LOST – König Der Kampfstoffe Die Unendliche Umweltgeschichte – Teil 1

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LOST – König Der Kampfstoffe Die Unendliche Umweltgeschichte – Teil 1 LOST – König der Kampfstoffe Die unendliche Umweltgeschichte – Teil 1 Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten. Vorwort Beruflich bedingt hatte ich mich um die Jahrtausendwende intensiv mit dem Hautkampfstoff Lost und seiner Geschichte beschäftigt. Da sich das Thema als recht spannend erwies, entschloss ich mich zu einer Veröffentlichung. Eine Vorstellung, wie lang das Ganze werden sollte, hatte ich nicht. Ich fing einfach mal an, zu schreiben. Nach und nach konnte ich aus ganz Deutschland Kampfstoff-Fachleute für Gastbeiträge gewinnen. Von 2000 bis zum Jahr 2002 erschienen dann in der LGA-Rundschau, dem Veröffentlichungsorgan meines Arbeitgebers, die ersten vier Teilbei- träge unter dem Titel „Lost – der König der Kampfstoffe“. Dann wurde die Rundschau „eingestampft“. An ihre Stelle trat die LGA Impulse, ein sicherlich moderneres „leanes“ Organ, in dem aber längere Fachartikel keinen Platz mehr fanden. Das war’s dann mit dem König der Kampfstoffe ... Auch Jahre danach erhielt ich immer wieder positive Resonanz auf den Artikel, nicht nur aus Fachkreisen. Er sei spannend zu lesen, aber trotzdem fachlich und informativ. Er wurde schließlich sogar bei e-bay versteigert. Soviel ich mitbekommen habe, hat aber niemand geboten. Aber immerhin! Im Jahr 2008 hat dann der BDFWT zu mir Kontakt aufgenommen, ob man den Lost-Artikel nicht in den Mitteilungen bringen könnte ... Ja natürlich, gerne! Hier sind also zunächst einmal die ersten vier Teile, die ohne redaktionelle Änderungen aus der Rundschau über- nommen sind. Und mal sehen, vielleicht lässt sich ja der eine oder andere der damaligen Gastautoren reaktivieren und wir setzen gemeinsam dieses spannende Thema fort. Alexander Schwendner im März 2008 Einleitung maschine ein. Unseren Chronometer stellen wir auf das Jahr 1822 ein. Seitdem die Problematik der Rüstungsaltlasten etwa ab Mitte der achtziger Jahre mehr und mehr in unser Umwelt- bewusstsein gerückt ist, sehen sich Politiker und Umwelt- Eine folgenreicheEntdeckung behörden zunehmend auch mit einer Stoffgruppe Es erstaunt, dass der Anfang unserer Lost-Geschichte konfrontiert, die lange Zeit in Vergessenheit geraten bzw. sehr weit, nämlich bis in das Jahr 1822 zurückreicht, als als unangenehme Erinnerung an unsere nationalsozialisti- ein gewisser César Mansuète Despretz (1792-1863) die sche Vergangenheit tabuisiert worden war – die chemi- Verbindung Dichlordiethylsulfid (erst später als Lost schen Kampfstoffe. bezeichnet) aus Ethen und Chlorschwefel erstmals syn- Leider wird diese „mehr als explosive Thematik“ seitens thetisiert hat. Sicherlich geschah dies damals mehr zufäl- der Medien und auch seitens der Bevölkerung sehr emo- lig bzw. aus rein wissenschaftlichen Gründen, denn die tionsgeladen diskutiert – überall dort wo das Schlagwort aggressive und dadurch möglicherweise „nutzbringen- „Giftgas“ fällt, macht sich beinahe eine Art Panik breit. In de“ Wirkung der Verbindung wurde erst viel später im vielen Fällen ist dies, worauf man als Fachmann immer wie- Jahr 1860 von dem deutschen Chemiker Alfred Niemann der hinweisen muss, unbegründet: Viele chemische Kampf- (1834-1861) entdeckt. stoffe sind in der Umwelt nicht persistent und werden bei Eine komplette Prüfung der physikalisch-chemischen Zutritt von Wasser mehr oder minder rasch entgiftet. Eigenschaften nahm schließlich der Chemiker Viktor Doch ist unter den zahllosen Substanzen, die wir – als Meyer (1848-1897) im Jahr 1886 vor – der König der „Krone der Schöpfung“ – uns je ausgedacht haben, ein Kampfstoffe war geboren und „durchgecheckt“. Doch Stoff dabei, der – auch nach fünfzig Jahren im Boden ein- dieses „Durchchecken“ hatte vermutlich bereits Folgen. gegraben – noch heute bei Kontakt tödlich sein kann: In Meyers Biographie heißt es: Oft zwangen Viktor Meyer Der Hautkampfstoff Lost. in den letzten Jahren denn auch leichtere und schwerere Die heimtückische Problematik des Lost musste ich mir Erkrankungen, seine Tätigkeit zu unterbrechen und Erho- stets von Neuem vor Augen führen, als ich für die Heeres- lung zu suchen, die er aber nur unvollkommen fand. Um munitionsanstalt Feucht ein gefahrloses Erkundungskon- schlafen zu können, nahm er Schlafmittel ein, die wohl zept zu entwickeln hatte. Der Feuchter Standort ist einer auch schädliche Nebenwirkungen hatten und dazu beitru- von mehreren bayerischen Rüstungsaltstandorten mit gen, sein Nervensystem noch mehr zu zerrütten. So erlitt Kampfstoffverdacht. er zuletzt des Öfteren Zusammenbrüche, und bei einem Doch wie kam es überhaupt zur Entwicklung einer derart schied er um seinem unerträglich gewordenen Zustand menschenverachtenden Waffe? Um die Zusammenhänge ein Ende zu bereiten, in der Nacht vom 7. auf den 8. zu verstehen, müssen wir weit in unsere Vergangenheit August 1897 freiwillig aus dem Leben. reisen – ja wir lassen auch den Nationalsozialismus hinter Aus heutiger Sicht erscheint sein Tod in anderem Licht, uns – zunächst jedenfalls. Es geht also um deutsche denn die Spätfolgen von Lostvergiftungen wurden erst in Geschichte. Bei manchem Leser mag dieses Wort unange- der Zeit nach dem 2. WK bekannt. Heute weiß man, dass nehme Erinnerungen an die Schulzeit wecken und ich auch erst 10-15 Jahre nach einer Lostexposition sowohl muss gestehen, dass ich in der Geschichtsstunde auch neurotische Störungen, wie Depressionen und Persön- des öfteren wegen Krankheit gefehlt habe. Doch keine lichkeitsverluste als auch körperliche Spätschäden, wie Angst, ich habe versucht, die geschichtlichen Zusammen- Kräfteverfall, Anfälligkeit für Sekundärkrankheiten und hänge, ohne die man die militärchemischen Entwicklun- jahrelanges Siechtum als Symptome auftreten – doch dazu gen nicht nachvollziehen kann, möglichst spannend wird Frau Dr. Linke noch ausführlicher berichten. darzustellen. Lost wurde also rein zufällig und zweckfrei von Wissen- Nun, Kampfstoffe und Lost sind ein sehr komplexes Feld, schaftlern generiert. Damals im Kaiserlichen Deutschland das für einen allein schon fast nicht mehr zu überschauen dachte freilich noch niemand – weder Forschung noch bzw. darzustellen ist. Ich freue mich, dass es mir gelungen Militär – über die Verwendbarkeit der Substanz als Waffe ist, einige der renommiertesten Spezialisten zum Thema nach – zunächst jedenfalls nicht. Dies sollte immerhin Lost in Deutschland als Gastautoren zu dieser Thematik zu noch 30 Jahre dauern. gewinnen. Herzlichen Dank an dieser Stelle für die Mit- Heute muss man sich fragen, wie es im „zivilisierten arbeit. Doch steigen wir nun unverzüglich in unsere Zeit- Europa“ der damaligen Zeit überhaupt zu einem Mas- ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker 20 Mitteilung 2/2008 seneinsatz immer toxischerer chemischer Kampfstoffe Schlieffenplan, Stellungskrieg und kommen konnte. Nun, es war eine schleichende che- misch-kriegerische Eskalation, die mit einer stufenweisen Munitionskrise Abschaltung der Gewissen aller kriegsführenden Par- So brach im Jahr 1914 der Erste Weltkrieg aus. Wer nun teien, insbesondere aber des Deutschen Generalstabes eigentlich angefangen hat, soll uns an dieser Stelle nicht einherging. Doch wollen wir nichts überstürzen, eines interessieren. Trotz der erwähnten massiven waffentech- nach dem anderen. Nachdem wir die Entdeckung und nischen und personellen Aufrüstung der Deutschen Testung des Losts geklärt haben, werfen wir einen Blick Reichswehr und der Marine in den Vorkriegsjahren war auf die damaligen politischen Verhältnisse: Deutschland keinesfalls für einen langen Krieg gerüstet. Historie des Königs der Kampfstoffe 1822 Despretz erhält aus Äthylen und Schwefelchlorür eine zähe, unangenehm riechende Flüssigkeit (unreines Dichlordiethylsulfid) 1854 Riche lässt Chlor auf Äthylsulfid einwirken und erhält unreines Dichlordiethylsulfid 1860 Guthrie untersucht ein über Schwefeldichlorid und Äthylen erhaltenes unreines, nicht destilliertes Produkt und beschreibt dessen physiologische Wirkung. Er gibt an, dass der Stoff in Dampfform auf zarte Hautstel- len wirkt; das Produkt scheint sehr unrein gewesen zu sein, da er Geschmacksproben vornehmen konnte. 1860 Niemann erhält unabhängig von Guthrie aus einem Chlorschwefelgemisch und Äthylen ein unreines Dichlordiethylsulfid, dessen gefährliche physiologi- sche Eigenschaften er beschreibt 1886 Viktor Meyer stellt das reine Dichlordiethylsulfid dar, durch Umsatz von Thiodiglycol mit Phosphortrichlorid 1916 Im Sommer 1916 sollen nach englischen Berichten die physiologischen Eigenschaften von Dichlordiethylsul- fid und seine Verwendbarkeit als Kampfstoff geprüft worden sein. Von einer Verwendung als Kampfstoff Der deutsche Chemiker Victor Meyer wurde auf Grund unbefriedigender Ergebnisse (Bildquelle Deutsches Museum München). Abstand genommen. Auch auf französischer Seite wur- den in diesem Jahr die Kampfstoffeigenschaften von Der Erste Weltkrieg ein Krieg für den Dichlordiethylsulfid für unzureichend erklärt. niemand gerüstet war 1917 Schon bei der Gründung im Jahr 1871 war das Deutsche Auf Grund der Ergebnisse von Flury, Haber, Lommel, Kaiserreich seinen Nachbarn Frankreich und Österreich- Steinkopf u. a. wurde von deutscher Seite der militäri- Ungarn an Bevölkerungszahl (67 Millionen Einwohner), sche Wert des Dichlordiethylsulfids
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