Sonntag, 15. November 2020 15.04 – 17.00 Uhr

Ludwig van Beethoven Eine Sendereihe von Eleonore Büning

46. Folge: „Best of Beethoven“

Herzlich Willkommen zu unserer Hitparade „Best of Beethoven“. Ich grüße Sie! Dies ist heute die vorletzte Folge, da ist es, Zeit für einen gemeinsamen Kassensturz. Wie stehen unsere Beethovenaktien heute? Steigen oder fallen sie? Oder sind sie nach wie vor stabil? Ist die Musik Beethovens möglicherweise grundsätzlich wertkonstant und marktresistent, eine feste Kulturwährung im klassischen Musikbetrieb, auf die man sich verlassen kann, etwa so, wie die Wallstreet-Broker sich auf das Gold verlassen haben? Nachweislich sind die Symphonien von Beethoven heute nicht mehr ganz so häufig in den Konzertsälen zu hören, wie zu Karajans Zeiten. Tendenz: rückläufig. Mahler, Schostakowitsch, Sibelius sind auf dem Vormarsch. Aber ich wette: Würde der rbbKultur-Reporter morgen früh im nächstbesten Shoppingcenter eine Blitzumfrage starten und nachfragen: „Was sagt Ihnen Beethoven? Welche Stücke mögen Sie am liebsten?“; ich wüsste das Ergebnis schon heute: Als erstes wird bestimmt die Mondscheinsonate genannt. Dann: Für Elise. Oder vielleicht doch eher: die Neunte?

TOT- 1) : „Hier kommt Alex“ (Album-Version), 2:15 Music64/ von „Ein kleines bißchen Horrorschau“ Virgin (1988) 7867632/4 LC <1>

Beethoven hätte dazu wahrscheinlich „Schusterfleck“ gesagt – zu dem, was die Toten Hosen da komponiert haben, als Fortsetzung seines Intros zum letzten Satz seiner Neunten! Auch die Brücke zwischen den verschiedenen Musiktextsorten, dieser Urschrei der Toten Hosen, strotzt nicht gerade von musikalischer Raffinesse. Aber das ist ja auch nicht der Sinn eines Punkrock-Schlagers, da muss es etwas unzivilisiert zugehen, das gehört zum Stil. Mit diesem Song „Hier kommt Alex!“ standen die Toten Hosen 1988 mehr als ein Jahr lang in den Charts. Es war erst ihr fünftes Album überhaupt und das erste, das diese Gruppe in Deutschland bekannt gemacht hat. Letztlich verdankt also der Popstar Campino, der heute noch, mittlerweile über fünfzig, durch die Boulevardpresse flaniert und in „Rock am Ring“ mit Luftsprüngen junge Mädels kirre macht, seine Karriere Ludwig van Beethoven – und natürlich Stanley Kubrick und Anthony Burgess. Kubrick hatte 1971, nach dem Roman von Burgess, den Film „A Clockwork Orange“ gedreht, darin Beethovens Neunte als psychotherapeutische Droge im „Ludovico“- Test eine Hauptrolle spielt. Und darum geht‘s: Alex, Anführer einer Jugend-Gang, ist ein sozial total entgleister Sadist. Er mordet, er vergewaltigt, am liebsten zu klassischer Musik. Er wird verhaftet, therapiert und als geheilt entlassen. Und fortan ergreift ihn jedes Mal ein Brechreiz, wenn er die Neunte nur von weitem trapsen hört. Am Ende springt Alex, in den Wahnsinn getrieben von der Freudenode, aus dem Fenster.

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Kubricks Film wurde für den Oscar nominiert. Die Toten Hosen standen anschließend in der Beethovenstadt Bonn, Stadtteil Bad Godesberg, Abend für Abend auf der Bühne, und spielten als Musiker und Statisten in einer Theaterversion der Story mit. Sie komponierten ihren Hit: „Hier kommt Alex!“ Und wer damals zur rebellischen Jugend rechnete und Beethovens Neunte noch nicht aus dem Schulunterricht oder aus der Werbung oder aber aus Muttis Hitparade der Volksmusik kannte – der kannte sie jetzt:

03708 / W S M 2) Miguel Riós: “Song of Joy” (1970) 0:59 426184-2 EAN: 0639842618427 T.4

34 Wochen in den Pop-Charts. Davon 14 Wochen auf Platz 1. Soweit die Erfolgs- bilanz dieser Verpopmusikalisierung der Beethovenschen Freudenode von Miguel Riós, die 1970 herauskam. Sie verbreitet bis heute, in unzähligen Cover-Versionen, unverdrossen die gute Botschaft, an der auch die Toten Hosen nicht haben kratzen können, dass alle Menschen Brüder werden und glücklich sein sollen. Unzählig die Werbespots, sei es für Versicherungen, sei es für Pizza, die sich dieses Versprechen zu Nutze machten. Und wie steht es mit dem „Best-of-Beethoven“-Hit Nummer 2, diesem mildfreund- lich meditativen Evergreen in cis-Moll, den schon Beethovens Zeitgenossen so geliebt haben? Der ist eher geeignet für Duschgel, Bausparverträge, Partnervermittlung und Katzenfutter:

Sony SMK 3) Ludwig van Beethoven: Sonate Nr.14 cis-Mollop.27,2 4:10 52638 Daraus: 1. Satz, Adagio sostenuto LC 06868 Glenn Gould (Klavier) CD 3 1967/1994 track <14>

Glenn Gould hat sich zwar nicht an Beethovens Vorschrift gehalten, wonach dieser gesamte erste Satz der Sonate „Quasi una fantasia“ cis-Mollop.27, 2 mit aufgehobenem Dämpfer gespielt werden sollte. Das tat damals aber noch niemand. Als diese Aufnahme entstand, Mitte der Sechziger, waren die Pianisten weltweit noch nicht von der historisch informierten Aufführungspraxis angeweht. Dafür spielte Gould diese sogenannte „Mondschein“-Sonate so sportlich schnell, wie vor ihm keiner - und außerdem: Gould war Kult. Diese Sonate freilich war schon sehr viel länger ein Kultstück. Viele Komponisten, darunter Robert Volkmann, Franz Liszt, Edward Elgar, Dmitri Schostakowitsch, Alfred Schnittke und György Kurtág haben diesem ungewöhnlich langsamen Kopfsatz, der so ungewöhnlich nebelhaft vorzutragen ist und in einer ungewöhnlichen Kreuztonart steht, ein kollegiales Denkmal errichtet. Überraschenderweise findet sich unter den ersten, die sich dieses „Mondschein“- Muster zum Vorbild nahmen und „Musik über Musik“ dazu schrieben, der italienische Opernkomponist Vincenzo Bellini – ein „welscher Komponist“, dem keiner, Beethoven wohl am allerwenigsten, so viel Empathie zugetraut hätte. Dass Bellini die deutschen Instrumentalmusiken kannte und liebte und studierte, ist

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bekannt. Aber dass er so weit ging, einen kompletten Opernchorsatz auf dem Zitat des ersten Satzes einer Beethovensonate aufzubauen, das ist einzigartig. 1826 brachte Bellini in Neapel die Oper „Bianca e Fernando“ heraus, mit einem Verschwörer-Chor im zweiten Akt, der in arpeggierter Begleitung und Gesangslinie exakt den geheimnisvollen Mondscheinsonatenbeginn kopiert, nur von cis-Moll nach f-Moll übersetzt. Das Arpeggio ist rhythmisch gleich und figurativ variiert, die harmonische Struktur identisch. Das gefiel ihm selbst so gut, dass er exakt den gleichen Chor noch mal verwendete, mit neuem Text, in der Oper „Zaire“, 1829. Und dann noch ein drittes Mal, und zwar in der Oper „Norma“, 1831. Inzwischen war Bellini aber berühmt geworden, und seine „Norma“ wurde überall aufgeführt, so dass er sich ein bisschen Mühe gab, diesen musikalischen Diebstahl zu verschleiern durch ein markiges Vorspiel in Dur sowie durch zwei kleine, veränderte Intervallverschiebungen in der Beethovenschen Basslinie. Sie wird geharft vom Pizzicato der Orchesterbässe. Wer es weiß, hört es aber trotzdem, spätestens, wenn der Chor einsetzt:

Decca 4) Vincenzo Bellini: „Norma“ 4:16 467 796-2 Daraus: „Non parti“ 2.Akt, 2.Szene Chor & Orchester des Maggio Musicale Fiorentino LC 0171 CD 5 Richard Bonynge (Leitung) Track <7> 1964/2000

Der Kriegerchor „Non parti“ aus Vincenzo Bellinis Oper „Norma“ wurde musiziert von Chor und Orchester des Maggio Musicale Fiorentino unter Leitung von Richard Bonynge. Eine meisterhafte Parodie auf den ersten Satz aus Ludwig van Beethovens cis-Moll-Sonate: und eines der schönsten Beispiele dafür, wie kreativ das Verfahren copy & paste als „Musik über Musik“ funktionieren kann. Kehren wir kurz zurück in die Beinahe-Gegenwart, in das Jahr 1969. Da spielte eine junge Frau daheim im Wohnzimmer ihrem Liebsten, der auf dem Sofa lag und las – zumindest behauptete er später, er habe auf dem Sofa herumgefaulenzt, eben diese Beethovensche cis-Moll-Sonate vor. „Spiel das nochmal“, sagte er, aufmerksam geworden. „Und jetzt bitte nur die Akkordfolge...“ Und: „Jetzt bitte mal das Arpeggio rückwärts.“ Die Frau tat ihm den Gefallen. Sie lebt noch, sie heißt Yoko Ono. Der Mann lebt nicht mehr, er hieß John Lennon. Aus dieser häuslichen Klavierstunde erwuchs aber die Idee für das Intro der unsterblichen Lennon-Ballade „Because the world is round“. Es ist natürlich nicht exakt die umgedrehte Mondscheinsonatenmelodie. Aber doch eindeutig ihre popmusikalische Kusine:

Apple Vinyl 5) The Beatles: „Because“, Albumversion, von: Abbey 2:45 SO 383 Road (1969) Kein LC track <8>

Veröffentlicht auf dem Album der Beatles: „Abbey Road“, anno 1969: „Because“. George Martin spielte das elektronische Cembalo zur Eröffnung. John Lennon verstärkte die Mondscheinsonatenbegleitmelodie mit der Melodiegitarre. Lennon, McCartney und Harrison sangen dreistimmig und ihre Stimmen wurden gesampelt und addiert zur Neunstimmigkeit. Danach lösten sich die Beatles auf.

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Auch der dritte Satz aus der sogenannten „Mondschein“-Sonate Beethovens, das dämonisch davonrasende, sich überschlagende Presto, hat unter den Rockmusikern Freunde gefunden und Furore gemacht und die Kreativität beflügelt. Dazu gleich. Zunächst möchte ich aber, in dieser „Best-of-Beethoven“-Sendung, unbedingt den vernachlässigten zweiten Satz, das Allegretto, zu seinem Recht kommen lassen, von dem Franz Liszt behauptet hat, „es blühe wie eine Blume, zwischen den Abgründen“:

Sony SMK 6) Ludwig van Beethoven: Sonate Nr.14 cis-Mollop.27,2 6:36 52638 Daraus: 2. & 3. Satz Allegretto/Presto LC 06868 Glenn Gould (Klavier) CD 3 tracks 1967/1994 <15 &16>

Glenn Gould spielte den Mittel- und den Finalsatz aus der Sonata Quasi una Fantasia cis-Moll von Ludwig van Beethoven – der sogenannten „Mondschein“- Sonate. Dieses Perpetuum-Mobile-Presto, das sich von jedem ersten Schlag jedes zweiten Taktes abschnellt wie ein Pfeil vom Bogen, trägt selbst die kraftvollsten Pianisten irgendwann aus der Kurve, weil es nun mal sehr lang ist. Gould hat wohlweislich die Wiederholung weggelassen. So schafft er es, das schnelle Tempo nicht nur zu halten, sondern auch noch zu steigern. Diese pure Virtuosenwut, diese Lust am Kräftemessen und Grenzen-Strapazieren ist es vielleicht, die einen Metal- Rocker an dieser Beethovenschen Musik interessiert; und natürlich der Off-Beat, der darin steckt und die Einladung zur exzessiven, einsamen Improvisation: „While my guitar gently weeps. Heavy-Metal-Gitarristen sind ja nicht nur Individualisten, sie sind auch sentimental. Der italienische E-Gitarrist Michele Vioni, bekannt unter dem Namen Dr. Viossy, hat eine klassische Gitarrenausbildung genossen und sich einen Namen in der Heavy-Metal-Szene gemacht damit, dass er Paganini oder Vivaldi ins Rockidiom transferiert. Und so hört sich das an, wenn Dr. Viossy das Presto agitato der Mondscheinsonate angeht:

Youtube 7.) Dr. Viossy (Michele Vioni) & Band: Moonlight- 1:39 Sonata 3rd. Mouvement. Heavy Metal Version

Anders als bei Glenn Gould wird hier nicht geschummelt: der Metal-Gitarrist Dr. Viossy spielt das Presto aus der Mondscheinsonate ehrlich, mit allen Wiederholungen. Das dauert. Und zwischendurch lässt er seine E-Gitarre tremolieren, weinen und klagen. Das Beste an jeder Heavy-Metal-Improvisation ist aber die Aufgipfelung am Schluss. Da blenden wir uns jetzt nochmal kurz ein:

Youtube 8.) Dr. Viossy (Michele Vioni) & Band: Moonlight- 0:31 Sonata 3rd. Mouvement. Heavy Metal Version

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Vielleicht denken Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, dies sei ein Sakrileg und eine Verballhornung Beethovenscher Musik. Vielleicht ist Ihnen die Heavy-Metal-Version von Beethovens cis-Moll-Sonate auch einfach nur zu laut oder zu grob. „Wahre Kunst ist eigensinnig, sie läßt sich nicht in schmeichelnde Formen zwängen“, notierte Ludwig van Beethoven dazu 1820 in eines seiner Konversationshefte. Dieser emphatische Satz könnte beinahe von Adorno sein oder von dem Musikphilosophen Heinz-Klaus Metzger stammen, die beide nicht müde wurden, die Gefahren anzuprangern, die von einer Popmusikalisierung der ernsten Musik und insbesondere der Musik Beethovens ausging. Was konsumiert werden kann, was allen auf Anhieb gefällt, was den Ohren schmeichelt und zum Ohrwurm wird, nicht zuletzt durch die Vervielfältigungsmöglichkeiten der modernen Unterhaltungsindustrie, das habe „seinen Stachel verloren“, und sei auf halbem Wege zu „Schund und Kitsch“, so Metzger. Die triviale U-Musik, so sekundierte ihm der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus, sei letztlich eine „ins musikalische Souterrain“ abgesunkene, enteignete E-Musik. Diese Verteufelung der populären Volksmusik hat gewiss viel damit zu tun, dass alles Volksmusikalische nach dem Untergang des dritten Reiches von einer ganzen Generation von Musikdenkern für vergiftet gehalten wurde - oder jedenfalls nicht mehr für satisfaktionsfähig. Was durch Tradition, nicht zu verwechseln mit Konvention, selbstverständlich zu werden droht, das sollte grundsätzlich in Frage gestellt werden. Nicht das Wiederholen, das Kopieren und Adaptieren des gewachsenen Formenkanons, sondern seine Zersetzung sei Garant für die Einmaligkeit eines Kunstwerkes. Auch wenn einige dieser Begriffe, wie „trivial“ oder „Schund“, mittlerweile aus der Debatte verschwunden sind und die Frage: „Wie populär darf ein Kunstwerk sein“ selbst ein halbes Jahrhundert alt ist, so ist die Front zwischen Pop, Rock, Jazz etc. und Klassik nach wie vor existent. Zur Beethovenzeit gab es diese Front noch nicht. Denn es gab auch noch keine Tonaufzeichnung. Insofern haben Bearbeitungen zur Beethovenzeit einen ganz anderen Stellenwert, ja, eine Funktion. Das soeben zitierte Bekenntnis Beethovens zur wahren, ernsten Kunst schloss ja keineswegs aus, dass er gerade in seinen stacheligen späten Werken wunderbar einleuchtende, eingängige, schmeichelnde und himmlisch sentimentale Melodien implantierte. Kein Zweifel, er wollte, dass seine Musik viel gehört werde. Und natürlich hat er auch, sein Leben lang, populäre Musik verarbeitet und bearbeitet:

DG 453 786- 9) Ludwig van Beethoven: Irische Lieder WoO 152, 6’16 2 daraus: „Sweet Power of Song“ und LC 0173 “What shall I do to show how much I love her”

CD 2 …Felicity Lott (Sopran) Track 4 und John Mark Ainsly (Tenor) 8 Christopher Maltman (Bariton) Marieke Blankestijn (Violine) Ursula Smith (Violoncello) Malcolm Martineau (Klavier) 1996/1997

Von meiner ganz persönlichen „Best-of-Beethoven“-Hitliste: „Sweet Power of Song“ und ein Liebeslied. Niemals können Sie so etwas im Konzert hören. Dieser ganze, große, leider ins „Souterrain“ (um mit Dahlhaus zu reden) abgesunkene

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Schatz der Schottischen, Irischen und Walisischen Volksliedbearbeitungen Ludwig van Beethovens ist immer noch nicht gehoben – obgleich es so phantastische Aufnahmen gibt wie diese hier: Es sangen: Felicity Lott, John Mark Ainsly und Christopher Maltman, es spielten Marieke Blankenstijn, Ursula Smith und Malcolm Martineau. „Seitdem es Mode geworden ist, die Musik nur so nebenher zum Vertreiben der Langeweile in der Gesellschaft zu benutzen, soll alles leicht, gefällig, angenehm – das heißt, ohne alle Bedeutung und Tiefe seyn.“ Dies schrieb im März 1813 Ernst Theodor Amadeus Hoffmann in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung. Und weiter: „Da leider Componisten genug auf Erden wandeln, die dem Zeitgeist fröhnen, so gibt es der losen Speise gar viel. Auch manche nicht gänzlich schlechte Musiker klagen über die Unverständlichkeit Beethovenscher Compositionen: es liegt da aber an der subjectiven Imbecillität, die es nicht zulässt, das Ganze in seinen Theilen zusammenzufassen. Sie rühmen daher immer an schwachen Compositionen die grosse Klarheit!“ Diese Kollegenschelte, die der Kritiker Hoffmann da betreibt, bezieht sich auf das vier Jahre zuvor im Druck erschienene Klaviertrio D-Dur, op.70,1 Es sei, befürchtet Hoffmann, eine jener starken Kompositionen, die „von der Menge nicht begriffen würde.“ Also erklärt er, analysiert er – dieser große Essay ist eines der herausragenden Exempel früher „Musikvermittlung“. Auch Carl Czerny, Beethovens Schüler, suchte nach Verständnisbrücken. Czerny war es, der den griffigen Titel „Geister-Trio“ für das Stück prägte. Er bezieht sich auf den langsamen Satz, ein düsteres Largo, dass sich ungeheuer leise, langsam und breit entwickelt. Czerny schreibt: „Gleich einer Erscheinung aus der Unterwelt!“ Vielleicht hat dies sogar einen programmatischen Hintergrund, denn in den Skizzen zu diesem Trio finden sich, neben den Eintragungen zu diesem Largo, auch erste Notizen Beethovens zu einer geplanten „Macbeth“-Oper. Ist das hier also eine verkappte „Hexen-szene“? Wer weiß! Ganz sicher aber gehört dieses Largo assai ed espressivo, mit den klagenden Streichern und dem Dauertremolo des Klaviers in die „Best-of-Beethoven“-Charts. Das sagte die Redakteurin dieser Sendereihe, Dorothea Diekmann, und ich bin absolut derselben Meinung. Eine Lieblingsbeethovenmusik! Es spielt: Das Trio Wanderer:

Harmonia 10) Ludwig van Beethoven: Klaviertrio D-Dur op.70,1 9:50 mundi 902 Daraus: 2.Satz „Largo assai ed espressivo“ 102 Trio Wanderer LC 7045 CD 3 2010/2012 track <2>

Sie hören rbbKultur, mit Eleonore Büning. Heute die sechsundvierzigste und vorletzte Folge unserer Beethoven-Reihe. Ich habe sie „Best-of-Beethoven“ genannt, denn es geht heute nur um Superlative: Um die beliebtesten und um die seltensten Werke Beethovens, um die schönsten, die einmaligsten, die eingängigsten, aber auch die anachronistischsten und zukunftsweisendsten – kurzum: um all das, was uns heute noch etwas angeht. Obwohl diese Musik schon 200 Jahre alt ist und aus einer untergegangenen Welt stammt. 1808 hat Beethoven diesen langsamen Satz, ein Largo, aus dem Klaviertrio D-Dur op.70, Nr.1 komponiert. Er wurde gespielt vom Trio Wanderer. Dieses außergewöhnliche Dauertremolo, das im Klavier schon ab Takt 16 auftaucht und den ganzen Satz

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unterhöhlt, bedeutet nichts Gutes. In der musikalischen Rhetorik ist so ein Tremolo traditionell die Chiffre des Schreckens. Aber hier erscheint sie pedalgedämpft, vernebelt – wie eine Ahnung. ETA Hoffmann beschreibt diesen Effekt als ein jenseitiges „Säuseln, das an Äolsharfe und Harmonica erinnert“. Und dieser Äolsharfenmusik, diesem Nachhall und zugleich Vorschein aus einer anderen Welt, dem kann man auch in Beethovens letzten Werken wieder begegnen, in den späten Quartetten und Sonaten. Typisch Spätwerkstil – heißt es dazu in der Literatur. Nicht zum ersten Mal im Verlauf dieser Beethovenreihe können wir feststellen, dass eine der Schubladen, die das Oeuvre Beethovens sortieren helfen sollen und es einteilen in Frühes und Spätes, Leichtes und Schweres, Erhabenes und Komisches, Populäres und Elitäres, klemmt. Oder, sagen wir es positiv: Beethoven blieb sich treu in seinen Werken, von 1808 bis 1822. In diesem Jahr entstanden die letzten drei Klaviersonaten, auch diese hier in As-Dur, op. 110 mit der Fuge im letzten Satz und der phantastischen, von Glockengetön im Bassregister, mit aufgehobener Dämpfung, aus dem Jenseits eingeläuteten Fugenumkehrung. Für diese Lieblingsmusik auf unserer Bestenliste heute hat Kaspar Wollheim votiert, er ist einer der trickreichen, wunder tätigen Tonmeister, die diese Beethoven-Reihe betreut haben. Es spielt: Maurizio Pollini:

DG 479 11) Ludwig van Beethoven: Klaviersonate Nr.31 As-Dur 9:33 4130 op.110 3. Satz „Adagio ma non troppo / Fuga. Allegro Ma LC 0173 CD 8 non troppo“ Maurizio Pollini (Klavier) track <10> 1975/2015

Maurizio Pollini spielte die finale Fuge aus Beethovens Klaviersonate As-Dur, op. 110, eine Aufnahme aus dem Jahr 1975. 1977 war mal wieder ein Beethovenjahr, und aus diesem Anlass befragte damals ein Redakteur des Westdeutschen Rundfunks, Reinhold Schubert, acht lebende Komponisten nach ihrer „Best-of-Beethoven“-Hitliste mit besonderer Berücksichtigung des Spätwerks. Da kam allerhand zusammen! Hans Werner Henze antwortete pünktlich und erklärte in wunderschönen Worten seine Leidenschaft für Beethovens Spätwerk, aber er meint zugleich doch, dass es inzwischen abgegolten sei. Henze im Wortlaut: „Ich denke nicht, daß Erlernbares, Nachahmbares in dieser Musik wohnt. Das moderne Komponieren ist zu sehr mit anderen, technischen, technologischen Fragen beschäftigt, mit Materialproblemen, als daß der späte Beethoven darin einen Raum einnehmen könnte – jener Beethoven, der so weit fort ist, und der stilistische Probleme hinter sich gelassen hat, gelöste und ungelöste.“ Soweit der Komponist Hans Werner Henze. Ganz anders reagierte sein Kollege Karlheinz Stockhausen. Erst wollte er gar nicht mitmachen bei diesem Wettbewerb – so wie Beethoven sich anfangs weigerte, mitzumachen bei den Diabelli- Variationen. Aber dann meldet er sich doch, und liefert eine enorme Soll- Übererfüllung ab, ähnlich wie Beethoven gegenüber Diabelli. Stundenlang spricht Stockhausen über Beethovens Spätwerk, zwischendurch Platten auflegend, lachend, tanzend, scherzend. Und es wurde eine große fünfteilige Sendereihe daraus. Ein fantastisches Dokument. Das folgendermaßen beginnt:

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Stockhausenverlag 12a) Karlheinz Stockhausen: Zu Beethovens späten 3:57 Texte 23 A-C Streichquartetten. (Im Gespräch mit Reinhold Kein LC Schubert 25.8.1977) 23 A (CD 1) track <2> & <3 Audite 21.424 12b) Ludwig van Beethoven: Streichquartett op.127 6:43 LC 04480 Es-Dur Daraus: 1. Satz (Maestoso-Allegro) CD 5 Amadeus Quartett track <1> 1967/2013

Der erste Satz aus dem Streichquartett op.127 Es-Dur wurde gespielt vom Amadeus Quartett, eine Aufnahme aus dem Jahr 1967. Das war die Aufnahme, die Karlheinz Stockhausen besaß und liebte und im August 1977 in Kürten auf den Plattenteller legte, um sie, Schritt für Schritt, zu analysieren. Es dauert eine Weile, bis er zum langsamen Satz kommt, zum Herzstück dieses Quartetts. Es ist dies eine der Musiken, die auch auf meiner Best-of-Beethoven-Liste ganz oben stehen. Ein langsamer Variationensatz: Der beginnt, in einer ungeheuerlichen Feierlichkeit, wie Weltraum-Musik, natürlich gefällt das Stockhausen sehr! Das Thema weist aber eher auf Mahler voraus. Wenn wir zur E-Dur-Variation gelangen, die strukturell, aber auch thematisch eine Passage aus der neunten Symphonie herbeizitiert, nämlich „Über Sternen muss er wohnen“, so kann man das besser in den Noten sehen, als hören. Beethoven zitiert sich selbst, in vollendeter „Musik über Musik“. Und kurz vor dieser Stelle hat Karlheinz Stockhausen noch etwas ganz anderes entdeckt: einen Two-Step.

Stockhausenverlag 13) Karlheinz Stockhausen: Zu Beethovens späten 1:34 Texte 23 A-C Streichquartetten (im Gespräch mit Reinhold 23 A (CD 1) Schubert 25.8.1977) track <3>

Soweit Karlheinz Stockhausen, am 25.August 1977, im Gespräch mit dem WDR- Redakteur Reinhold Schubert über den zweiten Satz aus Ludwig van Beethovens Streichquartett Es-Dur op.127: „Adagio man non troppo e molto cantabile“. Stockhausen hatte damals die Aufnahme mit dem Amadeus Quartett von 1967 auf dem Plattenteller. Seine Best-of-Beethoven-Einspielung. Wir spielen jetzt eine andere: ein Arrangement für Streichorchester. Eigentlich hat Paul Marrion nur die vier Stimmen des Quartetts mehrfach besetzt. Aber es gibt noch eine kleine Änderung, die wichtig wird vor allem für die unterhaltungsmusikalische Steptanz- Variation, den Zwiefachen: Der Kontrabass verstärkt, von Fall zu Fall, von Schlag auf Schlag, Cello und manchmal Bratsche. Es spielt die Academy of St.Martin in the Fields unter der Leitung von Murray Perahia:

Sony SK 93043 14) Ludwig van Beethoven: Streichquartett op.127 15:27 Es-Dur (arrangiert für Streichorchester von Paul LC 06868 Marrion)

Daraus: 2.Satz „Adagio ma non troppo e molto track <2> cantabile“ Academy of St.Martin in the Fields Murray Perahia (Leitung) 2003/2004

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Die Academy of St Martin in the Fields spielte den Adagio-Satz aus Beethovens Streichquartett op.127 Es-Dur in einer Orchesterversion, arrangiert von Paul Marrion, der Dirigent war Murray Perahia. Von Hause aus ist er ein eher schweigsamer Pianist. Für diese Aufnahme hatte Perahia 2003 erstmals mit dem Dirigieren begonnen. Und mit dem Kommentieren. „Wir scheinen in der Vergangenheit die Zukunft zu hören“, so erklärt er seine außergewöhnliche Repertoirewahl: und weiter „Darin liegt überhaupt das Problem des späten Beethoven. Er scheint gleichzeitig vorwärts und rückwärts zu blicken.“ Dieses Komponieren verlangt ein neues Hörverhalten. Auch wir sollten gleichzeitig vorwärts und rückwärts hören können und die Fähigkeit entwickeln, wie ein Frosch oder ein Insekt in alle richtigen Richtungen gleichzeitig schauen kann. Man nennt diese Fähigkeit neudeutsch „multitasking“. Angeblich können Frauen und Musiker das besonders gut. Karlheinz Stockhausen sprach 1977, in seiner Beethoven- Hommage, noch von einem „auf relativ engem Raum Nebeneinandergestellten“ (…) „Das ist wohl das Großartigste, was man schaffen kann“, sagte er, „… nicht nur auf einer engen Skala Musik zu machen, die dann nur seinesgleichen oder verwandte Geister in Mitschwingung versetzt, sondern eine so breite Skala zu haben, dass irgendwo jeder in Mitschwingung gerät und dadurch die Sehnsucht bekommt, auch die anderen Charaktere einmal miterleben zu können.“ Ja - damit ist die Frage, die wir eingangs in dieser Sendung stellten, klar beantwortet. Solange noch verwandte Geister in Mitschwingung geraten, bleibt Beethovens Musik aktuell. Es versteht sich, dass Karlheinz Stockhausen selbst auch angetreten war, Großartiges zu schaffen. Er sah sich als Beethovens Bruder im Geiste. In den Sechzigern hatte sich sein Interesse auf „Musik über Musik“ fokussiert. Sein Stück „Kurzwellen“ gehört in diese Phase. Er arbeitete es zum zweihundertsten Geburtstag Beethovens um zu einem neuen Werk mit dem Titel: „Opus 1970 Stockhoven-Beethausen.“ Die zufälligen Radiosignale der Kurzwellenempfänger wurden hier durch vorbereitete Bänder ersetzt, die Musikstücke Beethovens enthalten, aber auch Lesungen aus dem Heiligenstädter Testament. Eine Hommage:

Stockhausenverlag 15) Karlheinz Stockhausen: „Opus 1970 Stockhoven- 2:44 Texte 23 A-C Beethausen“ (Kurzwellen mit Beethoven) Kein LC Aloys Kontarsky (Klavier)

23 C (CD 3) Johannes Fritsch (elektrische Bratsche) track <1> Rolf Gehlhaar (TamTam) Harald Bojé (Elektronium) Karlheinz Stockhausen (Filter und Regler) 1970/2011 an „Stockhoven – Beethausen“. Das ist nicht mehr nur „Musik über Musik“. Hier handelt es sich um Identifikation. Beethoven ist, so sieht das Karlheinz Stockhausen, ein Zeitgenosse der Zukunft. Eine Hommage an Ludwig van Beethoven, mit Aloys Kontarsky (Klavier), Johannes Fritsch (Elektrische Bratsche), Rolf Gehlhaar (TamTam), Harald Boje (Elektronium) und Karlheinz Stockhausen saß an den Reglern. Natürlich war das nur ein kurzer Ausschnitt. Das ganze Werk sollte man möglichst live erleben, es ist etwas kürzer als Beethovens neunte Symphonie. Bleibt nach-

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zutragen: Die Beatles hatten 1963 auf ihrem zweiten Studioalbum Chuck Berrys Hit „Roll over Beethoven“ gecovert und in ihren mehrstimmigen Chorknabengesang überführt. Und es ist sicher kein Zufall, dass sie auf ihrem vorletzten Album dann neben Bob Dylan, William Burroughs und anderen Geistesgrößen der Pop-Kultur auch Karlheinz Stockhausen in ihre Ahnengalerie einreihten. „In order to stay alive, he would have gone underground“, schreibt ein Heavy-Metal-Mann dem Metal- Guitarristen Dr. Voissy ins digitale Fanzine: „Würde Beethoven heute leben, er würde wie wir in den Untergrund gehen, um überleben zu können.“

08637/ Ariola 16) Chuck Berry: Roll over Beethoven (1956) 2:26 Express 659748-2 Kein LC track <1>

Das war’s: das Original von Chuck Berry, „Roll over Beethoven – tell Tschaikowsky the news“. Damit geht die 46. Sendung der Reihe “Ludwig van Beethoven” zu Ende. Gut, dass es ein Wiederhören gibt, am nächsten Sonntag! Bis dahin Tschüss und Adieu, sagt Eleonore Büning.

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