978-3-412-51597-3_becker_End.indd AlleSeiten nach wie seine Positionierung innerhalb der Kunstwissenschaft. Dokumenteunpublizierter von Lebensweg Simsons eindringlich ebenso übernahm. Der vorliegende Band zeichnet auf der Grundlage zahlreicher Verantwortung und kulturpolitische Berlin für Deutschland zurückgekehrt, aufmerksamen Beobachter der Zeitgeschichte, der, 1957 nach Europa ben über. entwickelte Im amerikanischen Exil er sich seit 1939 zu einem junge George-Verehrer während zum der katholischen NS-Diktatur Glau- zum Protestantismus hatte, bekehrt trat gebürtig, der schwärmerische Aus demderts. jüdisch-preußischen das sich Großbürgertum, schon früh zuWissenschaftler den innovativsten Kunsthistorikern des 20. Jahrhun- desMalerei 19. zählt der Jahrhunderts, weltanschaulich konservative Symbolik des gotischen zu Kirchenbaus, Rubens und zur deutschen politischen Ikonographie, zum Wechselspiel von Kunst und Liturgie, zur zur Beiträge seine für Berühmt Berlin. Universität Freien der an schichte vonOtto Simson (1912–1993) für Ordinarius Kunstge-war langjähriger

I. Becker / I. Herklotz (Hg.) Otto von Simson 1912–1993 92–1 3 9 19 – 1912 OTTO VON SIMSON und Kulturpolitik Zwischen Kunstwissenschaft Ingeborg Becker / Ingo Herklotz (Hg.) 29.08.19 11:01 Ingeborg Becker/Ingo Herklotz (Hg.): Otto von Simson 1912 – 1993

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Studien zur Kunst 43

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Ingeborg Becker/Ingo Herklotz (Hg.)

Otto von Simson 1912 – 1993 Zwischen Kunstwissenschaft und Kulturpolitik

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Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der ­wissenschaftlichen Forschung.

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Umschlagabbildung: Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass 290

Satz: büro mn, Bielefeld Druck und Bindung: Hubert & Co. BuchPartner, Göttingen Printed in the EU

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-412-51598-0

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Inhalt

Vorwort ...... 7

Hans Gerhard Hannesen Otto von Simson, Repräsentant einer jüdisch-protestantisch-preußischen Gesellschaft, beheimatet in der katholischen Kirche ...... 11

Anna Maria Voci Inhalt „Et in Arcadia ego!“ ...... 33 Inhalt Otto von Simsons Tagebuch seiner italienischen Reise im Frühjahr 1932

Ingo Herklotz Peter Paul Rubens ­zwischen Geistesgeschichte und politischer Ikonographie . . . 79 Die Münchner Dissertation von 1936

Karen Michels „Eine Empfehlung vom lieben Gott persönlich“ ...... 113 Wie man als jüdisch-­katholischer Kunsthistoriker einen Weg in die USA fand

Carola Jäggi Kunst zwischen­ Propaganda und Liturgie: Otto von Simsons Sacred Fortress . . . 125

Bruno Klein Eckstein oder Schlussstein ...... 143 Otto von Simsons The Gothic Cathedral/Die gotische Kathedrale

Ingo Herklotz Chicago und das Abendland ...... 175 Schritte zur Remigration

Ingeborg Becker Der Blick nach Innen ...... 241 Otto von Simson und die Malerei des 19. Jahrhunderts

Thomas Gaehtgens Erinnerungen an Otto von Simson in Berlin ...... 263

Bildnachweise ...... 275 Personenregister ...... 277

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Vorwort Vorwort Vorwort

Im Dezember 1937 richtete Walter Friedlaender, seit kurzem Professor am Institute of Fine Arts in New York, ein Empfehlungsschreiben für einen seiner ehemaligen Freiburger Studen­ ten an das amerikanische Committee for Catholic Refugees from Germany. Darin heißt es:

Ich kenne Otto von Simson seit einigen Jahren. Ich habe sein freundliches und bescheidenes Benehmen stets als besonders angenehm empfunden und mich stets für ihn interessiert. Er sieht gut aus, spricht recht gut englisch, und ich habe das Gefühl, dass die meisten Leute – auch hier – ihn ausgesprochen gern haben. Doch ist er recht nervös, leicht erschrocken und vielleicht etwas unselbstständig, wenigstens oft sehr hilfsbedürftig, auch etwas überzart (auch physisch leicht anfällig), schwärmerisch-r­omantisch. Eigentlich sehr deutsch (älteren Styls) – woran sein (mehr als 50 %) sogenanntes „nicht arisches“ Blut der Simsons… und der Mendelsohns wohl nicht hindert. […] Er ist ein Mann von wirklicher wissenschaftlicher Leidenschaftlichkeit. Es würde mir leid tun, wenn ein solch feiner – aber nicht sehr wider- standsfähiger – Geist sich vorzeitig zersplitterte und sich in mediokren Tätigkeiten totliefe.1

Friedländers damals fünfundzwanzigjähriger Otto von Simson (1912 – 1993) scheint mit jenem Hochschullehrer, den einige der Autoren ­dieses Bandes erlebt haben, keine nennens­ werten Gemeinsamkeiten aufzuweisen.2 „Ihr“ Otto von Simson war ein Mann klarer Prinzipien, der wusste, was er wollte, und für seine Überzeugungen kämpferisch eintreten konnte – dabei nicht unbedingt freundlich, sondern gewiss auch Stimmungen ausgesetzt und in der Begegnung mit dem jüngeren Gegenüber bisweilen durchaus ironisch und sogar ein wenig von oben herab. Eine gewisse Weltfremdheit, wie Friedländer sie anspricht, hatte er sich bewahrt, doch fragte man sich stets, was daran echt, was hingegen Attitüde sei. Die skizzierte Polarisierung mag jene Wegstrecke andeuten, die abzuschreiten dieser Band sich vorgenommen hat. Es geht nicht darum, dass eine Gruppe von Wissenschaftlern, die gleichsam noch als Zeitzeugen gelten können, sich auf ihre akademischen Wurzeln rückbesinnt; die Zielsetzung besteht vielmehr darin, ein Lebenswerk historisch-­kritisch zu würdigen. Weit gefächerte Forschungen zur neueren Fachgeschichte, die in den letz- ten Jahrzehnten erschienen sind, bieten entsprechende Anknüpfungspunkte. Nach den Klassi ­kern der Disziplin, nach Warburg, Panofsky, Riegl, Wölfflin und Dehio, rückten jüngst auch Wind, Goldschmidt, Pevsner, Saxl, Kitzinger, Sedlmayr und andere in den Mittelpunkt vergleichbarer Betrachtungen. Nicht zufällig sind es immer wieder die Ver- treter der Emigrantengeneration, die das besondere Interesse der Jüngeren auf sich ziehen,

1 Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 41, Mappe 2. 2 Der vollständige Name ist Otto Georg August Eduard von Simson. Seine frühen Publikationen sind Otto Georg von Simson, die späteren nur noch Otto von Simson signiert.

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8 | Vorwort denn ihre methodischen Impulse haben das Fach nachhaltig verändert und ihre Lebens- läufe faszinieren sowohl aufgrund der Brüche wie auch angesichts der ihnen eigenen Kontinuitäten. Dieser bereits stattlichen Phalanx nun auch Otto von Simson einreihen zu wollen, hätte fraglos eine wissenschaftsgeschichtliche Berechtigung. Auf ihn gehen wesentliche Impulse zur Etablierung dessen zurück, was man heute als „politische Iko- nographie“ bezeichnet. Mit dem Zusammenspiel von Kunst und Liturgie setzte er sich Jahrzehnte, bevor ein solcher Ansatz dauerhaft Fuß fasste, auseinander. Von ihm stammt schließlich der wohl bedeutendste und folgerichtig am breitesten rezipierte Versuch einer Architekturikonographie der gotischen Kathedrale. Zugleich weist aber auch von Simsons Vita eine Reihe an Besonderheiten auf, die ihn von den „typischen“ Vertretern der kunsthistorischen Emigration nachdrücklich unter- scheiden. Dass er innerhalb der Kunstwissenschaft zu einer verschwindend geringen Zahl von Remigranten gehörte, ist vielfach betont worden. Doch geben schon die früheren Abschnitte seines Curriculums Ungewöhnliches zu erkennen. Obwohl aus rassischen Gründen diskriminiert, emigrierte er 1939 nicht als Jude, sondern als Katholik, mehr noch als konvertierter Katholik, der sich erst kurz zuvor von seiner durch und durch protestantischen Erziehung losgesagt hatte. Die Wirkung des Katholizismus auf seinen Lebensweg und das wissenschaftliche Werk stellt somit eine der Leitfragen des vorlie- genden Buches dar. Spätestens bei Ende des Krieges gehörte dann aber auch Friedlän- ders „schwärmerisch-­romantischer“ von Simson der Vergangenheit an. Wie kein anderer emigrierter Kunsthisto­riker hat sich Otto von Simson nach 1945 dafür eingesetzt, den erneuten Brückenschlag ­zwischen den USA und Europa, insbesondere Deutschland, zu ermöglichen. Getragen wurde dieses­ Bemühen von dem Bewusstsein eines gemeinsamen kulturellen Erbes, einer abendländischen Tradition, für welches gerade die an Europäern so reiche Universität Chicago und das dort angesiedelte multidisziplinäre Committee on Social Thought mit seiner christlich konservativen Prägung einen fruchtbaren Nährboden ausbreitete. Eben diese Verantwortung für das kulturelle Erbe und für Deutschland ver- anlasste von Simson 1957, seine Universitätslaufbahn zurückzustellen und ein zweites Ich in der Politik, vorab der Kulturpolitik, zu entfalten. Wir kennen diese Verbindung von Wissenschaft und Politik aus den Kreisen der Historiker – Theodor Mommsen, Heinrich von Sybel, Ludwig Quidde oder in jüngerer Zeit Carl Jacob Burckhardt, mit dem von Simson persönliche Kontakte unterhielt, zählen zu den berühmtesten Vertretern einer solchen Symbiose. In der Kunstgeschichte ist sie einmalig geblieben. Natürlich schloss sich von Simson mit seinem Eintritt ins Auswärtige Amt und der anschließenden Tätig- keit für die UNESCO der Tradition seiner eigenen Familie an. In deren Geschichte und die seiner Geburtsstadt Berlin schrieb er sich dann auch ein, als er konkurrierenden Angeboten aus Chicago und Oxford zum Trotz 1964 den ihm angetragenen Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Freien Universität übernahm. Dass sein politisches Engagement nach der Rückkehr an die deutsche Universität ganz in Richtung der Hochschulpolitik gedrängt wurde, gehörte sicherlich zu den am wenigsten gewollten Entwicklungen in seinem Leben. Zu sehr erinnerten ihn, den liberal Gesinnten, die späten sechziger Jahre, die er als Dekan der philosophischen Fakultät durchzustehen hatte, an das, was er in den

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Vorwort | 9 dreißiger Jahren erleben musste. Doch leistete er diesmal Widerstand. Die Hunderte und Aberhunderte von Seiten, die seinen administrativen, juristischen und auch publi- zistischen Kampf für eine andere Hochschule bezeugen, gehören zu den bedrückendsten Teilen seines Nachlasses. Das Wirken über die Universität hinaus, mit dem er letztlich in Chicago begonnen hatte, bestimmte dann erneut die späten Jahre. Erinnert sei an den Einsatz für die Berliner Schlösser und Gärten oder an seine Gefechte zur Neuordnung der Berliner Museen nach 1989. Die Gründung der Guardini-­Stiftung und die Einrich- tung der Europäischen Universität Erfurt – auch dies waren Anliegen jener Zeit, die der vorliegende Band beleuchtet.

Aus Anlass seines 25. Todestages wurde Otto von Simson im Mai 2018 eine internationale Tagung gewidmet, die im Weiterbildungszentrum der Freien Universität Berlin stattfand. Die Vermittlung des sympathischen Tagungsortes ging auf den damaligen Universitätsprä- sidenten der Freien Universität Peter-­André Alt zurück, am Gelingen des Ablaufs hatte die Geschäftsführerin des Zentrums Karin Abel entscheidenden Anteil. Den Referenten dieses­ Symposiums gelang es in erfreulich kurzer Zeit, ihre Beiträge auch in schriftlicher Form vorzulegen. Die Bearbeitung des Nachlasses Otto von Simsons in der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz wurde von den dortigen Mitarbeitern, insbesondere durch den Leiter der Handschriftenabteilung Eef Overgaauw, tatkräftig unterstützt. Kathleen Feeney half beim Durchsehen der umfangreichen Otto von Simson Papers der University of Chicago Library, und Diana L. Sykes machte mit selbstlosem Einsatz die entsprechenden Materialien der Hoover Institution Archives (Stanford University) zugänglich, w­ elche die amerikanische Phase des Gelehrten ebenfalls beträchtlich erhellen. Von Anbeginn stieß unser Vorhaben auf das Interesse der Familie von Simson, Jutta und John von Simsons vor allem, die auch zahlreiche Photographien für die Ausstattung dieses­ Bandes zur Verfügung stellten. Um dessen redaktionelle Betreuung bemühten sich Angelika Fricke (Universität Marburg) und Kirsti Doepner vom Böhlau-V­ erlag. Den Verlagskontakt stellte Elisabeth Roosens her. Ihnen allen danken wir von Herzen. Ohne die finanzielle Unterstützung, die uns von Freunden Otto von Simsons zukam, hätte das Projekt mit Tagung und Publikation nicht in dieser Zeitspanne und in ­diesem Umfang verwirklicht werden können. Wir danken deshalb sehr herzlich für ihr groß­zügiges Entgegenkommen, das einer Persönlichkeit gilt, die für ihr kulturpolitisches Engagement gerade in Berlin außerordentlich wichtig war.

Berlin und Marburg, im Februar 2019 Ingeborg Becker Ingo Herklotz

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Hans Gerhard Hannesen Otto von Simson, Repräsentant einer jüdisch-protestantisch-preußischen Gesellschaft, beheimatet in der katholischen Kirche

Jeder, der bei Otto von Simson studiert hat, wird die Intensität nicht vergessen haben, mit der er die Architektur und Kunst der Gotik als Ausdruck theologischer Auseinan- dersetzungen darstellte. Ich erinnere mich sehr genau an die Behandlung des Südportals Hans Gerhard Hannesen des Straßburger Münsters Unserer Lieben Frau mit den Skulpturen von Ecclesia und Synagoge (Abb. 1), bei der die Interpretation der ikonographischen Herleitung aus der Bibel durch die sehr persönliche Lebenserfahrung Otto von Simsons geprägt zu sein schien. In dem von ihm herausgegebenen und teilweise verfassten Band 6 der ‚Propyläen Kunstgeschichte‘ schreibt er zu den beiden Bildwerken, sie ­seien, wie in Otto von Simson in der katholischen Kirche keiner anderen Darstellung des in der Kathedralplastik geläufigen Themas aufeinander und auf Salomon bezogen, der, ganz ungewöhnlich, hier im Mittelpunkt ist. Quelle der Darstellung ist das Hohe Lied […]. Diese Bedeutung beruht darauf, daß man Salomon als Typ Christi betrachtete, die beiden Bräute, deren Stimme man im Hohen Lied zu vernehmen meinte, als Kir­ che und Synagoge, als Christentum und Judentum, die sich am Ende der Zeiten in gemeinsamer Liebe zu ihrem göttlichen Bräutigam vereinen werden […]. Die besondere Schönheit der Synagoge ist hier sozusagen ikonographi- sches Attribut: Der Vers des Hohen Liedes ‚Du bist schön, meine Freundin […]‘ ist vom Mittelalter auf die Vertreterin des Alten Testaments bezogen worden. Wie stets erscheint Synagoge auch in Straßburg mit einer Binde vor den Augen, da sie, noch nicht ‚entschleiert‘, die Offenbarung Christi noch nicht erkannt hat… Der Gedanke der Versöhnung der beiden Testamente ist mithin dem Programm der Fenster wie dem Figurenzyklus gemeinsam.1

Die Erinnerung an die bald nach der Veröffentlichung gehörte Vorlesung und die Kenntnis der eng mit dem Aufstieg Preußens verbundenen Familiengeschichte Otto von ­Simsons gaben den Ausschlag für den folgenden Beitrag. Jüdisch, protestantisch, preußisch,

1 Propyläen Kunstgeschichte Band 6, Das Mittelalter II: Das Hohe Mittelalter, hg. von Otto von Simson, a. M./Berlin/Wien 1972, 246. Dazu auch: Otto von Simson, Le Programme sculptural du transept méridional de la cathédrale de Strasbourg, in: Bulletin de la Societé des Amis de la Cathédrale de Strasbourg, 10, 1972, hier 33 – 50 ; wiederabgedr. in: Otto von Simson, Von der Macht des Bildes im Mittelalter. Gesammelte Aufsätze zur Kunst des Mittelalters, hg. von Reiner Haussherr, Berlin 1993, 77 – 100.

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12 | Hans Gerhard Hannesen

Abb. 1 Ecclesia und Synagoge, Straßburger Münster, südliches Querhausportal, 1225, Abbildung der Originalskulpturen im Frauenhausmuseum katholisch: mit diesen Begriffen als Orientierung soll im Folgenden versucht werden, sich Otto von Simson zu nähern. Zwar hat sich Simson als Kunsthistoriker weder mit dem Judentum noch mit Preußen betreffenden Fragen schwerpunktmäßig auseinandergesetzt. Vielmehr verbinden wir mit seinem Werk die großen Themen­ Ravenna, Gotik, Rubens. Er hat sich mit der spanischen Malerei des Goldenen Zeitalters und mit deutscher Malerei des 19. Jahrhunderts befasst, aber auch mit Pop-Ar­ t und Joseph Beuys.2 Die folgenden Überlegungen sollen anregen darüber nachzudenken, wie weit seine wissenschaftlichen Arbeiten durch seine Herkunft, die politischen Umstände vor Beginn des Zweiten Weltkriegs und die Konversion zum Katholizismus geprägt sind. Zur Vorbereitung ­dieses Beitrags waren einige Dokumente und Typoskripte sehr hilf- reich, die sich im Nachlass Otto von Simsons in der Berliner Staatsbibliothek befinden,

2 Otto von Simson, Kreuzigung. Das Bekenntnis des Mystikers Joseph Beuys (und dessen Spirituali- tät am Beispiel der Arbeit ‚Kreuzigung‘ in der Staatsgalerie Stuttgart), in: ‚Wir sehen jetzt im Spie- gel rätselhaft‘. Otto von Simson zum Gedächtnis (Trigon, Bd. 5), hg. von der Guardini-­Stiftung, Berlin 1996, 272 – 274.

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Otto von Simson in der katholischen Kirche | 13 insbesondere der Bericht seines aus Polen stammenden Studienfreundes Joseph Alexander Graf Raczyński: Mit Otto gemeinsam Erlebtes. 1930 – 1939,3 wobei ich mich auf die biogra- phischen Hinweise beschränke. Hilfreich war auch die Aufzeichnung eines Interviews, das von Simson 1991 dem Historiker Richard Cándida Smith gab.4 Persönliche Erinnerungen sind jedoch immer selektiv und das, was davon im Rückblick in Aufzeichnungen oder einem Interview weitergegeben wird, muss mit dem Bild übereinstimmen, das sich der jeweilige Autor zur Zeit der Erinnerung von sich selbst macht. Erst gemeinsam mit zeit- geschichtlichen Dokumentationen und schriftlichen Quellen lassen autobiographische Äußerungen eine Beurteilung zu.

Jüdischer Hintergrund der Familie

Jeder Mensch ist bewusst oder unbewusst durch seine Herkunft geprägt. Eltern, Familie und gesellschaftliches Umfeld bestimmen seine Entwicklung (Abb. 2). Wenn also ein Staat, wie der NS-Staat, eine Zuordnung durch ein absurdes Rassengesetz vornimmt und damit Ausgrenzung, brutalste Verfolgung und Massenmord begründet, so wird daraus, nolens volens, für den so Eingruppierten auch ein Teil der selbst empfundenen Identität. Der extreme Gegensatz von familiärer Tradition und politischer Lage in der Zwischenkriegs- zeit dürfte bei dem jungen Otto von Simson immer wieder zu massiver Verunsicherung, ja Ambivalenz geführt haben. Doch zweifellos wuchs Simson in dem Bewusstsein auf, zu einer der führenden Familien in Preußen zu gehören. Technische Innovation und Industrialisierung hatten, durch Wissenschaft und kulturelle Entwicklung befördert, Preußen stark gemacht. Dadurch war eine großbürgerliche Klasse entstanden, deren heterogener Ursprung im 18. und 19. Jahrhundert sowohl im alten Stadt- bürgertum als auch im Handwerk und – insbesondere bei jüdischen und bei zum Protes- tantismus konvertierten Familien – im Handel wurzelte, aber auch gerade bei dem, was man Bildungsbürgertum nannte, im protestantischen Pfarrhaus oder – bei der jüdischen Minderheit – in Rabbinerfamilien. Ein besonderes Kapitel bildete, trotz deren starker Assi- milation in die Mehrheitsgesellschaft, die mühsame Emanzipation der Juden. Waren sie einerseits Motor der Modernisierung der jeweiligen Staaten, in denen sie lebten, wurden sie andererseits von einem Teil der christlichen Bevölkerung wegen der diese verunsichernden Veränderungen durch Industrialisierung und Ökonomisierung, die man besonders jüdi- schen Unternehmern zuordnete, abgelehnt und als nicht zur Nation gehörend bekämpft.

3 Joseph Alexander Graf Raczyński: Mit Otto gemeinsam Erlebtes. 1930 – 1939 (Auszüge aus: Erin- nertes. 1914 – 1948), Kopie eines Typoskripts, Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 42. 4 Art Historian Otto von Simson interviewed by Richard Cándida Smith [1991]. Art History Oral Documentation Project, University of California Los Angeles and Getty Center for the History of Art and the Humanities, Typoskript 1994, Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von ­Simson), Kasten 43. Siehe auch: https://www.archinform.net/arch/22884.htm [Zugriff: 15. Dez. 2018].

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14 | Hans Gerhard Hannesen

Abb. 2 Die Eltern Martha von Simson geb. Oppenheim (1882 – 1971) und Ernst von Simson (1876 – 1941), um 1901

Ein herausragendes Beispiel bürgerlicher und jüdischer Emanzipation stellt das Leben von Otto von Simsons bedeutendem Vorfahren Eduard von Simson dar,5 der 1810 in Königs- berg in eine jüdische Kaufmannsfamilie geboren und mit 13 Jahren getauft wurde. Nach Schule, Dienst in der Preußischen Armee und Jurastudium wurde er bereits 1829, mit nur 19 Jahren, in Königsberg promoviert. Mit einem zweijährigen königlichen Reisestipen- dium trat er seine erste Studienreise an, die ihn nach Berlin, Weimar, , Paris und Heidelberg führte. Er begegnete Friedrich Carl von Savigny, Friedrich Schleiermacher, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Barthold Georg Niebuhr. Doch besonders wird in seinem Tagebuch der durch Carl Friedrich Zelter vermittelte Besuch bei Goethe zu dessen 80. Geburtstag hervorgehoben und die Einladung zum Festessen im Hotel Ele- phant.6 Mit seinem besonderen Interesse an Altertumswissenschaft, Rechtsgeschichte,

5 Felix Hirsch, Eduard von Simson. Das Problem der deutsch-­jüdischen Symbiose im Schatten Goethes und Bismarcks, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Bd. 16, 1965, 261 – 277; Günther Meinhardt, Eduard von Simson, Bonn 1981. 6 Hilde Herrmann, Große Deutsche Familien X: Die von Simsons, in: Neue Deutsche Hefte, hg. von Paul Fechter und Joachim Günther, Mai 1955, H. 14, 125 – 126, Tagebuchauszug vom 29. August 1828.

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Otto von Simson in der katholischen Kirche | 15 aber auch Literatur und Musik war bereits der hohe Bildungskanon seiner Familie über die nächsten Generationen vorgegeben. 1848/49 stand er als Präsident der Frankfurter Nationalversammlung an der Spitze der Kaiserdeputation, die Friedrich Wilhelm IV. seine Erwählung zum Deutschen ­Kaiser überbrachte. Als diese Mission scheiterte, legte Simson das Präsidentenamt nieder. Im folgenden Jahr war er Präsident des verfassungs- vereinbarenden Erfurter Unionsparla­ments, 1867 des sich neu konstituierenden Reichs- tags des Norddeutschen Bundes. In dieser Funktion überbrachte er im Oktober 1867 dem preußischen König Wilhelm I. die Adresse des ersten verfassungsmäßigen Norddeutschen Reichstages auf die Burg Hohenzollern. Drei Jahre später, im Dezember 1870, reiste er an der Spitze einer Deputation nach Versailles und überbrachte Wilhelm I. die Adresse des Norddeutschen Reichstags, durch die der Monarch gebeten wurde, die Kaiserwürde anzunehmen. Auch im Reichstag wurde Eduard Simson zum Präsidenten gewählt. Diese beeindruckende Laufbahn wurde 1888 gekrönt, als ihm Friedrich III. den Schwarzen Adlerorden verlieh und ihn in den erblichen Adelsstand erhob. Waren also die auf Bildung basierende herausragende Emanzipationsgeschichte und damit auch die politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen des liberalen Bürger- tums Illusionen, die 1933 brutal zerplatzten? Waren für diejenigen, die als Juden zum Protestantismus konvertierten, die damit verbundenen ethischen Überzeugungen im Nachhinein irreal? In ihrer Zeit waren sie Wirklichkeit, auch wenn wir heute, mit dem Wissen um den Holocaust, nicht mehr daran glauben können, dass einmal errungene Freiheiten eine Garantie für die Zukunft bedeuten. Otto von Simson wird diesen Zwie- spalt leidvoll empfunden haben. Für die Persönlichkeitsprägung des 1912 geborenen Otto von Simson war zuerst Preu- ßen vor 1933 bestimmend und damit sowohl die Geschichte seiner Familie als auch deren Lebensform. Wie viele der Familien mit jüdischem Hintergrund standen auch seine Ver- wandten den zeitgenössischen Reformbewegungen sehr offen gegenüber. Patriotismus und Monarchismus waren ihnen kein Gegensatz zu den gesellschaftlichen Modernisierungs- prozessen und zu den Erneuerungen in allen Bereichen der Künste seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Das von Otto Bartning (1883 – 1959) entworfene großzügige Elternhaus in Dahlem setzte sich deutlich vom prunkvollen Historismus der Kaiserzeit ab (Abb. 3 – 4). Ein Bedürfnis nach Bequemlichkeit und Behaglichkeit war zu den weiterhin üblichen Repräsentationsansprüchen getreten.7 Auch das eindrucksvolle, von Alfred Messel ent- worfene und 1907/8 errichtete Landhaus des Großvaters Franz Oppenheim 8 am Großen

7 Vgl. dazu: Werner Durth, Wolfgang Pehnt und Sandra Wagner-­Conzelmann, in: Otto Bartning, Architekt einer sozialen Moderne, hg. von der Akademie der Künste und Wüstenroth Stiftung (Ausst.-Kat.), Berlin 2017, 26. 8 Franz Oppenheim (1852 – 1929, gest. in Kairo/Ägypten) war Chemiker und Industrieller. Seine ­Mutter Margarethe Mendelssohn war eine Urenkelin Moses Mendelssohns. In erster Ehe war er mit Else Wollheim (1858 – 1904) verheiratet, mit der er vier Kinder hatte, darunter Martha O­ ppenheim, verheiratete von Simson (1882 – 1971), die M­ utter Otto von Simsons. In zweiter Ehe, seit 1907, war er mit Margarete Eisner, verwitwete Reichenheim, verheiratet, die seit 1904 über die Galerie Paul Cassirer eine große Sammlung insbesondere französischer Impressionisten aufgebaut hatte. Franz

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16 | Hans Gerhard Hannesen

Abb. 3 Otto Bartning, Landhaus Ernst von Simson in Berlin-­Dahlem, Messelstraße, Straßenseite, 1911/12

Wannsee entsprach dieser Haltung. Paul Baumgarten, u. a. Architekt der benachbarten Villa des Malers Max Liebermann, und der Direktor der Hamburger Kunsthalle Alfred Lichtwark, der mit Liebermann befreundet war, waren an der Gestaltung des Gartens Oppenheims beteiligt, und wie bei dem Maler schmückten auch hier Skulpturen des Tierbildhauers August Gaul die Anlage. Hier konnte Otto bereits als Heranwachsender die bedeutende Kunstsammlung französischer Impressionisten mit Werken von Cézanne, van Gogh und Manet bewundern. Für seinen Vater Ernst von Simson, der damit ganz in der Tradition seiner Familie stand, war das Streben nach humanistischer Bildung selbstverständlich. Als er 1898, noch als junger Rechtsreferendar und als Einjähriger bei den Ulanen dienend, vermittelt durch seinen Onkel Fritz Jonas, die Gelegenheit erhielt, für Theodor Mommsen die ersten Kor- rekturen für dessen Werk über das Römische Strafrecht zu lesen, nahm er freudig an.9 Im Nachlass seines Sohnes finden sich sorgfältige Ausarbeitungen über Geschichte, lateinische

Oppenheim trat 1880 bei der Actiengesellschaft für Anilinfabriken (Agfa) ein, um seinen erkrank- ten Schwager und Gründer der Fabrik Paul Mendelssohn-B­ artholdy zu vertreten. Seit Gründung der I. G. Farben AG 1925 war er Mitglied in deren Verwaltungs- und Aufsichtsrat. 9 Briefwechsel mit Theodor Mommsen und Erinnerungen an Theodor Mommsen, masch. M­ anuskript, in: Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 40, Mappe 3.

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Otto von Simson in der katholischen Kirche | 17

Abb. 4 Eingangshalle des Elternhauses, Berlin-­Dahlem, Messelstraße

Dichter und zahlreiche Schriftsätze, die seine umfassende humanistische Bildung deut- lich machen.10 Der Protestantismus spielte im Leben der vollständig assimilierten Familie eine selbst- verständliche und prägende Rolle. Nicht nur die Nachkommen Eduard von Simsons waren evangelische Christen. Auch die Nachkommen von Moses Mendelssohn, ­diesem Vorbild von Lessings Nathan der Weise, auf den sich ein Familienstrang mütterlicherseits zurückführen lässt, waren zum Protestantismus konvertiert. Eng war die Verbindung zu dem Pfarrer der Neuen ­Kirche, Berlin, Dr. Paul Kirmß, der die Predigten bei den Familien­ festen und Trauerfeiern hielt und die Kinder Otto sowie alle seine Geschwister taufte.11 Ernst von Simson, von 1918 bis 1922 leitender Mitarbeiter und schließlich Staatssekretär im Auswärtigen Amt, war auch nach seinem Rückzug in den einstweiligen Ruhestand, als er zu einem prominenten Vertreter der deutschen Wirtschaft wurde, weiterhin diploma- tisch für das Deutsche Reich tätig. Hans-H­ einrich Herwarth von Bitterfeld, der ihm 1930 in der Deutschen Botschaft in Paris als Attaché zugeordnet war, als er Vorsitzender der Kommission war, die mit der französischen Regierung über eine vorzeitige Rückgliede­ rung des Saargebiets an Deutschland verhandelte, schrieb über ihn:

10 Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 40, Mappe 4, und Kasten 15, Mappe 1. 11 Siehe dazu Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 40, Mappe 2.

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Abb. 5 Der 12-jährige Otto mit seinem 13-jährigen Freund und Verwandten Robert Warschauer vor der Gartentreppe des Hauses der Familie Warschauer, Berlin-­Grunewald, Dachsberg 10

Seine Interessen waren außerordentlich vielseitig, so daß ich ständig von ihm lernen konnte. Er kannte die Memoiren des 19. Jahrhunderts wie kein anderer und verstand es, die euro- päische und vor allem die französische Geschichte für mich lebendig zu machen, wenn wir die historischen Stätten von Paris und Umgebung besuchten. Gemeinsam gingen wir in Museen und Antiquitätenläden, an ihm war ein Kunsthistoriker oder Antiquar von Format verloren gegangen. Niemand konnte sich seinem Charme entziehen.12

Als der junge Otto von Simson seinen Vater in Paris besuchte, zeigte ihm von Herwarth die Stadt. Nach dem Krieg sollten sie sich an der Universität Chicago wiedersehen, wo Otto von Simson eine Professur für Kunstgeschichte innehatte. Von Herwarth berichtet, er habe ihm zugeredet nach Deutschland zurückzukehren und ins Auswärtige Amt ein- zutreten, damit seinem Vater folgend, der in seinem Leben immer geistesgeschichtliche und politische Interessen gemeinsam gepflegt hatte.13 Zweifellos waren die Tradition

12 Hans von Herwarth, Zwischen Hitler und Stalin. Erlebte Zeitgeschichte: 1931 – 1945, Frankfurt a. M. u. a. 1982, 29. 13 Ebd.

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Abb. 6 Vita, Martin, Else, Dorothea, Otto und Anni von Simson im Haus Messelstraße, um 1927/28. Links an der Wand ein Gartenbild von Max Liebermann

­seiner Familie und das Vorbild seines Vaters wesentlich für die Persönlichkeitsentwick- lung Otto von Simsons. Der Junge wuchs in einer liebevollen und ihn fördernden Umgebung mit fünf Geschwis- tern auf (Abb. 5 – 7). Auch die aus der späteren Zeit des Exils erhaltenen Briefe der Eltern sind warmherzig und voll Fürsorge. Seine drei Jahre jüngere Schwester Vita Petersen (1915 – 2011), die, auch mit Unterstützung Max Liebermanns, Malerin wurde, nach ihrer Emigration nach New York in der dortigen Kunstszene mit Hans Hofmann, Franz Kline, Willem de Kooning und Jackson Pollock befreundet war und zur ersten Generation der New York School gehört, erinnert sich an die Sommernächte ihrer Kindheit, in denen Otto im Nachthemd auf dem glyzinienbewachsenen Balkon stand, um im Mondschein Gedichte zu schreiben, „und ich mußte Wache stehen“14. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 zerstörte in der Folge für Millionen von Menschen aus rassistischen und politischen Gründen die Grundlage ihres Lebens und schließlich ihr Leben selbst. Die Entwicklung ging schnell, wenn auch die Tragweite vieler Eingriffe in bürgerliche Rechte selbst den Betroffenen erst allmählich

14 Lisa Zeitz, Auf Empfehlung Liebermanns, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Mai 2007.

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Abb. 7 Otto von Simson mit der zweiten Frau seines Großvaters Margarete Oppenheim, 1931, bei der Hochzeit seiner Schwester Else mit Otto Friedrich Achim von Arnim

bewusst wurde. Bereits am 15. Juli 1933 wurde Ernst von Simson aufgrund des am 7. April erlassenen Gesetzes zur Wiedereinführung des Berufsbeamtentums, § 6, in den dauernden Ruhestand versetzt, vertrat jedoch weiterhin wegen seiner großen Kenntnisse seine alte Dienststelle in internationalen Kommissionen, die durch die Locarno-­Verträge gebildet worden waren.15 In einer von antisemitischer Hetze geprägten Umgebung muss es für Ernst von Simson und seine Familie schließlich seit 1935 eine traumatische Erfahrung gewesen sein, den Familienstammbaum nach nichtjüdischen Vorfahren zu überprüfen und die Verdienste der Vorfahren hervorzuheben, um die eigene Lebensperspektive und die der Kinder durch die Herabstufung vom „Volljuden“ zum „Mischling“ zu verbessern.16 Von

15 Norbert Gross, Ernst von Simson. Im Dienste Deutschlands: Von Versailles nach Rapallo (1918 – 1922) (Schriftenreihe des Rechtshistorischen Museums Karlsruhe, Bd. 28), Karlsruhe 2013, 10 – 14. 16 Gross (wie Anm. 15) geht detailliert auf die im Archiv des Auswärtigen Amtes liegende und in der genannten Publikation dokumentierte Korrespondenz ein. So wandte sich Ernst von ­Simson am 11. Dezember 1935 an Reichsaußenminister Konstantin von Neurath mit dem Antrag auf Herabstu- fung zum Mischling gemäß §7 des Beamtengesetzes. Dieser wandte sich daraufhin an den Reichs- und preußischen Innenminister Wilhelm Frick. „[…] Im Falle des Herrn v. Simson liegen somit m. E. schwerwiegende Gründe vom Gesichtspunkt der Allgemeinheit und der deutschen Interessen für seine Befreiung von der Vorschrift, wonach er als mit einer Jüdin verheirateter Abkömmling von zwei volljüdischen Großeltern als Jude zu gelten habe, und für eine entsprechende Behandlung seiner Kinder vor. Ich befürworte daher aus pflichtgemäßer Überzeugung heraus den von dem Staatssekretär

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Otto von Simson in der katholischen Kirche | 21 einer vorgesehenen Passsperre erfuhr – belegt durch einen von ihm gezeichneten Akten- vermerk vom 23. Dezember 1938 – sein ehemaliger Mitarbeiter und Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, der daraufhin verfügte, dass gegen die geplante Wohnsitznahme im Aus- land keine Bedenken bestünden. Am 17. Januar 1939 konnte Ernst von Simson mit seiner Frau Martha über Montreux nach Oxford emigrieren.17 Am 7. November 1941 verstarb er in Oxford, ohne seinen Sohn noch einmal gesehen zu haben. Seine Witwe kehrte nach dem Krieg nach Berlin zurück und starb 1971. In dem bereits erwähnten Interview von 1991 sagt Otto von Simson über seinen Urgroß- vater Eduard (Abb. 8): „he was of Jewish origin and a very devote Evangelical Christian“.18 Mit folgender Episode betont er den Stolz des Ahnherrn auf seine jüdischen Vorfahren: Als Präsident des Erfurter Unionsparlaments im Jahr 1850 sei der Abgeordnete für kurze Zeit sein Generalsekretär gewesen. Als dieser sich aus irgendeinem Grund mit einem Rivalen duellieren wollte, habe ihm Simson dies untersagt. Auf die Bemerkung Bismarcks, nur ein Adliger könne verstehen, worum es geht, solle Eduard Simson geantwortet habe: „Ich komme aus einer Welt jüdischer Priester. Wir sind die ältes- ten Aristokraten der Welt“.19 Wahr oder nicht wahr, die Episode, von Otto von Simson erzählt, beschreibt dessen Sicht auf den jüdischen Ursprung der Familie sehr gut. Sie zu erzählen ist aber auch als eine Reaktion auf die Demütigungen zu verstehen, die er und seine Familie in Deutschland erfahren mussten. Otto von Simson stammte also aus einer Familie, für die die jüdische Herkunft nur noch eine ferne Erinnerung war. Als Mitglied einer Familie, deren gesellschaftlicher Auf- stieg in der Überwindung von Klassen-, Religions- und Rassengegensätzen begründet war, fiel es ihm jedoch, wie auch seinem Vater und der Mehrheit des jüdischen oder jüdisch stämmigen Bürgertums anfänglich besonders schwer, das ganze Ausmaß der Gefahr zu erkennen, die die Machtübernahme der Nationalsozialisten bedeutete.

von Simson gestellten Befreiungsantrag.“ Der Antrag wurde am 26. August 1936 abgelehnt mit der Begründung, dass der Führer und Reichskanzler dem Antrag nicht entsprochen habe. Dazu auch Dieter Neitzert: „Aufgrund einer Besprechung mit Staatssekretär Bernhard Wilhelm von Bülow, in der Simson nahegelegt wurde, seine Kommissionsmandate auslaufen zu lassen, unterstützen Bülow und Neurath im Januar 1936 zwar dessen Bemühen, für sich und seine Kinder eine Herabstufung zu ‚Mischlingen‘ zu erreichen, scheiterten aber schließlich nach achtmonatigem­ Warten auf Antwort.“ Ders., „Das Amt“ ­zwischen Versailles und Rapallo – Die Rückschau des Staatssekretärs Ernst von Simson, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 2012, H. 3, 452. 17 Da die Wohnsitznahme im Ausland mit einer Fortsetzung der Ruhestandsbezüge verbunden war, allerdings unter einem Widerrufsvorbehalt stand, bemühte sich die Personalabteilung des Auswär- tigen Amtes seit November 1940 um die Rücknahme der Erlaubnis. Dazu Dieter Neitzert: „Am 14. Januar 1941 bestätigte Simson der Schweizerischen Gesandtschaft in London den Erhalt dieser Nachricht. […] Wahrscheinlich ist die geplante Ausbürgerung nicht mehr durchgeführt worden, weil Ernst von Simson am 7. Dezember 1941 in Oxford starb und in den Ausbürgerungslisten des Reichsanzeigers nicht genannt wird.“ Neitzert (wie Anm. 16), 453. 18 Art Historian Otto von Simson (wie Anm. 4), 3. 19 Wie Anm. 18.

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Abb. 8 Otto von Simson vor dem Porträt seines Urgroßvaters Eduard von Simson; es wurde 1968 bei einem Einbruch aus dem Haus in der Max-­Eyth-Straße­ gestohlen.

Wie stellte sich die Situation für den Anfang 20-jährigen 1933 in München dar, wo er als Student der Kunstgeschichte lebte? Die Stadt hatte zwar einerseits liberale und welt- offene Seiten, doch erhielt sie auch den NS-Ehrentitel „Hauptstadt der Bewegung“ zu Recht. Hier war 1919 die NSDAP gegründet worden und hier saß die Parteileitung bis Kriegsende. Früh wurde hier die Ausschaltung der politischen Opposition betrieben, mit Dachau das erste Konzentrationslager errichtet und die systematische Verfolgung der Juden in Gang gesetzt. Folterungen und Hinrichtungen schufen ein Klima der Angst für jeden, der sich einer ausgegrenzten Minderheit zugehörig fühlen musste. Doch dürfte für Otto von Simson – trotz einer immer wieder emotional angespannten Gemütslage – noch für eine Weile das Studium und das Leben mit gleichgesinnten Freunden im Vor- dergrund gestanden haben. Dieser Kreis, der von jungen Adligen dominiert wurde und in dem er vor Angriffen sicher sein konnte, gab ihm gesellschaftlichen Halt. Er wird jedoch auch gespürt haben, dass es im extremen Fall den Freunden nicht möglich sein würde, ihn zu schützen. Joseph Alexander Graf Raczyński scheibt über den Beginn ihrer lebenslangen Freund- schaft im Sommer 1932: „Das andere große Geschenk ­dieses Sommers war für mich die Freundschaft mit Otto von Simson.“20 Raczyński verdanken wir eine lebendige Beschreibung der Münchener Jahre. Er berichtet von Ottos großem, schönen Studen- tenzimmer, wo man sich mit Freunden zu „endlosen Gesprächen über Gott und die Welt“ bei einem Glas Wein traf und auf einem Flügel musizierte.21 Zu den Autoren, die den Freundeskreis faszinierten, gehörten neben anderen auch Stefan George und sein Kreis.

20 Raczyński (wie Anm. 3), 113. 21 Ebd., 114.

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Ausführlich beschreibt Raczyński die Faszination und Ambivalenz, die von Wilhelm Pinder ausging.22 Bei ­diesem bedeutenden Kunsthistoriker wollten er und von Simson promovieren.23 Dass er den Nationalsozialismus propagierte, war für sie kein Hinderungs- grund. Die Haltung der meisten Professoren und Dozenten sei, so Raczyński, mit der Machtübernahme erschreckend gewesen. So berichtet er, dass Professor Hugo Kehrer 24 auf einer Fachschaftssitzung im Sommersemester 1933 die Studenten nicht mit „Kommi- litonen“, sondern mit „liebe Arier und Arierinnen“ ansprach.25 Und wie auch von Simson in dem Interview von 199126 erinnert er daran, dass die Privatdozenten Ernst Michalski 27 und Ernst Strauss 28 mit sofortiger Wirkung aus dem bayerischen Staatsdienst als „Nicht- arier“ entlassen worden seien­ 29 – wohl durch Anwendung des bereits erwähnten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Die von der deutschen Studentenschaft durchgeführte Bücherverbrennung, bei der am 10. Mai 1933 in Berlin und 21 weiteren deutschen Universitätsstädten die Werke misslie- biger Autoren in Flammen aufgingen, hatte in München bereits vier Tage vorher auf Ini- tiative der Hitler-­Jugend mit der Aktion wider den undeutschen Geist einen Vorlauf. Alle diese Ereignisse müssen auf den 21-jährigen Otto von Simson einen verstörenden Ein- druck gemacht haben. Nicht unbekannt dürfte ihm gewesen sein, dass im folgenden Jahr

22 Ebd., 114 – 116. 23 Otto von Simson wurde am 14. Februar 1936 promoviert, am gleichen Tag wie der Studienfreund Christian Wolters, Joseph Raczyński einige Monate später. 24 Hugo Ludwig Kehrer (1876 – 1967), Kunsthistoriker und Theologe, habilitierte sich 1909 auf Emp- fehlung Heinrich Wölfflins mit einer umfangreichen Arbeit über Die Heiligen Drei Könige in Litera- tur und Kunst. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit wurde die spanische Malerei. 1933 wurde er Mitglied der NSDAP. Vgl. dazu: Friedrich Piel, Kehrer, Hugo, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 11, Berlin 1977, 400. 25 Raczyński (wie Anm. 3), 116. 26 Art Historian Otto von Simson (wie Anm. 4), 12: „There were, I think, very few – there were some, but very few – who realized from the beginning what this man [Hitler, H. G. H.] was about. So with Pinder, very soon of course the realities appeared. His only two assistants were both Jewish, Ernst Michalski and Ernst Strauss, both very brilliant men. Well, he just dropped them like hot potatoes. They weren’t allowed to stay on.“ 27 Ernst Michalski (1901 – 1936), Kunsthistoriker und Archäologe, habilitierte sich 1931 bei Wilhelm Pinder. Er bemühte sich vergeblich zu emigrieren. Von Pinder liegt ein sehr positives Zeugnis vom 31. Mai 1933 vor: „Ich verbürge mich nicht nur für seinen lauteren und vornehmen Charakter, son- dern auch für seine starke Begabung und seinen ernsthaften Eifer […].“ Dazu: Ulrike ­Wendland, Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil. Leben und Werk der unter dem Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Wissenschaftler, 2. Bde., München 1999, Bd. 2, 438 – 440. 28 Ernst Strauss (1901 – 1981), Kunsthistoriker und Pianist, habilitierte sich 1931 bei Wilhelm Pinder. Nach der Entlassung war er im Kunsthandel tätig, es folgte eine Pianistenausbildung. 1935 emi­ grierte er nach Italien, 1938 in die USA; 1949 Rückkehr nach Deutschland. Dazu Wendland (wie Anm. 27), Teil 2, 669 – 671. 29 Raczyński (wie Anm. 3), 116.

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24 | Hans Gerhard Hannesen sein gleichaltriger Kommilitone Ernst Kitzinger 30 unmittelbar nach seiner Promotion bei Pinder nach England auswanderte, da es für ihn als „Nichtarier“ in Deutschland keine Berufsmöglichkeiten mehr gab. Enttäuschung und Erschrecken über die politische Ent- wicklung in Deutschland seien,­ so betont Raczyński, 1934 zweifellos der Hauptgrund für ihren Entschluss gewesen, das Studium in München abzubrechen und in Paris fortzusetzen.31 Durch die vielen Verbindungen Ernst von Simsons öffneten sich den beiden Studenten in Paris zahlreiche Türen, auch die des NS-kritischen deutschen Botschafters Roland Köster.32 Das Jahr scheint weitgehend unbeschwert gewesen zu sein. Doch werden aus der Ferne die politischen Veränderungen in Deutschland mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Mit Entset- zen nehmen sie den in der französischen Presse ausführlich behandelten Röhm-­Putsch wahr. In seinem Bericht geht Joseph Raczyński immer wieder auf die herzliche und kultivierte Atmosphäre in Ottos Elternhaus in der Berliner Messelstraße und in dem Sommerhaus „Sorgenfrei“ am Schliersee ein. Er erinnert an die gemeinsamen Besuche bei seiner eigenen Familie in Schloss Augustusburg bei Posen, den Ausritten, den Spaziergängen im Park und dem Besuch der Gemäldesammlung Raczyński in Posen. Auch von einem Besuch in Krakau berichtet er und von der Überraschung des Freundes, dort zum ersten Mal der Welt strenggläubiger Juden zu begegnen.

Konversion zum Katholizismus

Bevor die Umstände der Emigration behandelt werden, soll versucht werden, Hintergrund und Beweggrund für die Konversion zum Katholizismus zu beleuchten, die für Otto von Simson wahrscheinlich eine größere Bedeutung hatte, als seine späteren Studenten an der FU Berlin annahmen. Dabei ist nicht gemeint, dass ohne eine genaue theologische Kenntnis das Verstehen und Interpretieren gotischer Sakralbaukunst unvollständig wäre. Zweifellos haben die Verbildlichung von Glaubensgrundsätzen und die Sinnenfreude katholischer Bilderwelten für Kunsthistoriker eine große Faszination. Aber das Eigentliche, Spirituelle des Glaubens zeigt sich doch erst demjenigen, der in seinen existenziellen Krisen in der Religion einen wesentlichen Halt findet. Dies scheint aufgrund der politischen Lage seit 1933 bei Otto von Simson der Fall gewesen zu sein. Doch gehen wir chronologisch vor. Die ­Kirchen, in Preußen insbesondere die protestantische, waren damals noch die stärks- ten gesellschaftlichen Instanzen. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung bekannte sich zu einer der beiden Konfessionen. So war auch deren Haltung zum Nationalsozialismus von großer Bedeutung. Das im Juli 1933 unterzeichnete Reichskonkordat ­zwischen dem Heili- gen Stuhl und dem Deutschen Reich schien vielen die Sicherheit der Katholischen ­Kirche

30 Ernst Kitzinger (1912 – 2003) konnte mit Unterstützung Wilhelm Pinders seine Dissertation beschleu- nigt abschließen, um zu emigrieren. Dazu Wendland (wie Anm. 27), Teil 2, 365 – 371. 31 Raczyński (wie Anm. 3), 122. 32 Roland Köster (1883 – 1935). Dazu Robert W. Mühle, Ein Diplomat auf verlorenem Posten: Roland Köster als deutscher Botschafter in Paris (1932 – 1935), in: Francia, 23/3, 1996, 23.

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Otto von Simson in der katholischen Kirche | 25 vor diktatorischen Eingriffen zu gewährleisten, führte aber auch dazu, den Widerstand von Geistlichen gegen das Regime aus taktischen Gründen zu unterbinden. Mehr als das Tak- tieren der Katholischen Kir­ che wird von Simson, seine Familie und seinen Freundeskreis jedoch das Erstarken der den NS-Staat unterstützenden Deutschen Christen beunruhigt haben, zu denen der Dahlemer Pfarrer Martin Niemöller, der selbst seit 1924 die NSDAP gewählt hatte, inzwischen eine Gegenposition einnahm. Noch am 28. April 1934 hatte der Theologe Dietrich Bonhoeffer, der bereits kurz zuvor öffentlich Stellung gegen die Judenver- folgung genommen hatte, in einem Brief an einen Freund in der Schweiz Niemöller kritisiert:

Was in Deutschland in der Kir­ che los ist, wissen Sie ja wohl ebenso gut wie ich. Der National-­ Sozialismus hat das Ende der Kir­ che in Deutschland mit sich gebracht und konsequent durchgeführt. […] Daß wir vor dieser klaren Tatsache stehen, scheint mir kein Zweifel mehr zu sein. Phantasten und Naive wie Niemöller glauben immer noch, die wahren National- sozialisten zu sein.33

Die Deutschen Christen, deren Vorläufer in starken nationalistischen und rassistischen Strö- mungen innerhalb des deutschen Protestantismus in der Kaiserzeit lagen, hatten schon 1932 in Thüringen begonnen, eine am Führerprinzip orientierte, massiv rassistisch-antisemitische­ ­Kirche zu etablieren. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme steigerten sich die Auseinandersetzungen innerhalb verschiedener Richtungen der Landeskirchen und es kam 1934 unter Mitwirkung Niemöllers zur Gründung der Bekennenden ­Kirche. Eine wichtige Quelle zum Verständnis des Übertritts von Simsons zum Katholizis- mus bildet neben seinen eigenen Erinnerungen erneut der Bericht Joseph Raczyńskis.34 Ebenso wichtig war mir ein Gespräch mit dem Romanisten und Theologen Dr. Herbert Gillessen, dem Pfarrer von Sankt Bernhard in Dahlem, mit dem Otto von Simson in den letzten Lebensjahren ausführliche Gespräche führte.35

33 Ulrich Kabitz, Notizen, in: Dietrich Bonhoeffer, Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer – Maria von Wedemeyer 1943 – 1945, München 2006, 260. 34 Raczyński (wie Anm. 3), 121 und 145. In München machten im Sommer 1935 die Predigten des Erzbischofs Kardinal Michael von Faulhaber (1869 – 1952) in der Michaeliskirche auf Otto von ­Simson und Joseph Graf Raczyński einen tiefen Eindruck. Faulhaber argumentierte deutlich gegen den Antisemitismus, nahm allerdings, wie wir heute wissen, dem Regime gegenüber eine teilweise auch taktisch ambivalente Rolle ein. Ob von Simson als Student bereits den katholischen Theologen und Religionswissenschaftler Romano Guardini (1885 – 1968) kennen gelernt hat? Guardini hatte sich 1935 in seiner Schrift Der Heiland offen gegen die von den Deutschen Christen propagierte Mythisierung der Person Jesu gewandt und die enge Verbundenheit von Christentum und „jüdi- scher Religion“ mit der Historizität Jesu begründet. Jedenfalls war Simson viele Jahre später, 1987, in Berlin Mitbegründer der Guardini-G­ esellschaft, die sich die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur im Geiste Guardinis zur Aufgabe machte. 35 Herbert Gillessen war von 1966 bis 1975 Assistent am Institut für Romanistik der FU und lernte Otto von Simson bei einem Antrittsbesuch im Bischöflichen Cusanus-­Werk kennen, da dieser Ver- trauensperson für die FU Berlin war. Nach seiner Assistentenzeit studierte Gillessen katholische Theologie. Otto von Simson war 1964 als Professor für Kunstgeschichte an die FU berufen worden.

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