NORBERT WASZEK und die Haskala in zwei innerjüdischen Rückblicken des 19. Jahrhunderts: Moritz Daniel Oppenheim und Heinrich Heine1

Die jüdische Aufklärung (oder Haskala) um Moses Mendelssohn war lange ein Stiefkind der Forschung, denn was durch die zwölf Jahre des Hitlerre- gimes unterbrochen worden war, kam auch in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg nur mühsam wieder in Gange. Erst ab den späten 1960er und frühen 1970er Jahren erschienen wieder wichtige Studien, wie die- jenigen von Michael Meyer und Alexander Altmann.2 In den 1990er Jahren gewann die Forschung zwar schon an Momentum,3 doch erst in den letzten zehn Jahren haben sich die einschlägigen Bemühungen zu einer breiteren For- schungsliteratur verdichtet und ausgefächert, aus welcher der Übersichtsband von Christoph Schulte, die Bände von Shmuel Feiner und die umfangreiche Studie Moses Mendelssohn: Begründer des modernen Judentums von Domi- nique Bourel wohl eine besondere Erwähnung verdienen.4 Bestimmten Fragen und Debatten der Forschung – wie etwa über den zeitli- chen Verlauf sowie die philosophiegeschichtliche Einordnung und die inhalt- liche Entwicklung der jüdischen Aufklärung –, soll in der Folge indirekt, über

1 Eine erste Fassung dieses Beitrags wurde am 26. April 2010 im Rahmen der gemeinsamen Ringvorlesung ETH und Universität Zürich „Das Judentum und die Wissenschaften“ vorge- tragen. Für die Tagung in Hagen wurde der Beitrag überarbeitet und um einen dritten Ab- schnitt gekürzt, der gesondert erscheinen soll. 2 M. Meyer, The Origins of the Modern Jew. Detroit 1967 – deutsche Übers. von E.-P. Wiek- kenberg, unter dem Titel: Von Moses Mendelssohn zu : jüdische Identität in Deutschland; 1749-1824. München 1994; A. Altmann, Moses Mendelssohn: a biographical study. London 1973. 3 Gründer/Rothenstreich (Hrsg,), Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht. Heidelberg 1990; Ismar Schorsch, From text to context: the turn to history in modern judaism. Hanover 1994; Michael Graetz, „Jüdische Aufklärung“, in: Breuer (Hrsg.), Deutsch- jüdische Geschichte in der Neuzeit. München 1996, Bd I, 249-358. 4 Ch. Schulte, Die jüdische Aufklärung: Philosophie, Religion, Geschichte. München 2002; Shmuel Feiner veröffentlichte gemeinsam mit David Sorkin den Tagungsband New Perspec- tives on the Haskalah. London & Portland/Oregon 2001, dann auch eine Monographie Maha- pechat haneorut, tenu’at hahaskala hajehudit bameah ha-18. 2002, von welcher die deutsche Ausgabe, übersetzt von Anne Birkenhauer, unter dem Titel Haskala – Jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution erschien: Hildesheim & Zürich 2007. D. Bourel, Moses Mendelssohn: La naissance du judaïsme moderne. Paris 2004; die deutsche Ausgabe, übersetzt von Horst Brühmann, erschien unter dem Titel Moses Mendelssohn: Be- gründer des modernen Judentums. Zürich 2007. Zuletzt erschienen: Gerhard Lauer, Die Rückseite der Haskala: Geschichte einer kleinen Aufklärung. Göttingen 2008, sowie der Ta- gungsband Buchenau (Hrsg.), Haskala et Aufklärung: Philosophes juives des Lumières alle- mandes. Paris 2009 [Revue Germanique internationale. Neue Folge, N° 9]. 386 NORBERT WASZEK die Rezeptionsgeschichte des 19. Jahrhunderts nachgegangen werden. Statt diese Rezeptionsgeschichte erschöpfend darstellen zu wollen, soll es dabei ex- emplarisch um zwei ihrer unbestrittenen Höhepunkte gehen, die sich in vielfa- cher Hinsicht ergänzen: neben , den sicher bedeutendsten deutsch-jüdischen Schriftsteller, soll der nur wenige Jahre jüngere Moritz Da- niel Oppenheim (1800-1882) treten, der herausragende Maler des emanzipier- ten jüdischen Bürgertums. Dass der Weg über die Rezeptionsgeschichte kein Umweg ist, dürfte in der Durchführung selbst deutlich werden, doch seien zwei Argumente für diese Vorgehensweise schon eingangs angesprochen. Zu- nächst gelingt es dem Maler wie dem Schriftsteller, vieles, was sonst nur trok- kene Gelehrsamkeit bliebe, lebendig vor unsere Augen treten zu lassen. Dann wird der Griff zur Rezeptionsgeschichte auch dadurch legitimiert, dass Heine und Oppenheim so erfolgreich waren. Heines Bücher wurden und werden mehr gelesen (Oppenheims Bilder werden mehr betrachtet), als diejenigen von Mendelssohn selbst oder gar diejenigen der noch unbekannteren Maskilim, der weiteren Vertreter der jüdischen Aufklärung. Unsere Wahrnehmung der Haskala ist daher unausweichlich und entscheidend von dieser Wirkungsge- schichte geprägt. Wenn es eine der Grundregeln der Hermeneutik ist, in den Worten Hans-Georg Gadamers, „soviel geschichtliche Selbstdurchsichtigkeit zu erwerben, wie […] nur irgend möglich ist“,5 dann erwächst daraus auch die Aufgabe, uns voll bewusst zu machen, genau welches Bild von der Haskala uns das 19. Jahrhundert überliefert hat, damit wir es kritisch prüfen können. Speziell für Heine tritt noch ein weiteres, drittes Argument hinzu: mag er als Dichter und Prosaschriftsteller inzwischen auch endlich den Rang eines unbe- strittenen Klassikers errungen haben, wird seine bedeutende Rolle als Histori- ker der Religion und Philosophie wohl immer noch zu wenig anerkannt, seine Leistung als eigenständiger Philosoph gar nur von wenigen gewürdigt. In die- sem Kontext könnten seine Ausführungen über die jüdische Aufklärung, die sich in seinem Buch über die Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland und in anderen Texten finden, exemplarisch zeigen, dass Heine es auch als Vertreter der Philosophie- und Ideengeschichte verdient, ernst ge- nommen zu werden, selbst wenn er unterhaltsam schreibt und sich mit Humor und Ironie ausdrückt.

I. Mit Oppenheims Gemälde zum Begriff und zur philosophiegeschichtlichen Verortung der Haskala

Keinen Zweifel kann es daran geben, dass Moses Mendelssohn (1729-1786) im Zentrum der jüdischen Aufklärung stand. Der aus bescheidenen, ja ärmli- chen Verhältnissen in Dessau aufgestiegene, erst viel später sozusagen als

5 Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophi- schen Hermeneutik. Tübingen 1986 [Gesammelte Werke. Bd 1], 4.