Antifaschismus als Antitotalitarismus?­ Francesco Luigi Ferrari (1889–1933)

Uwe Backes

Dr. Uwe Backes, apl. Abstract Prof., geb. in Greime- rath. Stv. Direktor am Outside Italy, little is known of the anti- Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusfor- Fascism of Francesco Luigi Ferrari, one schung e. V. an der TU of the closest allies of Sicilian priest and Dresden. Studium der Christian Democrat Luigi Sturzo. Based Politikwissenschaft, on his most important publications be- Geschichte und fore and after his exile (1926), the con- Germanistik, 1987 tribution pursues this crucial question: Promotion (Universität Trier), 1997 Habilita- Did Ferrari, in ways similar to Sturzo’s, tion (Universität Bay- combine anti-Fascism with anti-totalitari- reuth). Publikationen zum Thema zuletzt: Luigi anism? How did he comparatively classi- Sturzo, Über italienischen Faschismus und Tota- fy Italian Fascism as a movement and a litarismus. Hg. und eingeleitet von Uwe Backes regime? To which analytical categories und Günther Heydemann, unter Mitarbeit von did he reach back for this purpose? Did Giovanni de Ghantuz Cubbe und Annett Zingler, Göttingen 2018. he change his attitude over time?

I. Einleitung

Der Antifaschismus Luigi Sturzos (1871–1959), als Anführer der katholischen Volkspartei (Partito Popolare Italiano, PPI) einer der schärfsten politischen Geg- ner des Faschismus von seinen Anfängen bis zur zwangsweisen Exilierung 1924, hat in der internationalen Forschung nicht zuletzt deswegen Aufmerksamkeit erregt, weil er in den langen Jahren seines Exils einen unermüdlichen publizisti- schen Kampf gegen den Faschismus führte und das Regime Mussolinis als einer der Ersten vergleichend einzuordnen suchte. Der sizilianische Priester hatte so maßgeblichen Anteil an der Entfaltung des Totalitarismusansatzes.1 Außerhalb

1 Vgl. neben dem Beitrag von Emilio Gentile in dieser Ausgabe zuletzt Uwe Backes/ Günther Heydemann, Einleitung der Herausgeber. In: Luigi Sturzo, Über italienischen Faschismus und Totalitarismus. Hg. und eingeleitet von Uwe Backes und Günther Hey- demann unter Mitarbeit von Giovanni de Ghantuz Cubbe und Annett Zingler, Göttin- gen 2018, S. 7–48.

Totalitarismus und Demokratie, 18 (2021), 53–71, ISSN: 1612-9008 (print), 2196-8276 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht; https://doi.org/10.13109/tode.2021.18.1.53 Open Access publication under a CC BY-NC 4.0 International License. 54 Aufsätze / Articles

Italiens wenig bekannt ist einer seiner engsten Mitstreiter, Francesco Luigi Fer- rari, der ihm 1926 ins Exil folgte und dort im März 1933, nicht einmal 44 Jahre alt, verstarb. Ein Jahr nach Sturzos „Italien und der Faschismus“2 veröffentlichte er ein eigenes systematisches Werk zum faschistischen Regime, dessen autokra- tische Konturen sich in den Jahren nach der Matteotti-Krise immer schärfer ab- gezeichnet hatten.3 Von 1930 bis zu seinem Tod war er Herausgeber und Redak- teur eines der bedeutendsten publizistischen Foren des antifaschistischen Exils: „Res Publica. Revue d’Études Politiques Internationales“ – in enger Verbindung mit Sturzo, anderen Größen des antifaschistischen italienischen Exils sowie pro- minenten Unterstützern aus verschiedenen europäischen Ländern. Verstand Ferrari in ähnlicher Weise wie Sturzo Antifaschismus als Antitotali- tarismus?4 Wie ordnete er den italienischen Faschismus als Bewegung und Regi- me vergleichend ein? Welcher analytischen Kategorien bediente er sich dabei? Veränderte sich seine Haltung im Zeitablauf? Diese zentralen Fragen werden nach einer biografischen Skizze in zwei Abschnitten zu beantworten versucht, die zuerst die Spezifik seines Antifaschismus und dann dessen Verknüpfung mit dem Antitotalitarismus beleuchten. Dabei ist letztlich sekundär, ob und wie Ferrari die neuen komparativen Kategorien „totalitär“/„Totalitarismus“ nutzte. Wichtiger erscheint die Frage nach den Grundüberzeugungen, Wertmaßstäben und Perzeptionsmustern, die seinen Antifaschismus leiteten und den Blick auf andere politische Bewegungen und Regime bestimmten.

2 Luigi Sturzo, Italien und der Faschismus, übersetzt von L. und Alois Dempf, Köln 1926. Weitere Ausgaben: ders., Italy and Fascismo, translated by Barbara Barkley Carter, New York 1927; ders., L’Italie et le fascisme, traduit de l’italien de Marcel Prélot, 1927; ders., Italia y el fascismo, traducción española con un estudio preliminar „Sturzo y el fascismo“ por Mariano Ruiz Funes, 1930. 3 Vgl. Francesco Luigi Ferrari, Le Régime fasciste italien, Université Catholique de Lou- vain: Collection de l’École des Sciences Politiques et Sociales, Paris 1928, S. 71. Vgl. zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der beiden frühen Faschismusbücher Gabriele De Rosa, Francesco Luigi Ferrari tra storia del movimento cattolico e storia d’Europa. In: Giorgio Campanini (Hg.), Francesco Luigi Ferrari a cinquant’anni dal- la morte. Atti del convegno nazionale di studi (Modena, 27.–28.5.1983), Rom 1983, S. 21–65. Außerdem: Giuseppe Ignesti, Cattolici democratici italiani di fronte alle ten- denze totalitarie del regime fascista. In: Wolfram Pyta/Carsten Kretschmann/Giuseppe Ignesti/Tiziana Di Maio (Hg.), Die Herausforderung der Diktaturen. Katholizismus in Deutschland und Italien, 1918–1943/45, Tübingen 2009, S. 77–91; Francesco Traniel- lo, Fascismo e storia d’Italia nell’analisi dei popolari in esilio. In: Italia Contemporanea, (1982) 149, S. 87–103. 4 Auf „einer Linie“ mit Sturzo sieht Ferrari in dieser Hinsicht Salvatore Latora, I popo- lari e il fascismo: Sturzo, Ferrari, Donati. In: Eugenio Guccione (Hg.), Luigi Sturzo e la Democrazia nella Prospettiva del Terzo Millennio. Atti del Seminario Internazionale (Erice, 7.–11. Oktober 2000), Florenz 2004, S. 893–899. Backes, Francesco Luigi Ferrari 55

II. Lebensweg

Francesco Luigi Ferrari wurde am 31. Oktober 1889 in Modena als Sohn von Domenico und Luigia Golfieri de’ Buoi geboren.5 Er wuchs in wirtschaftlich be- scheidenen, von tiefer Religiosität geprägten Verhältnissen auf. Lange nachwir- kenden Eindruck auf den Achtjährigen hinterließ die zeitweilige Inhaftierung des Vaters, der als katholischer Journalist und Stadtrat in die Verhaftungswel- le nach der blutigen Niederschlagung des Mailänder „Weizenpreis-Aufstands“ vom Mai 1898 geriet. Nach dem Ende seiner Schulzeit (in mehreren Städten infolge beruflich bedingter Ortswechsel des Vaters) nahm Ferrari zunächst ein Ingenieurstudium in Modena auf (1907), um zwei Jahre später zur Jurisprudenz zu wechseln. In dieser Zeit begann er, sich in seiner Heimatstadt in Vereini- gungen der katholischen Jugend zu engagieren, insbesondere im Stadtverband der Studentenvereinigung „Federazione universitaria cattolica italiana“, wo die Ideen der „ersten“ italienischen Christdemokratie Romolo Murris (wegen seines „Modernismus“ 1907 suspendiert, 1909 exkommuniziert; 1943 Aufhebung der Exkommunikation durch Papst Pius XII.) lebendig waren.6 Auch dank seines Engagements und mit der Unterstützung des jungen Modeneser Vorsitzenden Giuseppe Casoli sowie des Erzbischofs Natale Bruni entwickelte sich die Sek- tion in Modena zu einem Zentrum kultureller und sozialer Aktivitäten, das in der nationalen Führung des Studentenbundes Aufmerksamkeit erregte. Seine Bemühungen um die Einrichtung eines Arbeitsamtes in Modena markierten die Anfänge einer „weißen“ Gewerkschaftsbewegung in der Region. Darüber hinaus engagierte er sich mit seinen Freunden um den Aufbau eines katholischen Ver- einswesens in Konkurrenz zu den „roten“ Assoziationen sozialistischer Prägung. So entstanden u. a. ein Arbeiterbund, eine Bauernunion, ein Mieterverein, eine Frauenliga und eine Genossenschaftsbank.7 Im Juli 1913 verteidigte Ferrari seine juristische Masterarbeit erfolgreich und begann eine steile Karriere als Rechtsanwalt am Obersten Kassationsgericht. Als Stadtratsmitglied in Modena (ab Juli 1914) setzte er sich u. a. für die Ein- führung einer Grundsteuer ein. Die Motive seiner Parteinahme für den Eintritt

5 Vgl. Giuseppe Ignesti, Introduzione. In: Francesco Luigi Ferrari, Il Regime Fascista Italiano, con una presentazione di Gabriele de Rosa. Hg. von Giuseppe Ignesti, Rom 1983, S. CXI–CXXVII; Mario G. Rossi, Francesco Luigi Ferrari. Dalle Leghe Bianche al Partito Popolare, Rom 1965. 6 Vgl. Ignesti, Introduzione, S. CXIII. Über die Verbindungen zum rheinischen Sozial- katholizismus vgl. Stefano Trinchese, Kulturkampf und Zentrum im Denken Luigi Sturzos und der Popolari. In: Historisch-Politische Mitteilungen, 6 (1999), S. 29–48. Vgl. als Überblick auch Giorgio Vecchio, Christliche Demokratie in Italien (https:// www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=5eef6213-9782-6d83-32ef-99b66b 43d840&groupId=252038; 12.11.2020). 7 Vgl. Rossi, Francesco Luigi Ferrari, S. 93–112; Giuseppe Ignesti, Francesco Luigi Fer- rari. In: Alessandro Albertazzi/Giorgio Campanini (Hg.), Il Partito Popolare in Emilia Romagna (1919–1926), Band II: I Protagonisti, Rom 1987, S. 128–144. 56 Aufsätze / Articles

Italiens in den Ersten Weltkrieg unterschieden sich nicht grundlegend von denen „säkularer“ Demokraten, die mit dem Kampf gegen das Habsburgerreich die Umsetzung der Risorgimento-Ideen nationaler Unabhängigkeit, der Befreiung der Völker und des Antiabsolutismus verbanden.8 Als zweiter Leutnant eines Artillerieregiments nahm er bis Kriegsende an den militärischen Auseinanderset- zungen teil, zuletzt mit dem Kapitänsgrad ausgestattet. Am Tag des Sieges lernte er seine Frau, Orsola Filbier („Lina“; 1897–1971) aus Triest, kennen.9 Sie lebten bis zu seiner Exilierung in Formigine, fünf Kilometer südwestlich von Modena, und bekamen fünf Kinder. Die Familie folgte ihm 1926 ins Exil. Aus dem Krieg nach Modena zurückgekehrt, musste Ferrari feststellen, dass die Häupter des Klerikalismus alter Prägung die Abwesenheit der jungen Christ- demokraten genutzt hatten, um ihre Einflusskanäle zu restaurieren. So schloss er sich bereits Ende 1919 Don Sturzos neu gegründeter Volkspartei an, wo er sich von Anfang an am linken Flügel erfolgreich gegen die Parteirechte positionierte.10 1920 in den Provinzrat gewählt, setzte er im Oktober 1921 als Delegierter auf dem 3. PPI-Parteitag (Venedig) ein frühes Zeichen seines Antifaschismus, indem er sich entschieden gegen jede Zusammenarbeit mit Nationalisten und Faschisten aussprach. Der Eintritt in die Regierung Ivanoe Bonomis (Juli 1921 bis Februar 1922) scheiterte am Widerstand der Parteirechten gegen ein (von der Partei- linken und dem Parteizentrum zögerlich befürwortetes) Bündnis mit den Sozia- listen. Angesichts des faschistischen „Marsches auf Rom“ gründete Ferrari mit einigen Mitstreitern die Zeitschrift „Il Domani d’Italia“ („Der Morgen Italiens“), die von Dezember 1922 bis Juli 1924 den christlich-demokratischen Widerstand gegen die faschistische Bewegung organisierte und geistig fundierte. Unterdessen beteiligten sich die Popolaren mit zwei Ministern und einigen Staatssekretären an der ersten Regierung Mussolini – zum Missfallen Ferraris und Sturzos, die in den folgenden Monaten mit ihrer Haltung an Einfluss gewannen und den PPI auf dem Parteitag von (April 1923) auf einen kompromisslosen Widerstand gegen den Faschismus einschworen. Die Phase innerparteilicher Klärung ende- te angesichts des neuen, von den Faschisten mit Erfolg lancierten Wahlgesetzes („Legge Acerbo“, verabschiedet im November 1923), das den Stimmenanteil des PPI bei den – von Wahlbetrug und Gewalt überschatteten – Wahlen vom April 1924 von 20,4 Prozent (1921) auf 9,0 Prozent reduzierte. Nach der Ermordung eines der führenden Repräsentanten des gemäßigten Sozialismus, , beteiligte sich der PPI am Auszug der antifaschistischen Opposition („Secessione dell’Aventino“). Der Volksunterstützung beraubt und vom Heiligen

8 Vgl. Mario G. Rossi, Ferrari, Francesco Luigi. In: Francesco Traniello/Giorgio Cam- panini (Hg.), Dizionario storico del movimento cattolico in Italia, Turin 1982, S. 201– 205, hier 202. 9 Vgl. Francesco Luigi Ferrari, „La politica fa parte anche del nostro amore“. Lettere a Lina Filbier (1918–1933). Hg. von Paolo Trionfini, Rom 2016. 10 Vgl. Ignesti, Introduzione, S. CXVI. Backes, Francesco Luigi Ferrari 57

Stuhl im Stich gelassen, bedeutete der Kongress von Rom (Juni 1925) nur noch den Schwanengesang des PPI. Führende Exponenten der im November 1926 formell aufgelösten Partei waren bereits im Exil oder flüchteten alsbald. Auf dem Rückweg vom Parteitag in Rom schlug eine Gruppe von Faschisten Ferrari im Zentrum Modenas zu Boden und verletzte ihn. Wenige Tage später wurde einer seiner Studienfreunde schwer misshandelt. Trotz solcher Ereignis- se und familiärer Schicksalsschläge (seine kleinen Söhne Domenico und Carlo starben an Scharlach) setzte Ferrari den Kampf gegen die faschistische Diktatur unbeirrt fort. Erst als im November 1926 sein Büro im Zentrum Modenas von Faschisten verwüstet und seine Wohnung in Formigine attackiert worden war, brachte er sich im Ausland in Sicherheit.11 Nach Treffen mit Giuseppe Donati, Luigi Sturzo und Carlo Sforza in Paris und Brüssel nahm er ein Studium an der École des sciences politiques et sociales der Katholischen Universität Löwen auf, was für eine Übergangszeit eine elegante Lösung war, um die Probleme eines un- geklärten Aufenthaltsstatus zu umgehen, die viele Exilanten im liberalen Ausland hatten.12 Dass das Studium aber keine bloße Verlegenheitslösung für den 36-Jäh- rigen war, zeigt die geist- und materialreiche Dissertation, die er im Juni 1928 mit Erfolg verteidigte: „Le Régime fasciste italien“ erschien noch im selben Jahr in der Schriftenreihe des Instituts im katholischen Verlag Éditions Spes in Paris. Diese Studie hätte den Grundstein einer akademischen Anstellung an der Universität bilden können, wäre Ferrari nicht noch im Exil Opfer erfolgreicher Interventionen der italienischen Botschaft geworden, die unmittelbar auf die Initiative Benito Mussolinis zurückgingen.13 So hatte er große Mühe, sich selbst und die inzwischen in Löwen eingetroffene Familie über Wasser zu halten. Dies gelang nur durch den Verkauf von Familienvermögen und mittels publizistischer Aufträge, die ihm Sturzo und Sforza verschafften. Erst als der Sozialdemokrat Gaetano Salvemini, Mitgründer der demokratischen Widerstandsbewegung „Ge- rechtigkeit und Freiheit“ („Giustizia e Libertà“), ihm Ende 1929 eine regelmäßige Anstellung im Zuge seiner Recherchen für das Buchprojekt einer Zeitgeschichte Italiens anbot, stabilisierten sich seine wirtschaftlichen Verhältnisse. Gemeinsam mit dem Liberalen Armando Zanetti und dem Sozialisten Arturo Labriola hatte er bereits im Februar 1928 ein politisches und soziales Studienzentrum des ita- lienischen antifaschistischen Exils gegründet, das das französischsprachige Wo- chenblatt „L’Observateur“ herausgab, in dem Ferrari zahlreiche Beiträge zu poli- tischen, kulturellen und religiösen Fragen veröffentlichte. Dagegen scheiterte das ehrgeizige Projekt einer politisch-kulturellen Zeitschrift („Il Rinnovamento“) aller antifaschistischen Gruppen mit Ausnahme der Kommunisten an den Konflikten

11 Vgl. ebd., S. CXIX. 12 Vgl. den 1929 verfassten Bericht von Francesco Luigi Ferrari, Relazione sulla situazio- ne dei popolari italiani in esilio (26.–28.7.1929). In: ders., Lettere e documenti inediti, Band II. Hg. von Giuseppe Rossini, Rom 1986, S. 782–785. 13 Vgl. Ignesti, Introduzione, S. CXX. 58 Aufsätze / Articles zwischen Kirchentreuen und Antiklerikalen, die sich angesichts der im Februar 1929 zwischen dem Heiligen Stuhl und dem faschistischen Italien geschlossenen Lateranverträge verhärteten.14 Dennoch kooperierte Ferrari, dem Sturzo 1929 die offizielle Auslandsvertre- tung des PPI übertrug,15 auch weiterhin eng mit Antifaschisten unterschiedlicher Richtungen. Aus der Zusammenarbeit mit dem „liberalen Sozialisten“ Carlo Rosselli entstanden zwei schmale Schriften in der Form offener Briefe „An die Pfarrer Italiens“ („Ai parroci d’Italia“), die heimliche Verbreitung auf der Halb- insel fanden. Im September 1930 trat er (neben Francesco Saverio Nitti, Marion Rosselli, Filippo Turati u. a.) als Entlastungszeuge im Prozess gegen den sozia- listischen Antifaschisten Fernando de Rosa auf (zu den Strafverteidigern zählte der belgische Sozialdemokrat Paul Henri Spaak), der im Oktober 1929 ein (ge- scheitertes) Pistolenattentat auf den Sohn von König Vittorio Emmanuele III. und späteren letzten König Italiens, Umberto II. von Savoyen, verübt hatte.16 Gemeinsam mit Luigi Sturzo unterstützte er den tollkühnen 29-jährigen Lite- raturwissenschaftler und Piloten Lauro de Bosis17 bei der Vorbereitung seines spektakulären (und dramatisch endenden) Fluges mit einer Propellermaschine von Marseille nach Rom, wo er am 3. Oktober 1931 über dem Stadtzentrum kreiste und Tausende antifaschistischer Flugblätter abwarf. Ferrari beteiligte sich an den Versuchen, ein Auslandsbüro des PPI in Brüssel zu organisieren. Er nahm im September 1930 am Kongress der christdemokratischen Aktion für den Frie- den in Ostende und im Juli 1931 am Treffen der europäischen christdemokrati- schen Parteien in Luxemburg teil.18 Die letzten beiden Jahre seines Lebens verbrachte er überwiegend in Paris, wo er den Verlag des ehemaligen Parteifreundes Ettore Carozzo leitete, und in enger Verbindung mit Sturzo, dem „wahren Orchesterdirektor“,19 die Zeitschrift „Res Publica. Revue d’études politiques internationales“ herausgab. Damit soll- te der Traum einiger prominenter Exilierter (Gaetano Salvemini, Carlo Sforza, Silvio Trentin, Filippo Turati) in Erfüllung gehen: ein französischsprachiges poli- tisch-kulturelles Forum auf hohem Niveau für die Erörterung der Grundsatzfra- gen zeitgenössischer Politik, an dem die Exponenten des italienischen Exils eben- so teilhaben würden wie Vertreter der demokratischen Parteien des Westens. Zu

14 Vgl. zu den Konflikten innerhalb der Exilgruppierungen Alfredo Canavero, I cattolici antifascisti italiani tra emigrazione ed esilio in interiore. In: L’émigration politique en Europe aux XIXe et XXe siècles. Actes du colloque de Rome (3.–5. März 1988), Rom 1991, S. 345–370. Vgl. auch Jean-Luc Pouthier, Émigrés catholiques et antifascisme: Luigi Sturzo et l’Internationale Blanche. In: Pierre Milza (Hg.), Les Italiens en France de 1914 à 1940, Rom 1986, S. 481–497. 15 Vgl. Roberto Papini, Le Courage de la démocratie, Paris 2003, S. 76. 16 Vgl. Ignesti, Introduzione, S. CXXI. 17 Vgl. De Rosa, Francesco Luigi Ferrari, S. 22. 18 Vgl. Ignesti, Introduzione, S. CXXII. 19 Claudia Giurintano, La „Res Publica“ (1931–1933) di Francesco Luigi Ferrari. Contri- buti storici e politico-dottrinali, Florenz 2009, S. 47. Backes, Francesco Luigi Ferrari 59 den Beiträgern zählten neben Salvemini, Sforza und Sturzo u. a. der englische Historiker und Herausgeber der „Contemporary Review“ George P. Gooch, der ehemalige Direktor der „London Times“ Henry Wickham Steed, der liberale Journalist und Herausgeber des „Economist“ Francis Wrigley Hirst, der „Man- chester Guardian“-Journalist Cecil J. S. Sprigge, der junge französische Jurist, Ideenhistoriker und Italienkenner Marcel Prélot, der belgische Sozialist Louis de Brouckère, der belgische Jurist und Mitgründer der International Labour Orga- nization Ernest Mahaim, der spanische Verfassungsrechtler Alfredo Mendizábal Villalba, der französische Anwalt und spätere Linksgaullist René Capitant (Uni- versität Straßburg), der Chef des Auslandsressorts des Journal de Genève Willi- am Martin, Jean Luchaire, Gründer der gemäßigt-pazifistischen Pariser Zeitung Notre Temps, und die Sturzo-Vertraute, Frauenrechtlerin und Gründerin der christdemokratischen „People and Freedom“-Gruppe Barbara Barclay Carter. Das Projekt fand ein jähes Ende, als der an einer schweren Grippe erkrankte Ferrari am 2. März 1933 infolge eines alten Lungentraumas starb. Luigi Sturzo schrieb seinem Bruder Mario, Bischof von Piazza Armerina, vom Tod des jungen Freundes und bat ihn, für den frommen Verstorbenen, seine unter „schreckli- chen Bedingungen“20 hinterlassene Frau und die Kinder zu beten. Das Zentral- komitee der Antifaschistischen Aktion (Unterzeichner u. a. Carlo Rosselli und Claudio Treves) übermittelte der Witwe und den Halbwaisen noch am gleichen Tag eine Kondolenzerklärung: „Über seinem Grab erneuert der Antifaschismus seinen Willen, den Kampf zu intensivieren, um sich mit der Freiheit des italieni- schen Volkes zum Opfer der Gefallenen zu bekennen.“21

III. Antifaschismus

Die Gegnerschaft zum Faschismus speiste sich in den Jahren 1919 bis 1922 aus sehr unterschiedlichen Motiven und Sichtweisen. Sie war anfänglich schon deshalb diffus, weil die faschistische Bewegung im Inneren heterogene Kräfte vereinte, Metamorphosen durchlief und nach dem „Marsch auf Rom“ mehrere Jahre vergingen, bis sich die Konturen eines faschistischen Regimes klar abzeich- neten. Zudem war lange Zeit ungewiss und strittig, ob es sich um ein aus den Bedingungen der Nachkriegskrise zu erklärendes passageres oder um ein stabile Strukturen ausbildendes Phänomen sui generis handele.22

20 Brief Luigi Sturzos an Mario Sturzo vom 3. März 1933 (London). In: Gabriele De Rosa (Hg.), Luigi Sturzo – Mario Sturzo. Carteggio III: 1932–1934, Rom 1985, S. 192. 21 La concentrazione di azione antifascista a Lina Ferrari (Paris, 2.3.1933). In: Ferrari, Lettere e documenti inediti, Band II, S. 843 f. (Übersetzungen aus dem Italienischen ins Deutsche auch im Folgenden durch den Autor). 22 Vgl. die Beiträge von Emilio Gentile und Giovanni de Ghantuz Cubbe in dieser Ausga- be, mit zahlreichen weiteren Angaben zur Forschungsliteratur. 60 Aufsätze / Articles

Die frühesten Zeugnisse von Ferraris Antifaschismus fallen in das Jahr 1921, als er zum ersten Mal die nationale Bühne betrat und auf dem PPI-Parteitag von Venedig entschieden gegen eine Kooperation mit Nationalisten und Faschisten Stellung bezog.23 Er zählte zu den scharfen Kritikern der „kollaborationistischen Rechten“ innerhalb seiner Partei, die zur bedingten Zusammenarbeit mit den Faschisten bereit war. Bereits in den Monaten vor dem „Marsch auf Rom“ wurden die Beweggrün- de seines Antifaschismus deutlich erkennbar. In seiner Zeitschrift „Il Doma- ni d’Italia“ kommentierte er im August 1922 Mussolinis Streben nach einer grundlegenden Reform des (Verhältnis-)Wahlrechts als den Versuch, die Ver- fassung „ab imis fundamentis“24 zu verändern, um auf diese Weise etwas zu erreichen, was mit den geltenden Regeln (des Wahlrechts) unerreichbar wäre. Dieser „Antidemokratizismus“ („antidemocraticismo“) gehe mit einem „Aristo- kratizismus“ einher, der sich in der inneren Verfasstheit der faschistischen Bewegung offenbare. Sie verfüge inzwischen unzweifelhaft über eine Massen- basis, sei aber zu sehr nach militärischen Prinzipien hierarchisch organisiert, als dass ihre Mitglieder und Organe in der Lage wären, das Denken und die Einstellungen der Anführer („capi“) sinnvoll zu beeinflussen. Die faschistische Partei sei daher „eminent aristokratisch“, weil in ihr nicht das Denken der Mit- glieder, sondern das der Anführer zähle, die über die folgsame Menge eine Art „politisches Patronat“25 ausübten. In einem weiteren Beitrag vom 27. August 1922 („Stato liberale e stato fas- cista“) zitiert Ferrari aus einem der Artikel Mussolinis in der Parteizeitung „Il Popolo d‘Italia“ (vom 19. August 1922), in dem er den Anbruch eines neuen „aristokratischen Zeitalters“ verkünde. Die Grundeinstellung Mussolinis kom- me in der Parole zum Ausdruck „lo Stato di tutti finirà per tornare lo Stato di pochi“:26 Der Staat aller werde zum Staat der wenigen zurückkehren. Allerdings sei Mussolini in seinem politischen Denken sprunghaft und ein kohärentes Kon- zept des faschistischen Staates kaum zu erkennen. Dennoch zeigt Ferraris Kritik (Oktober 1922) an der Magistratsbeteiligung der Popolari in Mailand nach der Demission der sozialistischen Stadtverwaltung infolge des faschistischen Drucks auf den Straßen,27 dass er nicht nur eine Ko- operation mit Faschisten ablehnte, sondern auch bereit war, im Kampf gegen den Faschismus mit politischen Gegnern zusammenzuarbeiten, sofern diese einen demokratisch-rechtsstaatlichen Grundkonsens teilten. Innerhalb seiner eigenen

23 Vgl. Ignesti, Introduzione, S. CXV. 24 Vgl. Franco [Pseudonym], Mussolini e la riforma elettorale (20. August 1922). In: Fran- cesco Luigi Ferrari, „Il Domani d’Italia“ e altri scritti del primo dopoguerra (1919– 1926). Hg. von Mario G. Rossi, Rom 1983, S. 10–13, hier 11. 25 Ebd., S. 13. 26 Franco [Pseudonym], Stato liberale e stato fascista (27. August 1922). In: ebd., S. 13–18, hier 14. 27 Francesco Luigi Ferrari, Tendenze di destra e di sinistra. In: ebd., S. 21–25. Backes, Francesco Luigi Ferrari 61

Partei stritt er für den Rückzug der Popolari aus der ersten Regierung Mussolini. Wenn sich diese Linie auf dem PPI-Kongress in Turin (April 1923) durchsetzen konnte, war das auch der Erfolg der Gruppe um „Il Domani d’Italia“.28 Allerdings wandte sich Ferrari gleichzeitig gegen einen „festgelegten Antifaschismus“ („anti- fascismo prestabilito“), der mit dem Wunsch unvereinbar wäre, der „Nation beim Wiederaufbau zu helfen“. Dies sei zu unterscheiden von der Ablehnung einer „politischen und staatlichen Mitverantwortung“.29 Das Konzept des Faschismus gewann infolge der Matteotti-Krise an Klarheit. Die Restabilisierung der zeitweilig angeschlagenen Regierung Mussolinis und die zunehmende „Faschistisierung“ Italiens zwangen Ferrari ins Exil, ermöglich- ten jedoch auch eine vertiefende Analyse aus der Distanz, wie sie die überwie- gend im Jahr 1927 verfasste Dissertation auf beeindruckende Weise entfaltet. Der inhaltliche Kern von Ferraris Antifaschismus zeigt sich in der Auseinander- setzung mit Kerngehalten der Doktrin des Faschismus, wie sie Alfredo Rocco im Jahr seiner Ernennung zum Justizminister (1925) entwickelt hatte.30 Im Zentrum steht der „Mythos der Nation“, der die „soziale Idee“31 der Menschheit ne- giert und die partikulare Zugehörigkeit des Menschen zu einer „organischen“ Gemeinschaft betont, die wie eine Gottheit über den Individuen thront. Im Inneren des Staates ordnet der faschistische Nationalismus das Individuum einem Kollektiv unter, an dessen Spitze Berufene stehen, welche die „wahren Interessen der Gesellschaft“32 zu erkennen und zu vertreten beanspruchen. Sie orientieren sich am Leitbild „organischer Einheit“33 der Nation (Sprache, Kultur, Sitten), das wenig Spielraum für abweichende Lebensentwürfe lässt. Nach außen ist die Nation des Faschismus darauf angelegt, bis an die Grenzen ihrer Kapazität und ihrer Bedürfnisse zu gehen. Sie begründet auf diese Weise einen „grenzenlosen Imperialismus“.34 Die Ablehnung von Nationalismus und Imperialismus teilte Ferrari mit Anti- faschisten aus anderen politischen Lagern. Im Ausland intensivierte sich die Ko- operation mit Liberalen, Sozialdemokraten und reformistischen Sozialisten. Ein

28 Vgl. Ignesti, Introduzione, S. CXVI. 29 Die Passage lautet im Original: „Nessun antifascismo prestabilito; ardente desiderio di aiutare la nazione nel suo sforzo di ricostruzione. Ma nessuna corresponsabilità poli- tica e di Governo! Dalla quale, finalmente, il fascismo stesso ci ha liberati … Dove noi incominciammo, la realtà e la storia dovranno condurre anche gli altri in buona fede. Le insidie continueranno; ma noi siamo fiduciosi che il partito le vincerà.“ Francesco Luigi Ferrari, Da Torino a Roma. Il „Primo Tempo“ dopo il Congresso (29.4.1923). In: ders., „Il Domani d’Italia, con una prefazione di Luigi Sturzo, a cura di Giampietro Dore, Rom 1958, S. 85–88, hier 88 (Auslassung im Orignal). 30 Vgl. Ferrari, Le Régime fasciste italien, S. 61 (Übersetzungen auch im Folgenden durch den Autor). Ferrari zit. Alfredo Rocco, La dottrina del fascismo ed il suo posto nella storia, Mailand 1925 (basierend auf einer Rede an der Universität Perugia vom 30.8.1925). 31 Ferrari, Il Regime Fascista, S. 62. 32 Ebd., S. 71. 33 Ebd., S. 66. 34 Ebd., S. 72. 62 Aufsätze / Articles

Zeichen lagerübergreifender Verbundenheit des demokratischen Antifaschismus war das publizistische Denkmal, das Ferrari im Juni 1932 im Exil verstorbenen Mitstreitern setzte. In dem Beitrag für die Zeitschrift „Res Publica“ würdigte er den Liberalen Giovanni Amendola (1882–1926), den Radikal-Liberalen Piero Gobetti (1901–1926), den republikanischen Freimaurer Eugenio Chiesa (1863– 1930), seinen christdemokratischen Parteifreund Giuseppe Donati (1889–1931) und Filippo Turati (1857–1932), der sich als einer der Wortführer des sozialde- mokratischen Flügels des Partito Socialista Italiano im Januar 1921 mit Giacomo Matteotti gegen den (von der Mehrheit befürworteten) Anschluss an die Kom- munistische Internationale ausgesprochen und den Partito Socialista Unitario als Gegenpol zum Partito Comunista Italiano von Amadeo Bordiga und Antonio Gramsci gegründet hatte. Was Ferrari in historisch ausholenden Reflexionen über die Bedingungen des politischen Exils im 19. und 20. Jahrhundert schreibt, steht in enger Verbindung zu den Prinzipien, die eine antifaschistische Koopera- tion erst ermöglichten. Ein politisches Exil gebe es insbesondere in solchen Staa- ten, in denen die Gleichheit vor dem Gesetz und die Unverletzlichkeit persönli- cher Grundrechte keine Geltung besäßen.35 Antifaschistische Kooperation setzte also in jedem Fall die Anerkennung der Prinzipien des Rechtsstaates voraus.

IV. Antiextremismus und Antitotalitarismus

Ein solcher Antifaschismus basierte auf einem Grundkonsens im Blick auf ele- mentare Werte und Prinzipien, die Geltung nicht nur im Verhältnis zum (italieni- schen) Faschismus entfalteten, sondern zu allen Bewegungen und Bestrebungen gleich welcher Herkunft und Ausrichtung. Die Absage an die Anwendung von Gewalt war – neben der gewerkschaftlichen Solidarität – Teil der Prinzipien, auf die Ferrari die Delegierten des Kongresses des katholischen Arbeiterbundes in Mailand (August 1923) einschwor.36 Ferraris Antifaschismus ging aber darüber hinaus. Er war Antiextremismus insofern, als er die auf Revolution drängenden Gegner des liberalen Systems auf einen gemeinsamen Nenner brachte. So bezeichnete Ferrari in einem zu Lebzeiten unveröffentlichten Manuskript aus dem Jahr 1924 extreme Rechte wie Linke („estrema destra“, „estrema sinistra“) als „autoritäre Strömungen“ („correnti autoritariste“37) und beleuchtete ihre historischen Interaktionen und Wechselwirkungen: Die Konversion der revolutionären Kräfte zum Kommu-

35 Ders., L’Exil. In: Res Publica, 3 (1932), S. 354–356, hier 351. Vgl. auch Giurintano, La „Res Publica“, S. 177–182. 36 Francesco Luigi Ferrari, La Confederazione Bianca al convegno di Milano (5.8.1923). In: ders., „Il Domani d’Italia“. Hg. von Giampietro Dore, Rom 1958, S. 136–138, hier 136. 37 Ders., Una democrazia senza democratici. In: ders., Scritti dell’esilio, Band II: Una democrazia senza democratici. Hg. von Giuseppe Ignesti, Rom 1998, S. 18. Backes, Francesco Luigi Ferrari 63 nismus und zur „direkten Aktion“ (die Rede ist an anderer Stelle im gleichen Zusammenhang vom „estremismo rivoluzionario“38) sei vor dem Weltkrieg von einem Mann vorangetrieben worden, der lange Zeit das Vertrauen großer Tei- le der Sozialistischen Partei genossen habe: sei in seiner Zeit als Chefredakteur der Parteizeitung „Avanti“ (1912–1914) als revolutionärer „Avantgardist“ aufgetreten, der nicht auf eine Reform, sondern auf die Beseiti- gung des liberalen Systems zielte.39 Nach dem Krieg bündelte er dann das soziale Unterstützerpotenzial der extremen Linken wie der nationalistischen Rechten. Ferraris Antiextremismus entfaltet sich systematischer in den historischen Teilen seines Faschismusbuches, wo er die politische Polarisierung im Nach- kriegsitalien angesichts der Versuche bolschewistischer Regimebildung be- schreibt. Während die Arbeiterorganisationen allzu oft das Mittel des Streiks zum Einsatz brachten, griffen die liberalen Regierungseliten auf repressive Mit- tel zurück und fanden nicht die Kraft, um ein Konzept aktiver Verteidigung der Institutionen zu entwickeln. Von der „anarchistischen Mentalität“ profitierten die von Teilen des Bürgertums unterstützten faschistischen Kampfbünde, die die meisten Streiks der Jahre 1919/20 unterstützten und sich darin erschöpften, es dem „Extremismus der Extremistischsten“40 gleichzutun. Zwischen den Extre- men standen die regierungskritischen Popolari, die sich sowohl dem „maxima- listischen Sozialismus“ als auch dem Faschismus entgegenstellten, indem sie die „katholische und demokratische Tradition Italiens“ gegen revolutionäre Unter- nehmungen des „rechten“ wie des „linken Subversivismus“41 verteidigten – und dabei scheiterten. Jahre später hat Luigi Sturzo in einem Beitrag für Ferraris „Res Publica“ den Antiextremismus parteiensoziologisch begründet. Die Labilität der euro- päischen Demokratien in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg führte er auf drei einander wechselseitig bedingende Faktoren zurück: Arbeitslosigkeit, das Übergewicht „extremer Tendenzen“ und Regierungsinstabilität. Nicht in der schieren Existenz der „extremen Strömungen“, sondern in deren Dominanz im Verhältnis zu den gemäßigten Kräften bestehe das Kernproblem. Den ge- mäßigten Parteien komme in den parlamentarischen Regimen die Funktion der „Mediation“42 zu. Sie hätten die Aufgabe, einen Ausgleich zwischen den di- vergierenden sozialen Kräften herzustellen. Ihre Schwäche lasse die „extremen Kräfte von rechts oder links“43 anwachsen, eine zum Kommunismus tendie- rende „sozialistische Palingenesis“44 auf der einen, die aus dem Nationalismus

38 Ebd., S. 23. 39 Ebd., S. 24. 40 Ders., Le Régime fasciste italien, S. 35. 41 Ebd., S. 36. 42 Luigi Sturzo, Inquiétudes et orientations. In: Res Publica, 4 (1933) Februar, S. 8–20. 43 Ebd., S. 12. 44 Ebd., S. 17. 64 Aufsätze / Articles erwachsenen Phänomene „politischer Perversion“45 (italienischen Faschismus, deutscher oder österreichisch-deutscher „Nazismus“, polnischer Piłsudskismus“, „Action Française“) auf der anderen Seite. Wer die Rechte der Individuen und die internationale Menschengemeinschaft leugne, schaffe „falsche und inkohä- rente Mystiken“46 und begünstige die Entstehung „moderner Diktaturen“ mit „extremen Regierungen“, die auf Zwang und Willkür basierten. Diese Regie- rungen setzten nicht auf Ausgleich zwischen der sie tragenden Partei und der Gesamtheit der gemäßigten Kräfte des Landes und entwickelten sich so zu „ex- tremistischen“ oder „Kampfregierungen“.47 Nicht nur im Antiextremismus (Bewegungsebene), sondern auch im Anti- totalitarismus (Regimeebene) zeigen sich neben vielen Gemeinsamkeiten auch gewisse Unterschiede zwischen den Konzepten Ferraris und Sturzos. Der anti- totalitäre Antifaschismus Ferraris deutet sich bereits in den frühen Beiträgen für „Il Domani d’Italia“ an – nicht zuletzt dort, wo er anscheinend erstmals auf den Neologismus „sistema totalitario“48 rekurriert. Die Rede ist von der Tendenz der Sozialisten, ihre Politik in den 1920 bei Wahlen eroberten Kommunen nach „klassistischem Schema“ zu betreiben, sodass die Faschisten vielerorts leichtes Spiel gehabt hätten, mit ihrem „totalitären System“ breiteren Anhang gegen die Linke zu mobilisieren, wenn sie gewaltsam Rathäuser besetzten, Bürgermeister und Stadträte zum Rücktritt zwangen oder über die Präfekten Verwaltungen kommissarisch übernahmen. Solche Vorgänge hatte einen Monat zuvor der Li- berale Giovanni Amendola in der Zeitung „Il Mondo“ als „sistema totalitario“ beschrieben – als den Versuch, absolute Macht in den Kommunen zu erringen und auszuüben.49 Das Vorgehen der Faschisten war ein eklatanter Verstoß gegen Grundprinzi- pien des liberal-demokratischen Systems. Die Reflexion über zu akzeptierende Minima war Gegenstand der Auseinandersetzung bei verschiedenen antifaschis- tischen Parteien. In den persönlichen Unterlagen Ferraris befand sich etwa ein Entwurf Sturzos für den internationalen Kongress christlich-demokratischer Par- teien in Brüssel vom 1. Mai 1926.50 Dieser formulierte ein Bekenntnis zu folgen-

45 Ebd., S. 18. 46 Ebd., S. 19. 47 Ebd., S. 13. 48 Ders., Il fascismo e le amministrazioni locali (24.6.1923). In: ders., „Il Domani d’Ita- lia“. Hg. von Giampietro Dore, Rom 1958, S. 105–110, hier 106. 49 Giovanni Amendola, Maggioranza e minoranza. In: Il Mondo vom 12.5.1923. Vgl. Jens Petersen, Die Entstehung des Totalitarismusbegriffs in Italien. In: Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Ba- den-Baden 1996, S. 95–117, hier 104. Vgl. zu Amendolas Totalitarismusdeutung auch den Beitrag von Emilio Gentile in dieser Ausgabe. 50 Vgl. zur Brüsseler Konferenz Alwin Hanschmidt, Eine christlich-demokratische „In- ternationale“ zwischen den Weltkriegen. Das „Secrétariat International des Partis Dé- mocratiques d’Inspiration Chrétienne“ in Paris. In: Winfried Becker/Rudolf Morsey (Hg.), Christliche Demokraten in Europa. Grundlagen und Entscheidungen seit dem 19. Jahrhundert, Köln 1988, S. 153–188, hier 171–173. Backes, Francesco Luigi Ferrari 65 den Grundprinzipien: „1 – das Repräsentativsystem auf der Grundlage des all- gemeinen Männer- und Frauenwahlrechts […]; 2 – die Teilung der Gewalten und ihre direkte Verantwortlichkeit; 3 – die Methode der Freiheit angewendet auf die Durchführung des öffentlichen Lebens und der sozialen Kräfte […]; 4 – die Autonomie der lokalen Einheiten und die administrative Dezentralisation im Ge- gensatz zum staatlichen Zentralismus.“ Daraus folgt: „Die demokratischen Par- teien oder Gruppen christlicher Inspiration sind Gegner der aktuellen antidemo- kratischen Systeme, die nach dem Krieg in Europa erschienen sind: Faschismus und Bolschewismus; diesen beiden Systemen ist die vorherrschende Tendenz zur Diktatur gemeinsam, die Konzentration der Gewalten, die extreme staatliche Zentralisierung, das Monopol über die öffentlichen und privaten Aktivitäten, so- gar auf wirtschaftlichem Gebiet, die Begrenzung oder Unterdrückung jeglicher Freiheit und der Gebrauch privater oder öffentlicher Gewalt, organisiert oder unterstützt durch die Staatsmacht.“51 Ähnliche Formulierungen zu den „Metho- den der Freiheit“ finden sich in Sturzos Buch „Italien und der Faschismus“, das 1926 in englischer und deutscher Sprache erschien.52 Auch Ferraris Faschismusbuch lässt über solche Minimalbedingungen des Antiextremismus und Antitotalitarismus keinen Zweifel, wenngleich sie weniger systematisch ausformuliert sind. Über das Werk verstreut ist an vielen Stellen vom „totalitären“ Anspruch/Selbstverständnis des Faschismus (der Neologismus ist in der französischen Erstausgabe durchgängig kursiv gesetzt) die Rede. Die Selbstbezeichnung als „totalitäres Regime“ wird mit Zitaten aus Parlaments- reden Mussolinis vom 26. Mai 1927 (Abgeordnetenkammer) und vom 12. Mai 1928 (Senat) belegt,53 wo der Absolutheitsanspruch des „Duce“ und seiner Be- wegung auf die Gestaltung von Politik, Gesellschaft und Kultur zum Ausdruck kommt. Das „totalitäre Prinzip“ orientiert sich am Leitbild „politischer Homoge- nität“,54 und das entsprechende Wahlrecht zielt darauf, politische Opposition als unerwünschtes Anderssein und Abweichung an den Rand zu drängen. Perfekter Ausdruck dieses Prinzips ist das Wahlgesetz von 1928, das das oberste Gremium der Partei zur Ernennung der Abgeordnetenkammer autorisiere, während der Nation lediglich die formelle Bestätigung dieser Ernennung obliege. Auf diese Weise würden Repräsentativsystem und Wahlrecht, bereits zuvor de facto außer Kraft gesetzt, nun auch de iure aufgelöst.55 Den totalitären Anspruch des Faschis- mus beschreibt Ferrari an mehreren Stellen mit dem Ausdruck „unitarisch“ im

51 Luigi Sturzo, Proposta per il congresso internazionale democratico-popolare di Bruxel- les (1.5.1926). In: Francesco Luigi Ferrari, Lettere e documenti inediti. Hg. von Giusep- pe Rossini, Band I, Rom 1986, S. 754 f., hier 754. 52 Vgl. nur Sturzo, Italien und der Faschismus. In: ders., Über italienischen Faschismus und Totalitarismus, S. 201–262, hier vor allem 238. 53 Ferrari, Le Régime fasciste italien, S. 93. 54 Ebd., S. 107. 55 Vgl. ebd., S. 110 f. Vgl. zum „totalitären“ Wahlrecht auch ebd., S. 122, 125, 130, 212, 66 Aufsätze / Articles

Sinne von „aus einem Guss“, nichts Widerstrebendes zulassend. Der Faschismus ist „streng unitarisch nicht nur zu dem Vergnügen, alle logischen Konsequenzen aus seines fundamentalen Dogmen zu ziehen. Er ist unitarisch, weil die ins Extre- me gesteigerte Zentralisation für die Aufrechterhaltung seiner Diktatur erforder- lich ist.“56 Daher sagt Ferrari das baldige Ende der noch bestehenden „Dyarchie“ von monarchischem und faschistischem Regime voraus. Das von ihm konsequent als Selbstbezeichnung ausgewiesene Attribut „tota- litär“ (durchgängig kursiv gesetzt im Original) dient Ferrari in seinem Faschis- musbuch nominell nicht als zentrale Vergleichskategorie, um den italienischen Faschismus mit ähnlichen Fällen in Geschichte und Gegenwart in Verbindung zu bringen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erfassen. Er folgt in diesem Punkt nicht seinem älteren Mitstreiter Sturzo, dessen Buch „Italien und der Faschismus“ in seiner französischen Ausgabe nur einmal in den Fußnoten (im Kapitel über die „lokalen Autonomien“) auftaucht und wesentlich zur Ver- breitung des Attributs wie des Gattungsbegriffs „Totalitarismus“ beitrug.57 Statt dessen zieht Ferrari eine Reihe von Begriffen der Staatsformenlehre illustrativ heran, ohne sie voneinander abzugrenzen oder gar eine eigene Terminologie zu entwickeln. Die Rede ist etwa von einer „neuen nationalistischen Inkarnati- on des Absolutismus“,58 von der allen „autokratischen Regimen gemeinsamen Notwendigkeit“, alle „Manifestationen individueller Aktivität“59 ihrer Kontrol- le zu unterwerfen. Dann wieder ist von der „italienischen Auferstehung des Autoritarismus“,60 dem „autoritären Regime“61 oder der „Parteidiktatur“62 die Rede. Und neben der Autokratie existiert eine „Dyarchie“ zwischen der verfas- sungsmäßigen Monarchie und einem plebiszitär legitimierten Anführer, den die Vorsehung zu „instinktiver Klarsichtigkeit“63 befähigt. Die Vergleichskategorien werden nur sparsam für komparative Betrachtun- gen eingesetzt. Die sinngemäße Nähe zur Faschismusinterpretation Sturzos wird vor allem dort deutlich, wo Ferrari den Faschismus mit dem Bolschewismus ver-

56 Ebd., S. 95. 57 Ebd., S. 321: Luigi Sturzo, L’Italie et le Fascisme, Paris 1927. Vgl. zur Rezeptionsge- schichte Backes/Heydemann, Einleitung der Herausgeber, S. 31–33. Vgl. zu den Ge- meinsamkeiten und Unterschieden der Faschismusbücher Sturzos und Ferraris darüber hinaus Gabriele De Rosa, Francesco Luigi Ferrari tra storia del movimento cattolico e storia d’Europa. In: Giorgio Campanini (Hg.), Francesco Luigi Ferrari a cinquant’anni dalla morte. Atti del convegno nazionale di studi (Modena, 27.–28.5.1983), Rom 1983, S. 21–65. Ferrari veröffentliche 1928 – wohl vermittelt durch Sturzo – einen Beitrag für die rheinisch-katholische Zeitschrift „Abendland“, in der auch vom „totalitären Sys- tem“ (S. 305) die Rede ist. Francesco Luigi Ferrari, Die Reform der Volksvertretung in Italien. In: Abendland, 3 (1928) 10, S. 304–310. 58 Ders., Le Régime fasciste italien, S. 71. 59 Ebd., S. 76. 60 Ebd., S. 80. 61 Ebd., S. 344. 62 Ebd., S. 88. 63 Ebd., S. 95. Backes, Francesco Luigi Ferrari 67 gleicht. Bereits in den Vorbemerkungen an die Leser stellt Ferrari Faschismus und Bolschewismus als „antiindividualistische“ Bewegungen auf eine Stufe. Die- ser Antiindividualismus unterscheide sie von den „traditionellen Konzeptionen“ des Politischen. Es bleibe späteren soziologischen Analysen vorbehalten zu ent- scheiden, ob es sich bei beiden Bewegungen um „Manifestationen der Dekadenz einer erschöpften Zivilisation“ oder die „Vorboten einer neuen Zivilisation“ han- dele, die „dank der Disziplin der Massen“, unter dem Joch eines „allmächtigen Staates und seiner Regierenden“, nach der „Eroberung der alten Welt“64 strebe. Eine minuziöse Untersuchung des Verhältnisses zwischen Bolschewismus und Faschismus findet sich im materialreichen Kapitel über die „Korporativor- ganisation“ des faschistischen Regimes, wo die Grundideen der Gestaltung der Beziehungen zwischen den Wirtschaftssubjekten juristisch analysiert werden. Hauptgegenstand sind die vom faschistischen Großrat im April 1927 verabschie- dete Carta del Lavoro und die bereits voraufgegangenen Gesetze vom 3. April 1926 über den Rechtsstatus der kollektiven Arbeitsbeziehungen und die damit zusammenhängenden Dekrete vom 1. und 2. Juli 1926. Für den Vergleich mit der Arbeitsverfassung Sowjetrusslands greift Ferrari vor allem auf einen Bericht des Internationalen Arbeitsamtes aus dem Jahr 1927 zurück.65 Darüber hinaus stützt er sich auf die Expertise des in Paris lehrenden Verfassungsjuristen Boris Mirkine-Getsewitsch, dessen Allgemeine Theorie des Sowjetstaates 1928 in ers- ter Auflage erschien.66 Das gemeinsame geistige Fundament von Kommunismus/Bolschewismus und Faschismus sieht Ferrari im Dogmatismus beider Bewegungen/Regime. Sie basie- ren auf einem Dogma, das an die Stelle der angeblich hinfälligen religiösen Dog- men tritt: dem der endgültigen Überwindung des Klassenkampfes. Der „Optimis- mus“, der die Hoffnungen der „Kollektivisten“ auf eine „definitive“ Organisation der sozialen Beziehungen durch die Beseitigung des Privateigentums speise, habe seine Entsprechung in der Annahme der „Nationalisten“, es lasse sich eine „defi- nitive soziale Organisation auf der Basis einer per Gesetz aufgezwungenen und von der Polizei überwachten nationalen Solidarität“ erzwingen: „Die Konsequenzen dieser beiden Dogmatismen, die man auf dem Feld der Moral zie- hen kann, sind absolut identisch: Es ist immer ein grundlegend identischer Egoismus, der die beiden Systeme beherrscht. Für die Kollektivisten ist alles dem Klassenegois- mus untergeordnet; für die Nationalisten alles dem nationalen Egoismus unterworfen. Diese materialistische und unilaterale Konzeption des Lebens führt Nationalisten wie

64 Ebd., Vorspann „Aux Lecteurs“, unpag. 65 Ebd., S. 238: Bureau international du travail, Organisations ouvrières, Genf 1925. 66 Boris Sergieevich Mirkin Getsevich, La Théorie générale de l’état soviétique, Paris 1928. Ferrari zit. aus einem Aufsatz aus dem Jahr 1927: Boris Mirkine-Guetzevitch, L’état soviétique et l’état de droit. In: Revue de droit public, (1927), S. 322 f. Er stand außerdem im Briefkontakt mit dem aus Kiew stammenden, nach der russischen Revo- lution von 1917 nach Frankreich emigrierten Juristen. Vgl. Giuseppe Ignesti, Introdu- zione, S. LXXXIX. 68 Aufsätze / Articles

Kollektivisten zur selben Verkennung der Realität. Während die Kollektivisten, um ihr System nicht zu verleugnen, die historische Realität der Nation verdrängen, wei- gern sich die Nationalisten, die Existenz der immanenten Realität der Humanität an- zuerkennen, wie sie sich in der internationalen Gesellschaft offenbart. Daraus folgt, dass der Kollektivismus auf der einen Seite behauptet, jede Art von äußerem Kampf verhindern zu können, indem die Gesellschaft der Diktatur der zahlreichsten Klasse unterworfen wird, während der Nationalismus auf der anderen Seite sich einbildet, er könne jeden inneren Kampf ersticken, indem er eine Wirtschaftsdiktatur einer Staatsregierung etabliert, die als einzig zugelassene Interpretin der höchsten Interes- sen der nationalen Solidarität gilt.“67

Folglich besteht die „Neuheit der Doktrin des faschistischen Nationalismus“ nicht in der „behaupteten ‚Beseitigung‘ des Klassenkampfes, sondern in der Tatsache, dass er sich dogmatisch weigert, diesen Kampf zuzugeben, indem er die Augen vor der Realität schließt, die uns die sich gegeneinander wendenden Klassen ebenso wie die Nationen zeigt, wenn nicht eine höhere Gerechtigkeitsidee die partikularen Egois- men bezwingt. Denn der Klassenkampf ist eine Realität – eine ärgerliche Realität, wenn man so will –; und weil das politische und ökonomische System des Nationalis- mus sich nicht wie das Christentum auf eine übernatürliche Idee stützt, muss der fa- schistische Ständestaat die notwendige und hinreichende Kraft besitzen, um jegliche Manifestation des Klassenkampfes zu ersticken.“68 Die Logik dieses deduktiven Prozesses entspricht der des Kommunismus, dem zufolge „das einzige Mittel zur Gewährleistung der Stabilität der sozialen Orga- nisation“ darin besteht, eine numerisch und potenziell überlegene „Klassen- diktatur“ zu etablieren. Nach Auffassung der Nationalisten könne diese Stabili- tät nur errungen werden, wenn die „tatsächlich stärkste politische Klasse“ die „notwendigen und hinreichenden Mittel erhält, um alle ökonomischen Aktivitä- ten der Nation zu dominieren und sie im Sinne der Realisation der Kollektivinte- ressen zu disziplinieren, wie sie die herrschende Elite entwirft.“69 Im Detail beschreibt Ferrari dann die Konsequenzen der rechtlichen Neu- regelung der Arbeitsbeziehungen in Italien, die alle Wirtschaftssubjekte ihrer Autonomie beraube, die Freiheit der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände beseitige, die Aushandlung der Löhne und Gehälter staatlich dirigiere, den Ar- beitern das Streikrecht entziehe und den Unternehmern das der Aussperrung. Nach einer langen Beweiskette kommt er zu dem Schluss: In der italienischen Öffentlichkeit wie im Ausland werde der Faschismus häufig als perfekte Anti- these des Kommunismus angesehen, die einzige verlässliche Säule „der sozia- len Stabilität, des Respekts der Autorität und der Bewahrung des Privateigen- tums“.70 Dabei handele es sich jedoch um eine Fehleinschätzung, die von der

67 Ignesti, Introduzione, S. 243. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 244. 70 Ebd., S. 283. Backes, Francesco Luigi Ferrari 69

Selbstdarstellung des Faschismus und seiner feindlichen Haltung gegenüber dem Kommunismus genährt werde. Eine Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse und der Institutionen führe jedoch zu einem anderen Ergebnis. Die Carta del Lavoro von 1927 reguliere auf rigideste Weise die Beziehungen zwischen Arbei- tergebern und Arbeitnehmern. Der faschistische Staat zwinge die Individuen in einen willkürlich konstruierten Rahmen hinein, führe zu einer extremen Zent- ralisation und verhindere jede eigenständige Regung, die in einen Widerspruch zur vorausschauenden „Allmacht des organisierenden Staates“71 geraten könnte. „Diese mechanische Organisation, die Zentralisation, die minuziösen Kontrol- len des Staates“ entsprächen den „Träumen der unnachgiebigen Kollektivisten“; „mehr noch: Dies sind die besonderen Charakteristika der kommunistischen Er- rungenschaften.“72 Eine Partei also, die sich zur „Geißel des Kommunismus“ erkläre, verwirkliche die „ökonomischen und politischen Lieblingsinstitutionen“ des Kommunismus. „Nichts von dem fehlt in der italienischen Korporativorganisation, was die Wünsche der unnachsichtigsten Kommunisten erfüllen kann: die Einheitsgewerkschaft, die Ex- klusion des gewerkschaftlichen und bürgerschaftlichen Lebens der Gegner des Re- gimes, die staatliche Lenkung der Berufsverbände, die Diktatur der politischen Elite als zentrale Verwahrerin des neuen Evangeliums, die Kontrolle des Staates über die gesamte nationale Produktion, über das Kreditwesen, über die Privatunternehmen, über den Handel. Die faschistischen Führer richten die Korporativorganisation […] nach ihren reaktionären Direktiven aus; aber dank dieser kommunistischen Form erfreuen sich die Arbeitermassen – wenigstens formell – des Rechts der Staatsbür- gerschaft [cittadinanza] im Schoße des faschistischen Staates. Es handelt sich um ein rein formelles Recht, weil sie den von der Diktatur auserwählten Chefs gehorchen und dabei jede Art von Kontrollen der Staatsregierung und der faschistischen Olig- archie erdulden müssen.“73 Auf diese Weise wird der Boden für die „Etablierung einer Diktatur des Prole- tariats bereitet, wie sie die Parteigänger eines sowjetischen Experiments in den westeuropäischen Ländern entwerfen. Die Einrichtung eines offen kommunisti- schen Regimes erforderte nichts anderes als die – nicht einmal vollständige – Er- setzung der alten faschistischen Führungen durch ein neues Personal.“ Für die Zukunft ist mithin die „Etablierung einer Klassendiktatur nach dem Muster der proletarischen Diktatur Sowjetrusslands“74 zu befürchten. An diesen düsteren Aussichten ändern auch die im Frühjahr 1929 zwischen dem faschistischen Regime und dem Vatikan geschlossenen Lateranverträge nach der Überzeugung Ferraris wenig. Seine Berichte über das Verhältnis von Staat und Kirche aus diesen Jahren sind von der Kernthese getragen, dass der

71 Ebd., S. 284. 72 Ebd. 73 Ebd., S. 285 (Hervorhebungen im Original). 74 Ebd. 70 Aufsätze / Articles

„Totalitarismus“ des Faschismus – den von Sturzo in seinem Buch „Italien und der Faschismus“ systematisch entfalteten substantivischen Gattungsbegriff benutzt Ferrari anscheinend erstmals in einer Publikation aus dem Februar 192975 – die Autonomie der Kirche nicht respektieren kann, ohne seinen prinzi- piell grenzenlosen Herrschaftsanspruch preiszugeben. In einem Bericht für den Kongress der christlich-demokratischen Parteien in Luxemburg (23.–26. Juli 1931) zeigt Ferrari, wie die Hoffnungen der katholischen Vereinigungen (wie der Katholischen Aktion) auf ein gewisses Maß an Autonomie an der Entschlossen- heit des Regimes scheiterten, seinen „totalitären“ Anspruch durchzusetzen. Für die mögliche weitere Entwicklung maß Ferrari der pessimistischsten Hypothese hohe Realisierungschancen zu. Sie bestand darin, dass das faschistische Regime alle Konsequenzen aus seinem „Totalitarismus“76 zog und das Konkordat fak- tisch außer Kraft setzen würde. Der „Kleriko-Faschismus“ sei „totgeschlagen“.77 Vor die Wahl gestellt, sich zwischen Duce und Papst zu entscheiden, hätten sie für den Duce votiert, sich damit ihrer Unterstützung in der Bevölkerung beraubt und unter Beweis gestellt, dass sie in erster Linie nicht Katholiken, sondern Fa- schisten und Reaktionäre seien.

V. Fazit

Die Gegnerschaft zum Faschismus als Bewegung und Regime erwuchs in den 1920er- und 1930er-Jahren aus unterschiedlichen Motiven und politischen Grundauffassungen. Der italienische Christdemokrat Francesco Luigi Ferrari verknüpfte den Antifaschismus mit Antiextremismus und Antitotalitarismus. Über die Absage an die Anwendung revolutionärer Gewalt hinaus beinhalte- te er die Orientierung an grundlegenden Werten und Spielregeln, deren Res- pektierung für die Geltung unveräußerlicher Freiheitsrechte unverzichtbar er- schien. Der gläubige Katholik bejahte die Grundprinzipien des liberalen Systems (Rechtsgarantien, Gewaltenkontrollen, Rechtsstaatlichkeit, Parteienkonkurrenz, Recht auf Opposition, Minderheitenschutz) und kritisierte die Liberalen dort, wo sie die Partizipation bestimmter Bevölkerungsgruppen durch offene oder verdeckte Exklusionsmechanismen behinderten. Sein Antiextremismus richtete

75 Francesco Luigi Ferrari, La Nullità del Trattato (17.2.1929). In: ders., Scritti dell’Esi- lio, Band I: „L’Azione Cattolica e il Regime“ e altri saggi editi e inediti sui rapporto chiesa-stato. Hg. von Maria Cristina Giuntella, Rom 1991, S. 223–227, hier 229. Vgl. zur Einschätzung der Lateranverträge bei kirchennahen wie kirchenkritischen und antiklerikalen Kreisen Francesco Traniello, Katholizismus und politische Kultur in Italien, Münster 2016, S. 202–213. 76 Francesco Luigi Ferrari, VII congrès international des partis démocrates-populaires d’inspiration chrétienne. Rapport du parti populaire italien sur l’activité du parti et sur la situation politique en Italie (Luxembourg, 23.–26.7.1931). In: ders., Lettere e documenti inediti, Band II, S. 836–843, hier 841. 77 Ebd., S. 842. Backes, Francesco Luigi Ferrari 71 sich gegen revolutionäre Unternehmungen, sofern politische Strömungen diese Grundprinzipien in Theorie und/oder Praxis negierten. Sein Antitotalitarismus zielte auf den Absolutheitsanspruch politischer Bewegungen, die auf der Grund- lage eines politischen „Unitarismus“ die Rechte der Konkurrenten grundsätzlich infrage stellten und den Staat „aus einem Guss“ zu gestalten trachteten. Bolsche- wismus und Faschismus sind gleichermaßen „antiindividualistisch“ und ähneln sich in ihrem „Dogmatismus“ angesichts der Problematik des „Klassenkampfes“: Während ihn die kommunistischen „Kollektivisten“ durch eine mittels Beseiti- gung des Privateigentums zu erringende neue Gesellschaft zum Verschwinden bringen wollen, setzen die „Nationalisten“ auf seine Überwindung durch eine ge- setzlich geregelte und polizeilich streng überwachte „nationale Solidarität“. Die Kritik an der sozialistischen „Palingenesis“, dem faschistischen „neuen Evangeli- um“ und der „Divinisierung“ des Staates nimmt Topoi der katholischen Totalita- rismuskritik auf, wie sie Luigi Sturzo als einer der ersten systematisch entfaltete. Diese Totalitarismuskritik war mit einer Verteidigung der grundlegenden Werte und Spielregeln liberaler Demokratie eng verknüpft.78 Ferrari war bereit, mit anderen Antifaschisten zusammenzuarbeiten, sofern sie die Mindestbedingungen der liberalen Demokratie akzeptierten. Dies schloss eine Kooperation mit politischen Kräften wie sozialistischen „Maximalisten“ und Kommunisten aus. Wohin deren Konzepte führten, konnte im bolschewis- tischen Russland beobachtet werden, dessen politisches System und Arbeitsver- fassung fundamentale Gemeinsamkeiten mit den Institutionen des italienischen Faschismus aufwiesen. Antifaschismus war also unglaubwürdig, wenn er nicht mit Antikommunismus einherging.

78 Diese Totalitarismuskritik war also keineswegs (alleiniges) Produkt eines autoritären Katholizismus, wie dies James Chappel verallgemeinernd behauptet: ders., The Catho- lic Origins of Totalitarianism: Theory in Interwar Europe. In: Modern Intellectual His- tory, 8 (2011), S. 561–590.