SWR2 Musikstunde
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SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde 275 Jahre Gewandhausorchester – eine klingende Geschichte (1) Mit Ulla Zierau Sendung: 7. Mai 2018 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2018 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2- Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de SWR2 Musikstunde mit Ulla Zierau 07. Mai – 11. Mai 2018 275 Jahre Gewandhausorchester – eine klingende Geschichte (1) Guten Morgen, meine Name ist Ulla Zierau. Ich möchte Sie diese Woche nach Leipzig einladen. Mit dem Zug in die sächsische Kulturstadt. Dort kommen wir in einem modernen Kopfbahnhof an, mit Cafés, Geschäften und allem was dazu gehört. In fünf bis zehn Minuten sind wir zu Fuß in der Leipziger Innenstadt, auch am Kulturzentrum Augustusplatz. Überdimensional groß, wenig charmant dieser Platz, aber imposant mit dem Neubau der Universität und vor allem mit den sich gegenüberliegenden Kulturstätten: Auf der einen Seite das Gewandhaus auf der anderen das Opernhaus. An der Glasfassade des Gewandhauses prangt der neue Kapellmeister, Andris Nelsons. Der 39-jährige Lette ist ein Shooting Star der Dirigentenszene. Gefeiert, gefragt, seit Februar ist er in Leipzig und gerade mitten drin in einer herausfordernden Saison. Denn das älteste deutsche bürgerliche Orchester feiert sein 275- jähriges Jubiläum und ist mit dem neuen Kapellmeister auf Vorstellungs- und Jubiläumstour. Musik 1 Richard Wagner: Ouvertüre zur Oper Tannhäuser, Anfang Gewandhausorchester / Leitung: Andris Nelsons M0483145 005, Deutsche Grammophon, 4797208, 5‘00 Der Beginn der Ouvertüre zu „Tannhäuser“ von Richard Wagner, auch ein Sohn Leipzigs. Das Gewandhausorchester unter der Leitung seines gerade frisch gekürten 21. Kapellmeisters Andris Nelsons. Sie kennen es alle, dieses Orchester, es ist eines der, wenn nicht das traditionsreichste der Welt. Nelsons steht in einer Reihe mit namhaften Dirigenten und Größen der Musikgeschichte aus drei Jahrhunderten: vom ersten Kapellmeister Johann Adam Hiller über den berühmtesten Felix Mendelssohn und vielen anderen, Nils Wilhelm Gade, Carl Reinicke, Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Kurt Masur, Herbert Blomstedt oder zuletzt Riccardo Chailly. Nicht weniger 2 bedeutend sind die Uraufführungen, die das Orchester gespielt hat. Beethovens Tripelkonzert und 5. Klavierkonzert, Mendelssohns Schottische Sinfonie, Schumanns Frühlingssinfonie, Brahms‘ Violinkonzert, Bruckners Siebte und aktuell ist Jörg Widmann Gewandhauskomponist und schreibt zwei neue Werke für das Orchester. Grund zu feiern, zu hören und zu erzählen in den SWR 2 Musikstunden dieser Woche. Musik 2 Ludwig van Beethoven: Fidelio, “O namenlose Freude!“ Duett Leonore, Florestan Jeannine Altmeyer, Sopran / Siegfried Jerusalem, Tenor Gewandhausorchester / Leitung: Kurt Masur M0419128 003, Sony Classical, 88883709082, 3‘00 Jeannine Altmeyer und Siegfried Jerusalem im Duett „O namenlose Freude“ aus Beethovens Fidelio. Kurt Masur leitete das Gewandhausorchester. Leipzig, Mitte des 18. Jahrhunderts, Zentrum der Aufklärung, Handels- und Universitätsstadt, protestantisch geprägt. Hier in „Klein Paris“, wie es nicht nur Goethe nennt, regt sich schon früh ein öffentliches Konzertleben. Vor rund 275 Jahren sitzen 16 junge kulturinteressierte Adlige und Bürger Leipzigs beisammen und gründen ein Orchester, am 11. März 1743. Sie nennen es „Leipziger Concert“. Was in Dresden dem Hof gehört, soll in Leipzig den Bürgern gehören. Das ist soweit noch nichts Ungewöhnliches. Solche Orchester gibt es in anderen Städten auch, in Frankfurt oder Hamburg. Was in Leipzig jedoch anders ist: Es ist eine Gemeinschaft, die das Orchester trägt. Die wohlhabenden Kaufleute finanzieren und leiten das Orchester selbst. Jeder der 16 Grünungsväter finanziert einen Musiker. Teils sind es Profis, Stadtpfeifer, Kunstgeiger oder Kirchenmusiker, teils sind es Studenten von der Leipziger Universität. Es entsteht ein freies Konzertunternehmen und die Konzerte finden zunächst in Leipziger Bürgerhäusern statt. 3 Johann Sebastian Bach, 58, ist zu der Zeit noch Thomaskantor und Stadtmusikdirektor in Leipzig. Lange Zeit hat er das studentische Ensemble Collegium Musicum geleitet. Inzwischen komponiert er lieber, Werke für Tasteninstrumente oder kleinere Besetzungen, die Goldbergvariationen, die Kunst der Fuge. Über ein Thema des preußischen Königs schreibt er „das Musikalische Opfer“ und er vollendet die h-Moll Messe. Ob Bach sich für die repräsentative Kultur der Oberschicht interessiert, ob er die Initiative der Kaufleute unterstützt, ob er gar Ambitionen auf den Posten des Kapellmeistes hat? Wir wissen es nicht, ist aber eher unwahrscheinlich. Bach ist, wenn man auf sein Spätwerk schaut, musikalisch auf einem anderen Stern. Ob er jemals ein Konzert der neu gegründeten Gesellschaft besucht hat? In der gerade veröffentlichten Orchesterchronik ist nichts darüber geschrieben. Von den Bach-Söhnen hingegen schon, Wilhelm Friedemann tritt mit dem Orchester auf. „mit gar ungemeinem Beyfall aller vernüftigen Musicorum“, wie es heißt. Musik 3 : Wilhelm Friedemann Bach Konzert für Hammerklavier und Orchester e-Moll, Fk 43, 3. Satz Michael Behringer, Hammerklavier Freiburger Barockorchester / Leitung: Gottfried von der Goltz M0379328 008, Carus, 4009350830233, 5‘00 Der 3. Satz aus dem Konzert für Hammerklavier und Orchester e-Moll von Wilhelm Friedemann Bach. Michael Behringer mit dem Freiburger Barockorchester unter der Leitung von Gottfried von der Goltz. Das Interesse an den Leipziger Kaufmannskonzerten ist bald so groß, dass die Gesellschaft einen Saal mietet, im Gasthaus „Zu den drey Schwanen“, im Stadtteil Brühl. Nach der ersten Spielstätte des Gewandhausorchesters sucht man heute in Leipzig vergeblich, an der Stelle steht ein großes Kaufhaus. Was bleibt, ist ein Modell. 4 Im Foyer des jetzigen Gewandhauses ist es ausgestellt. Per Knopfdruck kann man durch das geöffnete Dach in den hell erleuchteten Konzertsaal des Gasthauses schauen. Nun Saal ist vielleicht zu viel gesagt. Der Komponist Johann Friedrich Reichhardt beschreibt das Concertzimmer als Wohnstube, „die auf der einen Seite mit einem hölzernen Gerüste für die Spielenden, und auf der anderen Seite mit einer hohen hölzernen Galerie für Zuschauer und Zuhörer in Stiefeln und ungepuderten Köpfen verbaut ist“. Zur galanten Gesellschaft im Parkett, meint Reichardt, sie sei vielleicht ein wenig mehr gepudert, sitze ein wenig steifer und raisoniere ein wenig unverschämter über die Musik, als es in anderen großen Concerten geschehe. Über Jahre bleibt das Gasthaus „Zu den drey Schwanen“ Leipzigs erste Adresse in Sachen sinfonischer Musik. Johann Adolf Hasse kommt von Dresden herüber und sitzt mit seiner Frau, der Primadonna Faustina Bordoni nicht nur im Publikum, sondern führt dort auch seine Oratorien, die er für das katholische Dresden geschrieben hat, auf. In den großen evangelischen Kirchen Leipzigs sind sie tabu, im Drey Schwanen Saal hingegen dürfen sie gespielt werden. Musik 4 Johann Adolf Hasse: “La Conversione di Sant' Agostino”, Arie des Alipio, Oratorium, Axel Köhler, Countertenor Academie für Alte Musik Berlin / Leitung; Marcus Creed M0070380 003, PEER-SOUTHERN PRODUCTIONS, 10543, 4’17 Arie aus Johann Adolf Hasses Oratorium „La Conversione di Sant' Agostino“. Axel Köhler und die Academie für Alte Musik Berlin unter der Leitung von Marcus Creed. Ein Oratorium Hasses ist in der Karwoche 1756 vorerst das letzte Werk, das im Drey Schwanen Saal gespielt wird. Wenige Wochen später stürzt ein Flügel des Gasthauses ein. An Wiederaufbau denkt keiner, denn der Sieben-jährige Krieg bricht aus. Die Musik in Leipzig verstummt. 5 Einer, der sich von den widrigen Umständen nicht klein kriegen lässt, ist Johann Adam Hiller. In Leipzig studiert er Jura, wird Verleger, sein Herz schlägt für die Musik. Er gründet während der Kriegsjahre die erste deutsche Musikzeitschrift „Der musikalische Zeitvertreib“, gedruckt vom Leipziger Verlagshaus Breitkopf. Mit leichten Stücken und Liedern möchte Hiller Musikliebhaber und Hausmusiker bedienen. Eine gute Sache in schlechten Zeiten. Länger als ein Jahr überlebt die Zeitschrift nicht. Im Nachwort zum letzten Heft schreibt Hiller: „Wir wünschen Europa, wir wünschen Deutschland, wir wünschen unserem bedrängten Vaterlande etwas, das besser ist als der beste musikalische Zeitvertreib, wir wünschen ihm Friede“. Auf Frieden muss Europa noch einige Jahre warten. Während Preußen an der Seite von Großbritannien gegen Frankreich, die Habsburger Monarchie, Russland und das Heilige Römische Reich kämpft, denkt Hiller weiterhin an die Kunst. Er möchte die bürgerlichen Konzerte wiederbeleben und geht auf volles Risiko. Hiller veranstaltet Subskriptionskonzerte, eine Art Abonnementkonzerte, die im Voraus bezahlt werden. So lebt das Große Konzert in Leipzig wieder auf. Und endlich am 21. März 1763 feiern die Leipziger „unter Trompeten- und Paukenschall“ das Ende des Sieben- jährigen Krieges. Auf dem Markt singen sie gemeinsam: „Nun danket alle Gott“.