Wolff, E (2008). Ankunft in der Moderne: Aufklärung und Reformjudentum. In: Herzig, A; Rademacher, C. Die Geschichte der Juden in Deutschland. Bonn, 114-121. Postprint available at: http://www.zora.uzh.ch University of Zurich Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich. Zurich Open Repository and Archive http://www.zora.uzh.ch Originally published at: Herzig, A; Rademacher, C 2008. Die Geschichte der Juden in Deutschland. Bonn, 114-121.

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Year: 2008

Ankunft in der Moderne: Aufklärung und Reformjudentum

Wolff, E

Wolff, E (2008). Ankunft in der Moderne: Aufklärung und Reformjudentum. In: Herzig, A; Rademacher, C. Die Geschichte der Juden in Deutschland. Bonn, 114-121. Postprint available at: http://www.zora.uzh.ch

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Originally published at: Herzig, A; Rademacher, C 2008. Die Geschichte der Juden in Deutschland. Bonn, 114-121. Ankunft in der Moderne: Aufklärung und Reformjudentum

Abstract

Die Geschichte der Juden in Deutschland rührt an Grundfragen der Geschichte. Sie ist nicht vorstellbar ohne das Bewusstsein um den Völkermord an den Juden, begangen durch Deutsche in Deutschland und Europa. Dennoch - oder gerade deswegen - wäre es fatal, die Geschichte der Juden in Deutschland auf den Holocaust zu beschränken. Der Weg der Juden bis in die Mitte des politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens im deutschen Kaiserreich war lang und wechselvoll. Er führte von der Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung im Mittelalter über eine Zeit der Duldung bis zur allmählichen Emanzipation der Juden seit der Aufklärung. Die thematisch weit gefächerten Aufsätze in diesem Buch laden dazu ein, das ganze Spektrum jüdischer Geschichte in Deutschland wahrzunehmen, ohne ihr dunkelstes Kapitel auszublenden. 114/115

Ankunft in der Moderne: del ist auf das Engste verbunden mit zwei engen Judenviertel, etwa in der Sabbatruhe liche“, vor allem auch akademische Berufe Begriffen: dem der Haskala – das ist der auf der Gasse aus dem Jahre 1866. Die jüdi- ein. Jüdische Ärzte, von den Christen ebenso Aufklärung und Reformjudentum hebräische Name für die jüdische Aufklä- sche Händlerfamilie sitzt darauf entspannt bewundert wie verteufelt, gab es in be- rungsbewegung des 18. Jahrhunderts – und vor dem Haus mit den geschlossenen Läden schränkter Zahl schon seit Hunderten von Eberhard Wolff dem des sogenannten Reformjudentums, das des bescheidenen Geschäfts. Doch in dieser Jahren, doch im Laufe des 18. Jahrhunderts „Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesell- Anfang des 19. Jahrhunderts die Idee eines vordergründigen Beschaulichkeit hat wurden Juden zunehmend an den Univer- schaft“ – so beschrieb der große jüdische modernen, zeitgenössischen Judentums in Oppenheim den bevorstehenden Wandel sitäten als Studenten zugelassen, erhielten Historiker Jacob Katz den Weg, den die die Praxis umsetzte. bereits angedeutet: Im Türsturz ist die Zahl Promotionsrecht und danach leichter die deutschen Juden in den Jahren zwischen Greifen wir eine Biografie heraus, in der 1789 eingraviert, das Jahr der Französischen Konzession zu praktizieren. Lediglich beam- 1750 und 1850 durchschritten.1 In einer dieser Wandel ganz besonders plastisch Revolution, die mit ihrer Forderung nach tete Ärzte konnten sie ohne die Bürgerrechte gewaltigen Kraftanstrengung machten sie erscheint: diejenige des jüdischen Malers bürgerlicher Gleichheit auch die Gleichheit noch nicht werden. Der Philosoph und Eintritt in neue Berufs- einen immensen kulturellen Wandlungspro- Moritz Daniel Oppenheim (1800–1882). der Juden vor dem Recht meinte. Es waren Kant-Schüler Marcus Herz (1747–1803) welten: der jüdische Rechtsanwalt, Oberge- zess durch, an dessen Ende sozusagen der Geboren in der verordneten Enge des denn auch die französischen Truppen, die im zählt zu den bekanntesten Namen unter die- richtsrat, Abgeordnete Rohbau dessen stand, was man heute als Hanauer Judenviertels und in den geistigen Jahre 1806 die Tore des Hanauer Judenvier- sen neuen jüdischen Ärzten. Auch die Juris- und Emanzipations- modernes Judentum bezeichnet. Dieser Wan- Grenzen traditioneller jüdischer Frömmig- tels auf Dauer öffnen und die Gleichheit der prudenz wurde den Juden schrittweise geöff- kämpfer Gabriel Riesser keit, wurde er zum preisgekrönten Künstler Untertanen sowie die Religionsfreiheit ver- net. Gabriel Riesser (1806–1863) aus Ham- (1806–1863). Kreide- lithografie von Moritz des deutschen Bürgertums zwischen Bieder- künden sollten. burg durfte Jura studieren, wurde aber als Daniel Oppenheim, um meier und Historismus.2 Es soll hier aller- Der Frankfurter konservative Reformer und Jude zunächst nicht zum Anwaltsberuf zu- 1848. dings weder um Oppenheim als Maler gehen zeitweise Oberrabbiner Leopold Stein, der gelassen. Später konnte er doch noch eine noch um den Erfolg und sozialen Aufstieg Oppenheims Bildfolge fantasievoll betextete, Juristenkarriere machen, wurde 1848 Abge- einer einzelnen Person. Es geht vielmehr las ein weiteres Detail des Wandels in das ordneter der Nationalversammlung in der darum, an seinem Beispiel zu zeigen, wie ein Werk hinein: Während die alte Mutter im Frankfurter Paulskirche und endete als an- beträchtlicher Teil vor allem der städtischen Vordergrund noch die „jüdisch-deutsche gesehener Obergerichtsrat. Mehrfach por- deutschen Juden innerhalb von zwei bis drei Weiberbibel“ lese, halte die Tochter des Hau- trätierte Oppenheim diese Symbolfigur eines Generationen ihr Selbstverständnis funda- ses im Hintergrund – in moderne Garderobe neuen Judentums. mental änderten und damit den Eintritt in gekleidet – schon ein deutsches Buch in Hän- die moderne Welt meisterten. den. Der Autobiografie Moritz Daniel Aufbruch Oppenheims zufolge las in der Tat bereits „Ghetto“ seine Mutter bevorzugt deutsche Bücher, Diesen Entwicklungen war ein langer etwa Goethes Hermann und Dorothea, und Bewusstseinswandel vorausgegangen. Seit Oppenheim wurde im Jahre 1800 als Sohn sie ging gerne ins nahe gelegene Theater.3 etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts – in „gottesfürchtiger“ Eltern in der Hanauer Sprache und Bildung sollten zu zentralen Europa stand die Aufklärung in voller Blüte Judengasse geboren. Sie war von zwei gro- Faktoren des anstehenden Wandels im – zeigten sich erste Ansätze der Haskala. ßen Toren begrenzt, die damals noch sonn- gesamten Judentum werden. Und so war es Ihre Vertreter waren die Maskilim, die jüdi- tags und an christlichen Feiertagen ver- auch bei Moritz Daniel. Als kleiner Junge schen Aufgeklärten, die „ein neues jüdisches schlossen blieben. Die „Ghettoexistenz“ der ging er mittwochs noch zaudernd aus dem intellektuelles Milieu“ (Shulamit Volkov) Oppenheims war fest von den jüdischen Judenviertel zur Schönschreibstunde mit schufen.4 Der berühmteste, wenn auch nicht Feiertagen und ihren strengen Regeln struk- christlichen Kindern. Neunjährig konnte er typischste Vertreter der Haskala war der Mehr als nur ein Ghetto- festgehalten. Über der tion, die auch in turiert. Der kleine Moritz Daniel hatte dann das traditionelle Hanauer Gymnasium, jüdische Philosoph Idyll: In dem Ölgemälde beschaulichen Szene mit Deutschland die recht- wenig Kontakt mit christlichen Kindern. Er die Hohe Landesschule, besuchen, lernte (1729–1786). Mit seinem Interesse an Sabbatruhe auf der Gasse der jüdischen Familie, die liche Gleichstellung der besuchte den Cheder, die Elementarschule, Lateinisch und Griechisch und wurde seines Naturwissenschaften, alten und neuen Spra- von 1866 hat Moritz den Feiertag vor ihrem Juden mit sich bringen Daniel Oppenheim geschlossenen Geschäft sollte. um das hebräische Alphabet zu lernen, und Talents wegen von einem kunstsinnigen chen und moderner Philosophie überschritt (1800–1882) bereits erste genießt, ist im Türsturz die Talmud-Tora-Schule für den religiösen christlichen Gönner an die 1772 gegründete er schnell den herkömmlichen jüdischen Anzeichen der Moderne die Jahreszahl 1789 ein- Unterricht. Hanauer Zeichenakademie geholt. Sein Weg Wissenskreis. Neben philosophischen Wer- graviert – das Jahr der Französischen Revolu- In seinen Bildern aus dem altjüdischen Fa- zum bürgerlichen Künstler hatte begonnen. ken übersetzte er die Tora, also die fünf milienleben, entstanden im künstlerischen Und auch hier ist Oppenheim lediglich ein Bücher Mose, ins Deutsche, gedruckt aller- Spätwerk, erinnerte sich Oppenheim – auch einzelnes Beispiel für einen großen Trend. dings in hebräischen Buchstaben. Damit ver- romantisch verklärend – an seine Jugend im Stufe um Stufe traten Juden in „bürger- breitete er den Gebrauch der deutschen Ankunft in der Moderne: Aufklärung und Reformjudentum 116/117

Sprache unter den Juden. Er interpretierte keit kann ein Treffen in dieser Konstellation Eine deutsch-jüdische das Judentum als eine Religion, in der die nie stattgefunden haben, doch das Bild ist Begegnung, die so nie stattgefunden hat: Der Prinzipien der Aufklärung bereits angelegt auch mehr Programm als Abbild: Mit deut- Züricher Prediger Johann seien, vor allem die Rationalität und die licher Zeichensprache demonstriert es, so Kaspar Lavater (1741– Freiheit von Dogmen. Viele andere Maski- der Historiker Christoph Schulte, wie weit 1801) und der Schrift- lim folgten dem Trend, das jüdische Reli- Mendelssohn, der in einem bürgerlich steller Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) zu gionsgesetz nicht mehr als etwas Überzeit- anmutenden Ambiente den Besuch zweier Besuch bei Moses Men- liches zu sehen, sondern als dem geschicht- prominenter Christen empfängt, das Ghetto delssohn (1729–1786), lichen Wandel unterworfen: Die lange tal- damals bereits hinter sich gelassen hatte. so wie Moritz Daniel mudische Tradition habe den nützlichen Oppenheim es sich in sei- nem Gemälde aus dem Kern verschüttet. Ihren Ausdruck fand diese „Verbesserung“ Jahr 1856 vorstellte. neue Bewegung in einer eigenen Zeitschrift Links am Tisch sitzend in hebräischer Sprache mit dem Titel „Ha Doch das Bild geht tiefer. Es hält in der Per- ist Mendelssohn darge- Meassef“ (Der Sammler). Das Hebräische son Lavaters auch die Problematik dieses stellt, rechts Lavater, hin- ter dem Tisch stehend sollte so als lebendige Kultursprache auch Kontakts fest: Während Mendelssohn als Lessing. Mendelssohns jenseits der Gottesdienste Verwendung fin- zurückhaltender Denker erscheint, beugt Frau Fromet tritt im den. Gegen die rasante Ausbreitung des sich Lavater weit über den Tisch zu seinem Hintergrund rechts mit Deutschen unter den Juden konnten sich Gegenüber vor, sogar das Tischtuch ist einem Tablett ins Zim- mer, um die Gäste zu diese Versuche aber nicht durchsetzen. schon verrutscht. Die eine Hand hat Lavater bewirten. Mit deutlicher 1792 gründeten junge männliche Berliner auf ein aufgeschlagenes Buch gelegt, viel- Zeichensprache demons- Der Begründer der Juden einen ebenso aufklärerisch-reformeri- leicht die Bibel, mit der anderen berührt er triert das Bild, wie weit „Wissenschaft des Juden- schen wie philanthropischen Verein mit dem den jüdischen Philosophen am Arm. Er Mendelssohn – als Gast- tums“, 5 geber zweier prominenter (1794–1886; oberes Namen „Gesellschaft der Freunde“. 1819 bedrängt Mendelssohn gleichsam. In der Tat Christen – das jüdische Bild), war vor allem im schlossen sich intellektuelle Juden wie Leo- wollte sich der christliche Prediger mit dem Ghetto bereits hinter sich jüdischen Bildungswesen pold Zunz (1794–1886) und Eduard Gans aufgeklärten Rabbiner religionsphiloso- gelassen hat. engagiert. Er gründete (1798–1839) in einem „Kulturverein“ (Ver- phisch streiten: Mendelssohn solle, so Lava- 1819 unter anderem zusammen mit dem Juris- ein für Kultur und Wissenschaft der Juden) ter 1769, die Wahrheiten des Christentums ten und Philosophen zusammen, dem auch zeit- widerlegen oder zu diesem übertreten. Letzt- Eduard Gans (1798– weise angehörte. In ihrer „Wissenschaft des lich geriet Lavater mit seinem Vorstoß aber 1839; unteres Bild) den Judentums“ ging es um eine von zeitgenössi- in die Kritik christlicher Kollegen. In seinem Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden. schen wissenschaftlichen Ideen bestimmte Gemälde stellt Oppenheim denn auch den Der „Kulturverein“ Neubestimmung dessen, was das eigentliche stehenden Lessing in skeptischer Distanz zu erstrebte eine wissen- Wesen des Jüdischen sei. Lavater dar. Der forderte Mendelssohn ja – schaftliche Neubestim- Mit der Haskala ging ein verstärkter Kon- angesichts der Unmöglichkeit eines solchen mung des Jüdischen. Seit 1823 gab Zunz auch die takt zu Vertretern der christlichen Bevölke- „Wahrheitsbeweises“ des Christentums – „Zeitschrift für die Wis- rungsmehrheit einher. Beispielhaft ist hier letztlich auf, seine jüdische Identität preis- senschaft des Juden- die Freundschaft zwischen Moses Mendels- zugeben, wollte er als Philosoph weiter thums“ heraus. sohn und dem Schriftsteller Gotthold Eph- akzeptiert werden. Und Lavater wollte die raim Lessing (1729–1781). Moritz Daniel Spielregeln dieses Streits bestimmen. Oppenheim griff dieses Thema 1856 in Das ist nur zu typisch für den sogenannten einem Historiengemälde mit dem Titel Lava- deutschen Sonderweg der Judenemanzipa- ter und Lessing bei Moses Mendelssohn auf. tion. Viele christliche Aufklärer wollten den Auf dem Bild sieht man Mendelssohn und Juden erst dann die Gleichberechtigung zu- den Züricher Prediger Johann Kaspar Lava- erkennen, wenn sie sich ihrer als „würdig“ ter (1741–1801) im Gespräch am Tisch sit- erwiesen hätten. Der preußische Kriegsrat zend, während Lessing hinter dem Tisch Christian Wilhelm Dohm (1751–1820) fass- steht und Mendelssohns Frau Fromet gerade te dies 1781 in den griffigen Buchtitel Die ein gefülltes Tablett hereinträgt. In Wirklich- bürgerliche Verbesserung der Juden, der Ankunft in der Moderne: Aufklärung und Reformjudentum 118/119 fortan das Schlagwort der Emanzipations- liebe. Sie wollten, dass ihre Religion sich Stolzer Vertreter einer debatte war. Es hieß, man könne die Juden nicht im Befolgen traditioneller formeller neuen Generation deut- scher Juden: Moritz nur emanzipieren, wenn sie etwa als Solda- Regeln erschöpfte, sondern dem neuen, ver- Daniel Oppenheims Die ten „nützlich“ seien und am Sabbat das breiteten Bedürfnis nach Innerlichkeit und Heimkehr des Freiwilli- Kämpfen nicht verweigerten. Auch könne Erbauung entgegenkäme. Sie unternahmen gen aus den Befreiungs- man sie erst emanzipieren, wenn sie nicht Anstrengungen dafür, dass die nachwachsen- kriegen zu den nach alter Sitte lebenden Seinen von mehr nur den damals als „unproduktiv“ de Generation junger Juden eine gute welt- 1833/34 zeigt einen jun- angesehenen Beruf des Händlers ausübten, liche Ausbildung erhielt und „produktiven“ gen jüdischen Soldaten in sondern stattdessen als „produktive“ Bauern Berufen wie den Handwerken nachgehen Husarenuniform, der zu oder Handwerker tätig seien. Weitere „Ver- konnte. Schließlich wollten sie erreichen, seiner Familie zurück- kehrt. Er hat sich in den besserungs“-Forderungen kursierten. Vor dass die Juden der Nation, in der sie gleich- Kriegen gegen die napo- der Emanzipation sollten die Juden doch bit- berechtigte Bürger sein wollten, auch als leonischen Armeen zwi- te ihre so schrecklich anzuhörende Sprache, Soldaten dienen könnten. schen 1813 und 1815 das „Judengemauschel“, aufgeben, nicht Von diesem Wunsch erzählt eines der be- ausgezeichnet – zu erken- nen ist das Eiserne Kreuz mehr nach Juden riechen, keine „barbari- kanntesten und bedeutsamsten Bilder Mo- – und wird dafür von sei- schen“ Bräuche wie die Beschneidung der ritz Daniel Oppenheims. Es ist Die Heim- nen Angehörigen bewun- neugeborenen Knaben pflegen und in der kehr des Freiwilligen aus den Befreiungskrie- dert. Allerdings ist er Synagoge ebenso ruhig sitzen, wie es die gen zu den nach alter Sitte lebenden Seinen während der traditionel- len Nachmittagsmahlzeit Kirchgänger täten. Gefordert war eine um- von 1833/34. Es zeigt einen zu seiner Fami- des Sabbat angekommen fassende Assimilation, die die Grundlagen lie zurückgekehrten jungen Juden in Husa- und hat folglich das des jüdischen Selbstverständnisses in Frage renuniform. Er hat Deutschland als Soldat Gesetz der Sabbatruhe gestellt hätte. Dahinter stand zwar die Be- gegen die napoleonischen Armeen in den übertreten. Das jüdische Religionsgesetz scheint reitschaft, die Juden als Individuen anzuer- „Befreiungskriegen“ zwischen 1813 und für ihn keine uneinge- kennen, aber in letzter Konsequenz auch die 1815 verteidigt. Die um ihn stehende Fami- schränkte Geltung mehr Forderung, sich als kulturelle und soziale lie bewundert seine Uniform und seine in zu haben. Gruppe aufzulösen – und vielleicht sogar im der Schlacht erlittene Verletzung. Der Vater christlichen Bürgertum aufzugehen. besieht sich die errungene Auszeichnung des Dabei spielten offensichtlich verwurzelte Sohnes, das Eiserne Kreuz, ein Symbol der antijüdische Vorstellungen mit. Selbst ein deutschen nationalen Ehre. Der Stolz, sich Lessing war nicht frei davon. Juden, so der für das Land, in dem sie lebten, als „nütz- Tenor, hätten ihren schlechten Charakter lich“ erwiesen zu haben, wurde von vielen aufgrund ihrer gedrückten Verhältnisse. jüdischen Soldaten geteilt. Auch einige von Damit lag die Schuld für die angebliche Oppenheims Nachbarn aus der Hanauer Schlechtigkeit der Juden zwar nicht in ihnen Judengasse hatten sich freiwillig gemeldet. selber, doch bediente diese Sichtweise immer noch das Stereotyp, dass sie de facto mora- Traditionen im Wandel lisch schlecht seien. Ansonsten aber überschnitten sich die For- Um auf diese Weise ein „nützlicher“, moder- derungen der christlichen Emanzipationsbe- ner Bürger zu sein, bedurfte es allerdings fürworter in großen Teilen mit denen der einer neuen Auffassung dessen, was jüdisch jüdischen Aufklärer. Die Maskilim, und spä- sei. Im Heimkehr-Bild hat Oppenheim dies ter die Vertreter der jüdischen Reformbewe- subtil angedeutet. Der Sohn und Soldat gung, verlangten zum Beispiel, dass die kommt nämlich während der traditionellen Beschneidung nicht nur nach den Regeln des Nachmittagsmahlzeit des Sabbat an – und Talmuds, sondern auch gemäß den damali- hat damit offensichtlich das Religionsgesetz gen Erkenntnissen der Medizin durchgeführt der Sabbatruhe übertreten, wie Norman werde. Dies entspräche dem für das Juden- Kleeblatt festgestellt hat. Die Halacha, das tum geltende Grundprinzip der Menschen- jüdische Religionsgesetz, stellt für den Sohn Ankunft in der Moderne: Aufklärung und Reformjudentum 120/121

demnach keine Selbstverständlichkeit mehr Tage nach dem Tod vermerken, weisen die jüdischen Geschichte sah diesen Kultur- wusstseins gelesen werden. Das Heimkehr- dar. Es wird auf den Prüfstand zeitgenössi- Verstorbenen eindeutig als Maskilim aus. wandel als Selbstaufgabe. Diese Ansicht ver- Bild spielt zwar auf das biblische Gleichnis scher Lebensanforderungen gestellt. „Liberale“, reformorientierte Juden hielten traten strenggläubige Juden, die in der Tra- des verlorenen Sohnes an. Aber dieser Sohn All dies geschah vor dem Hintergrund der sich auch nicht mehr so streng an die Speise- dition der Religionsgesetze den wesentlichen kehrt nicht reumütig zurück, sondern „er- großen Reformbewegung im Judentum des gesetze oder die Sabbatruhe. In Grundpfeiler für das Weiterbestehen des hobenen Hauptes“, gleichsam als Vertreter frühen 19. Jahrhunderts. Am Anfang stand am Main weigerte sich eine Reformgruppie- Judentums seit der Zerstörung des Tempels einer erfolgreichen neuen Generation. Ande- eine Gottesdienstreform. Die Aktivisten for- rung in den 1840er Jahren, ihre neugebore- und der Zerstreuung in der Diaspora sahen. re Bilder zeigen die alte jüdische Tradition derten die Einführung einer auf Deutsch nen Knaben beschneiden zu lassen. Zur glei- Es ist kein Zufall, dass als Reaktion auf die als Hort höchster bürgerlicher Werte wie gehaltenen Predigt. Die Einführung der chen Zeit trafen sich viele deutsche Reform- Reformen eine jüdische „Neoorthodoxie“ den der Familie. Die Bilder sind auch aus- Orgelmusik (zum Teil nach christlichem rabbiner zu den berühmt gewordenen „Rab- entstand. Doch auch der Reformer Leopold drücklich an ein christliches Publikum Vorbild) kam dem allgemeinen Bedürfnis binerversammlungen“, in denen sie die Zunz hatte sich gegen die Abschaffung der gerichtet, etwa wenn eines mit Der Oster- dieser Zeit nach einer Gefühls- und Erbau- Grenzen einer religiösen Neuausrichtung Beschneidung mit dem Satz geäußert: „Ein Abend (anstatt korrekter „Der Pessach- ungsreligion entgegen. Das überlieferte Reli- ausloteten. Sie gehörten nicht mehr zu der Selbstmord ist keine Reform.“ Der radikale Seder“) betitelt ist. Mit ihnen wollte Oppen- gionsgesetz wurde an vielen Stellen in Frage alten, vor allem im Talmud geschulten Gene- Vorschlag auf einer der Rabbinerversamm- heim ein selbstbewusstes, der damals ver- gestellt. Viele Maskilim, allen voran Marcus ration, sondern hatten nun häufig eine welt- lungen, den Sabbat auf den Sonntag zu ver- breiteten judenfeindlichen Ikonografie Herz, wollten den Brauch abschaffen, Ver- liche Universitätsausbildung oder gar den legen, kam nicht einmal zur Abstimmung. entgegengesetztes Bild der Juden vermitteln. storbene noch am selben Tag zu beerdigen. Doktortitel. Und viele warteten nicht mehr Es handelte sich also nicht um Selbstaufga- Die Reformbewegung selbst hatte in den Sie wollten dadurch verhindern, dass je- auf die Erlösung, sich „nächstes Jahr in be, sondern um das Entstehen einer neuen, 1840er Jahren ihren Scheitelpunkt über- mand aus Versehen lebendig begraben wur- “ treffen zu können. Stattdessen man könnte sagen „hybriden“ modern-jüdi- schritten. Nichtsdestotrotz bilden viele ihrer de. Grabsteine, die eine Beerdigung erst drei war nun die Diaspora zu ihrer Heimat und schen Kultur. David Sorkin wies vor einigen Ideen die Grundlage des Selbstverständnisses Utopie geworden. Jahren darauf hin, dass die reformierten eines großen Teils heute lebender Juden. Juden mit modernen jüdischen Vereinen und Jüdische Tradition als Selbstbewusste Bürger jüdischer Konfession Zeitschriften wie der „Allgemeinen Zeit- 1 Vgl. Katz: Aus dem Ghetto. – Weiterführende Litera- Ausdruck wahrer bürger- schrift des Judentums“ seit 1837 eine jüdi- tur: Meyer (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte, Bd. licher Werte: Moritz II; Herzig/Horch/Jütte (Hg.): Judentum und Aufklä- Daniel Oppenheims Der In diesem neuen Verständnis war die Reli- sche „Subkultur“ innerhalb der bürgerlichen rung; Meyer: Antwort auf die Moderne; Schulte: 7 Oster-Abend aus der gion auf bestimmte Zeiten, etwa die Feierta- Gesamtkultur etabliert hätten. Simone Läs- Jüdische Aufklärung. Serie der Bilder aus dem ge, oder bestimmte Orte, etwa die Synagoge, sig geht noch weiter. Ihre These: Die deut- 2 Vgl. Heuberger/Merk (Hg.): Moritz Daniel Oppen- altjüdischen Familien- begrenzt. Das Judentum wurde so auf die schen Juden des 19. Jahrhunderts übernah- heim. leben setzt ein selbstbe- 3 Vgl. Oppenheim: Erinnerungen. wusstes Gegengewicht Rolle einer Konfession reduziert. Das zeigte men die Werte des Bürgertums ihrer Zeit so 4 Vgl. Volkov: Juden in Deutschland. gegen die verbreiteten sich auch rein äußerlich. Den reformierten früh und intensiv, dass sie sich nicht etwa an 5 Dazu Panwitz: Gesellschaft der Freunde. antijüdischen Bilder die- Juden sah man ihr Judesein nicht mehr an dieses ja gerade erst im Entstehen begriffene 6 Vgl. Weber: Oppenheim als Künstler. ser Zeit. Der Titel des der Kleidung oder an der Haartracht an. In Phänomen anpassten, sondern es wesentlich 7 Vgl. Sorkin: Transformation. 8 Bildes, das korrekt 8 Vgl. Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum. eigentlich „Der Pessach- einem frühen Selbstbildnis von 1814–16 mitbegründeten und prägten. 9 Vgl. Gotzmann: Das neue altjüdische Leben. Seder“ heißen müsste, porträtierte sich Oppenheim als junger bür- Auch hierfür kann Moritz Daniel Oppen- weist darauf hin, dass es gerlicher Künstler ohne jüdische Attribute. heim als Beispiel herangezogen werden. auch an ein christliches Später stellte er die Mitglieder der Familie Denn er hörte selbst auf dem Gipfel seines Publikum gerichtet war. Der Holzstich nach dem Rothschild in verschiedenen Ölporträts Erfolges als bürgerlicher Porträtmaler nicht Originalgemälde von nicht als Juden, sondern vor allem als Bür- auf, sich als Jude zu verstehen und dies auch Oppenheim wurde 1867 ger ohne großen „Pomp“ (Annette Weber) offen deutlich zu machen – etwa in den spä- in der christlich-bürger- dar.6 ten Werken, in denen er das längst verloren lichen Zeitschrift „Die Gartenlaube“ abge- Hatten sich die „Reformjuden“ einfach nur gegangene „altjüdische Familienleben“ fest- druckt. den Forderungen der christlichen Umwelt hielt. Diese Bilder sind nämlich allenfalls unterworfen und sich assimiliert, das heißt nebenbei romantische Reminiszenzen an wie ein Chamäleon angepasst? Die Zahl eine vergangene jüdische Epoche, wie der derer, die zum Christentum übertraten und Historiker Andreas Gotzmann hervorgeho- damit ihr „Eintrittsbillet in die europäische ben hat.9 Die uns heute bieder oder kitschig Kultur“ (Heinrich Heine) erhielten, war in erscheinenden Szenen können ihm zufolge dieser Zeit höher als sonst. Eine Lesart der genauso als Ausdruck jüdischen Selbstbe-