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Sendung vom 30.07.1999

Freya Klier Schriftstellerin und Regisseurin im Gespräch mit Corinna Benning

Benning: Grüß Gott, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie herzlich bei Alpha- Forum. Unser heutiger Gast ist Freya Klier, engagierte Bürgerrechtlerin, Schriftstellerin, Regisseurin und Mitbegründerin der DDR- Friedensbewegung. Herzlich willkommen, Frau Klier. Klier: Hallo. Benning: Frau Klier, Ihre Biographie umspannt eigentlich zwei Leben: ein ost- und ein westdeutsches, und das ist ein Schicksal, das so nur in einem geteilten Land denkbar ist. Sie sind 1950 in geboren und übten Schauspiel- und Regietätigkeiten in Dresden, und Ostberlin aus. 1985 erhielten Sie Berufsverbot, 1988 wurden Sie verhaftet und aus der DDR ausgebürgert. Seither sind Sie freischaffende Autorin und Regisseurin in Westberlin. Sehen Sie sich in einer gewissen Weise als Opfer der deutschen Geschichte? Klier: Das würde ich nun überhaupt nicht sagen. Wenn Sie mich jetzt gefragt hätten, ob ich mich mehr als Ostdeutsche fühle, dann hätte ich ja gesagt, weil ich ja 38 Jahre dort gelebt habe. Ich sehe mich überhaupt nicht als Opfer. Ich habe zwar sehr schlimme Dinge erlebt, u. a. auch einen Mordanschlag und auch sehr viele Gefängnisaufenthalte in unserer Familie. Denn ich selbst war zweimal im Gefängnis, und mein Vater und mein Bruder waren ebenfalls im Gefängnis. Aber dennoch ist es so, dass ich eher kraftvoll aus dieser Zeit herausgegangen bin und nun meine Kraft auch für diejenigen einsetzen kann, die nun wirklich Opfer sind: die zwar nicht tot sind, aber die seelisch so zerstört sind, dass sich jemand für ihre Interessen und Nöte einsetzen muß. Benning: Vor zehn Jahren, anläßlich des 40. Jahrestages der Bundesrepublik, haben Sie geschrieben: "Mein deutsches Gefühl hält sich in Grenzen. Das mag daran liegen, dass ich zur Zeit des Mauerbaus noch Thälmann-Pionier war, vielleicht aber auch daran, dass ich einen italienischen Großvater habe. Die deutsche Frage beschäftigt mich aber außerordentlich." Sie haben sich selbst als ein Kind der Aufbauzeit bezeichnet: Wie haben Sie diese Kindheit "unter einem geteilten Himmel", um mit Christa Wolf zu sprechen, erlebt? Klier: Ich habe sie ja nicht als geteilten Himmel erlebt. Statt dessen ist es so, dass dann, wenn wir über Deutsch-Deutsches reden, meiner Meinung nach viel zu sehr vergessen wird, dass da eine bestimmte Generation eine enorme, sogar eine entscheidende Rolle spielt: Denn wiedervereinigt haben sich im Prinzip ja nur die Alten, also diejenigen, die als Generation noch selbst ein vollständiges Deutschland erlebt haben. Ich selbst bin Jahrgang 1950 und in Dresden aufgewachsen, also im Tal der Ahnungslosen: Das heißt, ich wußte schon, dass es ein anderes Deutschland gibt, aber wir hatten dort keine Verwandten oder irgendeine andere Beziehung, die irgendwie dazu beigetragen hätte, mich neugierig zu machen auf oder mich aufzuklären über die gesamtdeutsche Geschichte. Mein Vater galt als Staatsfeind: Er ist, wie gesagt, auch im Gefängnis gewesen – und hörte heimlich den "Deutschlandfunk". Das war, wie es bei uns hieß, der "Hetzsender der Bonner Ultras". Ich wiederum war das schiere Produkt der schulischen Erziehung. Das heißt, ich war ein stolzer, strammer Pionier. Wenn mein Vater diese "Bonner Ultras" hörte oder meinen verehrten Walter Ulbricht beschimpfte, dann habe ich mich mit der Pionierzeitung daneben gesetzt – solange, bis ich ein paar Ohrfeigen bekommen habe, weil es meinem Vater irgendwann reichte. Das war ein Widerstand meinerseits gegen das Ewiggestrige – wozu eben auch mein Vater gehörte. In Gegenwart von Kindern wurde ansonsten ja auch nicht über Politik gesprochen. Benning: 1990 haben Sie unter dem provozierenden Titel "Lüg Vaterland" die Erziehung in der DDR analysiert. Das war, wie Sie konstatierten, eine Erziehung, die von Biedermeier und Stalin und von einer treuherzigen, schlichten und kleinbürgerlichen Geisteshaltung geprägt war. Inwieweit hat Sie diese Erziehung selbst geprägt, und inwieweit konnten Sie sich selbst davon bereits befreien? Klier: Die Frage ist durchaus berechtigt. Ich habe in diesem Buch ja versucht zu beschreiben, was diese 40 Jahre dabei bedeutet haben. Man muß diese Zeitspanne schon mitbedenken, denn es hat dabei sehr unterschiedliche Generationen und auch unterschiedliche Versuche gegeben. Am Anfang gab es ja auch noch durchaus glaubwürdige Lehrerbildner. Das war ganz am Anfang der DDR, als man noch nicht wußte, dass man endgültig in Stalins Gewalt und damit nur ein sowjetischer Vasallenstaat ist. Das heißt, die Leute rangen damals noch um Demokratie. Die ersten Lehrerbildner waren auch schon in der Weimarer Zeit Lehrer und hatten dann im Anschluß daran in der Nazizeit Berufsverbot. Das war also auch noch ein völlig anderer Menschenschlag. Zu Beginn der fünfziger Jahre wurden sie aber frühzeitig kaltgestellt. Es wurde dann von der SED ein eigener Apparat von Schulfunktionären aufgebaut, der im Lauf der Zeit immer stärker bestimmend wurde. Ich war als Kind von drei Jahren bereits in einem Kindergarten der Staatssicherheit: Das war eine sehr furchtbare Zeit für mich, denn ich wußte nicht, warum ich da hin mußte. Ich mußte z. B. mit meinen drei Jahren mit dem Gesicht zur Wand stehen und darüber nachdenken, warum mein Vater ein Staatsfeind ist. Von solchen Drangsalierungen bleibt nur übrig, dass man sich ausgestoßen fühlt, denn solche Dinge wie "Staatsfeind" versteht man ja als Kind nicht. Das heißt, ich wollte dann dazugehören: Das hat mich sehr lange geprägt. Ich wollte bei den Pionieren sein, ich wollte nie mehr draußen in der Ecke stehen. Ich bin dann eigentlich erst durch eigene Erfahrungen in der Jugend so richtig wach geworden. Denn wenn man ein Kind ist und es nur darum geht, alten Leuten zu helfen und Flaschen zu sammeln usw., dann ist das ja auch mit meinen christlichen Werten identisch gewesen und dann habe ich das auch gerne gemacht. Das Problem fängt aber bei der Ehrlichkeit an, denn wenn man ein Jugendlicher ist, ist man besonders bedürftig nach Ehrlichkeit. Da spürt man dann gerade in politischen Fragen diese ganze Verlogenheit und diese Ungerechtigkeiten: Wer wird ausgestoßen? Wer wird bevorzugt? Wer ist stromlinienförmig und darf dadurch aufsteigen usw.? Ab da ging es dann bei mir los – ohne dass ich genau hätte analysieren können, welche verschiedenen Schichtungen da in diesem Staat eigentlich zusammenkamen. Statt dessen geschah das rein emotional aus der empirischen Erfahrung heraus. Benning: Sie sagen, dass Ihnen die größte Schwierigkeit die Anpassung gemacht hat, dass Sie ein freiheitsliebender Mensch sind, der das, was von ihm verlangt wurde, genau nicht machen konnte: sich anzupassen und sich selbst als Duckmäuser zu identifizieren. Klier: Ich muß sagen, dass kann ich überhaupt nicht, und ich gehöre auch zu den Leuten, die meinen, dass die Menschen auch unterschiedliche Veranlagungen haben. Es gibt ja auch andere Diktaturen: Solche Mentalitäten oder Naturen wie ich haben es da wahrscheinlich immer schwer und überleben härtere Diktaturen normalerweise auch nicht. Insofern hatte ich mit der DDR noch Glück, dass ich es doch irgendwie geschafft habe, ohne mich zu verbiegen. Ausgelöst durch diese hohe Gefängnisstrafe für meinen Bruder und seine Freunde, die im Prinzip für den Besitz von Beatles-Texten vergeben wurde, habe ich einen solchen Schock bekommen, dass ich von da an nicht mehr bereit war, etwas hinzunehmen. Das heißt, ich bin nicht auf Konfrontation gegen das System als solches gegangen, sondern gegenüber dem, was ich erlebt habe, was ich gesehen habe. Über lange Zeit, über viele Jahre, blieb das so. Dazu kommt – und das gilt für uns alle –, dass wir durch diese sehr straffe und strenge schulische Erziehung alle einer Art Gehirnwäsche ausgesetzt gewesen sind, die sehr stark war. Man muß sich dessen zuerst einmal bewußt werden, um das überhaupt abstreifen zu können: Viele haben das im Osten bis heute nicht gemacht. Ich habe durch die Geheimbefragungen von Frauen und von Jugendlichen, die ich gemacht habe, Wissen zusammengetragen für dieses Buch "Lüg Vaterland", dessen erste Fassung ich ja noch in der DDR geschrieben habe und die dann bei meiner Verhaftung beschlagnahmt wurde. Ich bin dadurch immer weiter hineinkommen: Das Ganze war in der DDR so eingeteilt, dass eigentlich kein Bereich vom anderen Informationen besessen hat. Die wirklichen Informationen gab es nur oben: in der Synthesis, bei der Staatssicherheit. Es gab aber Leute, die mir ganz einfach anonym zugearbeitet haben. Ich habe dann gemerkt, dass ich dadurch erst eigentlich anfange zu denken: Ich habe richtig gespürt, wie ich anfange zu denken und eben nicht mehr das denke, was ich hier an der Basis denken soll, sondern dass ich von draußen draufschauen kann. Das ist also ein langer Prozeß, in dem man das abstreifen muß. Ich habe in meiner DDR-Zeit gar niemanden erlebt, der das bis zum Ende der DDR gekonnt hat: Das ist eine mühselige Arbeit, zu der man "draußen" sein muß, lesen können muß usw. Benning: In Ihrem Buch "Lüg Vaterland" lautet ein Schlüsselsatz: "Der Drill zu Gehorsam, Selbstaufgabe und Denunziantentum läuft ausschließlich über die Vermittlung der höchsten kommunistischen Ideale, mit denen sich das Kind, der Heranwachsende, leidenschaftlich identifizieren kann." Würden Sie soweit gehen zu sagen, dass 40 Jahre DDR-Bildungspolitik auch 40 Jahre Mißbrauch und Manipulation von Jugendlichen waren und kommunistische Ideale im Grunde genommen nur Lug und Trug? Klier: Mit den Idealen ist das so eine Sache. Aber ich denke, dass es nirgendwo so eine fehlende Deckungsgleichheit zwischen Propaganda und Realität gegeben hat wie in den sogenannten sozialistischen Staaten. Ich will dabei noch gar nicht sagen, ob ich den Sozialismus gut oder schlecht finde. Ich halte ihn, nebenbei gesagt, nicht für gut. Dennoch war es ganz einfach so, dass dieser Sozialismus ja nicht stattgefunden hat. Das macht das Problem doppelt kompliziert. Wenn wir über Kapitalismus reden, dann streiten wir uns vielleicht darüber, welche Form er angenommen hat: Wie hart er ist oder ob es eine soziale Marktwirtschaft gibt usw. Aber wenn ein Gesellschaftssystem behauptet wird, das gar nicht vorhanden ist, dann heißt das für die Bildung und die Erziehung, dass die Kinder ständig über eine Chimäre sprechen müssen. Man wächst also in der Schizophrenie auf, ständig etwas zu beschreiben, was nicht da ist. Das sind, wie gesagt, noch nicht einmal moralische Kategorien, denn all das, worüber gesprochen wurde, fand ja nicht statt. Das heißt, es ging darum, sich auf Deckungsgleichheit zu bringen in solchen Fragen und die jeweilig wechselnden Phrasen, die ja vorgegeben wurden, zu bedienen. Bei Kindern ist das so, dass man das dann ganz einfach auswendig lernt: Das geht z. B. über bestimmte Lieder oder Vokabeln, damit sich das auch ins Gehirn einschleift. Die Brüche kommen dann erst später. Im Prinzip lag aber über diesem gesamten Erziehungswesen dieselbe Grundlüge wie die, auf die der Staat aufgebaut war. Das heißt aber nicht, dass nicht einzelne Lehrer, einzelne Pädagogen, bemüht waren, kindgerecht oder pädagogisch so zu arbeiten, dass die Kinder nicht kaputt gemacht werden. Es gab da ein Gefälle wie überall, aber das Grundmuster bestand schon darin: "Ordne dich unter! Passe dich an! Wir sitzen gerade, schauen nach vorne und schreiben die Inhalte auf, die uns gesagt werden!" Das wirkte sehr lange nach. Im letzten Jahrzehnt der DDR war das dann allerdings ein klein wenig unverkrampfter. Ich will vielleicht noch eines erwähnen: In der DDR war ja das Wort "Individuum" eigentlich gestrichen worden. Ich denke, dass das so ein Zeichen dafür ist: Wir waren alle Rädchen eines großen Kollektivs, in das wir uns einzufügen hatten. Das Individuum wurde erst in dem Moment wieder hervorgekramt, als man aus wirtschaftlichen und technologischen Gründen wieder Talente brauchte. In den späten siebziger Jahren kam dann erst wieder die Psychologie auf oder die Frage, was meinetwegen ein Mathematiktalent sei. Plötzlich galt dann in einem gewissen Maß auch die Individualität etwas. Sie wurde neu eingeführt, als würde sie aus einer anderen Welt stammen. So ein pragmatischer Umgang damit ist natürlich nicht dazu angetan, Glaubwürdigkeit herzustellen. Benning: Ihr Buch "Lüg Vaterland" haben Sie Ihrem Bruder gewidmet, der wie Ihr Vater Opfer der Staatssicherheit in der DDR geworden war. In diesem Buch hat mich die Szene besonders berührt, in der Sie beschreiben, wie Sie in einem Kinderheim, während die anderen Kinder schliefen, auf dem Gang mit dem Gesicht zur Ecke gewandt stehen und Sie darüber nachdenken mußten, wie es gekommen war, dass Ihr Vater zum Staatsfeind wurde. Fühlten Sie sich als Kind ausgegrenzt? Fühlten Sie diese Ausgrenzung durch die Machthaber aufgrund dessen, dass Ihr Vater eine andere politische Ansicht vertreten hat? Klier: Das wußte ich ja gar nicht. Meine Eltern sind ja nicht etwa aus politischen Gründen verhaftet worden. Statt dessen sind sie als junge Leute mit 22, 23 Jahren zum Tanzen gefahren und dazu bei einer vollen Straßenbahn draußen auf dem Trittbrett gestanden: Sie hatten sich fürs Tanzen schön gemacht. Plötzlich kam da ein anderer junger Kerl daher und zieht meine Mutter rüde runter, so dass sie aufs Pflaster fällt. Mein Vater, der, wie gesagt, einen italienischen Vater hat und etwas temperamentvoll ist, sieht diesen Kerl an und drückt ihm ein paar 'rein, so dass auch er herunter kullert. Das war der ganze Vorgang: niemand war wirklich verletzt worden. Für diese Geschichte kam mein Vater ein Jahr ins Gefängnis, weil der andere ein Polizist war: Er trug eine Uniform, und mein Vater hatte sich damit an der Staatsmacht vergriffen. Die Menschen, die drum herum gestanden waren, haben noch beschrieben, was sie gesehen haben. Es gab dann aber einen Gerichtsprozeß, in dem von denen niemand mehr dabei war. In einer ganz typischen Methode hatte man es so gemacht, dass irgendein anderer, den noch nie jemand gesehen hatte, gesagt hat, er wäre dabei gewesen und er könne dieses und jenes bezeugen. So ist das gelaufen: Das war ein Abschreckungsurteil. Das wußten wir als Kinder aber nicht. Meine Mutter hat mir immer gesagt: "Vati ist im Krankenhaus." Deswegen mußten wir für ein Jahr in dieses Wochenheim. Es handelte sich also in meinem Bewußtsein immer nur um ein Krankenhaus. Meine Mutter sagte mir auch noch, dass er so schwer krank sei, dass wir ihn auch am Sonntag nicht besuchen könnten. Dieses Mit-dem-Gesicht-zur-Wand- Stehen: Das betraf eigentlich alle Kinder dort, sie standen nur nicht alle gleichzeitig da auf dem Gang. Ich kann mich wirklich daran erinnern, dass auch andere Kinder so dastehen und über das Gleiche nachdenken mußten. Benning: Sie haben einmal geschrieben: "Wir kleben lebenslänglich an diesem Land und an seiner Geschichte." Das klingt ein wenig nach lebenslänglichem Gefängnis – und gegen Ende der sechziger Jahre konnten Sie dieses Gefühl des Eingesperrtseins nicht mehr ertragen: Sie wurden der versuchten angeklagt und zu 16 Monaten Jugendhaft verurteilt. Was ging in Ihnen vor, als Sie dieses Urteil hörten? Klier: Ich hatte eigentlich nur den Gedanken: "Gott sei Dank hast du nur so wenig bekommen." Denn das Normalmaß für Republikflucht betrug drei Jahre. Ich war während der Flucht geschnappt worden und empfand die Strafe als relativ gering. Ich war eigentlich richtig froh darüber. Von der Strafe hatte ich ja auch schon ein gutes Stück abgesessen: Denn das Ganze hatte mit Schweden zu tun gehabt und verursachte richtige diplomatische Verwicklungen. Ich hatte also bei der Urteilsverkündigung das Schlimmste eigentlich schon hinter mir, nämlich die ersten Wochen in völliger Isolationshaft. Ich muß das hier an dieser Stelle einmal sagen: Das ist nicht zu vergleichen mit dem, was hier von der RAF als Isolationshaft bezeichnet worden war, denn die hatten da ja sogar noch einen Plattenspieler und weitere solche schönen Dingen mit dabei. Bei uns war das ein leerer Raum, in dem wirklich nichts war. Es gab keinen Blick nach draußen, und man bekam auch keinen Stift zur Hand: Es gab nichts, wirklich nichts. Das war wirklich eine Art von Psychoterror, bei dem man eingeht, wenn man nichts mehr hat. Ich war mit Prostituierten zusammen eingesperrt: Ich hatte bis dahin überhaupt nicht gewußt, dass es in der DDR so etwas gab. Das waren also Lebenserfahrungen, die ich, wie ich meine, erstaunlicherweise ganz gut verarbeitet habe. Ich bin da nicht eingegangen, sondern ich habe mir nach der ersten Zeit selbst Programme entwickelt, um meine eigene Phantasie freizusetzen in dieser Einzelhaft. Die Prostituierten haben sich zunächst einmal mehr um meine Jungfernschaft gestritten: Wer bekommt sie? Denn so etwas findet ja auch unter Frauen statt. Nachdem ich das dann irgendwie hinter mir hatte und immer noch Jungfrau war, war es so, daß ich ziemlich rabiat zugelangt habe und praktisch zu deren Seelsorger geworden bin. Ich stellte fest, dass das eigentlich auch ganz arme Schweine sind. Ihre Kinder waren im Heim, und meistens waren das auch Frauen, die selbst schon so aufgewachsen waren: Sie stammten aus Alkoholikerfamilien, ihre Kinder stammten oft von den Kerlen der Mutter, oder sie waren vom eigenen Vater vergewaltigt worden. Ich war der erste Mensch für die, der ihnen überhaupt einmal zuhörte. Diese Frauen habe ich dann anschließend nach meiner Entlassung zum Teil auch noch weiter betreut. Obwohl so ein DDR-Gefängnis wirklich furchtbar war, habe ich das für mich selbst einigermaßen gut hinbekommen. Das letzte halbe Jahr wurde dann auch noch zur Bewährung ausgesetzt. Benning: Als Sie aus dem Gefängnis freikamen, versuchten Sie sich ja in verschiedenen Berufen: u. a. als Postangestellte oder als Kellnerin und auch als Disponentin an einem Dresdner Puppentheater. Sie schnupperten dabei Theaterluft und kamen dadurch zum Schauspiel und zur Theaterregie. Was faszinierte Sie so sehr am Theater? Mir ist folgender Satz von Ihnen in Erinnerung: "Das Theater in der DDR war immer etwas Besonderes, es hatte immer doppelten Boden." War es diese künstlerische Freiheit, die es sonst nirgendwo gab, die Sie so fasziniert hat? Klier: Als erstes muß ich dazusagen, dass ich das Theater lange vorher schon kennengelernt habe. Ich war lange am Jugendtheater, und ich hatte auch schon begonnen, in Leipzig Schauspiel zu studieren, als ich die Flucht gewagt hatte. Diese Flucht hing, wie gesagt, mit der Verhaftung meines Bruders zusammen und mit der Tatsache, dass er vier Jahre Gefängnis bekommen hatte. Ich war die einzige – und das muß man wohl auch noch einmal betonen –, die ich sozusagen je getroffen habe, der es erlaubt war, nach so einer Geschichte noch einmal ein Studium aufzunehmen. Das hing damit zusammen, dass wir an der Theaterhochschule eine Parteisekretärin hatten, die wirklich noch zum alten Stamm gehörte. Das war eine Frau, die in der Nazizeit Widerstand geleistet hatte und die am Anfang wohl wirklich geglaubt hat, dass man aus diesem "Laden" etwas Humanistisches machen könnte. Inzwischen war diese Frau allerdings schon sehr deprimiert. Trotzdem hat sie aber darum gekämpft – und das konnte sie als Parteisekretärin – und gesagt: "Das Mädel fängt bei uns wieder an. Hier ist Unrecht geschehen." Sie ist dann auch während meiner Studienzeit abgesetzt und ersetzt worden durch eine dieser typischen Partei- Funktionärinnen. Aber solche Leute wie diese alte Parteisekretärin hat es damals eben noch vereinzelt gegeben: Ich hatte eben das Glück, auf so jemanden getroffen zu sein. Daher war das mit dem Theater schon eine längere Geschichte, an die ich anknüpfen konnte. Ich glaube insgesamt, dass das Theater etwas war, von dem man vielleicht nicht sagen kann, dass es eine Nische gewesen wäre, aber das Theater war doch etwas, wo man dieser kafkaesken Situation wirklich entfliehen konnte. Die ursprüngliche Motivation für mich, Theater zu machen, bestand nicht darin, dass ich unbedingt zum Film hätte gehen wollen oder weil ich mich selbst gerne im Theater gesehen habe, sondern sie bestand in diesen politischen Gründen: Es war so, dass da nicht alles pur politisch gewesen ist, sondern dass die Texte alle eine doppelte und dreifache Bedeutung hatten. Weil es keine freien Zeitungen gab, weil es keine Informationen und keinen offenen Umgang miteinander gab, bekamen die Worte der Stücke, es waren zum Teil ja auch antike oder auch klassische Stücke, eine so enorme Bedeutung. Bei uns gab es daher immer nur die Frage: Welches Stück nehmen wir, das wir über die Premiere bringen können und das so viel aussagt, dass das etwas mit uns zu tun hat, dass es alle merken? Das war immer ein Akt des Widerstands – auch im Publikum. Nehmen wir als simples Beispiel nur den Satz aus Schillers „Don Carlos“ "Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!": Da gab es sofort spontanen Szenenapplaus, so dass wir alle im Saal – auch wir oben auf der Bühne – wußten, dass wir das Gleiche fühlen. Das war eigentlich das Tolle an diesem Beruf. Benning: Der Staatssicherheit ist ja diese Freiheit auch nicht entgangen. Im Lauf der achtziger Jahre entwickelte sich auch das Theater zu einem restriktiven Apparat. In Ihrem Buch "Abreißkalender" rekonstruieren Sie den Alltag am Theater und die Ereignisse von 1981 bis zur zwangsweisen Ausbürgerung im Jahr 1988. Diese tagebuchartigen Aufzeichnungen sind eigentlich, wenn man so will, Dokumente aus einem gefangenen Staat. Welche Auswirkungen hatte es auf Ihre tägliche Arbeit am Theater, dass plötzlich die omnipräsent war? Klier: Da gab es Widerstand, denn die Frage war immer: Schaffen wir eine Inszenierung bis zur Premiere oder nicht? Es gab ja Zensur, und daher mußte die Inszenierung vorher immer abgenommen werden. Deswegen gingen wir auch gerne in die Klassik zurück, denn es war wesentlich schwerer, einen Schiller umzuinszenieren oder zu verbieten, als das meinetwegen bei einem Gegenwartsstück möglich gewesen wäre. In meinem Tagebuch habe ich beschrieben, dass bei mir ungefähr jede dritte oder vierte Inszenierung uminszeniert oder verboten worden ist. Dennoch war es immer so, dass wir dann eben wieder und wieder etwas anderes gemacht haben: Es gab daher am Theater komischerweise auch kein Gefühl von Bedrückung. Wir haben ja bei unseren Proben alles ausgelebt, was wir draußen nicht machen durften. Ein Manager bezahlt heute meinetwegen 4000 Mark für ein Wochenendseminar, bei dem er seine Krämpfe loswerden kann: Urschrei-Therapie oder Trommeln oder sonst etwas in der Richtung. So etwas haben wir aber bereits im ersten Studienjahr gemacht. Das heißt, das, was man besonders als DDR-Bürger so in sich hat unter dieser Druck-Glocke, haben wir beim Herumblödeln auf Proben irgendwie ausgetobt. Weil Sie gesagt haben, die Staatssicherheit war omnipräsent: Es gab immer zwei Hauptamtliche die regelmäßig ins Theater kamen. Sie hatten z. B. in Schwerdte neben der Bühne einen eigenen Raum. Diese Leute waren halt einfach da und schauten auch ab zu bei einer Probe vorbei: Da haben wir dann für sie etwas besonders Nettes gespielt, d. h., wir haben die dann auch wirklich auf den Arm genommen. Wir haben meinetwegen etwas ganz "Starkes" aus der Ecke der sozialistischen Kultur gespielt, bis alle vor lauter Lachen zusammengebrochen sind. Diese Leute hatten es also schwer mit uns. Aber nicht die Verbote waren für mich das Schlimmste: wie meinetwegen in wegen Zersetzung der Wehrbereitschaft. Ich hatte nämlich im „Spanischen Bürgerkrieg“ gezeigt, dass die Leute auf beiden Seiten das Gleiche erlitten haben und gegen diesen Krieg waren. Ich hatte also nicht herausgearbeitet, wer die Guten und die Bösen sind, sprich wer die Fortschrittlichen und die Reaktionären sind, und all diese bekloppten Geschichten. Weil ich das nicht gemacht habe, wurde das dann halt uminszeniert. Solche Geschichten passierten praktisch dauernd. Aber bei dieser einen Premiere, bei dieser Inszenierung, für die ich dann auch interessanterweise einen Regiepreis bekommen habe, war es so, dass die Staatssicherheit das gesamte Publikum während der Premiere gefilmt hat: Es wurde gefilmt, wie die Leute reagieren. Das war wirklich ein Horror für mich, denn das haben wir nicht gewußt vorher. Dieser besagte Raum neben der Bühne hatte eine Riesenglasscheibe: Vom Zuschauerraum aus war dieser Raum aber nicht einsehbar, denn das war von außen nur graues Glas. Weil in diesen Raum gerade jemand hineingegangen war, konnte unser Bühnentechniker zufällig auch einmal hineinsehen. Er hat gemerkt, dass man von da drinnen den ganzen Zuschauerraum überblicken kann. Seitdem wußten wir, dass sie die Zuschauer beobachten, wenn sie da drin sind. Weil einer von den beiden am Abend der Premiere ein Kabel vergessen hatte, mußte er kurz vor Beginn noch schnell zum Beleuchtungsmeister rennen. Wirklich erst mit dem dritten und letzten Klingeln ist er dann in diesem Raum verschwunden. Als dann die ersten Schauspieler die Bühne betraten, sagte mir jemand, dass das hier nun alles mitgefilmt wird. Das war eine furchtbare Vorstellung für mich. Ich konnte ja nun nicht diese mühsam erkämpfte Premiere abbrechen, die wir ja sowieso schon ein paar Mal uminszenieren mußten, und auf die Bühne gehen und sagen: "Stop, alles stop, wir beenden die Vorstellung!" Das war eigentlich das wirklich Belastende daran: Man wußte, dass sie hinterher wochenlang zu tun haben, um herauszufinden: "Ah, ja, das ist der XY, den haben wir doch schon mal auf der Straße mit einer bestimmten Bemerkung erlebt und der hat doch auch..." Da spielt ja auch dieses Deutsche mit nach dem Motto: Der Mann hat gelacht an dieser Stelle und besonders laut geklatscht, der Mann ist gefährlich. Das war die eigentlich bedrückende Dimension dabei. Benning: Sie zählten 1980 zu den Mitbegründern der DDR-Friedensbewegung. Ihre Kritik an der Militarisierung der DDR brachte Ihnen Ärger bei den SED- Kulturfunktionären ein und wurde dann 1985 auch mit Berufsverbot geahndet. Zu diesem Zeitpunkt war Ihre Tochter zwölf Jahre alt. War das eine bedrückende Situation für Sie? Hatten Sie Angst um die Zukunft Ihrer Familie? Wie sind Sie damit umgegangen? Klier: Das wechselte. Ich möchte folgendes sagen. In Diktaturen – und man muß hier schon erwähnen, dass es wirklich schlimmere Diktaturen als die DDR gab und gibt, mit viel schärferen Repressionen und mit viel mehr Todesfällen – ist man als Eltern immer in der Situation, sich überlegen zu müssen, was man macht, denn man ist ja nie nur für sich alleine verantwortlich. Bei mir ging das wirklich hin und her. Ich war darüber hinaus ja auch immer noch für viel mehr verantwortlich. Wenn ich nicht diese geheime Jugendbefragung gemacht hätte - mit über 1600 Jugendlichen, die sich dann irgendwann auch an mich geklammert haben, indem sie mich gebeten haben zu bleiben oder mir gesagt haben, dass sie mich brauchen –, dann weiß ich nicht, ob ich dieser Versuchung nicht vielleicht doch nachgegeben hätte. Denn ich bekam kurz nach meinem Berufsverbot ein Angebot vom Großen Schauspielhaus in Frankfurt am Main, dort als Regisseurin zu arbeiten. Das hat mich aber nicht so sonderlich interessiert, denn ich wollte mit Stefan zusammen bleiben. Wir haben dann ja auch den Versuch unternommen, zum ersten Mal eine freie Gruppe zu gründen und in Kirchen zu spielen. Von da an spitzten sich dann im Laufe von drei Jahren die Repressalien zu. Denn es ging dann ums Ganze – auch für die Staatsmacht: Sie hatten vorher ja noch nicht erlebt, dass jemand so lange durchhält. Sie mußten auch erkennen, dass all das, was sie an Druck auf uns – z. B. über Ordnungsstrafen – ausübten, nur dazu führt, dass der Widerstand noch viel breiter wird, weil die Menschen plötzlich anfingen, bei unseren Auftritten die jeweils fälligen Ordnungsstrafen gleich mit einzusammeln. Diese Sache wurde also immer größer, und die Kirchen wurden auch immer voller. Deswegen wurden dann auch die Mittel der Repression immer schärfer. Als ich verhaftet wurde und im Gefängnis saß, war Nadja 15 Jahre alt. Da gab es dann durchaus den Punkt, an dem ich mir gedacht habe, dass ich das dem Kind nicht mehr antun kann. Es war auch völlig klar – und das galt für alle Kinder mit solchen Eltern –, dass sie nie ein Abitur machen dürfte. Ich habe dann Nadja gefragt, was sie denn später machen möchte. Sie ist nun aber in diese ganze Geschichte mit hineingewachsen, und so sagte sie dann eben mit ihren 15 Jahren ganz heroisch: "Mutti, ich brauche kein Abitur, ich will irgendwie in die Umweltforschung gehen..." – ohne zu wissen, was das eigentlich bedeutet. Insofern war es ein Glück, dass wir rausgeflogen sind, weil sie dann ganz normal ihr Abitur hat machen können. Demgegenüber war es jedoch so, dass andere Kinder aus ihrer Klasse, die sich mit uns solidarisiert hatten und die in der DDR geblieben sind, dort dann das Abitur nicht machen durften: Denen wurde diese Möglichkeit gestrichen. Darunter war unter anderem ein Junge mit einem Notendurchschnitt von 1,0! Benning: Nach dem Berufsverbot war es Ihnen eigentlich nur noch möglich, in diesen kirchlichen "Reservaten" aufzutreten. Es gab seit dem Jahr 1978 ein Agreement zwischen dem Staat und der Kirche, das eine gewisse Autonomie bei Veranstaltungen in kirchlichen Räumen garantierte. Sie traten dort mit Ihrem Mann Stefan Krawczyk auf, dem berühmten Liedermacher. Sie haben sich selbst als eine Art von Don-Quichote-Duo beschrieben, das auf diesen kirchlichen Bühnen auftrat. Vor allem die Jugendlichen hätten es aber nicht begreifen und nachvollziehen können, wie Sie sich für eine Sache einsetzen und aufreiben konnten, die eigentlich verloren schien. Was gab Ihnen damals den Mut und die Hoffnung, sich so stark vor allem gegen die Staatssicherheit aufzulehnen? Klier: Sie haben vorhin schon einmal den Satz von mir erwähnt, dass man "lebenslänglich an diesem Land und seiner Geschichte klebt": Und das gilt eben sowohl als auch. Ich denke, dass auch das mit den Generationen zusammenhängt: Je länger man in so einem "Laden" gelebt hat, um so stärker ist man davon geprägt. Ich will das Dort-Bleiben um Gottes willen nicht als etwas Positives hinstellen gegenüber der Tatsache, dass andere Leute aus der DDR hinausgegangen sind. Ich fand es immer schon völlig akzeptabel, dass Leute gesagt haben: "Mein Kind darf das Abitur nicht machen, ich selbst habe keine Berufschancen. Deshalb gehe ich hier raus." Ich fand das immer schon völlig o. k. Das muß ich hier schon auch einmal sagen, denn meine Ansicht befindet sich da leider im Gegensatz zu vielen anderen Bürgerrechtlern, für die diejenigen, die gegangen waren, nur Verräter und Versager waren. Ich selbst wollte also diesen Versuch unternehmen. Das begann ja damit, dass ich an die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche einen großen Kulturessay mit dem Titel "Kultur und Evangelium" geschrieben habe - denn ich kam ja selbst aus der Kirche –, um sie zu öffnen, um sie stärker für die Nöte der Menschen im Land zu öffnen. Das war natürlich gegen die Linie des Handschlags zwischen Staat und Kirche gerichtet, der der Kirche um den Preis der Loyalität gegenüber der SED-Regierung ja auch ein paar Privilegien eingebracht hatte. Das ist allerdings ein eigenes dunkles Kapitel, das noch lange nicht richtig aufgearbeitet ist. Es war jedenfalls ein Netz entstanden: die solidarische Kirche, in der ungefähr 120 Pfarrer und weitere Kirchenmitarbeiter dabei waren. Ich war da auch mit dabei, und es ging zunächst einmal darum, einander zu halten. Diese Leute wurden ja meistens von ihren eigenen Kirchenoberen gedrückt - das war zwar von Fall zu Fall unterschiedlich, aber meistens war es wirklich so –, und noch dazu dann auch vom Staat. Das heißt, es war plötzlich etwas vorhanden, was unheimlich belebt hat. Es war ja schon ein Erfolg, dass man überhaupt an diesen Orten auch angekommen ist, weil es doch immer diese Manipulationen an den Autos etc. gegeben hat. Es war ein Erfolg, dass die Kirchen voll waren und dass ich stundenlange Gespräche mit Pfarrern darüber geführt habe, wie wichtig es sei, dass hier nun etwas passiert. Diese Pfarrer waren ja oft schon auch eingeknickt: nicht aus eigener Feigheit, sondern weil sie von eigenen Kirchengemeinderatsmitgliedern unter Druck gesetzt worden sind. Es gab also alle diese bekannten Druckgeschichten, aber es bewegte sich einfach etwas. Aus der Sowjetunion kam dann auch plötzlich dieser Druck von Gorbatschow: dieser Schub in Richtung einer größeren Öffnung und mehr Kreativität. Und eigentlich ist von westlicher Seite immer wieder nur diese Blockade gekommen: Das war das Absurde. Der Westen, also die Bundesrepublik, fand ja, dass in der DDR alles schon ganz toll war. Benning: 1988 beteiligten Sie sich zusammen mit Ihrem Mann an einer Demonstration von Bürgerrechtlern am offiziellen Gedenktag für . Sie hielten Transparente hoch, auf denen Sie gegen Ihr Berufsverbot protestierten. Sie wurden beide verhaftet, und die Staatssicherheit klagte Sie wegen landesverräterischer Agententätigkeit an. Die Stasi stellte Sie dann vor folgende Alternative: zwölf Jahre Haft oder die Zwangsumsiedelung in die BRD. Klier: Das stimmt nicht. Das ist zwar die offizielle Lesart, aber es war nicht so. Benning: Die Frage dabei ist natürlich: Da gibt es ja keine wirkliche Wahl, wenn jemand nur zwischen zwölf Jahren Zuchthaus und der Zwangsumsiedelung wählen kann. Klier: Nein, das stand nicht zur Debatte, weil es so gar nicht gewesen ist. Das war so eine komplizierte Deal-Geschichte, wie ich das einmal nennen möchte, in der auch Graf Lambsdorff und sonst wer mit drin hing. Ich selbst bin ja eine Woche nach Stefan verhaftet worden. Ich war nicht mit zur Demo gegangen, weil ich am nächsten Tag eine Lesung hatte und nicht riskieren wollte, verhaftet zu werden. Die Verhaftung selbst stand ja schon sehr lange fest: Sie haben nur auf einen günstigen Moment gewartet. In der Woche, in der ich noch draußen war, habe ich diesen Appell an die westdeutschen Künstler verfaßt. Ich habe mehr oder weniger mit der Schreibmaschine unter meiner Bettdecke gearbeitet, damit die Stasi, die das Haus praktisch besetzt hatte, mich nicht klappern hört. Den Artikel hat sich Nadja dann unter den Pullover geschoben: Er kam dann über verschiedene Kanäle auch bis zu den "Tagesthemen" an diesem Abend, wo man darüber berichtet hat. Die nächste Verhaftungswelle setzte dann ein paar Tage später ein: Da bin nicht nur ich verhaftet worden, sondern auch noch andere Bürgerrechtler, die daran gar nicht beteiligt gewesen sind. Ich saß dann in Einzelhaft und hatte keine Kontaktperson außer , meinem "lieben" Rechtsanwalt, der später als übelster Stasi-Spitzel enttarnt worden ist. Ich hatte praktisch nur ihn, und zu dem Zeitpunkt war er noch nicht enttarnt: Er war unser enger Freund, und ich war immer von seinen Informationen abhängig. Es ging nur darum, dass wir raus müssen: Das stand fest. Es gab drei Personen, die raus mußten: Das stand aber nicht für uns fest. Er hat dann auf mich Druck ausgeübt, indem er gesagt hat, dass ich andernfalls zwölf Jahre bekomme. Ich habe ihm gesagt: "Ich kenne dieses Land. Das ist zwar eine sehr hohe Strafe, aber nach drei Jahren kommen wir doch spätestens raus." Und diese drei Jahre hätten mich wirklich nicht abgeschreckt. Aber auf mich wurde dann insofern Druck ausgeübt, indem man mir gesagt hat, dass ich verantwortlich dafür bin, dass die anderen wie Bohley usw. verhaftet worden sind und dass denen die Entlassung zugesagt worden ist – was übrigens stimmte –, wenn wir nachgeben. Das heißt, die anderen waren nun plötzlich zu Geiseln geworden. Da habe ich dann das Handtuch geworfen und gesagt, dass das eine solche Erpressung sei, dass ich da natürlich nachgeben werde. Es war dann davon die Rede, dass es selbstverständlich einen Prozeß geben wird, damit die Partei das Gesicht nicht verliert, und dass wir im Laufe des kommenden Jahres abgeschoben werden. Ich wußte natürlich nicht, dass sie alle schon hinter den Türen saßen und genau darauf warteten, weil die Kirchen zu dem Zeitpunkt wirklich voll waren. Das wußte ich aber nicht. Denn Herr Schnur hatte mir ja gesagt, dass alle auf mich sauer seien, weil ich angeblich andere mit hineingezogen hätte, und dass die Kirchen leer seien. Nun gut, da muß man sich halt in so eine Situation hineinversetzen: Es gab ja auch keine Zeitung, aus der ich irgendwelche Informationen hätte beziehen können. Ich hatte auch keinen Kontakt zu meinem Mann: zu absolut niemandem. Benning: Im Zusammenhang mit dieser Ausbürgerung erheben Sie bis heute schwere Vorwürfe gegen Manfred Stolpe, den Ministerpräsidenten von Brandenburg. Sie lasten ihm an, Ihre Ausbürgerung ohne Ihren Willen betrieben zu haben. Es gibt deswegen eine lange Auseinandersetzung, die Sie zum Teil auch über die Presse geführt haben. Wie geht es Ihnen dabei, wenn Sie heute z. B. mit ansehen müssen, wie Manfred Stolpe zum Chef des SPD-Ostforums wird und dadurch natürlich auch zum verlängerten Arm von Kanzler Schröder in Hinblick auf die Politik in den östlichen Bundesländern? Wie geht es Ihnen dabei? Klier: Ich beobachte Manfred Stolpe ja schon lange. Ich habe ja schon zu DDR- Zeiten zuerst mit einem langen privaten und dann mit einem offenen Brief versucht, ihn zu einer Offenheit zu bewegen, damit er offen Stellung bezieht, woran er überall wie beteiligt war. Mittlerweile liegt da ja doch einiges auf dem Tisch über seine Beteiligungen. Seitdem habe ich natürlich genau hingeschaut, was dieser Mann macht. Ich sah, dass er zunächst einmal in den "Demokratischen Aufbruch" geschoben werden sollte. Das geschah im übrigen auf Betreiben von Herrn de Maizière, der ja auch nicht ganz ohne ist. Dann nippelte dieser "Demokratische Aufbruch" aber ab, Stolpe war damit weg vom Fenster, und plötzlich tauchte er in der SPD wieder auf. Von da an beobachtete ich ihn genauer. Man muß wissen, dass damals praktisch das gesamte DDR-Fernsehen in den ORB rückte: Das heißt, die Genossen waren unter sich. Sie bauten dort Stolpe von Mitte 1990 an medial systematisch auf: zum Landesvater von Brandenburg. Ich beschrieb auch damals schon, wie das abgelaufen ist. Als dann die Öffnung der Stasi-Akten geschah und die ersten Sachen von ihm mit hochkamen, rannte er wirklich gegen die Uhr. Wenn Sie sich das einmal im Rückblick ansehen, wenn Sie die Gelegenheit dazu haben: Er war wirklich jeden Tag irgendwo zu sehen. Mal hing er unter einer Kuh und molk, mal schüttelte er eine Hand irgendwo auf dem Dorf, dann hatte er wieder einen Bauhelm auf dem Kopf. Er begrüßte praktisch das ganze Land als Landesvater: Die Zeitung und das Fernsehen waren dabei immer mit von der Partei. Als die ganze Geschichte dann aber auf den Tisch kam, machten sie folgendes. Nicht Stolpe, sondern Herr de Maizière, Herr Diestel und Herr Gysi - alles Leute, die scheinbar in anderen Parteien sind –, riefen plötzlich und trommelten laut, schrieben in dieser Sache Artikel und traten im Fernsehen auf, dass "uns der Westen nun auch noch unseren letzten Mann wegnehmen will". Davor waren ja schon einige gefallen wie Böhme, Schnur usw. Daraufhin ging dann ganz Brandenburg in Schulterschluß. Der Westen war das aber gar nicht. Die Leute haben schlicht nicht kapiert, was da eigentlich abläuft. Statt dessen waren es wir, die aufgrund der Aktenlage seinen Rücktritt gefordert haben. Mit diesem Coup hatten sie aber gleich ein paar Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Man ging in Schulterschluß, ganz Brandenburg stand hinter diesem Mann, und der Westen stand als der Böse am Pranger. Dieses Hineintreiben eines Keils, das ja zum Konzept gehörte, hat auch wirklich gut geklappt. Wir selbst als diejenigen, die das eigentlich gefordert hatten, wurden gar nicht erwähnt. Das war also eine ganz clevere und strategische Angelegenheit. Ich sage immer, dass ich da wirklich diese cleveren Strategien beobachte. Denn das ist ja nicht Herr Stolpe, sondern da hängt ja ein ganzer Stab mit dran. Ich beobachte in dem Zusammenhang aber auch eine gewisse Wurstigkeit, eine gewisse Nachlässigkeit und oft auch ein gewisses Nicht-Verstehen im Westen gegenüber diesen Dingen. Diese Leute wie Stolpe haben das ganz einfach ausgesessen. Ich erinnere dabei nur einmal daran, aus welch vergleichsweise harmlosen Gründen damals Herr Späth oder Herr Engholm zurücktreten mußten. Herr Stolpe ist da schon ein ganz anderer: Er hat ja quasi von 1957 an Karriere gemacht, denn er war FDJ-Sekretär, bevor er in die Kirche eingebaut worden ist. Wozu? Um die Kirche auf Loyalitätskurs zu bringen: Das war seine Hauptaufgabe. Einen Mann mit einer solchen Vergangenheit da völlig unangetastet weiter als Ministerpräsidenten sitzen zu lassen, heißt schon etwas. Er durfte sich ja sogar seinen eigenen Untersuchungsausschuß selbst zusammenstellen usw. Ich kann da nur sagen: Die sind so gut, wie der Westen schlecht ist. Diese Leute gehen zum Teil über die Demokratie hinweg, als ob das nur so ein Haufen wäre, über den man drübersteigt. Benning: Wenn man Sie so eifrig reden hört, dann gewinnt man den Eindruck, dass Sie in gewisser Weise auch nicht versöhnlich auf die Geschichte der DDR und auf die Geschichte der Neuzeit in Westdeutschland blicken. Ein schöner Satz, den Sie von Rosa Luxemburg übernommen haben, heißt, "sich niemals um die bittere Wahrheit herumzudrücken". Das klingt kompromißlos, mutig, unbeugsam: Gab es in Ihrem Leben auch Situationen, in denen Sie Ihren eigenen hohen Ansprüchen nicht genügen konnten? Klier: Ich denke, dass das oft der Fall ist. Ich bin ein Mensch, der genauso Kompromisse macht und machen muß wie alle anderen. Ich denke, ich habe vielleicht auch das Glück, einen oder zwei Berufe zu haben, in denen ich vielleicht mehr als andere, die irgendwo angestellt sind, etwas von dem umsetzen kann, was mir wichtig ist. Ich gehe dabei auch Risiken ein: Ich gehe z. B. auch das Risiko ein, nichts zu verdienen. Ich habe fast ein Jahr lang nichts verdient, als ich die "Kaninchen" geschrieben habe, weil das niemand machen wollte: Aber da war mir eben das Thema wichtig. Ich mache also nicht immer nur Sachen zur DDR oder politische Sachen in diesem Zusammenhang. Ich versuche halt, mich meiner eigenen Lebensvorstellung und dem, was ich von anderen Menschen erwarte, anzunähern. Aber, wie gesagt, das ist schon auch relativ. Zum Umgang mit der DDR-Geschichte: Ich bin überhaupt nicht unversöhnlich. Im Gegenteil, ich war eigentlich die erste, die gesagt hat: "Leute, bitte macht hier nicht die DDR-Bürger schlecht, dass sie nicht richtig arbeiten können." Das ist nämlich falsch, denn in der DDR ist ja die Kreativität bestraft worden. Und irgendwann, wenn man dafür immer bestraft wird, ist man eben nicht mehr kreativ, sondern sitzt seine Zeit im Büro nur mehr ab. Es geht also darum, diesen Unterschied zu machen. Ich bin natürlich unnachsichtig in der Hinsicht, dass ich Vorgänge wahrnehme, die nur wenige andere Menschen wahrnehmen. Ich versuche, das dann öffentlich zu machen und die Politiker zum Handeln zu bewegen. Das heißt, ich habe z. B. schon 1990 als erste beschrieben, wer Herr Ringstorff ist: Ich habe diesen Namen immer wieder betont und immer wieder gesagt, dass man auf Herrn Ringstorff schauen soll, denn Herr Ringstorff zieht von Anfang an die PDS hoch, weil das seine Aufgabe ist. Sie können das unbeugsam nennen, aber ich finde das wirklich wichtig. Als die Wahl in Mecklenburg war, bin ich mit Briefen aus dem Westen geradezu überschüttet worden, in denen die Leute gesagt haben: "Früher habe ich gedacht, diese Klier übertreibt ein wenig. Was sollte denn das? Wieso sollte der in der SPD sein? Es gibt da zwar andere Gesellschaftsmuster, die es hier im Westen nicht gibt. Aber jetzt sehe ich das auch, jetzt dämmert es mir auch." Das, was ich angekündigt hatte, ist dann fünf Jahre später auch passiert. Das heißt, die Leute sind nun wacher geworden. Benning: Sie haben zumindest als Autorin und als Filmemacherin immer wieder den Finger auf Wunden gelegt: auf Wunden der deutschen Geschichte. Sie haben sich als Autorin z. B. mit den Opfern von Krieg, Diktaturen und Gewalt auseinandergesetzt wie in Ihrem Buch "Die Kaninchen von Ravensbrück". In diesem Buch geht es um Versuche an Frauen während der NS-Zeit. Aber Sie haben sich auch mit anderen Themen befasst, z. B. damit, wie deutsche Frauen nach Sibirien deportiert worden sind. Das sind alles eigentlich unbeschriebene Blätter der deutschen Geschichte. Sehen Sie sich auch als Anwältin der Schwachen, die im Grunde genommen ungesühntes Unrecht wiedergutmachen oder zumindest darauf hinweisen möchte? Klier: "Anwältin" klingt mir zu juristisch, und dafür wäre ich wahrscheinlich völlig ungeeignet. Aber das hat etwas mit dem zu tun, was ich vorhin schon erwähnt habe, mit dieser Veranlagung. Wenn ich so etwas sehe, wenn ich sehe, dass Ungerechtigkeiten geschehen, dann sage ich das weiter und gebe die Informationen an Stellen, wo man damit etwas anfangen kann, oder ich nehme das auch selbst in die Hand und recherchiere dann auch richtiggehend historisch – wenn mir das wichtig ist. Gerade bei derjenigen Generation ist mir das wichtig, die – ich sage das einmal einfach so – am Aussterben ist: Das betrifft eben z. B. diese verschleppten Frauen. Das war ja fast eine halbe Million Menschen: Das war also schon eine große Anzahl von Frauen, die nach Rußland verschleppt worden ist. Diese Frauen waren unschuldig, denn das waren ja keine Nazis, denn das waren Kontingent- Verschleppungen, die die Rote Armee bei ihrem Vormarsch gemacht hat. Ich fand und finde es noch heute bedrückend, dass hier im Westen, der sogenannt ja frei ist, dieses Thema 40 Jahre lang so gut wie niemanden interessiert hat. Das ist totgeschwiegen worden. Das hatte am Anfang sicherlich mit der Erziehung zu tun, die damals ja noch auf die Wilhelminische Zeit zurückging: Man konnte mit vergewaltigten Frauen nicht umgehen. Diese Frauen kamen ja auch in diesen Archivfilmen nie vor: Auf diesen Heimkehrer-Bahnhöfen waren ja immer nur Männer zu sehen. 1968 gab es dann die Generation, die deren eigene Kinder waren und die dazu immer nur gesagt hat, dass das die Strafe für Auschwitz gewesen sei. Sie sind also aus einer mangelhaften eigenen Lebenserfahrung heraus ziemlich barbarisch mit dem Schicksal ihrer Mütter umgegangen: Die Mütter wurden dadurch natürlich ziemlich verschlossen. So etwas empört mich, und ich sage ganz ehrlich, dass mich so etwas dann auch herausfordert. Ich habe für diesen Film überhaupt kein Geld bekommen: Im Osten sowieso nicht, denn da sitzt die PDS drauf, und im Westen nicht, weil hier die Filmförderung vorwiegend in der Hand der Achtundsechziger ist. Für dieses Thema hat mir niemand Geld gegeben: egal wie viele Menschen damals daran beteiligt waren. Ich habe mir aber gesagt, dass ich diesen Film unbedingt machen muß – und wenn ich mich dafür verschulde. Inzwischen ist dieses Thema ja auch ein bißchen hoffähig geworden. Das Buch wird nun von jüngeren Leuten auch viel unvoreingenommener gelesen. Das ist für mich wirklich wichtig gewesen. Ich kümmere mich auch darum, dass diese Frauen Kuren bekommen, denn sie sind ja körperlich geschädigt: Sie haben im Bergwerk gearbeitet oder im Wald schwere Männerarbeit gemacht. Das heißt, viele von diesen Frauen haben Rückenschäden und andere Folgeschäden aus dieser Zeit. Benning: Sie haben aber auch in Westdeutschland mit der neuesten Geschichte recht ambivalente Erfahrungen gemacht. Als die Mauer fiel, haben Sie mahnende Worte gefunden, weil Sie einen Ausverkauf der Ostgebiete fürchteten. Sie fragten damals: "Will Maxwell die Mauer kaufen, und wie wird das dann weitergehen?" Klier: Maxwell hat sie zwar nicht gekauft, aber andere. Benning: Fühlen Sie sich in Ihren Befürchtungen von damals bestätigt, wenn Sie jetzt nach zehn Jahren Wiedervereinigung zurückblicken? Klier: Ich fühle mich zum einen bestätigt. Denn es ist ja wirklich so: Es sind gerade am Anfang – wie das immer so ist – wirklich üble Gestalten in die DDR gekommen, die die Leute reihenweise über den Tisch gezogen haben. Man nennt das Konjunkturritter. Da sind wirklich üble Sachen gelaufen, die leider Gottes dazu beigetragen haben, dass viele Ostler bei Westlern heute sagen: "Das sind die Kalten und Bösen." Aber dazugekommen ist, und das kann ich inzwischen auch nachweisen, dass es zwar als erste Abzocker diese Abzocker aus dem Westen gegeben hat, dass aber die PDS und alles, was da darum herum gehört wie die Staatssicherheit usw., praktisch die zweiten Abzocker waren. Denn die haben ja in der Wendezeit – bevor die Leute aus dem Westen überhaupt zuschlagen konnten – dort, wo sie saßen, das Volkseigentum in GmbHs verwandelt, das heißt für sich privatisiert. Dazu gibt es eindrucksvolle Zahlen, die in der Abteilung Regierungskriminalität liegen. Davon wissen die Ostdeutschen heute gar nichts, denn die werden ja weiterhin medial beschallt von den Genossen dieser Abzocker: Da heißt es immer nur, der Westen war es. Insofern würde ich das auch nicht zurücknehmen, denn es hat leider wirklich so stattgefunden: wenn z. B. öffentliche Parks oder halbe Berge plötzlich privatisiert wurden, bei denen die Menschen gewohnt waren, dort entlang zu gehen. Mit einem Mal gehörte das plötzlich jemandem. Ich finde, so etwas kann man nicht machen, da muß man andere Wege der Entschädigung finden. Oder man sorgt dafür, dass sich die Leute einigen, denn es hat ja auch positive Beispiele gegeben. Da ist auch von westlicher Seite aus eine große Unsensibilität an den Tag gelegt worden. Benning: Ich möchte zum Abschluß noch eine sehr persönliche Frage stellen: Wie fällt nach zehn Jahren Wiedervereinigung Ihre persönliche Bilanz aus? Wie sehen Sie die Zukunft dieses wiedervereinigten Deutschlands? Klier: Die Zukunft hängt davon ab, ob es nun nach zehn Jahren endlich gelingt, nicht nur solche Sätze von sich zu geben, dass man sich mit der PDS politisch auseinandersetzen muß, sondern dass das auch tatsächlich passiert. Ich mache das z. B. selbst so: Ich war vorgestern in Marzahn in einem Gymnasium, in dem es fast nur Kinder aus solchen "PDS- Elternhäusern" gibt. Das ist ungeheuer anstrengend, denn man reißt ja zunächst einmal bei diesen Jugendlichen alle Träume ein. Aber man muß das machen, man muß sich mit denen wirklich auseinandersetzen und Wissen an sie heranbringen, denn sie besitzen ja kein Hintergrundwissen. Wenn es gelingt, dass das zu einer Bewegung wird, die eben nicht wieder gegen den Osten geht, sondern die in einem Miteinander in allen Reibungspunkten wirklich erst einmal anfängt, dann denke ich, wird es ein vereinigtes Deutschland geben, bei dem man sagen kann: Jeder hat seine eigene Mentalität – so wie hier auch – und seine eigene Geschichte, aber es gibt diese Konfrontationshaltung nicht mehr. Wenn das aber nicht passiert, und leider sieht es da ja nicht so positiv aus, dann wird es kommen, wie ich das im Jahr 1996 schon einmal beschrieben habe: Wir werden dann an der Spitze aller Linken die PDS stehen haben – die Linkesten unter den Linken. Weil sie sich natürlich nur über dieses Schlagwort halten oder nach oben kommen kann. Und an deren Rattenschwanz hängt dann die nächste Jugendgeneration. Das ist etwas, das nicht geschehen sollte, denn wir haben nun wirklich andere Probleme: globale, europäische Probleme. Es wäre mir lieb, wenn wir uns mit solchen Sachen nicht noch länger herumärgern müßten. Benning: Dazu paßt abschließend ein Satz von Ihnen, den Sie einmal geschrieben haben: "Eine Zeit sollte endlich anbrechen ohne Lippenbekenntnisse, eine Zeit zum Nachdenken." Ich danke Ihnen für dieses Gespräch und hoffe mit Ihnen, dass ohne Berührungsängste ein Aufeinanderzugehen zwischen den Generationen und zwischen Ost und West möglich sein wird. Herzlichen Dank, Frau Klier. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihr Interesse und fürs Zuschauen. Unser Gast bei Alpha-Forum war heute Freya Klier, engagierte DDR-Bürgerrechtlerin, Schriftstellerin und Regisseurin. Vielen Dank, auf Wiedersehen.

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