Bülowstraße 90 Tradition der Innovation Rechercheergebnisse zur Geschichte des Hauses

Verfasser: Michael Bienert Stand: 20. Oktober 2020 (Version 4.0) Im Auftrag der Gewobag

Das Haus Bülowstraße 90 im Jahr der Eröffnung der Hoch- und Untergrundbahn, 1902 Foto (Ausschnitt): Siemens Historical Institute

1 Inhalt

3 Vorbemerkung 5 Actien-Gesellschaft für Bauausführungen 9 Vom Wohn- zum Geschäftshaus: Bülowstraße 90/91 14 S. Fischer: Verlag der Nobelpreisträger 17 Malerinnen unterm Dach 18 Zwischen Augenheilkunde und Neurologie: Georg Abelsdorff 20 Ein neuer Eigentümer lässt aufstocken: David Grove AG 23 Akteur im Hintergrund: Bankhaus Bett, Simon & Co. 24 Der Architekt Richard Abraham 27 Ein ORT für Juden 29 Garagen, Judenboykott und Arisierung: Hemdenmatz GmbH 30 Neue Produkte, schnittige Reklame 33 Die Familie Abraham wird ausgeplündert 37 Eroberung des Hauses durch die Reichsmarine 40 Nachkriegszeit: Neue Mieter im Haus 44 Der lange Kampf um Wiedergutmachung 47 Florierendes Gewerbe: Mode, Nähmotoren und Lokale 49 Hubschrauber im Hof 51 Die Neue Heimat saniert

56 Anhang: Tabellarische Chronik

2 Vorbemerkung

Ausgangspunkt der Recherche war das Vorhaben der Gewobag, das Haus Bülowstraße 90 zu einem Standort für innovative Arbeits- und Lebensformen weiterzuentwickeln. Es stand zu vermuten, dass es dafür Anknüpfungspunkte in der Geschichte des Hauses und seiner Bewohner(innen) geben könnte.

Tatsächlich wurde das Haus 1896/97 von einer großen Aktiengesellschaft erbaut, die im Gründerzeitboom entstand, in moderne Bautechnologien investierte und damit gute Geschäfte machte.

Berühmt wurde die Adresse Bülowstraße 90 als Geschäftssitz des S. Fischer Verlages, des maßgeblichen deutschen Literaturverlags der Moderne an der Schwelle zum 20. Jahrhunderts. Die Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann, Thomas Mann und Hermann Hesse hatten hier eine Berliner Geschäftsadresse und auch Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ wurde 1929 in der Bülowstraße 90 verlegt.

Zu den ersten Mieterinnen im Haus gehörten emanzipierte Malerinnen, die sich um 1900 einen Platz in der Kunstwelt erkämpften. Ärzte und Rechtsanwälte zogen in den Jahren um den Ersten Weltkrieg ein, in den 1920er-Jahren wurden neben Druckerzeugnissen auch Sanitäranlagen, Elektroapparate, Motorräder und Autoteile vertrieben. Das jüdische Berufsbildungswerk ORT, das bis heute weltweit aktiv ist, hatte hier einige Jahre lang seine Zentrale.

Die Geschichte des Hauses ist eng verknüpft mit den Lebenswegen jüdischer Bewohner(innen) und Eigentümer, die in der NS-Zeit verfolgt und vertrieben wurden. Von 1926 bis 1939 war der maßgebliche Eigentümer ein jüdischer Architekt, der in der NS-Zeit im Zuchthaus Brandenburg zur Aufgabe seines gesamten Vermögens gedrängt wurde, um sein Leben zu retten. Erst nach jahrelangem juristischem Tauziehen wurde das Haus 1956 an seine Witwe zurückgegeben. Die Vermutung liegt nahe, dass es daneben weitere Mieter und Unternehmen gegeben hat, die Opfer des NS-Unrechts wurden.

Die vorliegende Recherche stützt sich auf folgende Unterlagen: - Dokumente im Gewobag-Archiv, übernommen aus dem Bestand der WIP (ehemals Neue Heimat Berlin) - Bauaktenarchiv des Bezirks Tempelhof-Schöneberg - Literaturrecherchen im Fachbereich Berlin-Studien der Zentral- und Landesbibliothek, Auswertung der Postkartensammlung und der Berliner Adressbücher 1871-1943 - Recherche im Landesarchiv Berlin (Handelsregisterakte der David Grove AG, Entschädigungsakten der Familie Abraham/Arams) - Internetrecherchen

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Die ursprüngliche Fassade des Hauses Bülowstraße 90, Aufnahme um 1922, und Titelseite der 1922 erschienenen Festschrift zum Firmenjubiläum. Aus: Actien-Gesellschaft für Bauausführungen 1872-1922, Berlin 1922, S. 1 und 73.

4 Actien-Gesellschaft für Bauausführungen

Errichtet wurde das Haus in der Bülowstraße 90 (ursprünglich Nr. 90/91) nach Plänen des renommierten Architekturbüros Cremer & Wolffenstein von der Actien- Gesellschaft für Bauausführungen, die 1912 auch ihren Geschäftssitz dorthin verlegte. Entstanden war die Gesellschaft bereits im Jahr 1872 vor dem Hintergrund eines durch französische Reparationszahlungen befeuerten Baubooms nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Die Reichsgründung und der Aufstieg zur Reichshauptstadt lösten damals eine fieberhafte Geschäftstätigkeit aus. Am 1. Januar 1873 wurden die ersten Aktien des Unternehmens ausgegeben, über das es 50 Jahre später hieß, es dürfe „nicht nur zu dem ältesten Großbaugeschäften, sondern auch zu den ältesten Actien-Gesellschaften gezählt werden. Das Unternehmen wurde schon zu einer Zeit, als diese Gründungsform noch sehr wenig verbreitet war, durch ihre Leiter auf eine Basis gestellt, die es ihr ermöglichte, einen großen Kreis von Interessenten, Fach- und Bankleuten, in ihren Bestrebungen zu verbinden. Ein erheblicher Teil der Bauten, die heute in Berlin den Fremden als Sehenswürdigkeiten gezeigt werden, wurden von der A. G. f. B. ausgeführt.“1

Mehrere Bauten stehen heute tatsächlich unter Denkmalschutz - darunter das um 1899 errichtete Gewerkschaftshaus am Engelufer2, das 1910 erbaute Wohnhaus des Industriellen, Schriftstellers und ermordeten Reichsaußenministers Walther Rathenau in Grunewald3 und eine Kathedrale der Elektrotechnik aus den 1920er- Jahren: das Umspannwerk Humboldt in Prenzlauer Berg 4. Eine Dokumentation zum 50-jährigen Bestehen des Unternehmens listet neben zahlreichen Geschäftshäusern in Mitte, am Potsdamer Platz und im Neuen Westen an realisierten Projekten auf: Die Technische Hochschule in Charlottenburg (heute TU Berlin), die große AEG-Halle von Peter Behrens an der Voltastraße und die von ihm entworfene NAG-Autofabrik in Oberschöneweide, das Hebbel-Theater von Oskar Kaufmann, das Jüdische Krankenhaus im Wedding, die Tribüne an der AVUS und vieles mehr.5 Die stolze Behauptung, zahlreiche moderne Sehenswürdigkeiten des modernen Berlin errichtet zu haben, hatte absolut ihre Berechtigung.

Das Wohn- und Geschäftshaus in der Bülowstraße 90 wurde im Sommer 1897 bezugsfertig. Drei Jahre zuvor hatte die Actien-Gesellschaft für Bauausführungen in der Nähe ein ähnliches Projekt realisiert: Die Häuser in der Motzstraße 5 (damals Nr. 79) und Nollendorfstraße 15 haben den Krieg ebenfalls überdauert. Damals wandte sich die Gesellschaft allmählich dem Industriebau zu, „zunächst durch Hochbauten auf diesem Gebiet, und schließlich durch die Einrichtungen besonderer Abteilungen für Tiefbau und Eisenbetonbau. – Eine Abteilung für Schreinerei und ein eigener

1 Das deutsche Eisenbahnwesen der Gegenwart, Berlin 1922/23, S. 354. 2 http://www.stadtentwicklung.berlin.de/denkmal/liste_karte_datenbank/ de/denkmaldatenbank/daobj.php?obj_dok_nr=09090026 3 http://www.stadtentwicklung.berlin.de/denkmal/liste_karte_datenbank/ de/denkmaldatenbank/daobj.php?obj_dok_nr=09046522 4 http://www.stadtentwicklung.berlin.de/denkmal/liste_karte_datenbank/ de/denkmaldatenbank/daobj.php?obj_dok_nr=09065209 5 Actien-Gesellschaft für Bauausführungen 1872-1922, Berlin 1922.

5 großer Zimmerplatz bestand seit Jahren.“6 In Berlin war die Actien-Gesellschaft für Bauausführungen am Bau der Stadtbahn, am U-Bahn-Bau und am Aufbau der Elektritzitätsversorgung beteiligt. Sie baute auch außerhalb Berlins und eröffnete Niederlassungen unter anderem in , Königsberg, Leipzig, Stettin, Halle, Köln und München. 1928 vergab sie eine Konzession für Stahlbeton-Hochbauten in die UdSSR.

Die Firmenzentrale hatte seit 1873 ihren Sitz in der Genthiner Straße 3, ehe sie 1912 in das seinerzeit um einen Stahlskelettbau im 2. Hof erweiterte Haus in der Bülowstraße 90 verlegt wurde. Während der Weltwirtschaftskrise geriet die Aktiengesellschaft in Schwierigkeiten, musste 1931 Konkurs anmelden und wurde 1938 aus dem Handelsregister gelöscht.

Gründeraktie der Actien-Gesellschaft für Bauausführungen. Quelle: Historisches Wertpapierhaus AG, www.hwph.de

6 Das deutsche Eisenbahnwesen der Gegenwart, Berlin 1922/23, S. 354.

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Baugesuch vom 9. April 1896. Quelle: Bauakte

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Situationsplan von Berlin mit dem Weichbilde und Charlottenburg, 1882, Ausschnitt. Zu diesem Zeitpunkt ist die Gegend um das Grundstück Bülowstraße 90/91 noch wenig bebaut, die Bülowstraße noch nicht ausgebaut. Quelle: Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Genehmigte Straßenfassade für das Haus Bülowstraße 90/91. Quelle: Bauakte

8 Von Wohn- zum Geschäftshaus: Bülowstraße 90/91

Der Bebauuungsplan für Berlin und seine Umgebung von 1862, der sogenannte Hobrechtplan, schrieb die Anlage eines breiten Straßenzuges im Süden der Stadt vor. Der sogenannte Generalszug wurde nach Helden der Befreiungskriege gegen Napoleon benannt, 1864 erhielt ein Abschnitt per Kabinettsorder den Namen Bülowstraße. In den 1880er Jahren wurde die Straße ausgebaut. Auf dem als Holz- und Kohlenplatz genutzten Grundstück Bülowstraße 90/91 standen damals mehrere Schuppen, 1882 wurden ein Treibhaus und ein Keimentwicklungshaus für einen Gärtner errichtet.

1896 erwarb die Actien-Gesellschaft für Bauausführungen das Grundstück Bülowstraße 90/91 von einer Witwe und erhielt die Baugenehmigung für ein Wohnhaus. Im Vorderhaus waren zwei Geschäfte im Erdgeschoss vorgesehen, im Obergeschoss äußerst großzügige Wohnungen, die durch ein repräsentatives Marmortreppenhaus erschlossen wurden. In den schmalen Seitenflügeln waren Küchen, Kammern und Dienstbotenzimmer untergebracht, im Quergebäude weitere Wohnungen. Der relativ großzügig bemessene Innenhof war begrünt, hinter dem Quergebäude wurde ein großer Garten mit Zierbeeten und einem Spiel- bzw. Tennisplatz angelegt. Zur Bülowstraße hin zeigte das Haus eine mit Stuckelementen reichlich dekorierte Neorenaissancefassade. Eine Büro- oder Gewerbenutzung war - außer den Läden an der Straße - zunächst nicht vorgesehen. Während der Bauarbeiten im Jahr 1897 wurden die Pläne jedoch geändert: Statt Wohnräumen entstanden im Erdgeschoss, ersten und zweiten Obergeschoss des Quergebäudes Büros für den S. Fischer Verlag.

In den ersten Jahren bewohnten Bankiers, Kaufleute, ein Fabrikdirektor und ein Rittmeister die äußerst großzügig geschnittenen Wohnungen. Ab 1901 verzeichnen die Adressbücher als Gewerbe im Haus einen Obsthändler, ein Tapisseriegeschäft und die Manufacturwarenhandlung - später Möbelhandlung - Kirstein & Friedländer. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg ließen sich die ersten Ärzte und Rechtsanwälte nieder. Es folgten Versicherungsgesellschaften und zahlreiche Firmenniederlassungen. 1912 richtete die Actien-Gesellschaft für Bauausführungen im Erdgeschoss im linken Seitenflügel und im Quergebäude ein Architektur- und Zimmereibüro, Registratur, Kasse und Buchhalterei ein, um diese selbst zu nutzen. Auch das erste Obergeschoss wurde für eine Büronutzung hergerichtet.

Ein Teil des Gartens hinter dem Quergebäude wurde bereits 1912/13 geopfert, um dort einen großen Anbau für Gewerbe errichten, nach dem Ersten Weltkrieg wurden dort außerdem Garagen gebaut. Die Nutzung durch verschiedene Gewerbe prägte seither den Alltag und das Erscheinungsbild des Hauses. Durch den wachsenden Durchgangsverkehr verlor auch der Innenhof seinen privaten Charakter. Die vornehme Wohnadresse der Kaiserzeit verwandelte sich in eine attraktive Geschäftsadresse mit U-Bahn-Anschluss.

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Die ersten Hauptmieter der Bülowstraße 90/91 im Berliner Adressbuch von 1898. Im Adressbuch von 1897 war unter der Adresse nur der Eigentümer – die „Actien-Ges. f. Bauausführung“ – genannt mit dem Hinweis: „Neubauten“.

Das Adressbuch von 1899 nennt als weitere Mietparteien zwei Malerinnen und einen Maler. Quelle: Zentral- und Landesbibliothek Berlin.

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Bülowstraße 90 / Eigentumsverhältnisse im Spiegel der Berliner Adressbücher 1897-1943 7

Jahr Eigentümer Zusatz Anmerkung/Korrektur

1897 Actien-Ges. f. Bau-Ausführung Neubauten In der Nähe besitzt die (Genthiner Straße 3) (keine Mieterangaben) Actien-Gesellschaft für Bauausführungen bereits die Häuser Motzstraße 79 (heute Nr. 5) und Nollendorfstraße 15. 1898-1911 Actien-Ges. f. Bau-Ausführung Verwalter 1898-1928: (Genthiner Straße 3) Döring, A. 1912-1923 Actien-Ges. f. Bau-Ausführung Portier bzw.Verwalter Bereits 1922 wird die (Bülowstraße 90) Bülowstraße 90 1924-1929 Grundstück Verwert. A. G. Grundstücks- verwertungs-A.G. gegründet und ist bis 1939 Eigentümerin. 1930-1931 Abraham, R. Dr. Ing. 1929 bis 1932 lautet Regierungsbaumeister die Privatadresse von (Grunewald) Richard Abraham, 1932-1933 Wirtsch. Genossensch. Verwalter: Abraham, R. Architekt: Bülowstr. 90 Dr. Ing. Reg. Baumstr Hohenzollerndamm (Grunewald) 131/132. Dort wird neu gebaut. 1934 Wirtsch. Genossensch. 1932-1938 ist Richard Bülowstr. 90 Abraham auch als 1935 E. Grundstück Verwert. Ges. Verwalter: Abraham, R. Eigentümer des Hauses Dr. Ing. Reg. Baumstr Kurfürstendamm 61 (Kurfürstendamm 61) eingetragen, ab 1939 die Bayerische Vereinsbank. 1936-1939 E. Grundstück Verwert. Ges. A.G. 1940-1942 E. Grundstück Verwert. Ges. A. Laut Grundbuch wird G. (Mohrenstraße 10) die Immobilie (falsche Angabe: die Bülowstraße am 15. Gesellschaft wurde bereits Januar 1940 1940 liquidiert ) unentgeltlich an die 1943 Max, O. K. Eigentüm. Kriegsmarine (falsche Angabe) übertragen.

7 Die Auswertung der Berliner Adressbücher ergab am Anfang der Recherche einen ersten, hilfreichen Überblick über Eigentümer und Nutzer des Hauses, viele Angaben erwiesen sich allerdings im Lauf der weiteren Recherche als wenig zuverlässig, insbesondere im Hinblick auf die Rolle des jüdischen Eigentümers und die Nutzung durch das Oberkommando der Kriegsmarine ab 1936.

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Im Sommer 1896 zog der S. Fischer Verlag von der Steglitzer Straße 49 (blau markiert) in das neu erbaute Wohn- und Geschäftshaus Bülowstraße 90 (rot markiert) um. Stadtplan von Julius Straube, 1910

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Der Verleger Samuel Fischer. Foto aus: Das 48. Jahr. S. Fischer zum Gedächtnis, Berlin 1934. Quelle: Archiv Bienert

Innenhof der Bülowstraße 90, März 2019. In der Mitte der ursprüngliche Aufgang zu den Verlagsräumen des S. Fischer Verlags im Quergebäude. Foto: Michael Bienert

13 S. Fischer: Verlag der Nobelpreisträger

Der Verleger Samuel Fischer verstand sich als Wegbereiter einer „neuen demokratischen Cultur“8. Ein ungarischer Jude, über Wien in die Reichshauptstadt Berlin eingewandert, gründete hier 1886 seinen eigenen Verlag, mit dem Wunsch, ein breites Publikum für die moderne zeitgenössische Literatur gewinnen. Samuel Fischers Verlag wurde zum der maßgeblichen deutsche Buchverlag vor dem Ersten Weltkrieg. Während die Monarchie als Staatsform in Deutschland ihrem Untergang entgegentrieb, nahm das vielstimmige, liberale, weltoffene Programm des Verlags ein Stück Zukunft vorweg. Er behauptete seine herausragende Stellung auf dem Buchmarkt der Weimarer Republik, bis die Nationalsozialisten die Eigentümerfamilie und die bedeutendsten Autoren aus Deutschland vertrieben.

Der Verlag gehörte ab September 1897 zu den Erstmietern in der Bülowstraße 90. Anfangs des Jahres hatte man die Baupläne geändert: Statt Wohnräumen entstanden im Erdgeschoss, im ersten und zweiten Obergeschoss des Quergebäudes Verlagsbüros, verbunden durch eine separate Treppe. Dort wurden sperrige Manuskripte zu Bestsellern gemacht: Thomas Manns Buddenbrooks (1901), Hermann Hesses Steppenwolf (1927) und Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) sind drei Werke, die seither zum Kanon der Literaturgeschichte gehören. Für die Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann, Thomas Mann und Hermann Hesse war das Verlagshaus die wichtigste Berliner Adresse. Von kommenden Dingen (1918) hieß programmatisch ein Buch Walther Rathenaus, des Industriellen und Reichsaußenministers, den Rechtsradikale 1922 unweit der Villa seines Verlegers in der Erdener Straße ermordeten. Wenig bekannt ist, dass Samuel Fischer bis 1913 auch Periodika wie die Zeitschrift für Beleuchtungswesen und die Zeitschrift für Werkzeugmaschinen und Werkzeuge verlegte – einschließlich einer Sonderausgabe für den Fahrradbau9. Als dann die ersten Spielfilme in die Kinos kamen, war der Verleger sofort von der Idee begeistert, die wichtige Theaterabteilung des Verlags zu einem Filmvertrieb auszubauen und sich an Filmproduktionen zu beteiligen.10

Der expandierende Verlag breitete sich durch Anmietung zusätzlicher Räume immer weiter im Haus aus. Um ihn am Standort zu halten, errichtete die Gesellschaft für Bauausführungen 1912/13 einen fünfstöckigen Anbau mit Büro- und Lagerräumen im zweiten Hof.11 Er wurde zentral beheizt und verfügte über einen elektrischen Fahrstuhl.

8 Samuel Fischer, Notizen (um 1911), zitiert nach: Barbara Hoffmeister, S. Fischer, der Verleger. Eine Lebensbeschreibung, Frankfurt a. M. 2009, S. 168. Vgl. dazu auch S. 301-306. 9 Deutsches Literaturarchiv, S. Fischer, Verlag – Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil (Ausstellungskatalog), Marbach a. N. 1985, S. 27. 10 Hoffmeister, a. a. O., S. 289f. 11 Bauantrag im März 1912, Beginn der Ausschachtungsarbeiten im April 1912, Fertigstellung der Betonfundamente im Mai 1912, Rohbauabnahme am 27. Juli 1912. Am 29. August 1912 bat die Actien-Gesellschaft für Bauausführungen darum, die Keller des Hauses durch Rippenheizkörper zu beheizen und ständig auf einer Temperatur von mindestens 5 Grad zu halten. Grund war die Nutzung des Hauses durch den S. Fischer Verlag als Lager für Bücher. Am 5. August 1912 war die Rohbauabnahme der umgebauten Räume im Erdgeschoss und im Hochparterre des Althauses, am 20.

14 Als Samuel Fischer 1934 starb, waren sein Verlag, seine Familie und viele Autoren der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt, teils wegen ihrer jüdischen Herkunft, teil wegen ihrer liberalen Gesinnung. Um Fischers Lebenswerk zu retten, spaltete sich der Verlag im Jahr 1936: Der bisherige Leiter Gottfried Bermann Fischer, Schwiegersohn des Verlagsgründers, betreute die vertriebenen Autoren in einem Exilverlag, während Peter Suhrkamp mit den in Deutschland geduldeten Autoren den Verlag weiterführte. Im selben Jahr zog er aus der Bülowstraße 90 in die Lützowstraße 89/90, wo die Büroräume im April 1945 bei einem Bombenangriff zerstört wurden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten der in Deutschland verbliebene Verlag und der Exilverlag wieder zusammengeführt werden. Als dies an Meinungsverschiedenheiten zwischen Gottfried Bermann Fischer und Peter Suhrkamp scheiterte, wurde den Autoren freigestellt, sich zwischen dem bis heute existierenden S. Fischer Verlag und dem Suhrkamp Verlag zu entscheiden. Ein dritter großer Literaturverlag hat ebenfalls Wurzeln in der Bülowstraße 90: 1912-14 arbeitete Ernst Rowohlt als Prokurist und Geschäftsführer bei Samuel Fischer. Dessen Verlag setzte die Maßstäbe, an denen sich der Gründer der Rowohlt Verlags orientierte.12

Neben der Neuen Rundschau des S. Fischer Verlags hatte einige Jahre lang die Redaktion einer weiteren bedeutenden Kulturzeitschrift in der Bülowstraße 90 ihren Sitz: Ab Frühjahr 1919 bis Mitte der 1920er-Jahre war das Haus Sitz der Schriftleitung von Westermanns Monatsheften.13 Die erste Ausgabe des illustrierten Magazins erschien im Oktober 1856, die letzte im Februar 1987.14

Alles in allem gehörte die Bülowstraße 90 zu den bedeutendsten Adressen im deutschen Verlagswesen des 20. Jahrhunderts. Umso bedauerlicher, dass das eigens für Verlagszwecke errichtete Gebäude im zweiten Hof 1985 abgerissen wurde, obwohl es den Zweiten Weltkrieg unversehrt überstanden hatte und sich in gutem Zustand befand. Seit 1. November 2011 erinnert eine Berliner Gedenktafel an der Straßenfassade an S. Fischer und seinen Verlag.

Dezember die Gebrauchsabnahme „unserer Büros“. Der Anbau war 1913 bezugsfertig. Alle Daten nach Unterlagen in der Bauakte im Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg. 12 Vgl. Peter de Mendelsohn, Samuel Fischer und sein Verlag, Frankfurt a. M. 1979, S. 617-625 13 Im Maiheft des Jahres 1919 ist die Bülowstraße 90 erstmals als Redaktionsadresse angegeben, 1926 wird die Schriftleitung in die Dörnbergstraße 5 verlegt. 14 https://de.wikipedia.org/wiki/Westermanns_Monatshefte

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Anbau für den S. Fischer-Verlag, Fassadenzeichnung aus der Bauakte von 1912. Quelle: Bauakte

16 Malerinnen unterm Dach

Von Anfang an muss es Künstlerateliers im Haus gegeben haben. Zu den ersten Mieterinnen in der Bülowstraße 90 gehörten die Malerin Anna Lent und eine Kollegin, sowie ab 1902 der Porträtmaler Paul Narten. Zwischen 1908 und 1911 ist in den Berliner Adressbüchern eine weitere namhafte Künstlerin als Mieterin eingetragen: Julie Wolfthorn15 (1864-1944) war eine Mitbegründerin der Berliner . Auch ihr Ehemann, der Kunstschriftsteller Rudolf Klein16 (1871-1925) und ihre Schwester, die Übersetzerin Luise Wolf17 (1860-1942) lebten damals im Haus.

Julie Wolfthorn, geborene Wolf, stammte aus einer jüdischen Familie und ließ sich ab 1890 in Berlin und Paris zur Malerin ausbilden. Ab 1898 schuf sie Titelseiten und Illustrationen für die Zeitschrift Die Jugend und eröffnete 1904 ein eigenes Schülerinnen-Atelier in Berlin. Bekannt wurde sie wurde vor allem durch ihre Portraitmalerei. Zahlreiche Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und der Frauenbewegung ließen sich von ihr malen, darunter Ida und Richard Dehmel, Gerhart und Margarete Hauptmann, Gustav Landauer, Hermann Muthesius und Tilla Durieux.

Aus erhaltener Korrespondenz geht hervor, dass Julie Wolfthorn 1907 wegen einer Eigenbedarfskündigung ihr bisheriges Atelier in der Kurfürstenstraße 50 räumen musste (dort erinnern Stolpersteine an sie und ihre Schwester). Im Herbst 1909 war sie damit beschäftigt, sich im Haus Bülowstraße 90 einzurichten. Sie wohnte in einer der unteren Etagen, das Atelier befand sich unter dem Dach, dort gab sie weiterhin Mal- und Zeichenunterricht. Julie Wolfthorn nannte die Bülowstraße 90 „das Fischerhaus“. 1930 gelang es ihr, ein Doppelporträt des Autors Gerhart Hauptmann und seiner Frau Margarete an den Verleger Samuel Fischer zu verkaufen.18

Julie Wolfthorn war eine der erfolgreichen und angesehensten Berliner Künstlerinnen, als ihr 1933 die Nationalsozialisten Mal- und Publikationsverbot erteilten. Bis 1941 blieb sie im Jüdischen Kulturbund aktiv, wo sie bis Ende der 1930er Jahre ausstellte. Im Oktober 1942 wurde Julie von Wolfthorn gemeinsam mit ihrer Schwester Luise Wolf ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Dort starb sie im Dezember 1944. Eine neu angelegte Straße am Nordbahnhof wurde 2005 nach Julie Wolfthorn benannt.19

15 Heike Carstens, Julie Wolfthorn, in: Ulrike Wolf-Thomsen / Jörg Paczkowski (Hg.), Käthe Kollwitz und ihre Kolleginnen in der Berliner Secession (188-1913), Heide 2012, S. 64-81, vgl. auch: http://www.vdbk1867.de/lexikon/wolfthorn-julie/ 16 https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Klein-Diepold 17 https://de.wikipedia.org/wiki/Luise_Wolf_(Übersetzerin) 18 Heike Carstensen, Leben und Werk der Malerin und Graphikerin Julie Wolfthorn (1864-1944). Rekonstruktion eines Künstlerinnenlebens, Marburg 2011, S. 108. 19 https://berlin.kauperts.de/Strassen/Julie-Wolfthorn-Strasse-10115-Berlin

17 Zwischen Augenheilkunde und Neurologie: Georg Abelsdorff

Der erste Arzt, der in der Bülowstraße 90 eine Praxis eröffnete, war Georg Abelsdorff (1869-1933), ein anerkannter Spezialist für das Grenzgebiet zwischen Augenheilkunde und Neurologie. 1907 erschien sein Buch Das Auge des Menschen und seine Gesundheitspflege, das heute noch nachgedruckt wird. Abelsdorff schrieb Beiträge für Standardwerke wie das Handbuch der Neurologie (1910) wie für das Handbuch der speziellen pathologischen Anatomie und Histologie (1928). Nach dem Ersten Weltkrieg lehrte er als außerordentlicher Professor für Augenheilkunde an der Charité. Die um 1909 eröffnete Augenarztpraxis in der Bülowstraße 90, Vorderhaus, 2. Etage, führte er bis etwa 1931/32 weiter. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde ihm die Lehrbefugnis wegen seiner „nichtarischen“ Herkunft entzogen; er starb am Heiligabend des Jahres 1933 unter ungeklärten Umständen.20

Vermietung des Hauses Bülowstraße 90 am 1. Juli 191421

Mieteinheit Mieter Miethöhe 1 V.Laden r. Döring, Portier 41.67 2 V.Laden l. Cl. Müller 133.33 3 V.hptr.r. Dr. Belde 291.67 4 V.I.l. Heller 519.17 5 V.I.r. Schey 535.83 6 V.II.l. Abelsdorff 460.83 7 V.II.r. Boehn 485.83 8 V.III.r. Frost 475.-- 9 Stfl.r.ptr.1. Kirst, Heizer 25.-- 10 Gths.ptr.1. F. M. Maas 191.67 11 Gths.III. Narten 133.33 12 V.Laden.r. Kirstein & Friedl 366.67 13 V.ptr/hptr. A. G. für Bauausf. 1166,67 14 V.III.1. Dt. Volksvers. A. G. 475.-- 15 Gts. I. Etage Dt. Volksvers. A. G. 137.50 16 Gts. II. Etage Dt. Volksvers. A. G. 133.33 17 Gts. III. Etage Dt. Volksvers. A. G. 125.-- 18 Gts. Atelier Dt. Volksvers. A. G. 50.-- 19 Gts. Ptr. r Kl. Bestener Kieswerke 70.83 20 Gts. Atelier Frl. Severin 37.50 21 Bürohaus ptr. - IV S. Fischer Verlag 1091.67

Summe der Mieteinnahmen am 1. Juli 1914 6947.50

20 https://medizingeschichte.charite.de/fileadmin/user_upload/ microsites/m_cc01/medizingeschichte/Publikationen/Schagen- Zerstörte_Fortschritte_Texte_Säulen1_2A.pdf 21 Eine Aufstellung hat sich erhalten in der Wiedergutmachungsakte, Landesarchiv Berlin B Rep. 025 (A), 515/49, Bl. 281.

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Anzeige der David Grove AG von 1927 mit Hinweis auf die Ausstellungsräume in der Bülowstraße 90. Quelle: Archiv Bienert

19 Ein neuer Eigentümer lässt aufstocken: David Grove AG

Die wirtschaftlichen Turbulenzen der Nachkriegs- und Inflationszeit waren wohl der Grund dafür, dass sich die Eigentumsverhältnisse der Immobilie änderten. Am 6. November 1922 wurde ein Gesellschaftervertrag für die Bülowstraße 90 Grundstücksverwertung-Aktiengesellschaft geschlossen, die bis 1939/40 als Eigentümerin firmierte .22 Sämtliche Aktien gehörten anfangs der David Grove AG, die ihren Firmensitz in die Bülowstraße verlegte. Im August 1923 stellte die Bülowstraße 90 Grundstücks-Verwertungs-AG den Bauantrag, das Vorderhaus und den linken Seitenflügel aufzustocken, um unter dem Dach Büroräume einzurichten.23 Diese Büroräume nutzt die Grove AG selber.24

Der steile Dachaufbau mit dem Zierrat der Kaiserzeit wich einem nur leicht geneigten Dach. An den erhöhten seitlichen Giebelfronten des Vorderhauses wurde gut sichtbar das Logo der David Grove AG angebracht. Die Straßenfassade wurde anlässlich der Aufstockung bereits von einem Teil ihres Stucks befreit und dem Zeitgeschmack der Neuen Sachlichkeit angepasst. Zur Straße zeigte das Haus nun sechs statt fünf Vollgeschosse. Davon sind nur fünf erhalten, wann und warum das oberste Geschoss entfernt wurde, konnte bisher nicht erklärt werden.25

Im Erdgeschoss richtete die Firma David Grove AG 1924 Ausstellungsflächen für Sanitäranlagen ein, die in Anzeigen beworben wurden. Die 1864 gegründete Firma baute schon vor dem Ersten Weltkrieg im In- und Ausland innovative Heizungs- und Sanitäranlagen, Wasserwerke und Krankenhauseinrichtungen. Der Firmengründer David Growe hatte zusammen mit dem Architekten Paul Wallot das Heizungs- und das Lüftungssystem für den Reichstag, für das Königliche Schauspielhaus in Berlin und das Reichsgericht in Leipzig entwickelt.26

Die Actien-Gesellschaft für Bauausführungen war ab 1922 nicht länger Eigentümerin des Bülowstraße 90, blieb jedoch im Haus ansässig. Auch eine ihrer Tochterfirmen, die Holzhallen-Bau AG System Kübler, zog in das Haus ein. Nach der Insolvenz eines Großkunden und einem mehrwöchigen Streik geriet die Grove AG 1929/30 in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Noch bis 1936 ist die Firma in den Berliner Adressbüchern unter der Adresse Bülowstrasse 90 zu finden.

22 Abschrift aus dem Handelsregister, Amtsgericht Charlottenburg, in der Wiedergutmachungsakte Landesarchiv Berlin B Rep. 025 (A), 515/49, Bl. 19f. 23 Das Gerüst für die Bauarbeiten an der Fassade stand von September bis zum 7. Dezember 1923. In dieser Zeit befand sich das Haus unter der Verwaltung der Walter Gröning & Co. Grundstücksverwaltung, Friedrichstraße 232 (Quelle: Bauakte). 24 https://www.aktiensammler.de/br/archiv_branchen_detail.asp? AREA=253&ID=333410&NS=1. - 25 Möglicherweise kam es während des Zweiten Weltkrieges zu einem Brand des Dachgeschosses. 26 Ausgeführte Heizungs- und Lüftungsanlagen, enthaltend die Heizung und Lüftung im Deutschen Reichstagshause in Berlin, Reichsgericht in Leipzig, Rathhaus in Hamburg, Justizgebäude in München, Garnison-Lazareth in Potsdam, Königlichen Schauspielhause in Berlin, Reichsversicherungsamt in Berlin sowie die Heizung, Lüftung, Be- und Entwässerung im Schloss Friedrichshof in Cronberg am Taunus, Besitzthum ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich, Berlin 1895.

20 Die Geschichte der David Grove AG ist dokumentiert in der Handelsregisterakte des Amtsgerichts Charlottenburg im Landesarchiv Berlin (A Rep. 342-0, Amtsgericht Charlottenburg Handelregister Bd. 1 und 2, Nr. 12626 und 12627):

Am 30. Juli 1920 wird der Gesellschaftsvertrag für die David Grove AG, Charlottenburg, geschlossen. „Gegenstand des Unternehmens ist die Herstellung und der Vertrieb von Zentralheizungs-, Lüftungs-, Gas, Wasserleitungs- und Badeanlagen sowie Erbauung von Wasserwerken und Kanalisationen; insbesondere Erwerb der Grundstücke und Geschäftsanteile der `David Grove Gesellschaft mit beschränkter Haftung´.“ Hauptgesellschafter sind zunächst die Bankfirma Carsch, Simon & Co. KG zu Berlin (Mauerstraße 53), die Aktien im Wert von 1.197.000,-- RM hält, und der Zivilingenieur Ernst Neuberg: Er bringt Geschäftsanteile der David Grove GmbH im Wert von 1.300.000,-- RM ein und erhält dafür Aktien der AG im selben Wert. Die AG übernimmt eine Fabrik der David Grove GmbH in der Kaiserin-Augusta-Allee 86. Dort befindet sich auch die Geschäftsadresse der AG. Am 15. August 1921 wird die Firma ins Handelsregister eingetragen. Das Stammkapital beträgt demnach 4.000.000,-- RM, nach einer Aktionärsversammlung am 21. Februar 1922 wird es auf 7.000.000,-- RM erhöht, am 10. August 1922 auf 12 Millionen Mark, am 18. Dezember 1922 auf 24 Millionen, am 6. Juni 1923 auf 30 Millionen. Nach der Inflation wird der das Stammkapital am 27. November 1924 auf 1.606.000,-- Goldmark festgelegt. 1921-23 eröffnet das Unternehmen Zweigniederlassungen in Köln, Breslau, Danzig, Rostock, Hamburg, Dresden, Wannsee, Neukölln. Wegen der finanziellen Schwierigkeiten der deutschen Kommunen bekommt die Abteilung Wasserwerke nur wenige Aufträge, kann sich aber durch Auslandsaufträge halten. Der Geschäftsbericht von 1923 erwähnt den Erwerb des Grundstücks Bülowstraße 90. Zum 31. Dezember 1923 weist die Bilanz inflationsbedingt einen Gewinn von 47.213 448.397.557.964,-- Mark aus. 1924 kauft das Unternehmen eine Fabrik der Dinos-Werke in Hohenschönhausen, die „auf das modernste als Kesselschmiede und Massenfarbrikationsstätte für Blechbearbeitung“ eingerichtet wird. Ende des Jahres wird die Fabrikation von Charlottenburg dorthin verlegt. 1925 läuft das Geschäft schleppend, das Unternehmen macht Verluste. Die Bilanz belasten ein sechswöchiger Monteurstreik, Ausfälle bei Kunden, niedrige Material- und Verkaufspreise und eine Überlastung mir Steuern und Abgaben (Geschäftsbericht für 1925). Das Grundstück in der Kaiserin- August-Allee wird verkauft. Das Geschäftsjahr 1926 verläuft zunächst schlecht wegen weiterhin schleppender Baukonjuktur und Zunahme des Wettbewerbs. Das Unternehmen nimmt eine Hypothek von 500.000,-- Mark auf. 1927 verbessert sich der Bestelleingang deutlich. Das Unternehmen stellt das moderne Wasserwerk für die jugoslawische Hauptstadt Belgrad fertig. 1928 ist das Unternehmen bis zur Grenze seiner Leistungsfähigkeit beschäftigt: „Die Höhe des Umsatzes überschreitet das fünffache unseres Aktienkapitals, welches zum großen Teil in unserem Werk in Hohenschönhausen festgelegt ist. Hieraus resultiert die finanzielle Anspannung der Bilanz.“ (Geschäftsbericht für das Jahr 1929). Im Geschäftsbericht für das Jahr 1929, vorgelegt am 8. April 1930, schildert der Vorstand die finanziellen Schwierigkeiten des Unternehmens: „Die finanzielle Anspannung unserer Bilanz per 31. 12. 1928 ist uns zum Verhängnis geworden, nachdem wir während eine zwölf wöchentlichen Streiks (sic!), von welchem wir in unserem Berichtsjahr betroffen wurden, unsere Debitoren einziehen mussten, um unsere laufenden Unkosten zu decken, während in der Streikzeit neue Vermögenswerte nicht geschaffen werden konnten. Nach Beendigung des Streiks sahen wir uns veranlasst, das Vergleichsverfahren anzustreben. Dasselbe wurde eröffnet und am 12. 2. 1930 auf der Basis beendet, dass unsere Gesamtgläubiger 100%ig befriedigt werden bei monatlichen Teilzahlungen von 5%. In Erkenntnis der Fehler der Vergangenheit, die darin bestanden, dass das haftende Kapital unseres Unternehmens gegenüber dem Volumen unseres Geschäfts zu gering war, haben wir wesentliche Bestandteile unseres Unternehmens, nämlich unsere Fabrik Hohenschönhausen, unsere Filialen Breslau und Danzig sowie unsere Forderung gegenüber der Straathygia mit erheblichem Verlust unter dem Buchwert verkauft, um unser Geschäft künftig auf das Installationsunternehmen in Berlin zu beschränken.“

21

Bauantrag für die Aufstockung des Vorderhauses, Fassadenzeichnung, 1923. Quelle: Bauakte

22 Akteur im Hintergrund: Bankhaus Bett, Simon & Co.

Die Aktien der Bülowstraße 90 Grundstücks-Verwertungs AG lagerten in einem Safe des Bankhauses Bett, Simon & Co. in der Mauerstraße 53. Das Bankhaus wiederum war 1924 Mehrheitsaktionär der David Grove AG und damit indirekt Miteigentümer des Hauses Bülowstraße 90. 1926 war die Grove AG bei dem Bankhaus so hoch verschuldet, dass sie alle Aktien an den Architekten Richard Abraham verkaufte, der außerdem Bankschulden der Firma übernahm und sie als Hypothekenforderungen ins Grundbuch eintragen ließ.27

Maßgeblicher Teilhaber der Bank war der ehemalige preußische Finanzminister und Kunstmäzen Hugo Simon.28 Unter dem Namen Bett, Simon & Co. existierte das Bankhaus noch bis 1938.29 Ein Prokurist der Bank, Paul Beihl, wurde 1934 als Zwangsverwalter des Hauses eingesetzt und löste 1936 Richard Abraham auch als Generalbevollmächtigten der Bülowstraße 90 Grundstücks-Verwertungs-AG ab. Als Verwalter der Immobilie betrieb Beihl die Überführung des Hauses aus jüdischem Besitz in Reichsbesitz.

27 Ergänzende Anspruchsbegründung des Anwalts Dr. Fliess vom 7. Juli 1952 im Restitutionsstreit um die Bülowstraße 90, eingereicht bei der 41. Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Berlin, Landesarchiv Berlin, B Rep. 025 (A), 1 WGA 514/49, Bl. 97. 28 „Er gehörte auch Aufsichtsräten an u. a. der Thür. Landeshypothekenbank, der Dt. Grundcreditbank und Gesellschaften des in der Berliner Stadtentwicklung tätigen Adolf Sommerfeld–Konzerns, dort auch als Aufsichtsratsvorsitzender. Er beriet die SPD in Finanzfragen und beteiligte sich an der Gründung der gewerkschaftseigenen „Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten“. 1923 arbeitete in seinem Bankhaus Kurt Tucholsky (1890–1935), zeitweise als Simons persönlicher Sekretär. Zugleich war S. Förderer der Künste und Literatur, im Vorstand mehrerer Kunstvereine, Mitglied der Ankaufskommission der Berliner Nationalgalerie und des Aufsichtsrates des Verlages S. Fischer sowie förderndes Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Seine Kunstsammlung mit Werken dt. Künstler des 19. und 20. Jh. wurde international beachtet. In seinem Haus verkehrten regelmäßig Politiker, Künstler, Wissenschaftler und Gelehrte, darunter Albert Einstein, , Max Liebermann und Renée Sintenis. Else Lasker-Schüler widmete Simon 1920 ein Gedicht. Engere Verbindungen bestanden zu Heinrich und Thomas Mann, auch zu Arnold und Stefan Zweig. Freunde aus der Politik waren Rudolf Hilferding, Karl Kautsky und Otto Braun. Am 27. März 1933 emigrierte Simon über die Schweiz nach Paris, wo er erneut ein Bankgeschäft aufbaute. Es war ihm gelungen, Vermögenswerte, u. a. große Teile der Kunstsammlung, in die Schweiz und nach Frankreich zu transferieren. Die Kunstsammlung mußte in der Schweiz stückweise, z. T. weit unter Wert veräußert werden. 1937 wurde ihm das dt. Reichsbürgerrecht aberkannt, nachdem bereits 1935 sein Anteil an der Berliner Bank vom NS-Regime eingezogen worden war.“ Felix Escher: "Simon, Hugo" in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 435-436 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche- biographie.de/pnd129962317.html - Siehe auch: Anna-Dorothea Ludewig und Rafael Cardoso (Hrsg.): Hugo Simon in Berlin. Handlungsorte und Denkräume. Berlin, Leipzig, 2018. 29 Laut Datenbank Jüdische Gewerbebetrieb in Berlin, https://www2.hu-berlin.de/djgb/www/find

23 Der Architekt Richard Abraham

„Richard Abraham ist in Danzig als Sohn eines dort ansässigen jüdischen Holzgroßhändlers geboren, der Vater betrieb ausserdem ein Ziegelwerk. Nachdem Abraham sein Studium beendet, die Staatsprüfung als Regierungsbaumeister in Berlin bestanden und den Charakter des Dr.-Ing. erlangt hatte, übernahm er zunächst die Leitung eines Sägewerkes seines Vaters in Danzig und errichtete ein Büro für Bauausführungen. Nachdem diese Betätigung durch seinen Kriegsdienst in den Jahren 1916 bis 1918 unterbrochen worden war, übernahm er umfangreichere Bauausführungen in Danzig, die ihm erhebliche Einnahmen verschafften. Er vergrösserte sodann – der Vater war inzwischen verstorben – sein Vermögen durch den Verkauf des Ziegelwerkes und den Verkauf von Danziger Grundstücken, die er bebaut hatte. Im Jahre 1919 gelangte er durch die Verheiratung mit seiner Ehefrau Alice, geborene Frank, die ihm eine grössere Mitgift zubrachte, in den Besitz eines erheblichen Vermögens.

Die auf diese Weise eingetretene günstige Entwicklung seines Vermögens veranlasste ihn dazu, in Danzig und dann auch in Berlin wertvollen Grundbesitz zu erwerben. So erwarb er in Danzig die Grundstücke Schellmüllerweg 9 und Schellmüllerwiesendamm 12, sodann in Berlin das sehr wertvolle Grundstück Augsburgerstrasse 61, dessen Verkehrswert mehr als 500.000 RM betrug, dieses auf den Namen seiner Ehefrau. Es folgte der Erwerb der Grundstücke in Berlin- Wilmersdorf, Kurfürstendamm 61 und 138, dem der gemeinschaftliche Erwerb des Grundstücks 139 durch drei Gesellschafter, Hornemann, Horch und Abraham, folgte. Dazu kam ferner der Erwerb der Aktien der Bülowstraße 90, Grundstücksverwertungs A. G. (...). Da sich durch diesen Erwerb von Berliner Grundstücken die wirtschaftlichen Interessen von Richard Abraham zum grossen Teil nach Berlin verlagert hatten, siedelte Richard Abraham mit seiner Familie (Ehefrau und zwei Kinder), im Jahre 1928 nach Berlin über.“30 Zu diesem Zeitpunkt verfügte Abraham über ein steuerpflichtiges Vermögen von rund 1 Mio. Reichsmark.31

Infolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten der David Grove AG übernahm Richard Abraham 1926 alle Aktien der Bülowstraße 90 Grundstücksverwertungs-AG und kümmerte sich fortan um alle Bauarbeiten im Haus.32 Überliefert sind mehrere Baugesuche, die darauf abzielten, die Vermietbarkeit und damit die Rentabilität der Immobilie zu sichern: Wohnungen wurden nach Abrahams Plänen in kleinere Einheiten geteilt, Garagen auf dem zweiten Hof gebaut. Einen Antrag für einen

30 Aus der ergänzenden Anspruchsbegründung des Anwalts Dr. Fliess vom 7. Juli 1952 im Restitutionsstreit um die Bülowstraße 90, eingereicht bei der 41. Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Berlin, Landesarchiv Berlin, B Rep. 025 (A), 1 WGA 514/49, Bl. 89f. 31 Ebd., Bl. 90. 32 Im Oktober 1926 wurden eine „bis 10% jährlich verzinsliche Grundschuld über einhunderttausend Reichsmark“ und eine „unverzinsliche Grundschuld von dreihunderttausend Reichsmark“ auf seinen Namen ins Grundbuch eingetragen. 1930 kam ein mit 12% verzinsliches Darlehen über 60.000 Reichsmark an eine Baugesellschaft in Danzig hinzu, an der Abraham beteiligt war. Diese Hypotheken wurden am 22. November 1956 mit dem Rückerstattungsvermerk gelöscht.

24 Ausbau des Dachgeschosses im rechten Seitenflügel lehnte die Baupolizei ab.33 Als Bauherr zeichnete die „Bülowstraße 90 Grundstücksverwertungs AG“ verantwortlich. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist ein Brief Abrahams vom 9. Juni 1931 an die Baupolizei, die ihn auf lose Putzteile an einem Balkon hingewiesen hatte. Abraham legte Beschwerde gegen die Aufforderung ein, den Balkon neu verputzen zu lassen, „weil ich weder Besitzer noch verantwortlicher Vertreter für das Grundstück bin, vielmehr lediglich Verwaltungsarbeiten für das Grundstück leite. Besitzerin des Grundstücks ist die Bülowstraße 90 Grundstücksverwertungs-Aktiengesellschaft, Berlin-Grunewald, Hohenzollerndamm 132“. Die Adresse des Architekten Richard Abraham war allerdings exakt dieselbe: Hohenzollerndamm 132.34 Er war zu diesem Zeitpunkt der maßgebliche Eigentümer der Immobilie. Bis 1935 wird er im Berliner Adressbuch als Verwalter der Bülowstraße 90 Grundstückverwertungs-AG genannt, obwohl die Immobilie bereits seit 1934 in Zwangsverwaltung stand. 1936 musste Abraham wegen seiner jüdischen Herkunft die Funktion als Vorstand der Aktiengesellschaft aufgeben, blieb aber zunächst Eigentümer aller Aktien.

Lageplan für den Bau von sechs Garagen auf dem 2. Hof, Bauantrag (Ausschnitt), September 1928. Genehmigt wurden nur zwei Garagen. Quelle: Bauakte

33 Es sollten vier Büroräume entstehen, vgl. Entwurfszeichnungen und Schreiben von Richard Abraham an die Baupolizei vom 6. Juli 1929 in der Bauakte. 34 Abraham war auch am Hohenzollerndamm Miterbauer und Mitbesitzer. Bis 1938 führen ihn die Adressbücher überdies als Eigentümer des Hauses Kurfürstendamm 61.

25

Brief mit der Bitte des Architekten Richard Abraham um die Genehmigung für den Bau von zwei Garagen auf dem Hof, die erteilt wurde, März 1929. Quelle: Bauakte

26 Ein ORT für Juden

1928 taucht im Berliner Adressbuch unter der Adresse Bülowstraße 90 erstmals ein „Verband zur Förderung von Handwerk und Landwirtschaft unter den Juden“ auf, in späteren Jahren als „Zentralverwaltung des O. R. T. e. V.“ eingetragen. Hinter dem Kürzel ORT verbirgt sich ein jüdisches Berufsbildungswerk, die 1880 in Russland gegründet wurde und heute noch in 50 Ländern aktiv ist.35 ORT stand ursprünglich für Общество Ремесленного и земледелческого Труда (Gesellschaft handwerklicher und landwirtschaftlicher Arbeit). Im Englischen wird es als Kürzel für "Organization - Reconstruction - Training" interpretiert. 1921 wurde in Berlin der internationale Dachverband der Organisation gegründet, der seit 1928 in der Bülowstraße 90 ansässig war.36 Die Berliner Niederlassung, die Spenden sammelte und Informationen in deutscher und jiddischer Sprache verbreitete, war Teil eine transkontinentalen Netzwerks: Es „umfasste finanzielle Fonds, einkaufende Handelskorporationen und freiwillige Gesellschaften, die in Westeuropa, den USA, Südafrika und Australien mit zahlreichen in den Ländern Osteuropas organisierten Handwerks- und Landwirtschaftsschulen, jüdischen Ackerbaukolonien und Industrieunternehmen zusammenarbeiteten. Als Ergebnis der Wechselwirkung all dieser Institutionen im Rahmen des sozialen Netzwerks von ORT verwandelten sich die karitativen Spenden, die man in der ganzen Welt gesammelt hatte, direkt in die für die Arbeit der jüdischen Handwerkskooperativen und landwirtschaftlichen Genossenschaften so notwendigen Maschinen, Instrumente, in Rohstoffe, landwirtschaftliches Inventar und Saatgut.“37

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die ORT-Zentrale nach Paris verlegt, die Organisation blieb aber in Berlin aktiv und bereitete junge Juden auf die Emigration vor. Noch im April 1937 eröffnete ORT mit Duldung der Gestapo eine Berufsschule in Moabit, wo 220 Studenten zu Tischlern, Schlossern und Elektroschweissern ausgebildet wurden. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde die Schule nach Großbritannien evakuiert, was zahlreichen Juden das Leben rettete.38

35 https://www.gedenktafeln-in-berlin.de/nc/gedenktafeln/gedenktafel-anzeige/tid/ort-organisation/ 36 Vgl. Alexander Ivanov: Nähmaschinen und Brillantringe. Die Tätigkeit der Berliner ORT 1920-1943, in: Verena Dohrn (Hrsg.): Transit und Transformation. Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918 - 1939. Wallstein, Göttingen 2010, S. 195–209. 37 Ebd., S. 196. 38 Ebd., 208f.

27

Die Firma Hemdenmatz verlegte 1928 ihre Zentrale in die Bülowstraße 90 und beantragte 1933 die Anbringung einer Leuchtreklame an der Fassade. Quelle: Bauakte.

Zeichnung auf dem Briefpapier der Firma Hemdenmatz, um 1930. Quelle: Bauakte

28 Garagen, Judenboykott und Arisierung: Hemdenmatz GmbH

Die Hemdenmatz GmbH war eine 1922 in der Lutherstraße 5 in Schöneberg gegründete jüdische Firma, die Damen- und Herrenwäsche herstellte. Ende 1928 verlegte sie ihre Zentrale in die Bülowstraße 90. In diesem Zusammenhang wandte sich die Firma an den Architekten Richard Abraham mit der Bitte um die Errichtung einer Garage:

„Um den Anforderungen gerecht zu werden, die an uns wegen schneller und größtenteils sofortiger Lieferung gestellt werden, waren wir genötigt uns ein Lieferauto anzuschaffen. Es ist erforderlich, dass sich die Garage im Hause unserer Expeditions- und Fabrikationsräume befindet. Der Bau müsste möglichst umgehend in Angriff genommen werden. Unser Geschäft hat einen großen Umfang. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, unterhalten wir 5 Filialen, während des Monats Dezember sogar 6 Verkaufsstellen. Wir beschäftigen ca. 60 Angestellte, außerdem noch eine große Zahl von Heimarbeitern.“39

Für die Auslieferung wurden zwei Garagen im zweiten Hof errichtet.40

Am 1. April 1933 war das Unternehmen Zielscheibe des sogenannten Judenboykotts der Nationalsozialisten, der sich gegen jüdische Geschäftsinhaber richtete.41 Im selben Jahr wurde das Geschäft von nichtjüdischen Inhabern übernommen und unter dem Namen Hemdenmatz weitergeführt.42 Es schaltete Inserate in NS-Blättern wie Das schwarze Korps43 und beantragte Mitte der 1930er Jahre die Installation einer großen Lichtreklame mit dem Schriftzug Hemdenmatz an der Straßenfassade zwischen der dritten und vierten Etage des Hauses Bülowstraße 90. 1936/37 muss der Standort bereits wieder aufgegeben worden sein; das Unternehmen ist bis etwa 1960 in den westberliner Telefonbüchern nachweisbar.

39 Hemdenmatz GmbH an Richard Abraham, Brief vom 1. Dezember 1928 in der Bauakte. 40 Überliefert ist ein Entwurf für einen Anbau mit sechs Stellplätzen, der jedoch am 13. November 1928 und nach Widerspruch 16. Januar 1929 erneut abgelehnt wurde. Am 22. März 1929 bat Abraham um die Genehmigung von zwei Garagen: „Das Haus Bülowstraße 90 dient zu 66% Geschäftszwecken, zu 33% Wohnzwecken, es liegt an einem Straßenzuge, der bereits den Charakter einer Hauptverkehrs- und Geschäftsstrasse hat, wodurch und besonders weil schon zahlreiche Geschäftsräume im Hause vorhanden sind, die Notwendigkeit besteht, auch Autos im Hause unterbringen zu können. Lediglich im Interesse der Mieter soll der Garagenbau erfolgen.“ 41 Foto im United States Holocaust Memorial Museum (USHMM). Photo Archive, Photo Nr. 78589; im Internet unter https://www.hentrichhentrich.de/fs/etext/006087.etext.pdf 42 Vgl. Datenbank der jüdischen Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945 (http://www2.hu- berlin.de/djgb/www/find). 43 Vgl Ausgabe vom 3. Juni 1937.

29 Neue Produkte, schnittige Reklame

Die Adressbucheinträge lassen darauf schließen, dass sich in den 1920er-Jahren Firmen ansiedelten, die mit der Produktion und dem Vertrieb neuer Technologien experimentierten: die Elektrizitätswerkstätte „Helios“ G. m. b. H., die Elektroanlagenfirma Egeling & Co.44 (beide 1920 bis mindestens 1925) und die „Be- Bee“ Radio GmbH (1925) zum Beispiel. Moderne Außenwerbung mit Lichtreklame für Autos und Motorräder bestimmte seit den frühen 1930er-Jahren das Erscheinungsbild des Hauses in der Erdgeschosszone. Der Laden eines Autoteilehändlers und ein Motorradladen flankierten damals den Treppenaufgang des Hauses. Die Inhaber des Motorradladens beantragten 1933 sogar die Anbringung eines gelb-roten Leuchtreklamekörpers mit der allbekannten Shell-Muschel an der Fassade. Seit 1931 gab es auf dem ersten Hof eine Zapfsäule für Benzin.45

Auch ein Reklameatelier gehört seinerzeit zu den Mietern. Ab 1934 erscheint eine „Radio-Röhren-Umtauschstelle“ unter den Adressbucheinträgen. Das Kartell des deutschen Flachglas-Großhandels und die „Geschäftstelle der Bezirksgr.d. Wirtschaftl. Vereinig. d. Roggen- und Weizenmühlen“ mieteten Büros. Während der jüdische S. Fischer Verlag unter dem Druck der Nationalsozialisten schrumpfte und schließlich 1936 das Haus verlassen musste, ließen sich ein Verleger namens Becker und die Buchdruckerei Buschardt neu in die Bülowstraße 90 nieder. Von 1936 bis 1942 unterhielt das Arbeitsamt Teltow eine Dienststelle im Hochparterre des Vorderhauses.

44 Aufgeführt in der Datenbank der jüdischen Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945 (http://www2.hu-berlin.de/djgb/www/find), demnach gegründet 1906 und 1938 liquidiert. Außerdem wird dort unter der Bülowstraße 90 genannt die Firma Gustav Speyer, Baumwolle und Bauwollabfälle, gegründet 1919, übernommen 1931, liquidiert 1937. 45 Daran angeschlossen waren ein Dynamin-Behälter mit einem Fassungsvermögen von 1000 Litern und ein Shell-Behälter für 2000 Liter. Errichtet wurde die Anlage von der Rhenania-Ossag Mineralölwerke AG, Zweigniederlassung Berlin. Unterlagen in der Bauakte (Nebenakte).

30

Antrag für Außenwerbung aus der Bauakte, 1931.

Außenreklame an der Straßenfassade mit Hinweis auf die Tankstelle im Hof, März 1932. Quelle: Bauakte.

31

Aus dem Bauantrag für die Anbringung einer Leuchtreklame aus der Bauakte, August 1933.

Antrag für Außenwerbung aus der Bauakte, April 1934. Quelle: Bauakte

32 Die Familie Abraham wird ausgeplündert

Der jüdische Miteigentümer und Hausverwalter Richard Abraham versuchte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, seine Familie und sein Vermögen ins Ausland zu retten, landete deswegen im Zuchthaus und entging dem Konzentrationslager nur dadurch, dass er auf seine Eigentumsrechte am Haus Bülowstraße 90 verzichtete. Dazu liegt in der Wiedergutmachungsakte ein Bericht seines Anwalts vor: „Aus der Besorgnis, dass er als Jude seinen Gewerbebetrieb nicht ungestört fortsetzen könne, ergaben sich (nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten) für Richard Abraham Befürchtungen dahin, dass er seinen Kindern keine sorgfältige Erziehung und Schulausbildung gewähren könne, er veranlasste daher im September 1934 seine Ehefrau, mit den beiden Kindern nach Prag zu übersiedeln. Die Aufenthaltskosten konnte Abraham seiner Ehefrau in Höhe von monatlich 400 RM überweisen, er erhielt fortlaufend zu diesen Zahlungen die vorgeschriebene Genehmigung der Devisenstelle. Die Ehefrau Abaraham erhielt ferner aus Danzig die Erträge des dort befindlichen Vermögens mit ungefähr monatlich 250 Danziger Gulden. Das Grundstück Hohenzollerndamm 132 hatte Abraham mit seiner Familie selbst bewohnt. Durch die Übersiedlung seiner Familie nach Prag wurde dieses Grundstück für ihn entbehrlich, da er Bedenken dagegen hatte, nunmehr allein das Gebäude, eine Villa zu bewohnen. Auf Grund der Vollmacht seiner Ehefrau verkaufte er das Grundstück Hohenzollerndamm 132 am 21. Februar 1936 für einen Kaufpreis von 78.000 RM. Dieses Verkaufsgeschäft war der Anfang seine späteren Unglückes, er hatte, da er für seine Person seinen Wohnsitz in Berlin beibehielt, nicht beachtet, dass die formelle Verkäuferin seine in Prag wohnende Ehefrau war. Infolgedessen wurde er im Jahre 1938 in einem Strafverfahren deswegen verurteilt, weil er über eine Forderung, die zu Gunsten eines Ausländers durch die Veräusserung eines inländischen Grundstückes entstanden war, ohne Genehmigung der Devisenstelle verfügt hatte. In welcher Weise die Devisenstelle von dem Grundstücksverkauf Kenntnis erlangt hat, lässt sich heute nicht mehr feststellen, in jedem Falle fand im Jahre 1937 eine Untersuchung durch die Devisenstelle statt, in der er nicht in der Lage war, den Verbleib eines Betrages von 22.110 RM nachzuweisen. Abraham gab an, dass er nach dem Verkauf des Grundstückes, im Oktober 1936, nach Baden-Baden gefahren und dort diesen Betrag im Spielkasino verspielt habe. Das wurde ihm nicht geglaubt, er wurde in Untersuchungshaft genommen und auf Grund der Hauptverhandlung vom 4. August 1928 zu drei Jahren Zuchthaus und 31.000 RM Geldstrafe verurteilt. Das Gericht nahm an, dass er diese 22.110 RM in irgend einer, nicht aufgeklärten Weise, seiner Familie zugeführt habe. Bei der Straffestsetzung berücksichtigte das Gericht, dass er bisher unbestraft war und die – vom Gericht angenommene – Handlung zur Sicherung der Existenz seiner Familie im Ausland begangen habe. Es erkannte trotzdem aber auf die angegebene hohe Strafe, weil das deutsche Reich um einen hohen Geldbetrag geschädigt worden war und Abraham, infolge seiner Bildung, sich der Auswirkungen seiner Tat auf die Devisenbewirtschaftung bewusst gewesen sei.

33 Das persönliche Schicksal von Richard Abraham war damit besiegelt, er verbüsste seine Strafe, von der sechs Monate auf die erlittene Untersuchungshaft angerechnet waren, und musste befürchten, im Augenblick seiner Entlassung aus der Strafanstalt der Gestapo überliefert zu werden, was seine Deportierung und seinen gewaltsamen Tod bedeutet hätte.“46 Um dem KZ zu entgehen, verkaufte Richard Abraham am 1. September 1939 das seiner Frau gehörende Grundstück Augsburger Straße 61 an die Hochtief- Aktiengesellschaft, die dort ihre Berliner Firmenniederlassung unterhielt. „Der Vertrag wurde im Zuchthaus Brandenburg beurkundet.“47 Aus dem Verkaufspreis von 500.000 RM, so der Plan, sollten sofort bei seiner Entlassung aus dem Zuchthaus 50.000 RM zur Verfügung stehen, um ihn von der Überstellung in ein Konzentrationslager freizukaufen. Im Zuchthaus in Brandenburg/Havel wurde Abraham nach eigener Aussage aufgefordert, „Schriftstücke zu unterzeichen, in denen er erklärte, auf verschiedene hohe Hypotheken an dem wertvollen Grundstücke in Berlin W., Bülowstraße 90, zu verzichten. Er habe das zunächst abgelehnt, es sei ihm aber schliesslich von Beamten der Zuchthausverwaltung vorgestellt worden, er wisse doch, wie man mit jüdischen Strafgefangenen zu verfahren pflege, und solle sich darüber klar sein, was mit ihm passieren würde, wenn er die von ihm verlangten Unterschriften nicht gebe.“48 Unter massivem Druck erteilt Abraham dem Grundstücksverwalter Grüttner die Vollmacht, über seine Eigentumsrechte an dem Grundstück Bülowstraße 90 zu verfügen, das so 1939 in den Besitz der Reichsmarine gelangte. Auch der Anteil am Grundstück Kurfürstendamm 139 ging Richard Abraham durch erzwungenen Eigentumsverzicht verloren. Das Haus am Kurfürstendamm 61 wurde von der Bayerischen Vereinsbank zur Zwangsversteigerung gebracht und das Grundstück Kurfürstendamm 138 unter Wert verkauft, um Geld für die

46 Aus der ergänzenden Anspruchsbegründung des Anwalts Dr. Fliess vom 7. Juli 1952 im Restitutionsstreit um die Bülowstraße 90, eingereicht bei der 41. Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Berlin, Landesarchiv Berlin, B Rep. 025 (A), 1 WGA 514/49, Bl. 91-93. – Genauere Angaben Daten zu dem Sachverhalt finden sich im Beschluss des Kammergerichts vom 7. Januar 1956, betreffend die Rückerstattung von Erlösen aus dem erzwungenen Verkauf des Grundstücks Augsburger Straße 61/Bayreuther Straße, Landesarchiv Berlin, B. Rep 025-04, Nr. 6223/50, Bl. 78-81: Demnach lebten Alice und Richard Abraham bis zum Herbst 1934 „in Berlin W 35, Kurfürstendamm 61. Beide stammten aus Danzig und besaßen bis 1939 die Danziger Staatsangehörigkeit. Danach waren sie beide staatenlos, da sie zum Kreise der rassisch verfolgten Personen gehörten. Im Herbst 1934 begab sich die Antragstellerin mit ihren beiden damals minderjährigen Kindern Annelotte und Frank nach Prag. Von wo sie später über Paris und Portugal nach Amerika auswanderte.“ (Bl. 78) Als Alice Abraham 1934 Berlin verließ, „blieb sie zunächst in Berlin polizeilich gemeldet, hat sich auch noch später mehrfach in Deutschland (München, Dresden, Berlin) besuchsweise aufgehalten. In Prag hatte sie im September 1935 eine Zweizimmerwohnung gemietet, die mit Sachen der Berliner Wohnung ausgestattet wurde. Der Unterhalt der Familie in Prag wurde mit monatlich 400,-- RM bestritten, die Dr. Arams (Abraham) laufend auf Grund von Devisengenehmigungen überwies. Außerdem bezog die Antragstellerin 250,-- Danziger Gulden eigene Einkünfte aus ihrem Vermögen in Danzig.“ (Bl. 80) Den Erlös aus dem Verkauf des Hauses Hohenzollerndamm 132 legte Richard Abraham 1936 zunächst in Wertpapieren an. Im Juni bis Oktober verkaufte er sie und brachte Geld und Schmuck im Wert von etwa 40.000,-- außer Landes, dazu unternahm er eine Reise nach Danzig, Krakau, Wien und Prag vom 15. Bis 21. Oktober 1936. 47 Landesarchiv Berlin, B. Rep 025-04, Nr. 6223/50, Bl. 78. 48 Erklärung des Anwalts Dr. Fliess vom 12. Dezember 1952, Wiedergutmachungsakte im Landesarchiv Berlin, WGA 515/49, Bl. 202. – Diese Aussage wurde durch einen Zeugen bestätigt (Bl. 260).

34 Auswanderung von Richard Abraham zu beschaffen.49 Alle diese Geschäfte wurden während der Haftzeit abgeschlossen. Am 17. März 1941 wurde Richard Abraham aus dem Gefängnis Brandenburg-Görden offiziell entlassen, sofort danach aber im Amtsgerichtsgefängnis Brandenburg/Havel in „Abschiebungshaft“ genommen.50 Sein Anwalt Dr. Julius Fliess protestierte bei der Staatsanwaltschaft. Daraufhin wurde Richard Abraham am 26. Juni 1941 tatsächlich freigelassen und suchte den jüdischen Anwalt in Berlin auf.51 Im August 1941 gelang es Richard Abraham, mit einem Transport jüdischer Auswanderer über Frankreich und Spanien nach Portugal und per Schiff in die USA zu gelangen.52 Das gesamte verbliebene „volks- und staatsfeindliche Vermögen“ Abrahams und seiner Frau wurde im November 1941 von der Gestapo beschlagnahmt und zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen, dabei belief sich alleine der verbliebene Erlös aus dem Verkauf des Grundstücks Augsburger Straße 61 an die Hochtief AG auf 278.464,88 RM:53

49 Landesarchiv Berlin, B Rep. 025 (A), 1 WGA 514/49, Bl. 95. 50 Landesarchiv Berlin, B. Rep 025-04, Nr. 6223/50, Bl. 89. 51 Aus der Fotokopie einer notariell beglaubigten Urkunde vom 14. August 1941 geht hervor, dass auch der Anwalt jüdischer Herkunft war. Zu diesem Zeitpunkt durften nichtjüdische Anwälte keine jüdischen Klienten mehr vertreten. „Ich, der Regierungsbaumeister a. D. Richard Israel Abraham in Berlin W. 15, Xantenerstr. 4, erteile hiermit Herrn Konsulenten Dr. Julius Israel Fliess in Berlin W. , Bleibtreustraße 27, Vollmacht, mich in allen meinen Angelegenheiten, sowohl den Gerichten und anderen Behörden als auch Privatpersonen gegenüber zu vertreten (...) Diese Vollmacht soll durch meinen Tod nicht erlöschen. Mein Vermögen gebe ich auf 5000,-- RM an. Berlin, den 14. August 1941, gez. Richard Israel Abraham.“ Landesarchiv Berlin, B Rep. 025 (A), 1 WGA 514/49, Bl. 2. 52 Ebd., Bl. 204. 53 Beschluss des Kammergerichts vom 7. Januar 1956, Landesarchiv Berlin, B Rep. 025 (A), 1 6223/50, Bl. 79ff. Die Beschlagnahme des Vermögens ist in dem Urteil ausführlich dokumentiert; sie wurde publiziert im Deutschen Reichsanzeiger vom 19. 12. 1941.

35

Vermietung des Hauses Bülowstraße 90 am 1. April 193654

Mieteinheit Mieter Friedensmiete (ohne Steuern und Nebenkosten)* 1 V.E. 2 Zi. Pfaffenberg 41.67 2 V.E. Laden Buschhardt 133.33 3 V. hptr. 4 R. Deutschmann 151.67 4 Stfl.hptr.7 R. Rusitzka 140.-- 5 V.I. 11 R. Flachglashdl. 519.17 6 V.I. 4 R. Buschhardt 125.-- 7 V.I. Oberk. d. Kriegsmarine 410.83 8 V.II. Oberk. d. Kriegsmarine 460.83 9 V.II. Oberk. d. Kriegsmarine 485.83 10 V.III. Oberk. d. Kriegsmarine 475.-- 11 Stfl.r.ptr.1. Oberk. d. Kriegsmarine 25.-- 12 Gths.ptr. 5 R. Maass 145.-- 13 Gths.ptr. 2 R. Holz 46.67 14 Gths. III Oberk. d. Kriegsmarine 133.33 15 V.Laden r. v. Krohn 300.-- 16 Qu.ptr. 3 R. Buschhardt 66.67 17 V.E.Laden 1 v. Krohn 115.-- 18 V.E.u.Stfl.E. Raguse & Bachura 270.-- 1 Laden ? R. 19 Stfl.E. 2 R. Goldmann 25.-- Qu.r.Stfl. 20 V.hptr. 16 R. Arbeitsamt 500.-- 21 Qu.hptr. 3 E. Hochhaus 85.-- 22 Qu.hptr. 3 R. Holzhallenbau 111.67 23 (o. A.) Oberk. d. Kriegsmarine 475.-- 24 (o. A.) Oberk. d. Kriegsmarine 65.21 25 Gths.I.Etag. 4 R. Laser 72.29 26 Gths. II. Etage Oberk. d. Kriegsmarine 133.33 27 Gts. III. Etage Oberk. d. Kriegsmarine 125.-- 28 Gths. Atelier R. Oberk. d. Kriegsmarine 50.-- 29 Gths. ptr. Oberk. d. Kriegsmarine (?) 70.83 30 Gths. Atelier R. Oberk. d. Kriegsmarine 57.50 31 Bürohaus ptr.-IV Oberk. d. Kriegsmarine 1091.67 Summe 6947.50

* Die Tabelle gibt Aufschluss darüber, welche Mieteinheiten bereits 1914 existierten – dort sind die Werte identisch mit der Aufstellung von 1914 – und welche danach neu zugeschnitten wurden. Bei manchen Mieten wurde 1936 eine Erhöhung des Mietwertes um 8,5 % berechnet, hinzu kamen Nebenkosten für Heizung und Fahrstuhl.

54 Die Aufstellung hat sich erhalten in der Wiedergutmachungsakte, Landesarchiv Berlin B Rep. 025 (A), 515/49, Bl. 281.

36 Eroberung des Hauses durch die Reichsmarine

Die Wirtschaftskrise der frühen 1930er-Jahre machte vielen Hausbesitzern schwer zu schaffen. Firmen gingen pleite, zahlten ihre Miete nicht oder zogen aus. Die Mieteinnahmen der Bülowstraße 90 schrumpften von 136.248,40 RM im Jahr 1930 auf 58.867,52 RM im Jahr 1934, die Bilanz der Bülowstraße 90 Grundstücksverwertungs-AG rutschte tief in die roten Zahlen:55

1929 -10.925,83 RM 1930 -11.156,11 RM 1931 -9.433,85 RM 1932 -15.421,69 RM 1933 -18.145,56 RM 1934 -8.287,29 RM 1935 -5.513,69 RM 1936 -20.601,21 RM 1937 -117.306,31 RM 1938 -10.329,88 RM

Im Juli 1933 wurde ein Zwangsversteigerungsverfahren für das Haus eingeleitet und im November 1933 ein Zwangsverwalter für das Haus bestellt.56 Auf dem Haus lasteten Grundschulden diverser Gläubiger von über einer Million Reichsmark.57 Eine Zwangsversteigerung wurde jedoch im Juli durch eine Verständigung der Gläubiger abgewendet. Ab 1935 besserte sich die wirtschaftliche Lage, ab 1936 war das Haus wieder voll vermietet und bis 1939 stiegen die Mieteinnahmen auf 88.655,59 RM an.58 Der ausgewiesene Verlust von 1937 beruhte auf einem Bilanztrick mit dem Ziel, durch die Einleitung eines neuerlichen Zwangsversteigerungsverfahren den jüdischen Miteigentümer Richard Abraham endgültig loszuwerden.

Neuer Hauptmieter des Hauses war ab Februar 1936 das Oberkommando der Reichsmarine. Die Bülowstraße 90 lag nicht weit entfernt vom Reichsmarineamt am Tirpitzufer 72/76 (heute Bundesministerium der Verteidigung am Reichpietschufer), das in der Aufrüstungsphase vor dem Zweiten Weltkrieges dringend zusätzliche Räume benötigte. Spätestens 1935 signalisierte das Oberkommando der Marine ein Interesse an dem Haus in der Bülowstraße. Der zuständige Sachbearbeiter soll sich jedoch geweigert haben, mit einem Juden einen Mietvertrag abzuschließen.59 Daher legte Richard Abraham im Januar 1936 sein Amt als Vorstand der Bülowstraße 90 Grundstücksverwertungs-AG nieder. An seine Stelle rückte der Prokurist der Bankfirma Bett, Simon & Co., deren jüdischer Namensgeber Hugo Simon jedoch

55 Landesarchiv Berlin, B. Rep. 025 (A), WGA 515/49, Bl. 417. 56 In einem Schreiben der Baupolizei vom 22. Juni 1934 wird verwiesen auf eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, Band 32, S. 337, wonach der Zwangsverwalter für den Zustand des Hauses verantwortlich sei: Kurt Billert, Berlin-Schöneberg, Badensche Straße 2 (Nordsternhaus). 57 Landesarchiv Berlin, Rep. 025 (A), WGA 515/49, Bl. 418. 58 Zahlen nach der Wiedergutmachungsakte, Landesarchiv Berlin, B Rep. 025 (A), 515/49, Bl. Bl. 100. 59 Ebd., Bl. 102.

37 längst ins Ausland geflohen war. Der Prokurist Paul Beihl war nach Aussagen von Zeugen ein überzeugter Nationalsozialist.60

Ein Mieterverzeichnis belegt, dass am 1. April 1936 schon rund die Hälfte des Hauses vom Oberkommando der Kriegsmarine angemietet war.61 Zu diesem Zeitpunkt musste der wirtschaftlich angeschlagene S. Fischer Verlag seinen 1913 im 2. Hof bezogenen Büroanbau räumen. Ihm war vom Vermieter gekündigt worden.62 Am 6. April 1936 reichte die Bülowstrasse 90 Grundstücksverwertungs-Aktiengesellschaft einen Bauantrag ein für „einen geplanten Verbindungsgang auf unserem Grundstück Bülowstrasse 90 zwischen Vorderhaus und Gartenhaus“ ein, „mit dem Bemerken, dass die Arbeiten im Auftrage und auf Veranlassung des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine, Berlin W. 35, Tirpitz Ufer 72/76, durchgeführt werden sollen.“ Die von der Kriegsmarine genutzten Räume im Seitenflügel und der Anbau wurden im vierten und fünften Stockwerk durch eine Brücke miteinander verbunden.63 Ohne Baugenehmigung wurden vier weitere Garagen im 2. Hof errichtet. Die Marine drängte den Verwalter des Hauses, Verträge mit weiteren Mietern zu kündigen, um das gesamte Haus für ihre Zwecke nutzen zu können.64

Der neue Hausverwalter Paul Beihl handelte im Interesse und auf Druck der Kriegsmarine.65 Er versuchte bereits 1937, das Haus auf dem Weg einer Zwangsversteigerung in den Besitz der Reichsmarine zu überführen.66 Als diese Operation misslang, wurde Richard Abraham im Zuchthaus Brandenburg gezwungen, auf alle seine Ansprüche an der Immobilie Bülowstraße zu verzichten. Am 14. Februar 1939 erklärte der Paul Beihl dann als alleinvertretungsberechtigter Vorstand der Bülowstraße 90 Grundstücksverwertungs-AG vor einem Notar in Charlottenburg seinen Verzicht auf die Immobilie zugunsten „des Herrn Präsidenten der Preußischen Bau- und Finanzdirektion“.67 Am 15. Januar 1940 wurde die Bülowstraße 90 Grundstücksverwertungs-Aktiengesellschaft mit Sitz in der Mohrenstraße 10 als Eigentümerin aus dem Grundbuch ausgetragen.68 Im Februar 1940 zahlte das

60 Zeugenaussage des Bankkaufmanns Georg Hass vor der 41. Zivilkammer des Landgerichts Berlin vom 18. Dezember 1952, Landesarchiv Berlin, B. Rep. 025 (A), WGA 515/49, Bl. 206. 61 Mieterverzeichnis in der Wiedergutmachungsakte, Landesarchiv Berlin, B Rep. 025 (A), 515/49, Bl. 281. 62 Eidesstattliche Versicherung von Gottfried Bermann Fischer vom 15. September 1952 in der Wiedergutmachungsakte, Landesarchiv Berlin, B Rep. 025 (A), 515/49, Bl. 287. 63 „Der fragliche Verbindungsweg war nach Angaben des Oberkommandos der Kriegsmarine notwendig, um das Hintergebäude mit dem Vorgebäude eng zusammenzubringen, und damit die Überwachung der Zugänge von dieser Stelle aus zu vereinfachen.“ (Schreiben der Bülowstrasse 90 Grundstückverwertungs-AG an die Baupolizei v. 11. August 1936 in der Bauakte) 64 Zeugenaussage des Architekten Philipp Besslich, der seinerzeit in der Bauabteilung des Oberkommandos der Kriegsmarine tätig war, vom 18. Dezember 1952, Landesarchiv Berlin, B. Rep. 025 (A), WGA 515/49, Bl. 205f. 65 Zeugenaussage von Bruno Grüttner am 12. September 1952, Landesarchiv Berlin, B. Rep. 025 (A), WGA 515/49, Bl. 135f. 66 Landesarchiv Berlin, B. Rep. 025 (A), WGA 515/49, Bl. 109-111. 67 Schreiben vom 15. 6. 1939 in der Bauakte. Die Abschrift des Eigentümerverzichts in der Bauakte bezieht sich auf die Verordnung über den Einsatz jüdischen Eigentums vom 3. Dezember 1938, die jüdische Eigentümer zwang, sich von ihrem Besitz zu trennen. 68 Mitteilung über „Eigentumsänderung im Grundbesitz“ an das Polizeirevier 180 mit Eingangsstempel vom 5. Februar 1940, überliefert in der Bauakte.

38 Oberkommando der Kriegsmarine 215.726,99 RM an die Nordstern Lebensversicherungs-AG und 199.987,20 RM an die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte, um auf dem Haus lastende Hypotheken abzulösen.69 Richard Abraham ging aufgrund des erzwungenen Verzichts auf seine Ansprüche leer aus. Die Hypotheken zu seinen Gunsten bezifferte das Landgericht Berlin später auf 457.000,- - RM.70

Wie das Gebäude vom Militär genutzt wurde, ist bisher ungeklärt. 1938 hatte das Reichsmarineamt nach eigenen Angaben rund 200 Räume in der Bülowstraße 90 gemietet.71 Vermutlich war dort ein Teil des Reichsmarineamts untergebracht, das Personal, Bekleidung, Verpflegung und Bauten der Kriegsmarine verwaltete.72

Mitteilung an das Polizeirevier 180 über den Eigentümerwechsel der Immobilie Bülowstraße 90. Gemeldet wird ein „unentgeltlicher Übergang ... weil der bisherige Eigentümer verzichtet hat.“ Quelle: Bauakte.

69 Landesarchiv Berlin, B. Rep. 025 (A), WGA 515/49, Bl. 116. 70 Beschluss vom 9. Februar 1954, Landesarchiv Berlin, B. Rep. 025 (A), WGA 515/49, Bl. 297. 71 Landesarchiv Berlin, B. Rep. 025 (A), WGA 515/49, Bl. 418. 72 Der Name des neuen Nutzers ist auf einer erhaltenen Mitteilung über die Eigentumsveränderung nur schwer leserlich, lässt sich aber über die Adresse rekonstruieren: Tirpitzufer 72/76, nach wie vor Sitz des Oberkommandos der Kriegsmarine. - In Befehlen des Oberkommandos der Kriegsmarine finden sich Hinweise, dass Räumlichkeiten in der Bülowstraße während des Zweiten Weltkrieges von der Abteilung AMA/C genutzt wurden, also dem Marineverwaltungsamt (https://www.forum- marinearchiv.de/smf/index.php/topic,14337.10/wap2.html). Zum Amt gehörten die Abteilung für Personalangelegenheiten, Gebührnis- und Kassenwesen, Verpflegung und Bekleidung (C I), sowie die Unterkunfts-, Bau- und Siedlungsabteilung (C II) (Quelle: http://www.deutschekriegsmarine.de).

39 Nachkriegszeit: Neue Mieter im Haus

Die Firma Gustav Buschardt – Papierhandlung, Bürobedarf, Buchbinderei und Buchdruckerei – gehörte zu den wenigen Mietern, die auch noch nach der Inbesitznahme des Hauses durch die Kriegsmarine in der Bülowstraße 90 geduldet wurden. Gegen Ende des Jahres 1940 beantragte sie die Anbringung einer Außenreklame an der Fassade. Am 2. Januar 1941 wurde das Anliegen abgelehnt: „Aus den Kriegsnotwendigkeiten heraus muss vorläufig jedes Bauvorhaben – und dazu zählt auch die Anbringung und Auffrischung von Ankündigungsmitteln jeder Art – zurückgestellt werden, die nicht unmittelbar mit der Verfolgung der Kriegsziele in Zusammenhang steht. Auch wenn sie bezüglich der Zubilligung von Baustoffen und Arbeitskräften keine besonderen Forderungen an das Arbeitsamt stellen, kann die Bauausführung vorläufig nicht zugelassen werden.“ Die Baupolizei gestattete im März 1941 lediglich die Versetzung eines Schildes mit der Aufschrift „Buchdruckerei“ an der Fassade.

Wann genau ein großer Luftschutzbunker im rechten Seitenflügel mit massiver Betondecke und separatem Zugang vom Hof errichtet wurde, ist nicht dokumentiert.

Der Luftkrieg richtete schwere Verwüstungen in der die Umgegend an. Ganz in der Nähe verwandelte am 19. Juli 1944 der Luftdruck einer Bombe die Hochbahnlinie zwischen Bülowstraße und Nollendorfstraße in eine unbefahrbare Berg- und Talbahn.73 Auf einem Foto aus den Tagen sind Brandspuren an der Fassade des Hauses Bülowstraße 90 zu erkennen.74 Die sechste Etage des Vorderhauses fehlt ganz, möglicherweise hatte es dort vorher schon gebrannt und sie war abgetragen worden.

Erst im September 1946 konnte der U-Bahn-Betrieb in der Bülowstraße wiederaufgenommen werden. Um diese Zeit findet sich im Berliner Telefonbuch erstmals das Polizeirevier 180 unter der Adresse Bülowstraße 90. Auf Stadtplänen ist es dort bis Anfang der 1980er-Jahre eingetragen. Leider ist die Geschichte der Berliner Polizeireviere unerforscht - so die Auskunft aus dem Polizeihistorischen Museum.

Im Juni 1947 übernahm die Treuhandverwaltung der Amerikanischen, Britischen und Französischen Militärregierung für zwangsübertragene Vermögen mit Sitz in der Nürnberger Straße 53-55 die Kontrolle über das Haus. Verwaltet wurde es von der Neue Vida Hausverwaltungsgesellschaft m. b. H., Kurfürstendamm 190/192. In der zweiten Jahreshälfte wurden Kriegsschäden am Haus beseitigt. Räume in der 4. Etage des Vorderhauses und in der 3. und 4. Etage des Gartenhauses waren aber noch bis Mitte der 1950er Jahre unbenutzbar.

1946/47 zog im 3. und 4. Obergeschoss links eine Schneiderei mit Werkstatt, Büro, Lager und Bügelraum ein. Anfang 1947 wurde der Umbau des 4. Obergeschosses für eine „Fachschule“ genehmigt. 1948 eröffnete erneut ein Autoteilehändler einen

73 Jürgen Meyer-Kronthaler: Berlins U-Bahnhöfe, Berlin 1995, S. 54f. 74 Bundesarchiv, Bilddatenbank Nr. 183-J30192.

40 Laden in der Bülowstraße 90: Die Firma von Walter Herbst stieg zum größten Autobatterienhändler in West-Berlin auf und blieb bis nach der Wiedervereinigung im Haus ansässig.75 Zeitweise nutzte Auto Herbst zusätzlich zum Ladengeschäft und Räumen im rechten Seitenflügel der Nummer 90 das gesamte Erdgeschoss des Nachbarhauses Bülowstraße 89. Jahrzehntelang bestimmten die Schaufenster des Autoteilehändlers das Straßenbild an dieser Stelle. Erhalten sind die Rolltore, die 1987 hofseitig ins Erdgeschoss des Seitenflügels eingebaut wurden. Durch sie konnten Autos in zwei Werkstatträume fahren, um dort Autoradios und Fernmeldeablagen einzubauen.

Die Bauakten überliefern, dass 1951 die Firma Küchen-Möller das Haus verließ und 1952/53 die Firmen „Roco – Rosenbach & Co. – Jugendliche Damenmäntel und Kostüme“ und die Büromaschinenfabrik Carl. E. Halbarth, vorm. Heinrich Frank Reklameschilder anbrachten, ohne vorher die notwendigen Genehmigungen einzuholen. 1954 bat die Firma „Derkoles“, Inh. Kurt Kossin, Nähmaschinen- Reparaturen und Ersatzteile, um Genehmigung eines beleuchteten Transparents an der Fassade.

Zerstörte Hochbahnstrecke in der Bülowstraße 90 am 25. Juli 1944. Zu erkennen ist, dass die sechste Etage des Vorderhauses der Bülowstraße zu diesem Zeitpunkt bereits fehlt. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0518-028 / Fotograf: Bernd Settnik / Lizenz CC- BY-SA 3.0

75 https://auto-herbst.de/de/ueberuns

41

Schreiben der Firma Auto-Herbst anlässlich der Geschäftserweiterung, 1952.

42 Quelle: Bauakte

Fassadengestaltung um 1957. Foto aus der Bauakte. Am oberen Bildrand ist noch der Abdruck der Werbeinschrift der David Grove AG erkennbar. Das bedeutet, dass die Fassade seit 1923 nicht durchgreifend erneuert wurde. Links neben dem Eingang ist das Schild des Polizeireviers im Haus erkennbar.

43 Der lange Kampf um Wiedergutmachung

1953 forderte die Berliner Senatsverwaltung für Finanzen im Schöneberger Bauamt Auskünfte darüber an, „welche Um- und Einbauten die Kriegsmarine ... während der Besitzzeit vorgenommen hat.“ Sie würden benötigt wegen des laufenden „Rückerstattungverfahrens Arams früher Abraham“.76

Dieses Verfahren dauerte sieben Jahre und ist in einer 500 Blatt starken Akte im Landesarchiv Berlin dokumentiert. Mehrere tausend Seiten füllen die Schriftsätze, die den jahrelangen Kampf Richard Abrahams und seiner Frau Alice um Rückgabe ihres gesamten entzogenen Eigentums – Häuser, Möbel, Versicherungen, Wertpapiere, Hypotheken – belegen. Wegen der Belastung des Hauses Bülowstraße 90 mit mehreren Hypotheken vertraten Ämter und Gerichte jahrelang den Standpunkt, Richard Abraham wäre aus rein wirtschaftlichen Gründen gezwungen gewesen, sich von seinen Besitzansprüchen zu trennen. Erst das höchste Berliner Gericht, das Kammergericht, machte den Weg frei für eine Übertragung der Immobilie an die Witwe von Richard Abraham, der bereits im Oktober 1951 starb.

Richard Abraham, jetzt Richard Arams, 602 West, 157th Street, New York 32, reichte im Dezember 1949 zwei Rückerstattungsansprüche bei der Treuhandverwaltung der Militärregierung, Nürnberger Straße 53-55 (Wiedergutmachungsamt) ein, vertreten durch den jüdischen Rechtsanwalt Dr. Fliess, der ihm bereits bei seiner Flucht aus Deutschland geholfen hatte. Ein Antrag bezog sich auf das Gebäude77, ein weiterer Antrag auf Hypotheken im Wert von 360.000 RM.78 Zum selben Zeitpunkt stellte Alice Frank Arams (früher Abraham, geb. Frank), 41 West 86th Street, New York 24 einen konkurrierenden Antrag auf Wiedereintragung einer Hypothek über 60.000 RM.79 Sie ließ sich durch einen anderen Rechtsanwalt – Reinhart v. Lucius, Berlin W 35, Potsdamer Straße 141 – vertreten. Offenbar lebte das Paar getrennt in verschiedenen New Yorker Wohnungen und erhob nun gleichzeitig Forderungen nach Rückerstattung von Teilen des geraubten Vermögens.80

Am 6. März 1950 lehnte die Hauptvermögensverwaltung in der Finanzabteilung des Oberbürgermeisters von Groß-Berlin (Nürnberger Straße 53/55) die Rückgabe des

76 Schreiben vom 25. August 1953 in der Bauakte. 77 Landesarchiv Berlin, B Rep. 025 (A), 515/49. 78 Landesarchiv Berlin, B Rep. 025 (A), 516/49. 79 Landesarchiv Berlin, B, Rep. 025 (A), 514/49. 80 Am 9. Dezember 1949 teilt Alice Arams der alliierten Treuhandverwaltung mit, dass sie Kenntnis erhalten habe, ihr Mann habe einen Rückerstattungsantrag betreffend das Grundstück Hohenzollerndamm 132 eingereicht: Sie sei alleinige Eigentümerin des Grundstücks und der Antrag des Ehemannes gegenstandslos (Landesarchiv Berlin B Rep. 025 (A), 577/49, Bl. 7). Dem Rechtsanwalt Fliess teilte die Ehefrau Anfang 1950 mit „dass Ihre Interessen und die ihres Ehemannes nicht mehr miteinander übereinstimmen.“ (RA Fliess an das Wiedergutmachungsamt, Schreiben vom 7. Februar 1950, Landesarchiv Berlin B Rep. 025 (A), 577/49, Bl. 9).

44 Grundstücks ab, da das Grundstück bei einem Einheitswert von 248.000 RM mit rund 600.000 RM Grundpfandrechten belastet gewesen sei.81

Richard Arams starb am 29. Oktober 1951 in New York. In einem am 7. 11. 1951 in New York eröffneten Testament setzte er seine Tochter Ann L. Benede, 18 Robbins Lane, Grest Neck, N. Y. als Alleinerbin ein. Dieses Testament wurde von seiner Frau Alice und dem Sohn Robert sofort angefochten. Am 22. November 1951 wurde vor dem Amtsgericht Charlottenburg ein gemeinschaftliches Testament vom 1. April 1926 eröffnet, in dem die Ehegatten sich gegenseitig als Erben eingesetzt hatten. Die beiden Kinder Annelotte und Robert wurden nur als Nacherben auf den Überrest berücksichtigt.82 Dieses Testament wurde anerkannt und Alice Frank Arams arbeitete fortan mit dem Anwalt ihres verstorbenen Mannes zusammen. Sie hielt sich seit 1950 mehrmals längere Zeit in Berlin auf, um ihren Ansprüchen durch persönliche Anwesenheit größeren Nachdruck zu verleihen. Sie legte Dokumente vor, die den Rechtsanwalt Fliess 1952 veranlassten, die Ansprüche auf die Immobilie Bülowstraße 90 detailliert zu begründen.

Am 9. Januar 1953 schlossen Alice Arams und die Sondervermögensverwaltung der Senatsverwaltung für Finanzen vor dem Landgericht Berlin einen Vergleich: Alice Arams verzichtete gegen eine Abfindung von 150.000 DM auf ihre Ansprüche auf das Grundstück Bülowstraße 90. Sie war bei diesem Termin anwesend. Doch am 16. Februar widerrief die Sondervermögensverwaltung den Vergleich mit Hinweis auf ein Rechtsgutachten des Bundesfinanzministeriums. Das ganze Jahr 1953 wurde ergebnislos über einen neuen Vergleich verhandelt. Anfang 1954 forderte der Anwalt von Alice Arams einen Verhandlungstermin:

„Die Antragstellerin, Frau Arams, die den begreiflichen Wunsch hatte, an den mit der Sondervermögensverwaltung geführten Verhandlungen persönlich mitzuwirken, hat sich aus diesem Grund ein volles Jahr in Berlin aufhalten müssen. Diese ganze Zeit ist, wie nach der bestehenden Lage des Verfahrens angenommen werden muss, nutzlos vertan. Die lange Dauer der Verhandlungen mit der Sondervermögensverwaltung findet ihre Erklärung im wesentlichen in der großen Arbeitslast der Behörde. Frau Arams ist nunmehr genötigt, um die Anberaumung eines möglichst nahen Verhandlungstermins zu bitten, damit sie in der Lage ist, dieser Verhandlung beizuwohnen und selbst Erklärungen abzugeben. (...) Sie muss die Rückreise nach den Vereinigten Staaten spätestens am 1. März 1954 antreten, sonst würde die Gefahr bestehen, dass ihr Pass die Gültigkeit verliert und sie dann keine Möglichkeit zur Rückkehr nach New York haben würde.“83

Tatsächlich kam es am 9. Februar 1954 zu einem neuerlichen Gerichtstermin, bei dem die Sondervermögensverwaltung sich erneut auf den Standpunkt stellte, das Grundstück sei zum Zeitpunkt der Übertragung an das Oberkommando der Marine total überschuldet und Richard Abraham deswegen ohnehin gezwungen gewesen,

81 Landesarchiv Berlin, B Rep. 025 (A), 515/49, Bl. 5. 82 Landesarchiv Berlin, B Rep. 025 (A), 515/49, Bl. 81. 83 Schreiben des Anwalts Dr. Fliess vom 6. Januar 1954, WGA Bl. 240f. – Alice Frank-Arams wohnte in dieser Zeit in der Pension Elton, Kurfürstendamm 66.

45 seine Ansprüche aufzugeben. Die 141. Zivilkammer (Wiedergutmachungskammer) des Landgerichts Berlin lehnte daher eine Rückgabe ab.

Dagegen legt Alice Frank Arams Beschwerde beim Kammergericht ein. Der 18. Zivilsenat bemängelte die Beweiswürdigung des Landgerichts und hob am 8. Mai 1956 den Beschluss des Landgerichts auf. Es stellte fest, dass ihr Mann seine Ansprüche nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen aufgegeben habe, sondern als verfolgter Jude unter Zwang gehandelt habe. Daher sei das Grundstück an die Witwe herauszugeben.

Daraufhin schloss die Senatsverwaltung für Finanzen am 3. September 1956 mit Alice Frank Arams einen Vergleich: Das Haus Bülowstraße 90 wurde ihr übergeben. Gleichzeitig wurde es mit einer Hypothek von 68.000 DM belastet, um aufgelaufene Ansprüche und Kosten abzugelten.

Antrag für die Instandsetzung der Straßenfassade, 1957, unterzeichnet von der Eigentümerin Alice Frank-Arams. Quelle: Bauakte

46 Florierendes Gewerbe: Mode, Nähmotoren und Lokale N

Alice Arams beauftragte eine neue Hausverwaltung mit der Betreuung der Immobilie84 und ließ 1957/58 die Straßen- und Hoffassaden instand setzen. Der neue Hausverwalter wurde sehr bald mit der Aufforderung der Baupolizei konfrontiert, zwei Mietparteien zu kündigen, da deren Wohnungen im 5. Stock des rechten Seitenflügels nicht genehmigt seien.85 Am 24. April 1959 beschwerte sich die Verwalterin der benachbarten Häuser Frobenstraße 24 und 25, dass loser Putz vom Giebel der Bülowstraße 90 in ihren Hof falle: „Vorsorglich mache ich Sie darauf aufmerksam, dass ich für keinen Schaden haftbar gemacht werden kann, wenn der Putz meinen Mietern auf den Kopf fällt.“

Mehrere Angestellte der Schneiderei Horst Schneider im IV. Geschoss des Seitenflügels zum 2. Hof klagten im Jahr 1956 über Übelkeit infolge einer Kohlenoxidvergiftung. Überprüfungen der Gasleitungen und Schornsteine ergaben, dass diese in Ordnung waren und lediglich die Räume unzureichend entlüftet wurden.

1957 monierte das Gewerbeaufsichtsamt die Ansiedlung einer Spritzlackiererei in Kellerräumen des Hauses, die von der Nähmotorenfabrik Erwin Schlicksupp & Bruno Schwarz betrieben wurden. Daraufhin mietete die Firma die Garage im zweiten Hof an und richtet dort einen Lackierraum ein. 1961 genehmigte das Gewerbeamt „die Einrichtung eines Zwischenmeisterbetriebs für Herren- und Damenoberbekleidung durch Herrn Hermann Waller (...), wenn der Betrieb keine Geräuschbelästigung der Nachbarn durch Nähmaschinen o. ä. verursacht und keine größeren Stoffmengen (Baumwolle, Nylon, Perlon usw.) in den Räumen gelagert werden.“86 Im selben Jahr entdeckte das Bauaufsichtsamt eine ungenehmigte Anlage zum Verbrennen von Altpapier im Keller des Quergebäudes. Der Hausverwalter stellt einen Antrag auf den Bau eines Papierverbrennungsofens, zog ihn 1962 aber wieder zurück.

Neben den Firmen Auto-Herbst und Schlicksupp nennt der Straßenteil des Berliner Stadtadressbuches von 1963 als Mieter eine Buchdruckerei, eine Strickwarenfabrikation, Firmen für Bürobedarf, Büromaschinen, Bekleidung und Kunststoffverpackung. Textilien und Mode bildeten Anfang der 1960er-Jahre einen Schwerpunkt in der gewerblichen Nutzung des Hauses, passend dazu unterhielt hier die HaDeKa (Handelszentrale Deutscher Kaufhäuser), der damals führende Textileinkaufsverband in Deutschland87, eine Niederlassung.

84 Die Verwaltung des Hauses ging von der Neue Vida AG, Kurfürstendamm 153, auf Georg Berude, Schustehrusstraße 1, über. 85 Die Mieter Günter John und Heinrich Kurt sollten ihre Wohnungen bis zum 15. 9. 1958 räumen. Der Hausverwalter Georg Berude bat um Fristverlängerung bis zum 31. 12. 1959, da er nicht vorher kündigen könne. 86 Vgl. Schreiben vom 7. April 1961 in der Bauakte. 87 https://de.wikipedia.org/wiki/Handelszentrale_Deutscher_Kaufhäuser

47 1963 eröffnete Walter Segel das Café Segel links neben der Hofeinfahrt.88 Zuvor hatte es schon ein Lokal gleichen Namens im Nachbarhaus Nr. 89 gegeben. Das Cafè Segel hatte häufig wechselnde Pächter und wurde zeitweise als Spielcasino betrieben. Außerdem gab es in den Sechzigern die Bülow-Klause im Haus, eine typische Berliner Bierkneipe.

Fassadengestaltung der Bülow-Klause, 1966. Quelle: Bauakte

Die heruntergekommene Fassade im Jahr 1987. Quelle: Bauakte (Fotokopie)

88 In der Bauakte ist eine Fotopostkarte von einem Cafe Segel mit der Adresse Bülowstraße 90 erhalten. Es ist nicht geklärt, ob es 1963 erweitert wurde oder ob es ins Nachbarhaus umzog.

48 Hubschrauber im Hof

Große Schlagzeilen machte die Bülowstraße 90 im Februar 1971: Mitarbeiter der Bauaufsicht entdeckten in einer Garage zwei Helikopter und alarmierten die Polizisten in der Dienststelle des Reviers 180 im Vorderhaus.89 Beamte der Kripo, der Politischen Polizei und zwei Offiziere der amerikanischen Besatzungsmacht rückten an. Denn der nicht genehmigte Besitz und der Herstellung von Flugapparaten in West-Berlin waren nach alliiertem Recht strafbar. Sofort kam der Verdacht auf, die Apparate sollten der Vorbereitung eines Anschlags durch die Baader-Meinhof-Bande dienen. Es handelte sich jedoch nur um die harmlosen Basteleien des 35-jährigen Tüftlers Klaus Treuter, der in der Berliner Pilotenszene bestens bekannt war. Er hatte seine Konstruktionen bereits öffentlich ausgestellt und war mit ihnen sogar unbehelligt über die Transitstrecken durch die DDR gefahren. Die Helikopter wurden beschlagnahmt und später an den Bastler zurückgegeben, der sie weiterverkaufte.

Zeitungsbericht der B. Z. über die Beschlagnahme von zwei Hubschraubern in der Bülowstraße 90. Quelle: Bauakte.

89 Berichte erschienen u. a. in der Berliner Morgenpost vom 25. und 26. Februar 1972, Der Abend vom 25. Februar 1972, B. Z. vom 26. Februar 1971

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Antrag für den Abriss der rückwärtigen Gebäude (gelb markiert), 1982. Quelle: Bauakte

50 Die Neue Heimat Berlin saniert

1967 legte eine „Arbeitsgruppe Stadtplanung“ der TU Berlin ein Konzept für die Sanierung rund um die Bülowstraße 90 vor. Es sah den Abriss der Bauten hinter dem Quergebäude und der Nachbarhäuser an der Frobenstraße vor. 1970 erwarb die gewerkschaftseigene Neue Heimat Berlin als Sanierungsträger im Auftrag des Senats das Haus Bülowstraße 90.90 Während rundum abgerissen und neu gebaut wurde, geschah dort zunächst wenig. Lediglich die Koksfeuerung für Warmwasser und Heizung wurde 1973-76 durch eine Ölheizung ersetzt.91

Im Sanierungsgebiet um die Bülowstraße wurden um das Jahr 1980 zahlreiche leer stehende Häuser besetzt, darunter das Nachbarhaus Nr. 89. Am 22. September 1981 ließ es der damalige Innensenator Heinrich Lummer räumen und gab danach im Haus eine Pressekonferenz. Demonstranten vor dem Gebäude wurden von der Polizei in Richtung Potsdamer Straße abgedrängt, dort wurde der Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay von einem Bus erfasst und starb – trauriger Höhepunkt der gewaltsamen Auseinandersetzungen um besetzte Häuser in West-Berlin.

Am 18. Dezember 1981 stellte die Neue Heimat einen Abbruchantrag für die rückwärtigen Gebäude auf dem Grundstück Bülowstraße 90. 1985 verschwanden der ehemalige Anbau für den S. Fischer Verlag und die Garagen aus den 1920er-Jahren. Die entstandene Grünfläche wurde zusammen mit der Grünfläche hinter den Neubauten an der Frobenstraße 22-25 als „Gemeinschaftsfreifläche“ ins Grundbuch eingetragen. Nach dem Ende der Abrissarbeiten wurden dann die Straßen- und Hoffassaden der Bülowstraße saniert und der Innenhof in Anlehnung an die ursprüngliche Gestaltung neu begrünt (bis 1988/89).

Im Jahr 2000 übernahm das landeseigene Wohnungsunternehmen Gewobag die Wohnungsbaugesellschaft WIR, Rechtsnachfolgerin der Neuen Heimat Berlin. Damit wurden die Bülowstraße 90 und die Nachbarhäuser Teil des Gewobag-Portfolios. Seit 2008 trägt die Tochtergesellschaft WIR den Namen Gewobag WB Wohnen in Berlin GmbH. 2013 gründete die Gewobag die gemeinnützige Stiftung Berliner Leben, an die sie die Immobilie Bülowstraße 90 übertrug92; verwaltet wird das Gebäude weiterhin von der Gewobag.

Die öffentliche Wahrnehmung des Hauses wurde von 2010 bis 2020 vor allem durch Kunstsäle Berlin bestimmt, die in einer ehemaligen Wohnung mit 360 Quadratmetern regelmäßig Gegenwartskunst zeigen. Verschiedene Künstler arbeiteten im Haus. Eine 500-Quadratmeter-Wohnung wurde unter dem Namen

90 Eintragung ins Grundbuch am 2. September 1970. Am selben Tag wird eine Grundschuld von 1. 757.376 Mio. DM, verzinslich mit 12%, auf die Bank für Gemeinwirtschaft eingetragen. Die Verwaltung des Gebäudes übernimmt die Neue Heimat erst am 1. April 1972 von der Hubertus- Grundstücksverwaltung, Inh. Heinz A. Senftleben, 1 Berlin 30, Tauentzienstraße 2/3 (lt. Schreiben an das Bauaufsichtsamt vom 24. 4. 1972). 91 Heizung und Warmwasserversorgung wurden 1984 von einer Heizzentrale in der Frobenstraße 23 übernommen. 92 https://s3.kleine-anfragen.de/ka-prod/be/18/14868.pdf

51 „The Apartement“ als Event-Location und für Fotoshootings genutzt.93 Die Präsenz schwedischer Künstler brachte dem Haus hohen Besuch: Am 25. Mai 2011 war es Teil des offiziellen Besuchsprogramms der schwedischen Kronprinzessin Victoria und ihres Ehemannes Prinz Daniel in der deutschen Hauptstadt. In der Bülowstraße 90 besuchte das Paar den schwedischen Fotografen Magnus Reed, die Designerin Mika Modiggrad und die Sängerin Fanny Risberg, die im Innenhof mit ihrer Band Tula auftrat.94

Das schwedische Thronfolgerpaar besuchte am 25. Mai 2011 die Künstler im Haus. Quelle: Gewobag-Archiv, Foto: Sabine Dobre.

93 http://www.the-apartment-berlin.de 94 https://www.bz-berlin.de/artikel-archiv/varmt-vaelkommen-prinzessin-victoria

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Bülowstraße 90, Straßenfassade, März 2019. Foto: Michael Bienert

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Treppenhaus, Mai 2019. Foto: Michael Bienert

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Ausstellung in den Kunstsälen, Mai 2019. Foto: Michael Bienert

55 Tabellarische Chronik

1862 Der Bebauungsplan für Berlin und seine Umgebung (Hobrechtplan) schreibt die Anlage eines breiten Straßenzuges im Süden der Stadt vor, des sogenannten Generalszuges. Für einen Teil wird 1864 der Name Bülowstraße festgelegt. 1872 Gründung der Actien-Gesellschaft für Bauausführungen mit Sitz in Berlin, Genthiner Straße 3. 1874 Auf dem schmalen Grundstück, das der Kurfürstenstraße 146/47 zugerechnet wird und das einer Witwe Lewald gehört, errichtet ein Zimmermeister einen Bretterschuppen und eine Wächterbude. Das Grundstück wird als Zimmerplatz genutzt. 1875 Der Zimmermeister Carl Julius Hewald tritt einen Teil des Grundstücks an die Gemeinde Alt-Schöneberg ab, um die Verbreiterung der Bülowstraße zu ermöglichen. 1882 Auf dem als Holz- und Kohlenplatz genutzten Grundstück werden ein Treibhaus und ein Keimentwicklungshaus für einen Gärtner errichtet. 1896 Die Actien-Gesellschaft für Bauausführungen erwirbt von der Witwe Lewald den schmalen Geländestreifen Bülowstraße 90/91 und erhält die Genehmigung für den Bau eines Wohnhauses nach Plänen des Architekturbüros Cremer & Wolffenstein. 1897 Im September ziehen die ersten Mieter in das Haus Bülowstraße 90/91 ein, darunter der Verlag von Samuel Fischer, für den eigens Büroräume im Quergebäude eingeplant wurden. Im Oktober 1897 wird im Haus ein elektrischer Personenaufzug in Betrieb genommen. 1902 Am 11. März wird der U-Bahnhof Bülowstraße eröffnet. 1912 Die Actien-Gesellschaft für Bauausführungen verlegt ihren Geschäftssitz von der Genthiner Straße 3 in die Bülowstraße 90. Ins Erdgeschoss ziehen das Architektur- und Zimmerei- Büro (im Quergebäude), Registratur, Kasse und Buchhalterei (im linken Seitenflügel). 1912/13 Errichtung eines fünfstöckigen Bürogebäudes im zweiten Hof für den S. Fischer Verlag. 1907-1911 Die Malerin Julie Wolfthorn wohnt im Haus und unterrichtet Malschülerinnen in ihrem Atelier. 1922 6. November: Unterzeichnung eines Gesellschaftsvertrages für die Bülowstraße 90 Grundstücksverwertungs- Aktiengesellschaft. 1923 Die Sanitärfirma David Grove AG verlegt ihren Firmensitz in das Haus. Dafür werden das Vorderhaus und ein Seitenflügel um eine Büroetage mit flacherem Dach aufgestockt.

56 1926 Umbau des Dachgeschosses im Auftrag der Bülowstraße 90 Grundstücksverwertungs-AG durch die Architekten Max Israel und Günther Friedmann, Büro für Architektur und Bauleitung, Akazienstraße 31. 1926 Der Architekt Richard Abraham übernimmt alle Aktien der Grundstücksverwertungs-AG und Hypotheken über 360.000 RM. Er plant in den folgenden Jahren die Teilung großer Wohnungen und den Bau einer Autogarage im zweiten Hof. Ein Antrag des Architekten zum Ausbau von Dachräumen im rechten Seitenflügel zu Büroräumen wird abgelehnt. 1927 Die Bilanz der Grundstücksverwertungs-AG weist einen Verlust von 19.175,52 RM aus. Auch von 1929 bis 1938 schreibt sie rote Zahlen. 1928/29 Die Bekleidungsfirma Hemdenmatz verlegt Ende 1928 ihre Zentrale aus der Lutherstraße 16 in die Bülowstraße 90. 1931 Die Motorradfirma Reuter & Borchert verlegt ihr Geschäft zum 1. Oktober 1931 in die Bülowstraße 90 und bringt eine Werbung für „AJS Motorräder“ über dem Schaufenster an. Die Baupolizei genehmigt den Bau einer Shell- Benzinzapfsäule auf dem ersten Hof. 1932 26. Oktober: Wegen Zahlungsunfähigkeit wird ein Konkursverfahren gegen die Firma Wenk & Franke („Alles für Opel“) eingeleitet. Das Unternehmen existiert jedoch weiter und gibt im Juli 1933 eine OPEL-Lichtreklame in Auftrag. 1930-35 Der jüdische Architekt Richard Abraham erscheint als Eigentümer bzw. Verwalter des Hauses in den Berliner Adressbüchern, obwohl er 1931 angibt „weder Besitzer noch verantwortlicher Vertreter für das Grundstück“ zu sein. 1933 16. Januar: Die Firma Hemdenmatz stellt den Antrag auf die Anbringung einer Lichtreklame in der Mitte der Straßenfassade. 1933 Wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten leitet die Nordstern- Lebensversicherungsbank AG als Gläubigerin eine Zwangsversteigerung des Hauses ein und bestellt einen Zwangsverwalter. Das Verfahren wird 1935 eingestellt. 1934 11. Juli 1934: Im Rahmen eines Gläubigerabkommens wird die Verwaltung des Grundstücks auf den Prokuristen Paul Beihl vom Bankhaus Bett, Simon & Co. übertragen.

57 1936 21. Januar: Richard Abraham, der jüdische Vorstand der Grundstücksverwertungs-AG, wird durch Paul Beihl ersetzt. Am 28./29. Februar schließt das Oberkommando einen Mietvertrag mit Beihl. 1936 2. April: Nach einer Kündigung durch den Hausverwalter verlässt der S. Fischer Verlag das Haus und zieht in die Lützowstraße 89/90. „Im Auftrage und auf Veranlassung des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine, Berlin W. 35, Tirpitzufer 72/76“ wird im Frühjahr mit den Planungen für ein Verbindung zwischen Quergebäude und dem ehemaligen Gebäude des S. Fischer Verlags begonnen. Eröffnung eines Geschäfts für gebrauchte Automobile durch die Firma Rudolf Goedel. 1937 9. Juli 1937: Richard Abraham wird verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, weil er gegen Devisenbestimmung verstoßen haben soll. 1938 2. Februar 1938: Auf Antrag des Bankhauses Bett, Simon & Co. wird erneut ein Zwangsversteigerungsverfahren eingeleitet. Es kommt am 10. Juni 1938 zu einem Zwangsversteigerungstermin, gegen den Richard Abraham als Alleinaktionär der Eigentümergesellschaft protestiert. Es findet sich jedoch kein Bieter, da das Reichsmarineamt rund 200 Räume im Haus nutzt. 1938 4. August 1938: Die 4. Strafkammer des Landgerichts Berlin verurteilt Richard Abraham, der Gelder an seine nach Prag emigrierte Frau und Kinder überwiesen hat, „wegen fortgesetzten Devisenvergehens in drei Fällen in Tateinheit mit Bannbruch zu einer Gesamtstrafe von 3 Jahren Zuchthaus und zu Geldstrafen von 1.000,-- RM, 10.000,-- RM und 20.000,-- RM.“ Im Zuchthaus Brandenburg wird er genötigt, alle Ansprüche auf die Immobilie Bülowstraße 90 abzutreten. 1939 14. Februar: Vor einem Notar erklärt der Kaufmann Paul Beihl aus Berlin W. 8., Mohrenstraße 10, als alleinvertretungsberechtigter Vorstand der Bülowstraße 90 Grundstücksverwertungs-Aktiengesellschaft, den Verzicht auf das Grundstück zugunsten der Preußischen Bau- und Finanzdirektion. Am 23. Dezember 1939 tritt der Preußische Staat das durch den Verzicht herrenlos gewordene Grundstück an den Reichsfiskus ab.

58 1940 15. Januar: Das Oberkommando der Kriegsmarine wird als neuer Besitzer des Hauses ins Grundbuch eingetragen. 18. Januar: Die Bülowstraße 90 Grundstücksverwertungs- Aktiengesellschaft beschließt ihre Auflösung, am 16. Juni 1941 wird sie aus dem Handelsregister gelöscht. 1941 Richard Abraham wird aus dem Zuchthaus entlassen und gegen Zahlung von 50.000 RM auf freien Fuß gesetzt. Im August verlässt er Berlin und emigriert in die USA. Das gesamte Vermögen Abrahams und seiner Frau beschlagnahmt die Gestapo. 1945 Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Haus nur leicht beschädigt und zum größten Teil bewohnbar. 1947 Im Juni 1947 übernimmt die Treuhandverwaltung der Amerikanischen, Britischen und Französischen Militärregierung für zwangsübertragene Vermögen mit Sitz in der Nürnberger Straße 53-55 die Kontrolle über das Haus. Verwaltet wird es von der Neue Vida Hausverwaltungsgesellschaft m. b. H., Kurfürstendamm 190/192. 1948 In der zweiten Jahreshälfte werden Kriegsschäden am Haus beseitigt. Räume in der 4. Etage des Vorderhauses und in der 3. und 4. Etage des Gartenhauses bleiben noch bis Mitte der 1950er Jahre unbenutzbar. Walter Herbst eröffnet ein Geschäft für Autozubehör. Bis in die 1980er-Jahre prägt die Firma das Erscheinungsbild des Hauses. 1949 Richard Abraham stellt am 9. Dezember 1949 einen ersten Wiedergutmachungsanspruch bei der Treuhandverwaltung der Militärregierung, Nürnberger Straße 53-55. 1949 Richard Arams meldet einen Rückerstattungsanspruch auf Grundlage der Anordnung BK/O 49 180 der Alliierten Kommandantur vom 26. 7. 1949 an, der am 4. Januar 1950 ins Grundbuch eingetragen wird. 1951 29. Oktober: Richard Arams stirbt in New York.

59 1953 9. Januar: Alice Arams und die Sondervermögensverwaltung der Senatsverwaltung für Finanzen schließen vor dem Landgericht einen Vergleich: Alice Arams verzichtet gegen eine Abfindung von 150.000 DM auf ihre Ansprüche auf das Grundstück Bülowstraße 90. Am 16. Februar widerruft die Sondervermögensverwaltung den Vergleich mit Hinweis auf ein Rechtsgutachten des Bundesfinanzministeriums. Das ganze Jahr 1953 wird ergebnislos über einen neuen Vergleich verhandelt. 1954 9. Februar: Die 141. Zivilkammer (Wiedergutmachungskammer) des Landgerichts Berlin lehnt eine Rückgabe des Grundstücks wegen der Überschuldung in den 1930er Jahren ab. 1956 8. Mai: Der 18. Zivilsenat des Kammergerichts hebt den Beschluss des Landgerichts auf und verweist den Fall an das Landgericht zurück. 1956 3. September: Die Senatsverwaltung für Finanzen schließt mit Alice Frank Arams einen Vergleich, wonach das Haus Bülowstraße 90 rückerstattet wird. 1956/57 Die Verwaltung des Hauses geht von der Neue Vida AG, Kurfürstendamm 153, auf Georg Berude, Schustehrusstraße 1, über. 1957 16. August: Die Baupolizei genehmigt eine Außenreklame des Antragstellers Berliner Verein auf Gegenseitigkeit e. V. (Kranken- und Sterbegeldversicherung). 1957/1958 Instandsetzung der Straßenfassade, genehmigt am 9. August 1957. Instandsetzung der Hoffassaden und Dachreparatur. 1958 Bei einer baupolizeilichen Besichtigung wird festgestellt, dass sich im 5. Stock des rechten Seitengebäudes zwei Wohnungen befinden, die weder geeignet noch baupolizeilich genehmigt sind. Die Mieter sollen sie bis zum 15. 9. 1958 räumen. Der Hausverwalter Georg Berude bittet um Fristverlängerung bis zum 31. 12. 1959, da er nicht vorher kündigen könne. 1958 Die Nähmotorenfabrik Erwin Schlicksupp und Bruno Schwarz richtet in einer Garage im 2. Hof eine Spritzlackiererei ein. 1961 Das Gewerbeamt genehmigt „die Einrichtung eines Zwischenmeisterbetriebs für Herren- und Damenoberbekleidung“. Das Bauaufsichtsamt entdeckt eine ungenehmigte Anlage zum Verbrennen von Altpapier im Keller des Quergebäudes. 1962 Erste Erwähnung der „Bülow-Klause“ in der Bauakte. 1963 Neuer Eintrag ins Grundbuch am 7. März 1963: Bisheriger Eigentümer: Alice Arams, geborene Frank, New York, 27 West, 72nd Street, Apartment 1607 Neuer Eigentümer: Ingenieur Frank R. Arams, New York., 98- 25 64th Road, Apt. 2 H, Forest Hill 74.

60 1963 Eröffnung des Café Segel und Genehmigung eines Spielcasinos in der Bülowstraße 90. 1964 Anbringung von zwei Zigarettenautomaten und einer Coca- Cola-Werbung an der Straßenfassade. Die Hofkellerdecke wird wegen Baufälligkeit für das Befahren mit Fahrzeugen gesperrt und von der Firma Torkret bis zum 27. Oktober 1964 instand gesetzt. Herr Fajel Kogan zeigt zum 8. April 1964 den Beginn der Fabrikation von Strickwaren und Lederbekleidung im Haus an. 1965 Die Strickwarenfabrikation Thomä & Co. beantragt die Aufstellung eines Öldampferzeugers in den Kellerräumen. 1968 errichtet sie eine Dampfkesselanlage im zweiten Hof. 1968 Die Firma „Design und Produktion in Kunststoff“ übernimmt im September 1968 die Räume der Firma Wanka, Polstereibetrieb, im 2. Stock des Quergebäudes. 1970 Das Haus geht ins Eigentum der Neuen Heimat Berlin über, die als Sanierungsträger um die Bülowstraße tätig wird. Endgültig übernimmt sie die Verwaltung der Immobilie erst zum 1. April 1972. 1971 Auszug der Firma Karl Heinz Gutsche, Optische Feinwerkstätten. Die seit 1970 ansässige Firma Astra Leuchten nimmt 1971 die Produktion von Lampenschirmen aus Holz im Gebäude auf, zieht aber Ende 1972 wieder aus, da keine Räume für die Ausdehnung der Produktion auf Kunststoffleuchten zur Verfügung stehen. 1973 Anmietung von 420qm Gewerberäumen zum Betrieb eines Entwicklungsbüros und Studios im Quergebäude, 2. OG. 1975 beantragt der Mieter die Nutzung als Wohnraum, den er vermieten will. Die Durchsicht der Hausakten ergibt, dass eine gewerbliche Nutzung gar nicht genehmigt war. 1973 Umstellung der Warmwasser-Kesselanlage von Koks- auf Leichtölfeuerung 1976 Umstellung der Heizungsanlage von Koks- auf Ölfeuerung. Die Anlage befindet sich im ehemaligen S.-Fischer-Anbau im 2. Hof. 1981 22. September: Der Berliner Innensenator Heinrich Lummer lässt das besetzte Nachbarhaus Nr. 89 von der Polizei räumen und hält dort anschließend eine Pressekonferenz ab. Bei Rangeleien vor dem Haus wird der Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay von einem Bus erfasst und kommt ums Leben. 1984 Abriss der Tankanlage für die Ölfeuerung. Die Warmwasserversorgung wird von der Heizzentrale in der Frobenstraße 23 übernommen. 1985 Abriss des Verlagsanbaus und der Garagen im 2. Hof 1986 Am 14. November finden Lärmmessungen im Haus statt, nachdem sich Mieter über Lärmbelastung durch ein Fotostudio im 4. OG beschwert haben.

61 1987 Neugestaltung der Straßenfassade 1988/89 Neugestaltung der Grünanlage im 1. Hof 1989 Bau eines neuen Triebwerkraums für den Aufzug. Ende des Jahres zieht die Firma Oertel Schlafkonzept in das ehemalige Ladengeschäft von Auto Herbst. 1992 Einrichtung eines Zahntechniklabors im linken hinteren Seitenflügel 1995 Einrichtung einer Zahnarztpraxis im 3. Obergeschoss des Vorderhauses. 1996 Die GWA Gesellschaft für Wissenschaftsaustausch nutzt einen Büroraum im 1. OG rechts als Schulungsraum. 2000 Die Nachfolgegesellschaft der Neuen Heimat Berlin wird Teil des Gewobag-Verbundes, das Haus Bülowstraße 90 damit Eigentum des Gewobag-Konzerns. 2002 Die Firma Caretta Computer GmbH bezieht das ehemalige Ladengeschäft von Auto Herbst. 2004 Turnusmäßige Instandsetzung der Straßenfassade 2010 Eröffnung der Kunstsäle Berlin 2011 Enthüllung einer Gedenktafel für S. Fischer und seinen Verlag. Die schwedische Kronprinzessin besucht den Fotografen Magnus Reed und die Designerin Mika Modiggrad im Haus. 2013 Gründung der Stiftung Berliner Leben, fortan Eigentümerin des Hauses. 2019 25. Mai: Erster Infotag der Gewobag zum Projekt in der Bülowstraße 90. 2020 Eröffnung neuer Veranstaltungsräume im umgebauten Erdgeschoss durch die Gewobag. 10. September bis 31. Oktober: Letzte Ausstellung der Kunstsäle unter dem Titel „Freitod“.

62 Diese Dokumentation wurde im Auftrag der Gewobag erstellt von

Michael Bienert Uhlandstraße 13 13156 Berlin www.text-der-stadt.de

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