Christa Anna Ockert L-Tage
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Christa Anna Ockert L-Tage oder: "Hitler wird nicht bedient!" Verlag Autonomie und Chaos Leipzig – Berlin Christa Anna Ockert L-Tage Christa Anna Ockert (9. Dezember 1932 – 22. Oktober 2017) Herausgegeben von Petra Bern Diese Erinnerungen wurde von der Autorin Kapitel für Kapitel durchgesehen, korrigiert, ergänzt und autorisiert. Aufgrund chronischer Krankheit der Herausgeberin verzögerte sich die Fertigstellung der Arbeit. Herausgeberin und Verleger bedauern dies sehr! Liste der Episoden ab Seite 362 © 2020 Christa Anna Ockert (Erben) Originalausgabe im Verlag Autonomie und Chaos Leipzig – Berlin ISBN 978-3-945980-19-4 Diese online-Ausgabe kann für den Privatgebrauch kostenfrei heruntergeladen und ausgedruckt werden. Jede weitere Nutzung, insbesondere zu kommerziellen Zwecken, unterliegt der schriftlichen Genehmigung der RechteinhaberInnen. www.autonomie-und-chaos.berlin 2 Christa Anna Ockert L-Tage Was sagen Sie dazu? Ich hatte viele Namen. Fremde in meiner Kindheit konnten nur sehen, wie klein ich war, und sagten Mausi oder Mäuschen. (Großmutter, die mich kannte und nicht unterschätzte, nannte mich so vor dem Kindergarten.) Ich habe mich früh wie später nicht, wie anzunehmen wäre, in Mauselöcher verkrochen …! Die Pohlings riefen noch "de Kleene", als ich den Lehrlingsschuhen entwachsen war. Doch Mäusel mit sächsischem Zwielaut flüsterte und schmetterte mein geliebter zweiter Mann. Mutter machte keine Umstände und sagte – wie manche meiner Kolleginnen und Bekannten – Christa. Durch Giga, die Liebkosung meines Bruders Harald vor seiner Schulzeit, war ich hellhörig für das, was im Elternhaus fehlte… www.autonomie-und-chaos.berlin 3 Christa Anna Ockert L-Tage Ich hüpfte in den dreißiger Jahren an Vaters Hand durch Leipzig: Für Kurt Röller und andere seiner Freunde wurde ich Huppegra. Werner, mein niemals alternder Onkel und erster Märchenprinz, taufte meinen Bruder Claus und mich im Doppelpack – Gustav und Gustl! Christel war der eingängige Schnörkel von Frauen, die mich so oder so mochten; Nachbarinnen unseres ersten, ausgebombten Hauses oder Mutter Just, Annette T. Rubinstein, Tante Martha und Ruth Schreier. Christeline zupft – sozusagen – liebevoll am Ohr oder wickelt eine Locke um den Finger; wie mein Vater, Tante Käthe und Oberschwester Margarethe. Das Kurzwort der Schneidereits, meines Verehrers Conny Odd und meines lieben Hary fährt wie ein Cabrio mit offenem Verdeck – Chris! Ich habe Sportsgeist! (Behörden und Passanten wechselten meine Nachnamen wie Reifen: Pietscher, Greschke, Ockert.) Für Roland, der als Junge Mutti sagte, bin ich Mutter. Wie hätte mich mein Enkel Daniel genannt? Lernen wir, wenn wir in einen Himmel (oder so etwas) kommen, den Namen kennen und sprechen, den wir uns selbst im tiefsten Herzen gaben…? Floh im Ohr Im wechselhaften Wetter, in dem ich achtzig Jahre selbstbestimmt lebte, schrieb ich Briefe und eines Urlaubs ein Tagebuch. Ich produzierte mich mündlich – am Telefon, in der Kantine oder im Café, im tschechischen Gebirge oder an der Ostsee … Wenn wir meine Komödien oder Tragödien nacherlebten, ermunterten mich Freundinnen, Kollegen, Gäste und ein berufener Pfarrer in seiner Rosinenburg: Schreib ein Buch! Kein gut gemeinter Wunsch nistete sich bei mir ein. Oder impften mich meine Eltern mit ihrer Eigenart, dass ich nicht anfällig wurde? Vater war auf einem Ohr schwerhörig… und erzählte selbst warmherzig von der Menschheit, die er an unzähligen Tischen bedient hatte. Ich war Zuhörerin! www.autonomie-und-chaos.berlin 4 Christa Anna Ockert L-Tage Und Mutter, die zeitweise stotterte und mit mir stritt, knabberte an ihrem Damm gegen meinen Redefluss wie ein Biber! Hätten sie die Memoiren ihrer Tochter gelesen…? Lange nach beider Tod setzte mir jemand einen Floh ins Ohr. Weil mein Orthopäde 2010 seine Klinikstelle aufgab, stand ich mit Knieschmerzen beim Hausarzt vor der Tür – urlaubshalber geschlossen. Ich hielt inne: Hatte ein Physiotherapeut nicht einen anderen, jungen Facharzt empfohlen? Den Schritt über diese Schwelle bereute ich nicht: Er untersuchte mich gründlich und faxte am selben Abend mehrseitig an den Hausarzt. Viele Einblicke in mein Leben erhellte ich ihm während der Spritzenkur, die mir half! Er überwies mich an einen Spezialisten, der Kassenpatienten wie mich nicht zweitklassig behandelte und im ganzheitlichen Gespräch viel tiefer vordrang. Er legte die Therapie fest – beide Knie operieren zu lassen und, was er von mir gehört hatte, schriftlich zu verarbeiten: Könnte ich das Buch nicht mit der Rehabilitation vollenden? Durch diesen ärztlichen Rat war ich infiziert – ! Nach den ersten, teils getippten Notizen sauste ich unverschuldet in ein Karussell von Arztterminen und Unannehmlichkeiten: Die Geschichte meines Freien Falls ist ein eigenes Kapitel. Ich schreibe weiter, ohne zu wissen, was auf mich zukommt: Von gebrochenen Knochen lasse ich mich nicht brechen! Kann ich hoffen, dass Landschaften und Menschen, die um mich herum leben oder vergangen sind, aufleuchten oder auferstehen? www.autonomie-und-chaos.berlin 5 Christa Anna Ockert L-Tage Ausgrabung in Frühgeschichte Interessenten an meiner Vergangenheit habe ich seit der Gründung der DDR gesagt: „Wo kein Zeugnis, dort mein Wort!“ Nach meinem fünfundsiebzigsten Geburtstag wurde mir das zu wenig. Meine Großväter, die schöne Gräber haben, musste ich ausgraben. Ein emeritierter Professor trank letzte Woche auf meiner Terrasse einen Mokka, als er hörte, dass ich forsche, und rief: „Sie sind die richtige Grabungsleiterin Ihrer Vor– und Frühgeschichte!“ Ich sah jetzt den Haarriss auf Mutters Zuckerdose zwischen uns und musste mich räuspern. „Ich hätte mir das gern erspart. Fragen Sie mich nicht, was alles verbrannt oder vergessen ist … Meine Conny hatte einen schönen lückenlosen Stammbaum, aber sie war ja auch reinrassig! Über meine Urgroßeltern aus dem 19. Jahrhundert bin ich kaum hinausgekommen. Ich suche zum Beispiel alles über Max Kraetzsch, amtlich wohl Maximilian, einen Leipziger Schriftsetzer, von dem mein Sohn und ich vielleicht unseren Kopf geerbt haben!“ Er schaute den Frankfurter Kranz statt mich an. „Also … das ist nicht meine Zeit.“ Menschen werden übersehen und getilgt wie Druckfehler, je nachdem. Ordnung ist zu meinem Kummer nur mein halbes Leben: Mein Blick zurück zerfällt wie ein Puzzle, in dem Teile für immer fehlen oder eingerissen sind. Ich seufze darüber, dass ich meine Vorfahren nicht in vielen bunten Ordnern sammeln kann wie meine Rechnungen, Quittungen und Beschwerdebriefe. Was nützt noch, dass ich zu meiner Konfirmation in eine Mappe mit Papieren sehen durfte, die alte Geburtsurkunden und Taufscheine gewesen sein könnten …? Die Bombenbrände, in denen sie untergingen, brennen in meinen Augen weiter. www.autonomie-und-chaos.berlin 6 Christa Anna Ockert L-Tage Der Student für Geschichte, den ich recht gut bezahlt habe, hat Datenbanken durchgesehen und Mikrofilme sogar bei den Mormonen abgestaubt, wovon zu wenig für meine Zwecke hängen blieb! Da hätte ich gleich ins Landesmuseum zum Postkartenständer gehen und aussuchen können, wie diese Postkarte, die meine Nachbarin im Internet gefunden und so lieb ausgedruckt hat: Die modernen Vergnügungsparks finde ich nicht sehr vergnüglich. Müll überall – alles Pappe und Plastik! Auf die Tür einer Besuchertoilette, vor der ich anstehen musste, hatte jemand rot gemalt: „EGA REMMIDEMMI !!!“ Der "Lunapark" in Meusdorf bei Leipzig war paradiesischer …! Gebüsche wie zauberhafte Rüschen und Wasserläufe wie ein Klein-Venedig. Die Gebrüder Guthardt, die ihn gründeten, sollen aus Hessen gekommen sein… Julius stand stärker in der Öffentlichkeit als sein Bruder. Dresden, hat Hermynia zur Mühlen geschrieben, riecht nach Baumkuchen und Berlin nach Benzin. Wonach roch Leipzig, dass Anna Pietscher um 1900 aus Hoym im Harz kam und bleiben wollte? (Der Kleinbauernhof ihrer Familie roch nicht mehr anregend genug, glaube ich.) Bis nach meiner ersten Heirat hatte ich Fotos von ihr! Wo vergilben sie nun?! Ihr Haarkranz, den ich grau bis weiß kenne, war feiner und www.autonomie-und-chaos.berlin 7 Christa Anna Ockert L-Tage blonder als bei dieser ukrainischen Politikerin …! Kochte und putzte sie für den Großen Festsaal oder den Biergarten unter der Pergola? Das Heranwachsen der Liebe zwischen ihr und Julius Guthardt ging nur sie und ihn an; wie bei den Eltern des französischen Schriftstellers Marcel Pagnol, der gesteht: „Ich habe nie erfahren, wie sie sich kennen lernten, denn von solchen Sachen sprach man nicht bei uns zu Hause.“ Anna wohnte auf dem Gelände; ab 1904 mit dem gemeinsamen, schwarzhaarigen Sohn Fritz und 1906 mit der blonden, zarten Katharina. Ich stelle mir gern vor, wie der Junge, sobald er zur Volksschule ging, von leutseligen Gästen gefragt wurde: „Was willst du denn einmal werden?“ Er wird lächelnd gesagt haben: „Oberkellner bei meinem Vater!“ Ich überwand mich, an Manfred Guthardt aus Linz zu schreiben, weil ich wissen wollte, warum dieses Leben 1919 endete – während Fritzens Kellnerlehre! Julius österreichischer Großneffe fasste zusammen, was tragischer endete als in Webers Freischütz, weil die Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg unruhig waren: „Die Unternehmer hatten Waffen zu Hause!“ Führte der Geschäftsfreund bei der Abrechnung sein Gewehr nur vor, aus dem sich der Schuss löste, der Julius tödlich traf? Niedertracht unterstelle ich nicht -! Der Trauerzug zum Leipziger Südfriedhof dürfte pompös geworden sein. Anna zog mit ihren Kindern fort wie Hagar und Ismael und kehrte nicht zurück. Trauert der Engel auf Guthardts Grab auch für seine Ehefrau Olga, die ihm den Sohn