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ZOOLOGIE 2017 ZOOLOGIE 2017 Herausgegeben von Mitteilungen Rudolf Alexander Steinbrecht der Deutschen Zoologischen Gesellschaft . Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

109. Jahresversammlung Kiel 14.-17. September 2016

Biohistoricum im Zoologischen Museum Alexander Koenig · Bonn Basilisken-Presse · Rangsdorf 00_Titelei Seite_1 - 4_2017_Titelei_2010.qxd 16.08.2017 12:08 Seite 1

ZOOLOGIE 2017 Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Herausgegeben von Rudolf Alexander Steinbrecht

109. Jahresversammlung Kiel.14 -17. September 2016

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Umschlagbild Ankunft der Corvette Galathea vor Fort Dansborg, der seinerzeit dänischen Kolonie Tranquebar im heutigen Tamil Nadu, Südindien, am 12. Oktober 1845. Gemälde von S.A. Frederiksen. Siehe hierzu den Beitrag von Dirk Brandis zur Geschichte der Kieler Zoologie . Bild: Bruun Rasmussen Auctioneers, Denmark, mit freundlicher Genehmigung

Die Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft erscheinen einmal jährlich. Einzelhefte sind bei der Geschäftsstelle (Corneliusstr. 12, 80469 München), zum Preis von 7,00 € erhältlich.

Gestaltung: Klaus Finze ProSatz&Gestaltung, Neuburg /Donau

Druck: REISIG Druck und Service Mittelweg 5 92237 Sulzbach-Rosenberg

Copyright 2017 by Basilisken-Presse im Verlag Natur & Text in Brandenburg GmbH . Rangsdorf Printed in Bundesrepublik Deutschland ISSN 1617-1977 00_Titelei Seite_1 - 4_2017_Titelei_2010.qxd 16.08.2017 12:08 Seite 3

Inhalt

Stefan Richter 5 Grußwort der Präsidenten der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Dirk Brandis 9 Die Geschichte der zoologischen Forschung an der Universität Kiel vom 18. bis zum 20. Jahrhundert

Barbara König 25 Laudatio auf Diethard Tautz anlässlich der Verleihung des Karl-Ritter-von-Frisch-Preises 2016

Diethard Tautz 29 Der Ursprung neuer Gene und die Evolution des Phänotyps

39 Werner-Rathmayer-Preis der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Emily LeValley 41 RISE/DAAD Stipendium Report

Gernot Wendler 45 Nachruf auf 28. April 1923 - 18. Februar 2016

Walter Sudhaus 51 Nachruf auf den Sinnesphysiologen, Biokybernetiker, Verhaltensbiologen und Anwalt des Kindes 31. Mai 1922 – 16. April 2016

Karl J. Aufderheide 61 Nachruf auf Helmut W. Sauer 12. August 1936 – 25. April 2016

Annetrudi Kress und Heike Wägele 65 Nachruf auf Luise Schmekel 9. April 1935 – 19. Mai 2016

Dietrich von Knorre 73 Nachruf auf Horst Füller 85 6. November 1929 – 17. Juli 2016

Volker Storch und Peter Michalik 71 In memoriam Gerd Alberti 12. Januar 1943 – 9. November 2016 00_Titelei Seite_1 - 4_2017_Titelei_2010.qxd 16.08.2017 12:08 Seite 4

Jon Martin 77 Wolfgang Friedrich Wülker 25 September 1925 – 12 January 2017

Friedrich Schiemer 81 Nachruf auf Wolfgang Wieser 5. Juli 1924 – 3. März 2017

Martin Meier 87 Nachruf auf Klaus Wächtler 11. Juli 1938 – 4. März 2017

Rüdiger Wehner 93 Nachruf auf Franz Huber 20. November 1925 – 27. April 2017 01_Richter_5-8_03_Penzlin.qxd 13.08.2017 13:45 Seite 5

Grußwort des Präsidenten der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Stefan Richter

Liebe Zoologinnen und Zoologen,

ich freue mich, dass Sie die „Mitteilungen der Deutschen Zoologi- schen Gesellschaft“ in den Händen halten oder, was auch gut möglich ist, das entspre- chende pdf auf Ihrem Computer oder Tablet geöffnet haben. Als Prä- sident der DZG grüße ich Sie an dieser Stelle herzlich! „ZOOLOGIE Foto privates Bildarchiv 2017“ – der Titel zeigt die Aktualität der Mitteilungen – wie jedes „Frontiers in Zoology“ hat die DZG inzwi- Jahr! schen ein erfolgreiches, hochrangiges Dennoch ist mir bewusst, dass die Tat- Flaggschiff und die Abstracts der Ta- sache, dass weniger als 200 unserer 1600 gungsbeiträge haben schon seit etlichen Mitglieder ein gedrucktes Heft der Zoolo- Jahren die früher üblichen „Kurzpublika- gie beziehen wollen, nicht nur an den ge- tionen“ abgelöst. Aus meiner Sicht ein ge- änderten Lesegewohnheiten liegt. Man- lungener Dreiklang! chen mögen die „Mitteilungen“ als nicht Was bieten nun die „Mitteilungen“? mehr zeitgemäß oder einfach nur uninte- Eigentlich handelt es sich um etwas ganz ressant erscheinen. Besonderes, eine sich jährlich ergänzende Die Form der Veröffentlichungen der selbst schreibende Geschichte der Deut- DZG ist über die Jahrzehnte mehrfach schen Zoologischen Gesellschaft! Die geändert bzw. angepasst worden. Die wichtigsten Ereignisse, wie die Jahresta- ZOOLOGIE in der jetzigen Form gibt es gung und der Blick auf die Zoologie der seit genau 20 Jahren. 1997 erschien das jeweiligen Veranstaltungsorte, Preisverlei- erste Heft, herausgegeben von Dieter hungen, Ernennung von Ehrenmitglie- Zissler, seit 2003 werden sie von Alexan- dern, werden dokumentiert. Zugleich er- der Steinbrecht engagiert betreut. Mit fährt man aus der Feder der Preisträger

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Interessantes und eben Preiswürdiges ums, die neuronale Steuerung der Orien- aus den verschiedenen Disziplinen der tierung von Ameisen, die Regulation von Zoologie. Immer wieder werden aktuelle Hoxgenen oder auch die phylogeneti- wissenschaftliche oder wissenschaftspoli- schen Verwandtschaftsbeziehungen der tische Aspekte herausgegriffen. Beim Metazoen sind eben spannende Phäno- Durchblättern der 19 bisher erschiene- mene, ganz unabhängig von ihren Ent- nen Hefte ist mir auch aufgefallen, wie re- deckern – sie sind ja tatsächlich auch in gelmäßig von den jeweiligen Präsidenten ihrer Existenz unabhängig von ihrer Be- der DZG oder auch von den Preisträgern schreibung. Das ist natürlich ein wesent- der Karl-Ritter-von-Frisch-Medaille das licher Unterschied zu Geisteswissen- Selbstverständnis der Zoologie hinterfragt schaften, die ja die Produkte und Hand- wurde und wie klar das Bekenntnis für lungen des Menschen in ihrem Zentrum die Zoologie – trotz aller notwendigen haben. Wie sollte man Literaturwissen- Spezialisierungen – immer wieder aus- schaften betreiben ohne die Autoren der fällt! Manchmal lassen sich auch gesell- Schriften zu kennen, wie Philosophie oh- schaftliche Veränderungen aus den Hef- ne die Einbindung der Philosophen in ih- ten ablesen. 2003 grüßt Barbara König als re jeweilige Zeit etc.. Aber auch für die erste Präsidentin der DZG – nach 59 Zoologie gilt: Alle faszinierenden und auf- männlichen Präsidenten – die „Zoologin- regenden Erkenntnisse, die wir heute nen und Zoologen“. über unseren Gegenstand haben, all das, Einen großen Raum nehmen die was wir über Tiere wissen, sind der mü- Nachrufe ein. An bedeutende Zoologin- hevollen Arbeit, der Begeisterung, der nen und Zoologen wird hier erinnert, Originalität und manchmal der Genialität aber auch an weniger Bekannte. Hat man, von Zoologinnen und Zoologen vorange- wie ich, ein gewisses Alter erreicht, so gangener Generationen zu verdanken! sind es auch viele, mit denen man per- Sich Vorbilder für die eigene wissen- sönliche Erinnerungen verbindet. Der schaftliche Karriere zu suchen, ist nicht Verstorbenen zu gedenken und sie da- verkehrt, und den jeweiligen Menschen durch zu ehren ist ein wichtiger Aspekt hinter wichtigen Erkenntnissen kennen zu der Nachrufe. Darüber hinaus werden lernen, sicher auch nicht. Unsere beiden aber in jedem Fall interessante Geschich- verstorbenen Ehrenmitglieder Franz Hu- ten und wichtige zoologische Entdeckun- ber und Wolfgang Wieser eignen sich da- gen beschrieben. Zoologinnen und Zoo- für in besonderer Art und Weise. Wann logen haben häufig kein großes Interesse immer möglich, sollte das Kennenlernen an Wissenschaftsgeschichte. Das mag interessanter Zoologinnen und Zoologen wohl auch daran liegen, dass der Gegen- natürlich besser noch zu Lebzeiten ge- stand des Faches ahistorisch (und der schehen, z.B. auf den Jahrestagungen der Ansatz meist nomothetisch) ist, bzw. sich DZG, die dafür ein perfektes Umfeld bie- eben auf viel länger zurückgehende evo- ten. lutive Phänomene zurückführen lässt. Für uns alle ist es selbstverständlich Die Funktionsweise eines Protonephridi- wissenschaftliche Arbeiten (nur) auf Eng-

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lisch zu publizieren. Tatsächlich ist es gar dest), dass unsere Erkenntnisse auch nicht so lange her, dass auf Deutsch pu- außerhalb der Kollegenschaft auf Interes- blizierende Kolleginnen und Kollegen se stoßen. Ich freue mich auf jeden Fall sich darüber beklagt haben, dass ihre Er- immer, wenn ich in den Zeitungen und kenntnisse im Ausland ignoriert werden. anderen Medien über Erkenntnisse aus Dass die wissenschaftlichen Vorträge auf der Zoologie lese, zeigen diese Nach- unseren Jahrestagungen allesamt auf Eng- richten doch die Relevanz, die unserem lisch gehalten werden, ist inzwischen eine Fach zugemessen wird. Unseren „Mittei- Selbstverständlichkeit, mit einer zuneh- lungen“ kommt daher auch die Aufgabe menden Internationalisierung der Ar- der Kommunikation mit der Öffentlichkeit beitsgruppen und auch unserer Tagung zu, vielleicht sollten wir darauf in Zukunft ohnehin nicht zu umgehen. Englisch ist auch noch stärker achten. Wir alle sollten nun einmal die lingua franca der Zoologie auf jeden Fall nicht verlernen, unsere Wis- und anderer Naturwissenschaften. senschaft in klarer und verständlicher Die Mitteilungen der Deutschen Zoolo- Form auf Deutsch zu präsentieren. gischen Gesellschaft erscheinen auf In diesem Sinne wünsche ich Ihnen Deutsch. Ich denke, dass dies auch in Zu- ein anregendes Weiterlesen! Es gibt kunft so bleiben sollte. Meine bisherigen Spannendes und Lehrreiches aus der Argumente würden einer Publikation auf jüngsten Geschichte der Deutschen Zoo- Englisch allerdings nicht widersprechen. logischen Gesellschaft zu erfahren. Ich denke aber, dass es einer Deutschen Zoologischen Gesellschaft gut ansteht, Es grüßt Sie herzlich aus Rostock, auch über die eigene Community (sorry, Fachgemeinschaft) hinaus zu kommuni- zieren. Schlussendlich sind wir doch alle davon überzeugt (oder hoffen es zumin-

Prof. Dr. Stefan Richter Universität Rostock Institut für Biowissenschaften, Allg. u. Spez. Zoologie Universitätsplatz 2 18055 Rostock [email protected]

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Die Geschichte der zoologischen Forschung an der Universität Kiel vom 18. bis zum 20. Jahrhundert

Dirk Brandis

Das Zoologische Museum Universität durch Dänemark wurde der der Universität Kiel damals schon bedeutende Entomologe Johann Christian Fabricius 1775 aus Ko- Das Zoologische Museum der Christi- penhagen nach Kiel auf einen Lehrstuhl an-Albrechts-Universität zu Kiel stellt in vie- für „Oeconomie, Cameralwissenschaften lerlei Hinsicht eine Besonderheit dar. Vor und Naturhistorie“ berufen. Mit seiner An- allem sind die Sammlungen des Museums kunft in Kiel begannen Bemühungen, erst- von internationaler wissenschaftlicher und malig in Kiel eine professionell aufgebau- kulturhistorischer Bedeutung. Insgesamt te naturwissenschaftliche Sammlung für beherbergt das Museum ca. 500.000 Se- Lehre und Forschung anzulegen und ein rien an Organismen. Die Sammlungen um- naturhistorisches Museum einzurichten. fassen einen Zeitraum von knapp vier Jahr- Nach Hacker (1984) muss das Jahr 1775 hunderten. Dabei werden nicht nur einfach damit als eigentliches Gründungsjahr des historische naturwissenschaftliche Objekte Zoologischen Museums und der zoologi- archiviert, sondern auch Wissenschaftsge- schen Forschung in Kiel angesehen wer- schichte. Ein besonders wichtiger Schwer- den. Wissenschaftlich begründete Fabri- punkt sind marine Organismen wegen ih- rer schon sehr frühen genauen Dokumen- tation, ihres Typenreichtums und den Bele- gen vieler mariner Expeditionen des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte dieser Expe- ditionen zeigt nicht nur frühe Dokumente aus weit entfernten Gebieten, sondern gibt auch Aufschluss über die Entwicklung der modernen Kieler Zoologie und Meereswis- senschaften und ist deshalb jenseits der naturwissenschaftlichen Sammlungsfor- schung von großem wissenschaftshistori- schen Interesse. (Hacker 1984, Brandis & Dreyer 2015)

Johann-Christian Fabricius - die Begrün- dung der zoologischen Forschung in Kiel Im Zuge einer vollständigen Neuorga- nisation und Modernisierung der Kieler Johann-Christian Fabricius (1745–1808)

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cius in Kiel die moderne Insektenfor- Klassifikation entwickelt, die es erstmalig schung und die Zoologie in Lehre und überzeugend möglich machten, die ra- Forschung insgesamt. Er selbst beschrieb sant wachsende morphologische und ta- in mehr als 10 jeweils mehrbändigen xonomische Vielfalt neu beschriebener Buchpublikationen 9776 Insektenarten Insektenarten überzeugend zu klassifizie- und mehr als 100 Krebstierarten neu. Sei- ren. Noch Fabricius' Lehrer Carl von Lin- ne Typus-Sammlung ist bis heute eine né basierte die Einteilungen der „clas- wesentliche Grundlage für moderne sy- ses“ der Insekten auf der Flügelmorpho- stematische Forschung an Insekten und logie und ihrer Nervatur. Fabricius dage- Krebstieren. gen führte die Mundwerkzeuge und ihre Fabricius war aber nicht nur in Kiel tä- morphologische Vielfalt als neuen Merk- tig, sondern bereits damals international malskomplex ein, um die Ordnungen der vernetzt. Um Sammlungen anderer Kolle- Insekten zu unterscheiden. Ein erfolgrei- gen und Privatpersonen zu studieren, be- ches Konzept: Fabricius' System bildet bis reiste er seit 1765 ganz Europa. Besonde- heute die Basis für die Klassifikation der re Schwerpunkte waren dabei Paris und Insekten, obwohl die von ihm vorgeschla- London. Von 1796 an lebte seine Frau genen taxonomischen Klassifikationsna- dauerhaft in Paris, Fabricius reiste von da men nicht geblieben sind. an jedes Jahr im Frühling nach Kopenha- Neben der Insektenforschung hat Fa- gen, um die Sammlungen seiner Schüler bricius bereits im 18. Jahrhundert wissen- Sehested und Tønder Lund zu studieren, schaftliche Ideen entwickelt, die weit während er die Sommer in Paris ver- über die Konzepte seines Lehrers Carl brachte. von Linné hinausgingen; sie sind aus heu- Besonders bedeutende Sammlungen tiger Sicht sehr modern und können ge- bearbeitete Fabricius in London: Die radezu als Vorläufer der Evolutionstheorie Sammlungen von Joseph Banks in Lon- betrachtet werden. Systematik war für ihn don, der Teilnehmer der ersten Weltum- in diesem Zusammenhang „nur“ ein seglung von James Cook (1768-1771) Werkzeug zum besseren Verständnis der war, sowie die Insektensammlungen des Wissenschaften. In seinem Werk „Resulta- berühmten englischen Anatomen und te natur-historischer Vorlesungen“ (1804) Sammlers William Hunter. Durch diese formuliert er (S. 138): „Indessen enthält Reisen kam er europaweit in Kontakt mit das System freilich nicht die Wissenschaft, vielen Wissenschaftlern und Denkansät- es ist nur das ABC. derselben und so wie zen, besonders aber wurde Fabricius wir den nicht für einen Gelehrten halten, durch seine Aufenthalte in Paris beein- der lesen kann, so erkennen wir den flusst, insbesondere durch die französi- nicht für einen Naturforscher, der nichts schen Entomologen A. G. Olivier (1756- weiter von der Natur kennt als das Sy- 1814) und P. A. Latreille (1762-1833), mit stem“. denen er persönlich eng befreundet war. Basierend auf seinen systematischen Neben der reinen Beschreibung neuer Arbeiten gelangt Fabricius zu der Er- Arten hat Fabricius neue Konzepte zur kenntnis, dass es fortlaufende Artbildung

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geben muss. Dazu stellt er heute sehr des Kieler Zoologischen Museums erfolg- modern anmutende Thesen auf, die fast te im Wesentlichen auf Initiative des Arz- schon als Vorläufer der Evolutionstheorie tes Christian Rudolf Wiedemann. Dieser gelten können. In seinem Werk „Resultate hatte eine Professur für Frauenheilkunde natur-historischer Vorlesungen“ (1804) inne und war daneben in Personalunion entwickelt er zwei Hypothesen, wie neue gleichzeitig Direktor der Hebammen- Arten entstehen können: Durch Hybridi- schule und Leiter der naturhistorischen sierung und durch morphologische Sammlungen. Nach einem Medizinstu- Adaptionen. Zitat: „Auf diese Entstehung dium in Jena wurde er 1794 als Professor der neuen Arten, theils durch die Vermi- für Anatomie nach Braunschweig berufen, schung der schon vorhandenen unter bevor er 1804 einem Ruf an die Kieler Fa- sich, theils durch die besondere Leichtig- kultät folgte, wo er als Gründer der Kieler keit der äusseren Theile eine neue Figur Frauenklinik in die Annalen der Univer- anzunehmen, und dadurch die festen, in sität einging. Weniger bekannt ist, dass Arten übergehende, Abänderungen zu Wiedemann starke naturwissenschaftliche bilden, gründet sich die außerordentliche Interessen hatte. Nach seiner Promotion Menge und Mannigfaltigkeit derselben". 1792 ging Wiedemann zunächst nach Besonders Fabricius' Gedanken über den England, um seine Kenntnisse der Mine- Einfluss von Umweltfaktoren auf die Art- ralogie zu verbessern. 1801 erhielt Wie- bildung brachten den dänischen Entomo- demann ein Stipendium vom Herzog von logen Kai Ludvig Henriksen dazu, Fabri- Braunschweig, in Paris zu studieren, wo er cius als den „Vater des Lamarckismus“ zu sich intensiv mit Geburtshilfe und Natur- bezeichnen (siehe Tuxen, 1967, S. 12). geschichte beschäftigte. Neben anderen In wieweit er dabei Ideen und Gedan- Zoologen machte er dort auch die Be- ken anderer zeitgenössischer Wissen- kanntschaft von George Cuvier. schaftler aufgriff, bleibt gegenwärtig un- Wiedemann interessierte sich neben klar. Gleichwohl ist Fabricius ein bedeu- Mineralien und Mollusken besonders für tender Wissenschaftler der Kieler Univer- Insekten und schuf auf dem Gebiet der sität, der auf hohem Niveau die zoologi- Systematik außereuropäischer Dipteren sche Forschung in Kiel begründete, fast Grundlegendes (Beschreibung von über 10000 Arten neu beschrieb und einen 1000 neuen Arten). Gleich nach seinem Ideenkatalog formulierte, der schon im Amtsantritt versuchte Wiedemann, die na- 18. Jahrhundert erste Anzeichen evolutio- turhistorischen Sammlungen der Univer- närer Forschung zeigte. (Fabricius 1804, sität Kiel durch Ankäufe zu vermehren. Latreille 1808, Tuxen 1967, Hacker 1984, Zusammen mit diversen Schenkungen Brandis, im Druck) nahm die Sammlung an Umfang zu. Wei- tere Schenkungen von Säugetierpräpara- Christian Rudolf Wiedemann – ten und Mineralien erhöhen die Samm- Mediziner und Zoologe lungsbestände schließlich auf etwa 400. Die Aufnahme der großen Privat- Unter Wiedemann zog das Museum in sammlung von Fabricius in die Archive den neuen Versammlungssaal der Univer-

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sität um, wo erstmals ein adäquater Platz gestellt werden, zoologische Forschung existierte, in dem auch Schränke und Re- und Lehre waren fast zum Erliegen ge- gale aufgestellt werden konnten. Wiede- kommen. Behn war in dieser Situation ein mann versuchte auch, Personal für das ausgesprochener Glücksfall für Kiel. Museum zu bekommen, was allerdings Durch seine Ausbildung in den damali- vom Kuratorium abgelehnt wurde. Wiede- gen wissenschaftlichen Zentren Deutsch- mann setzt die Sammlungen auch ernst- lands war er auf dem neuesten Stand der haft im akademischen Unterricht ein, ab Forschung. Eine wichtige Station seiner 1809 kündigt er naturhistorische Vorle- Ausbildung war Göttingen mit seiner sehr sungen an der medizinischen Fakultät an. renommierten medizinischen Fakultät, wo Nach 1820 wurde mit der Sammlung er besonders durch Johann Friedrich Blu- kaum noch gearbeitet, denn Wiedemann menbach beeinflusst wurde, der eine wurde zunehmend kränklicher und die große anatomische Sammlung aufgebaut Sammlung verkam. und die vergleichende Anatomie in Nach Wiedemanns Tod versteigerte Deutschland eingeführt hatte. Eine weite- seine Witwe dessen zoologische Privat- re Station war ein halbjähriger Aufenthalt sammlung. Die bis heute wissenschaftlich in , das in den Bereichen verglei- sehr wichtige Sammlung zweiflügliger In- chend-anatomische Forschung, sowie Sin- sekten Wiedemanns wurde von dem nesphysiologie und Mikroskopie zu ei- Hamburger Kaufmann und Entomologen nem Zentrum von Weltgeltung geworden Wilhelm von Winthem gekauft und zu- war. Die dritte und besonders prägende sammen mit seiner eigenen Sammlung Station war Paris, für das er 1834 ein Rei- 1852 an das naturhistorische Museum sestipendium erhielt. Auf der Hinreise Wien weiterverkauft, wo sie bis heute hatte Behn die Möglichkeit, wichtige konserviert wird. 1841 kaufte die Univer- Sammlungen in Deutschland zu besu- sität noch die Mollusken- und Korallen- chen. So besuchte er u.a. Marburg, Gie- sammlung von der Witwe. Erstere konnte ßen, Hannover, Kassel, Senckenberg, in den Beständen des Museums gerade Bonn und Heidelberg. In Paris lernt Behn wieder ausfindig gemacht werden und die besten Sammlungen der Welt kennen. wird gegenwärtig rekonstruiert. (Hacker Besonders prägend für ihn und seine wei- 1984, Brandis 2009, Brandis & Dreyer tere Arbeit in Kiel wurden die Ideen von 2007, 2015) Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829), Georges Cuvier (1769-1832) und Alexan- Wilhelm Behn - von der Naturkunde der von Humboldt (1769-1859), die im- zur Zoologie mer noch die Forschungslandschaft in Pa- 1836 wurde der Anatom und Zoologe ris beherrschten, obwohl sie entweder Wilhelm Behn kommissarisch mit der Lei- wenige Jahre zuvor verstorben oder nicht tung der naturwissenschaftlichen Samm- mehr persönlich anwesend waren. Dies lungen betraut. Die Situation bei seinem traf insbesondere auf die vergleichende Amtsantritt war katastrophal. Die Samm- Anatomie zu. Außerdem hatte Behn in Pa- lung musste völlig neu konzipiert und auf- ris persönlichen Kontakt mit bedeutenden

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Wissenschaftlern der Zoologie und Ana- 1837 wurde Behn als ordentlicher Pro- tomie, wie z.B. Isidore Geoffroy St. Hilaire fessor für Anatomie, vergleichende Anato- (1805-1861), Constant Duméril (1774- mie, Physiologie und Zoologie berufen. 1860), Jean-Victor Audouin (1797-1841), 1839 zogen die naturhistorischen Samm- Henri-Milne Edwards (1800-1885) oder lungen und das anatomische Theater in Henri de Blainville (1777-1850). den Warleberger Hof um, was eine deutli- Angeregt durch diese Eindrücke nahm che Verbesserung der Situation gegenü- Behn am 15. September 1836 seine Ar- ber dem bisherigen Status darstellte. Da- beit in Kiel auf. mit hatte Behn auch die notwendigen Unter seiner Leitung bekam das Mu- Räumlichkeiten, um eine adäquate Be- seum allmählich Konturen, vor allem weil treuung sowie den systematischen Aus- es ihm gelang, nach dem Vorbild von Pa- bau der Sammlungen zu gewährleisten. ris, wesentliche Voraussetzungen für das In den Kellerräumen und dem Erdge- Überleben des Museums zu erreichen: schoß wurde die Anatomie unterge- Dies waren vor allem die Schaffung von bracht, die Zoologischen Sammlungen in neuen adäquaten Räumlichkeiten, Festan- 5 Räumen im ersten Stock. Weitere 5 Räu- stellung von Mitarbeitern und die Tren- me waren die Wohnung Behns. nung aller nichtzoologischen Exponate Gleichzeitig bemühte sich Behn, das von der Sammlung, die Einbindung der Naturhistorische in ein Zoologisches Mu- Sammlung in die Lehre, die Vermehrung seum umzuwandeln. Zunächst wurden im der Sammlungen nach einem wissen- Winter 1837/38 die ethnologischen schaftlichen Konzept sowie die Einrich- Sammlungen, die noch von Fabricius tung eines festen Etats. stammten, an die Gesellschaft für Samm- lung und Erhaltung vaterländischer Alter- thümer abgegeben. Die Abgabe der mi- neralogischen Sammlungen gelang Behn erst 1847, als die Mineralogische Samm- lung von Ludwig Meyn und August Frie- drich Karl Himly insgesamt neu aufgestellt und der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Bei der wissenschaftlich konzipierten Vermehrung der zoologischen Sammlun- gen leiste Behn Bedeutendes. Ihm gelang es, bedeutende Schenkungen einzuwer- ben und wichtige Exemplare anzukaufen. Ihm war der regionale Bezug und der Lehr- und Ausbildungsbezug wichtig. Ziel war, die regionalen Faunen möglichst um- fassend zu sammeln und zu dokumentie- ren.(Hacker 1984, Brandis 2009, Brandis Wilhelm Behn (1808–1878) & Dreyer 2015)

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Die Expedition der Corvette Galathea unbekannt waren. Diese Sammlung ist bis heute allerdings nur teilweise erforscht, Die Expedition der Corvette Galathea weil kurz nach dem Tod des Königs und 1845-1847 ist eine der bedeutendsten na- dem Ausbruch des Deutsch-Dänischen turwissenschaftlichen Expeditionen des Krieges die Pläne für einen umfassenden 19. Jahrhunderts. Auftraggeber war der Expeditionsbericht abgebrochen werden naturwissenschaftlich sehr interessierte mussten. Ein Großteil der bedeutenden dänische König Christian VIII. Die Ziele Behnschen Vogelsammlung kam 1895 der Reise waren hauptsächlich poltisch- nach Berlin, wo sie von dem bedeuten- wirtschaftlicher Natur: Die Erforschung den Ornithologen Stresemann bearbeitet der Nikobaren-Inseln und die Übergabe wurde. Heute befinden sich immer noch der Dänischen Kolonien in Indien an die mehr als 500 Vogelserien und eine noch Britische Ostindien-Gesellschaft. Die Rou- nicht erfasste sehr wertvolle Sammlung te der Galathea umfasste Ostindien, die mariner Wirbelloser und diverse Skelette Nikobaren, den malaiischen Archipel, und Felle von Säugetieren im Besitz des China, die pazifischen Inselsysteme Bora Zoologischen Museums Kiel. Sie macht Bora und Hawaii, sowie Südamerika. Die heute eine der bedeutenden Säulen der Reise erbrachte für das Zoologische Mu- Kieler Sammlung aus. seum einen Riesenzuwachs an Arten, ca. Obwohl der Galathea-Bestand lange in 5000 Stück, unter denen viele bis dahin Vergessenheit geriet, hat die dänische

Die Corvette Galathea vor den Nikobaren-Inseln 1846, nach einer Zeichnung von Christian Thornam

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Karl August Möbius: Die Begründung der Ökologie Mit der Berufung von Karl August Mö- bius 1868 als Professor für Zoologie an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel begann die bedeutendste Zeit des Zoolo- gischen Museums Kiel. Möbius war ein hervorragender Pädagoge und ein eben- so vielseitiger wie bedeutender Wissen- schaftler. Er gehörte zu den wichtigsten und einflussreichsten Zoologen des 19. Jahrhunderts. Neben Ernst Haeckel in Je- na war Möbius nicht nur einer der Be- gründer der Ökologie, sondern erwies sich als begabter Kommunikator der Wis- senschaft und als einer der weitblickend- sten Museumsorganisatoren (Glaubrecht 2008). Möbius reformierte das Museum Wurmseegurke Synapta maculata (Chamisso grundlegend. In Kiel entstand mit seiner & Eysenhardt, 1821), nach einer Zeichnung von Christian Thornam (1822-1908), Galat- hea-Expedition 1846

Weltumsegelung einen nachhaltigen Ein- fluss auf die Meeresforschung gehabt. Im Jahre 1950 startete eine neue Galathea- Expedition, allerdings mit dem Fokus auf die Tiefsee. Die Ergebnisse dieser For- schungsfahrt waren bahnbrechend und sind bis heute von großer wissenschaft- licher Tragweite: Zum ersten Mal wurden Lebewesen unterhalb von 10.000 Metern Tiefe nachgewiesen und eines der älte- sten lebenden Fossilien konnte entdeckt werden: Neopilina galatheae – eine ur- tümliche Schnecke, deren Vorfahren be- reits vor 30 Millionen Jahren ausgestor- ben waren. (Bruun et al. 1956, Brandis 2009, Brandis & Dreyer 2015, Brandis im Druck). Carl August Möbius (1825–1908)

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Konzeption erstmals ein Museum, das Wissenschaftler war. Als Mitglied einer zwischen einer Schauhalle für die öffentli- preußischen Regierungskommission für che Wissenspräsentation und nichtöffent- Fischerei bereiste er Frankreich und Eng- lichen Sammlungs- und Forschungsberei- land und beschäftigte sich mit der Frage chen differenzierte. Das Kieler Zoologi- der ökonomischen Nutzung von Meeres- sche Museum wurde damit beispielge- tieren, insbesondere von Austern und der bend für die weitere Entwicklung der na- Anlage von Austernbänken (Glaubrecht, turhistorischen Museen. Ein wesentlicher 2008). Durch seine Arbeit an Austernkolo- Bestandteil dieses Konzeptes war die nien entwickelte Möbius den Begriff der glückliche Zusammenarbeit mit dem be- Lebensgemeinschaft oder „Biozönose“, deutenden Architekten Martin Gropius. In der heute ein zentraler Begriff in der Öko- enger Zusammenarbeit entwickelten bei- logie ist. Er ist damit zumindest Mitbe- de einen völlig neuen Museumsbau, das gründer der Ökologie. Von August 1874 Hallenmuseum. Vorbild war das Museum bis März 1875 führte Möbius eine For- des College of Surgeons in London mit schungsexpedition nach Mauritius im Indi- seiner 1855 errichteten Halle. Gropius schen Ozean durch, mit einem kurzen hatte das College of Surgeons aufge- krankheitsbedingten Aufenthalt auf den sucht, um sich Anregungen für den Bau Seychellen. Die tropischen Korallenriffe mit des Kielers Zoologischen Museums zu ihrer überreichen und vielfältigen Fauna, holen. Das so gemeinsam entwickelte die er vor Ort studierte, erwiesen sich als Kieler Museum strahlte als Vorbild auf an- ein zweites Modellsystem für die Interak- dere zoologische Museen aus. tionen von Lebewesen und zur Bestäti- Auch wissenschaftlich erlangte die gung und Erweiterung seines Konzepts Zoologie in Kiel weit über die Grenzen der Lebensgemeinschaft. Nebenbei erar- Schleswig-Holsteins an Bedeutung, da Mö- beitet er sich dort auch Sammlungen, die bius ein hervorragender Pädagoge und bis heute zu den marinen Referenzsamm- ein ebenso vielseitiger wie bedeutender lungen für den westlichen Ozean zählen. Sein bedeutender Schüler Friedrich Dahl entwickelte den Biozönosebegriff weiter. Er übertrug Möbius' marine Ansät- ze auf das Land und entwickelte dabei den Terminus „Biotop“. Außerdem wurde er Urheber und Herausgeber eines der bedeutendsten Werke zur Bestimmung der mitteleuropäischen Fauna, der „Tier- welt Deutschlands“, einer Reihe, die heute aus über 80 Bänden besteht, deren bis- lang letzter 2007 erschien. (Möbius 1880, Kölmel 1984, Türkay1981, Glaubrecht 2008, Köstering 2009, Brandis 2009, 2012, Das Zoologische Museum in Kiel etwa um1920 Brandis & Dreyer, 2015)

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Hamburg gebracht. Möglich wurde dies durch die Privatyacht Meyers, mit der die meisten Ausfahrten unternommen wur- den. Neben der wissenschaftlichen Beob- achtung stellte der Aufbau eines Aquari- ums in Hamburg, das 1864 eröffnet wurde, den wesentlichen Antrieb für die- se Unternehmung dar. Das Ergebnis der jahrelangen Untersuchungen und Erfor- schung der Kieler Förde bildete der im Jahr 1865 erschienene erste Band der „Fauna der Kieler Bucht“ (Meyer & Mö- bius, 1865): Meyer und Möbius beschrän- ken sich darin nicht nur auf das Sammeln von Organismen, sondern dokumentieren außerdem geographische und physikali- sche Faktoren wie Temperatur, Salzgehalt, Strömungsverhältnisse, Wasserstand und Heinrich Adolf Meyer (1822–1889) -tiefe. Das Besondere dabei ist, dass die Autoren die hydrographischen, sedimen- Heinrich Adolf Meyer und der Beginn der tologischen, botanischen und faunisti- Kieler Meeresforschung schen Beobachtungen kombinieren. Sie Zusammen mit Karl-August Möbius setzen physikalisch-chemische und biolo- spielte der Hamburger Fabrikant Heinrich gische Faktoren in der Umgebung der Adolf Meyer (1822–1889) eine zentrale Tiere in Beziehung zu ihren Lebens- und Rolle bei der Entstehung der modernen Wachstumsbedingungen und schaffen so Meeresforschung. In den 1860er Jahren einen ersten Entwurf von Programm und formte er einen Kreis meereswissen- Methode der Ökologie (Meyer & Möbius schaftlich interessierter Naturforscher, zu 1865, Brandis, im Druck) dem neben Karl August Möbius der Physiologe Victor Hensen (1835–1924), Die Entwicklung der Kieler Meeresfor- der Physiker Gustav Karsten (1820–1900) schung: Viktor Hensen - Karl Brandt - Ernst und er selbst gehörten. Seit den 1850er Vanhoeffen Jahren hatten Meyer und Möbius begon- Viktor Hensen promovierte 1859 in nen, Meerestiere aus Nord- und Ostsee in Kiel als Mediziner und wurde dann von Aquarien zu hältern und zu beobachten. Behn für die gerade vakant gewordene Aus zunächst sporadischen Fängen von Stelle eines anatomischen Prosektors ein- Ostseetieren entsprang der Plan, eine gestellt. Er übernahm damit die Leitung Fauna der Kieler Förde zu erarbeiten. Von der anatomischen Sammlung. Er habili- 1860 an wurden regelmäßig einmal im tierte noch im gleichen Jahr und wurde Monat Tiere in Kiel gefangen und nach 1868 als Ordinarius für Physiologie an die

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medizinische Fakultät berufen. Obwohl feld des Zoologischen Museums und der Mediziner, wurde auch Hensen zum Mit- Kieler Meeresforschung. Grund war der begründer der modernen Meeresfor- Wechsel von Karl Möbius nach Berlin und schung. Mehr als 50 Jahre aktiv war er die Berufung seines Nachfolger Karl maßgeblich am Aufbau und der Konsoli- Brandt an das Zoologische Institut. Brandt dierung der Kieler und der deutschen war ein hervorragender Meeresbiologe, Meeresforschung beteiligt. Neben seiner der in Neapel gearbeitet hatte und der Tätigkeit als Vorstand des physiologi- auch in quantitativem Denken geschult schen Institutes mit vielfältigen Aufgaben- war. Brandt griff in seiner wissenschaft- feldern widmete er einen großen Teil sei- lichen Arbeit die Sichtweise von Hensen ner Zeit der biologischen Meeresfor- auf und zusammen mit Hensen und dem schung. 1887 führte er den Begriff „Plank- Botaniker F. Schütt gelang es 1889, eine ton“ in die Wissenschaft ein. In der Mee- Schiffsreise in den Atlantik zu initiieren, reskunde gelang es Hensen, wesentliche die als Plankton-Expedition in die mee- Teile des Fundamentes für eine völlig resbiologische Weltliteratur einging. Die neue Sicht des Meeres und seiner Be- Sammlungen waren über die quantitati- wohner zu schaffen. Bis dahin galt die ven Daten hinaus so reich an neuen Arten Sichtweise dem einzelnen Organismus, und Formen, dass die Herausgabe des seiner Genese und seiner Ästhetik. Expeditionsberichtes statt der veran- Nach 1887 bekam Hensen einen be- schlagten zwei Jahre zwei Jahrzehnte be- stimmenden Einfluss auf das Tätigkeits- nötigte. Das gesamte Referenz- und Ty- penmaterial dieser weltberühmten Expedition kam in die Sammlungen des zoologischen Museums Kiel. Eine bedeu- tende Entdeckung Karl Brandts ist die Entdeckung der Symbiose von Zoochlo- rellen / Zooxanthellen mit Tieren. 1890 kam Ernst Vanhöffen als Assistent von Karl Brandt nach Kiel, wo er bis 1906 als Honorarprofessor arbeitete. Ausgebil- det in Königsberg, war er stark beein- flusst von Richard Hertwig und Carl Chun. Er ist besonders bekannt gewor- den durch seine Arbeiten an Quallen und als Teilnehmer verschiedener bedeuten- der Expeditionen: der deutschen Tiefsee- Expedition unter Leitung von Karl Chun auf dem Forschungsschiff Valdivia und der Deutschen Südpolar-Expedition unter der Leitung von Erich von Drygalski auf Victor Hensen (1835–1924) dem Forschungsschiff Gauss, deren

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zu führte die Kommission im Jahre 1871 eine umfangreiche Ostsee-Expedition durch. Sie fand vom 6. Juli bis zum 23. Au- gust des Jahres mit dem Marinedampfer Pommerania statt und führte bis Stock- holm, Gotland und Memel (heute: Klaipè- da) (Brandis, im Druck). Zuvor war eine kürzere Reise durch das Kattegat und Skagerrak ins norwegi- sche Arendal organisiert worden. Die zweite Untersuchungsfahrt ging vom 21. Juli bis zum 9. September 1872 in die Nordsee. Zur Bearbeitung des umfang- reichen Probenmaterials nahmen mehr Wissenschaftler teil als an der Ostsee- fahrt. Dies verstärkte die Tendenz, For- schungsfahrten in einzelne wissenschaft- Karl Brandt (1854–1931) liche Disziplinen zu unterteilen. Die Ergebnisse beider Fahrten wurden erst- Sammlungen bis heute einen einmaligen mals zusammenfassend dargestellt im Referenzstatus in der Meeresforschung zweiten Band der „Fauna der Kieler einnehmen. Ab 1906 ging Vanhöffen als Bucht“, der 1872 erschien. In dieser Stu- Kurator für Crustaceen, Myriapoda und die werden erstmals die hydrographi- Coelenterata an das Naturhistorische Mu- schen Verhältnisse der westlichen Ostsee seum Berlin. (Storch 2009, Brandis, im – auf der Basis der Fahrtdaten der Pom- Druck) merania – einer umfassenden Analyse unterzogen. Neu ist ferner die Darstel- Die Kommission zur Untersuchung der lung der Mechanismen von Strömungen deutschen Meere und des Wasseraustausches, woraus sich Die von Meyer, Möbius und Hensen das Auftreten unterschiedlicher Salzge- konzipierten und organisierten meeres- halte und schwankender Temperaturen biologischen Untersuchungen führten erklärt. Außerdem beschreiben Meyer 1870 zu einer ganz neuen Forschungsein- und Möbius, ebenfalls zum ersten Mal, richtung – der „Commission zur wissen- den Zusammenhang zwischen fehlender schaftlichen Untersuchung der deutschen Besiedlung am Boden der Ostseebecken Meere“, die nach lautstarken Forderun- und mangelnder Sauerstoffversorgung gen des Deutschen Seefischerei-Vereins des Tiefenwassers. Die Wissenschaftler vom preußischen Landwirtschaftsminister gelangten durch die Untersuchung ein- eingesetzt wurde. Aufgabe war die „He- zelner pelagischer Tierarten, die in der bung des Fischfangs“ durch eine bessere Kieler Förde gefangen wurden, zu der Kenntnis der Biologie von Seefischen. Da- Erkenntnis, dass die Faunenzusammen-

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setzung der westlichen Ostsee stark vom forschung (ICES) wurden, von Kopenha- Organismentransport bei günstigen Ein- gen aus koordiniert, die sogenannten strombedingungen aus dem Kattegat ab- „Terminfahrten“ an festgelegten Stationen hängt. Möbius stellte zudem während der durchgeführt, um anhand von - Fahrten die Abhängigkeit der Ostseetiere und Faunadaten die Fischbestände bes- von Salzgehalt und Temperaturschwan- ser abschätzen zu können. In Deutsch- kungen fest. Die Ergebnisse dazu prä- land stand für diese „Terminfahrten“, die sentierte Möbius 1871 in einem Vortrag unter der Leitung von Karl Brandt stattfan- auf der 44. Versammlung deutscher Na- den, das Forschungsschiff Poseidon zu turforscher und Ärzte in Rostock. Dabei Verfügung. Zusammen mit den Daten des prägte er die heute noch gültigen Begrif- 19. Jahrhunderts entstanden auf diese fe „eury-“ und „stenotherm“ zur Charak- Weise weltweit einzigartige Langzeitse- terisierung der besonderen Eigenschaf- rien mariner Organismen aus Nord- und ten der Ostseefauna gegenüber der Ostsee, die heute von unschätzbarem Fauna des Nordatlantiks. Die Forschungs- Wert für die moderne Forschung sind. fahrten wurden zum Teil mit anderen Diese Zeitserien bilden zudem den Schiffen wie der Holsatia (z.B. 1887, Gegenstand eines großen Verbundfor- 1901/02) fortgesetzt. Eine wesentliche schungsprojektes des Bundesministeri- Neuerung der Fahrten formulierte Mö- ums für Bildung und Forschung, das ab bius bereits 1870 in einem Brief an den dem Jahr 2017 vom Kieler Zoologischen Deutschen Fischereiverein: „Die Expedi- tion sollte Auftrag erhalten, Beobach- tungsstationen zu bezeichnen und einzurichten […]. (siehe dazu Brandis, im Druck)“ Ergänzend dazu führte Meyer aus: „Eine Hauptaufgabe dieser Expedi- tion war, einige feste Stationen zu errich- ten, damit fortdauernde Beobachtungen über Salzgehalt, Temperatur, und Strö- mung nicht nur […] an der Wasserober- fläche, sondern auch in mäßigen Tiefen gemacht werden.“ Die Einrichtung wiederauffindbarer Stationen war eine wesentliche Neuerung und ermöglichte die Überprüfung von Veränderungen im biotischen und abiotischen Bereich. Im Jahre 1900 wurde dann die „Deut- sche Wissenschaftliche Kommission für die Internationale Meeresforschung“ (DWK) gegründet. In Zusammenarbeit Wolfgang Freiherr von Buddenbrock-Hetters- mit dem Internationalen Rat für Meeres- dorf (1884–1964)

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Museum koordiniert wird. (Möbius 1871, Brandis, im Druck)

Die Zeit nach dem ersten Weltkrieg und der Neuanfang Der Erste Weltkrieg ließ die Kieler Meeresforschung weitgehend zusammen- brechen und man musste sich ganz auf die Möglichkeiten der vorhandenen Sammlungen konzentrieren. Viele Mitar- beiter, Wissenschaftler, Doktoranden und Studenten des Zoologischen Institutes kehrten nicht zurück 1923 wurde Wolfgang Freiherr von Buddenbrock-Hettersdorf (25.03.1884 – 11.04.1964) nach Kiel berufen. Von Bud- denbrock hatte Zoologie in Jena u.a. bei E. Haeckel (1834 – 1891) studiert, fertigte seine Dissertation bei O. Bütschli (1848 – 1920) in Heidelberg an, habilitierte sich Adolf Remane (1898–1976) dort und erhielt 1920 eine a.o. Professur. Noch im selben Jahr ging er an das Zoo- Kiel zu Auseinandersetzungen zwischen logische Institut Berlin zu K. Haider (1856- dem Gauleiter der Stadt Kiel und von 1935). 1923 erhielt er einen Ruf auf den Buddenbrock. Es folgte ein Austausch der ordentlichen Lehrstuhl an das Zoologi- Ordinarien; v. Buddenbrock musste nach sche Institut Kiel. Das war ein großer Halle und Adolf Remane wurde zum sel- Glücksfall für Kiel. Buddenbrock war ein ben Datum nach Kiel zurückberufen. bedeutender Meeresbiologe, der sich mit Hauptgrund war, dass man ihn für den physiologischen Fragen bei marinen Tie- einzigen geeigneten Kandidaten für Auf- ren beschäftigte. Buddenbrock baute mit bau und Leitung eines neuen Institutes für großer Tatkraft ein für die damalige Zeit Meeresforschung hielt (Gerlach & Kortum sehr modernes Zoologisches Institut auf, 2000). Von Buddenbrock erhielt Kenntnis das bald wieder einen internationalen Ruf über seine, nach eigenem Empfinden, genoss. Strafversetzung am 24. Februar und mus- Als 1923 von Buddenbrock an das ste schon zum 1. März sein neues Amt Zoologische Institut der Kieler Universität antreten. berufen wurde, folgte ihm Adolf Remane 1936 wurde also Adolf Remane Direk- als Assistent, habilitierte sich unter seiner tor des Zoologischen Instituts der Univer- Obhut und erhielt 1929 eine außerordent- sität Kiel und bekam den Auftrag, in Kitze- liche Professur in Kiel. Von dort wurde er berg am Ostufer der Kieler Förde ein 1934 nach Halle berufen. 1936 kam es in Meeresinstitut mit Abteilungen für Biolo-

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gie, Hydrographie/Che- mie und Hydrogeologie zu gründen. 1937 wurde das Institut eingeweiht und Remane wurde kommissarischer Direk- tor. 1944 wurde der Chemiker Hermann Wattenberg zum Direk- tor ernannt (Gerlach & Kortum, 2000). Der lebhafte Lehr- und Forschungsbetrieb in Kiel nahm unter der Leitung von Remane ei- Das Zoologische Museum Kiel heute nen weiteren Auf- schwung. Insbesondere legte Remane Wert auf die Etablierung mor- phologisch-ökologi- scher Methoden und die Erforschung der ein- heimischen Fauna. Unter Remane entwickelte sich Kiel zu einem be- deutenden Zentrum der Zoologie in Deutsch- land. Noch immer war der marine Schwer- punkt die Hauptsache. Die große Walhalle mit dem Orca-Skelet Die terrestrische Fauna übertrug er dem jungen Wissenschaftler W. Tischler, der später wird heute allgemein „Meiofauna“ ge- den ersten Lehrstuhl für Ökologie inne- nannt und wurde zu einem breiten hoch- hatte. aktuellen Forschungsfeld, insbesondere in Remanes wissenschaftliche Leistungen der Tiefsee- und Polarforschung. sind enorm. Ihm gelang in Kiel die Ent- Parallel zu seinen umfangreichen Ar- deckung eines der letzten unbekannten beiten zur biologischen Vielfalt der mari- Lebensräume der Erde: Das Sandlücken- nen Wirbellosen entwickelte Remane system oder Mesopsammon. Das Meso- Ideen zu grundsätzlichen Problemen von psammon der Terminologie von Remane Morphologie, Phylogenetik und Systema-

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tik. Im Jahre 1952 veröffentlichte er „Die Literatur Grundlagen des Natürlichen Systems, der Brandis, D., 2009. Von der Renaissance bis zur vergleichenden Anatomie und Phylogene- Begründung der deutschen Meeres- tik (Remane, 1952)“. Ein Kernstück des forschung - Die Anfänge des Zoologi- Buches ist die Formulierung der Homolo- schen Museums in Kiel. In: Bosch, T., Bran- dis, D., Dreyer, W. (Eds), Von der Vielfalt gie-Kriterien, heute noch zentraler Be- zum Verständnis: Das Zoologische Muse- standteil morphologischer und evolu- um und die evolutionsbiologische tionsbiologischer Forschung und Lehre. Forschung in Kiel. Christian-Albrechts- Der 2. Weltkrieg veränderte alles. Die Universität zu Kiel, pp. 9-20. Brandis, D., 2012. Die Expedition von Karl Wirren des 2. Weltkriegs führten unter August Möbius nach Mauritius und zu den anderem zum Tod des Institutsdirektors Seychellen. In: Van der Heyden, U., Hermann Wattenberg und zahlreicher Glaubrecht, M., and Pfullmann, U. (Eds), Mitarbeiter. Wattenberg starb am 24. Juli Die Reise des deutschen Forschers Karl 1944 als das Institutsgebäude durch Bom- August Möbius nach Mauritius und zu den Seychellen 1874/75. Harrassowitz Verlag, ben vernichtet wurde. Auch die meisten Wiesbaden, pp. 27–51. Gebäude der Universität wurden zerstört. Brandis, D., im Druck. Das Zoologische Muse- Das Museum überlebte im Wesentlichen, um der Universität Kiel und seine Samm- es hatte zwar auch Verluste in den Samm- lungen: Ein Fenster in die Entdeckungs- lungen aber insgesamt hatte das Museum geschichte der Meere. In: Auge, O. and Göllnitz, M. (Eds), Mit Forscherdrang und Glück. Es ist das einzige weitgehend er- Abenteuerlust – Expeditions- und haltene Originalgebäude der Universität. Forschungsreisen Kieler Wissenschaftler Nach dem Kriege wurde die Universität, und Wissenschaftlerinnen. Wachholtz-Ver- das Zoologische Institut und das Institut lag, Kiel/Hamburg, pp. 233-246. für Meereskunde an anderer Stelle in Kiel Brandis, D., Dreyer, W., 2007. Das Zoologische Museum der Christian-Albrechts-Univer- neu aufgebaut und eingerichtet. (Remane, sität, Christiana Albertina 65, 80–93. 1952, Gerlach & Kortum 2000, Storch, Brandis, D., Dreyer, W., 2015. Die zoologischen 2009, Brandis, 2009, Brandis & Dreyer Schätze der Universität – Ein Jubiläum im 2015, Brandis, im Druck) Jubiläum. In: Auge, O. (Ed), Christian-Al- brechts-Universität zu Kiel. 350 Jahre Wirken in Stadt, Land und Welt. Wach- holtz-Verlag, Kiel/Hamburg, pp. 881–894. Bemerkung zu den Quellen Bruun, A.F., Greve Sv., Mielche, H. and Sparck, Der vorliegende Text basiert auf vorherge- R., 1956. The Galathea Deep Sea Expedi- henden Publikationen des Autors sowie tion, 1950–52. Allen and Unwin. London. anderer Autoren. Um die Lesbarkeit Fabricius, J.C., 1804. Resultate natur-historisch- des Textes zu verbessern, wurden die er Vorlesungen. In der neuen academis- Quellen bis auf Ausnahmen nicht im Text, chen Buchhandlung, Kiel. XX + 428 S. sondern nur jeweils am Ende der einzel- Gerlach, S.A. and Kortum, G., 2000. Zur Grün- nen Kapitel erwähnt. Quelle sämtlicher dung des Instituts für Meereskunde der Abbildungen: Archiv des Zoologischen Universität Kiel 1933 bis 1945. Historisch- Museums der Universität Kiel. meereskundliches Jahrbuch 7, 7-48. Glaubrecht, M., 2008. Karl August Möbius: Von Lebensgemeinschaften zur Artenvielfalt. Werk und Wirken eines außergewöhn-

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lichen Zoologen. Nat wiss Rundsch 61(5), K.A., Richters, F. von Martens, E. (Eds.), 230-236 Beiträge zur Meeresfauna der Insel Mau- Hacker, J., 1984. Vom Kuriositätenkabinett zum ritius und der Seychellen. Verlag der wissenschaftlichen Museum: Die Entwick- Guttmann’schen Buchhandlung, Berlin, pp. lung der Zoologischen Sammlungen der 1–61. Kieler Universität von 1665 bis 1868. Mit- Remane, A., 1952. Die Grundlagen des natür- teilungen aus dem Zoologischen Museum lichen Systems, der vergleichenden der Universität Kiel, Supplement 1. Anatomie und der Phylogenetik. Kölmel, R., 1981. Zwischen Universalismus und Akademische Verlagsgesellschaft Geest Empirie – die Begründung der modernen und Portig, Leipzig. Ökologie- und Biocönose-Konzeption Storch, V., 2009. Adolf Remane (1898-1976). durch Karl Möbius. Mitteilungen aus dem Beiträge zur biologischen Vielfalt und zur Zoologischen Museum der Universität Kiel Evolutionsbiologie. In: Bosch, T., Brandis, 1, 17–34 D., Dreyer, W. (Eds.), ... Von der Vielfalt Köstering, S., 2003. Natur zum Anschauen. Das zum Verständnis: Das Zoologische Muse- Naturkundemuseum des deutschen um und die evolutionsbiologische Kaiserreichs 1871-1914. Böhlau Verlag, Forschung in Kiel. Christian-Albrechts- Köln, 351 S. Universität zu Kiel, Kiel, pp. 33–41. Latreille, P.A., 1808. - Notice biographique sur Türkay, M., 1981. Die Expedition von K. Jean Chrétien Fabricius. Ann Mus hist nat Möbius nach Mauritius und den Sey- Paris 11, 393-404. chellen (1874–75), und die dort gesam- Meyer, H.A., Möbius, K.A., 1865. Die Fauna der melten Decapoda Reptantia. I. Brachyura Kieler Bucht. W. Engelmann, Leipzig. excl. Dromiacea, mit Beschreibung von Möbius, K.A., 1871. Über die im Juli und Menaethiopis moebii, Mitteilungen aus August unternommene wissenschaftliche dem Zoologischen Museum der Univer- Expedition zur Erforschung der Ostsee. sität Kiel 1, 35–64. Tageblatt der 44. Versammlung deutscher Tuxen, S.L., 1967. The Entomologist, J. C. Fabri- Naturforscher und Ärzte, 39-41. cius. Annual Review of Entomology 12, Möbius, K.A., 1880. Eine Reise nach der Insel 1–15. Mauritius im Jahre 1874–75. In: Möbius,

PD Dr. Dirk Brandis Zoologisches Museum der Universität Kiel Hegewischstr. 3, 24105 Kiel [email protected]

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Laudatio auf Diethard Tautz

anlässlich der Verleihung des Karl-Ritter-von-Frisch-Preises 2016 Barbara König

Lieber Diethard, liebe Christiane, sehr verehrte Präsidentin der Deutschen Zoologischen Gesellschaft, Frau Susanne Dobler, sehr verehrte Mitglieder der Jury des Wissenschaftspreises der DZG, liebe Kolleginnen und Kollegen, Studie- rende, Gäste und Freunde!

Die meisten der mit der Deutschen Zoologischen Gesellschaft verbundenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind daran interessiert, die eindrückliche und mannigfaltige biologische Vielfalt auf dem Planeten Erde zu verstehen. In unse- rem jeweiligen wissenschaftlichen Ansatz bearbeiten wir dazu unterschiedliche Fra- gestellungen und verwenden unterschied- Prof. Dr. Barbara König hält die Laudatio liche Analyseebenen. Mit Beginn der mo- Foto Dr. Sabine Gießler lekulargenetischen Ära vor einigen Jahrzehnten und dem damit einhergehen- davon fasziniert, molekulargenetische den exponentiellen Wachstum von Metho- Methoden und Erkenntnisse zur Bearbei- den und Technologien ergaben sich neue tung von wichtigen Fragen der Evolutions- Möglichkeiten, Evolutionsprozesse auf ge- biologie einzusetzen. Im Laufe seiner aka- netischer und genomischer Ebene zu stu- demischen Tätigkeit gelang es ihm, dieren. Es konnten nun Fragen bearbeitet Antworten auf einige basale Fragen der werden, deren detaillierte Analyse zuvor Biologie zu geben: unmöglich gewesen war. Diethard Tautz, • Wie kann Variabilität auf Ebene der der heute mit dem Wissenschaftspreis DNA dazu verwendet werden, die ge- der Deutschen Zoologischen Gesellschaft netische Verwandtschaft unter Indivi- und der Karl-Ritter-von-Frisch Medaille duen einer Population zu analysieren, ausgezeichnet wird, gehörte zu den Pio- um empirisch grundlegende Theorien nieren, die zum Studium evolutionsbiolo- der Evolutionsbiologie zu überprüfen, gischer Prozesse die Molekulargenetik in wie das Hamilton'sche Konzept der in- Betracht zogen. Schon als Student war er direkten Fitness-Gewinne?

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• Wie kann die molekulare Genetik dazu wickelte er in seinem Labor die heute beitragen, die Stammesgeschichte weit verwendete Methode der „whole- (Phylogenie) von großen und artenrei- mount in situ hybridization“, die eine chen Taxa wie der Arthropoda (Glie- räumlich-zeitliche Musteranalyse der dertiere) aufzulösen, mit ihrer enormen Genomexpression im Embryo ermög- Vielfalt an schwer zu analysierenden licht, um nur ein Beispiel aus diesem morphologischen Merkmalen? Gebiet zu nennen. • Welche molekularen Prozesse ermög- • Er hat bereits bei den allerersten Publi- lichen die Entwicklung von komplexen, kationen das Potential des genetischen hoch differenzierten Organismen? „DNA-Barcodings“ für Systematik und • Wie entstehen neue Merkmale, an de- Taxonomie erkannt, auch wenn sich nen natürliche Selektion angreifen das Gebiet dann vor allem außerhalb kann? Deutschlands entwickelte. • Was ist die molekulare Grundlage von Anpassungen, und wie können wir sie In jüngerer Zeit ist er in seiner For- identifizieren? schung an vorderster Front der evolutio- nären Genomik tätig. Diethard Tautz ist ein Vollblut-Evolu- • Er gehörte zu den Ersten, die im Ge- tionsbiologe, der über vielfältige Frage- nom Hinweise kürzlich erfolgter Selek- stellungen forscht. Sein hohes wissen- tion auf spezifische Gene bei wilden schaftliches Ansehen in der inter- Hausmäusen und bei Groppen (einem nationalen Wissenschaftsgemeinschaft in Deutschland in Flüssen lebenden gründet darauf, dass er immer wohl- Knochenfisch) nachwies. durchdachte analytische Methoden oder • Er hat die Anwendung der RNA-Seq „Werkzeuge“ mit zielgerichteten Studien Methode (next-generation transcripto- auf der Ebene individueller Gene oder me sequencing) in der Evolutionsbiolo- mit Genom-weiten populationsgeneti- gie etabliert. schen Analysen verknüpft – all das jeweils • Er gehörte zu den Ersten, welche sich mit einem evolutionsbiologischen Ansatz. für die Entwicklung von Methoden zur Genom-weiten Analyse epigenetischer Wenn wir einige Jahre zurück schau- Änderungen einsetzte (Methylierung, en, dann können wir folgende Meilenstei- Histon-Acetylierung). ne der Forschungstätigkeit von Diethard • Er untersucht schon seit mehreren Jah- Tautz erkennen: ren die Evolution von Krebs-Genen. • Er ist der wissenschaftliche „Gründer- • Er hat bei wilden Hausmäusen die vater“ der Methode des DNA-Fingerab- „Geburt“ eines neuen Gens analysiert drucks mittels Mikrosatellitenanalyse. und dokumentiert. • Er ist einer der Gründer des Arbeits- • Weitere derzeitige Forschungsfragen gebiets „evo-devo“ („evolutionary aus seinem Labor sind die verglei- developmental “ oder evolutio- chende Phylogenomik und die RNA näre Entwicklungsbiologie). So ent- Sequenzierung über Hybridzonen, um

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den Prozess der Artbildung zu ver- Ich möchte hier nicht detailliert auf stehen. seinen wissenschaftlichen Lebenslauf ein- gehen, nur erwähnen, dass er als Biologe Fasst man die Forschungsleistungen in Frankfurt am Main, Tübingen, Heidel- von Diethard Tautz zusammen, wird deut- berg, Cambridge (UK), München und lich, dass er unser Verständnis der Mikro- Köln an Universitäten, am EMBL (Europe- Anpassung gestaltet hat. Er ist ein Vorden- an Molecular Biology Laboratory), sowie ker in Bezug auf unsere Kenntnis der an Max-Planck-Instituten tätig war. Seit molekularen Grundlage von Anpassun- 2007 ist er Direktor am Max-Planck-Insti- gen und von Genom-Analysen der Varia- tut für Evolutionsbiologie in Plön, Nord- tion innerhalb und zwischen Populatio- deutschland. Er wurde für seine innovati- nen. In seinem Ansatz liegt der ven und kreativen Ideen und Forschungs- Schwerpunkt weniger darauf, molekulare ergebnisse mit hoch angesehenen Sti- Variation mit spezifischen Merkmalen und pendien, Mitgliedschaften und Preisen Anpassungsmechanismen zu verbinden, ausgezeichnet – wer diese im Detail sondern er versucht statt dessen, Muster nachlesen möchte, wird beispielsweise in koordinierter genetischer Differenzierung Wikipedia unter "Diethard Tautz" die ein- zu entdecken. Im direkten Gespräch ist drucksvolle Liste finden. er ein immens stimulierender und im po- Hier möchte ich statt dessen einige sitiven Sinne herausfordernder Partner, persönliche Anmerkungen anfügen, wa- wenn es um ein evolutionsbiologisches rum Diethard Tautz ein „vorbildlicher“ Thema – welcher Art auch immer – geht. Preisträger der Karl-Ritter-von-Frisch Me- daille ist, der zweifellos jegliche in den Statuten für diese Auszeichnung erwähnten Kriterien er- füllt.. Er ist kreativ, inno- vativ, auch risikofreudig beim Verfolgen seiner Forschungsinteressen und er integriert als Evolutionsgenetiker die Ergebnisse und Ideen unterschiedlicher zoo- logischer Disziplinen (Taxonomie, Systema- tik, Genetik, Entwick- lungsbiologie, Verhal- ten, Populationsbio- Prof. Dr. Diethard Tautz erhält Medaille und Urkunde aus den Hän- logie usw.). Sein Ansatz den der Präsidentin, Prof. Dr. Susanne Dobler. Foto Dr. S. Gießler ist grundlegend inte-

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grativ, und meistens betont er das noch auch für administrative Aufgaben in der nicht einmal, da es für ihn so selbstver- Wissenschaft sowie Wissenschaftspolitik ständlich ist, diese Disziplinen in einen zur Verfügung. Um nur einige wenige, im evolutionsbiologischen Kontext zu stellen. internationalen Zusammenhang aber Zu seiner Persönlichkeit gehört aber wichtige Funktionen zu erwähnen: In den noch mehr. Bereits vor vielen Jahren hat Jahren 2005 und 2006 war er Präsident mich sein unermüdlicher Einsatz für der Deutschen Zoologischen Gesellschaft Nachwuchswissenschaftlerinnen und e.V.. Als Präsident des VBIO (Verbands -wissenschaftler beeindruckt. Dies betrifft Biologie, Biowissenschaften und Biomedi- nicht nur Postdocs, die an von ihm ange- zin) hat er sich nachdrücklich (und nach- stoßenen Projekten arbeiten, sondern haltig) sowohl für die Interessen der Biolo- auch jüngere unabhängige Nachwuchs- gie auf unterschiedlichen Ebenen unserer gruppenleiterinnen und -leiter, mit denen Gesellschaft eingesetzt, als auch die Be- er nie publizierte (und seine Unterstüt- deutung der Biologie für unser tägliches zung hatte wohl auch nie das Ziel, ge- Leben betont. Während mehr als einem meinsam zu publizieren). Die Motivation Jahrzehnt war er Gründungsmitglied und für seine Unterstützung war wohl einfach, einer von zwei Herausgebern der von der dass er den Forschungsansatz und die Deutschen Zoologischen Gesellschaft ge- Ideen der betreffenden Person schätzte. gründeten Fachzeitschrift (open access) Diese Haltung wird besonders deutlich, „Frontiers in Zoology“ und hat zu deren wenn es um die Förderung hoch qualifi- hohem internationalen Ansehen maßgeb- zierter Wissenschaftlerinnen geht. Er lich beigetragen, wie am derzeitigen Im- schätzt, respektiert und unterstützt den pact-Faktor zu erkennen ist. Wunsch von Frauen, eine wissenschaftli- che, akademische Karriere mit Familie zu vereinbaren, und zu diesem Zweck hat er Lieber Diethard, wir gratulieren Dir sehr Wissenschaftlerinnen mit kleinen Kindern herzlich zur Karl-Ritter-von-Frisch Medail- bereits ein „home office“ eingerichtet, le, dem Wissenschaftspreis der Deutschen lange bevor dieser Begriff in unsere All- Zoologischen Gesellschaft, und sind ge- tagssprache Einzug hielt. spannt auf zahlreiche weitere Entdeckun- Diethard Tautz ist aber nicht nur groß- gen und Erkenntnisse, die dazu beitragen zügig im Teilen seiner Zeit und seines werden, die Ursachen und Mechanismen Wissens mit Wissenschaftlerinnen und der Vielfalt des Lebens zu verstehen. Wissenschaftlern, sondern er stellt sich

Prof. Dr. Barbara König Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften Universität Zürich Winterthurerstrasse 190, CH-8057 Zürich [email protected]

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Der Ursprung neuer Gene und die Evolution des Phänotyps

Diethard Tautz

Vortrag anlässlich der Verleihung der Karl-Ritter-von-Frisch-Medaille, Kiel 2016

Wie entsteht aus der linearen geneti- schen Information, die in der DNA kodiert ist, die dreidimensionale Form eines Orga- nismus? Welche genetischen Prozesse sind in der Evolution der unterschiedlichsten Formen der Organismen beteiligt? Welche Rolle spielt dabei die Evolution neuer Ge- ne? Trotz der rasanten Fortschritte der Mo- lekularbiologie, Entwicklungsbiologie und Genomik haben wir dieses klassische Pro- blem der Biologie bisher nur sehr unzurei- chend verstanden. Wir beschäftigen uns mit dieser Frage schon seit längerer Zeit (Tautz und Schmid 1998). Die Entwicklungsgenetik hat uns in den letzten Jahrzehnten zwar Foto Dr. Sabine Gießler tiefe Einblicke verschafft, welche Gene an der Frühentwicklung von Tieren und

Abb. 1: CT-Scans des Kopfskeletts zweier Nagetier-Spezies (links das Hörnchen Callosciurus prevostii, rechts der Gleitbilch Idiurus zenkeri) mit unterschiedlicher ökologischer Anpassung. Allein aus den großen Unterschieden in der Nase, den Augenhöhlen und der Kiefer/Zahn Mor- phologie lassen sich Anpassungen an die jeweilige Umwelt ableiten. Gleichzeitig wird aber auch die hohe Integration und Präzision des Phänotyps sichtbar. (Bilder von Anja Schunke)

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Pflanzen beteiligt sind. Aber da ging es 2. Welche genetische Architektur sorgt für vor allem um die Festlegung von Polaritä- die entwicklungsbiologische Ausge- ten, Achsen oder die Gastrulation und die staltung des Phänotyps? Differenzierung von Zellen und Organen. Die beiden Fragen sollen im folgenden Diese Gene sind oft hoch konserviert und separat beleuchtet und dann der Versuch ihre vergleichende Analyse hat uns das einer Synthese gemacht werden. Dabei Feld der EvoDevo-Forschung (Evolution gehe ich vor allem auf einige unserer ei- von Entwicklungsprozessen) beschert. genen Beiträge ein, die naturgemäß nur Aber ob diese Gene auch in der Ausfor- einen Teil des Themas abdecken. In den mung der Organismen zum adulten Phä- jeweils zitierten Arbeiten finden sich aber notyp eine Rolle spielen, ist bestenfalls die Querverweise zu der breiteren Litera- ansatzweise bekannt. Und praktisch völlig tur. unbekannt ist, wie eine differenzierte dreidimensionale Form generiert wird. Die Entstehung von Genen Die Ausformung des Kopfskeletts von Gene sind als diskrete Einheiten im Wirbeltieren bietet dabei ein besonders Erbmaterial, also der DNA kodiert. Schon anschauliches Beispiel (Abb. 1). Augen, sehr früh nach der Entdeckung dieser Ohren und Nase müssen in dem Skelett Tatsache wurde darüber spekuliert, dass funktional "untergebracht" werden. Auch durch Duplikation und Diversifikation sol- die Nahrungsaufnahme mit der Speziali- cher Einheiten Vielfalt entstehen könnte. sierung des Kauapparates läuft darüber. Mit der Entschlüsselung des genetischen Damit ist das Kopfskelett aber auch die Codes und der Sequenzierung von Pro- Struktur, über die evolutionäre Anpassun- tein und DNA Sequenzen wurde schnell gen an neue Umweltbedingungen am klar, dass alle Organismen einen Set von schnellsten wirken. Wir wissen, dass gemeinsamen Genen enthalten, die auf durch gezielte Zucht die Kopfform sehr den Ursprung der ersten Zellen zurück- leicht veränderbar ist, dass sie dabei gehen. Aus dieser Einsicht entwickelte aber gleichzeitig ihre hohe Integration sich die Idee, dass es weniger die Gene behält. Es handelt sich also um eine selbst sind, die zur biologischen Diver- Struktur, die mit hoher Präzision gene- sität führen, sondern Veränderungen in riert wird, aber gleichzeitig sehr leicht der Regulation dieser Gene (Jacob 1977). veränderlich ist. Dabei wurde aber zunächst übersehen, Dies gilt aber letztlich auch für alle dass alle evolutionären Linien auch Gene Strukturen des adulten Phänotyps, die der enthalten, die nicht in anderen Linien vor- evolutionären Änderung zugänglich sind. kommen. Diese sogenannten "orphan" Damit stellen sich zwei grundsätzliche Gene wurden zuerst im Rahmen von Ge- Fragen: nomsequenzierungsprojekten entdeckt 1. Wo kommt das Reservoir der Gene (Dujon 1996). Heute wissen wir, dass ein her, auf deren Basis die Evolution des wesentlicher Anteil aller Gene einer ge- Phänotyps möglich ist? gebenen evolutionären Linie im Laufe der

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Evolution der Linie neu entstanden sein anderen Linien. Wir haben daher vorge- müssen (Tautz und Domazet-Loso 2011). schlagen, dass die systematische Analyse Es liegt nahe anzunehmen, dass diese der Entstehung neuer Gene immer nur Gene auch wesentlich an der Entstehung im Rahmen einer definierten Phylogenie der zugehörigen evolutionären Anpassun- erfolgen sollte, ein Vorgehen das wir als gen und Phänotype der Linie beteiligt Phylostratigraphie bezeichnet haben (Do- waren. mazet-Loso et al. 2007). Hier wird auf der Aber wie entstehen ganz neue Gene? Basis der Durchsuchung vollständiger Unser ursprüngliches Modell dazu fußte Genomsequenzen heute lebender Orga- auf der Annahme, dass es sehr schwer nismen der jeweils letzte gemeinsame sein müsste komplett neue funktionale Ge- Ursprung für jedes Gen im Genom ge- ne aus den mehr oder weniger zufälligen sucht. nicht-kodierenden Regionen des Genoms Wenn man die phylogenetische Ein- zu evolvieren. Jacob (1977) hatte diese ordnung der Gene mit einer Abschätzung Möglichkeit sogar kategorisch ausge- des Alters der jeweiligen Verzweigungen schlossen. Entsprechend nahmen wir auch kombiniert, dann erhält man einen Plot zu an, dass der erste Schritt eine Duplikation Entstehungsraten von Genen im Laufe eines existierenden Gens sein sollte, das der Zeit. Abbildung 2 zeigt einen solchen dann aber in einer adaptiven Phase soweit Plot für die Gene der Maus. Auffällig ist, divergieren sollte, dass die ursprüngliche dass es peaks der Entstehungsraten von Verwandtschaft mit dem Ausgangsgen Genen gibt, die mit Radiationen korrelie- nicht mehr erkennbar wäre (Domazet- ren. Damit wird nahe gelegt, dass neue Loso und Tautz 2003). Inzwischen ist aber Gene tatsächlich eine aktive Rolle in der klar, dass auch die de novo Genentste- Generierung neuer Vielfalt während einer hung möglich ist, also die Generierung ei- Radiation spielen. nes komplett neuen Gens aus einer nicht- Wenn man sich die peaks aber genau- kodierenden Region (Heinen et al. 2009; er ansieht, dann repräsentieren sie je- Tautz und Domazet-Loso 2011). weils die Zeit unmittelbar vor einer Radia- tion. Und gleichzeitig sieht man den ver- Phylostratigraphie gleichsweise höchsten peak bei den Unabhängig vom genauen Mecha- jüngsten Linien. Wie passt das zusam- nismus der Entstehung neuer Gene stellte men? Wir haben dazu vorgeschlagen, sich aber die Frage, wie man "orphan" dass es im gesamten Lauf der Evolution Gene eigentlich genau definieren sollte. immer eine hohe Rate der Generierung Die Definition, nach der diese nur in der neuer Gene gegeben hat, so wie jetzt in zugehörigen evolutionären Linie existie- den rezenten Linien. Da sich aber die ren sollten, ist ja sehr ungenau, da eine Zahl der Gene über die Zeit nicht konti- evolutionäre Linie nicht aus sich selbst nuierlich vergrößert hat, muss es auch heraus definiert ist. Distinkte Linien defi- immer eine korrespondierend hohe Rate nieren sich ja nur im phylogenetischen an Genverlusten gegeben haben. Nur in Rahmen, nämlich durch Abzweigung von Zeiten der Radiation waren die Verlustra-

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Abb. 2: Altersbestimmung der Gene der Maus (Mus musculus) mittels Phylostratigraphie, aufge- tragen als Rate der Entstehung an den jeweiligen Knotenpunkten der verwendeten Phylogenie. Die drei Pfeile markieren jeweils den Beginn der drei Erdzeitalter, die mit grossen Radiationen einhergehen (Paläozooikum. Mesozooikum und Kaenozooikum). Der peak um 800 Mill Jahre korreliert mit einer Phase, in der die Oberfläche der Erde komplett gefroren war ("snowball earth phase") und nach deren Auftauen die ersten mehrzelligen Lebewesen erschienen (Ediaca- ra Fauna). Die Zeitachse ist nicht linear um eine bessere Auflösung der neueren Zeiträume zu ermöglichen. (Abbildung nach Tautz und Domazet-Loso 2007)

ten geringer, da mehr von den bereits Aber was spricht dafür, dass neue Ge- vorher entstandenen Genen für die neuen ne insbesondere an der Generierung des Funktionen rekrutiert wurden (Tautz und adulten Phänotyps beteiligt sind? Um dies Domazet-Loso 2011). Tatsächlich wissen zu untersuchen haben wir die Altersab- wir inzwischen, dass es sich bei der de schätzung aus der Phylostratigraphie mit novo Generierung und dem Verlust neuer der Expression der Gene während der Gene sogar um einen außerordentlich Entwicklung in einem sogenannten "trans- aktiven Prozess handelt, der bereits im scriptome age index" kombiniert (Doma- Laufe weniger Millionen Jahre das gesam- zet-Loso und Tautz 2010). Abbildung 4 te Genom erfasst und damit der Evolution zeigt einen entsprechenden plot für den zum testen bereit stellt (Neme und Tautz Lebenszyklus des Zebrafischs. Es wird 2016). Weiterhin konnten wir zeigen, dass deutlich, dass die vergleichsweise älte- ein hoher Anteil zufälliger Sequenzen po- sten Gene während einer besonders kon- tentiell eine biologische Aktivität haben servativen Phase der Entwicklung, näm- kann, dass also die Annahmen von Jacob lich dem phylotypischen Stadium, expri- (1977) über mögliche Funktionen von miert werden. Adulte Organismen expri- Genen aus Zufallssequenzen hinfällig sind mieren hingegen ein wesentlich jüngeres (Neme et al. 2017). Dies führt zu dem in Set von Genen. Diese statistischen Analy- Abbildung 3 dargestellten erweiterten sen schließen natürlich nicht aus, dass Modell der Genentstehung. auch sehr konservierte Gene an der Adultentwicklung beteiligt sind, aber sie

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weisen jüngeren Genen eine besondere pe von Individuen eine bestimmte varia- Rolle zu. ble morphologische Ausformung mit ei- nem oder mehreren variablen Genen im Genetische Architektur der Genom der Individuen korreliert. Dieses Kopfentwicklung Vorgehen ist als "genomwide association Um sich der zweiten der oben ange- study" oder GWAS bekannt. Es wird beim sprochenen Fragen zu nähern, befassen Menschen oft angewandt, um die Ursache wir uns schon seit einigen Jahren mit genetischer Erkrankungen zu finden. Wir grundlegenden Fragen zur Variabilität nutzen es allerdings nicht um krank ma- und Evolution des Kopfskeletts bei Mäu- chende Mutationen zu identifizieren, son- sen (Boell und Tautz 2011). Dazu benut- dern um die natürliche genetische Varia- zen wir insbesondere die Computerto- bilität in Populationen zu untersuchen. mographie, um die Skelettform zu er- Denn es ist diese Variabilität, die die Basis fassen, und geometrische Morphometrie, für weitere Evolution bildet, und über die- um diese zu quantifizieren (Klingenberg se Variabilität findet man auch die an der 2010). Mit Hilfe dieses quantitativen Zu- genetischen Architektur beteiligten Gene. gangs ist es dann auch möglich einen ge- Wir haben zwei große solche Studien netischen Zugang zu bekommen. Man durchgeführt. In der ersten haben wir fragt dabei, ob in einer gegebenen Grup- Mäuse aus einer natürlichen Hybridzone

Abb. 3: Modell des Lebenszyklus von Genen. Im oberen Teil ist die klassische Sichtweise darge- stellt, nach der neue Gene durch verschiedene Duplikationsmechanismen aus existierenden Genen entstehen (grüner Pfeil). Gene können aber auch durch Mutationen zu Pseudogenen werden und werden damit Teil der nicht-kodierenden Sequenzen (roter Pfeil). Aus nicht-kodie- renden Sequenzen können durch stochastische Mutationen aber auch wieder neue Gene ent- stehen, die über ein neutrales Protogen Stadium schließlich adaptiv in das kodierende Genom integriert werden können (blauer Pfeil). (Abbildung nach Neme und Tautz 2014).

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zwischen den Unterarten Mus musculus Vererblichkeit der morphologischen domesticus und Mus musculus musculus Unterschiede sehr hoch war, die signifi- untersucht (Pallares et al. 2014). In der kant assoziierten Loci nur einen kleinen zweiten haben wir eine Auszucht-Popula- Teil dieser Vererblichkeit erklären konn- tion von Mus musculus domesticus genutzt ten. Dieses Phänomen der "missing her- (Pallares et al. 2015). Abbildung 5 zeigt itability" ist aus vielen GWAS Untersu- einen Vergleich der dabei erzielten Er- chungen bekannt. Erklären lässt es sich gebnisse. In beiden Fällen konnten wir dadurch, dass es neben den hoch signifi- Loci identifizieren, die hoch signifikant mit kanten Genen sehr viele zusätzliche Ge- den morphometrisch bestimmten Unter- ne gibt, die jedes für sich nur einen klei- schieden korrelierten. nen Effekt auf den Phänotyp haben, als In beiden Fällen waren darunter viele gesamtes aber den Phänotyp wesentlich Gene, von denen bereits vorher durch beeinflussen. klassische genetische Studien bekannt Diese Gene sind einzeln nur sehr war, dass sie an Knochenbildungsprozes- schwer zu fassen - sie "verbergen" sich un- sen beteiligt sind. Allerdings fanden wir ter den vielen kleinen peaks unterhalb der auch in beiden Fällen, dass, obwohl die Signifikanzlinien in Abbildung 5. Letztlich

Abb. 4: Altersprofil der Gene des Zebrafisches, die im Laufe der Entwicklung exprimiert wer- den. Geplottet ist der "Transcriptome Age Index" der für jedes Entwicklungsstadium die Summe des durch Phylostratigraphie kalkulierten Alters aller exprimierten Gene angibt. Die dünnen Li- nien geben das Konfidenzintervall wider. Das Entwicklungsprofil beginnt beim unbefruchteten Ei und endet bei 1,9 Jahre alten Tieren. Der rosa markierte Block repräsentiert das phylotypi- sche Stadium. (Abbildung nach Domazet-Loso und Tautz 2010).

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bräuchte man wesentlich größere Stich- Wenn man die beiden Studien ver- proben um mit ihnen Signifikanz zu errei- gleicht, gibt es aber noch eine weitere chen. Statistisch kann man den Effekt aber sehr wesentliche Einsicht. Die beiden Stu- durch folgende Überlegung belegen. dien zeigen sehr unterschiedliche signifi- Wenn es sehr viele Gene gibt, die den kante Assoziationen, d.h. die Gene mit Phänotyp beeinflussen, und wenn diese den stärksten Effekten sind unterschied- mehr oder weniger zufällig im Genom lich. Im klassischen genetischen Sinn verteilt sind, dann sollte es eine gute Kor- könnte man daher sagen, dass die Ergeb- relation zwischen der Länge der Chromo- nisse nicht reproduzierbar sind. Aber bei somen und dem durchschnittlichen Effekt Phänotypen, an denen sehr viele Gene auf den Phänotyp geben. Genau dies ha- beteiligt sind, entspricht dies genau den ben wir auch tatsächlich gefunden (Palla- Erwartungen. Im Gegensatz zu der klas- res et al. 2014 und 2015). Diese hoch poly- sischen Genetik, in der man meist einzel- gene Architektur konnten wir auch durch ne Gene ausschaltet, um ihre Funktion zu genauere Analyse der morphologischen entschlüsseln, geht es bei GWAS Studien Übergänge in der Hybridzone nachweisen in natürlichen Populationen darum die (Pallares et al. 2016). segregierende funktionale Variabilität ei-

Abb. 5: Ergebnisse der genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) zur Variation in der Kopfmor- phologie bei Mäusen in zwei verschiedenen Studien. Im oberen Plot sind die Ergebnisse von Tieren aus der Hybridzone (Pallares et al. 2014), im unteren Plot die Ergebnisse von Tieren aus einer Auszucht-Population (Pallares et al. 2015). Geplottet sind jeweils die Wahrscheinlichkeiten für Assoziationen zu polymorphen SNPs entlang des gesamten Genoms. Die horizontale Linie markiert die genomweite Signifikanzgrenze. Peaks sind mit PC und einer Nummer bezeichnet, entsprechend den Achsen der prinzipiellen Komponenten-Analyse der morphometrisch quanti- fizierten Formen.

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ner Vielzahl von interagierenden Genen cherweise eine sehr wichtige Rolle in der zu erfassen. Wenn man also Populationen Evolution des knöchernen Kopfskeletts mit unterschiedlicher genetischer Her- gespielt hat (Pallares et al. 2015). kunft untersucht, dann sollte man auch Unterschiede bei den variablen Genen Synthese finden. Wenn man bedenkt, dass die bei- Unser Bild der Evolution ist vor allem den Unterarten seit etwa 500.000 Jahren durch die ungeheure Vielfalt adulter Or- getrennt sind und bereits erhebliche ge- ganismen geprägt. Aber wie genetische netische Unterschiede angesammelt ha- und entwicklungsbiologische Prozesse ben, ist verständlich, dass bei der Unter- diese Vielfalt generieren, ist uns noch suchung der Unterschiede zwischen weitgehend verschlossen. Wir nähern uns Unterarten ein anderer Set an Genen der Frage aber in kleinen Schritten – und identifiziert wird, als bei der Untersu- können dementsprechend immer wieder chung innerhalb einer Unterart. Letztlich neu spekulieren, wie das Ganze funktio- erwarten wir aber, dass die signifikanten niert. Oft unterscheidet man dabei nach Gene, die in der einen Untersuchung ge- makroevolutionären und mikroevolutionä- funden wurden, auch in der Gruppe der ren Prozessen und es wird oft als schwie- nicht-signifikanten Gene der anderen rig dargestellt, diese zur Deckung zu Untersuchung auftauchen sollten, sofern bringen. Ich denke aber, dass man mit sie da auch polymorph sind. den beiden oben diskutierten Kompo- Wie oben bereits erwähnt, waren viele nenten da ein gutes Stück weiter kommt. der hoch signifikanten Gene bereits gut Insbesondere wenn man die genetische bekannt – und viele davon sind auch ver- Architektur des adulten Phänotyps unter gleichsweise alte Gene. In der Studie dem Gesichtspunkt der quantitativen Ge- innerhalb von Mus musculus domesticus netik betrachtet, lösen sich bereits man- fanden wir aber die stärkste Assoziation che Probleme auf. Denn wenn sehr viele mit einem "orphan" Gen, das ausschließ- Gene zu einem Phänotyp beitragen, dann lich bei Tieren mit einem knöchernen können mikroevolutionäre Prozesse die Kopfskelett auftritt. Dieses Gen (Mn1 - Gewichte ganz leicht verschieben, selbst peak in Chromosom 5 im unteren Teil der für zentrale regulatorische Gene, deren Abbildung 5) war bereits früher unter- Veränderungen pleiotrope Effekte haben sucht worden, da es als potentielles On- sollten. Und man kann auch erklären, dass kogen galt. Dies war aber nur ein Neben- es während Radiationen (oder in der effekt einer ungewöhnlichen Mutation; die künstlichen Zucht) zu schnellen Verände- Hauptfunktion des Gens liegt in seiner rungen des Phänotyps kommen kann, da Beteiligung an der Differenzierung von die Selektion an vielen Punkten angreifen Osteoblasten, also der Zellen, die die kann. Auch dass etwas komplett Neues in Knochensubstanz produzieren. Da das eine genetische Architektur eingeführt Gen keine bekannten Protein-Domänen werden kann, ist aus der Sichtweise einer besitzt, nehmen wir an, dass es ein de großen Zahl beteiligter Gene leichter er- novo entstandenes Gen ist, das mögli- klärlich. Egal, ob es sich um komplett

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neue Gene (wie oben diskutiert) oder um cover the genomic history of major adap- neue regulatorische Varianten handelt tations in metazoan lineages. Trends in Genetics, 23, 533-539. (wie oft angenommen), können diese zu- Domazet-Loso, T. and Tautz, D. 2003. An evolu- nächst eine relativ untergeordnete Rolle in tionary analysis of orphan genes in der genetischen Architektur spielen und Drosophila. Genome Research, 13, 2213- sich damit erst einmal im Genom etablie- 2219. ren. Wenn sich dann die ökologischen Domazet-Loso, T. and Tautz, D. 2010. A phylo- genetically based transcriptome age in- Umstände ändern, können sie durch Se- dex mirrors ontogenetic divergence pat- lektion schnell "hervorgeholt" werden und terns. Nature, 468, 815-818. zu neuen Anpassungen führen. Dujon, B. 1996. The yeast genome project: Diese grundsätzlichen Überlegungen What did we learn? Trends in Genetics, 12, 263-270. führen uns aber leider nicht der Lösung Galton, F. 1889. Natural Inheritance. London: einer der grundsätzlichen Fragen vom Macmillan Anfang näher, nämlich wie die dreidi- Heinen, T. J. A. J., Staubach, F., Haeming, D. and mensionale Gestalt des Phänotyps mit Tautz, D. 2009. of a new gene from an intergenic region. Current Biolo- hoher Präzision generiert wird. Diese gy, 19, 1527-1531. Frage wird uns in den nächsten Jahren Jacob, F. 1977. Evolution and Tinkering. Sci- noch weiter beschäftigen - aber es ist ence, 196, 1161-1166. klar, dass dazu die Einsichten und Tech- Klingenberg, C. P. 2010. Evolution and devel- opment of shape: integrating quantitative niken der quantitativen Genetik herange- approaches. Nature Reviews Genetics, 11, zogen werden müssen. Obwohl die Kon- 623-635. zepte der quantitativen Genetik letztlich Neme, R. and Tautz, D. 2014. Evolution: Dy- ebenso alt wie die der Mendelschen Ge- namics of de novo gene emergence. Cur- netik sind (Galton 1889), wächst die rent Biology, 24, R238-R240. Neme, R. and Tautz, D. 2016. Fast turnover of quantitative Genetik derzeit zu einer neu- genome transcription across evolutionary en Blüte, angetrieben von den ungeheu- time exposes entire non-coding DNA to ren Möglichkeiten der genomischen Re- de novo gene emergence. eLife, 5, volution. Ich sehe daher gute Chancen, e09977. Neme, R., Amador, C., Yildirim, B., McConnell, dass wir auch mit dieser Grundsatzfrage E. and Tautz, D. 2017. Random sequences in den nächsten Jahre wesentliche Fort- are an abundant source of bioactive RNAs schritte machen werden. or peptides. Nature Ecol Evol 1, 0127. Pallares, L. F., Carbonetto, P., Gopalakrishnan, S., Parker, C. C., Ackert-Bicknell, C. L., Palmer, A. A. and Tautz, D. 2015. Zitierte Literatur Mapping of craniofacial traits in outbred mice identifies major developmental Boell, L. and Tautz, D. 2011. Micro-evolutionary genes involved in shape determination. divergence patterns of mandible shapes PLoS Genetics, 11, e1005607. in wild house mouse (Mus musculus) Pallares, L. F., Harr, B., Turner, L. M. and Tautz, populations. BMC Evolutionary Biology, D. 2014. Use of a natural hybrid zone for 11, 306. genomewide association mapping of Domazet-Loso, T., Brajkovic, J. and Tautz, D. craniofacial traits in the house mouse. Mo- 2007. A phylostratigraphy approach to un- lecular Ecology, 23, 5756-5770.

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Pallares, L. F., Turner, L. M. and Tautz, D. 2016. Tautz, D. and Schmid, K. 1998. From genes to Craniofacial shape transition across the individuals: developmental genes and the house mouse hybrid zone: implications generation of the phenotype. Philosophi- for the genetic architecture and evolution cal Transactions of the Royal Society of of between-species differences. Develop- London Series B-Biological Sciences, 353, ment Genes and Evolution, 226, 173-186. 231-240. Tautz, D. and Domazet-Loso, T. 2011. The evo- lutionary origin of orphan genes. Nature Reviews Genetics, 12, 692-702.

Prof. Dr. Diethard Tautz Max-Planck Institut für Evolutionsbiologie August-Thienemann Straße 2 24306 Plön [email protected]

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Werner-Rathmayer-Preis

der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Der diesjährige Werner-Rathmayer- Preis der Deutschen Zoologischen Gesell- schaft wurde Herrn Stefan Kemmerich zu- gesprochen. Der Preisträger wurde beim 52. Bundeswettbewerb der Stiftung Ju- gend forscht vom 25. bis 28. Mai 2017 in Erlangen ermittelt. Stefan Kemmerich ist erst 14 Jahre alt und kommt vom Erzbi- schöflichen Sankt-Angela-Gymnasium in Wipperfürth. Der Preis ist mit 500 Euro dotiert und mit einer Einladung auf die Jahrestagung der DZG 2017 in Bielefeld verbunden, wo der junge Forscher Gele- genheit hat zu Kontakten mit Fachkolle- gen. Stefan Kemmerich ist zugleich Ge- winner des 1. Preises für Biologie im Bundeswettbewerb und somit doppelter Stefan Kemmerich mit Professor Carsten Preisträger. Duch bei der Preisverleihung in Erlangen Bild: Jugend forscht Der Titel der eingereichten Arbeit war: „Überlebenskünstler im Moos – Öko- finden, welche abiotischen und biotischen logische Untersuchungen an limnoterre- Faktoren das Vorkommen von Bärtierchen strischen Tardigraden“ beeinflussen. Um darzustellen, welchen Einfluss Faktoren wie Substrat, Feuchtig- Stefan Kemmerich schreibt in der keit, Licht oder Art des Mooses auf die Kurzfassung seiner Arbeit: Zusammensetzung der Bärtierchenge- " Bärtierchen oder Tardigrada sind et- meinschaften haben, zählte und bestimm- wa 0,5mm kleine, wirbellose Tiere, die in te ich Bärtierchen aus unterschiedlich wassergefüllten Lückensystemen wie charakterisierten Habitaten, um dann mit Moosen, Laub, Sandstränden u.ä. leben. In Hilfe verschiedener statistischer Verfahren letzter Zeit wurden sie für ihre Fähigkeit Zusammenhänge herauszuarbeiten." bekannt, Trockenzeiten in einem todes- Insgesamt wurden in 66 Moosproben ähnlichen Schlaf zu überleben, in wel- eine Gesamtzahl von 2051 Tardigraden in chem sie auch extreme Umweltbedingun- 22 Arten vorgefunden. Die häufigsten Ar- gen überdauern können. In meiner dies- ten waren Macrobiotus hufelandii, mit gro- jährigen Arbeit versuchte ich herauszu- ßem Abstand gefolgt von Hypsibius con-

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vergens, Hypsibius oberhaeuseri und Mil- ähnlichen Habitaten in den Gemeinschaf- nesium tardigradum. Die restlichen Arten ten ähneln." waren jeweils nur in einer bzw. wenigen "Das Ergebnis der Clusteranalyse be- Proben oder in geringen Individuenzah- zogen auf die Substrate der Moose ist un- len nachgewiesen worden. erwartet. Aufgrund der abiotischen Bedin- gungen, die auf das Moos einwirken, hätte Auszüge aus der ich eine Ähnlichkeit von auf Erdboden Ergebnisdiskussion: und Totholz wachsenden Moosen vermu- "Die Abundanz der Bärtierchen wurde tet, sowie einen Cluster aus auf Gesteinen in meiner Untersuchung bei starker Be- wachsenden und epiphytischen Moosen, lichtung und niedriger Feuchtigkeit sowie da auf Totholz und Erdboden wachsende bei mittleren Feuchtigkeits- und Lichtwer- Moose aufgrund der höheren Wasserrück- ten maximal. Das Maximum bei großer haltekapazität des Substrats seltener aus- Trockenheit führe ich darauf zurück, dass trocknen, wohingegen epiphytisch und auf wegen der harschen Umweltbedingun- Gestein wachsende Moose häufiger aus- gen gut an die Trockenheit angepasste trocknen. Vermutlich liegt diese Cluste- Tardigraden aufgrund geringer interspe- rung an den Eigenschaften des mathema- zifischer Konkurrenz zu einer großen Ent- tischen Modells, welches insbesondere faltung gelangen können. Das Maximum die Abundanz der einzelnen Arten mitein- bei mittleren Licht- und Feuchtigkeitswer- ander vergleicht, welche in den mathema- ten ließe sich dann auf für die meisten tisch ähnlichen Habitaten ähnliche Werte Tardigradenarten optimale Lebensbedin- annehmen. Für eine genauere Untersu- gungen zurückzuführen, was durch die chung dieses Phänomens müssen weiter- hohe mittlere Diversität in Lebensräumen gehende Gemeinschaftsdaten gesammelt mit mäßig starker Sonneneinstrahlung sowie Messungen und Vergleiche der auf und Feuchtigkeit gestützt wird. Bei der die auf verschiedenen Substraten wach- Clusteranalyse der Tardigradenzönosen senden Moose einwirkenden abiotischen unterschiedlicher Moosarten zeigt sich, und biotischen Faktoren durchgeführt dass sich hauptsächlich Moosarten aus werden."

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RISE/DAAD Stipendium Report

Emily LeValley

Applying to internships during univers- ties to Germany open by language study, ity can be daunting. You get to your junior writing friends, and looking for opportuni- or senior year of school and are finally ties to return. Therefore, when looking for able to pick subjects in your major area internships this last summer I looked at that are unique and intriguing to you, you what DAAD had to offer and found out ab- have a job, and you are on a sports team. out the RISE (Research Internships in Everything is going well for you except Science and Engineering) program, per- the fact that you want (or need) an intern- fect for a science student and it had a sti- ship for the summer months. With what pend. Finding an interesting internship on little time you have left after studies, work, the site was not a problem at all, narrow- and sports, you apply to as many interest- ing it down to apply to just three and de- ing internships as you can, hoping that ciding which were best for growth within maybe one will pay you rather than ask my field were the hard parts. The amazing you to pay. At least that is how it is for an opportunities listed on the DAAD RISE site American university student in my field, blew my mind, it was all I could talk about Marine Ecology. Everyone wants to play to anyone that would listen. with ocean life, snorkel, dive, work on the I was chosen to for an internship with a coast, intern in paradise, even if that is not PhD student in Warnemünde, Germany at their intended line of work. People take The Marine Science Center (MSC) time off their jobs to intern as a vacation, through the University of Rostock. My PhD while I want to go to get job experience student, Eric Maaß, is working there on to become a successful Marine Ecologist, research titled "Distance Estimation in therefore many internships in my field you Harbor Seals at the MSC in Warnemün- have to pay to do. de". While the project didn’t get full initial During my internship search I remem- funding from DAAD, the German Zoologi- bered a DAAD (Deutscher Akademischer cal Society (Deutsche Zoologische Ge- Austauschdienst) meeting I had gone to at sellschaft) generously stepped in and co- my university, Western Washington Uni- founded the project, enabling me to work versity, as a freshman just a few months with Eric on his thesis research this last after I got back from living in Germany. summer. However, I didn’t just work with I had heard about it through the program Eric on his project, I helped out with eve- I had done for my GAP year, Congress ry aspect of daily life that goes on at the Bundestag Youth Exchange / Parlamentari- Lichtenberg, the research vessel the MSC sches Patenschafts-Programm (CBYX/PPP). is located on. During the summer of 2016 Since moving back to the states, I kept there were 5 PhD students, one master’s

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durch einfügen des Bildes hat sich alles verschoben , wir werden bestimmt anders trennen müssen

student, and many more re- searchers, advisors, and educators working on pinni- ped sensory and cognitive ecology research. This re- search community is a part of the Institute for Bioscien- ces at the University of Ro- stock and is lead by profes- sor Dr. Guido Dehnhardt. My training at MSC start- ed with observation of re- searchers working with the pinnipeds: 9 harbor seals (Phoca vitulina), one fur seal Medical training with Bill the harbor seal. (Arctocephalus pusillus), Photo by Shanie Martin and two California sea lions (Zalophus californianus). I was taught how ing just the basics. I started to learn more the boat is run, the feeding system, and commands, the essential commands one safety procedures in place on the boat. might say, and worked more with the sea Then, when I was oriented with every- lions and fur seal. Then I started to learn thing, I was introduced to the animals by fun commands that the pinnipeds liked to each of their respective main trainers. do in order to spice up the day's training Slowly through observation, my trainer, and keep it interesting for them between and hands on time with the animals, I got research trials. Once I understood well to know their personalities and they got to enough when (and how) to reward, to say know me as a trainer rather than just an no, to keep pushing the animal, and to object in their space. I first learned medi- back down or change goals, I was given cal training with the harbor seals and with my own whistle. My training then began a main trainer blowing a whistle for me to change more towards getting to a point (a positive reinforcement tool) when the where I could independently work with seals did the correct command. Medical the animals without concern of ineffective training commands are, e.g., asking the training or safety issues. animals to lay down and turn over so I can Throughout this entire process I was check their bodies for cuts or other inter- helping my PhD student, Eric Maaß, as nal concerns, to open their mouths to well as another PhD student, Jenny Byl, check their gums, tongue, and teeth, and with their research and trials. I also help- to blow out of their nose so we can gather ed master’s student Tabea Lange with mucus samples if needed. Once I was her work getting her seal ready to do comfortable with the seals, I started work- trials in object detection and avoidance. ing with the sea lions and the fur seal, do- Eric, as mentioned before, is working on

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distance estimation rese- arch, and Jenny is working on in the median plane. Eric wants to understand the orientation process of harbor seals, and understanding their knowledge of distance is key in this process. There- fore, he is testing seals to understand if they can be given a distance and repli- cate it almost exactly. Jenny is researching the abilities of harbor seals to accurate- ly determine the location of Me and the other interns at MSC; from left to right, the Ger- man volunteer Nora, Emily LeValley (me, American bachelors a sound source, and wants student), Shanie Martin (UK bachelors student), Jennifer Long to understand the mecha- (American bachelors student). Photo Archive MSC nism that allows them to do so due to their lack of pin- nae (external part of the ear), which ter- bing poop off the enclosure, going out restrial mammals use to localize sound. after a long day, celebrating a birthday, or These were three very different research making lunch, someone was always mak- objectives and amount to less than half of ing a joke and we were having fun. My what was going on at MSC. There is so understanding of what being a student much diverse and amazing research means changed from this experience. I going on there, it was incredible to be a realized that learning what you are inter- part of the community and learn about so ested in is all a part of the ‘university many different things at once. game’ (the way the US system is set up); While working every day with the the first few years you just get general seals and really amazing people, I learn- education and general science, then you ed not only about the science behind can start to find your path, what interests everyone’s projects but also about the you. This ‘being a student’ doesn’t have to German university system, the local and be a ‘get it done quick and get out’ thing, national sports teams, the culture, the it can be your life. The student research- language, and so much more. I tend to ers at MSC showed me that once you are get on a huge academic tangent about done with undergraduate school, your the research I worked with, and how it in- next schooling should be fun, it shouldn’t formed what I want to do next with my feel like a drag, like you are just trying to life, but we did have a lot of fun. Whether race to the finish line to get a degree. They we were cleaning the fish kitchen, scrub- are living their daily lives as students, this

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is their job working at MSC, this is their life. They are not waiting to start their lives once they get done with their degrees, they are li- ving now. Through my time in Germany, from the people and animals I have met, my views on life and what I want to do academically and professionally have changed significantly. I have been exposed to a whole new branch of marine science that I never have Lastly, the seals are wild animals, they have their own persona- been before: sensory, cog- lities, their own will, and they can be unpredictable. Someti- mes that means they just don’t want to do what you ask them nitive, and behavioral ecolo- to! This photo is of me working with Shanie (hand on right si- gy. Now when I see studies de of photo) and Sam the harbor seal Photo Jennifer Long of pinnipeds coming out I eagerly read them and absorb the infor- I have become so involved and interested mation, looking for topics that interest me in their research. Without the opportunity for my masters and/or PhD. When I get provided by Eric Maaß, the Marine wind of cognitive or behavioral studies Science Center, the University of Rostock, around the world I get excited and want DAAD/RISE, and the Deutsche Zoologi- to be involved. As for the future, I am hop- sche Gesellschaft, I would not have been ing to study anthropogenic noise pollu- able to have this experience, I would not tion and its underwater affects on the be- have known I had a passion for this type havioral ecology of marine mammals. I of research, and I would not have met all am particularly interested in the effect of the amazing people I met this summer. noise pollution on pinnipeds, and in the Thank you all for this amazing opportuni- arctic. ty, I cannot express how much I have I am incredibly excited for when the changed and learned from this experien- students at MSC publish their findings as ce.

Emily LeValley BS in Environmental Science; Marine Ecology Western Washington University Bellingham, Washington [email protected]

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Nachruf auf Horst Mittelstaedt 28. April 1923 - 18. Februar 2016

Gernot Wendler

Horst Mittelstaedt starb kurz vor Vollen- dung seines 93. Lebensjahres. Er wuchs als Sohn des Kunstmalers Carl Hieronimus Mittelstaedt, Lehrer für Kunst am Gymna- sium in Neumünster, und von Else Mittel- staedt, geb. Rohweder, Lehrerin für Hand- arbeit und Werken, in Neumünster auf und besuchte dort das Gymnasium bis zum Abitur 1941. Nach einem Studienjahr in Kiel (Biologie und Chemie), u.a. bei Re- mane, wurde er zum Kriegsdienst einbe- rufen und kämpfte zunächst gegen Parti- sanen in Jugoslawien. Beim anschließen- den Einsatz in Italien wurde er Anfang Fe- bruar 1944 durch einen Durchschuss bei- der Beine verwundet und nach Zwischen- aufenthalten längere Zeit in Metz behan- delt. Es blieb eine Peronaeus-Lähmung zurück. Anschließend nahm er das Stu- dium in Kiel wieder auf, wurde aber An- fang 1945 zur Offiziersreserve nach Flens- Foto privates Bildarchiv burg eingezogen. Nach Kriegsende studierte er ein Se- helmshaven, als dieser 1948 als Abtei- mester wiederum in Kiel, wechselte je- lungsleiter an das Max-Planck-Institut für doch zum WS 1945/46 nach Heidelberg. Meeresbiologie berufen wurde, und wech- Dort lernte er bald den Zoologen Prof. selte mit ihm nach Seewiesen bei Starn- Erich v. Holst kennen, der ihn nach einem berg in das neue Max-Planck-Institut für Gespräch aufforderte, sich bei ihm zu mel- Verhaltensphysiologie, wo er 1960 zum den, um ihn im Studium und bei der Dok- Mitglied der MPG und Leiter einer eige- torarbeit unterstützen zu können. In einer nen Abteilung berufen wurde. Vorlesung von v. Holst lernte er seine spä- Er nutzte die Chance, ein eigenes In- tere Ehefrau Lore kennen, die ebenfalls stitutsgebäude etwas außerhalb des ei- Biologie studierte. Mittelstaedt promovier- gentlichen Institutsgeländes errichten zu te 1949 mit einer Arbeit zum Flugverhalten können. Das Gebäude wurde mit hervor- von Libellen. Er folgte v. Holst nach Wil- ragend ausgerüsteten Werkstätten für die

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Anfertigung von komplizierten Versuchs- stern in der Halshaut gemessen, deren apparaturen ausgestattet, mit einem eige- Reizung lagestabilisierende Flügelverwin- nen Flugraum für Insekten und mit einer dungen auslöst. Die Untersuchungen führ- Halle für eine große Zentrifuge. Mit die- ten zu einer umfassenden Analyse des ser konnte u.a. geprüft werden, ob es au- Systems, mit einer genialen Versuchsap- ßer den bekannten Schweresinnesorga- paratur, einer detaillierten physiologi- nen im Labyrinth noch weitere im Rumpf schen Analyse und einer bis ins kleinste gibt, insbesondere bei Tauben und beim Detail gehenden morphologischen Be- Menschen. schreibung. Sein wissenschaftliches Interesse galt Erich v. Holst und Mittelstaedt veröf- bevorzugt Fragen der Lage- und Raum- fentlichten 1950 in den »Naturwissen- orientierung von Tieren, später auch des schaften« unter dem Titel „Das Reaffe- Menschen. Dabei standen Fragen der La- renzprinzip - Wechselwirkungen georientierung zur Schwerkraft und zum zwischen Zentralnervensystem und Peri- Licht sowie der Kontrolle der Fortbewe- pherie“ eine Arbeit, die nicht nur bei Bio- gungsrichtung mit und ohne richtende logen eine ungewöhnlich große Reso- externe Faktoren im Vordergrund. nanz hatte, sondern auch bei Psycho- Die Doktorarbeit zur „Physiologie des logen, Medizinern und Technikern. Bis Gleichgewichtssinnes bei fliegenden Li- dahin wurde ein Tier oft einseitig als Re- bellen“ begann er in Heidelberg und flexwesen betrachtet, dessen Verhalten setzte sie in Wilhelmshaven fort. Fliegen- vorwiegend als Antwort auf äußere Reize de Libellen halten ihre Körperlage im zu verstehen war. Und nun wurde umge- Raum konstant, indem sie ihre Dorsalseite kehrt die Rückwirkung eines aktiven Ver- stets dem Helligkeits-Schwerpunkt zu- haltens auf die Reizsituation mit in die Be- wenden, also nach oben. Mittelstaedt kon- trachtung einbezogen. Mit diesem Ansatz struierte ein ultraleichtes Geschirr, in ließ sich eine Fülle von bisher unverstan- dem die Libelle (Anax imperator) ortsfest denen Beobachtungen deuten. fliegen und sich dabei frei um die Längs- Konkret ging es um die Frage, auf wel- achse drehen konnte. Führt man eine che Weise ein Organismus zwischen Sin- Lampe langsam um die fliegende Libelle nesmeldungen aus der Umwelt, die er herum, dann folgt sie mit dem Rücken durch Eigenaktivität selbst erzeugt hat, exakt dieser Lampe. Sie verwendet also von solchen unterscheidet, die aus exter- keine zusätzlichen Schwerekraft-Sinnes- nen Ursachen erfolgen. Die Autoren organe. M. entdeckte jedoch ein neues, schlugen vor, dass eine interne Kopie der dynamisch arbeitendes Meßsystem: das motorischen Befehle („Efferenzkopie“) Hals-Kopf-System. Bringt man die Libelle derart mit der Afferenz verrechnet wird, bei diffuser Beleuchtung durch einen kur- dass die sensorischen Rückmeldungen zen Stoß wie durch eine Turbulenz aus ih- („Reafferenz“), die aufgrund der Eigenak- rer Lage, so bleibt der große Kopf auf- tivität entstehen, quantitativ kompensiert grund seiner großen Trägheit zunächst werden, während extern verursachte Sin- zurück. Diese Drehung wird von Haarpol- nesmeldungen nach wie vor wirksam

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bleiben. Die Arbeit enthält eine Fül- le von Beispielen, die zu einer Er- weiterung dieses Zusammenhangs im Sinne eines Regelprozesses führten. Zwanzig Jahre später voll- endete Mittelstaedt die damals als „rohen Entwurf“ bezeichnete Ar- beit in seinem lesenswerten Beitrag „Reafferenzprinzip - Apologie und Kritik“. 1948 hatte sein Buch „. Communica- tion and Control in the Animal and the Machine“ veröffentlicht und da- mit eine dynamische Entwicklung mit eingeleitet, die den Blick auf Abb.1. Optomotorischer Regelkreis bei der Fliege Systemzusammenhänge richtete, Eristalis. z - Winkelgeschwindigkeit des Streifenzylin- die unabhängig von der jeweiligen ders. x - gesehene Winkelgeschwindigkeit. y - Winkel- spezifischen Realisierung gelten. geschwindigkeit der Fliege. In den schwarzen Kreis- Sektor führende Signale werden negativ verrechnet. Genau dies hatten v. Holst und Aus: Mittelstaedt H.: Basic control patterns of orienta- Mittelstaedt im „Reafferenzprinzip“ tional . Symp. Soc. exp. Biol. 18, 365-385 geleistet, indem sie - ausgehend (1964). Cambridge University Press. von einer biologischen Fragestel- lung - für ganz unterschiedliche Le- gung des Versuchstiers stattfanden. Damit bewesen gleichartige Signalflüsse vor- man einen Eindruck von seiner Vorge- schlugen. Die Arbeit enthält graphische hensweise bekommt, sei ein recht einfa- Darstellungen des jeweiligen Signalflusses, ches Beispiel etwas ausführlicher be- für den M. später den Begriff „Wirkungs- schrieben: Der Nachweis und die quanti- gefüge“ einführte. Mittelstaedt veränderte tative Analyse des optomotorischen diese Darstellungen so, dass sie weitge- Regelkreises bei der Fliege Eristalis. hend den im technischen Bereich bewähr- Dreht man um eine ruhig sitzende ten Blockschaltbildern entsprachen. Damit Fliege einen senkrecht schwarz-weiß ge- war der Weg frei, biologische Steuerungs- streiften Zylinder (Abb. 1 rechts), dann und Regelvorgänge unmittelbar mit techni- dreht sich das Tier in gleichem Sinne mit. schen zu vergleichen. Es zeigt den von vielen Tierarten bekann- In der Folge führte Mittelstaedt eine ten optomotorischen Reflex. Entschei- Reihe von Analysen von Orientierungs- dend für die neue Denkweise war, dass vorgängen bei verschiedenen Tierarten nicht nur dieser Reflex betrachtet wird, und beim Menschen durch. Eine wichtige sondern seine Rückwirkung auf den vi- Bedingung war für ihn, dass die Versuche suellen Eingangsreiz, denn das Tier ver- möglichst ohne wesentliche Beeinträchti- ringert durch sein Mitdrehen den Ein-

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gangsreiz. Betrachtet wird also der ge- licher Auslenkung von der Vertikalen er- samte Signalfluss. Dieser Zusammenhang folgen Korrekturbewegungen der Flossen. kann mit einem einfachen Regelkreis be- Wie E. v. Holst gezeigt hatte, ist hierfür der schrieben werden (Abb. 1 rechts unten). Utriculus verantwortlich, der eine dem Si- Die negative Rückführung kann nun unter- nus des Auslenkungswinkels entsprechen- brochen werden, indem man das Tier de Meldung liefert. Nun können viele Fi- dorsal fixiert und ihm ein Papierscheib- sche jedoch nahezu beliebige Abweich- chen gibt, das es mit den Füßen drehen ungen von der Vertikalen aktiv einneh- kann. Diese Drehung relativ zur Unterlage men. Dies ist bis 90 Grad seitwärts unpro- hat keinen Einfluss mehr auf die visuelle blematisch. Bei Winkeln über 90 Grad Relativbewegung: Der Regelkreis ist auf- nimmt die dem Sinus entsprechende Rück- geschnitten (Abb.1 links, unten). Ver- meldung jedoch ab, was eine stabile Lage gleicht man die Drehgeschwindigkeiten bei stumpfen Winkeln unmöglich machen des Tiers als Funktion der Streifenzylin- würde, wenn allein der Utriculus zur Mes- derdrehung in den beiden experimentel- sung verwendet würde. Zur Lösung dieses len Situationen, kommt man zu einer Problems schlug Mittelstaedt vor, dass die quantitativen Beschreibung des Regel- Meldungen des 90 Grad zum Utriculus kreises, die den grundlegenden Gesetz- stehenden Sacculus (oder der Lagena) mäßigkeiten auch technischer Regelkrei- mit in die Betrachtung einbezogen wer- se entspricht. den, die dem Cosinus des Winkels ent- Die von Mittelstaedt anschließend ana- sprechen. Gegenstand seiner „Bikompon- lysierten Verhaltensweisen sind weitaus ententheorie“ ist das Verfahren, mit dem komplexer. Entsprechend ermöglichten der Fisch die sensorischen Rückmeldun- sie daher auch weitere Manipulationsan- gen der Statolithenorgane überlagert, um sätze, ohne das Tier zu beschädigen. Im beliebige Lagen zur Schwerkraft einzu- Folgenden werden die wichtigsten Analy- nehmen - eine äußerst elegante und sen kurz umrissen. überzeugende Lösung des Problems. Die Analyse des Fangschlag-Mecha- Es zeigte sich in der Folge, dass die- nismus bei Gottesanbeterinnen: Sieht ei- ser Ansatz nicht nur für das Verständnis ne Gottesanbeterin eine Beute in erreich- dieses einzelnen Problems wichtig ist, barer Nähe, dann dreht sie ihren Kopf mit sondern weit darüber hinaus auch für die den darin festsitzenden Augen in diese Analyse einer Vielzahl von Orientierungs- Richtung. Dabei misst sie die Kopfdre- vorgängen anderer Tiere und des Men- hung mit Sinneshaaren im Halsgelenk, schen, und zwar auch in Fällen, bei denen und deren Information geht zusammen die Sinnesorgane die trigonometrischen mit der Restabweichung des Kopfes zur Winkelfunktionen nicht direkt liefern. Beuterichtung in die Bestimmung der Es ist lange bekannt, dass Tiere wie Schlagrichtung der Vorderbeine ein. Menschen in völliger Dunkelheit und oh- Viele Fische richten ihre Körperhoch- ne äußere richtende Reize nicht dauer- achse mit Hilfe der Statolithenorgane im haft einen geraden Kurs laufen können. Schwerefeld vertikal aus. Bei passiver seit- Dennoch ist der momentane Kurs gere-

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gelt, da das Tier nach einer erzwungenen erfolgte in Zusammenarbeit mit seiner Ablenkung den alten Kurs wieder auf- zweiten Frau, Marie-Luise Mittelstaedt, nimmt, so z. B. bei Tausendfüßern. Die geb. Burger. hierfür notwendige Information wird den Trichterspinnen können allein idiothe- vom Organismus selbst erzeugten Signa- tisch von jedem Ort ihres Netzes, zu dem len entnommen, also z. B. den proprio- sie auf beliebigem Weg gelangt sind, zeptiven Rückmeldungen über die Bewe- zum Eingang ihrer Wohnhöhle zurückfin- gungen des motorischen Apparats. Diese den. Für diese von Görner ausführlich Art der Kursregelung nannte Mittelstaedt untersuchte Verhaltensweise konnte idiothetisch im Gegensatz zur allotheti- Mittelstaedt eine überzeugende Erklä- schen Orientierung nach Außenreizen, rung mit Hilfe der Elemente der Bikom- wie z. B. dem Sonnenazimuth. Die idiothe- ponententheorie liefern. tische Orientierung des Tausendfüßers Mittelstaedt griff schließlich eine The- impliziert einen segmentalen Speicher, matik auf, die schon zuvor durch Norbert der in komplizierter Weise bei der Ablen- Bischof und Hermann Schöne im gleichen kung aufgeladen und danach wieder aus- Institut bearbeitet worden war. Es handelt gelesen wird. Diese wie auch die spätere sich um die Fähigkeit des Menschen, bei ausführliche Analyse des Heimfindever- seitlichen Neigungen des Kopfes oder mögens von mongolischen Rennmäusen des ganzen Körpers noch recht gut zu wissen, wo oben und unten ist. Dies gilt auch, wenn er in Dunkelheit einen Leucht- stab vertikal einstellen will. Die erforderli- che Kompensation der Körperneigung muss durch Meldungen von Schwerere- zeptoren erfolgen, für die in erster Linie das Labyrinth infrage kommt, und zwar vom Sacculus, wie Mittelstaedt und Mitar- beiter mit Hilfe der großen Zentrifuge im Laborgebäude feststellten (Abb. 2). Es ist bekannt, dass bei zunehmender seitlicher Körperneigung allerdings immer größere Abweichungen des Leuchtstabs von der Vertikalen auftreten (Aubert-Phänomen), und zwar in Richtung der Körperlängs- achse. Die große Anzahl von eigenen ex- perimentellen Daten und Daten aus der Literatur erklärt Mittelstaedt in einem (komplizierten) Wirkungsgefüge, in dem Abb. 2. Horst Mittelstaedt vor der großen Zen- wiederum Elemente der Bikomponenten- trifuge, Konstruktion durch Howard C. How- land (Cornell University), Reinhard Stroebele theorie sowie der Schwerevektor, der vi- und Karl Fischer. Foto privates Bildarchiv suelle Vektor (falls ein gegliedertes vi-

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suelles Umfeld vorhanden ist) und ein zu Gast. Seine experimentellen Untersu- „idiotroper Vektor“ verrechnet werden. chungen wurden im Rahmen des Sonder- Letzterer ist die Tendenz, die Leuchtlinie forschungsbereichs 50, Kybernetik, geför- in Richtung der Körperlängsachse zu zie- dert. Als Präsident der Deutschen hen. Sie entspricht der idiothetischen Ten- Gesellschaft für Kybernetik hatte er wei- denz bei der Richtungsorientierung der tere Gestaltungsmöglichkeiten. Tausendfüßer oder der Trichterspinne. Von 1979 bis zu seiner Emeritierung Spannend war die Frage, ob dieses am 30. September 2004 war Mittelstaedt Wirkungsgefüge einen Beitrag zum Ver- Honorarprofessor des Lehrstuhls für ständnis einer Illusion leistet, von der eini- Nachrichtentechnik der TU München und ge Astronauten im Weltraum berichten. betreute dort Doktoranden. Sie empfinden sich und den Raum dann In den Frühzeiten des Seewiesener In- als kopfunter. Tatsächlich lässt sich die Il- stituts fand jährlich das Leib-Seele-Kollo- lusion zwanglos erklären, wenn der qium statt, zu dem Kollegen aus den Be- Schwerevektor Null ist und wenn man die reichen der Psychologie, Philosophie und physiologische Variabilität des Sacculus Physik anreisten, um Probleme aus die- berücksichtigt. sem Themenkreis zu diskutieren. Mittel- Mittelstaedt hat für eine Fülle von Ver- staedt war dabei ein engagierter, kennt- haltensweisen im Bereich der Orientie- nisreicher und konstruktiver Diskutant. rung den zugrundeliegenden Signalfluss, Auch wenn es im Institutskolloquium um also das Wirkungsgefüge ermittelt oder konkrete Fragen des engeren Wissen- zumindest eine überzeugende Hypothe- schaftsbereichs ging, argumentierte er lei- se entwickelt. Über diese Beispiele hin- denschaftlich. Er schätzte Diskussions- aus war er einer der führenden Köpfe in partner, die wie er selbst in der Lage der Aufbruchzeit der 50iger Jahre und waren, komplexe Sachverhalte zu durch- später. Von seinen vielen Auslandseinla- schauen. Zeit spielte keine Rolle. Wenn die dungen seien nur einige erwähnt: Gast- Fakten es hergaben, wurde so lange dis- professor an der University of Chicago kutiert, bis man zu einem Ergebnis kam. (E.H. Hess), ebenso an der University of Seine Publikationen zeichnen sich Minnesota (G.C. Stephens) und als Rese- durch eine überaus klare Sprache sowie arch Associate an der Tufts University eine stringente Beweisführung aus. Es ist (K.D. Roeder), wo er 1956-58 forschte. auch heute noch ein ästhetischer Genuss, Später, in seiner eigenen Abteilung, hatte eine Publikation von ihm zu lesen. er seinerseits viele auswärtige Kollegen

Prof. Dr. Gernot Wendler, Heddinghovener Str. 41 50374 Erftstadt [email protected]

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Nachruf auf den Sinnesphysiologen, Biokybernetiker, Verhaltensbiologen und Anwalt des Kindes Bernhard Hassenstein 31. Mai 1922 – 16. April 2016

Walter Sudhaus

Leben und Wirken: Bernhard Hassen- stein konnte im Hinblick auf wissenschaft- lichen und akademischen Ertrag und ge- sellschaftspolitische Wirkung auf ein erfülltes Leben zurückblicken bevor er fast 94-jährig am 16.4.2016 nach langer Krankheit und nur wenige Wochen nach seiner Frau Helma auf der Fahrt ins Kran- kenhaus in Freiburg i. Br. verstarb. Wir verdanken ihm wegweisende Beiträge zur Biokybernetik, zur Lerntheorie in der Unterscheidung verschiedener Lernvor- gänge, zur Analyse der verschiedenen Ursachen von Aggressionsverhalten, zur Verhaltensbiologie des Menschenkindes sowie als Brückenbauer zwischen sich abschottenden Denkrichtungen. Er reflek- Bernhard Hassenstein im Jahr 2008 tierte die geistigen Strömungen seiner Foto Walter Sudhaus Zeit und nahm darauf Einfluss, indem er sich wissenschafts- und gesellschaftspoli- Observatorium vor allem mit photometri- tisch – vor allem im Sinne des Kindes- schen Untersuchungen an veränderlichen wohls – einschaltete. Sternen befasst. Seine zeitweise für den Geboren in Potsdam am 31.5.1922 ver- Wetterdienst tätige Mutter Anna war Toch- lebte er zusammen mit seinem jüngeren ter des Astronomen und Geodäten Prof. Bruder Friedrich (*1925) eine unbe- Bernhard Wanach (1867–1928), der auch schwerte Kindheit im Wissenschaftspark entomologisch aktiv war und seinen Enkel auf dem Potsdamer Telegrafenberg. Ein Bernhard dazu anregte. Mit neun Jahren tolerantes Elternhaus ermöglichte ihm, hatte der ein Schlüsselerlebnis, als er vier seinen eigenen Weg zu entdecken. Der Raupen des Wolfsmilchschwärmers bis Vater, der Astrophysiker Prof. Dr. Walter zur Verpuppung und dem Schlüpfen der Hassenstein (1883–1961), war dort am Falter beobachtete. Dies war der Beginn

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seines biologischen Tagebuchs und wei- englische Kriegsgefangenschaft in terer Studien an Insekten, wobei es ihm Schleswig-Holstein. Beim Gefangenen- außer Schmetterlingen vor allem die transport wagte er mit einem Kameraden Ameisen und ihre Gäste angetan hatten. während einer Verlangsamung des Zuges Als 16-Jähriger besuchte er im Sommer an einer Steigung bei Heidelberg den 1938 den Internationalen Entomologen- Absprung aus dem Güterwagen. Nach kongress in Berlin, wo er bereits Alfred dieser Flucht genoss er wie neugeboren Kühn und auch den Zar Ferdinand von den wunderschönen Morgen in der Natur, Bulgarien wahrnahm. Nach dem Abitur um sich sodann nach Göttingen zu von 1940 am damaligen humanistischen Vik- Holst durchzuschlagen. Eine gebeutelte toria-Gymnasium in Potsdam und einem Studentengeneration mit Nachholbedarf halben Jahr Reichsarbeitsdienst konnte er auf vielen Gebieten und voller Wissens- im gleichen Jahr in Berlin sein Studium durst und Lerneifer war an die Universitä- der Biologie, Chemie und Physik aufneh- ten geströmt. Zum Sommersemester 1946 men. Im darauf folgenden Sommerseme- folgte er von Holst an die Universität Hei- ster wechselte er nach Göttingen, wo er delberg, wo er Hilfsassistent in Zoologie- in besonderer Fügung sogleich engen Praktika wurde, und 1948 wechselte er Kontakt zu dem Verhaltensphysiologen mit ihm als Assistent nach Wilhelmshaven (1908–1962) bekam, der an die Abteilung für Verhaltensphysiolo- ihn förderte und mit Schriften von Konrad gie am Max-Planck-Institut für Meeresbio- Lorenz (1903–1989) bekannt machte. Bei- logie. Dort schloss er seine Doktorarbeit de wurden seine wissenschaftlichen Leh- zur Bewegungswahrnehmung von Insek- rer. Zu einem ersten intensiven Gedan- ten ab, mit der er Ende 1950 in Heidel- kenaustausch mit kam es berg promoviert wurde (1951 publiziert). Ende Mai 1950 bei einer gemeinsamen Eine Einladung von Hans Hass zur Xarifa- Wattwanderung. Ihm blieb er lebenslang Expedition 1953 schlug er aus, da er be- eng verbunden. reits seine Reise nach Brasilien zum Ken- 1941 wurde er zum Militärdienst ein- nenlernen des tropischen Urwalds berufen. Nach der Rekrutenzeit war er geplant hatte. Im März 1953 heiratete er. drei Jahre lang in einer Funkstelle der Die Ehe blieb kinderlos. Luftwaffe in Glindow bei Potsdam als Als Hassenstein sich neu orientieren Horchfunker für den Wetterdienst tätig, wollte, empfahl er sich mit seiner Veröf- zuletzt als Obergefreiter. 1943 lernte er fentlichung über Goethes Morphologie den in einer anderen Funkstelle tätigen (1950) bei Hermann Weber (1899–1956) Werner Reichardt (1924–1992) kennen, und besuchte ihn in Tübingen auf seiner der ihn für die Mathematik begeisterte Fahrt mit dem Motorrad über den Bren- und mit dem ihn Jahre enger Zusammen- ner zur Zoologischen Station Neapel. Die arbeit als Forscher und eine lebenslange Mitschriften einer Morphologie-Vorle- Freundschaft verbinden sollten. Nach sung von H. Weber hatten ihn begeistert. dem Einsatz bei der Infanterie in Olden- Entgegen der Zusage einer Assistenten- burg 1945 geriet er in mehrmonatige stelle entschied sich Weber dann bei der

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Besetzung doch anders, setzte sich aber Einvernehmlich bemühten sich Hassen- für Hassenstein bei seinem Tübinger Kol- stein und Mohr tatkräftig um eine Reform legen Franz Möhres (1912–1989) ein. Un- des Biologiestudiums und den Ausbau ter ihm als Assistent am Zoophysiologi- der Biologie in den 60er Jahren bei schen Institut ab 1954 gleichzeitig mit gleichzeitig ansteigenden Studentenzah- Franz Huber (1925-2017) hat Hassenstein len. Dies führte schließlich zu 12 das Ge- vier Jahre lang gelitten. Es seien jedoch samtgebiet abdeckenden Lehrstühlen mit die "besten Lehrjahre für ihn als späteren entsprechenden Institutsneubauten und Ordinarius" gewesen, nämlich alles genau (ab 1970) einer eigenen Fakultät für Bio- anders zu machen! In Tübingen führte er logie. Neuerungen waren eine Botanik das erste zoophysiologische Großprakti- und Zoologie integrierende Grundvorle- kum durch und habilitierte sich 1957 für sung samt Skriptum, gemeinsame Semi- das Fach Zoologie mit seinen weiter ge- nare zu erkenntnistheoretischen und ethi- führten Untersuchungen zum Bewegungs- schen Problemen, ein neuer Studiengang sehen des Rüsselkäfers Chlorophanus vi- für das Staatsexamen unter Verzicht aufs ridis (publiziert 1957). Mit den Ergebnis- Philosophicum, die Einführung eines Di- sen dieser in congenialer Zusammenar- plomstudiengangs und später gemeinsa- beit mit dem Physiker Werner Reichardt me Ringvorlesungen. Die fächerübergrei- durchgeführten Analyse und unter Mitwir- fenden Lehrgebiete trugen mit dazu bei, kung des Technikers Hans Wenking dass ernsthafte Spannungen in der Fakul- (1923–2007) konnte 1958 die dreiköpfige tät vermieden wurden. "Im Vergleich zu "Forschungsgruppe Kybernetik" am Max- anderen Fakultäten galt die von Hassen- Planck-Institut für Biologie in Tübingen stein inspirierte Zusammenarbeit der unter Alfred Kühn (1885–1968) begründet Freiburger Biologen als einzigartig" (San- werden. Sie führte die experimentellen der 1997). Im Verein mit Lehrbüchern der Arbeiten zur Systemanalyse des Bewe- Freiburger Professoren (Bresch, Drews, gungssehens von Insekten fort. Aus ihr Hassenstein, Mohr, Osche, Sitte) für ihre ging nach dem Weggang von Hassenstein verschiedenen Fächer entfaltete die Bio- 1960 eine eigene Abteilung unter der Lei- logie eine Strahlkraft weit über Freiburg tung von Reichardt hervor und acht Jahre hinaus. später das Max-Planck-Institut für Biologi- Während Hassenstein in den ersten sche Kybernetik. Jahren die Zoologie für Biologen und Me- Doch Bernhard Hassenstein strebte diziner in ihrer ganzen Breite vertreten zurück an die Universität. 1960 wurde er hatte, beschränkte er sich auf die Tier- als Nachfolger des Verhaltensbiologen physiologie und Verhaltensforschung, Otto Koehler (1889–1974) auf den Lehr- nachdem 1964 der Entwicklungsbiologe stuhl für Zoologie an der Universität in Klaus Sander (1929–2015) und 1966 der Freiburg i. Br. berufen. Zur gleichen Zeit Evolutionsbiologe, Systematiker und Öko- wurde dort der ebenfalls aus Tübingen loge Günther Osche (1926–2009) hinzu- kommende Pflanzenphysiologe Hans gekommen waren. Mit 62 Jahren (1984) Mohr (1930–2016) Ordinarius für Botanik. trat er frühzeitig in den Ruhestand, "um ei-

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nem Jüngeren Platz zu machen". Danach Vermeidung von Verhaltensstörungen im genoss er die gewonnene Freiheit, las Blick. Deshalb forderte er nachdrücklich aber über mehr als 20 Jahre weiter die für den Säugling das Recht auf zumindest von seinem Vorgänger Koehler übernom- einen bleibenden Betreuer. mene Vorlesung "Vergleichende Verhal- Seinem gesellschaftspolitischen Enga- tensforschung" für Psychologen, erst be- gement entsprach es, dass er 1968–72 im endet durch einen Schlaganfall 2010. Wissenschaftsrat der Bundesrepublik Neben der Lehre an der Universität Deutschland als Vertreter des Fachs Bio- entfaltete Bernhard Hassenstein eine rei- logie und der Universität Freiburg Einfluss che Vortragstätigkeit und beteiligte sich in auf die Gestaltung der Wissenschafts- diversen hochrangigen Diskussionsrun- und Bildungspolitik nehmen konnte. Wäh- den um Zukunftsfragen. Nach einem 1965 rend hier nach seinen Worten oft "modi- vom Westdeutschen Rundfunk ausge- schen Visionen" folgende Empfehlungen strahlten Gespräch mit dem Philosophen abgegeben wurden, erlebte auch er und Psychologen Robert Heiß (1903– manche Niederlage, sodass er frühzeitig 1974) über den Vergleich von Tier- und ausschied. 1974 wurde er vom baden- Menschenkind schrieb die Kinderpsy- württembergischen Kultusminister Wil- chotherapeutin Christa Meves (*1925) an helm Hahn in die Kommission "Anwalt des Hassenstein, woraufhin sich ein reger Kindes" zur Erarbeitung von Leitlinien ei- Briefwechsel entwickelte und schließlich ner Schulreform berufen, die er bis 1981 für Hassenstein eine Neuorientierung hin leitete. Während dieser Zeit und danach zur Verhaltensbiologie des Kindes (so der unterstützte er zudem das Programm sei- Titel seines Buches, das 1973 bis 2007 in ner Frau Helma "Mutter und Kind: Hilfe für 6 Auflagen erschien, zuletzt in enger Zu- alleinerziehende Mütter (Väter)" in Ba- sammenarbeit mit seiner Frau Helma). den-Württemberg, die dafür 1992 mit Die geplante gemeinsame Analyse früh- dem Bundesverdienstkreuz ausgezeich- kindlicher Verhaltensstörungen als Ergeb- net wurde. nis fehlgeleiteter oder versäumter Lern- Außer Originalarbeiten, vier Büchern, prozesse scheiterte jedoch an kon- Übersichtsreferaten, Beiträgen in Hand- zeptionellen Differenzen, wenngleich er und Lehrbüchern sowie in verschiedenen es mit einer durch ihn verursachten zeit- Lexika und Sammelwerken zur Verhal- lichen Verzögerung erklärte, weil er theo- tensbiologie schrieb er eine Reihe von retisch noch mehr in die Tiefe gehen immer erneut lesenswerten Essays zur musste. In dieser Zeit vergab er eine Rei- biologischen Anthropologie in verschie- he von Examensarbeiten zur Verhaltens- densten Zeitschriften. Von 1959 bis 1971 entwicklung des Kindes, zumeist an junge war er Mitherausgeber von Zoologische Eltern, und es folgten zahlreiche Artikel Jahrbücher und gehörte von Anbeginn im Hinblick auf die Praxis vor allem in zum Herausgeberteam von Kybernetik medizinischen und pädagogischen Zeit- (später: Biological Cybernetics). Ferner schriften. In seinen Initiativen und Schrif- verdanken wir ihm die Herausgabe des ten hatte er stets das Kindeswohl und die Briefwechsels zwischen Ernst Haeckel

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und August Weismann (1965, gemeinsam eine Wegentscheidung. Diese fiel je nach mit G. Uschmann) und der gesammelten Art und Geschwindigkeit eines sich um Abhandlungen von Erich von Holst (1969- Käfer und Spangenglobus auf einer dre- 70). henden Trommel bewegenden Streifen- Sein wissenschaftliches Werk: Bern- musters verschieden aus, da der Käfer hard Hassenstein war in wissenschaft- die Bewegung der Umgebung zu kom- lichen Fragen vielseitig interessiert und pensieren versuchte. Aus den genau be- interdisziplinär orientiert. In seiner auto- kannten Helligkeitsänderungen und den biographischen Skizze (1991) charakteri- optomotorischen Reaktionen wurde auf sierte er seine wissenschaftlichen Bemü- die Datenverarbeitung im Gehirn ge- hungen als "Brückenschlag zwischen schlossen. In darauf aufbauenden Arbei- Biologie, Kybernetik und biologischer An- ten mit Reichardt wurde erkannt, dass die thropologie des Kindes". So verschieden Signale benachbarter Ommatidien mit- die Arbeitsgebiete auch sind, bauen sie einander nach Betrag (Geschwindigkeit rückblickend doch auf einander auf. des gesehenen Musters) und Vorzeichen Durch systemtheoretische Analyse von (Bewegungsrichtung) multiplikativ ver- Verhaltensweisen mit Messungen am in- rechnet werden. Die sich aus der Theorie takten Organismus und theoretischer Auf- ergebenden Voraussagen konnten expe- klärung der Datenverarbeitung wurde er rimentell bestätigt werden. Diese Arbei- ein Mitbegründer der biologischen Ky- ten waren wegweisend, wirken bis heute bernetik. Dabei trug ihn stets ein tiefes fort und stimulierten ähnliche Untersu- Interesse an anthropologischen und na- chungen bei anderen Tieren und auch turphilosophischen Themen. dem Menschen. Nach dem Prinzip des Bewegungswahrnehmung eines Kä- Reichardt-Detektors wurden später Ge- fers: In seiner Doktorarbeit zur Analyse schwindigkeitsmesser für Flugzeuge ent- des Bewegungssehens von Insekten er- wickelt. Als wichtiger Beitrag zur Neuro- fand er eine Versuchsanordnung, um die wissenschaft und Pionierleistung der Drehtendenz eines laufenden Rüsselkä- biokybernetischen Systemanalyse wurde fers (Chlorophanus viridis) vor speziellen die nachgebaute Versuchsanordnung ein bewegten Mustern (z.B. hellen und dun- Ausstellungsstück im 1995 eröffneten klen Streifen) exakt zu messen, die in Vor- Deutschen Museum Bonn. Vor dem Expo- versuchen von seinem Doktorvater E. von nat hielt Hassenstein an seinem 85. Ge- Holst als Spielerei abgetan wurde. Sie be- burtstag 2007 einen öffentlichen Vortrag. stand aus einem aus sechs gebogenen Biokybernetik: Mit der quantitativen Strohhalmstreifen gefertigten runden Ge- Untersuchung von Regelprozessen und bilde ("Spangenglobus"), das von dem am Informationsverarbeitung in biologischen Körper dorsal fixierten Käfer mit den Fü- Systemen erhielt die Forschung neue Be- ßen gehalten und beim Laufen unter sich griffe und Fragestellungen, z. B. für das gedreht wurde. In regelmäßigen Abstän- Problem der Verhaltenssteuerung. Has- den erforderte eine Y-förmige Verzwei- sensteins Modell vom Höchstwertdurch- gung der aufeinanderstoßenden Spangen lass beschrieb formal, wie sich bei

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gleichzeitig aktivierten Antrieben der je- einandersetzung des Individuums mit der weils stärkste durchsetzt und durch Hem- ihm eigenen Umwelt (1972). mung der anderen (laterale Inhibition) zu Begriffe und Konzepte: Ein wichtiger einem bestimmten beobachtbaren Ver- Beitrag Hassensteins bestand in der Klä- halten führt. Mitte der 60er Jahre entwarf rung und Neuschöpfung wissenschaft- er einen Formalismus der Datenverarbei- licher Begriffe, die zugleich neue For- tung beim Farbensehen des Menschen, schungsansätze eröffneten. Da biologi- auf dem mehrere Doktorarbeiten aufbau- sche Sachverhalte zumeist kontinuierlich ten. Die Grundbegriffe und Grundlagen ineinander übergehen und man ihnen mit der biologischen Kybernetik stellte er in scharfen Definitionen nicht gerecht wird, Übersichtsartikeln, einem Beitrag im versuchte er diese mit dem Begriff "In- Handbuch der Biologie und in seiner Ein- junktion" zu fassen und den uneinge- führung in die Biologische Kybernetik schränkten (typischen) Geltungsbereich (1965) dar, die 1977 die 5. Auflage erleb- sowie die fließenden Übergänge zu te und auch ins Englische übersetzt wur- Nachbarbegriffen zu kennzeichnen. Er de (1971). Zur anschaulichen Beschrei- war verwundert, dass trotz der seit Urzei- bung – aber auch Analyse – funktioneller ten stattfindenden Diskussionen von Fra- Bestandteile und ihrer anzunehmenden gen wie Wieviel Körner ergeben einen Verknüpfung erarbeitete er abstrakte Haufen? (Titel seines Essays 1979) dafür "Funktionsschaltbilder", die sich leichter ein Begriff fehlte und so sein Begriff In- als sprachliche Beschreibungen auf inne- junktion 1976 in das Historische Wörter- re Stimmigkeit und eventuelle Lücken buch der Philosophie aufgenommen wur- prüfen lassen und frei sind von theorie- de. Um den für die Kybernetik zentralen belasteten Begriffen. Begriff der Information hat er in Vorträ- Synthetische Lerntheorie: Geschult im gen und endlosen Diskussionen mit Mit- kybernetischen Denken analysierte Has- arbeitern gerungen. Nicht nur bei "Infor- senstein die verschiedenen Vorgänge des mation" nach Shannon, sondern auch bei Lernens unter Berücksichtigung diverser "Instinkt" nach Lorenz, kritisierte er die innerer Bereitschaften. Dabei waren Verwendung von in der Alltagssprache ebenfalls Funktionsschaltbilder zur veran- gebräuchlichen Begriffen als wissen- schaulichenden Beschreibung bzw. Postu- schaftliche Termini mit einem neuen Be- lierug vorhandener oder zu bildender deutungsinhalt und empfahl stattdessen Verknüpfungen bedeutsam. So unter- neue Begriffe. In vielen Vorträgen und schied er (lern)bedingte Aktion, Appe- Gesprächen rang er mit Adolf Portmanns tenz, Aversion und Hemmung und er- Begriff des "sekundären Nesthockers" für läuterte diese von ihm eingeführten Be- den menschlichen Säugling, ehe (1970) griffe an Beispielen vor allem der Wirbel- sein treffender Begriff "Tragling" gefunden tiere und Insekten. Besonders interessier- war. Dieser auch in andere Sprachen te ihn der teleonomische Aspekt, d.h. der übernomme Begriff und damit das Kon- Anpassungswert des Lernens in der Aus- zept des Angepasstseins ans Getragen- werden in seiner Bedeutung für die kör-

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perliche und psychische Entwicklung des me zur emotionalen Solidarisierung der Babys und für seine Betreuung hat sich Gruppenmitglieder mit dem Redner und durchgesetzt. enthemmenden kollektiven Begeisterung Beiträge zur biologischen Anthropo- (mit Rückenschauer) führt. Seine Vorträge logie: Bernhard Hassenstein war gern ge- über dieses Syndrom in der mensch- sehen als Vortragender und Diskussions- lichen Natur als "Widersacher der Ver- teilnehmer zu anthropologischen nunft und der Humanität" (1986, 1991) mit Themen, wo er aufgrund von Untersu- oft so verhängnisvollen und von Demago- chungen an Tieren so manche festgefah- gen missbrauchten Folgen gehören zu rene Vorstellung über Menschenverhalten dem Eindringlichsten, was man von ihm korrigierte. Zwei Kapitel aus seiner Ver- erleben konnte. haltensbiologie des Kindes hat er überar- Zahlreiche Auszeichnungen (Preise, beitet in einem Taschenbuch als Einfüh- Medaillen, Ehrenmitgliedschaften) aner- rung in die Verhaltensbiologie (1980) kennen Hassensteins hervorragende wis- herausgebracht. Darin betonte er die Be- senschaftliche Leistungen auf den ver- deutung von Prägung, Neugierverhalten, schiedenen Gebieten. 1992 erhielt er den Spielen und Nachahmen im entspannten Dr. honoris causa der Karls-Universität Feld. Seine Auseinandersetzung mit der Prag, wo er im Festvortrag die großen viel diskutierten Frage der Abhängigkeit Entdeckungen von J. E. Purkinje würdigte. der Begabung und Intelligenz von Erbgut Seit 1961 war er Mitglied der Heidelber- und Umwelt mündete zuletzt in das äu- ger Akademie der Wissenschaften und ßerst anregende Buch Klugheit (1988, seit 1965 der "Leopoldina" und dort viele 1992). In Freiburg wurde viel über einen Jahre Obmann für Zoologie. von K. Lorenz (1963: Das sogenannte Bö- Seine Vermittlung zwischen den Diszi- se) angenommenen allgemeinen und pe- plinen war attraktiv. Außer Biologiestu- riodisch zu befriedigenden Aggressions- denten kamen zu ihm Physiker, Mathema- trieb als Gegenstück zur ebenfalls tiker und Ingenieure, um eine Doktor- monokausalen Frustations-Aggressions- arbeit über ein verhaltensbiologisches Theorie der Psychologie diskutiert, ehe Thema zu schreiben. Von den rund 25 Hassenstein 1968 korrigierend eine diffe- Schülern wurden etliche namhafte Wis- renzierte Analyse vorlegte, die verschie- senschaftler an Universitäten und Institu- dene Reaktionsbereitschaften und auslö- ten, und auch viele andere haben von ihm sende Situationen und damit ursächlich persönlich oder aus seinen Schriften ge- verschiedene Aggressionsformen aner- lernt und Sichtweisen und kritisches Den- kennt. Ganz besonders beschäftigte ihn ken weitervermitteln können. die ansteckende Gruppenaggression und Hassensteins Thema in naturphiloso- Aufhetzung durch sprachliche Diffamie- phischen Vorlesungen und Schriften war rung von Gruppenfeinden oder Mei- immer wieder die Frage der mensch- nungsgegnern. Er erkannte, dass eine ag- lichen Entscheidungsfreiheit. Zu der Vor- gressive Vortragsweise und undif- stellung einer quantenmechanischen Un- ferenzierte Anklage mit erhobener Stim- bestimmtheit menschlicher Willensfreiheit

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des theoretischen Physikers Pascual Jor- Examenskandidaten und Doktoranden als dan (1932, 1938) hatte er ein Spottgedicht Tutoren zugute kam. Als in den Zeiten der im Stile Christian Morgensterns (Das Wir- Studentenunruhen große Vorlesungen kungsquant oder Die Verstärkertheorie) durch die Studenten "gesprengt" wurden, verfasst, das auf einer Tagung in Göttin- begründete er 1971 mit seinen Kollegen gen 1944 von Nikolai Timofféeff-Ressovs- eine Ringvorlesung zur "Biologie des ky verlesen wurde und zu dem sich auch Menschen", zu der auch die Öffentlichkeit Max Planck vergnügt schriftlich ihm eingeladen wurde und die ungestört gegenüber äußerte. Stolz auf dieses Ge- blieb. Sie wurde 1979 als Freiburger Vor- dicht präsentierte er es bei vielen Gele- lesungen zur Biologie des Menschen in genheiten und übertrug es zuletzt auch Buchform veröffentlicht. Seine Politik in mithilfe seiner Frau ins Englische (2000). dieser unruhigen Zeit bestand darin, klei- Bernhard Hassenstein war ein ne intakte Einheiten zu pflegen (Institut, Brückenbauer zwischen verschiedenen Fakultät) und Konfrontationen zu vermei- Wissenschaftsdisziplinen und zwischen den. So begründete er 1968 für die Biolo- Wissenschaft und interessierter Öffent- gie einen beratend tätigen Ausschuss für lichkeit, wovon unzählige Vorträge bei Zu- Studienangelegenheiten, der in der Zu- sammenkünften oder im Rundfunk zeu- sammensetzung mit 4 Dozenten/Professo- gen. Die Biokybernetik entstand zwischen ren, 4 Assistenten und 8 Studentenvertre- Verhaltensphysiologie, Technik und Ma- tern nur gruppenübergreifende Be- thematik. Um milieubedingte kindliche schlüsse ermöglichte. Die gemeinsam er- Verhaltensstörungen erklären zu können, arbeiteten, gut durchdachten Vorschläge setzte er sich – mit der Ethologie von fanden als Anträge in der Fakultätskonfe- Konrad Lorenz vertraut – ab Mitte der renz fast stets unverändert eine Mehrheit. 60er Jahre intensiv mit dem Neobehavio- Als Mitglied des Wissenschaftsrates er- rismus auseinander. Er trat auch in einen reichte Hassenstein, dass die Einrichtung Dialog zwischen Verhaltensforschung und von Studienausschüssen nach diesem Psychoanalyse bzw. Verhaltenstherapie. Modell empfohlen wurde, ohne dass es Über zwei Jahrzehnte nahm er bei regel- jedoch anderenorts dazu kam. mäßigen Besuchen in der damaligen Gesellschaftspolitische Aktivitäten: DDR jede Möglichkeit zur Begegnung mit Bernhard Hassenstein war stets bereit, Studenten, jungen Wissenschaftlern und Verantwortung für die Allgemeinheit zu Kollegen an Universitäten, Akademien, auf übernehmen. So war er erster Vertreter Tagungen und in kirchlichen Gemeinden der Biologen im AStA der Universität Hei- wahr, die davon gezehrt haben. delberg. In der Freiburger Universität Hassenstein war ein Reformer des zählte er zu den progressiven Professo- Universitätslebens. Über die Volkswagen- ren. Er hielt Reden gegen die Notstands- Stiftung initiierte er 1969 ein groß ange- gesetze und bei einer Demonstration an- legtes Tutorenprogramm für die Biologie, lässlich des gewaltsamen Todes des in dem über mehrere Jahre neue Lehrfor- Berliner Studenten Benno Ohnesorg men praktiziert wurden und das etlichen (2.6.67), wozu ihn die Studenten gebeten

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hatten. Er tat dies, auch wenn er wusste ger, ohne Dünkel, feinfühlig, charmant, oder merkte, dass ein abgelesener Text konnte gut zuhören und sich in Mitmen- auf den Plätzen nicht so wirkungsvoll ist schen hineindenken, nahm ihre Anliegen wie es eine frei formulierte Rede hätte ernst, wollte die Sicht von Betroffenen hö- sein können. Sein Einsatz in Wissen- ren, kümmerte sich um die Schwächeren, schafts- und Bildungspolitik wurde schon setzte sich für andere ein und ging offen erwähnt. Er verließ den sprichwörtlichen auf Menschen zu. Auf eigene Dinge war Elfenbeinturm des Wissenschaftlers, um er stolz und teilte sie gerne mit. Am Ster- Folgerungen aus Erkenntnissen der Ver- nenhimmel kannte er sich aus und half bei haltensbiologie zu empfehlen und insbe- der Orientierung. Er war begeisterungsfä- sondere die Bedeutung der individuellen hig und aufgeschlossen gegenüber Neu- Bindung des Säuglings zu einer beständi- em, abwägend im Urteil und bereicherte gen Bezugsperson für dessen gesunde Diskussionen immer wieder durch uner- Verhaltensentwicklung hervorzuheben. wartete Akzente oder Nachfragen. Dabei Medial stark beachtet wurden 1973/74 konnte er sehr direkt sein und andere seine Stellungnahmen in offenen Briefen manchmal in Verlegenheit bringen. Durch gegen die vom Bonner Familienministe- Zwischenfragen während eines Vortrags rium geplante finanziell unterstützte im kleinen Kreis im Seminarraum oder Fremdbetreuung von Säuglingen (Projekt seinem Arbeitszimmer unter dem großen "Tagesmütter"). Er beließ es aber nicht Porträt von August Weismann konnte er bei der Kritik, sondern entwickelte ge- manchen (schlechten) Vortrag zum Schei- meinsam mit seiner Frau als Alternative tern bringen, was auch für die Zuhörer das Mutter-Kind-Programm für alleinerzie- nicht angenehm war. Auch im Hörsaal hende Mütter, um ihnen durch finanzielle oder bei Tagungen ließ er unpräzise Aus- Unterstützung selbst die Betreuung ihres drucksweisen und unklare Diagramme Kindes in den ersten drei Lebensjahren zu nicht unkommentiert. Seiner feinen Selbst- ermöglichen. Ein erstes solches Pro- beobachtung verdanken wir Berichte gramm wurde im Landkreis Waldshut er- über seine Migräne mit Flimmern und folgreich durchgeführt, sodass es an- Gesichtsfeldausfall (1981), über die Erleb- schließend für ganz Baden-Württemberg nisse des Naturwissenschaftlers in der übernommen wurde. Welt der Politik (1976) und die Hemmun- Bemerkungen zu seiner Persönlich- gen, z.B. aus einem Auditorium heraus zu keit: Bernhard Hassenstein war eine inter- sprechen im Gegensatz zum Stehen vor- national hoch angesehene Forscherper- ne am Pult. Während er beim freien Spre- sönlichkeit, ein sehr rationaler Mensch mit chen manchmal stockend wirkte, waren hoher analytischer Begabung, als kriti- seine gut vorbereiteten abgelesenen Vor- scher Denker ein anregender Diskus- träge in ihrer Präzision sprachliche Glanz- sionspartner, begeisternder Vortragender stücke. Dabei benutzte er wenn immer und nicht ohne Einfluss auf Entschei- möglich die Alltagssprache. dungsträger. Aber was für ein Mensch Im Wissen darum, wie schwer es man- war er? Er war zutiefst humanistisch, inte- chem Studenten fallen würde, in einem

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vollen Saal und in Anwesenheit von Pro- der einst in Ermangelung eines Gästebu- fessoren eine Frage zu stellen, versuchte ches dafür herhalten musste. er diese Schwelle zu verringern. Für Dis- Was bleibt sind seine Bücher und Auf- kussionsrunden konnte man vorab ano- sätze zur biologischen Anthropologie, mit nym seine Fragen abgegeben. Nach ei- denen eine gedankliche Auseinanderset- nem Kolloquiumsvortrag bat er zuerst um zung lohnt, sowie sein Vorbild als enga- Fragen der Studenten, ehe er den Etab- gierter Wissenschaftler, der mit bewun- lierten das Wort erteilte. Auch scheute er dernswertem Mut seine aufgrund sich nicht, „Anfängerfragen“ zu stellen, wissenschaftlicher Erkenntnisse gewon- wenn ihm ein Begriff oder ein Sachverhalt nenen Überzeugungen in die öffentliche nicht geläufig war und nahm jungen Zu- Diskussion gesellschaftlich umstrittener hörern damit die Scheu, es ihm gleich zu Themen einbrachte oder eine solche tun. Im Anschluss lud er die Studenten zu auch anstieß. Neben dem Erkenntnisge- sich zum "open house", um in entspannter winn und der Vermittlung von Verantwor- Atmosphäre weiterhin mit dem Referen- tungsgefühl im akademischen Bereich ten diskutieren zu können, wo man durch- ging es ihm um Aufklärung, um einen hu- aus manchmal nur noch Platz auf dem manen Umgang und eine störungsfreie Teppich fand. Den Referenten bat er um Entfaltung einer Persönlichkeit mit allen eine Unterschrift und wenn möglich eine ihren Fähigkeiten zu ermöglichen. Dem kleine Skizze auf einem Lampenschirm, gilt es nachzueifern.

Prof. Dr. Walter Sudhaus Institut für Biologie/Zoologie Freie Universität Berlin Königin-Luise-Str. 1-3 14195 Berlin [email protected]

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Nachruf auf Helmut W. Sauer 12. August 1936 – 25. April 2016

A Personal Memoir Karl J. Aufderheide

Dr. Helmut W. Sauer died on 25 April 2016 of complications from a long struggle with Parkinson’s disease. He was born in Kassel, and grew up in Rotenburg a.d. Fulda, Germany. He earned a Ph.D. rer. nat. from Phillips University in Marburg, working under the direction of Friedrich Seidel, on embryonic deve- lopment in the cricket Gryllus. He did postdoctoral studies on mitotic regulation in the slime mold Physarum at the McArd- le Laboratory for Cancer Research in Madison, Wisconsin, USA. He held suc- cessive faculty positions in Germany at the University of Heidelberg, the Universi- photo: private archive ty of Konstanz, and at the Julius Maximilian University of Würzburg. Once he stepped down from being In 1981, he was appointed to be Head Department Head, Dr. Sauer assumed the of the Department of Biology, Texas A&M faculty responsibilities of research and of University in College Station, Texas, USA. teaching undergraduate and graduate cell At the time of his arrival, the Department and developmental courses. For many was experiencing a turbulent time of reor- years, in the weekly departmental semi- ganization and redefinition of its academic nars, it became traditional that Dr. Sauer role in the University. His mature and low- would ask the final question of the speak- key style of administration was important er. And that question would typically inci- in helping guide the Department through sively summarize the main points of the much of this difficult transition. He espe- speaker’s seminar, as well as pointing to- cially encouraged better collegiality ward critical areas of future research. In among the faculty and promoted faculty 2007, Dr. Sauer retired from his faculty po- sharing of large, expensive items of rese- sition and assumed the status of Emeritus arch equipment that could have common Professor in Biology. His retirement was use, such as ultracentrifuges and advan- partly driven by the steady progression of ced research microscopes. health problems from Parkinson’s disease.

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Dr. Sauer’s research focused on regu- 1996). Whether Dr. Sauer was successful lation of mitosis and development in the in this argument is a topic for discussion, slime mold Physarum (Sauer, 1982). At but his efforts illustrated that the pioneer- one stage of its life cycle, this organism ing cell biological workers in the early forms a giant syncytial cytoplasm that can 20th Century might have been technolo- extend over several cm and contains sev- gically limited in their investigations, but eral hundred million nuclei in one cell. they were certainly not intellectually limit- When this cell enters mitosis, all the nu- ed in their thinking of how cells must clei synchronously enter the nuclear divi- interact in developing systems to produce sion process within a few seconds of one the phenomena seen. Dr. Sauer’s efforts another. The advantages of this organism in this project illustrated the wide scope to studies of control of mitotic activity are of his curiosity and ability to integrate and manifold, and Dr. Sauer’s work took ad- rationalize concepts and ideas, even when vantage of them. For instance, he discov- they are separated by space and time. ered that, in Physarum, the regulatory com- Dr. Sauer’s interests outside of science ponent cyclin is not degraded through the were many. He enjoyed many different mitotic cycle but instead persists. Al- outdoor sports, including horseback rid- though this was an unusual exception to ing, mountain climbing, hiking, and ski- the usual control story, the phenomenon ing. Each summer, he would travel to also illustrated the importance of other Germany to visit with old friends and col- mechanisms of regulation of cellular con- leagues. He read a wide range of scientif- trol of mitosis by additional means (Cho ic and non-scientific literature as well and Sauer, 1994; Shipley and Sauer, attending many theater and musical per- 1992). He also discovered that, among formances. He left behind a loving family developmentally regulated genes in Phy- of his widow, his daughters and grand- sarum, those that are replicated early in S children. are also actively transcribed, whereas un- These briefly stated facts of the life of expressed genes are typically replicated Dr. Sauer do not fully reflect his scholarly late in S phase (Diller and Sauer, 1993). erudition, nor his ability to digest and The significance of these phenomena are present to students a wide range of prog- still of general interest to the topics of mi- ress in diverse research topics. My own totic regulation and gene regulation. memories of the several years that we were A late project in Dr. Sauer’s intellectual co-instructors in a number of graduate life was an effort to reinterpret Theodor and undergraduate courses in cellular Boveri’s original embryological work in a and developmental biology at Texas A&M modern context. He argued that Boveri’s University might help better illustrate some interpretations of patterns of differentia- of the special characteristic features of tion in normal and abnormal embryos his personality. Helmut’s analytical and presaged Wolpert’s model of Positional synthetic skills were of a remarkable na- Information based on a gradient, more ture and deserve commemoration among than 50 years later (Moritz and Sauer, those who follow him.

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Hearing a lecture from Helmut was an the lectures. Helmut also appreciated my amazing experience. I expect that many note-taking, and would also ask for copies students, at both graduate and undergrad- of the notes. He claimed that he could nev- uate levels, had never before interacted er remember what he said during his lec- with a mentor of such broad and compre- tures, so my transcriptions helped him as hensive erudition. He would spend weeks well. preparing for a lecture by reading the lat- Helmut also asserted that he couldn’t est primary literature on a particular top- read his own writing, although, most of ic. In the 1990s, for example, these topics the time, I could. Therefore, he often involved the latest discoveries in the re- would give me his own notes and hand- gulation of mitosis and the elucidation of written manuscripts to decode and tran- the molecular mechanisms involved in the scribe into typed text for him. Spemann Organizer in the vertebrate em- Helmut once told me that, when he bryo. He would digest these complicat- was on the faculty at Würzburg, he discov- ed processes into a narrative that involved ered that the desk he used was the same historical information as well as the cur- desk used by Theodor Boveri. Thus, he rent understanding of the mechanisms in- said, he felt a connection to Boveri and his volved and directions of future investiga- pioneering work on the connections be- tions. His lectures were both deep in tween cellular phenomena and develop- content and also highly allusive, referring mental phenomena, presaging our cur- to ideas both in science and other academ- rent “evo-devo” understanding, and this ic subjects, especially Greek and Roman connection was a major motivation for his mythology. Undergraduate students, with- efforts to reinterpret Boveri’s work in a out a broad or extended exposure to a modern context. variety of disciplines, had an especially Whether they realize it or not, the De- difficult time keeping up with him as he partment of Biology at Texas A&M Univer- lectured (Helmut’s German-accented En- sity, and the rest of the world, are the poor- glish didn’t help.). To assist the students, er for the loss of the creative contributions as co-instructor in the course, I found it of Dr. Helmut Sauer. He is sorely missed. useful to take notes of Helmut’s lectures and transcribe those into typed files that could be distributed to the class. Doing LITERATURE CITED this was a challenge, because I had not only to interpret and transcribe what he Cho, J.W., and Sauer, H.W., 1994. A non-cycling mitotic cyclin in the naturally synchronous was saying in the lecture, but also to add cell cycle of Physarum polycephalum. Eur. to the notes sufficient background infor- J. Cell Biol. 65, 94–102. mation to enable students to understand Diller, J.D., and Sauer, H.W., 1993. Two early some of the allusions he would make dur- replicated, developmentally controlled Physarum ing his lectures. The class greatly appreci- genes of display different pat- terns of DNA replication by two-dimen- ated my efforts, helping them to better sional agarose gel electrophoresis. Chro- understand the content and meaning of mosoma 102, 563–574.

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Mortiz, K.B., and Sauer, H.W., 1996. Boveri’s Biology, Vol. 11). Cambridge University contributions to developmental biology — Press, Cambridge, UK, 251 pp. a challenge for today. Int. J. Dev. Biol. 40, Shipley, GL., and Sauer, HW, 1992. Evidence 27–47. for a homolog of the yeast cell regulatory Sauer, H.W. (Ed) 1982. Developmental Biolo- gene product of cdc2+ in Physarum poly- gy of Physarum. (Developmental and Cell cephalum. Eur. J. Cell Biol. 48, 95–103.

Professor Dr. Karl J. Aufderheide Department of Biology, Texas A&M University College Station TX 77843-3258, U.S.A. [email protected]

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Nachruf auf Luise Schmekel 9. April 1935 – 19. Mai 2016

Annetrudi Kress und Heike Wägele

Am 19. Mai 2016 verstarb Frau Prof. Dr. Luise Schmekel in Wuppertal. Sie wirkte an der Universität Münster bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 2000. Wir Autoren möchten hier aus ver- schiedenen Blickwinkeln gemeinsame Zeiten mit Luise beleuchten. Sie wird uns allen in Erinnerung bleiben durch ihre grundlegenden Arbeiten über eine wun- derschöne Tiergruppe, von der sie ihr Le- ben lang begeistert war, den opisthobran- chiaten Meeresschnecken. Luise-Renate Schmekel, geboren in Wuppertal am 9. April 1935, begann 1955 ihr Studium der Zoologie, Botanik, Che- mie und auch Philosophie in Tübingen, wechselte dann später an die Universitä- ten in Freiburg i.Br., München und Gie- ßen. Im Wintersemester 1957/58 begann Luise Schmekel in jungen Jahren Foto privates Bildarchiv sie ihre Doktorarbeit an der Universität Basel (Schweiz). Der Titel der Arbeit lau- tete “Embryonic and postembryonic de- sondern auch für seine Begeisterung ins- velopment of blood forming organs in dif- besondere für die Meeresnacktschnek- ferent types of birds”. Die Studie entstand ken, die er seinen Studierenden während unter der Leitung von Prof. Adolf Port- der Exkursionen nach Villefranche-sur- mann und wurde 1961 eingereicht. mer, Banyuls-sur-mer oder Roscoff (Frank- Während dieser Basler Zeit traf ich, reich) besonders gerne demonstrierte. Annetrudi Kress, Luise zum ersten Mal. Dabei begeisterte sich auch Luise für die Damals arbeitete ich selbst als technische wunderschönen Schnecken und begann Assistentin und meine Aufgabe war es, in den 60iger Jahren ihre Arbeiten an den ihr im Bereich der Histologie zuzuarbei- Opisthobranchiern in der Meeresbiologi- ten. Unser beider Chef, Adolf Portmann, schen Station in Neapel. Seit 1965 publi- war nicht nur wegen seiner entwicklungs- zierte sie regelmäßig und beschrieb biologischen Studien an Vögeln bekannt, mehrere neue Gattungen und Arten aus

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dem Golf von Neapel. Diese Studien ku- mulierten in dem berühmten Buch Schmekel & Portmann “Opisthobranchia des Mittelmeeres“ erschienen 1982 im Springer Verlag. Der Band zeichnet sich aus durch hervorragende Farbtafeln von Ilona Richter und zahlreiche schwarz- weiß Grafiken von Sabine Bousani, die auf den Arbeiten von Luise und ihren Stu- dentinnen und Studenten beruhten. Parallel zu ihrer Arbeit in Neapel hatte Luise eine Assistentenstelle am Max- Planck-Institut für Hirnforschung in Köln inne. Dort begann sie ihre TEM Analysen an verschiedensten Organsystemen der Opisthobranchier. Diese Arbeiten setzte sie am Max-Planck-Institut für Zellbiologie in Tübingen fort, wo sie sich 1970 habili- Luise Schmekel in Villefranche-sur-Mer 1963 tierte. 1976 erhielt sie einen Ruf an die Foto privates Bildarchiv Universität in Münster, wo sie bis zu ihrer Emeritierung das Fach Zoologie vertrat. ten. Als ich meine Diplomarbeit 1983 Luise und ich standen all die Jahre im- über die Mittelmeer-Art Phyllidia flava ab- mer in Kontakt. Ich hatte meine Doktorar- geschlossen hatte, schenkte Luise mir ein beit 1964 an der Marine Biological Station Exemplar dieses Werkes. Dieses Exem- in Plymouth (UK) begonnen und wurde oft plar hat im Laufe der Jahre auf Grund von ihr gebeten Vergleichsmaterial aus meiner und der Studierenden ständigen dieser Region mitzubringen. Über die Benutzung stark gelitten. Als ich Luise Jahre haben wir mehrere Publikationen vor einigen Jahren erzählte, dass das gemeinsam geschrieben und ich bin ihr Exemplar, welches sie ihrer Lieblings- für diese Zusammenarbeit und die Hilfe- Forschungstation Arago in Banyuls-sur- stellungen zeitlebens dankbar. mer (Frankreich) überreichte hatte, mitt- Als ich, Heike Wägele, 1981 das erste lerweile in einem Safe aufbewahrt wird Mal als Studentin Luise Schmekel traf, war und nur noch wenige Leute die Erlaubnis ich tief beeindruckt von ihrem breiten bekommen es sich auszuleihen, hatte sie Wissen über die Opisthobranchier. Luise noch sehr gehofft eine 2. Ausgabe her- arbeitete gerade an dem schon erwähn- ausgeben zu können. Leider ist es nicht ten Buch “Opisthobranchia des Mittelmee- mehr dazugekommen. res”. Dieses grundlegende Buch hatte Luise hat mich in die Histologie einge- und hat einen großen Einfluss auf Studen- führt, eine Methode, die leider immer we- ten, Wissenschaftler, aber auch Lehrer, niger angewendet wird. Ihre Liebe zur Hi- die über mediterrane Schnecken arbei- stologie und vor allem der Transmissions-

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elektronenmikroskopie (TEM) zieht sich durch ihr gesamtes Werk. Eines ihrer wichtigsten Werke war die genaue Beschreibung der Genitalsyste- me innerhalb der Gruppen Nudibran- chia und Sacoglossa; die von ihr einge- führte Terminologie ist heute Standard. Wenn Luise Schmekel Arten beschrieb, analysierte sie die Morphologie sehr ge- nau und setzte ihre Beschreibung jeweils in eine klare schematische Zeichnung um. Diese Schemata der äußerst komplizier- ten Genitalorgane der hermaphroditi- schen Schnecken waren trotz ihrer Ver- einfachung aber immer absolut korrekt. Genau diese Schemata waren und sind die Basis für zahlreiche vergleichende Untersuchungen zum besseren Verständ- nis der Evolution und Biologie dieser Luise Schmekel auf dem Internationalen Tiergruppe. Sie sind auch ein hervorra- Workshop on Opisthobranchs im Museum gendes Beispiel für jüngere Studenten, Koenig 2006. Rechts dahinter Bill Rudman. wie man komplexe Strukturen verständ- Foto: Archiv ZFMK lich darstellen kann. Luise Schmekel hat aber nicht nur Es war für Luise nicht leicht, ihre Wis- morphologisch gearbeitet. Basierend auf senschaft und somit „ihre Schnecken“ dem breiten Wissen, das sie sich in den aufzugeben, als sie im Jahr 2000 emeri- vielen Jahren über die Tiergruppe erar- tierte. Ihr letztes Projekt, welches sie ger- beitet hat, versuchte sie die Evolution der ne noch fertiggestellt hätte, war die Be- Opisthobranchia zu klären. Es ist beein- schreibung einiger neuer Elysia-Arten druckend zu sehen, wie manche ihrer aus dem Mittelmeer; sie ahnte schon lan- Hypothesen bezüglich der Validität von ge, dass Elysia viridis ein Artenkomplex opisthobranchiaten Untergruppen heute ist. Leider erlaubten gesundheitliche Pro- starke Unterstützung v.a. durch molekula- bleme ihr nicht mehr, diese Arbeit zu be- re Studien erhalten. Sie hat schon lange enden. vor den ersten phylogenetischen Analy- Während eines von mir organisierten sen die „Notaspidea“ als eine künstliche Workshops 2006 in Bonn konnte Luise Gruppierung eingestuft und damit ange- nochmals viele ihrer Kolleginnen und Kol- sehenen Kollegen aus dem Ausland legen wiedersehen. Es war sicherlich widersprochen, eine „Intuition“, die mitt- nicht nur für sie, sondern für uns alle ein lerweile durch zahlreiche Untersuchun- highlight, gemeinsam über unsere Lieb- gen belegt ist. lingstiergruppe zu diskutieren.

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Mit ihren ca. 35 Publikationen über te ihr wenigstens einmal dafür danken, in- Nacktschnecken hat Luise Schmekel we- dem ich eine antarktische Nacktschnecke sentlich zum Verständnis der opisthobran- nach ihr benannte: Notaeolidia schmeke- chiaten Schnecken beigetragen. Ich konn- lae.

Prof. Dr. Annetrudi Kress Prof. Dr. Heike Wägele Habshagstrasse 6/3 Forschungsmuseum Alexander Koenig 4153 Reinach/Schweiz Adenauerallee 160, 52113 Bonn. [email protected] [email protected]

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Nachruf auf Horst Füller 6. November 1929 – 17. Juli 2016

Dietrich von Knorre

Am 17. Juli 2016 verstarb in Jena acht Jah- re nach einem schweren Schlaganfall, von seiner Frau treu gepflegt, der langjährige Leiter der ehemaligen Arbeitsgruppe Sin- nesphysiologie und Leiter des Phyleti- schen Museums, ao. Prof. Dr. Horst Füller. Horst Füller wurde am 6. November 1929 als Sohn eines kaufmännischen Mit- arbeiters einer Messwerkzeugfabrik in Suhl (Thüringer Wald) geboren. Bis ins hohe Alter nutzte er dort ein im Familien- besitz befindliches größeres Garten- grundstück als Rückzugsort. 1934 begann er seine Schulausbildung in Suhl, zu- nächst aus finanziellen Gründen bis 1942 an einer Mittelschule, konnte dann jedoch 1942 auf die Oberschule wechseln, die er 1946 mit dem Abitur beendete. Foto: Familienbesitz Füller Im Wintersemester 1947/48 begann er sein Studium der Biologie an der Martin- mann (1888 – 1974), über die Lumbrici- Luther-Universität in Halle und wechselte den des mittleren Saaletales mit den 1948/49 an die FSU nach Jena. Hervorste- Hauptprüfungen in Zoologie, Botanik und chend ist auf dem Studienbuch im 1. Se- Anthropologie ab. Im folgenden Jahr mester sein späterhin markanter Namens- reichte er seine Dissertation zum Thema zug. „Untersuchungen über den Bau und die Entwicklung von Eiseniella tetraedra (SAV.)“ ein und wurde am 6.9.1952 an der Math.-Nat. Fakultät der FSU zum Dr. rer. nat promoviert. Beide Arbeiten erschie- nen in der Wissenschaftlichen Zeitschrift Kopie der Unterschrift aus Buchwidmung 1995 der Universität Jena und waren Anlass, dass Horst Füller durch Erwin Stresemann Bereits nach acht Semestern schloss er (1889-1972) zur Mitarbeit an der mehr- am 4.9.1951 sein Studium mit einer Di- bändigen „Exkursionsfauna von Deutsch- plomarbeit, betreut von Prof. Dr. E. Uhl- land“ eingeladen wurde.

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Vom 1.9.1951 bis 31 3.1963 war Horst lutionsbiologie mit Phyletischem Mu- Füller als wissenschaftlicher Assistent, seum“ ernannt. Seine Emeritierung er- 1.9.1962 als Oberassistent am Phyletischen folgte zum 31.3.1993. Museum tätig und fertigte neben den Auf- Neben seinen funktionsmorphologi- gaben bei der Umgestaltung der Ausstel- schen Untersuchungen an Arthropoden lung des Museums seine Habilitations- arbeitete Horst Füller wiederholt an po- schrift “Vergleichende Untersuchungen pulärwissenschaftlichen Projekten mit und über das Skelettmuskelsystem der Chilo- publizierte im Urania-Verlag mehrere Bü- poden“ an. Mit Wirkung vom 1.4.1963 cher, darunter ein auch im Ausland in wurde er zum Dozenten für das Fach Lizenzausgabe (ungarisch, tschechisch) Zoologie berufen. erschienenes und von Studenten in Im Jahr 1969 übernahm Horst Füller Ermanglung geeigneter Lehrbücher nach der Gründung der Sektion Biologie gerne genutztes Buch: „Zellen; Bausteine an der FSU die Leitung des neu aufzu- des Lebens“ (1. Aufl. 1971, 2. Aufl. 1975) bauenden Wissenschaftsbereiches Sin- und „Das Bild der modernen Biologie“ nesphyiologie und schuf sich damit eine (3. Aufl. 1985). Nach dem Tode seines Va- eigene Arbeitsgruppe. Im Rahmen seiner ters Fritz Füller (1900-1982) gab er einige Tätigkeit als Lehrbeauftragter und später der von diesem in der Reihe der Brehm- als Dozent hat er 15 verschiedene Vorle- Bücherei publizierten Hefte über ver- sungen zur Zoologie und allgemeinen schiedene heimische Orchideen-Grup- Biologie gehalten sowie wiederholt fünf pen nochmals heraus. unterschiedliche Praktika geleitet. Zu- 1954 war Horst Füller Mitglied in der gleich wer er in zeitlich begrenzte Aufga- DZG geworden, musste aber im Zuge der ben der Sektionsverwaltung und Studen- politischen Abgrenzung der DDR auf tenbetreuung eingebunden. Druck der Universitätsleitung Ende der Nach der Emeritierung von Prof. M. 1960-er Jahre seinen Austritt erklären. Mit Gersch (1909-1981) wurde Horst Füller Schreiben vom 8. März 1990 konnte er zum 1.9.1974 die Leitung des Phyleti- seine Mitgliedschaft in der DZG wieder schen Museums übertragen. Seine Beru- aktivieren. fung zum ao. Professor für Zoologie er- Frau Anneliese Füller sowie den Mitar- folgte am 1.9.1975. Vom 6.11.1979 bis zu beitern des Universitätsarchivs der FSU seiner Abberufung zum 30.3.1988 war er Jena gilt mein Dank für die Möglichkeit Mitglied des wissenschaftlichen Beirats zur Einsichtnahme in persönliche Unterla- für Museen beim Ministerium für Hoch- gen von Horst Füller. und Fachschulwesen. Im Rahmen der Um- strukturierung der Fakultät im Jahr 1990 und der damit verbundenen Auflösung seiner bisherigen Arbeitsgruppe wurde Dr. Dietrich von Knorre Horst Füller am 9. 10. 1990 zum geschäfts- Ziegenhainer Str. 89 führenden Direktor des neu gegründeten 07749 Jena „Instituts für Spezielle Zoologie und Evo- [email protected]

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In memoriam Gerd Alberti 12. Januar 1943 – 9. November 2016

Volker Storch und Peter Michalik

Noch im Juni 2016 wirkte Gerd Alberti auf einem Alumni-Treffen in Heidelberg auf die Anwesenden frisch, freundlich wie im- mer und auch unternehmungslustig. We- nig später wurde er jedoch mit einer fürchterlichen Diagnose konfrontiert, von der nur wenige Personen erfahren sollten. Er verbrachte die folgenden Monate im Kreise seiner engsten Familie und schloss noch ein wissenschaftliches Manuskript ab. Am 9. November starb er. So war Gerd Alberti – herzlich mit sei- ner engsten Familie verbunden, seiner Frau Ingrid und seinen drei Söhnen Jan Hinnerk, Johannes und Matthias – wissen- schaftlich äußerst aktiv und breit interes- siert sowie – in allem – pflichtbewusst und äußerst präzise. Foto Michael Schmitt Anlässlich seines Eintritts in den Ruhe- stand (2008) verfasste er eine Zusammen- an der Flensburger Förde und schon früh schau seines Lebenslaufs als Schüler, Stu- begeisterte er sich als Bub für die beleb- dent und Mitglied des Lehrkörpers der te Natur. Dieses Interesse wurde stark ge- Universitäten Kiel, Heidelberg und Greifs- fördert, insbesondere auch in der Schule. wald, die auch Witziges und Zeitkritisches Ein Greifvogel-Kenner wirkte hier be- enthält, was zum Teil Eingang in diesen sonders nachhaltig mit. Text gefunden hat. Nach dem Abitur folgte von 1962 – 64 Gerd Alberti wurde am 12.1.1943 in der Wehrdienst bei der Panzerartillerie Wiener-Neustadt (Österreich) als Sohn auf der Geest Schleswig-Holsteins in Boo- eines Offiziers und einer Mutter, die aus stedt. Diese Zeit war für ihn unerfreulich einer Flensburger Kaufmannsfamilie und er entschloss sich in den letzten Ta- stammte, geboren. Seinen Vater be- gen für ein Studium der Biologie, viel- schreibt er als „Preußen im positiven Sin- leicht auch wegen der hiesigen interes- ne“ und so wurde er auch selbst: ehrlich, santen Vogelwelt mit den häufigen Raub- fleißig, pflichtbewusst und zuverlässig. würgern und unter der typischen Lautge- Seit 1945 lebte die Familie in Glücksburg bung der Bekassinen.

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Es schloss sich das Studium der Biolo- als er in einem Brief eines Schuster-Schü- gie in Kiel an. Besonders wurde er von lers nachdrücklich ermutigt wurde, sich Adolf Remane geprägt. Wenigstens ein auf eine Assistenten-Stelle in Kiel zu be- Problem brachten allerdings dessen bril- werben. Er tat es und bekam die Stelle. lante Vorlesungen mit sich. Im Sommerse- Viele Jahre später (1995) fragte ihn einer mester begannen sie 7 Uhr sine tempore, der Verfasser dieser Zeilen (V.S.), ob er im Wintersemester 8 Uhr s.t. Da der Hör- sich auf den Lehrstuhl für Allgemeine und saal des Zoologischen Instituts jedoch im Angewandte Zoologie in Greifswald be- Regelfall überfüllt war, musste sich Gerd worben habe. Wenn nicht, dann müsse Alberti schon früh auf das Fahrrad das sogleich geschehen, da die Bewer- schwingen, um noch einen Sitzplatz zu bungsfrist in Kürze abliefe und er die erhaschen. Fast über die gesamte Stu- Qualifikation mit Sicherheit habe. Es folg- dienzeit war er „Hiwi“, v.a. bei dem Di- te eine kurze Diskussion, er verließ das rektor des Instituts für Haustierkunde, Institut und tat es in Ruhe und von zu Hau- Wolf Herre, aber auch bei den anregen- se. Bald kam der Ruf an diese so erfreuli- den Meeres- und Fischereibiologen, z.B. che Universität, zudem noch in einer dem späteren Begründer des Institutes Landschaft gelegen, die ihn in seiner für Polarforschung in Bremerhaven, Gott- Kindheit und Jugendzeit besonders ge- hilf Hempel. prägt hatte. 1972 erfolgte die Promotion. Als Dok- Gerd Alberti habilitierte sich 1980 in torvater hatte er sich Professor Reinhart Kiel mit der Schrift „Zur Feinstruktur der Schuster ausgewählt, der aus Braun- Spermien von Spinnentieren (Arachnida) schweig gekommen war und nun Rema- unter besonderer Berücksichtigung der nes Nachfolger auf dem Lehrstuhl für All- Milben (Acari)“. Der Habilitation war eine gemeine Zoologie war. Das Thema der intensive Zeit am Elektronenmikroskop Dissertation lautete „Vergleichende bio- vorausgegangen, erst im Anatomischen nomische und anatomische Untersuchun- Institut, dann auch am Institut für Pharma- gen an Schnabelmilben (Bdellidae)“. kognosie der Universität Kiel, etwas spä- Die damals wie in unserer Zeit drän- ter an von der DFG finanzierten Geräten gende Frage junger Wissenschaftler nach im Zoologischen Institut. In dieser Zeit, als der weiteren nahen und auch ferneren wir Wissenschaftliche Assistenten waren, Zukunft im erwünschten Betätigungsfeld, gab es eine Periode, die wunderbar war wenn man gerade zum Doktor gekürt – ohne Chef. Professor Schuster war nach worden war, wurde im Leben von Gerd Graz berufen worden, ein Nachfolger Alberti zweimal auf eine erwähnenswerte noch nicht auserkoren. Art und Weise zu seinen Gunsten beant- Das bedeutete freie Entfaltung für akti- wortet: ve junge Wissenschaftler: Es wurden 1972 war Gerd Alberti gerade mit sei- neue Kurse vorbereitet, jeweils von zwei ner späteren Frau Ingrid auf dem Weg zu Wissenschaftlichen Assistenten geleitet den Olympischen Spielen in München – und von den Studenten sehr gerne ange- das war eine Belohnung für die Promotion, nommen: Histologie, Elektronenmikrosko-

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pie, Embryologie, Schädlingskunde und rekte Antwort geben konnte. Intellektuelle Parasitologie. In dieser Zeit kam es zu ei- Neugierde und Verlässlichkeit in ihrer be- ner für uns Assistenten enormen fach- sten Ausprägung! Dieses Verhalten zeich- lichen Erweiterung und für die Studenten nete ihn in seinem gesamten Berufsleben zu einer bisher unbekannten Kombination aus. von Labor- und Freilandarbeit, Grundla- 1980 folgte der Wechsel nach Heidel- genforschung und Angewandter Biologie. berg. Gerd Alberti wurde Akademischer Unvergessen sind bis heute die noch le- Rat und ein paar Jahre später zum außer- benden Parasiten aus dem Schlachthof planmäßigen Professor ernannt. In Hei- und vom Fischmarkt, die Jagd auf studen- delberg hat er sich enorm für die studen- teneigene Haarbalgmilben aus Wangen tische Lehre eingesetzt und auch Ex- und Ohren sowie deren anschließende kursionen durchgeführt, die größeren ge- mikroskopische Begutachtung, die noch meinsam mit Kollegen. Unter anderem frischen Plazenten aus der benachbarten ging es nach Polen, Ungarn, Jugoslawien, Frauenklinik, die wir bald nach der glück- Österreich, in die Schweiz, die Niederlan- lichen Geburt erhielten (die histologische de und nach Belgien. Es wurden viele In- Analyse folgte später und demonstrierte stitute besucht. Dort instruierten uns immer wieder, wie weit wir von der Fachleute u.a. über Forstbiologie, Parasi- Kenntnis über uns selbst sind), das Aus- tologie, Bodenkunde. Zudem wurden an graben von Wurzelgallen an großen Ei- jedem Tag zwei oder drei studentische chen etc. etc. Es herrschte eine fröhliche Referate gehalten, auch im fahrenden Bus. Aufbruchsstimmung, bisweilen am Kur- Es war ein Festival des breit angelegten sende und nach den obligatorischen Lernens. Neben der Biologie spielten Klausuren gefeiert, zum Beispiel mit Balut auch politische Aspekte eine Rolle, die (Essen gekochter, angebrüteter Hühner- mehrfach zu nachdrücklichen Erlebnis- eier aus unserem kurseigenen Brut- sen führten. Unvergessen die versuchte schrank: eine philippinische Besonder- Festnahme eines Gastgebers in seinem heit), „Texas Oysters“ (Hoden von Heimatland und das Fliehen per Bus aus Schwein oder Rind, gebraten – vom einem Land, das wenig später selbstän- Schlachthof) oder auch Bücklingen, die dig wurde und in dem in der Zeit der Ex- regelhaft Nematoden enthielten. kursion schon die Panzer rollten. Erinne- Angesichts der Breite der Fachdiszipli- rungen an Polen und Jugoslawien unter nen, die wir in den Kursen zu behandeln früherem Regime. Die wissenschaftlichen hatten, stießen die Studenten mit ihren und freundschaftlichen Bande mit den zahlreichen Fragen natürlich auch auf beteiligten ausländischen Wissenschaft- Wissenslücken bei uns. Da gab es bei lern existieren bis zum heutigen Tag. Die Gerd Alberti niemals ein „Herumreden“. mehrtägigen Exkursionen standen ver- Er gab stets zu, dass er keine präzise schiedentlich unter dem Motto „Ange- Antwort parat hatte, fragte bei Kollegen wandte Zoologie“. Es ging auch darum, nach und zog sich auch so manches Mal an der Universität Heidelberg, die im Be- in die Bibliothek zurück, bis er eine kor- reich der Biowissenschaften besonders

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stark in der Molekularbiologie engagiert ganismisch geprägte Struktur des Insti- ist – u.a. mit EMBL, DKFZ und ZMBH – an tuts. Seine Begeisterung für die Zoologie Zoologie besonders interessierten Stu- und im Besonderen für die Arthropoden denten Wege zu Berufsfeldern zu eröff- konnte man vor allem im klassischen Zoo- nen. Ein Resultat waren unter anderem logischen Großpraktikum spüren. Akri- Firmengründungen – die größte eines bisch stellte er Baupläne der einzelnen Absolventen beschäftigt heute über 150 Gruppen vor, die sich die Studenten dann Personen. Andere Ehemalige sind heute anschließend an dem äußert umfangrei- an Universitäten im In- und Ausland tätig. chen, von ihm über Jahrzehnte gesammel- Insgesamt also eine sehr erfreuliche Ent- ten Material selbst erschließen konnten. wicklung! Einer der Verfasser (P.M.) war immer wie- Sein vielfältiges Engagement in Lehre der erstaunt, wie genau sich Gerd Alberti und Forschung setzte Gerd Alberti ab an die jeweiligen Fundumstände erinnern 1996 als Professor für Allgemeine und An- konnte – er war ein begeisterter Samm- gewandte Zoologie in Greifswald fort. ler! Unvergessen sind auch die Studenten- Hier wirkte er von 1997-2006 auch als Di- Exkursionen nach Polen (2001 und 2002), rektor des Zoologischen Instituts und Mu- die einmal mehr seine tiefe Verbunden- seums. In dieser Tätigkeit versuchte er die heit mit polnischen Kollegen vor allem der Zoologie in Greifswald maßgeblich voran- Universitäten Bydgoszcz, Kraków und Poz- zubringen und war unter anderem einer nán zeigten. Für sein jahrelanges Engage- der Wegbereiter für die heutige stark or- ment für den wissenschaftlichen Aus-

Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Adam-Mickiewicz-Universität zu Poznán (20. Mai 2009). Foto privates Bildarchiv

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als jemand, der seine Begeisterung für die Wissenschaft kundtat und auf die jun- gen Mitarbeiter übertragen konnte. Selbst verfasste er mehr als 200 wissen- schaftliche Publikationen, bekam 13 DFG- Anträge bewilligt (inklusive eines Elektro- nenmikroskops) und betreute verschie- dene Vorhaben aus dem angewandten Sektor, zum Beispiel aus dem Bereich „Projekt Wasser, Abfall, Boden (PWAB) des Landes Baden-Württemberg: Dekom- position unter Schwermetalleinfluss". Sei- ne enge Vertrautheit mit Bodenorganis- men, speziell der Acari, verband sich hier mit einem gesellschaftlich sehr relevanten Thema, der Zerstörung des Bodens. Die- ses Thema hat ihn auch nach seinem Gerd Alberti an seinem geliebten Elektronen- Wechsel nach Greifswald nicht losgelas- mikroskop (Zeiss EM 10) in Greifswald. sen und so war er einer der Initiatoren ei- Foto privates Bildarchiv nes mehrjährigen Projektes zum Waldum- bau in Mecklenburg-Vorpommern. Mehr tausch mit polnischen Acarologen verlieh als für diese anwendungsbezogene For- ihm die Adam-Mickiewicz-Universität zu schung schlug sein Herz für die Verglei- Poznán 2009 die Ehrendoktorwürde. Dies chende Ultrastrukturforschung. Sehr viel war allerdings nicht die einzige Ehre, Zeit verbrachte er am Elektronenmikro- die im zuteil wurde – so wurde er Ehren- skop, und als der US-amerikanische Initi- mitglied der renommierten Accademia ator der später preisgekrönten Buchreihe Italica Entomologiae zu Florenz (2005), „Microscopic Anatomy of Invertebrates“, der International Society of Arachnology Professor Frederick Harrison nach einem (2010) und der Polish Acarological Socie- besonders kompetenten Autor für das Ka- ty (2010). Des weiteren erhielt er 2003 die pitel „Arachnida“ suchte, fiel die Wahl auf Alexander von Humboldt Foundation Ho- Gerd Alberti, der schließlich zwei Bände norary Research Fellowship der Founda- über Acari (zusammen ca. 1.000 Seiten) tion for Polish Science – ein weiterer Be- vorlegte. Rick Harrison war begeistert leg für seine herausragenden Leistungen. über diesen fundamentalen und detail- An dieser Stelle darf eines nicht uner- lierten Abriss, der maßgeblich zum Ver- wähnt bleiben – Gerd Alberti blieb trotz ständnis der einzelnen Organsysteme von aller Ehrungen stets bescheiden. Milben und Zecken beigetragen hat; es Gerd Alberti hat über 20 Dissertatio- entstanden freundschaftliche Bande zwi- nen und mehr als 50 Diplomarbeiten an- schen den Familien. Rick starb nur weni- geleitet. In seiner Arbeitsgruppe galt er ge Wochen nach Gerd Alberti.

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Gerd Alberti kooperierte mit etwa 40 kooperativen Menschen mit breitem Wis- nationalen Partnern und über 50 aus an- sen vermissen, der zudem durch Be- deren Nationen. Sie alle werden einen äu- scheidenheit und eine lebenslange intel- ßerst zuverlässigen, absolut präzisen und lektuelle Neugier ausgezeichnet war.

Prof. Dr. Dr. h. c. Volker Storch PD Dr. Peter Michalik Centre for Organismal Studies Zoologisches Institut und Museum Im Neuenheimer Feld 230 Loitzer Str. 26 69120 Heidelberg 17489 Greifswald [email protected] [email protected]

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Wolfgang Friedrich Wülker 25 September 1925 – 12 January 2017

Jon Martin

Wolfgang Wülker was born on 25 Sep- tember 1925 at Frankfurt, Germany, and spent his youth there. His father, Professor Gerhard Wülker, was one of the founders of “Zeitschrift für Parasitenkunde”, but he died when Wolfgang was four years old. On leaving school Wolfgang was draft- ed into the army and became a prisoner of war. He then studied biology, chemistry and physics in Marburg, Heidelberg and Frankfurt, graduating in 1951 with the de- gree of Dr. rer. nat., with a thesis on the embryonic development of fish. In 1952 he began working as a scientific assistant to Prof. H.J. Elster at the Hydrobiological Station Falkau (later the Limnological Insti- tute of the , Walter Schlienz-Institut). His initial publications were on fish, but after being one of the Wolfgang Wülker at the occasion of his 85. birthday Foto Privatarchiv last students of August Thienemann, pa- pers on chironomids began appearing from 1956. He was at Falkau for about 10 ually becoming a Professor. He taught years and added to the collection of the many courses at the University, including station both specimens from the Black on the ecology of humankind, and super- Forest area and specimens collected on vised over 80 post-graduate students. He his research trips to Spain (1954), Fenno- officially retired in 1990, but continued to scandinavia (1956), Sudan (1963), USA maintain a laboratory at the University for and Canada (1964). some years. Later he transferred his labo- He did his Habilitation in Zoology and ratory to his home and continued author- Limnology on intersexuality in Chirono- ing or co-authoring papers until he was mus and the biology of Sergentia at the about 85. University of Freiburg, in 1960. Then in In 1977 and 1978, he was President of 1962 he joined the staff of the University, the German Society of Parasitology, and where he remained for the rest of his work- served on the editorial boards of several ing life, receiving promotions and event- journals, notably Zeitschrift für Parasiten-

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kunde, where he was also one of the edi- means of identifying the sex of larvae and tors from 1979. their development stage. Working with W. In 1965 Wolfgang was still working in Götz, they produced detailed illustrations the field of mermithid parasitism in Chir- of the appearance of the imaginal anlagen onomidae, particularly in relation to the in nine defined stages of larval fourth in- effect on sexual development of males star development. These observations ha- and females. These studies on the effects ve been extensively used by other work- of the mermithids on the midges resulted ers for such things, as defining the deve- in a survey in the Sudan, conducted by lopmental stage at which hibernation oc- the World Health Organization, to investi- curred, and in the assessment of envir- gate the possibility of controlling chirono- onmental pollution and its effect on the mids biologically by means of mermit- genome structure in biomonitoring. hids, because the large numbers of In the course of these studies, he spent chironomids in the region caused asthma 4 months in the laboratory of Prof. J.E. and other allergic reactions. These stu- Sublette at Portales, New Mexico in the dies of sexual development required a U.S.A., trying to infect chironomid larvae with mermithid parasites. During this time Wolfgang became more entranced with the possibility of using polytene chromosomes in chironomid taxonomy and phylogeny using the standard maps of chromosomes arm A, E and F, produ- ced by Dr. H.-G. Keyl of the Max-Planck- Institut für Meeresbiologie, and spent some time in other labs in Germany be- coming acquainted with methodology and cytotaxonomy in general. Later, with Drs. G. Dévai and M. Miskolczi, he pro- duced the standard chromosome maps for the rather difficult chromosome arms B, C and D. These publications resulted in the description or re-description of many species of the dipteran genus Chirono- mus, and investigation of the ecology and evolutionary relationships of species in Europe, Asia, Africa and North and South Prof. Wolfgang Wülker and his long-time re- America, in collaboration with many col- search assistant Fr. Renate Rössler seek larvae laborators and led Wolfgang to postulate of the phylogenetically basal species Chirono- ‘basic’ banding patterns, which can be mus holomelas in a raised bog (Hochmoor)in Jura, Switzerland, May 1981. found in many continents, and from which Photo courtesy Malcolm G. Butler. the other patterns can be derived.

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Wolfgang was involved in collabora- tinguish species and then describe the tions with colleagues in many countries morphology, ecology and distribution of during his long career, some of which these species, from other genera, such lasted for many years and produced as Sergentia and Diamesa. many publications. His collaboration with Wolfgang was highly respected in the Jim and Mary Sublette, Jon Martin and la- chironomidologist community and was ter Mac Butler, produced 16 papers from chosen to host the successful 13th Inter- 1967 to 2009, with Wolfgang and Jon re- national Chironomid Symposium at Frei- sponsible for cytology and Jim and Mary burg in 1997, where he was pleased to for the larva, pupa and adults. Collabora- show the participants his favourite lakes tion with the Russian workers, notably Iya in the Schwarzwald area. In 2003 he was Kiknadze and her group, resulted in16 invited to present the honorary Thiene- publications from about 1993; that with mann lecture at the 15th Symposium in the Swiss group of Adolf Scholl produced Minnesota, but was unable to attend, due seven; four with György Dévai and collea- to ill health. However, his lecture on the gues from Hungary; and numerous others role of chromosomes in chironomid syste- with students or colleagues from Germa- matics, ecology and phylogeny, was still ny. However, he did not restrict his inter- able to be presented by video, and pro- ests only to the genus Chironomus, but voked considerable discussion. extended the analysis to the banding pat- His health continued to deteriorate to terns of the polytene chromosomes to dis- the extent that he was forced to give up

Wolfgang Wülker with some of the participants at the 13th International Symposium on Chirono- midae, which he hosted at Freiburg in September 1997. Those included are (from the left) Iya Ki- knadze (Novosibirsk), Ninel Petrova (St. Petersburg), Wolfgang Wülker, Renate Rössler (Freiburg) and Jon Martin (Melbourne). Photo courtesy MalcolmG. Butler.

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further research from about 2010, and li- ved out the remainder of his life quietly in Merzhausen, where he died.

Dr. Jon Martin University of Melbourne [email protected]

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Nachruf auf Wolfgang Wieser 5. Juli 1924 – 3. März 2017

Friedrich Schiemer

Am 3. März 2017 ist Professor Wolfgang Wieser nach einem langen, erfüllten Le- ben in seiner Heimatstadt Wien verstor- ben. Mit ihm verliert die Wissenschaft ei- nen großen Biologen und großartigen Menschen, der die Biologie in Österreich in verschiedenen Funktionen entschei- dend geprägt hat. Die Faszinationen und die Strahlkraft, die von Wolfgang ausging, waren neben seiner eindrucksvollen Per- sönlichkeit, die Aura der Liberalität und Internationalität, die ihn umgab. Wolfgang Wieser gehört zu jenen, die erst nach langjährigem Kriegsdienst im 2. Weltkrieg mit dem Studium beginnen konnten. Er immatrikulierte im Sommer- semester 1946 an der Universität Wien mit dem Hauptfach Zoologie und dem Schwerpunktinteresse Meeresbiologie. Foto: Privatarchiv Bereits im Herbst 1948 startete er, ge- meinsam mit Rupert Riedl, eine einjährige wissenschaftliche Expedition in das an der meeresbiologischen Station in Ply- Mittelmeergebiet. Diese Exkursion hatte mouth. zum Ziel ökologische Meeresforschung zu Nach dem Abschluss seines Doktora- betreiben und neue Freilandmethoden in tes in Wien folgte eine lange Phase der der Meeresökologie zu entwickeln. Sie internationalen Wanderschaft, zunächst stellt die legendäre Pionierphase der ein 3-jähriger Studienaufenthalt in Lund Wiener Meeresbiologie dar, die auch als im Institut von Erik Dahl, wo er sich Aufbruchszeit einer ökologischen For- weiterhin mit Meeresbiologie und der Ta- schung in Wien gelten kann. Seine Dok- xonomie und Systematik mariner Nema- torarbeit über die „Ökologie der algen- toden befasste. Seine umfassenden Ar- bewohnenden Mikrofauna felsiger beiten zu diesem Thema, die in dieser Meeresküsten“ basiert auf den Untersu- Zeit entstanden sind, gelten noch heute chungen während dieser Expedition und als Standardwerke der Nematoden-Taxo- einem nachfolgenden Studienaufenthalt nomie.

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In Schweden lernte er seine Frau, Joy, mit Forschungs- und Buchprojekten sowie kennen, eine aufstrebende junge Physio- Radiosendungen über allgemeine biolo- login, die ihm zuliebe ihre Karriere opfer- gische Themen finanzieren. te und ihm lebenslang nicht nur Lebens- Ich habe Wolfgang Wieser als junger partnerin, sondern auch eine wichtige Student 1960 im Labor des II. Zoologi- fachliche Gesprächspartnerin geblieben schen Institutes der Universität Wien ken- ist. nengelernt, wo er eine Lichtgestalt in den Nach Schweden folgte ein langjähriger eher düsteren Räumen war. Er verkörper- Aufenthalt in den USA, wo er seine mee- te Internationalität, Offenheit und eine mo- resbiologischen Forschungen an einigen derne Wissenschaftsatmosphäre, die er Zentren ökologischer Forschung, vor al- an den nordamerikanischen Universitäten lem an der Universität Washington in Se- kennengelernt hatte. attle und an der Ostküste, in Woods Hole, Seine eigene Forschung in Wien orien- fortsetzte. tierte sich an der terrestrisch-ökologi- Hier arbeitete er mit Howard Sanders schen Schwerpunktsetzung des Institutes und John Kanwisher zusammen. Stimuliert von Wilhelm Kühnelt. Es sind erfolgreiche durch die mit Kanwisher durchgeführten ökophysiologische Themen in Verbin- Versuche über die Atmungsaktivität und dung mit einer ökosystem-orientierten Anaerobiose von benthischen Organis- Betrachtungsweise gewesen, die ihn über men, wandte er sich zunehmend den mehrere Jahrzehnte beschäftigen sollten. physiologischen und biochemischen Besonders erfolgreich waren seine For- Aspekten der Anpassung von Tieren an schungsarbeiten an Porcellio scaber, ei- die jeweils herrschenden Lebensbedin- ner Bodenassel, die an der Falllaub-Zer- gungen zu. Es entstanden sehr innovative setzung und dem Detritus-Zyklus von und richtungsweisende Arbeiten zur öko- Böden einen bedeutenden Anteil hat. Eine logischen Einnischung einer marinen interessante Fragestellung ergab sich Fauna unter Berücksichtigung ihrer stoff- durch den hohen Kupferbedarf der As- wechselphysiologischen Leistungen (z.B. seln. Seine Untersuchungen der physiolo- Wieser & Kanwisher: Ecological and gischen Basis und der ökologischen Im- physiological studies on marine nemato- plikationen dieses Phänomens lieferten des from a small salt marsh near Woods richtungsweisende Befunde (z.B. “ Cop- Hole, Massachusetts. Limnology and Oce- per and the role of isopods in degrada- anography 6, 1961:262-270). tion of organic matter“ Science, 153: 67- Nach langjährigen Auslandsaufenthal- 69, 1966; „ Consumer strategies of ten, als bereits international angesehener terrestrial gastropods and isopods“ Oe- Wissenschaftler nach Wien zurückge- cologia 36: 191-201; 1978) (Abb.2). kehrt, fand er zunächst eher bescheidene 1965 übersiedelte er für einige Jahre Arbeitsmöglichkeiten an der Universität. an das österreichische Krebsforschungs- Er musste sich, seine Familie – sie war mit institut in Wien, wo er sich mit biochemi- den Kindern Tommy, Jane und Kathie auf 5 schen Aspekten der Melanin-Synthese Personen angewachsen – über viele Jahre bei Molchen im Zusammenhang mit der

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charmante Gastgeber, bei denen man sich immer zu Hause fühlte. Die Faszina- tion und Strahlkraft, die von Wolfgang Wieser ausging und die offene, freund- schaftliche Arbeitsatmosphäre seines In- stitutes, hatte einen sehr belebenden Ef- fekt auf die akademische Landschaft in Innsbruck. Seine erfolgreichen Bemühun- gen Reinhard Rieger und später Roland Psenner als Professoren nach Innsbruck zu bringen, haben die Biologie hier enorm aufgewertet und die Weichen für eine positive Entwicklung der Universität gestellt, die bis heute anhält. Die wesentlichen Forschungsthemen in Innsbruck waren zunächst die Weiter- führung der bioenergetischen Untersu- chungen an terrestrischen Invertebraten Untersuchungen über Falllaub-Zersetzung mit einem ökotoxikologischen Schwer- durch Asseln im 2. Zool. Institut der Universität punkt zur Schwermetallbelastung von Bo- Wien, etwa 1961. Foto: Privatarchiv dentieren. Ein weiteres Generalthema war die Energetik biologischer Systeme – von Entstehung eines Melanom-ähnlichen der zellulären bis zur öko-systemischen Hautkarzinoms beschäftigte. Diese Arbei- Ebene. Fokus waren vergleichende Ge- ten bestärkten sein Interesse an den mo- sichtspunkte der Stoffwechsel-Regulation lekularen Mechanismen der Anpassung und des Sauerstoff-Verbrauches hetero- an Umweltbedingungen, am Schnittpunkt tropher Organismen, der bioenergeti- von Ökologie, Physiologie und Bioche- schen Kosten des Wachstums und der mie. Möglichkeiten und Grenzen der Energie- 1967 erfolgte die Berufung als Ordina- Aufteilung im Verlauf der ontogenetischen rius für Zoophysiologie an die Universität Differenzierung von Organismen (siehe Innsbruck, wo er innerhalb weniger Jahre die Bücher : "Bioenergetik", Thieme Ver- eine sehr erfolgreiche Schule der Öko- lag, 1986 und „Energy Transformation in physiologie aufbaute, die weit über die Cells and Organisms", Thieme Verlag, Grenzen Österreichs hinaus ausstrahlte. 1989). Das Haus der Familie Wieser in Rum bei Ausgehend von einer Studentenexkur- Innsbruck war auch privates Zentrum der sion an die Biologische Station in Bermu- Begegnung für die vielen Biologen, die es da, an der ich als Gast teilnehmen konnte, nach Innsbruck zog. Es verband den Flair entwickelte sich ein marin orientiertes von Wissenschaft, Kultur und Kunst. Joy Forschungsprogramm, das über mehrere und Wolfgang waren großzügige und Jahre gelaufen ist und die Möglichkeit bot

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in dem exotischen Ambiente von Bermuda Forschung zu betreiben. Wolfgang Wieser kehrte sozusagen zu seinen Wurzeln zurück. Im Mittel- punkt stand die Frage von öko-physiologischen Anpas- sungen an ein Leben in der Sauerstoff-Sulfid Grenzschicht von Sedimenten. Neben einer Reihe vielzitierter Publikatio- nen entstand aus diesem Pro- gramm ein vertieftes Interesse an der Bioenergetik anaerober Prozesse (z.B. Wieser, W., Ott, Bei Messungen des Redox-Potentiales in Bermuda, 1976. Foto: Privatarchiv J.A., Schiemer, F. & Gnaiger, E., 1974: An ecophysiological stu- dy of some meiofauna species mental Biology of European Cyprinids", inhabiting a sandy beach at Bermuda. Kluwer Academic Publishers, 1992). Mar. Biol. 26: 235-248). Das ist eine sehr verkürzte Darstellung Eine Initiative zu einem langjährigen von wichtigen Forschungsthemen von Schwerpunktprogramm des österreichi- Wolfgang Wieser und seiner enormen schen Forschungsfonds "Ökophysiologie Produktivität an wissenschaftlichen Arbei- heimischer Cypriniden", das von 1985 bis ten von über 300 Einzelarbeiten, die er 1990 gelaufen ist, ergab eine österreich- publiziert hat. weite Zusammenarbeit zwischen Arbeits- Was aber Wolfgang Wieser neben der gruppen der Universität Innsbruck, Salz- Vielfalt und Innovation seiner eigenen burg und Wien, sowie dem Institut für Forschung besonders auszeichnete, war Limnologie der Österr. Akademie der der Blick aufs große Ganze, sein stetes Wissenschaften in Mondsee. Unter der Bemühen in Artikeln und Büchern die Koordination von Wieser erbrachte das Grundfragen der Evolutionsbiologie und Projekt eine enorme Wissenserweiterung der Anpassung von Organismen anzu- über die Phänomene und Mechanismen sprechen. Dies setzte eine umfassende der ökologischen Einnischung dieser Kenntnis der verschiedenen Teilbereiche wichtigen Tiergruppe und ermöglichte voraus und eine ständige Auseinanderset- wichtige Gesetzmäßigkeiten der bio- zung mit der modernen Literatur. Er hat energetischen Regulation im Verlauf der im Verlauf seiner Karriere auch stets ver- ontogenetischen Frühentwicklung zu er- sucht besondere und allgemeine biologi- forschen. Neben zahlreichen wissen- sche Probleme in Essays und Büchern ei- schaftlichen Arbeiten hat das Großprojekt nem breiteren Publikum näher zu brin- auch zu einem Buch geführt ("Environ- gen. Dies gilt vor allem für Fragestellun-

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gen der Evolutionstheorie und ihrer zen- der Evolution sind einerseits der Genoty- tralen Auswirkungen für andere Wissen- pus andererseits die individuelle phäno- schaftsdisziplinen. 1959 verfasste er seine typische Ausprägung, die Individualität. In ersten Bücher "Organismen, Strukturen, diesem Buch definiert Wieser die Rah- Maschinen" (Fischer Verlag, 1959), und menbedingungen, in denen eine weitere "Gewebe des Lebens (Carl Schünemann Diskussion erfolgen sollte. Diese Diskus- Verlag, Frankfurt 1959). Es folgten „Ge- sion hat er in seinem letzten Werk "Ge- nom und Gehirn“ (Hanser Verlag und hirn und Genom. Ein neues Drehbuch für Nachdruck bei DTV, München 1970 bzw. die Evolution" (Christian Beck, Berlin 1972), "Konrad Lorenz und seine Kritiker" 2007) weitergeführt, in dem die kulturelle (Piper, München 1976), "Vom Werden Evolution als eine weitere Ebene inte- zum Sein" (Parey, Berlin-Hamburg 1989) griert wird. Es zeigt auf, wie sich die kul- und "Die Evolution der Evolutionstheorie. turelle Weitergabe von Wissen und Fähig- Von Darwin zur DNA" (Spektrum Verlag, keiten in den Evolutionsprozess einfügt Heidelberg 1994). und den Regeln der natürlichen Selektion Nach seiner Emeritierung blieben die und Drift unterworfen ist. Im Unterschied Wiesers noch einige Jahre in ihrem schö- zu biologischen Strukturen und Funktio- nen Haus in Rum, von wo sich für Wolf- nen benötigen kulturelle Errungenschaf- gang die Möglichkeit bot, täglich am In- ten allerdings nicht den langwierigen bio- stitut zu arbeiten, aber auch seine logischen Weg der genetischen Fixier- geliebten Berg-Wanderungen durchzu- ung, sondern sie können direkt an die führen. Die Nähe zur Familie und den En- Nachkommenschaft durch ein entspre- kelkindern, zu alten Freunden, und die chendes Bildungssystem tradiert werden. kulturellen Verlockungen ließen die Wie- Die kulturelle Entwicklung geschieht in sers nach Wien zurückkehren. Neben sei- enger Verwobenheit mit der biologischen ner Tätigkeit in der österreichischen Aka- Evolution und ergibt eine enorme Be- demie der Wissenschaften widmete er schleunigung des Evolutionsprozesses sich vor allem jenen Themen, die ihn zeit- menschlicher Gesellschaften. lebens beschäftigten: die Fragen der Wolfgang Wieser war in den letzten 60 Evolution, die Rolle phänotypischer Viel- Jahren eine wesentliche Instanz der öster- falt und epigenetischer Vererbung und reichischen Biologie. Er spielte eine wich- insbesondere die Interaktion von Genom tige Rolle in dem so dringend erforder- und Gehirn für die kulturelle Entwicklung lichen Brückenschlag zwischen einer des Menschen. organismisch-ökologischen und einer Als Emeritus verfasste er zu diesen öko-physiologisch und molekularbiologi- Themen zwei großartige Bücher die man schen Betrachtungsweise. Er hat im Ver- als „fulminanten Schlusspunkt“ seiner lauf seiner wissenschaftlichen Karriere Laufbahn bezeichnen kann: "Die Erfin- viele Ehrungen erfahren, unter anderem dung der Individualität oder Die zwei Ge- erhielt er 2001 die Ehrenmitgliedschaft sichter der Evolution" (Spektrum Akade- der DZG. mischer Verlag, 1998). Die 2 Gesichter

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Wolfgang hat uns ein aufgeklärtes, kre- unermüdlichen Neugier an biologischen atives und bewusstes Leben vorgelebt. Er Fragen und als Mensch mit seiner Empa- war ein Vorbild als Forscher mit seiner thie, Offenheit und Liberalität.

Professor Dr. Friedrich Schiemer Department für Limnologie und Bio-Oceanographie Universität Wien Althanstrasse 14 1090 Wien [email protected]

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Nachruf auf Klaus Wächtler 11. Juli 1938 – 4. März 2017

Martin Meier

Schreibt man etwas über einen verdien- ten Wissenschaftler, so stehen zumeist seine wissenschaftlichen Arbeiten im Mittelpunkt; lange Publikationslisten, be- sondere Beiträge, die zu einem bedeuten- den Fortschritt im entsprechenden Wis- sensgebiet geführt haben. Und dennoch greift man zu kurz, Klaus Wächtler auf sei- ne nachweislichen wissenschaftlichen Ver- dienste zu beschränken. Ich hatte die Freude, ihn als Dozenten, geschätzten Kol- legen in der Zoologie, Diskussionspartner im Verband (vdbiol, VBIO) Biologie, Bio- medizin und Biowissenschaften und spä- ter als meinen Vorgänger und Mentor im Landesverband Niedersachsen zu erle- ben. Zu tiefst berührt haben mich seine klaren und einfühlsamen Worte bei der Trauerfeier für ein langjähriges Mitglied Foto privates Bildarchiv unseres Verbandes, umso schwerer fällt es mir nun in geeignete Worte zu fassen, was wir an ihm hatten und nun vermissen Humor und Gelassenheit, ein unabhängi- werden. ger Blick, gepaart mit Kompetenz und Klaus Wächtler wurde am 11.7.1938 in Verständnis. Kiel geboren. Seit seiner Kindheit und Ju- Sein Verständnis von Naturforschung, gend an der Ostsee blieb er dieser Land- seine Biologie waren immer ganzheitlich schaft eng verbunden. Anfang der 80iger und Wissenschaft und Familie dienten als Jahre verlegte er seinen Wohnsitz daher Brücke, ergänzten sich während seiner auch konsequent wieder nach Eutin. Da- ganzen Karriere. Den Verband Deutscher für nahm er die Trennung von der Familie Biologen vdbiol und den Verband Biologie während der Woche und die Mühen des Biowissenschaften und Biomedizin VBIO Wochenendpendlers in Kauf. Viele der prägte er mit hellwachen Fragen und sei- Qualitäten, die Klaus Wächtler im Leben ner menschlichen Betrachtung aller Pro- definierten, haben womöglich ihren Ur- bleme. In allen Diskussionen und Projek- sprung in seiner Kindheit an der Ostsee. ten haben wir ihn für sein kluges Mit-

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denken sehr geschätzt. Er besaß die Ga- ser enzymhistochemischen Arbeit mit be, das Interesse für ökologische Zusam- Amphibienneuronen und Hypophysenzel- menhänge schon bei einem einfachen len. Bereits kurz nach seiner Promotion Spaziergang in der Natur zu wecken und bei Prof. Dr. Wolf Herre in Kiel begann er er konnte im Hörsaal über Besonderhei- im April 1966 seine Laufbahn an der Tier- ten von Walgehirnen genauso spannend ärztlichen Hochschule Hannover als wis- referieren wie Exkursionen und ökologi- senschaftlicher Assistent im Institut für sche Freilandkurse im Binnenland und an Zoologie. Eine Reihe von Forschungs- und die Küsten von Atlantik, Nord- und Ostsee Studienaufenthalten absolvierte er an den leiten. Meeresstationen Arcachon, Droebak und Die Faszination an der Natur lehrte Helgoland. Klaus Wächtler auch die Ehrfurcht vor Seine Assistentenzeit in Hannover fiel dem, was als Schöpfer bezeichnet wird; in die Phase der Institutsgründung durch nicht als Ersatz für Evolution, sondern als Prof. Dr. Manfred Röhrs. Somit gehörten gesellschaftlich und persönlich relevante jahrelang so gut wie alle Teilgebiete der Klammer hatte dies für ihn Bedeutung. Zoologie von der Neurobiologie bis zur Gesellschaftliches und kirchliches Enga- Ökologie zum Repertoire in Forschung gement waren ihm wichtig. Er gehörte und Lehre. Es lässt sich leicht vorstellen, dem Kirchenvorstand der Evangelisch-Lu- dass ein damals neu gegründetes Zoolo- therischen Kirche in Eutin und der Kir- gisches Institut, in dem Biologen, Human- chensynode Ostholstein an. Darüber hin- und Tiermediziner unterrichtet wurden, aus engagierte sich der Wissenschaftler besondere Herausforderungen an den in der Vogelschutzgruppe Eutin-Malente, akademischen Unterricht mit sich brach- im Friedenskreis Eutin und im Arbeits- te. Auch bei der Durchführung von Kur- kreis 27. Januar, für den er seit 1996 den sen und Exkursionen bekam er nicht nur Tag des Gedenkens der Opfer des Natio- viel Übung, sondern sein besonderes Ta- nalsozialismus organisierte. Sich einzu- lent auf die Teilnehmer einzugehen wur- bringen im Großen und im Kleinen, Din- de rasch sichtbar. Die Habilitationsarbeit, ge zu bewegen, das war ihm wichtig. die an der Tierärztlichen Hochschule Prof. Dr. Klaus Wächtler war bis 31. Hannover vorgelegt wurde, war der Evo- März 2002 Professor für Vergleichende lution des Acetylcholinsystems im Gehirn Neurobiologie an der Stiftung Tierärztli- der Wirbeltiere gewidmet: „Verglei- che Hochschule Hannover. Nach dem Ab- chend-histochemische Untersuchungen itur in Eutin studierte er von 1958 bis zur Acetylcholinesteraseverteilung im Tel- 1964 Biologie und Germanistik in Mün- encephalon von Wirbeltieren“ Die Habili- chen, Genf, London und Kiel. Das Thema tation erfolgte 1973, sein Mentor hier war seiner Dissertation war: „Die Verbreitung auch der Direktor des Zoologischen Insti- von lysosomalen Enzymen im Urodelen- tuts, Manfred Röhrs. Schwerpunkte seiner gehirn: Ein Beitrag zur Chemoarchitekto- Arbeit waren anfangs vergleichende Neu- nik des Zentralnervensystems niederer roanatomie der Wirbeltiere, Histochemie Wirbeltiere“. Er beschäftigte sich in die- des Zentralnervensystems von Wirbeltie-

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ren, Evolutionsbiologie sowie Entwick- stellungen, Techniken, Ergebnisse und lungsbiologie. Seine wissenschaftlichen Schlussfolgerungen zu vermitteln und sie Interessensgebiete lassen sich mit den mit Humor und Klugheit mitzunehmen zu Stichworten Evolution, Struktur und Funk- den Geheimnissen des Lebens, den in- tion umreißen. Später erst kamen die spirierenden und den verstörenden. Dazu Ökologie und Fragen des Naturschutzes hat er anekdotisch den herausragenden hinzu, die unter anderem zur Beschäfti- Biologen der 60er und 70er Jahre, Prof. gung mit der Biologie der Flussperlmu- Dr. Hansjochen Autrum aus München zi- schel führten (Monographie: "Ecology tiert: „Die Biologie ist für die Biologen zu and Evolution of the Freshwater Mussels schwer geworden. Das ist aber die Physik Unionoida"). Mit dem Arbeitsgebiet der für die Physiker schon lange“. Klaus vergleichenden Anatomie hat sich Klaus Wächtler hat es auch gewagt das Pro- Wächtler 1973 habilitiert und wurde 1978 blem zu benennen, dass oftmals in der zum Professor für das Fach „Vergleichen- Wissenschaft und der Ausbildung des de Neurobiologie“ an der Tierärztlichen Nachwuchses das Kompetitive das Kon- Hochschule Hannover ernannt. Er war templative verdrängt. Umso wichtiger war aber immer ein Generalist mit einem es ihm daher, nach eigenen Worten, „...in sehr breiten Interesse an der Biologie. So der angewachsenen Datenfülle die Prinzi- war er einer der Wenigen, die sich noch pien, die für Lebensvorgänge auf ver- genauso gut in Zoologie und Botanik aus- schiedenen Betrachtungsebenen und in kennen und in der Lage sind, nicht nur den verschiedenen Erscheinungsformen fundiertes Wissen zur Biologie der heimi- gelten, zu verdeutlichen, in der Einzel- schen Tiere, sondern auch Charakteristi- frage das Allgemeine kenntlich zu ma- ka und Besonderheiten von Pflanzen am chen .“ Wegesrand zu vermitteln. Dabei gelang Das allgemeine Wissen über Vorkom- ihm das nicht nur auf wissenschaftlich men, Verwandtschaft, Lebenszyklen und exakte Weise bei Studierenden auf Exkur- Evolution von Tieren, Pflanzen und Mikro- sionen, sondern auch auf spannende und organismen muss besonders gepflegt unterhaltsame Weise für Laien auf man- werden, gerade in einer Zeit, in der es cher Wanderung oder einem Spazier- technisch möglich geworden ist, die Lei- gang. Seine Aufmerksamkeit galt den stungen von Zellen, Organen und Orga- vielfältigen Beziehungen zwischen Tieren nismen und die ihnen zugrunde liegen- und Pflanzen und daraus resultierte den genetischen Programme gründlicher zwanglos sein Interesse an Ökologie. zu analysieren, um dieses Wissen über- In der Lehre hat er es verstanden mit haupt in einen sinnvollen Zusammenhang der Balance zwischen dem biologischem bringen zu können. Wir erleben diese Wissen von früher, das Bestand hat, und Problematik aktuell in der Diskussion um dem rapiden, aber unbeständigem Wis- Sammlungen und Taxonomie. Auch über senszuwachs in manchen Teilbereichen Fragen einer zeitgemäßen Ausbildung der Biologie, den Studierenden immer ei- und Nachwuchsförderung für Biologen in nen Überblick über die aktuellen Frage- geeigneten Berufsfeldern hat Klaus

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Wächtler viel nachgedacht. Ein besonde- res Anliegen war ihm immer die Lehrer- ausbildung. So hat er den Arbeitskreis Lehrerausbildung/Lehrerfortbildung ge- gründet, in dem er nicht nur hannover- sche Hochschullehrer, sondern auch Praktiker aus allen Schultypen und die Studierenden an einem Tisch zusammen- gebracht hat. Das persönliche Gespräch mit den Studierenden war ihm immer be- sonders wichtig und er hat es deshalb immer wieder aktiv gesucht. Dafür hat er sich viel Zeit genommen und die Studie- renden haben dies dankbar angenom- men. Bei all seinem Erfolg war Klaus Wächt- ler demütig. Er war immer mehr daran interessiert, den Erfolg derer um ihn he- rum zu fördern als seine eigenen Errun- genschaften. An dieser Stelle können die zahlrei- chen Gremien und Ämter, in denen Klaus Prof. Dr. Klaus Wächtler auf einem Exkursions- Wächtler in den 36 Jahren an der Tier- foto (undatiert). Zur Verfügung gestellt von Dr. ärztlichen Hochschule Hannover und dar- Hannelore Wächtler. über hinaus tätig war, nicht aufgezählt werden. Erwähnt werden muss aber stell- beigetragen in Diskussionsprozessen die vertretend sein Engagement für das stu- Wogen zu glätten und zu einem inhalt- dium generale. Hier trat auch sein gesell- lichen Diskurs zurück zu finden. Nach sei- schaftliches Engagement und der nem offiziellen Ausscheiden aus dem Generalist zum Vorschein, der es verstand Hochschuldienst hat Klaus Wächtler auch aus einem sehr weiten Themenspektrum weiterhin nicht nur hannoversche Biolo- interessante Referenten unter dem Motto gen im Rahmen von Exkursionen an die „Mensch und Tier“ nach Hannover zu ho- Nord- und Ostseeküste ge(ver)führt, ih- len. Ein ambivalenter Moment war die nen die Bedeutung des Nationalparks na- Präsentation des Buches „Tiere in Dich- he gebracht und seine Heimat gezeigt. tung und bildender Kunst“, nachdem er Die Neue Brehm-Bücherei war da eine sich zehn Jahre mit großem Engagement gute Gelegenheit sein Wissen und seine für das studium generale eingesetzt hatte. Einstellung der Nachwelt zu erhalten. Das Mit seinem ruhigen, sachlichen und aus- Konzept baut auf anschauliche Texte und gleichenden Wesen und seinem tiefgrün- Bilder, mit dem Auftrag der breiten natur- digen Humor hat Klaus Wächtler oft dazu kundlichen Bildung, ganz in der Tradition

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Alfred Brehms und auch in der Tradition Verband, wie er es formulierte, „an einer Klaus Wächtlers. Intensivierung der Umwelterziehung… Wetter- und wasserfest eingepackt in mitzuwirken“, damit wir nicht nur Wissen Ölzeug und Gummistiefel zeigen ihn vie- vermitteln, sondern auch emotionale Bin- le Fotos. Forschen in der Natur war ein dungen an Landschaften und Lebewesen wichtiger Teil des Lebens von Prof. Dr. schaffen können, deren Schönheit vor Au- Klaus Wächtler. Dank seiner sachkundi- gen führen und notwendige Ehrfurcht er- gen Führungen lernten interessierte Be- fahrbar machen; nur so kann Nachhaltig- gleiter nicht nur etwas über gefiederte keit gelingen. Ich zitiere ihn gerne mit Sänger wie Heckenbraunelle, Gartenrot- dem Gedanken: „Künftige Generationen schwanz und Sumpfgrasmücke, sondern sollten sich nicht nur auf unsere Fehler, auch gleich über die Pflanzen am Weges- sondern auch auf unsere Einsichten beru- rand. Klaus Wächtler konnte auch von fen können.“ Mit Professor Klaus Wächtler kleinen Erscheinungen schwärmen, von geht ein Generalist, der über den Teller- der Faszination der Blüte der alten Quitte rand der Fachgebiete hinaus blicken beispielsweise, die für ihn der „Inbegriff konnte und sein Wissen auf einzigartige des Frühlings“ war. Wenn er uns in die Weise zu vermitteln wusste. Mit ihm ver- besonders warmen Ecken eines Garten liert die Biologie einen engagierten Men- führte, wo es summt und brummt, galt schen, Wissenschaftler, Mentor und sein besonderes Augenmerk dem Zu- Freund. Es werden Bilder vorüber ziehen sammenspiel von Insekten und Blüten von nasskalten Exkursionen aber mit und er konnte die ökologischen Zu- herzerwärmendem Humor und guten sammenhänge spannend erläutern. Gesprächen. In Erinnerung bleiben der Sein wissenschaftliches Erbe ist vielfäl- Humanist, der wissenschaftlich Beharrli- tig und bedeutsam. Wir werden sein An- che und der Begeisterer – eben der Bio- denken in Ehren halten und hoffen als loge Prof. Dr. Klaus Wächtler.

Dr. Martin Meier VBio Landesverband Niedersachsen c/o Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 30625 Hannover

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Nachruf auf Franz Huber 20. November 1925 – 27. April 2017

Rüdiger Wehner

„What is utterly baffling to me is why one cannot be a reductionist and a holist at the same time.“ Diesem Bekenntnis des Ent- wicklungsphysiologen und Evolutionsbio- logen John Tyler Bonner von der Prince- ton University hat sich Franz Huber stets mit vollem Herzen angeschlossen. Fühlte er sich doch zeit seines Forscherlebens als Neuroethologe einer umfassenden or- ganismischen Betrachtungsweise ver- pflichtet und damit als Zoologe im wahr- sten und weitesten Sinne des Wortes. Der Wissenschaftspreis – verbunden mit der Karl-Ritter-von-Frisch-Medaille – und spä- ter die Ehrenmitgliedschaft, die ihm beide von der Deutschen Zoologischen Gesell- schaft verliehen wurden, galten ihm daher auch als die höchsten Auszeichnungen seines an Ehrungen reichen Lebens. Foto: Prof. Adolf Clemens, Münster Am 20. November 1925 in Nussdorf bei Traunstein (Chiemgau) geboren, ver- brachte Franz Huber die ersten zwölf Jah- im tiefreligiösen Familienumfeld seiner re seines Lebens in der ländlichen Umge- Mutter und Grossmutter aufwuchs, schien bung seines elterlichen Bauernhofs, wo er dem begabten Schüler die Priesterlauf- sich früh mit der Natur verbunden fühlte. bahn vorgezeichnet. Auf Rat von Pater Jo- Oft erzählte er, wie es ihn schon als Junge hann Wimmer, des ältesten Bruders der immer wieder faszinierte, wenn es einem Mutter, trat er denn auch 1937 ins Pallotti- zirpenden Grillenmännchen gelang, mit ner-Seminar in Freising ein, das allerdings seinem Gesang ein paarungswilliges schon zwei Jahre später von den National- Weibchen anzulocken. Doch bis zur Er- sozialisten geschlossen wurde. Man kann forschung dieses akustischen Kommuni- es als glückliche Fügung bezeichnen, kationsverhaltens – Franz Hubers späterer dass Franz während der folgenden Jahre wissenschaftlicher Lebensaufgabe – sollte seiner Schulzeit am Freisinger Domgym- es noch ein weiter Weg sein. Denn da er nasium im Haus des Regierungsrats Hugo kaum dreijährig seinen Vater verlor und Hampp leben durfte, eines Agrarwissen-

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schaftlers, der das Interesse des Gymna- gie (1955) werden die Effekte seiner siasten für die Naturwissenschaften ver- Hirnläsionsexperimente auf das Lokomo- stärkt haben dürfte. tions- und Singverhalten der Grillen aus- Doch nach Ende des sechsten Gym- führlich im Rahmen der gesamten damals nasialjahres wurde Franz Huber 1943 zum bekannten neuroanatomischen und neu- Arbeits- und später Wehrdienst eingezo- rophysiologischen Befunde bei Insekten gen, wo er an der Ostfront zunächst in diskutiert – so ausführlich, dass sich Otto der Slowakei und dann in Oberschlesien Köhler als Herausgeber der Zeitschrift kämpfte und beim Rückzug in Augsburg genötigt sah, die Arbeit zu kürzen und in amerikanische Kriegsgefangenschaft leicht umzuschreiben. Schmunzelnd be- geriet. Zurück in seinem Heimatdorf, ge- merkte Franz Huber später einmal, teil- stand er seiner Mutter, dass während des weise habe er seinen eigenen Text nicht Fronteinsatzes sein Entschluss gereift sei, mehr wiedererkannt. Auf internationalem nicht Priester zu werden, sondern Natur- Parkett bewegte sich der junge Dokto- wissenschaften studieren zu wollen. So rand bereits im März 1952, als er die Er- kam es dann auch. Nachdem er in Traun- gebnisse seiner Arbeit an der 2. Interna- stein 1946 die Kriegsteilnehmer-Reifeprü- tionalen Ethologenkonferenz in Buldern fung abgelegt hatte, begann er sein Stu- (Westfalen) vorstellte und dabei die Auf- dium der Biologie, Chemie, Physik und merksamkeit Nikolaas Tinbergens und Geographie an der Ludwig-Maximilians- Robert Hindes, aber auch Erich von Universität im damals fast völlig kriegs- Holsts erregte. Wie später noch zu zeigen zerstörten München. sein wird, sollten internationale Kontakte Schon für seine Dissertation wählte er für seine spätere akademische Laufbahn das Thema, das ihn zeitlebens begleiten prägend werden. sollte: die neuronalen Grundlagen der Doch zunächst ging Franz Huber im akustischen Kommunikation bei Grillen. Anschluss an seine 1953 erfolgte Promo- Werner Jacobs hatte es zwar in allgemei- tion nach Tübingen, um am neu gegrün- ner Form vorgeschlagen, doch dem Dok- deten Zoophysiologischen Institut der toranden bei der konzeptionellen und Eberhard-Karls-Universität eine Assisten- methodischen Ausgestaltung vollkommen tenstelle bei Franz Peter Möhres anzutre- freie Hand gelassen. Bereits hier zeigten ten und sich 1960 mit der Arbeit „Experi- sich Franz Hubers Bedürfnis und Gabe, mentelle Analyse einiger Leistungen des einzelne Experimentalbefunde umge- Gehirnes der Orthopteren (Saltatoria: hend in grössere Zusammenhänge einzu- Gryllidae): Ein Beitrag zur Physiologie ordnen. In seiner ersten Publikation, die des Insektengehirnes“ zu habilitieren. einem Kurzvortrag an der Jahresver- Zwei Leistungen stechen in dieser fast sammlung der Deutschen Zoologischen zehnjährigen Tübinger Zeit besonders Gesellschaft im Juni 1952 in Freiburg i. Br. hervor: zum einen der Aufbau eines zoo- entsprang, dann aber vor allem in der physiologischen Praktikums, aus dem ei- ausführlichen Publikation seiner Doktor- ne grosse Zahl später bedeutender Neu- arbeit in der Zeitschrift für Tierpsycholo- robiologen wie Jürgen Boeckh (Regens-

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burg), Christoph von Campenhausen University begann, diese (Mainz), Norbert Elsner (Göttingen), Kuno Meeresschnecke zum neurobiologische Kirschfeld (Tübingen), Randolf Menzel Modellorganismus zu erheben), nutzte (Berlin) und Gerhard Neuweiler (Mün- die Zeit jedoch vor allem, um einige füh- chen) hervorging; zum anderen der enge rende Neurobiologen der Vereinigten Kontakt zu internationalen Kollegen und Staaten aufzusuchen, wie Stephen Kuffler Institutionen, den Franz Huber schon in (Harvard), Jerry Lettwin (MIT), Harry diesen Jahren knüpfte. Als besonders prä- Grundfest (New York), Don Wilson (Ber- gend hat er dabei immer wieder den keley) und Mark Konishi (Caltech). Aufenthalt am Physiologischen Institut der Fast nahtlos folgten der USA-Reise die Universität Zürich (1956) und seine erste zwei grossen Epochen in Franz Hubers USA-Reise (1961/1962) erwähnt. In Zürich akademischer Laufbahn: zehn Jahre als konnte er nicht nur die lokalisierte elek- Ordinarius und Direktor des Zoologi- trische Hirnreizung erlernen, sondern schen Instituts der Universität Köln (1963- auch regelmässig mit dem gerade emeri- 1973) und anschliessend zwanzig Jahre tierten Walter Rudolf Hess konferieren. als Direktor der Abteilung Neuroetholo- Hess, der sieben Jahre zuvor für die Auf- gie am Max-Planck-Institut für Verhaltens- klärung der funktionellen Organisation physiologie in Seewiesen (1973-1993). des Zwischenhirns der Säugetiere an- In diese Zeit fallen die entscheidenden hand von Hirnläsions- und -stimulations- Beiträge, die Franz Huber mit seinen je- experimenten bei Katzen den Nobelpreis weiligen Teams zum Verständnis der Mu- für Medizin und Physiologie erhalten hat- stergeneratoren bei der Gesangsproduk- te, zeigte reges Interesse an Hubers Gril- tion (der Grillenmännchen als Sender) lenexperimenten und verwickelte seinen und der neuronalen Mechanismen der jungen Gast in lange Diskussionen. In den Gesangserkennung (der Grillenweibchen Vereinigten Staaten waren es vor allem als Empfänger) erbracht hat. Diese Bei- zwei Kollegen, die Franz Huber nachhal- träge hier dazustellen, würde den Um- tig beeinflussten: Kenneth Roeder (Tufts fang eines Nachrufs sprengen. Doch sei University), den er schon in München bei zumindest das strategische Vorgehen dessen Europabesuchen getroffen hatte samt einigen wenigen Befunden kurz an- und als seinen zweiten Doktorvater zu geführt. Beim Sender zeigte sich überra- bezeichnen pflegte, und Theodor (Ted) schend, dass der zentrale Mustergenera- Bullock von der University of California at tor für die einzelnen Gesangstypen Los Angeles, der mit seiner ebenso brei- (Lock-, Werbe- und Rivalengesang) nicht ten wie detaillierten Kenntnis der Neuro- im Gehirn liegt, wie das die ursprüng- biologie der Invertebraten für ihn zur lichen Hirnreizungsexperimente nahege- akademischen Vaterfigur wurde. Während legt hatten, sondern in den metathoraka- seines knapp einjährigen USA-Aufenthalts len und vorderen abdominalen Ganglien. führte Franz in Ted’s Labor zwar seine er- Vom Gehirn absteigende Kommandoneu- sten intrazellulären Ableitungen durch rone sind für den Einsatz, aber nicht für (bei Aplysia, kurz bevor an der Columbia die Ausgestaltung der Gesangsmuster

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verantwortlich. Auf der Seite des Empfän- hohen Motivation und Begeisterung ge- gers, d.h. bei der Analyse der Mechanis- schuldet, mit denen der Dirigent den men, die an der Mustererkennung betei- Taktstock führte. Geben und Nehmen ligt sind und schlussendlich zum phono- zwischen Lehrenden und Lernenden sah taktischen Verhalten der Weibchen füh- er nicht nur als wissenschaftlich wir- ren, kam die Kombination verhaltensbio- kungsvollstes Prinzip, sondern war ihm logischer und neurophysiologischer Ver- auch persönliches Bedürfnis. In diesem suchsansätze voll zum Tragen. Einerseits Sinne gestand er mir einmal, die Profes- zeigten Verhaltensversuche, bei denen fi- sorentätigkeit in Köln mit den immer wie- xiert auf der ‚Kramer-Kugel‘ laufenden der neuen Gruppen junger Studierender, Weibchen Lautattrappen vorgespielt wur- die er für die Biologie zu gewinnen ver- den, dass die Tiere bei den rhythmisch stand, sei seine schönste Zeit gewesen. gegliederten monotonen Gesängen der Auch später in Seewiesen leitete er fast Männchen artspezifisch auf ganz be- jeden Sommer Ferienakademien der Stu- stimmte Lautpulsraten ansprechen. Ande- dienstiftung des deutschen Volkes, der er rerseits gelang es neurophysiologisch, als Student selbst angehört hatte, und die Filtermechanismen einzugrenzen, die nahm sich die Zeit, jahrelang Gruppen die artspezifischen Lautpulsraten erken- von Studienstiftlern als Vertrauensdozent nen, entsprechende Modellvorstellungen zu betreuen. Ebenso konnten seine wis- zu entwickeln und computergestützt zu senschaftlichen Mitarbeiter von seiner simulieren. Ich glaube, nicht zu viel zu steten Neugierde und Motivationslust pro- behaupten, wenn ich die Entdeckung der fitieren. Jeder durfte im Rahmen der ge- grossen, formschönen Omega-Neurone, nerellen Forschungsthematik sein Projekt die im Prothorakalganglion ihren Input selbst wählen. Das galt auch für die sie- von den Hörsinneszellen erhalten und ben Alexander-von-Humboldt-For- dort ein links/rechts antagonistisch ver- schungspreisträger, die er für seine Ar- schaltetes Zwei-Zellen-Mininetzwerk bil- beitsgruppe in Seewiesen gewann. In den, als einen stark motivierenden Start- diesem offenen, sich selbst organisieren- schuss zu dieser Netzwerkanalyse be- den Wissenschaftssystem tauchten emer- zeichne. The rest is history. gent immer wieder neue Fragestellungen auf, neue Nebenwege, die zu unerwarte- Geschrieben haben diese Geschichte ten Projekten und Einsichten führten; zum Kohorten von Doktorandinnen und Dokto- Beispiel zur biophysikalischen, u.a. laser- randen, Postdoktorandinnen und Postdok- vibrometrischen Aufklärung der Schall- toranden, Gastforscherinnen und Gastfor- Leitung im raffiniert gebauten tympanal- schern, die während dreier Jahrzehnte in spirakulären Gehörorgan der Grillen und wechselnden und von Franz Huber immer der auf diese Weise verschärften Rich- wieder enthusiastisch eingestimmten und tungsempfindlichkeit; oder die auf Trans- orchestrierten Formationen in Köln und plantationsexperimenten beruhende Ent- Seewiesen zusammenspielten. Die Erfol- deckung, dass nur die Vorderbeine das ge dieses Spiels sind ganz wesentlich der entwicklungsbiologische Potential besit-

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zen, an Stelle der ubiquitären Subgenual- International Society for organe ein Tympanalorgan zu bilden. Mit (ISN) gelegt wurde, war Franz Huber als diesen vielfältigen Ansätzen wurde das einziger Repräsentant der Invertebraten- Huber-Haus in Seewiesen zu einem Mek- forschung zugegen und hielt ein flam- ka der Neuroethologie. mendes Plädoyer für Insekten als Modell- Die Faszination, die Franz Huber je- organismen dieser integrativen For- weils auf junge Nachwuchswissenschaft- schungsrichtung. Inzwischen ist seine ler ausübte, gründete in seiner Lehrbe- Saat aufgegangen. Die Invertebraten sind geisterung und allgemein seiner Gabe, heute in der ISN, die ihm zu Ehren 2004 Menschen zu mögen und spontan auf sie die Franz Huber Lectures etablierte, aus- zuzugehen. Jedes Mal, wenn er in Zürich gesprochen stark vertreten. einen Vortrag hielt – etwa eine Plenary Seine Überzeugung, dass neurophy- Lecture beim Jahreskongress der Schwei- siologische Analysen in den jeweils spezi- zerischen Naturforschenden Gesellschaft fischen Verhaltenskontext eingebettet sein (1984) oder die 2. Santschi Lecture (1988) müssen und wir die Fragen beantworten im Gefolge von Edward O. Wilson – lag sollen, die uns die Tiere und nicht vorge- ihm die Zuhörerschaft zu Füssen, und je- fasste Konzepte stellen, hat Franz Huber des Mal, wenn ich am Ende des Sommer- nicht nur in seiner ‚Heimgesellschaft‘, der semesters mit den Teilnehmern unseres ISN, sondern auch in den verschieden- neurobiologischen Praktikums für zwei sten Forschungsorganisationen und Pla- Tage von Zürich nach Seewiesen fuhr und nungsgremien, in denen er sich enga- wir dort das Neueste aus seiner For- gierte, vertreten. Selbst wenn er mit schung erlebten, kam es zu nächtelangen dieser Sicht einer konzeptionell und me- Diskussionen. Forschung und Forschungs- thodisch breit aufgestellten integrativen vermittlung waren für Franz Huber Le- Verhaltensphysiologie – und ihren Konse- benselixier. quenzen für die Zukunft des Max-Planck- Als akademischer Gestalter und Takt- Instituts in Seewiesen – bei seinen dorti- geber hat er freilich weit über seine eige- gen Kollegen nicht immer auf voraus- ne Forschungsgruppe hinaus gewirkt. Mit eilend freudige Zustimmung stiess, tat das Fug und Recht kann er als Vater der Neu- seinem emphatischen Einsatz keinen Ab- roethologie gelten, der die europäische bruch. Umso schmerzlicher empfand er Tradition analytischer Verhaltensfor- es, dass sein Kampf für ein ‚neues See- schung speziell sinnesphysiologischer wiesen‘ am Ende erfolglos blieb und das Prägung in die ganz anders strukturierte Institut vom Präsidenten der Max-Planck- und vor allem wirbeltierzentrierte For- Gesellschaft geschlossen wurde – nur um schungslandschaft Nordamerikas hin- zu Hubers Freude Jahre später in neuem übergetragen und damit internationali- Gewand wieder aufzuerstehen. siert hat. Als im August 1981 das NATO Mit wissenschaftlichem Weitblick und Advanced Study Institute in Hofgeismar nie erlahmender Gestaltungskraft hat bei Kassel ein Treffen organisierte, bei Franz Huber die Neuro- und Verhaltens- dem der Grundstein zur Gründung der biologie in der zweiten Hälfte des letzten

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Jahrhunderts national und international in denkbar gewesen: seine Frau Lore (geb. einzigartiger Weise geprägt. Für diese Schneider). Sie hatte ebenfalls summa Leistung wurden ihm zahlreiche Ehrungen cum laude an der Ludwig-Maximilians- zuteil. Neben den beiden eingangs ge- Universität in München promoviert, dann nannten gehören zu diesen Auszeichnun- aber der Familie zuliebe auf eine wissen- gen vier Ehrendoktorate (Köln, Toulouse, schaftliche Laufbahn verzichtet. Wegen Odense, Zürich) und die Mitgliedschaften der damals knapp fünf- und zweijährigen in der American Academy of Arts and Söhne Johannes und Martin blieb sie auch Sciences, der American Philosophical So- während Franzens USA-Reise zu Hause in ciety, der Leopoldina (der Deutschen Aka- Tübingen. Später hat sie, literarisch und demie der Wissenschaften) sowie der künstlerisch begabt, willensstark und von Bayerischen, Nordrhein-Westfälischen und schwäbischem Geblüt, das familiäre Um- Mainzer Akademie. Alle diese Leistungen feld geboten, in dem sich ihr bayerisch und Erfolge – und der ungeheure Arbeits- temperamentvoll oft etwas ungestüm vor- einsatz, der sie ermöglichte – wären frei- wärts brechendender Mann frei in seiner lich ohne eine entscheidende Person nicht Forschung entfalten konnte. Übrigens

Die Anatomie des Dr. Huber, Fotocollage von Theo Weber nach der "Anatomie des Dr. Tulp" von Rembrandt, entstanden ca. 1986. Die Personen sind von links nach rechts: Theo Weber, Matthias Henning, Lore Huber, Erich Staudacher, Dietmar Otto, Hans Ulrich Kleindienst, Klaus Schildber- ger, Franz Huber sowie Geoff Horseman als Demonstrationsobjekt.

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schrieb mir Franz nach seiner Aufnahme ner poetischen Fabulierkunst zu frönen, in die Bayerische Akademie, er freue sich wie man sie unter Naturwissenschaftlern über „die Anerkennung durch mein Ge- heute nur noch selten findet. Manchmal burtsland, dem ich mich in Sprache, Le- lief man sogar Gefahr, in einer launig hin- bensart und Verhalten als ‚internationaler geworfenen Anekdote den tieferen Kern Patriot‘ sehr verbunden fühle.“ Darüber zu übersehen, der in ihr verborgen lag hinaus war er stets stolz darauf, ein altbay- und mit dem er immer wieder seine Kol- erischer Baier und kein Bayer zu sein. Der legen und Freunde zu überraschen und liebevolle Einfluss, den Lore auch auf die inspirieren vermochte. Seine Lust am Institutsfamilie nahm, spiegelt sich viel- Schreiben war so gross wie jene am Er- leicht am eindrucksvollsten in einer Colla- zählen im Gespräch. Hatte man ihm in ge der Abteilungsmitarbeiter, in der Rem- seinen letzten Lebensjahren, ja bis in sei- brandts „Anatomie des Dr. Tulp“ (1632) ne letzten Lebenstage hinein eine Email als jene „… des Dr. Huber“ erschien. Hin- gesandt, konnte man sicher sein, in den ter allen Beteiligten erhöht ins Huber- nächsten 24 Stunden eine ausführliche Team integriert, sehen wir Lore ruhig und und stets humorvoll mit kurzen Sprüchen gelassen die Arbeitsgemeinschaft über- gewürzte Antwort zu erhalten. Gesund- blicken. Dass sie nach einem schweren, heitlich hatte Franz nach Lores Tod oft an jahrelang tapfer ertragenen Krebsleiden Herz- und Kreislaufproblemen zu leiden schon 1999 starb, bedeutete für Franz den und sich mehrfach kurzen Spitalaufenthal- schwersten Einschnitt im Leben. ten zu unterziehen, u.a. wegen einer By- Franz Huber selbst hat sich nach sei- pass-Operation, konnte aber am Morgen ner Emeritierung vor allem seinen beiden des 27. April 2017 zu Hause friedlich ein- Söhnen und deren Familien, seinen Freun- schlafen. den und Kollegen gewidmet, auf seine Schliessen möchte ich mit einer ganz Laufbahn „vom Dorfbuben zum Wissen- persönlichen Note – mit dem Dank für die schaftler“ zurückgeblickt und diesen Rück- tiefe Freundschaft, die meine Frau Sibylle blick in seinen Lebenserinnerungen facet- und mich über mehr als vier Jahrzehnte tenreich zusammengestellt. Hier wie in al- mit Franz und seiner auch von uns hoch len Begegnungen und Briefwechseln mit geschätzten Lore verbanden, und für den ihm, die Bände füllen, kommt seine ausge- Reichtum des (nicht nur akademischen) prägte Begabung zum Ausdruck, treffend Lebens, den wir mit ihm teilen durften. und humorvoll zu erzählen und damit ei-

Prof. Dr. Rüdiger Wehner Institut für Hirnforschung der Universität Zürich Winterthurerstr.190 CH-8057 Zürich [email protected]

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