF aus dem mit Wirkung auf synaptische Peptide Vesikel. ► Klinik: Verschiedene Staaten haben versucht, Clostridien-Neurotoxine Siehe Kap. 64 Milzbrandsporen zu biologischen Kampfmit- teln zu entwickeln48. Im Vergleich zu den nie- Toxine und Toxinkombinationen dermolekularen Kampfgasen waren aber die mit Mehrfachwirkung Produktionskosten zu hoch. Dies hat nach bis- herigen Erkenntnissen auch terroristische Ver- Milzbrand-Toxin47 einigungen von der Herstellung abgehalten. ► Herkunft: Bacillus anthracis produziert drei – Milzbrand tritt in drei Formen, nämlich als Proteine: Haut-(Wunden-)Milzbrand, Lungenmilzbrand - PA 83 (protektives Antigen) enthält die Bin- und Darmmilzbrand auf. Symptome sind Hus- dungs- und Transformationsfunktion, ten, Atembeschwerden, hohes Fieber, auf der - LF (letaler Faktor) enthält eine Wirkdomäne, Haut sogenannte Milzbrandkarbunkel. Die ak- - EF (Ödem-Faktor) enthält eine andere Wirk- tive Immunisierung ist möglich und wurde bei domäne. Soldaten durchgeführt. Der Erreger ist, wenn ► Besonderheiten. er nicht genetisch manipuliert wurde, gegen Die erste Besonderheit besteht mithin darin, viele Antibiotika, u. a. gegen Penicillin G und das Bacillus anthracis mit zwei Toxinen an- Ciprofloxazin, empfindlich. Die Beseitigung der greifen kann. LF ist ein proteolytisches Enzym Erreger unterbricht aber nur den “Nachschub” (Zinkprotease). Es spaltet die MAP-Kina- an Toxinkomponenten. se-Kinasen MEK 1 und MEK 2 zwischen den Aminosäuren Pro8-Ile9 und Pro10-Arg11. Das Toxine aus Erregern führt zur Apoptose der Zellen. Hingegen funk- mit Typ III-Sekretionssystem tioniert EF nach Bindung von Calmodulin als Die bekanntesten Produzenten sind Yersinia pes- eine nicht abschaltbare Adenylylcyclase. Ein tis, Yersinia enterocolytica und Yersinia pseudo- Zellödem durch vermehrten Wassereintritt ist tuberculosis. Bei dieser Erregergruppe werden eine der Folgen. durch das (phagencodierte) Sekretionssystem Die zweite Besonderheit besteht darin, dass bis zu 6 Virulenzfaktoren in die Wirtszelle trans- die Komponenten PA83, LF und EF nicht mit- loziert, wodurch es schwierig wird, einem be- einander verbunden sind. Wie kommen dann stimmten Krankheitssymptom einen bestimmten LF und EF in die Zellen? Virulenzfaktor (Toxin) zuzuordnen. Zuerst bindet PA83 an einen seiner Rezepto- ren (TEM8 oder CMG2). Ein Oberflächenen- ○ Beispiel: Yersinia enterocolytica49. Diese Yer- zym (Furin) der so besetzten Zelle trennt ein sinien bilden das Typ-III Sekretionssystem Ysc Schutzpeptid ab, es entsteht das verkürzte und in einigen Stämmen zusätzlich ein zweites PA63. Sieben PA63 treten zu einem ringför- System Ysa. Die für Ysc kodierenden Stämme migen Heptamer (PA63)7 zusammen. Jetzt translozieren 6 (!) Virulenzfaktoren. Am bes- binden LF und EF an (PA63)7, wobei alle ten untersucht ist Yop E. Er wirkt im Zyklus der denkbaren Kombinationen möglich sind: 4 Rho-Proteine (Rho A, Rac 1, Cdc42, s. u. bei EF &(PA63)7, 1 EF &(PA63)7 & 3 LF, ... 3 EF Rho-Proteinen). Dort beschleunigt Yop E direkt &(PA63)7 & 1 LF, (PA63)7 & 4 LF. Die fertigen die Dephosphorylierung von Rho-GTP zu Rho- Kombinationen werden mit clathrin-abhängi- GDP. ger Endocytose in die Zielzelle aufgenommen. Der abfallende pH im endocytotischen Vesikel 544 Kapitel 112: Pathogene Pilzarten

Kapitel 112 ● Weißer oder Frühlings-Knollenblätterpilz, Amanita verna, Bild:5. Pathogene Pilzarten ● Gifthäuptling, Nadelholzhäuptling, Galerina marginata, Bilderserie:6. Außer “Giftpilzen” gibt es noch andere pathoge- ● Giftschirmling, Lepiota citrophylla, Bild:7. ne Pilzarten. So wirkt der Kahle Krempling (Pa- ► Strukturen: Die acht bekannten Amatoxine8 xillus involutus) nicht durch ein Toxin, sondern sind bicyclische Octapeptide (Formelbeispiel durch ein Antigen, und die pathogenen Faktoren für α-Amanitin:9). von Pilzen wie Cortinarius splendens (Schöngel- ► Kinetik: Amatoxine werden weder durch Ko- ber Klumpfuß) sind unbekannt. chen noch durch die Enzyme im Verdau- Es gibt in Europa nicht viele pathogene Pilzar- ungstrakt zerstört. Über die Resorption und ten, aber allein wegen der Verwechslungsgefahr Bioverfügbarkeit bei Menschen ist naturgemäß von gefährlichen mit ungefährlichen Pilzen gilt nichts bekannt, aber die Menge von α-Amani- als Grundregel tin in einem Knollenblätterpilz erreicht bereits ● Sammle nur Pilze, die du in allen Merkma- den Bereich der tödlichen Dosis von ≤ 0,1 mg/ len von Hut und Stiel genau kennst! kg KG. Weil die Amatoxine gut wasserlös- lich sind und ihre Bewegung mit organischen Es gibt zur Zeit (2013) keine überregionale Pilz- Anionentransportern durch Zellmembranen beratungsstelle, an die man eine mit dem Mobil- hindurch gezeigt wurde, ist die Annahme ge- telefon oder der Digitalkamera aufgenommene rechtfertigt, dass auch die Resorption mit Hilfe Bilderfolge von Pilzen einer Art mit der Bitte um von Transportern erfolgt. – Als gut wasserlösli- schnelle telefonische Antwort schicken kann. Es che Verbindungen haben die Amatoxine wahr- gibt regionale Pilzberatungsstellen, die aber nicht scheinlich ein geringes Verteilungsvolumen, rund um die Uhr beraten. Die Pilzberatungsstel- aber sie werden speziell in Zellen angerei- le einer Region erfährt man telefonisch bei der chert, die den organischen Anionentransporter Toxikologischen Abteilung des Krankenhauses OATP 1B3 exprimieren, besonders in Hepa- Rechts der Isar, Telefon 089 19240, oder bei der tocyten. Die Konzentration der Amatoxine ist regionalen Giftinformationszentrale, oder unter auch erhöht in Enterocyten, ferner in Tubulus- dem Stichwort “Pilzberatung” mit einer Suchma- zellen, weil Amatoxine tubulär rückresorbiert schine im Internet. Eine Bild-Übersicht mit Be- werden, und in einigen Arten von Tumorzel- schreibung steht im Internet1. In den folgenden len. – Amatoxine werden nicht metabolisiert, Einzeldarstellungen sind für Bilder der Pilzarten sondern über den Urin und die Galle unverän- weitere Internetadressen angegeben. Diese Bil- dert ausgeschieden. Sie werden sowohl ren- der haben Beispielcharakter und genügen nicht al-tubulär als auch intestinal rückresorbiert. zur Bestimmung einer Pilzart. Zur Bestimmung Sie sind zwei Tage nach Ingestion zum größ- eignen sich Bücher mit guten Abbildungen und ten Teil ausgeschieden, aber bis zu fünf Tagen ausführlicher Beschreibung der morphologi- nach der Ingestion nachweisbar. schen Merkmale, des Färbungsverhaltens nach ► Mechanismus: α-Amanitin hemmt in Eu- Drücken auf Hut und Stiel und nach dem Ernte- karyonten die DNA-abhängige RNA-Polyme- schnitt, der Bodenmerkmale, des regionalen und rase II und damit die Bildung der mRNA und des jahreszeitlichen Vorkommens. die Proteinsynthese. ► Vergiftung: Vergiftungen durch amatoxinhal- Pilze, die Amatoxine enthalten tige Pilze sind die Pilzvergiftungen mit der Literatur:2 höchsten Letalität und machen mehr als 90 % ► Pilze aller Pilzvergiftungen aus. Für die Vergiftung ● Grüner Knollenblätterpilz, Amanita phalloides, maßgebend sind die Amatoxine. Das in den Bilder:3. Pilzen ebenfalls enthaltene Phalloidin hat kei- ● Kegelhütiger Knollenblätterpilz, Amanita viro- ne klinische Bedeutung. Die Therapie soll so sa, Bild:4. schnell wie möglich begonnen werden, auch 545 Kapitel 112: Pathogene Pilzarten

bei “Mit-Essern”, die noch keine oder nur - Präsentation roher Pilze auf der Pilzberatungs- schwache Symptome haben. stelle. ► Verlauf: Die Latenzzeit der Vergiftung ist die ► Therapie: Wegen der langen Latenzzeit zwi- längste aller Pilzvergiftungen. schen der Pilzmahlzeit und dem Beginn der ○ gastrointestinale Phase (12-24 h nach der Pilz- Symptome kommt eine Magenspülung in der mahlzeit). Schwere choleraähnliche Durchfäl- Regel zu spät. Wenn bereits choleraähnlichen le und Erbrechen, dadurch Wasserverlust und Durchfälle bestehen, genügen sie zur Entfer- Störungen des Mineralhaushaltes, besonders nung der gegessenen Pilze aus dem Darm. Hypokaliämie. Die Rückresorption der Amatoxine aus dem ○ symptomenarme Latenzphase (24-48 h nach Darm kann unterbrochen werden durch Gabe Pilzmahlzeit). von Aktivkohle, danach durch Absaugen der ○ hepato-renale Phase (48-72 h nach Pilzmahl- Galle über eine Duodenalsonde. Der Wasser-, zeit). Ikterus, Albuminämie, die Durchfälle Elektrolyt- und Glukosebestand muss nach werden blutig. Die Leberfunktionsproben sind den Regeln der allgemeinen Intensivtherapie hochgradig pathologisch, die Blutgerinnung ist normalisiert werden. Erst danach ist die Re- durch Ausfall der Synthese von Gerinnungs- duktion der tubulären Rückresorption durch faktoren gestört, die Hypoglykämie kann zu Beschleunigung der Diurese zu erwägen. – Krämpfen führen. Die hepato-renale Phase Die Wirksamkeit einer Hämodialyse ist nicht kulminiert um den 5. Tag, die Rückbildung er- gesichert. Die früher geübte Hämoperfusion folgt danach in wenigen Tagen. wird nicht mehr empfohlen, weil ihr Nutzen ► Diagnose aus: nicht erwiesen wurde und weil durch die ge- ● Anamnese. Wo und wann wurden die Pilze störten Gerinnungsparameter erhebliche Pro- gesammelt? Wie sahen die Pilze aus? (Bilder bleme entstehen. demonstrieren). Wann wurde die Pilzmahlzeit “Antidote”: Für N-Acetylcystein, Penicillin G in eingenommen? Welche anderen Personen ha- hohen Dosen und Silibinin wurde in der Zell- ben daran teilgenommen? Welche Beschwer- kultur von Hepatocyten gezeigt, dass sie bei den haben diese Personen? Vorausgabe die Wirkung der Amatoxine redu- ● Klinischer Befund (s. o. unter Verlauf). zieren, aber in der kritischen klinischen Praxis Bei positiver Anamnese und verdächtigem kli- ließ sich nur eine therapeutische Wirkung von nischen Befund wird die Therapie unter der Silibinin nachweisen. Silibinin konkurriert mit Verdachtsdiagnose “Vergiftung durch Knol- Amatoxinen um den Transporter OATP 1B3. lenblätterpilze” eingeleitet. Der Nachweis der Amatoxine dient der nachträglichen Bestä- Silibinin tigung der Diagnose und ist nicht Vorausset- ► Struktur:11. zung für die Einleitung der Therapie. ► Mechanismus: Hemmung der Aufnahme von ● Nachweis der Amatoxine: Amatoxinen in Leberzellen durch Verdrängung - aus den Fragmenten roher Pilze mit Wielands vom Transporter OATP 1B312. Test: Man zerdrückt das abgespülte Fragment ► Indikation: Therapie der Knollenblätterpilz-Ver- auf dem unbedruckten Rand einer Tageszei- giftung (d. h. der Vergiftung mit Amatoxinen tung, trocknet den Fleck (Föhn), beträufelt mit nach Genuss Amatoxin-haltiger Pilze). konzentrierter Salzsäure (> 8 molar) und sieht ► Dosierung: Legalon SIL®, die wasserlösliche nach 10 min einen blauen Fleck, wenn der Test Form von Silibinin, wird i.v. dauerinfundiert13. positiv ist. Kinetik:14. - Nachweis aus dem Blutplasma, Serum oder ► Sonstiges: Klinisch relevante Interaktionen Urin mit einem ELISA10. wurden nicht publiziert. Cancerogene, em- - mikroskopische Untersuchung roher oder er- bryotoxische oder fetotoxische Wirkungen brochener Pilzreste (meist fehlt eine Person wurden in Zellkulturen und Tierexperimenten mit der notwendigen Sachkenntnis). nicht beobachtet. 546 Kapitel 112: Pathogene Pilzarten

Pilze, die Gyromitrin enthalten akutes Nierenversagen mit Durst, Rückgang der Urinproduktion, Kopfschmerzen und An- Literatur:15. stieg der harnpflichtigen Substanzen. ► Pilze ► Therapie: Zwar wurden Hämodialyse, Hä- ● Frühjahrslorchel, Gyromitra esculenta, Bilder:16. moperfusion und Plasmapherese eingesetzt, Es gibt mehr als 10 andere giftige Lorcheln, die aber ob diese Maßnahmen nach tage- oder aber selten vorkommen. wochenlanger Latenzzeit noch wesentliche ► Struktur:17. Mengen Orellanin entfernten, steht dahin. Zu- ► Kinetik: Gyromitrin ist wasserlöslich und dem ist das V des schlecht wasserlöslichen wird leicht hydrolysiert zu den toxischen d Orellanin unbekannt. Die Suppression der Ent- Folgeprodukten Monomethylhydrazin und zündung mit Glucocorticoiden erscheint sinn- N-methyl-N-formyl-hydrazin. voll, aber erwiesen ist der Nutzen nicht. Die ► Mechanismen: Monomethylhydrazin inaktiviert Nierenschäden bilden sich nicht zurück, und Vitamin B6 durch Hydrazonbildung, wodurch nicht wenige Patienten bleiben dialysepflichtig. u. a. die Glutaminsäuredecarboxylase ihren ► Der Schöngelbe Klumpfuß, Cortinarius splen- Cofaktor verliert und deshalb weniger GABA dens, (Bild:21) erzeugt ebenfalls das “Orella- bildet. nin-Syndrom”, aber das verantwortliche Toxin ► Kinetik: N-methyl-N-formyl-hydrazin. wird ist unbekannt. mit CYP-Enzymen oxidiert und weiter zu Nitros­amiden umgesetzt. Die Folgeprodukte Pilze, die Coprin enthalten methylieren die DNA und wirken cancerogen. ► Vergiftungsverlauf: Zu Beginn (6-12 Std. ► Pilze: nach der Pilzmahlzeit) Schwindelgefühl, ○ Faltentintling, Coprinopsis atramentarius, Bil- Bauchschmerzen und Durchfall. Die Früh- der:22. symptomatik ist nahezu gleich der bei Knol- ○ Netzstieliger Hexenröhrling, Boletus luridus, lenblätterpilzvergiftung. Später Gelbsucht und Bild:23. mehr ZNS-Symptome als bei Amatoxin-Vergif- ○ Glimmertintling, Coprinellus micaceus, Bild:24. tung, Krämpfe, Koma. ► Struktur:25. ► Therapie: Die Pilzmahlzeit hat bei Beginn der ► Mechanismus: Coprin wird im sauren Magen- Symptomatik den Magen bereits verlassen. saft unter Bildung von Aminocyclopropanol Gabe von Aktivkohle und von Pyridoxal (Vita- hydolysiert. Aminocyclopropanol hemmt die min B6, Erwachsene 100 mg/Tag i.v.), Diazepam Aldehyddehydrogenase und erzeugt dadurch bei Krämpfen, allgemeine Intensivtherapie. die ► Wirkung: Antabus-Syndrom (s. Kap. 107). Pilze, die Orellanin enthalten Pilze, die Muscarin enthalten ► Pilze: ● Orangefuchsiger Rauhkopf, Cortinarius orella- ► Pilze: nus, Bilder:18. ○ Ziegelroter Rißpilz, Inocybe erubescens, Bil- ● Spitzgebuckelter Rauhkopf, Cortinarius rubel- der:26. lus oder Cortinarius speciosissimus, Bilder:19. ○ Feldtrichterling, Clitocybe dealbata, Bild:27. ► Struktur:20. ► Struktur:28. ► Mechanismus: Orellanin kann ein Redoxsys- ► Mechanismus: Muscarin ist ein Agonist an tem bilden, durch das freie Sauerstoffradikale M-Acetylcholinrezeptoren. gebildet werden. Sie erzeugen Zerstörungen ► Vergiftungssymptome: 15-60 min nach der an mehreren Orten, besonders aber an den Pilzmahlzeit beginnt die Symptomatik: Spei- Nierentubuli. chelfluss, Erbrechen, Darmkoliken, Durchfall, ► Vergiftungssymptome: Nach einer langen La- Tränenfluss, Miosis, Sehstörungen, Hypoto- tenzzeit (3 Tage bis 3 Wochen) entwickelt sich nie, Bradykardie. unter dem Bild einer interstitiellen Nephritis ► Therapie: Atropin in hohen Dosen nach Wir- 547 Kapitel 112: Pathogene Pilzarten

kung (wie bei Cholinesterasehemmern, Kap. ten die Bildung von Antikörpern induziert. Eine 63), Magenspülung nur innerhalb der ersten Antigen-Antikörperreaktion kann nach mehrma- Stunde nach Ingestion, Aktivkohle (nicht bei ligem Genuss der Pilze ausgelöst werden und Erbrechen), wenn erforderlich allgemeine In- führt zur massiven lebensgefährlichen Hämolyse tensivtherapie. Nach Ende der Resorption bil- (Kap. 46), Mikrokoagulopathie, Niereninsuffizi- den sich die Symptome schnell zurück. enz und respiratorische Insuffizienz. Die Symptome beginnen 1-2 Std. nach der Pilze, die Pilzmahlzeit. Erbricht der Patient, so ist der Ma- und Ibotensäure enthalten gen schon geleert. Die Gabe von Aktivkohle ist erst sinnvoll und ungefährlich, wenn die Suspen- ► Pilze: sion nicht mehr erbrochen wird. Über Erfolge mit ○ Fliegenpilz, Amanita muscaria, Bild:29. mehrfacher Plasmapherese wurde berichtet34. ○ Königsfliegenpilz, Amanita regalis, Bild:30. Die Störungen des Wasser- und Elektrolythaus- ○ Pantherpilz, Amanita pantherina, Bild:31. haltes werden nach den Regeln der Intensivme- ► Strukturen:32. Ibotensäure geht leicht (z. B. dizin behandelt. beim Kochen) in Muscimol über. ► Mechanismus: Muscimol und Ibotensäure Der Grünling (Tricholoma equestre) (schwächer wirksam) sind GABA-Agonisten im ZNS. Bild:35. Die Pilze enthalten als Wirkstoff wahr- ► Vergiftungen: Zubereitungen aus diesen Pil- scheinlich Cyclopropan-2-en-säure36. Sympto- zen dienen der Rauscherzeugung, aber die me: Übelkeit ohne Erbrechen, Schweißausbruch, Resultate nach Applikation fallen sehr ver- Muskelschwäche (seltener auch Rhabdomyoly- schieden aus. Schon der Gehalt der Pilze an se), akutes Nierenversagen. Ibotensäure und Muscimol schwankt erheb- lich, und die Art des Rausches ist –- wie auch Der wohlriechende Trichterling bei LSD – stark von der Eingangsstimmung (Clitocybe amoenolens) des Individuums abhängig. Eine halbe Stun- Bild:37. Wirkstoff sind Acromelsäuren (Struk- de nach Ingestion beginnt die unangenehme tur:38). Der Pilz hat in Frankreich und Italien zu Anfangsphase mit Übelkeit, Schwindel und Vergiftungen geführt. Ob er in Deutschland vor- Muskelzittern. Während der anschließenden kommt, ist ungewiss. Das Vergiftungsbild (nach “psychedelischen” Phase bestehen Halluzina- 6 Std. Latenzzeit) entspricht einer Acromelalgie tionen. Synästhesien kommen vor. Schwere (schmerzhafte Hautrötung). Es gibt keine spezi- Erregungszustände können auftreten. In der fische Therapie. dritten Phase fällt der Patient in den Schlaf. In der Regel ist er nicht gefährdet. Magenspülung Pilze, die Psilocybin enthalten nur innerhalb der ersten Stunde nach Ingesti- on, Aktivkohle p.o. nur, wenn der Patient die ► Pilze: Der spitzkegeliger Kahlkopf, Psilocybe Suspension schlucken kann. Bei starker Erre- semilanceata, (Bilder:39) ist der in Europa häu- gung Diazepam i.v. Muscimol wird schnell re­ figste Vertreter, aber es gibt viele andere. nal eliminiert. ► Strukturen:40. ► Kinetik: Der Inhaltsstoff Psilocybin ist “Prodrug” Der Kahle Krempling (Paxillus involutus) und wird zum wirksamen Psilocin dephos- phoryliert. Psilocin wird durch oxidative Des- Bilder:33. Die toxischen Inhaltsstoffe sind un- aminierung mit Monoaminoxidase und durch genügend bekannt. Eine Pilzmahlzeit mit Kah- Glucuronidierung schnell ausgeschieden. Der len Kremplingen kann eine lebensbedrohliche Metabolismus kann mit MAO-Hemmern verzö- Gastroenteritis auslösen, wenn die Pilze nicht gert und damit die Wirkung verlängert werden. genügend lange gekocht wurden. Der kahle Psilocin hat im Mittel 74 min HWZ. Die Wir- ­Kremp­ling enthält außerdem ein Antigen, das kung setzt dosisabhängig nach 10-30 min ein, resorbiert wird und bei wiederholten Mahlzei- 548 Kapitel 112: Pathogene Pilzarten

dauert 2-6 Std. und geht dann schnell zurück. Kapitel 113 Tachyphylaxie kann sich entwickeln, nicht je- doch Abhängigkeit. Pathogene Pflanzen ► Mechanismus: Psilocin ist Agonist an Pathogene Pflanzen enthalten toxische Verbin- 5HT -Rezeptoren, auch – aber weniger – 2A dungen oder starke Antigene. an Rezeptoren 5HT , 5HT und 5HT . Die 1A 1D 2C Es gibt zur Zeit (2013) keine überregionale ZNS-Wirkungen lassen sich mit 5HT -Anta- 2A Beratungsstelle, an die man eine mit dem Mo- gonisten (Ketanserin, Risperidon) aufheben. biltelefon oder der Digitalkamera aufgenomme- ► Wirkungen: Psilocin ist ein Halluzinogen. Ob nes Bilderfolge von Pflanzen mit der Bitte um die Halluzinationen erfreulich oder unerfreulich schnelle telefonische Antwort schicken könn- werden, hängt von der psychologischen Aus- te. Ein Gärtner in der Nähe kann in der Regel gangslage des Benutzers ab. Die akustische Pflanzen identifizieren. – In den folgenden Ein- und optische Wahrnehmung ist verändert. Das zeldarstellungen sind für Bilder der Pflanzen In- Zeitgefühl wird erheblich gestört, Minuten wer- ternetadressen angegeben. Diese Bilder haben den zu Stunden. Beispielcharakter und genügen nicht zur Bestim- mung einer Pflanzenart. Zur Bestimmung eignen sich Bücher mit guten Abbildungen und aus- führlicher Beschreibung der morphologischen Merkmale, der Bodenmerkmale, des regionalen und des jahreszeitlichen Vorkommens. Zu beach- ten ist, dass die Früchte (Beeren, Schoten) einer Pflanze ihr Aussehen mit der Jahreszeit - verän dern.

Pflanzen, die Lectine enthalten ► Pflanzen: ● Rizinus-Staude, Ricinus communis, die Boh- nen (Bild:1) enthalten Ricin. Ricin kann aus den bei der Ölgewinnung anfallenden Press- rückständen und aus den Bohnen leicht extra­ hiert und zu Pulver getrocknet werden. Die Extrakte sind hitzeempfindlich. ○ Paternostererbse, Abrus precatorius, die Schoten mit Erbsen (Bild:2) enthalten Abrin. ► Strukturen: Die Lectine Ricin und Abrin beste- hen aus einer bindenden B-Kette und einer wirkenden A-Kette, die über eine Disulfidbrü- cke miteinander verbunden sind. Sie sind dem bakteriellen Shiga-Toxin in Bindung und Wir- kungsmechanismus ähnlich. ► Kinetik: Die Lectine werden sowohl gastroin- testinal als auch pulmonal resorbiert. Sie bin- den an Galaktose oder N-Galactosamin und werden in Endosomen aufgenommen. Über das Golgi-System gelangen sie in das endo- plasmatische Retikulum. Dort wird die Disulfid- bindung mit Proteindisulfid-Isomerase gelöst und die A-Kette in das Cytoplasma entlassen. 549 Kapitel 113: Pathogene Pflanzen

► Mechanismus: Die A-Kette entfernt enzyma- ○ Maiglöckchen, Convallaria majalis tisch das Adenin4324 in der 28S-rRNA der ○ Christrose, Helleborus niger, Bild:12. Bestim- Ribosomen. Danach ist die Bildung des Elon­ mend für die Symptomatik ist jedoch ein weite- gationsfaktors nicht mehr möglich, die Protein- rer Wirkstoff, das Protoanemonin (Struktur:13). synthese hört auf. Die Symptome erscheinen Es erzeugt eine Gastroenteritis. bei oraler Aufnahme nach 1-3 Tagen, bei pul- ► Strukturen: Strukturen vollständiger Glykoside monaler Aufnahme nach 8 Std., bei parentera- s. Kap. 57 und14. ler Applikation noch schneller. ► Vergiftung: s. Kap. 57. Die Injektion von Digita- ► Bedeutung: Ricin wird als Mordgift angewandt. lisantikörpern ist bei allen Herzglykosid-Vergif- Der bulgarische Dissident und Schriftstel- tungen indiziert. ler Georgi Markov wurde getötet, indem ihm eine mit Ricin gefüllte und gelochte Platin/Iri- Pflanzen, die Saponine enthalten dium-Kugel mit einer als Regenschirm getarn- Der Name wurde geprägt, weil die Verbindungen ten Waffe ins Bein geschossen wurde. Seither “wie Seife” wirken. Unter den Saponinen bilden haben über 10 Terrorgruppen versucht, Ricin die Glykoside von Steroiden – Solanin, Pennoge- als Mordmittel gegen Personen und Personen- nin – eine besondere Gruppe. Sie sind den Herz- gruppen einzusetzen. Diese Aktivitäten dauern glykosiden chemisch ähnlich, wirken aber weniger an. Gegen die Vergiftung gibt es kein Gegen- auf das Herz und mehr auf Erythrocyten (Hämoly- mittel. Ricin fällt in Deutschland unter das se), und sie erzeugen nur leichte Vergiftungen. Kriegswaffenkontrollgesetz. ► Pflanzen: ► Vergiftungserscheinungen: Erbrechen, Kolik, ○ Kartoffeln (besonders unreife und keimende) Durchfall bei oraler Aufnahme, Lungenödem enthalten Solanin (Struktur:15). Die modernen bei pulmonaler Aufnahme, Tachykardie, Tremor, Sorten enthalten sehr wenig Solanin, zudem starke Leukocytose, Tod durch Atemlähmung. sinkt der Solaningehalt beim Erhitzen der Kar- toffeln. Der Solaningehalt grüner Tomaten ist Pflanzen, die Tropan-Alkaloide enthalten höher. ► Pflanzen: ○ Die Einbeere, Paris quadrifolia, (Bild:16) er- ● Tollkirsche, Atropa belladonna, Bilder:3. regt die Aufmerksamkeit von Kindern. Sie ent- ● Stechapfel, Datura stramonium, Bild:4. hält Pennogenin-Tetraglykosid (Struktur:17). ● Schwarzes Bilsenkraut, Hyoscyamus niger, Die “Beere” sieht aus wie eine Heidelbeere, Bild:5. schmeckt aber nicht gut, weshalb selten mehr ● Engelstrompete (mehrere Arten der Gattung als eine Beere gegessen wird. Symptome sind Brugmansia), Bilder:6. Übelkeit, starke Bauchschmerzen und Erbre- ● Alraune, Mandragora officinalis, Bilder:7. chen. Die Behandlung ist symptomatisch. ► Strukturen: S. Kap. 65, Struktur von Scopo- lamin und Atropin (Atropin ist das Razemat Pflanzen, die Agonisten aus dem aktiven S- und dem D-Hyoscyamin). an Nn-Cholinoceptoren enthalten Diese Alkaloide sind in allen vorstehend ge- (siehe auch Kap. 62) nannten Pflanzen enthalten und machen die Wirkung aus. Coniin im Gefleckten Schierling ► Sonstiges: s. Kap. 65 ► Pflanzen: ● Gefleckter Schierling, Conium maculatum Pflanzen, die Herzglykoside enthalten (Bild:18). Der Gefleckte Schierling hat einen ► Pflanzen: Geruch ähnlich der Luft in einem Raum, in ● Roter Fingerhut, Digitalis purpurea, Bild:8. dem Mäuse hausen. Coniin kommt auch im ● Wolliger Fingerhut, Digitalis lanata, Bild:9. Gefleckten Aronstab, Arum maculatum, vor ● Oleander, Nerium oleander. Bild:10. (Bild:19), aber dessen Toxizität wird mehr von ○ Krainer Tollkraut, Hyoscyamus scopolia, Bild:11. seinem Oxalsäuregehalt bestimmt. 550 Kapitel 113: Pathogene Pflanzen

► Strukturen:20. Noch toxischer als das Coniin ► Vergiftungsverlauf: Der Wechsel von der Erre- ist das ebenfalls im Gefleckten Schierling ent- gungsphase (Tachykardie, Blutdruckanstieg, haltene γ-Conicein, das über den gleichen Me- Speichelfluss, Schwitzen, Erbrechen, Darmko- chanismus wirkt. liken, Tremor, Hyperpnoe) zur Lähmungspha- ► Kinetik: Coniin und γ-Conicein werden mit ei- se (Bradykardie, Hypotonie, flache Atmung) ist ner Latenzzeit resorbiert, die von der “Zube- ausgeprägt. Die Vergiftung wird bei Kindern in reitungsform” abhängt und 0,5-5 Std. dauern der Regel nicht lebensgefährlich, weil die Sa- kann. Sokrates wurde mit einem Extrakt aus men (und Blüten) Brennen im Mund auslösen frisch geriebenem Material vergiftet, und der und frühzeitig Erbrechen eintritt. Nur bei mas- Bericht über seinen Tod vermittelt den Ein- siver Ingestion sind auch aggressive Maßnah- druck, die Lähmung sei in weniger als einer men zu empfehlen. Stunde eingetreten21. ► Mechanismus: Die Verbindungen sind Agonis- Pflanzen ten an postsynaptischen Nm- und Nn-Acetyl- mit starker Wirkung auf die Haut cholin-Rezeptoren, wirken also sowohl an der Muskulatur als auch an den Ganglien. Psoralene im Riesenbärenklau ► Vergiftungsverlauf: An der Muskulatur tritt – ► Pflanze: ähnlich wie durch Succinylcholin (Kap. 66) ● Riesenbärenklau, Heracleum mantegazzia- – eine Depolarisation ein, aber so langsam, num, Bild:24. dass die (nach Succinylcholin-Injektion deut- ► Strukturen:25. liche) Kontraktionsphase nicht aufscheint und ► Klinik: Bei Berührung gibt die Pflanze Pso- die motorischen Symptome mit der Lähmung ralen und das chemisch ähnliche Bergalen anfangen. Sie beginnt in den Füßen und steigt auf die Haut ab. Die Verbindungen reagie- auf (Beschreibung durch Platon21), die Läh- ren mit Hautbestandteilen und bilden Adduk- mung der respiratorischen Muskulatur führt te, besonders wenn die kontaminierte Fläche zum Tod. Die agonistische Wirkung an den dem Sonnenlicht ausgesetzt wird. Es entwi- Ganglien führt zu einer Mischung aus anfängli- ckelt sich eine Phytophotodermatitis in der cher Erregung (Tachykardie, Hypertonie, Spei- Form einer schweren behandlungsbedürfti- chelfluss, Erbrechen, Tremor) und späterer gen bullösen Dermatitis mit starken Schmer- Lähmung (Bradykardie, Hypotonie). zen und heftigem Juckreiz. Zusätzlich sind die ► Therapie: Magenspülung nur bis eine Stunde Addukte starke Allergene, so dass eine hohe nach der Ingestion. Gabe von Kohle bei erhal- Empfindlichkeit der betroffenen Hautareale zu- tenem Schluckreflex, aber nicht bei Erbrechen. rückbleibt. Dann können auch andere Garten- Allgemeine Intensivtherapie. pflanzen die Dermatitis auslösen. Die bullöse Dermatitis wird wie eine Verbrennung 2. Gra- Cytisin im Goldregen des behandelt. Eine Hyperpigmentierung der ► Pflanzen: Goldregen, Laburnum anagyroides, betroffenen Hautareale kann zurückbleiben. Bilder:22. ► Struktur:23. Ätherische Öle ► Kinetik: Cytisin wird aus den Blüten und Scho- Ätherische Öle sind chemisch meist Terpene oder ten schnell resorbiert, die Latenzzeit liegt unter Sesquiterpen-Laktone. Sie werden von vielen 1 Std. Cytisin wird durch CYP-Oxidation elimi- Pflanzen gebildet, und sie werden als Aromastoffe niert. z. B. in Kosmetika verwendet. Sie machen einen ► Mechanismus: Cytisin ist wie Coniin Agonist großen Anteil der Hauterkrankungen in der der- an N-Acetylcholinrezeptoren, aber die Wirkung matologischen Ambulanz aus26. Abhilfe schafft auf Nm-Rezeptoren (neuromuskuläre Synap- nur der Verzicht auf derartige Kosmetika. Schon sen) sind geringer, und die neuronalen Wirkun- die Berührung einer Pflanze mit hohem Gehalt gen (Nn-Rezeptoren) stehen im Vordergrund. an ätherischen Ölen (Beispiel: Thujabaum, Thuja 551 Kapitel 113: Pathogene Pflanzen occidentalis) kann genug ätherisches Öl zur Aus- werden, besonders durch die Therapieresis- lösung einer Dermatitis übertragen. tenz der gestörten Erregungsbildung und -lei- tung und die Reduktion des Schlagvolumens. Pflanzen, die Stoffe Klinisch erprobte Antidote sind nicht bekannt. mit Wirkung auf Ionenkanäle enthalten Im Experiment verschließt Tetrodotoxin die ge- öffneten Na+-Kanäle. Eine Magenspülung ist Cicutoxin im Wasserschierling angesichts der kurzen Latenzzeit zu erwägen, Kohle kann unter Aspirationsschutz über eine ► Pflanze: Sonde appliziert werden, Diazepam wirkt ge- ● Wasserschierling, Cicuta virosa, Bilder:27. gen die Krämpfe. ► Struktur:28. ► Mechanismus: Der Wirkstoff Cicutoxin ist ein Veratridin im Weißen Germer nichtkompetitiver Antagonist an GABAA-Re- zeptoren, die Chloridkanäle steuern. Er ver- ► Pflanze: hindert die Öffnung von Chloridkanälen durch ● Weißer Germer, Veratrum album, Bilder:33. GABA (und damit die Stabilisierung des Mem- ► Struktur:34. branpotentials). Dies erklärt seine krampfer- ► Mechanismus: Veratridin hält Na+-Ionenkanäle zeugende Wirkung. offen. ► Klinik: Die Vergiftung ist ernst zu nehmen und ► Vergiftung: Die Symptome entsprechen der intensiv zu behandeln29. Nach einer kurzen Aconitinvergiftung, die kardialen Wirkungen Latenzzeit von 15-30 min beginnen Schwin- stehen im Vordergrund. Die Störungen der Er- del, Übelkeit, Erbrechen, es folgen Mydriasis, regungsbildung und -leitung bilden sich nur Krämpfe, Rhabdomyolyse, Nierenversagen, langsam über Tage zurück. Herzrhythmusstörungen und respiratorisches Versagen. Der Tod tritt durch Atemlähmung Andromedotoxin in Rhododendron ponticum ein. Eine Magenspülung in der ersten Stun- ► Pflanze: Rhododendron ponticum. Diese Rho- de nach der Ingestion kann Pflanzenreste dodendron-Spezies wächst an der Schwarz- entfernen. Kohle wird gegeben, wenn keine meerküste der Türkei, die Honigbienen bringen Aspirationsgefahr durch Erbrechen besteht. die Toxin-beladenen Pollen in die Bienenhäu- Beatmung bei Ateminsuffizienz und Hämodia- ser. lyse bei Nierenversagen sind indiziert. Die Pro- ► Struktur:35. Andromedotoxin, Grayanatoxin 1 gnose bei konsequenter Therapie ist gut. und Acetylandromedol sind drei Namen für die gleiche Verbindung. Aconitin im blauen Eisenhut ► Mechanismus: Andromedotoxin vermehrt die ► Pflanze Zahl der während des Ruhepotentials offenen ● Blauer Eisenhut, Aconitum napellus, Bild:30. Na+-Kanäle, wodurch das Ruhepotential an ► Struktur:31. das Schwellenpotential angehoben wird und ► Mechanismus: Aconitin bindet an die offenen die Zellen bereits auf kleine synaptische De- Na+-Ionenkanäle auf Nerven, Muskulatur und polarisationen Aktionspotentiale bilden. Herzmuskulatur und hält die Kanäle offen. Die ► Klinik:36. Vergiftungen werden in der Türkei Zellen bleiben in dauernder Depolarisation. und in Deutschland bei türkischen Männern ► Klinik:32. Aconitin wird schon durch Essen beobachtet, die “Pontischen Honig” (gewon- der oberirdischen Teile des blauen Eisenhu- nen an der Schwarzmeerküste der Türkei) als tes aufgenommen. Die Symptome erscheinen Aphrodisiakum gegessen haben. Die Vergif- mit einer Latenzzeit von 10-90 min: Periora- tungen verlaufen meist undramatisch, Schwin- les und intraorales Taubheitsgefühl, Schwin- del, Übelkeit, Bradykardie und Störungen der del, Erbrechen, Muskelschwäche, Bradykardie Erregungsbildung (Vorhoftachykardie) und Er- und Herzrhythmusstörungen, Hypothermie, regungsleitung (AV-Block, ventrikuläre Extra- Krämpfe. Die Vergiftung kann lebensgefährlich systolie) stehen im Vordergund. 552 Kapitel 113: Pathogene Pflanzen

Taxine in der Eibe Kapitel 114 ► Pflanze: Giftige Meerestiere ● Eibe, Taxus baccata, Bild:37. ► Strukturen:38. Übersicht1. Wir stellen in diesem Kapitel nur Le- ► Mechanismus: Die Taxine verschießen Na+- bewesen vor, die in europäischen Gewässern (At- und Ca++-Kanäle, besonders am Erregungslei- lantik, Mittelmeer, Nord- und Ostsee, Schwarzes tungssystem und an den Cardiomyocyten. Meer) vorkommen. ► Klinik: Vergiftungen entstehen durch Kauen der Nadeln und der “Beeren” (die weiche Sa- Toxine und Gifte menhülle ist nicht toxisch, der Kern aber sehr). Die Bakterien, Dinoflagellaten und Pflanzen, die Betroffen sind meist Kinder. Nach einer La- wir kennengelernt haben, enthielten in der Regel tenzzeit von 30 min entwickelt sich eine Tachy- eine toxische Substanz, die die toxische Wirkung kardie, zu der später ein AV-Block hinzutritt, hervorbrachte. Wir haben für diese Einzelsubs- Mydriasis und Hypotonie. Die Wirkung auf das tanz immer das Wort “Toxin” und nie das Wort Herz ist für den Exitus maßgebend. Eine Ma- “Gift” benutzt. genspülung ist in der ersten Stunde nach In- gestion sinnvoll, Kohle soll unbedingt appliziert ○ Wir bezeichnen als Toxine toxische, von Lebe- werden. Intensivtherapie ist erforderlich. Nach wesen produzierte Einzelsubstanzen. überstandener Vergiftung kann ein Leberscha- Im Tierreich erweitert sich die Situation. Zwar den zurückbleiben. gibt es immer noch Tiere, die durch nur ein To- xin giftig sind, wie z. B. der im Roten Meer vor- Andere toxische Pflanzen kommende Fisch Pardachirus marmoratus, der allein mit dem Polypeptid Pardaxin die Haifi- Mezerein im Seidelbast sche abwehrt, aber andere Tiere wie z. B. Ke- ► Pflanze: gelschnecken greifen mit mehreren Toxinen ● Seidelbast, Daphne mezerum, Bilder:39. gleichzeitig an: α-Conotoxin hemmt N-Acetyl- ► Struktur:40. cholinrezeptoren auf Neuronen und Myocyten, ► Mechanismen: Mezerein und das verwandte δ-Conotoxin hemmt die Inaktivierung span- Daphnetoxin aktivieren die Proteinkinase C nungsabhängiger Na+-Kanäle auf Neuronen und und induzieren die Bildung von Interleukin 1. hält sie offen, κ-Conotoxin hemmt K+-Kanäle auf Mezerein ist ein Tumor-Promotor. Neuronen, µ-Conotoxin hemmt spannungsab- ► Klinik: Giftig sind vor allem die Samen. Wer- hängige Na+-Kanäle auf den Myocyten, ω-Cono- den sie gekaut, beginnt ein heftiges Brennen toxin hemmt spannungsabhängige Ca++-Kanäle im Mund und Rachen, dann schwellen die Lip- auf Neuronen (s. Kap. 58, Ziconotid). pen und das Gesicht. Erbrechen und Durchfall ○ Wir bezeichnen als Gift eine Komposition aus folgen. Mit Verzögerung folgen weitere Symp- mehreren Toxinen und Hilfssubstanzen (z. B. tome, eine Niereninsuffizienz kann entstehen. Enzyme zur Permeabilitätserhöhung von Ge- weben). Colchicin in der Herbstzeitlosen s. Kap. 33. Bild:41. Aktiv und passiv giftige Tiere Strychnin aus der Brechnuss, Nux vomica, hat Bakterien, Dinoflagellaten und Pflanzen geben in Deutschland nur noch historisches und wis- ihre Toxine nicht nur ab, sondern produzieren sie senschaftliches Interesse. Struktur:42. Es hemmt auch. Sie sind aktiv giftige Lebewesen. Glycinrezeptoren im ZNS, besonders im Rü- Aktiv giftige Tiere produzieren ihr Gift eben- ckenmark, und führt dadurch zu Krämpfen. falls selbst, wie z. B. der Polyp Physalia physa- lis (Portugiesische Galeere), die Kegelschnecke 553 Kapitel 114: Giftige Meerestiere

Conus geographicus, der Fisch Trachinus draco Struktur seiner Peptid- und Proteintoxine ist un- (Petermännchen, neuerdings Echiitis draco), die bekannt. Das Gift erzeugt brennende Schmerzen, Honigbiene Apis mellifera, die Schlange Vipera Lebensgefahr besteht nicht. Allergieerzeugung berus (Kreuzotter). ist möglich. Passiv giftige Tiere nehmen ihr Gift – in der ► Therapie: Nicht reiben! Durch Reiben werden Regel ein einzelnes Toxin – durch Verzehr ande- noch intakte Nesselkapseln auf der Haut zur rer Lebewesen auf. Dies gilt z. B. für die Mies- Explosion gebracht. Mit feuchtem Ufersand muschel Mytilus edulis oder den Kugelfisch bedecken und mit einer Plastikkarte, einem Lagocephalus sceleratus. Plastikmesser oder einem Messerrücken ab- schieben (schieben, nicht drücken) auf eine Meerestiere im europanahen Atlantik, Unterlage (Kartenfläche, Messerklinge), nicht im Mittelmeer und im Schwarzen Meer auf die danebenliegende Haut. Die Vorstellung der weltweit vorkommenden gif- Die Leuchtqualle, Pelagia noctiluca tigen Meerestiere übersteigt den Rahmen dieses Buches. Hingegen bleibt die Darstellung über- Bild:4. Die Leuchtqualle kommt häufig im Mittel- sichtlich, wenn wir uns auf Deutschland und die meer vor, sehr selten auch im Atlantik. Sie hat 8 europäischen Urlaubsgebiete beschränken. Tentakel. Das Gift ist ein Gemisch von Proteinto- xinen mit > 50 000 MW5. Es kann kleine Hautne- Prophylaxe: krosen erzeugen und wirkt (lokal) hämolytisch. Die Therapie entspricht der bei der Feuerqualle. ► Wenn die Behörden warnen Allergieerzeugung ist möglich - vor dem Baden wegen Quallengefahr, - vor der unvorsichtigen Hakenlösung bei gean- Die Kompassqualle, Chysaora hyoscella, gelten Fischen, - vor der Zubereitung geangelter Fische, Bild:6. Die Kompassqualle kommt im Mittel- dann sollte eine solche Warnung strikt befolgt meer, an der Atlantikküste und an der Küsten von werden. Nord- und Ostsee vor. Sie hat 4 Tentakel. Die Be- ► Wegen des Vorkommens des Petermänn- schwerden nach einer Vernesselung sind erträg- chens an allen europäischen, vor allem aber lich, treten aber großflächig auf. an mediterranen Küsten sind Badeschuhe im- mer “indiziert”. Die Portugiesische Galeere, Physalia physalis, ► Wer in außereuropäischen Gebieten einen Ba- Bild:7. Die Portugiesische Galeere ist die gefähr- deurlaub plant, sollte sich stets über die dort lichste Qualle in unseren Breiten, und sie scheint lebenden giftigen Wassertiere informieren. Be- sich auszubreiten. Über Todesfälle wurde berich- reits an der nordamerikanischen Atlantikküste tet. Sie sieht aus wie eine große Qualle, ist aber leben Spezies, die in Europa nicht vorkom- eine Polypenkolonie mit spezialisierten Individu- men. en (Zooiden). Sie hat einen großen CO2-gefüllten Gasraum, schwimmt deshalb an der Oberfläche Die Feuerqualle, Cyanea capillata und ist gut zu sehen. Ihre Tentakel sind im Mittel Bild:2. (Mediterrane Quallen, Übersicht:3). 1,5 m lang, können aber bis 50 m lang werden. Die Feuerqualle kann in allen europäischen At- Sie wurde vor den Kanarischen Inseln, vor Ca- lantik- und Mittelmeerküsten auftauchen, gele- diz und vor der Atlantikküste nordwärts bis zur gentlich auch in der Ostsee. Sie hat bis zu einem Gironde, vor Mallorca, Formentera und Malta Meter lange Tentakeln, an deren Enden Nessel- gesichtet. Der warme Golfstrom trägt sie bis vor kapseln sitzen. Bei Berührung “explodieren” die die irische Küste. Bei ihrem Auftauchen muss je- Nesselkapseln und injizieren mit einem für Qual- der das Wasser schnell verlassen. Meist weisen len typischen Mechanismus das Nesselgift. Die Warnschilder auf eine akute Gefahr hin. Selbst 554 Kapitel 114: Giftige Meerestiere

von gestrandeten toten Exemplaren geht größte enthält außer Trachinus draco noch andere Spe- Gefahr aus, solange die Nematocysten auf den zies, die sich aber alle auf gleiche Weise mit Gift Fangarmen noch funktionsfähig sind. gegen Angreifer verteidigen. Zum Laichen gräbt Das Gift befindet sich in den Nematocysten sich Trachinus in den Sand ein. Wenn sich ein und ist ein Gemisch aus mehreren Toxinen, un- Badender nähert, flieht der Fisch nicht, sondern ter denen Physaliatoxin (MW 240 000) die größte richtet seine Rückenflossen auf. Die Strahlen der Bedeutung hat. Physaliatoxin öffnet in der Mem- vorderen Rückenflosse sind mit Drüsenpaketen, bran aller Zellen Poren, die besonders für Ca++ die den Giftvorrat bilden und speichern, und mit durchlässig sind8. Das einströmende Calcium Führungsrinnen für das Gift bewehrt. Tritt der setzt auch Histamin und Cytokine frei. Die Po- Badende auf den Fisch, wird das Gift in seinen renbildung ist weiterhin Ursache für die lebens- Fuß injiziert. Augenblicklich entsteht ein “höl- gefährdende cardiotoxische und hämolytische lischer” Schmerz, denn ein schnell wirkendes Wirkung. Toxin hat alle umgebenden Zellen, darunter die afferenten Neurone depolarisiert. Ein Ödem folgt ► Klinik: Nach Kontakt mit den Fangarmen der nach, Blasen können sich bilden. Portugiesischen Galeere – meist ist der Kon- takt lang und erfolgt mit mehreren Tieren ► Therapie11: Abgebrochene Stacheln, die in gleichzeitig – entstehen stärkste Schmer- der Wunde stecken, müssen entfernt werden. zen, die den Patienten in den Schock treiben. Wegen der großen Schmerzen wurden Opiate Wasser-Retter dürfen den Selbstschutz nicht gegeben (Kasuistiken). Gegen Tetanus muss vergessen. Auf dem Land werden alle Ne- aktiv immunisiert bzw. ein bestehender Schutz matocysten, Fangarmreste usw. von der Haut aufgefrischt werden. Eine Allergie kann zu- entfernt (In­strumente, Handschuhe, nicht die rückbleiben. bloßen Hände nehmen), befallene Extremitä- ten des Patienten werden in heißes Wasser getaucht (45 °C). Die Weiterbehandlung im Hospital ist unbedingt erforderlich. Die uner- träglichen Schmerzen erfordern den Einsatz von Opiaten. Es entwickeln sich lokal Gefäß- spasmen, Ödeme und Mikrothrombosen, die ein Kompartmentsyndrom und Nekrosen ver- ursachen können. Eine ausgeprägte Allergie kann zurückbleiben.

Die Wachsrose (Seeanemone), Anemonia sulcata, Bild:9. Die Wachsrose gehört zu den Polypen. Sie haf- tet auf felsigem Meeresgrund, meist in Symbio- se mit anderen Lebewesen. Ihr führendes Toxin hält Na+-Kanäle offen. Wenn man auf eine See­ anemone tritt, entsteht ein brennendes Gefühl, das sich aber bald zurückbildet. Besteht aber durch einen früheren Kontakt eine Allergie, kann ein anaphylaktischer Schock ausgelöst werden.

Das Petermännchen, Trachinus draco, Bild:10. Das Petermännchen kommt an allen eu- ropäischen Küsten vor. Die Familie Trachinus 555 Kapitel 115: Giftige Landtiere

Kapitel 115 nem Stich, der nicht in der Mundhöhle oder im Rachen erfolgt ist, genügt die Entfernung des Giftige Landtiere Stachels (Biene), Kühlung der Stichstelle (und Beruhigung eines gestochenen Kindes). Bienen, Wespen, Hornissen ● Nach einem Stich in der Mundhöhle oder im Rachenraum muss durch Schlucken/Lutschen In Europa heimisch und mit Toxinen bewehrt sind von Eis gekühlt und auf einer Intensivstation ● die Honigbiene, Apis mellifera, weiterbehandelt werden, denn die (rechtzeiti- ● die Vespula vulgaris und Vespa germanica so- ge!) Intubation kann erforderlich werden4. wie ● Häufiger ist die Auslösung eines anaphylak- ● die Hornisse, Vespa crabo. tischen Schocks, die auch verzögert erfolgen ► Strukturen:1. Am besten untersucht ist das kann5. Therapie: s. Kap. 45. Bienengift. Es enthält die drei Peptide Melittin, Apamin und MCD-Peptid, ferner eine Phos- Spinnen pholipase und Histamin. Die Gifte der Wespen und Hornissen sind ähnlich zusammengesetzt. In Europa gibt es nur eine Spezies einer giftigen ► Mechanismen: Spinne, die ○ Melittin ist eine amphiphile (seifenähnliche) ● Schwarze Witwe, Latrodectus tredecimgutta- Verbindung: Seine lipophilen Aminosäuren tus. Sie kommt in Südeuropa vor und wurde vermitteln seine Insertion in die Plasmamem- häufig an der kroatischen Küste gesichtet. In branen, dort bilden vier Melittin-Moleküle (Te- Kroatien wird ein Antiserum gegen das Spin- tramer) Poren, deren Innenwand durch die nengift vorrätig gehalten. hydrophilen Aminosäuren gebildet werden. Die ► Struktur: Im Spinnengift befinden sich mehre- Poren sind unspezifisch durchgängig für kleine re Latrotoxine6, unter denen das α-Latrotoxin7 Ionen. führend ist. Seine Struktur ist aufgeklärt: Es ist ○ Apamin blockiert Ca++-abhängige K+-Kanäle ein Protein von 131,5 kDa und hat nur periphe- recht spezifisch. re Wirkungen. ○ Das MCD-Peptid degranuliert Mastzellen und ► Mechanismus: α-Latrotoxin wirkt auf zwei We- entleert aus ihnen u. a. Histamin. gen: ► Allergie: Die Bestandteile des Bienengiftes ○ Erstens bindet es an ein Membranprotein (La- sind starke Allergene und sensibilisieren für trodectin), bildet ein Kanal-Tetramer und öffnet eine allergische Reaktion vom Typ Coombs I2. so Ca++-Kanäle auf präsynaptischen Termina- ► Wirkungen: Bienen lassen beim Stich den Sta- len motorischer Nerven und endokriner Zellen. chel in der Wunde, Wespen und Hornissen Das führt zu einem massiven Einstrom von nicht. Allgemein bekannt sind die sofort ein- Ca++-Ionen. setzenden Schmerzen, die Schwellung und ○ Zweitens bindet es an Rezeptoren (Neurexin die Rötung. Wespen und Hornissen scheiden und Latrophilin). Diese Rezeptoren sind an ein beim Stich ein Pheromon aus, mit dem ande- Gαq/11-Protein gekoppelt, ihre Stimulation führt re Tiere aus dem gleichen Volk angelockt und über eine Signalstrecke zur Freisetzung von zum Stechen veranlasst werden. Der Stich ei- Ca++ aus intrazellulären Speichern. nes einzelnen Insektes wird nur in zwei Fällen Die Erhöhung der Calciumkonzentration auf gefährlich: zwei Wegen führt zuerst zur starken Ausschüt- - Der Stich erfolgt in den Mund oder Rachen, tung aus den Transmitterspeichern bis zu de- wonach die Schwellung die Atemwege ver- ren Entleerung. engt. ► Klinik:8. Die Patienten bekommen sehr starke - Ein anaphylaktischer Schock wird ausgelöst. Bauchschmerzen, in der Umgebung der Biss- ► Therapie: Nach einem Angriff durch einen We- stelle wird Schweiß gebildet und die Haare spen- oder Hornissenschwarm kann stationäre richten sich auf, der Blutdruck und die Herz- Behandlung erforderlich werden3. Bei nur ei- frequenz steigen erheblich. Über die Schwere 556 Kapitel 115: Giftige Landtiere

des Krankheitsbildes gibt es unterschiedliche zur Herstellung von Pfeilgiften. In Europa wer- Berichte. In den Hospitälern der kroatischen den die schönen Frösche in Terrarien gehalten Adriaküste gilt die Vergiftung als erheblich. Sie (Gefahr durch illegale Importe!). Wenn sie lan- wird dort mit einem Antiserum behandelt. ge genug außerhalb ihrer Heimat gehalten und anders ernährt wurden, ist aus Skorpione ihrem Hautsekret verschwunden. ► Mechanismus: Batrachotoxin bindet an die ge- ● Euscorpius italicus ist ein 5 cm langer Skorpi- öffneten spannungsabhängigen Na+-Kanäle on, der südlich der Alpen und im ganzen Mit- erregbarer Membranen und hält sie offen. telmeerraum vorkommt. Er sieht bedrohlich aus und sticht den Unvorsichtigen, ist aber nur Schlangen in Europa schwach giftig. ● Buthus occitanus, der Feldskorpion (Bild:9) In Europa kommen mindestens neun Spezies gif- lebt in Südfrankreich, Spanien, südlich der Al- tiger Schlangen vor, aber nur drei Spezies sind pen bis Israel und in Nordafrika dort, wo das häufig: Gelände trocken ist. Er ist giftiger als Euscor- ● Die Kreuzotter, Vipera berus, kommt in ganz pius. Das Gift enthält eine ungewöhnlich große Europa bis in den hohen Norden und auch au- Zahl von Peptiden10, die alle auf Ionenkanäle ßerhalb Europas vor. wirken. Für das klinische Vergiftungsbild be- ● Die Aspisviper, Vipera aspis, kommt nur in Eu- stimmend sind die Peptide, die den Na+- Kanal ropa vor und bevorzugt die steinigen und tro- erregbarer Membranen offen halten. ckenen Hänge und Hochflächen in südlichen ► Klinik: Besonders bei Kindern können die kar- Lagen (Spanien, Südfrankreich, Schwarzwald, diovaskulären Symptome bedrohlich sein. An- Italien, auch weiter östlich). tiserum wird vorgehalten in (Urlaubs-)Ländern, ● Die Hornviper, Vipera ammodytes, ist die in denen Vergiftungen durch Buthus occitanus giftigste der drei Arten. Sie lebt in der Stei- häufig sind. ermark, in Kärnten, Norditalien, in allen Bal- kanstaaten, in der Türkei und noch weiter Frösche und Kröten östlich. ● Bufo vulgaris und nicht-europäische Kröten. Die Gemeinsamkeiten der drei Spezies sind so In Nordeuropa ist nur die Erdkröte Bufo vulga- zahlreich, dass wir sie gemeinsam diskutieren ris giftig. Kröten produzieren ein Hautsekret, können. das Tryptamin-Derivate (z. B. Bufotenin) und ► Vipern: Vipern greifen Menschen nicht an, son- digitalis-ähnliche Steroid-Derivate (z. B. Bufo- dern neigen zur Flucht. Werden sie bedroht, toxin) enthält. Strukturen:11. nehmen sie eine S-förmige Haltung an oder Nach Kontakt mit der unverletzten Haut wer- rollen sich auf. Aus dieser Position kann der den die Verbindungen nicht wesentlich resor- Angriff erfolgen. Vipern entleeren beim Biss ihr biert. – Indes enthält das Aphrodisiakum “Love Gift durch Röhren in den Fangzähnen (Ober- Stone” (Herkunft: Karibik) und das “alternative kiefer). Nicht immer wird der gesamte Giftvor- Herzmittel” Chan Su (Herkunft: Ostasien) ge- rat injiziert. trockneten Krötenextrakt. Die Vergiftungen ► Identifikation: Der Laie, der eine Schlange imponieren als z. T. schwere Digitalis-Vergif- wahrnimmt, wird in der Regel nicht erkennen tungen und werden auch so behandelt. Digita- können, welcher Spezies sie angehört. Die lis-Antikörper sind wirksam12. Unterarten können sehr unterschiedlich ge- ● Phyllobates terribilis und verwandte Spezies färbt sein, und um das “Horn” auf der Nase von (“Pfeilgift-Frösche”). Vipera ammodytes sicher zu erkennen, müss- In ihrer Heimat (Nicaragua, Kolumbien) produ- te er sich der Schlange gefährlich nähern. zieren diese Frösche aus regionaler Nahrung “Aufgeringelte” Schlangen können ca. 60 cm das sehr toxische Batrachotoxin (Struktur:13). weit springen. Die Ureinwohner verwenden das Hautsekret ► Prophylaxe: 557 Kapitel 115: Giftige Landtiere

○ Festes Schuhwerk und lange, nichtanliegende wärmen oder kühlen. Nichts trinken oder es- Hosen tragen. sen lassen. ○ Darauf achten, wohin man beim Wandern die ● Was der Laienhelfer tun soll: Die gebissene Füße setzt, worauf man sich zur Rast setzt, Extremität wird ruhig gestellt, der Gebisse- wohin man beim Klettern oder Beerenpflücken ne wird beruhigt und in den Schatten gelegt. greift, und ob auf dem besonnten Wanderweg Wegen der zu erwartenden Schwellung wer- oder Kletterpfad eine Schlange liegt. Bedenke, den Ringe und Schmuck entfernt, Schuhe oder dass Kinder und Hunde immer neugierig wer- Stiefel ausgezogen. Der Transport in ein Kran- den, wenn da etwas raschelt. kenhaus (zwingend und umgehend notwen- ○ Vor einer Schlange in Angriffsstellung keine dig) wird durch Anruf mit dem Mobiltelefon14 schnellen Bewegungen ausführen. bei der Polizei, Rettungsleitstelle, im Gebirge ► Inhaltsstoffe: Die Viperngifte enthalten mehre- auch bei der Bergrettung eingeleitet. Im Hos- re unterschiedliche Neurotoxine und Enzyme. pital wird der Patient nach den Regeln der Die Enzyme sind “hämatotoxisch”, d. h. sie modernen Intensivmedizin symptomatisch be- zerstören Blutzellen und lokale Gewebezellen. handelt. Gerinnungsaktive Stoffe enthalten sie kaum. ► Antiserum: Nur in Ausnahmefällen ist die In- Erst in neuester Zeit sind die analytischen jektion von Antiserum indiziert – stets i.v., weil Methoden soweit entwickelt, dass die Identifi- nach Injektion i.m. die Resorption im Schock zierung und Strukturaufklärung der einzelnen zu langsam wäre, stets in genügend hoher Do- Komponenten realistisch ist. sis, und stets in Bereitschaft, eine anaphylakti- ► Verlauf der Vergiftung: Wenn beim Biss Gift sche Reaktion zu beherrschen. übertragen wurde (was nicht immer ge- Indikationen sind (Stockholmer Kriterien): schieht), entsteht eine Schwellung, und zwar - therapieresistente Hypotonie und Kreislauf- umso schneller, je größer die injizierte Gift- schock, menge ist. Nach einem Biss in einen Finger - protrahierte schwere gastrointestinale Symp- oder Zeh kann die Schwellung sich in den tome, nächsten Stunden bis zum Nabel ausbreiten. - Ödem mit Gefahr der bronchialen Obstruktion, Nach einem Biss in die Extremitäten wird eine - rasche Ödemausbreitung auf die ganze Extre- Lymphangitis deutlich, die regionalen Lymph- mität und den Stamm, knoten schwellen an. Die Bissstelle schmerzt - ZNS-Depression, periphere und zentrale Pare- und verfärbt sich rot-bläulich. Übelkeit, Erbre- sen, chen, heftige Bauchschmerzen, Tachykardie, - metabolische Acidose, wiederholte hypertone Phasen, Schock, in - Hämolyse, Gerinnungsstörungen, schweren Fällen auch Dyspnoe stellen sich - EKG-Veränderungen. ein. In Ausnahmefällen kann ein Kompart- Präparate sind mentsyndrom entstehen. ○ Vipera Tab® – Fab-Fragmente vom Pferd, ► Therapie: Wenn der gebissene Patient rich- ○ Viperfav® – F(ab’)2-Fragmente vom Pferd. Die tig behandelt wird, sind Bisse europäischer Präparate werden in besonderen Zentren vor- Schlangen nur in extremen Ausnahmefäl- gehalten (Auskunft bei den Giftinformations- len tödlich. Nach Auswertung der Erfolge der stellen) und mit einer Anwendungsanweisung früher empfohlenen zum Teil aggressiven ausgeliefert. Maßnahmen der Ersten Hilfe (mit negativen Ergebnissen) gilt heute: Außereuropäische Giftschlangen ● Was der Laienhelfer unterlassen soll: Jegliche mechanische Manipulation an der Bisswunde Anders als Vergiftungen durch europäische Gift- nach dem Biss ist falsch. Das gilt auch für das schlangen haben solche durch außereuropäische Aussaugen und für das Wickeln von Extremi- Giftschlangen eine teilweise hohe Mortalität. täten mit einer elastischen Binde. Kein Anti- Außer neurotoxischen Schäden verursachen sie serum außerhalb einer Klinik injizieren. Nicht z. T. schwerste Gerinnungsstörungen und tiefe 558 Kapitel 115: Giftige Landtiere

Nekrosen. Fernurlaubern sei dringend geraten, Kapitel 116 sich vor Reiseantritt hinreichend zu informieren und gegebenenfalls Antiserum mitzuführen, das Anwendung von toxischen bei Bissen durch giftige Schlangen schon im Na- Stoffen durch Menschen gegen hen Osten (hier zum Beispiel durch die Gemeine Sandrasselotter, Echis carinatus) und in Afrika, Menschen und Wirbeltiere Südasien, Australien (!), Südamerika und den Strukturen der in diesem Kapitel USA unbedingt indiziert ist. vorgestellten Verbindungen In Ländern mit einem guten Hospitalsystem und den zugehörigen Transportmitteln – etwa in ► Militärisch, paramilitärisch und polizeilich ge- den USA, Israel oder Australien – halten die Hos- brauchte Mittel: Strukturen1. pitäler in der Regel Antiseren vorrätig. Tränengas (CS 1), Capsaicin (OC), Clark Personen, die in Europa mit solchen Schlan- 1 (DA), Clark 2 (DC), Adamsit (DM), Lewi- gen umgehen (Personal in zoologischen Gärten, sit 1 (L-1),Schwefel-Lost, Senfgas (H), Stick- viele private Liebhaber) müssen das entsprechen- stoff-Lost (HN1), Sarin (GB), Tabun (GA), de Serum (das ein Verfallsdatum hat und teuer Soman (GD), VX, Chlorgas, Phosgen (CG), ist!) vorrätig halten. Cyanwasserstoff (AC), Chinuclidinylbenzilat (BZ). Die Großbuchstaben sind die internatio- nal gebräuchlichen Kurzbezeichnungen. ► Gegen Tiere gebrauchte Mittel: Strukturen2. Xylazin + Ketamin (zur Betäubung von Tieren aus der Ferne, “Narkosegewehr”) Picrotoxin, Rotenon ( zum Töten von Fischen).

Übersicht Absichten und geeignete Stoffe Absichten können sein: ○ Autoaggression: Suizidversuche z. B. mit überdosierten Arzneimitteln, mit Gartenche- mikalien, Industriechemikalien (NaCN), Koh- lenmonoxid (in Autoabgasen). ○ Abwehr von Angreifern (Menschen, Hunde, Bären ...) z. B. mit CS-Tränengas oder Capsai- cin (im Oleoresin capsicum). ○ Vertreibung von Menschen von Plätzen und die Auflösung von Menschenansammlungen z. B. mit CS-Tränengas oder Capsaicin. ○ Erzeugung von Handlungsunfähigkeit bei Tie- ren ohne Tötungsabsicht z. B. mit Xylazin + Ketamin (“Narkosegewehr”). ○ Erzeugung von Handlungsunfähigkeit bei Menschen ohne Tötungsabsicht z. B. mit dem Kampfstoff BZ = 3-Chinuclidinylbenzilat. ○ Vorsätzliche Tötung einzelner Landtiere, z. B. mit Batrachotoxin oder Curare im Pfeilgift. ○ Vorsätzliche Tötung einzelner Menschen (mit Arsentrioxid3, mit Amatoxinen in einem Pilzge- richt4, mit Thallium, Organophosphaten oder 559 Kapitel 116: Anwendung von toxischen Stoffen durch Menschen gegen Menschen und Wirbeltiere

Tumorinitiatoren in Speisen oder Getränken, ner Weltuntergangs-Ideologie heraus) auf fünf mit Ricin durch Inhalation oder Injektion, mit U-Bahn-Züge in Tokio. Thiopental + KCl durch Injektion bei Hinrich- Terroristen müssen Angriffsstoffe anders aus- tungen. “Giftmorde” sind – nicht zuletzt wegen bringen als Militärs. Artillerie und Flugzeuge der sehr guten Nachweisbarkeit – selten ge- können sie in der Regel nicht einsetzen, aber worden. dafür können sie zum Beispiel Abfallbehälter, ○ Vorsätzliche Tötung mehrerer Fische, z. B. mit die Trinkwasserversorgung, Gemeinschafts- Picrotoxin, Rotenon. küchen und Klimaanlagen instrumentalisieren, ○ Vorsätzliche Tötung mehrerer Landtiere, z. B. und sie können anders als das Militär in ge- von Nagern mit Gerinnungshemmern im Fraß- schlossenen Räumen angreifen und dort auch köder. Stoffe einsetzen, die im offenen Gelände zu ● Vorsätzliche Tötung mehrerer Menschen. flüchtig wären. Die finanziellen, chemotech- Beispiele: Massenmord von Menschen in nischen und biotechnischen Fähigkeiten der geschlossenen Räumen der NS-Konzentrati- Terroristen nehmen zu. Nach bisherigen Er- onslager mit HCN, oder in LKW-Containern mit kenntnissen aus vollendeten oder geplanten CO aus Autoabgasen, Tötung von Menschen Angriffen richtet sich ihr Augenmerk auf Sarin, in japanischen U-Bahnhöfen mit Sarin, Tö- Phosgen, Cyanwasserstoff, Senfgas, Ricin per tung von Menschen im offenen Gelände durch inhalationem, und auf Botulinumtoxin, Saxito- Kampfgase und Kampfaerosole. xin und Staphylokokkentoxin per os.

Aktuelle Bedrohungen Einzelne Stoffe ○ Militär: Es gibt zwar seit 1997 das internati- Ohne weiteren Kommentar bleiben die bereits onale Chemiewaffenabkommen über den vorgestellten Verbindungen Amatoxine (Kap. Nichtgebrauch und die Vernichtung chemi- 112), Batrachotoxin (Kap. 115), Chlorgas scher Kampfstoffe, aber einige militärisch be- (Kap. 106), Ketamin (Kap. 88), Kohlenmono- deutsame Staaten haben nicht unterzeichnet xid (Kap. 106), Thallium (Kap. 109), Vitamin oder nicht ratifiziert. Kampfstoffe wurden und K-Antagonisten (Kap. 35). werden militärisch eingesetzt. Die Erfahrung Mit zusätzlichem Kommentar: hat gezeigt, dass die organischen Phosphor- säureester Sarin und VX, Senfgas, Lewisit und Cyanwasserstoff (Blausäure) Adamsit bevorzugt werden. wurde in Kap. 106 vorgestellt. Es kann wegen ○ Polizei: Von den Augenreizstoffen sind nur seiner Flüchtigkeit nur in geschlossenen Räu- CS-Gas und Capsaicin-haltige Aerosole in Ge- men eingesetzt werden. Es kann freigesetzt wer- brauch. Der Gebrauch von CS nimmt ab. den durch Einwirkung einer starken Säure auf ○ “Terroristen”. Diese Bezeichnung greift zu ein Cyanid (NaCN technisch, KCN) oder durch kurz. Terroristen wollen Schrecken verbreiten, Ausgasen aus Zellstoff-Trägern (Zyklon B). An um die sie ablehnende Bevölkerungsmehrheit solche Träger gebundener Cyanwasserstoff wird zu verunsichern, sie wollen die Ohnmacht der noch heute als Insektizid hergestellt und von Staatsorgane hinsichtlich der Prävention de- professionellen Schädlingsbekämpfern zur Rau- monstrieren und auf diesem Hintergrund die mentwesung eingesetzt. Das im KZ Auschwitz Erfüllung von Forderungen gegen den Mehr- zur massenhaften Ermordung von Menschen ein- heitswillen erzwingen. Es gibt aber auch Grup- gesetzte Produkt enthielt nicht den sonst zuge- pen (wohl immer ideologisch motiviert), die setzten Geruchswarnstoff. die “Andersgläubigen” nicht zu etwas zwin- gen, sondern töten wollen. Sie stellen vor Phosgen oder nach der Tat keine Forderungen. Bei- spiel: Die Aum-Sekte verübte 1997 in Japan wurde mit seinem Wirkungsmechanismus in mit Sarin einen Anschlag (vornehmlich aus ei- Kap. 106 vorgestellt. Es muss als Aggressions- 560 Kapitel 116: Anwendung von toxischen Stoffen durch Menschen gegen Menschen und Wirbeltiere

stoff nicht wie andere flüssige Kampfstoffe ver- d-Tubocurarin sprüht oder in ein Aerosol gebracht werden, (Struktur:5) ist ein polarisierendes Muskelre- sondern wird als Gas, das schwerer als Luft ist laxans wie z. B. Pancuronium (Kap. 66). Es ist und vom Wind über das Gelände getrieben wird, Bestandteil südamerikanischer Pfeilgifte. Es ausgebracht. Es riecht nach faulem Heu. Wegen dringt nicht in das ZNS ein. seiner schlechten Wasserlöslichkeit wird es bis in Noch nicht vorgestellte Verbindungen: die Alveolen eingeatmet, reagiert dort mit Pro- teinen der Alveolarwände und dringt ins Inter­ CS-Gas und Capsaicin6 stitium ein. Ein Lungenödem bildet sich mit einer Latenzzeit, die von der Konzentration der einge- Diese Verbindungen sind Bestandteile von “Trä- atmeten Gases abhängt. Die Therapie ist die all- nengas”. Für Capsaicin wurde gezeigt, dass es gemeine Therapie eines Lungenödems. Phosgen Agonist am Vanilloidrezeptor TRPV1 ist. Dieser hat im 1. Weltkrieg mehr Tote erzeugt als jedes Kanalrezeptor kommt auf sensorischen Termi- andere Kampfgas. nalen vor, sein Kanal öffnet sich bei Stimulation für den Einstrom von Ca++. Viele Reaktionswege Organophosphate werden dadurch aktiviert, weshalb nicht nur mit “lokalen” vorübergehenden Schmerzwirkungen wurden in Kap. 63 vorgestellt. Für militärischen am Auge zu rechnen ist: Nach Inhalation höhe- Einsatz waren sie die vorrangig entwickelten Mit- rer Konzentrationen kann ein Lungenödem ent- tel. Die V-Produkte (z. B. VX) haben eine sehr stehen. Beim Einsatz im offenen Gelände ist dies hohe Toxizität und führen schnell zu schwerster unwahrscheinlich, wohl aber bei der Ausbrin- Vergiftung. Andere Verbindungen werden nach gung in geschlossenen Räumen. Bindung an die Acetylcholinesterase schnell am Die Augenreizstoffe werden nicht nur gegen Phosphoratom metabolisch dealkyliert (“schnelle Menschen, sondern auch zur Abwehr angreifen- Alterung”), wonach ein Reaktivator wie Obido- der Hunde, Bären oder anderer Tiere eingesetzt. xim (Kap. 63) das Enzym nicht mehr reaktivie- ren kann. – Organophosphate wurden militärisch Arsentrioxid nach 1945 mehrfach, u. a. im Nahen Osten, zur Vernichtung von gegnerischem Militär, von pa- Arsentrioxid (“Arsenik”) As2O3 war über ein ramilitärischen Einheiten und von Zivilisten in Jahrtausend das meistgebrauchte Mordgift. Es Ortschaften eingesetzt. Terroristen haben Sarin ist geschmacklos und wird nach Zufuhr p.o. zu verwendet (s. o.). Sarin lässt sich schon in einem 80 % resorbiert und in den intrazellulären Raum kleineren Geheimlabor mit einem Einstufen-Ver- transloziert. Dort binden Arsenionen kovalent fahren herstellen, hat den höchsten Dampfdruck an Thiol-Gruppen, und dadurch werden mehrere aller Organophosphate und erreicht deshalb nach metabolische Wege und Signalwege gestört (Ein- seiner Ausbringung schnell hohe Konzentratio- zelheiten:7). nen in der Luft. ► Klinik: Die akute Arsenvergiftung beginnt mit Übelkeit und schreitet fort über Erbrechen, Ricin schwere Koliken mit blutiger Diarrhoe, Nie- wurde in Kap. 113 vorgestellt. Das Protein wurde reninsuffizienz, Krämpfe zum Exitus innerhalb bereits bei einem politischen Mord mit einer in von 24 Stunden. – Die chronische Arsenvergif- einem Regenschirm verborgenen Vorrichtung in- tung wurde in Kap. 109 beschrieben. jiziert. Im Zeitraum 2010/2011 wurden im Nahen und Mittleren Osten organisiert und umfangreich Arsen-Antidote die Bohnen aus Ricinus communis aufgekauft. Als Antidote stehen zur Verfügung DMPS (Di- Aus den Bohnen lässt sich Ricin leicht extrahie- maval®, Natrium-dithiolpropansulfonat), DMSA ren. Ricin wird p. o. nur sehr wenig, aber nach (USA: Chemet®, 2,3-Dimercaptobernsteinsäure) Inhalation eines Staubes oder Aerosols gut resor- und BAL (Dithiolpropanol). Strukturen:8, Lite- biert. Es gibt kein Antidot gegen Ricin. 561 Kapitel 116: Anwendung von toxischen Stoffen durch Menschen gegen Menschen und Wirbeltiere ratur:9. Nur DMPS ist in Deutschland zugelassen, Mauern, Kunststoffe, Gummi, Leder und ande- aber nicht für die akute Arsenvergiftung. – Die drei re Bekleidungsmaterialien und wird wegen sei- Substanzen binden Arsen mit ihren Thiol-Gruppen ner guten Lipidlöslichkeit auch schnell durch die und beschleunigen die renale Elimination der so Haut resorbiert. Ist ein Viertel der Hautoberfläche gebildeten Arsenkomplexe. DMPS und DMSA benetzt, dann ist eine Art “Letale Fläche 50“ für sind bei physiologischen pH stark ionisiert, des- die Resorption erreicht. halb gut wasserlöslich und können i.v. injiziert ► Mechanismus: S-Lost verbraucht zuerst den werden, binden aber nur extrazelluläres Arsen und Glutathion-Vorrat des Organismus. S-Lost passieren nicht die Blut-Hirn-Schranke. BAL ist wirkt wie die chemisch verwandten Antineo- wenig wasserlöslich, muss deshalb in öliger Lö- plastika (Kap. 102, Cyclophosphamid und sung i.m. injiziert werden, wird in den intrazellulä- andere Alkylantien) durch Alkylierung der ren Raum und das ZNS transloziert, kann dadurch Nucleobase Guanin, was die lange Latenzzeit aber mehr Schaden als Nutzen bringen: Es kann bis zum Wirkungseintritt plausibel macht. wahrscheinlich extrazelluläres Arsen binden und ► Klinik: Frühsymptome erscheinen an den Au- in das ZNS translozieren. gen etwa 1 Std. nach der Einwirkung (Licht- scheu, Konjunktivitis, Ödeme). Anders als Lewisit und Adamsit bei Lewisit dauert es bis zum Erscheinen der Beide Stoffe sind organische Arsenverbindun- Hauptsymptome mehrere Stunden. Auf der gen. Die vorstehend für Arsentrioxid genannten Haut bilden sich große Blasen, in der Lunge Antidote sind auch gegen Lewisit und Adamsit entsteht bei schwerer Vergiftung ein tödliches wirksam. BAL (British Anti-Lewisit) wurde so- Ödem. Die Vergiftung dauert Wochen. Die Pa- gar speziell als Antidot gegen Lewisit entwickelt. tienten leiden wie bei einer Verbrennung zwei- Adamsit und Lewisit haben einen niedri- ten oder dritten Grades unter sehr großen gen Dampfdruck und müssen versprüht oder als Schmerzen. Aerosol ausgebracht werden. Zwar bindet das ► Die Therapie gleicht der bei Verbrennun- Arsen beider Stoffe wie das des Arsentrioxid an gen. Die Dekontamination der Haut vor der SH-Gruppen der Enzyme, aber das kann nicht schmerzhaften Blasenbildung ist mit Natri- alle Wirkungen erklären. umhypochlorit möglich. ► Klinik: Auf der Haut entsteht schnell eine 3-Chinuclidinylbenzylat (BZ) schmerzhafte Rötung, bei Kontakt mit flüs- siger Substanz gefolgt von Blasenbildung Bz ist der erste “Psychokampfstoff”, der für den nach ca. 12 Std. mit z. T. tiefen Nekrosen. Die militärischen Einsatz vorbereitet und an Perso- schmerzhafte Reizung der Augen kann, wenn nen erprobt wurde. Sein militärischer Einsatz ist die Augenspülung unterbleibt, ebenfalls von durch die Chemiewaffenkonvention verboten. Nekrosen gefolgt sein. Die Inhalation erzeugt ► Kinetik: Der Einsatz von BZ wurde in Form ei- ein Lungenödem. Die metabolischen Verände- nes Aerosols konzipiert, es wird aber auch oral rungen, das Lungenödem und die Infektion der und perkutan gut resorbiert. BZ wird metabo- Nekrosen führen zum Exitus. lisiert und renal ausgeschieden, aber es wirkt ► Therapie: Injektion von DMPS, Wechsel der tagelang. Bekleidung (aufschneiden und abklappen, ► Mechanismus: BZ ist Antagonist an peripheren nicht über die gesunde Haut ziehen), sofortige (M , M ) und zentralen (M , M ) Acetylcholin- ausgiebige Spülung aller kontaminierten Haut- 1 3 1 4 rezeptoren10. flächen. ► Klinik: Das Vergiftungsbild hat qualitativ Ähn- lichkeit mit einer Atropinvergiftung (Kap. 65). S-Lost Die zentralen Wirkungen sind aber weit stär- Der Stoff muss in Form von Tröpfchen oder als ker ausgeprägt, denn BZ ist bei physiologi- Aerosol ausgebracht werden. S-Lost durchdringt schem pH kaum ionisiert und passiert gut die 562 Kapitel 116: Anwendung von toxischen Stoffen durch Menschen gegen Menschen und Wirbeltiere

Blut-Hirn-Schranke. Über anfängliche Unruhe Kapitel 117 und Konfusion führt die Vergiftung zur Agita- tion und zu Halluzinationen, die die Zielperso- Antidote nen kampfunfähig machen. Hinzu kommt der Wegweiser: Von der Vergiftung zum Antidot Verlust der Akkomodation, der die Bedienung In der Praxis führt der Weg von der Diagnose der von Waffensystemen erschwert. Vergiftung zur Auswahl des Antidotes. Der fol- ► Die Therapie ist symptomatisch. Auf folgende gende Wegweiser zeigt deshalb für verschiedene Symptome ist besonders zu achten: Urinreten- Intoxikationen ein oder mehrere Antidote. tion, Wärmestau, Tachykardie, Glaukom, Lun- genödem, aggressive Handlungen. ● Der Nutzen mehrerer Verbindungen als Antidot ist klinisch schwach belegt. Xylazalin + Ketamin ○ Mehrere aus dem Ausland importierte Antido- te haben in Deutschland keine offizielle Zulas- Xylazalin ist Agonist an α -Rezeptoren im ZNS. 2 sung. Das begründet noch keinen Zweifel an In Kap. 70 haben wir erfahren, dass solche Ago- ihrer Wirkung. Anträge auf Zulassung werden nisten eine sedierende Wirkung haben. Die Zu- u. a. dann nicht gestellt, wenn der seltene Ein- lassung von Dexmedetomidin zur Sedation satz eines Mittels die Kosten der nationalen beruhte auf dieser Wirkung. Auch Xylazalin ist Zulassungsprozedur nicht rechtfertigt. ein gutes Sedativum, wird aber nicht in der Hu- ● Niemals genügt für die Therapie einer Vergif- manmedizin, sondern in der Veterinärmedizin in tung allein die Gabe von Antidoten! Kombination mit Ketamin (Kap. 88) zur starken Sedierung eingesetzt. Mit “Narkosegewehren” Antidote können die allgemeine Intensivtherapie werden Injektionsvorrichtungen verschossen, die von Vergiftungen ergänzen. die Kombination als “Hellabrunner Mischung” ● Auch Antidote haben UAW. Chelatbildner be- enthalten. schleunigen z. B. nicht nur die Ausscheidung toxischer Metalle, sondern können auch die Fischgifte: Rotenon, Picrotoxin Konzentration lebensnotwendiger Metalle in ● Rotenon ist ein Naturprodukt aus den Wurzeln pathologische Bereiche senken. Deshalb ist von Pflanzen (Leguminosen), die in Südame- bei jedem Patienten zu überlegen, ob der er- rika und auf den südlichen Inseln des Pazifik hoffte Nutzen eines Antidots größer ist als der vorkommen. Es blockiert an der Innenseite der mögliche Schaden. Mitochondrien die Synthese von ATP. Die indi- Für alle Antidote aber gilt: genen Einwohner fischen damit. In den USA wird es zur Tötung des gesamten Fischbe- ● Nach Gabe eines Antidots ist zu prüfen, ob standes in einem geschlossenen Gewässer es kritische Laborwerte verbessert hat, und verwendet, wenn eine neue Fischpopulation ob es darüber hinaus einen klinischen Nut- angesiedelt werden soll. zen erbracht hat. Wenn ein Antidot ohne the- ● Picrotoxin ist ebenfalls ein Naturprodukt. Es rapeutische Wirkung geblieben ist, müssen ist in den Früchten der Scheinmyrte enthal- zwingende Gründe vorliegen, seine Gabe zu ten (Anamyrta cocculus, von Indien bis in die wiederholen. südpazifischen Inseln verbreitet). Die indige- nen Bewohner verwenden es zum Fischfang. Vergiftungen und Antidote Picrotoxin ist ein Gemisch aus zwei Verbin- Toxisches Agens Antidote dungen,von denen Picrotoxinin der wirksame Bestandteil ist. Picrotoxinin ist nichtkompetiti- Acetaldehyd Ascorbinsäure ver Antagonist an GABAA-Rezeptoren. Durch Aufhebung der GABA-Inhibition erzeugt es Krämpfe. Acrolein Mesna

Tabelle 117.1. Vergiftungen und zugehörige Antidote. 563 Kapitel 117: Antidote

Acrylnitril zuerst 4-DMAP 3-4 mg/ Ethylenglykol (Ethanol, veraltet), Flu- kg KG (noch modern?) mazenil; bei Hypocalcä- danach Natriumthiosul- mie Calciumgluconat fat 100 mg/kg KG Fluorwasserstoff Calciumgluconat danach Acetylcystein (=Flusssäure) nach Dosierungssche- ma Gold Penicillamin Aluminium Deferoxamin Hautresorbierte Macrogol 400 Gifte Amatoxine Silibinin Heparin Protamin Anticholinerges Physostigmin Syndrom Isonicotin- Pyridoxin säurehydrazid Antimon DMPS Jod 131 Kaliumjodid Arsen DMPS, Penicillamin Kobalt NaCaEDTA Atropin Physostigmin Kupfer Penicillamin, NaCa- Betablocker Glucagon EDTA, Thiopronin Blausäure s. LOST (S-LOST) Tosylchloramid-Natrium Cyanid Lungenreizgase Beclomethasondipropio- Blei DMPS, NaCa-EDTA, nat, Adrenalin-Aerosol Penicillamin Mangan NaCaEDTA Botulismus Botulinus-Antitoxin Behring Maligne Hyper­ Dantrolen thermie Cadmium NaCa-EDTA, Thiopronin Methämoglobin Erwachsene: Tolonium­ Cäsium Eisen(III)-Hexacyano­ chlorid ferrat(II) Kinder: Ascorbinsäure Carbamat-In- Atropin Methanol (Ethanol, veraltet), Flu- sektizide mazenil Chloroquin Diazepam Methotrexat Folinsäure Chrom(6+) Ascorbinsäure Methylbromid Acetylcystein Curareartige Neostigmin Neuroleptika-­ Biperiden (Trihexypheni­ Cyanid (4-DMAP, veraltet), Parkinsonoid dyl und andere zentrale Hydroxo­­cobalamin, Nat- Anticholinergika sind für riumthiosulfat (Ethanol, die gleiche Indikation zu- veraltet), Flumazenil gelassen, können aber nicht injiziert werden.) Digitalis­ Colestyramin, Digitalis- glykoside Antitoxin Opioide Naloxon Eisen+++ Deferasirox, Deferipron, Tiopronin Organophospha- Atropin, Obidoxim te Eisenverbindun- Deferoxamin gen, akut Paracetamol N-Acetylcystein 564 Kapitel 117: Antidote

Phenprocoumon Colestyramin p.o., Antidote1 und Verwandte Phytomenadion paren- Acetylcystein im Rattengift teral zur intravenösen Injektion (siehe Kap. 42). Zuge- Plutonium NaCaEDTA lassen für Vergiftungen mit Paracetamol, Acryl- Plutonium Detripentat = DTPA, nitril, Methacrylnitril, Methylbromid. Zink-Trinatriumpentetat ►Fertigpräparat Fluimucil® Antidot 20 % Injekti- = Zn-DPTA onslösung. Verfügbar in allen Krankenhäusern. Quecksilber DMPS, Penicillamin Ascorbinsäure Scopolamin Physostigmin zur intravenösen Injektion. Zugelassen für Methä- Schaumbildner Simeticon moglobinämie im Kindesalter: Einmalig 500-1000 mg langsam i.v., maximal 100 mg/kg KG. Schlangengifte, (Giftnotruf München) außereuropäisch Tel. 089/19240 ► Fertigpräparate: Mehrere Anbieter. Verfügbar in allen Krankenhäusern. Schlangengifte, Anti-Fab vom Schaf, ► Dosierung: europäisch Anti-­F(ab)` vom Pferd 2 - Empfohlen bei akuten Chrom(6+)-Vergiftun- Skorpiongifte (Giftnotruf München) gen: 125 mg/kg in der ersten Stunde nach der Tel. 089/19240 Chrom-Aufnahme langsam i.v. ► Empfohlen bei Acetaldehyd-Vergiftung: 1000- Spinnengifte (Giftnotruf München) 2000 mg langsam i.v. Tel. 089/19240 Tricyclische Anti­ Physostigmin (?) Atropinsulfat depressiva zur intravenösen Injektion (siehe Kap. 63 und Thallium Eisen(III)-Hexacyano­ 65). Zugelassen für Vergiftungen mit Organo- ferrat(II) phosphaten oder Carbamaten, bei Bradykardie durch Überdosierung von Betablockern, bei Ver- Zink Penicillamin giftungen durch Parasympathomimetika. ► Fertigpräparate: „Atropin B. Braun 0,5 mg/ml“, „Atropinum sulfuricum 0,25 mg/0.5 mg/1mg Ei- felfango“. Vorrätig im Notarztwagen, in allen Krankenhäusern. ► Dosierung bei Organophosphatvergiftung (sie- he auch Kap. 63!): Erwachsene initial 2-5 mg i.v., danach bis zum Erfolg 5-10 mg im Abstand

Erste Dosis: Zweite Dosis: Dritte Dosis: 1 Std. Infusion i.v. 4 Std. Infusion i.v. 16 Std. Infusion i.v. > 40kg KG 150 mg/kg KG in 200 50 mg/kg KG 100 mg/kg KG in 1000 ml Lösung in 500 ml Lösung ml Lösung 20-40 kg KG 150 mg/kg KG in 100 50 mg/kg KG in 250 ml 100 mg/kg KG in 500 ml ml Lösung Lösung Lösung < 20 kg KG 150 mg/kg KG plus 50 mg/kg KG plus 7 ml/ 100 mg/kg KG plus 14 3ml/kg KG Lösung kg KG Lösung mg/kg KG Lösung Lösungsmittel: Bedarfsgerechte Mischung aus 5 % Glukose und isotonischer Elektrolytlösung. Tab. 117.2: Dosierungen von Acetylcystein bei Paracetamolvergiftung 565 Kapitel 117: Antidote

von 10 min, Dosierungsanpassung so, dass die von systemischen oder lokalen Vergiftungen mit erhöhte Bronchialsekretion aufhört. Kinder 0,1 Flusssäure und zur Therapie der Hypocalcämie mg/kg KG i.v., Wiederholung mit gleicher Dosis durch Oxalatbildung bei Ethylenglykolvergiftung. im Abstand von 10 min (maximal 5 mg). Erhal- ► Fertigpräparat „Calciumgluconat 10 % B. Braun tung mit Einzelinjektionen von 0,02 mg/kg KG Injektionslösung“. Vorrätig in Klinikapotheken. i.v., oder Infusion von maximal 2 mg/Std. ► Dosierungen: Beclomethasondipropionat - Bei Hypocalcämie (Personen über 12 Jahre) zur Inhalation. Zugelassen für Vergiftungen durch 10 ml der 10 %igen Lösung langsam i.v. Die In- Inhalation pulmotoxischer Gase (Reizgase). jektion kann bis zum Erreichen physiologischer Calciumkonzentrationen wiederholt werden. ► Fertigpräparate: Mehrere Hersteller. Vorrätig im - Bei lokalen Verätzungen mit Flusssäure loka- Notarztwagen und in allen Krankenhäusern. le Unterspritzung und, wenn dies anatomisch möglich ist (Extremitäten), intraarterielle Injek- Biperiden tion von 10-20 ml der Lösung. zur intravenösen Injektion (s. Kap. 74). Zugelas- sen zur Dämpfung extrapyramidaler Symptome, Calcium-trinatrium-pentetat die durch Neuroleptika und einige andere Phar- zur intravenösen Injektion/Infusion. Zugelassen maka ausgelöst werden. für die Therapie von Vergiftungen mit radioak- ► Fertigpräparate: Akineton® 5mg/ml Injektions- tiven Schwermetallnukliden (Plutonium, Ame- lösung, Biperiden-neuraxpharm® Injektionslö- ricum, Berkelium, Curium, Californium). Die sung. Vorrätig im Notarztwagen und in allen gebildeten Chelate werden renal eliminiert. Krankenhäusern. ► Fertigpräparat: Ditripentat-Heyl®. ► Dosierung: Erwachsene 2,5-5 mg i.m. oder ► Dosierung in Spezialkliniken. langsam i.v., einmalige Wiederholung nach 30 min möglich. Kinder (Vorsicht! Im Ausland teil- Colestyramin weise weit niedrigere Dosen): bis zu 1 Jahr 1 mg, 1-6 Jahren 2 mg, bis zu 10 Jahren 3 mg. zur Gabe per os. Empfohlen als Anionenaus- tauscher und Adsorbens zur Unterbrechung des Botulismus-Antitoxin enterohepatischen Kreislaufs biliär und enteral ausgeschiedener Stoffe, z. B. von Digitoxin. F(ab‘)2-Fragmente vom Pferd zur intravenösen Injektion. Zugelassen zur Therapie des Botulis- ► Fertigpräparate von mehreren Herstellern. mus durch Toxine aus Clostridium botulinum ► Dosierung: Startdosis 8 g p.o., danach 4 g im Typen A, B und E. Das Antitoxin neutralisiert Abstand von 6 Std. NICHT das bereits durch Endocytose aufgenom- mene Toxin! Dantrolen ► Fertigpräparat „Botulismus-Antitoxin Behring“. zur zügigen Injektion i.v. (s. Kap. 82).. Zugelas- Vorrätig in Notfalldepots. sen zur Therapie der malignen Hyperthermie. ► Dosierung: Startdosis für Erwachsene 250 ml Dantrolen hemmt in der quergestreiften Musku- langsam i.v., danach 250 ml als Infusion. Wie- latur die stimulierte Freisetzung von Calcium aus derholung nach 4-6 Std. möglich. Kinder : Glei- dem sarkoplasmatischen Retikulum. che Dosierung oder wenigstens so hoch wie ► Fertigpräparat: „Dantrolen i.v.“. Vorrätig in möglich. – Allergische Reaktionen möglich. Krankenhäusern der Maximalversorgung. ► Startdosis bei Erwachsenen 2,5 mg/kg KG so Calciumgluconat zügig infundieren, wie der Patient es verträgt, zur intravenösen Injektion und zur lokalen Injekti- Gesamtdosis nicht über 40 mg/kg KG pro Tag. on. Empfohlen, aber nicht zugelassen zur Therapie 566 Kapitel 117: Antidote

Deferasirox Chloroquin unspezifisch aus seiner Bindung an cardiale Strukturen. Zusätzlich wirkt Diazepam zur Gabe per os (siehe Kap. 38). Zugelassen für gegen die Krämpfe durch Chloroquin. chronische Eisenvergiftung z. B. durch Transfu- sion. Deferasirox bindet Eisen mit höherer Spe- ► Fertigpräparate: Ampullen mit 10 mg in 2 ml zifität als andere Chelatbildner. Deshalb senkt es bieten mehrere Hersteller an. Vorrätig auf dem die Konzentration essentieller Metalle weniger. Notarztwagen und in Krankenhäusern mit In- tensivstation. ► Fertigpräparat Exjade®. Vorrätig in Klinikapo- ► Dosierung Erwachsene: Start mit 10 mg in 10 theken. min i.v., Wiederholung mit gleicher oder halber ► Dosierung: Start mit 20 mg/kg KG pro Tag. Dosis nach Bedarf. Deferipron Digitalis-Antitoxin zur Gabe per os. Zugelassen für Eisenüberladung zur Injektion i.v. (s. Kap. 57). Wirksamer Be- bei Thalassaemia major, wenn Deferoxamin standteil sind neutralisierende Fab-Fragmente kontraindiziert ist. Deferipron ist nur wenig Ei- von IgG aus Schafen. Sie sind gegen den Carde- sen-spezifisch und senkt auch die Zink-Konzen- nolid-Kern von Digitoxin und Digoxin gerichtet. tration. Sie wirken gegen freies und gebundenes Gly- ► Fertigpräparat Ferriprox®, Beschaffung und kosid. Lagerung in der vom Patienten bevorzugten ► Fertigpräparat: DigiFab™. Vorrätig in Kran- Apotheke. kenhäusern mit kardiologischer Intensivstation ► Dosis 25 mg/kg KG 3 x täglich p.o. bzw. in Krankenhäusern der Maximalversor- gung. Das Präparat wird aus den USA impor- Deferoxamin tiert und ist in Deutschland nicht zugelassen. zur i.v. Infusion (s. Kap. 38). Zugelassen für aku- Seine Wirkung ist erwiesen bei Vergiftungen te und chronische Eisenvergiftung. mit Digoxin und Digitoxin, sehr wahrscheinlich bei Vergiftungen mit Methyldigoxin, sie wird ► Fertigpräparate: Desferal®, „Deferoxaminme- vermutet bei Vergiftungen mit Glykosiden aus silat Hospira“. Vorrätig in Krankenhäusern mit Oleander, Meerzwiebel, Maiglöckchen und Intensivstation. aus “alternativer Medizin” (Präparate aus Krö- ► Dosierung bei akuter Eisenvergiftung: Lösen tenhaut-Sekret). von 2 g Deferoxamin in 20 ml Glukose (Lö- ► Dosierung: Der Einsatz sollte in Krankenhäu- sung 10 %), 15 mg/kg KG pro Stunde, nicht sern mit kardiologischen Intensivstationen und mehr als 80 mg/kg KG pro Tag. Nach Milde- mit einem Labor erfolgen, in dem die Konzen- rung der Symptome 5 mg/kg KG pro Stunde. tration der Glykoside bestimmt werden kann. Die Therapie muss bis zur Normalisierung der Die Dosis wird nach dem Ergebnis der Gly- Eisenkonzentrationen und Beseitigung aller kosidbestimmung berechnet. Abschätzungen Symptome (auch der Laborwerte) einer Ei- siehe Kap. 57. senvergiftung durchgeführt werden. 100 mg Deferoxaminmesilat binden nur 8,5 mg Eisen. 4-Dimethylaminophenol Der Deferoxamin-­Eisenkomplex wird renal eli- miniert. Bei Niereninsuffizienz muss er durch zur langsamen intravenösen Injektion (s. Kap. Dialyse entfernt werden. 106). Zugelassen für die Therapie der Vergif- tung mit Blausäure und mit Cyaniden. Das ge- Diazepam bildete Methämoglobin bindet Cyanidionen mit hoher Affinität. Empfohlen bei Vergiftungen mit zur intravenösen Injektion und Infusion (s. Kap. Acrylnitril. 4-DMAP als Antidot ist veraltet (sie- 81). Empfohlen, aber nicht zugelassen für Ver- he Kap. 106). giftungen mit Chloroquin. Diazepam verdrängt 567 Kapitel 117: Antidote

► Fertigpräparat: “4-DMAP” tes mit 500 ml 5 % Glukose, infundiere von der ► Dosis: Erwachsene 3-5 mg/kg KG i.v. Kinder 3 Verdünnung 7,5 ml/kg KG pro Std. mg/kg KG i.v. ► Kontraindikation: G6PD-Mangel (häufiger bei Flumazenil Migranten aus ehemaligen und gegenwärtigen zur intravenösen Injektion (s. Kap. 83, 105). Malariagebieten). Zugelassen als Antagonist bei Vergiftungen mit Benzodiazepinen. Wirksam auch bei Vergiftun- DMPS (Dimercaptopropansulfonat) gen mit Zopiclon, Zolpidem und Zaleplon. zur intravenösen Injektion (siehe Kap. 109). Zu- ► Fertigpräparate von mehreren Herstellern. gelassen für die Therapie von akuten Quecksil- Vorrätig im Notarztwagen und in allen Kran- bervergiftungen. Empfohlen per os bei akuten kenhäusern. Vergiftungen mit Antimon, Arsen und Chrom, ► Dosierung: Erwachsene 0,2 mg in 15 sec i.v., bei chronischen Vergiftungen mit Blei. bei Bedarf im Abstand von 1 min weitere 0,1 mg ► Fertigpräparat: Dimaval®. Vorrätig an Kran- i.v. bis zu einer Gesamtdosis von 1 mg. Kinder kenhäusern der Maximalversorgung. > 1 Jahr 0,01 mg/kg KG, maximal 0,2 mg. ► Dosierung bei Erwachsenen: 6-8 x 250 mg i.v. an Tag 1, 4-6 x 250 mg i.v. an Tag 2, 3-4 x 250 Folinsäure mg i.v. an Tag 3, 2-3 x 250 mg i.v. an Tag 4, zur intravenösen Injektion. Zugelassen zur Sen- danach per os fortsetzen, wenn erforderlich. kung der Toxizität von Methotrexat. Vorrätig in DMPS ist nur mäßig spezifisch und senkt auch Krankenhäusern mit onkologischen Stationen. die Konzentration essentieller Metalle. ► Fertigpräparate als Calciumfolinat von mehre- Eisen(III)-Hexacyanoferrat(II) ren Herstellern. ► Dosierungshinweis (Anpassung erforderlich): zur Anwendung per os (s. Kap. 109). Zugelassen 6-12 mg/m2 im Abstand von 6 Stunden über für die Therapie von Thalliumvergiftungen (Fer- drei Tage. tigpräparat: Antidotum Thallii Heyl®) und von Vergiftungen mit radioaktiven Cäsium-Isotopen Fomepizol (Fertigpräparat: Radiogardase® -Cs). Vorrätig in Notfall-Depots. zur intravenösen Injektion (s. Kap. 107). Zuge- lassen zur Therapie von Vergiftungen mit Ethy- ► Dosierung bei Tl- und Cs-Vergiftungen: Er- lenglykol. Empfohlen bei Vergiftungen mit wachsene initial 6 x 500 mg p.o., danach Methanol. stündlich 500 mg p.o. Die engmaschige An- wendung soll die Rückresorption der biliär aus- ► Fertigpräparat: “FOMEPIZOLE EUSA Pharma geschiedenen Metalle verhindern. 5 mg/ml”. Vorrätig in Krankenhäusern der Ma- ximalversorgung. Ethanol ► Dosierung: Sofort 15 mg/kg KG verdünnen mit 150 ml 5 % Glukose oder 0,9 % NaCl, in- zur intravenösen Infusion (s. Kap. 107). Für die fundieren i.v. in 30-45 min, danach in gleicher Therapie von Vergiftungen mit Methanol und Verdünnung jeweils im Abstand von 12 Std. 10 Ethylenglykol ist Ethanol nicht mehr zugelassen, mg/kg KG, 10 mg/kg KG, 10 mg/kg KG, 7.5 kann aber infundiert werden, wenn Fomepizol mg/kg KG, 5 mg/kg KG. Anpassen bei Nie- nicht schnell genug verfügbar ist. reninsuffizienz. ► Fertigpräparat: Alkoholkonzentrat 95 % Braun. Vorrätig im Notarztwagen und in allen Kran- kenhäusern. ► Dosierung: Verdünne 50 ml des Fertigpräpara- 568 Kapitel 117: Antidote

Glucagon NICHT indiziert u.a. bei Vergiftungen mit Salzen (Cyaniden, Eisen, Lithium, Thallium), Alkoho- zur intravenösen Injektion/Infusion. Empfohlen, len (Methanol, Ethanol, Isopropanol, Ethylengly- aber nicht zugelassen zur Therapie von Vergif- kol), Lösemitteln. tungen mit Betablockern. ► Fertigpräparate: Kohle-Compretten®, Ultra- ► Fertigpräparat: Glucagen®. Vorrätig in Kran- carbon®. Vorrätig im Notarztwagen (nur für kenhäusern mit Intensivstation bzw. der Maxi- Vergiftungen, bei denen Kohle so schnell wie malversorgung. möglich gegeben werden muss), und in allen ► Dosierung: Die Injektion/Infusion i.v. ist zur Krankenhäusern. Therapie nicht zugelassen, die zugelassenen ► Dosierung: Die trockene Kohle wird in Was- Anwendungen i.m. und s.c. haben jedoch bei ser aufgeschwemmt (1 g Kohle plus 1,5-2 ml Vergiftungen eine unübersichtliche Resorpti- Wasser) und in einer Dosis von 1 g/kg KG per onsgeschwindigkeit. Intravenös bei Erwach- os gegeben. Die Zufuhr über eine dünne Ma- senen 3-10 mg in 3-10 min (überwachen!), gensonde ist möglich, wenn der Schluckreflex danach 5 mg pro Std. gestört oder der Patient bewusstlos ist. Wenn die Peristaltik erhalten ist, sollte die Gabe nach Hydroxocobalamin Intervallen von 2-4 Std. besonders dann wie- zur intravenösen Infusion (s. Kap. 106). Zugelas- derholt werden, wenn ein enterohepatischer sen zur Therapie von Vergiftungen mit Blausäure Kreislauf unterbrochen werden soll. und Cyaniden. Hydroxocobalamin bindet Cyanid mit hoher Affinität. Empfohlen bei Vergiftungen 2-Mercaptoethanolsulfonat-Natrium (MESNA) mit Acrylnitril. zur Anwendung per os. Zugelassen zum Schutz ► Fertigpräparat: „Cyanokit 5 g“. Vorrätig im Not- der Harnwege bei Therapie mit Cyclophospha- arztwagen und in Krankenhäusern der Maxi- mid und ähnlichen Stoffen (Oxazophosphorine). malversorgung. Die SH-Gruppe von Mesna reagiert mit Acrolein, ► Dosierung: 5 g Pulver in 200 ml 0,9 % NaCl lö- das beim Metabolismus der Oxazophosphorine sen durch Schwenken, nicht durch Schütteln. entsteht. Erwachsene: 200 ml in 15 min i.v., Kinder 70 ► Fertigpräparate: Uromitexan®, MESNA-cell® mg/kg KG in 15 min i.v. Wiederholung der Infu- sion mit halber oder noch geringerer Infusions- Naloxon geschwindigkeit ist möglich. zur intravenösen Injektion/Infusion (s. Kap. 86). Kaliumjodid Zugelassen als Antagonist bei Vergiftung mit Opioiden. zur Anwendung per os (s. Kap. 50). In Deutsch- land als Antidot nicht zugelassen, aber in Not- ► Fertigpräparate von mehreren Herstellern. fall-Depots vorrätig, Ausgabe durch Behörden Vorrätig im Notarztwagen (kann helfen, die Be- im Fall einer Freisetzung von radioaktivem Jod atmung während des Transportes zu vermei- aus kerntechnischen Anlagen. Importarzneimittel den), in allen Krankenhäusern. aus Österreich, Dosierungen:2. ► Dosierung: Erwachsene 0,1-0,2 mg i.v., Wie- derholung mit 0,1 mg im Abstand von 2 min, Kohle (Medizinalkohle, wenn dadurch die Spontanatmung ausrei- Carbo medicinalis, Aktivkohle) chend verbessert werden kann. Mehrere Opi- oide wirken länger als Naloxon, weshalb die zur Anwendung per os (siehe Kap. 105). Zugelas- Injektionen wiederholt werden müssen. Kin- sen zur Adsorption vieler Substanzen mit dem der 0,01-0,02 mg/kg KG i.v., Neugeborene (die Ziel, deren Resorption und Rückresorption zu Opioide diaplazentar aufgenommen haben) verhindern. 0,01 mg/kg KG i.v. 569 Kapitel 117: Antidote

Natrium-Calcium-EDTA mit Organophosphaten. Die Reaktivierung der Acetylcholinesterase durch Obidoxim gelingt zur intravenösen Injektion. In Deutschland nicht umso weniger, je stärker das Organophosphat mehr zugelassen, Import aus Frankreich. Zur Kom- gealtert ist. Gegen eine Soman-Vergiftung bleibt plexbildung mit Blei, empfohlen auch bei Cadmi- Obidoxim ohne Wirkung. um, Kobalt, Kupfer (nicht erste Wahl), Mangan, Plutonium. Die Komplexe werden renal eliminiert. ► Fertigpräparat: Toxogonin®. Vorrätig im Not- Essentielle Metalle werden ebenfalls komplexiert. arztwagen und in Krankenhäusern der Maxi- Die Verbindung ist tubulär nephrotoxisch und des- malversorgung. halb bei Niereninsuffizienz kontraindiziert. ► Dosierung: Erst NACH der Injektion der hohen Atropindosis bei Erwachsenen Obidoxim 250 ► Fertigpräparat: CALCIUM EDETATE DE SO- mg, bei Kindern 4-8 mg/kg KG langsam i.v., DIUM SERB (Frankreich). Vorrätig in Kranken- danach Infusion von Obidoxim 10 mg/kg KG häusern der Maximalversorgung. pro Std. ► Dosierung: Die 10 ml-Ampullen (500 mg ) wer- den verdünnt mit 250 ml 0,9 % NaCl oder 5 % Penicillamin Glukose pro Ampulle, Infusion i.v. über 2 Std., Dosis 15-20 mg/kg KG. Danach eine Woche zur Anwendung per os (siehe Kap. 39). Zugelas- Pause, danach Wiederholung. sen zur Therapie von Vergiftungen mit Kupfer (Mittel erster Wahl), Blei, Quecksilber und Zink, Natriumhydrogencarbonat empfohlen bei Gold und Arsen. Penicillamin bil- det Komplexe, die renal ausgeschieden werden. zur Milderung der QRS-Verbreiterung durch tricyclische Antidepressiva und zur Acidose-The- ► Fertigpräparat: Metalcaptase®. Vorrätig in den rapie (s. Kap. 28) meisten Krankenhäusern (für andere Indikatio- nen). ► Fertigpräparat z. B. “Natriumhydrogencarbonat ► Dosierung: Erwachsene anfangs 4 x 25 mg/kg 4,2 % Braun®”. KG (maximal 1050 mg), später weniger. Eine ► Dosierung: Maximal 3 ml der 4,2 %-Lösung Dauertherapie ist nur bei M. Wilson zu recht- pro kg KG und Stunde. fertigen. Natriumthiosulfat Physostigminsalicylat zur intravenösen Injektion (s. Kap. 106). Zugelas- zur intravenösen Injektion (siehe Kap. 63). sen zur Therapie bei Vergiftungen mit Blausäu- Physostigmin ist zur Therapie von Vergiftungen re, Cyaniden, Acrylnitril und anderen Nitrilen, nicht zugelassen. Es ist zugelassen zur Therapie N-Lost, S-Lost. Prophylaktisch bei längerer Infu- des postoperativen anticholinergen Syndroms, sion von Nitroprussid-Natrium (Cyanidbildung).­ aber es steht dahin, ob Physostigmin ein gutes An- ► Fertigpräparat: „Natriumthiosulfat 10 % Infu- tidot bei jedem durch Wirkstoffe (Tropa-Alkaloi- sionslösung“ oder „... 25 % Infusionslösung“. de, Antiparkinson-Mittel, anticholinerg wirkende Vorrätig im Notarztwagen und in Krankenhäu- Antihistaminika, Antidepressiva und Neurolep- sern der Maximalversorgung. tika) erzeugten anticholinergen Syndrom ist. Es ► Dosierung: Bei Cyanidvergiftung Injektion i.v. kann bei zu schneller Injektion Krämpfe auslösen (wenn noch DMAP verwendet wird, erst NACH und eine Bradykardie gefährlich verstärken. Das der Injektion von DMAP), 50-100 mg/kg KG. wäre besonders vor einer Injektion im Notarzt- Bei LOST-Vergiftungen bis zu 500 mg/kg i.v. wagen sehr zu bedenken. ► Fertigpräparat: Anticholium®. Vorrätig in Kli- Obidoxim niken mit internistischer/pädiatrischer Inten- zur intravenösen Injektion (s. Kap. 63). Zulas- sivstation. sung zur adjuvanten Therapie von Vergiftungen ► Dosierung bei Erwachsenen: 2 mg (verdünnt) 570 Kapitel 117: Antidote

i.v. in wenigstens 2 min. Im Fall des Erfolges Schlangengift-Antisera, kann die Injektion nach 20 min wiederholt wer- europäische Schlangen den. Kinder 0,02-0,06 mg/kg KG. zur intravenösen Injektion. Die Antiseren wer- den importiert und haben keine deutsche Zulas- Phytomenadion sung. Sie sollen nur infundiert werden, wenn mit (s. Kap. 35). Vitamin K und seine Derivate sind einem schweren Verlauf zu rechnen ist (z. B. bei Antagonisten bei mäßiger Überdosierung von Kindern, weil deren Körpergewicht noch gering Phenprocoumon. Bei starker Überdosierung ist). Zum Gewichtsvergleich: Kreuzotterbisse bei müssen die fehlenden Gerinnungsfaktoren durch Schafen können letal sein. Infusion/Injektion ersetzt werden. ► Fertigpräparate: (1) Vipera Tab® vom Schaf, Fab-Fragmente, Protamin Import aus USA/Großbritannien. Dieses Anti- zur intravenösen Injektion. Zugelassen als Ant- serum wirkt gut spezifisch bei Bissen von Vipe- agonist bei Heparin-Überdosierung. Die Dosis ra berus, Vipera aspis und Vipera ammodytes. muss für Heparin und einige Heparinoide nach Es ist sehr gering immunogen. Das ist wichtig Tabellen berechnet werden. Die Bestimmung für Personen, die in einer „schlangenreichen“ von Gerinnungsparametern ist dazu erforderlich. Gegend wohnen oder berufsbedingt stärker gefährdet sind. ► Fertigpräparate: „Protamin ME“ und „Prota- (2) „European viper antiserum“, minsulfat LEO Pharma“. Vorrätig in Kranken- F(ab‘) -Fragmente vom Pferd, Import aus Kro- häusern. 2 atien. Das kroatische Serum hat ein breiteres Spektrum, es wirkt auch bei Bissen von Vi- Pyridoxin pern, die überwiegend südlich der Alpen und in zur Injektion i.v. oder i.m. und zur Anwendung der Türkei vorkommen: Macrovipera lebetina, per os. Zugelassen zur Therapie von Vergiftungen Vipera ursinii, Vipera xanthia. Es ist damit zu z. B. durch Isonikotinsäurehydrazid. Empfohlen rechnen, dass es stärker immunogen wirkt als bei Vergiftungen mit Gyromitrin (Frühjahrslor- das amerikanische. – Vorräte: Die Antiseren chel), Hydrazin, Penicillamin. werden in mehreren deutschsprachigen Städ- ten vorrätig gehalten. Zentrale Auskunftsstel- ► Fertigpräparat zur Injektion: Vitamin B -ratio- 6 le über Depots von Antiseren gegen Gifte von pharm® 50 mg/ml Injektionslösung. europäischen und außereuropäischen Schlan- ► Fertigpräparat zur oralen Anwendung: B -Vi- 6 gen, Skorpionen, Spinnen und anderen Gifttie- cotrat®. ren ist der Giftnotruf München, Tel. 089-19240. ► Dosierung initial bei Erwachsenen bis zu 250 ► Dosierung (Erwachsene und Kinder): 200 mg mg pro Tag i.v., bei Kindern bis zu 200 mg pro Protein in 100 ml 0,9 % NaCl lösen, in 30 min Tag i.v., nur bei schweren Vergiftungssympto- i.v. infundieren. Diese Dosis darf ein Mal wie- men auch höher. Orale Therapie bei Erwach- derholt werden. senen mit 200-300 mg pro Tag für 1 Woche, danach 20-40 mg pro Tag. Schlangengift-Antisera, außereuropäische Schlangen Salbutamol Zentrale Auskunftsstelle über Depots von Anti- zur Inhalation (s. Kap. 72). Zugelassen zur seren gegen Gifte von europäischen und außer­ Bronchodilatation. Anwendung bei Broncho- europäischen Schlangen, Skorpionen, Spinnen konstriktion durch Lungenreizgase. Zur Selbst- und anderen Gifttieren ist der Giftnotruf Mün- behandlung bei Massenvergiftungen geeignet. chen, Tel. 089-19240. 571 Kapitel 117: Antidote

Silibinin mium. Tiopronin bindet mit seiner SH-Gruppe Schwermetalle. Die positiven Erfahrungen sind zur intravenösen Infusion (s. Kap. 112). Zugelas- spärlich. sen zur Therapie der Vergiftung mit Knollenblät- terpilzen. Empfohlen für alle Vergiftungen mit ► Fertigpräparat: Captimer®. Amatoxinen. Silibinin hemmt die Aufnahme von Amatoxinen in die Hepatocyten. Toloniumchlorid ► Fertigpräparat: „Legalon SIL“. Vorrätig in Klini- zur intravenösen Injektion. Zugelassen als An- ken mit einem Einzugsbereich, in dem Knol- tidot bei Methämoglobinbildung durch Nitrate, lenblätterpilz-Vergiftungen vorkommen. Nitrite, organische Amine (besonders auch durch ► Dosierung: 5 mg/kg KG gelöst in 0,9 % NaCl, überdosiertes Dimethylaminophenol).­ Toloni- Infusionsdauer 2 Std., Infusionsbeginn jeweils umchlorid reduziert Methämoglobin zu Hämo- zur Stunde 0, 6, 12, 18, danach Infusionspau- globin. se bis zum Ende der Stunde 24. Wiederholung ► Fertigpräparat: „Toluidinblau Injektionslösung“. an den Folgetagen, bis die Vergiftungssympto- ► Dosierung: 2-4 mg/kg KG genau i.v., Wieder- me zurückgegangen sind. holung nach 30 min möglich. Simeticon Tosylchloramid-Natrium zur Anwendung per os. Simeticon ist ein Ent- zur örtlichen Anwendung auf der Haut schäumer. Er wird eingenommen, wenn Tosylchloramid in 10 %iger Lösung hydrolysiert schaumbildende Stoffe verschluckt wurden. auf der Haut noch nicht gebundenes S-Lost. Es Die Entschäumung verhütet die Inhalation von wird in Notfalldepots vorrätig gehalten. Schaum und die dadurch bedingte Vernichtung der Funktion des Surfactant in der Lunge. Zink-Trinatrium-pentetat ► Fertigpräparate von mehreren Herstellern. zur intravenösen Injektion/Infusion. Zulassung Vorrätig in Apotheken und gastroenterologi- wie Calcium-trinatrium-pentetat. schen Behandlungseinrichtungen.

Skorpiongift-Antisera Zentrale Auskunftsstelle über Depots von Antise- ren gegen Gifte von europäischen und außereu- ropäischen Schlangen, Skorpionen, Spinnen und anderen Gifttieren ist der Giftnotruf München, Tel. 089-19240.

Spinnengift-Antisera Zentrale Auskunftsstelle über Depots von Antise- ren gegen Gifte von europäischen und außereu- ropäischen Schlangen, Skorpionen, Spinnen und anderen Gifttieren ist der Giftnotruf München, Tel. 089-19240.

Tiopronin zur Anwendung per os. Zugelassen zur Therapie bei Vergiftungen mit Quecksilber, Kupfer und Eisen. Empfohlen bei Zink, Polonium, Cad-