LOST – König der Kampfstoffe Die unendliche Umweltgeschichte – Teil 1

Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten. Vorwort Beruflich bedingt hatte ich mich um die Jahrtausendwende intensiv mit dem Hautkampfstoff Lost und seiner Geschichte beschäftigt. Da sich das Thema als recht spannend erwies, entschloss ich mich zu einer Veröffentlichung. Eine Vorstellung, wie lang das Ganze werden sollte, hatte ich nicht. Ich fing einfach mal an, zu schreiben. Nach und nach konnte ich aus ganz Deutschland Kampfstoff-Fachleute für Gastbeiträge gewinnen. Von 2000 bis zum Jahr 2002 erschienen dann in der LGA-Rundschau, dem Veröffentlichungsorgan meines Arbeitgebers, die ersten vier Teilbei- träge unter dem Titel „Lost – der König der Kampfstoffe“. Dann wurde die Rundschau „eingestampft“. An ihre Stelle trat die LGA Impulse, ein sicherlich moderneres „leanes“ Organ, in dem aber längere Fachartikel keinen Platz mehr fanden. Das war’s dann mit dem König der Kampfstoffe ... Auch Jahre danach erhielt ich immer wieder positive Resonanz auf den Artikel, nicht nur aus Fachkreisen. Er sei spannend zu lesen, aber trotzdem fachlich und informativ. Er wurde schließlich sogar bei e-bay versteigert. Soviel ich mitbekommen habe, hat aber niemand geboten. Aber immerhin! Im Jahr 2008 hat dann der BDFWT zu mir Kontakt aufgenommen, ob man den Lost-Artikel nicht in den Mitteilungen bringen könnte ... Ja natürlich, gerne! Hier sind also zunächst einmal die ersten vier Teile, die ohne redaktionelle Änderungen aus der Rundschau über- nommen sind. Und mal sehen, vielleicht lässt sich ja der eine oder andere der damaligen Gastautoren reaktivieren und wir setzen gemeinsam dieses spannende Thema fort. Alexander Schwendner im März 2008 Einleitung maschine ein. Unseren Chronometer stellen wir auf das Jahr 1822 ein. Seitdem die Problematik der Rüstungsaltlasten etwa ab Mitte der achtziger Jahre mehr und mehr in unser Umwelt- bewusstsein gerückt ist, sehen sich Politiker und Umwelt- Eine folgenreicheEntdeckung behörden zunehmend auch mit einer Stoffgruppe Es erstaunt, dass der Anfang unserer Lost-Geschichte konfrontiert, die lange Zeit in Vergessenheit geraten bzw. sehr weit, nämlich bis in das Jahr 1822 zurückreicht, als als unangenehme Erinnerung an unsere nationalsozialisti- ein gewisser César Mansuète Despretz (1792-1863) die sche Vergangenheit tabuisiert worden war – die chemi- Verbindung Dichlordiethylsulfid (erst später als Lost schen Kampfstoffe. bezeichnet) aus Ethen und Chlorschwefel erstmals syn- Leider wird diese „mehr als explosive Thematik“ seitens thetisiert hat. Sicherlich geschah dies damals mehr zufäl- der Medien und auch seitens der Bevölkerung sehr emo- lig bzw. aus rein wissenschaftlichen Gründen, denn die tionsgeladen diskutiert – überall dort wo das Schlagwort aggressive und dadurch möglicherweise „nutzbringen- „Giftgas“ fällt, macht sich beinahe eine Art Panik breit. In de“ Wirkung der Verbindung wurde erst viel später im vielen Fällen ist dies, worauf man als Fachmann immer wie- Jahr 1860 von dem deutschen Chemiker Alfred Niemann der hinweisen muss, unbegründet: Viele chemische Kampf- (1834-1861) entdeckt. stoffe sind in der Umwelt nicht persistent und werden bei Eine komplette Prüfung der physikalisch-chemischen Zutritt von Wasser mehr oder minder rasch entgiftet. Eigenschaften nahm schließlich der Chemiker Viktor Doch ist unter den zahllosen Substanzen, die wir – als Meyer (1848-1897) im Jahr 1886 vor – der König der „Krone der Schöpfung“ – uns je ausgedacht haben, ein Kampfstoffe war geboren und „durchgecheckt“. Doch Stoff dabei, der – auch nach fünfzig Jahren im Boden ein- dieses „Durchchecken“ hatte vermutlich bereits Folgen. gegraben – noch heute bei Kontakt tödlich sein kann: In Meyers Biographie heißt es: Oft zwangen Viktor Meyer Der Hautkampfstoff Lost. in den letzten Jahren denn auch leichtere und schwerere Die heimtückische Problematik des Lost musste ich mir Erkrankungen, seine Tätigkeit zu unterbrechen und Erho- stets von Neuem vor Augen führen, als ich für die Heeres- lung zu suchen, die er aber nur unvollkommen fand. Um munitionsanstalt Feucht ein gefahrloses Erkundungskon- schlafen zu können, nahm er Schlafmittel ein, die wohl zept zu entwickeln hatte. Der Feuchter Standort ist einer auch schädliche Nebenwirkungen hatten und dazu beitru- von mehreren bayerischen Rüstungsaltstandorten mit gen, sein Nervensystem noch mehr zu zerrütten. So erlitt Kampfstoffverdacht. er zuletzt des Öfteren Zusammenbrüche, und bei einem Doch wie kam es überhaupt zur Entwicklung einer derart schied er um seinem unerträglich gewordenen Zustand menschenverachtenden Waffe? Um die Zusammenhänge ein Ende zu bereiten, in der Nacht vom 7. auf den 8. zu verstehen, müssen wir weit in unsere Vergangenheit August 1897 freiwillig aus dem Leben. reisen – ja wir lassen auch den Nationalsozialismus hinter Aus heutiger Sicht erscheint sein Tod in anderem Licht, uns – zunächst jedenfalls. Es geht also um deutsche denn die Spätfolgen von Lostvergiftungen wurden erst in Geschichte. Bei manchem Leser mag dieses Wort unange- der Zeit nach dem 2. WK bekannt. Heute weiß man, dass nehme Erinnerungen an die Schulzeit wecken und ich auch erst 10-15 Jahre nach einer Lostexposition sowohl muss gestehen, dass ich in der Geschichtsstunde auch neurotische Störungen, wie Depressionen und Persön- des öfteren wegen Krankheit gefehlt habe. Doch keine lichkeitsverluste als auch körperliche Spätschäden, wie Angst, ich habe versucht, die geschichtlichen Zusammen- Kräfteverfall, Anfälligkeit für Sekundärkrankheiten und hänge, ohne die man die militärchemischen Entwicklun- jahrelanges Siechtum als Symptome auftreten – doch dazu gen nicht nachvollziehen kann, möglichst spannend wird Frau Dr. Linke noch ausführlicher berichten. darzustellen. Lost wurde also rein zufällig und zweckfrei von Wissen- Nun, Kampfstoffe und Lost sind ein sehr komplexes Feld, schaftlern generiert. Damals im Kaiserlichen Deutschland das für einen allein schon fast nicht mehr zu überschauen dachte freilich noch niemand – weder Forschung noch bzw. darzustellen ist. Ich freue mich, dass es mir gelungen Militär – über die Verwendbarkeit der Substanz als Waffe ist, einige der renommiertesten Spezialisten zum Thema nach – zunächst jedenfalls nicht. Dies sollte immerhin Lost in Deutschland als Gastautoren zu dieser Thematik zu noch 30 Jahre dauern. gewinnen. Herzlichen Dank an dieser Stelle für die Mit- Heute muss man sich fragen, wie es im „zivilisierten arbeit. Doch steigen wir nun unverzüglich in unsere Zeit- Europa“ der damaligen Zeit überhaupt zu einem Mas- ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

20 Mitteilung 2/2008 seneinsatz immer toxischerer chemischer Kampfstoffe Schlieffenplan, Stellungskrieg und kommen konnte. Nun, es war eine schleichende che- misch-kriegerische Eskalation, die mit einer stufenweisen Munitionskrise Abschaltung der Gewissen aller kriegsführenden Par- So brach im Jahr 1914 der Erste Weltkrieg aus. Wer nun teien, insbesondere aber des Deutschen Generalstabes eigentlich angefangen hat, soll uns an dieser Stelle nicht einherging. Doch wollen wir nichts überstürzen, eines interessieren. Trotz der erwähnten massiven waffentech- nach dem anderen. Nachdem wir die Entdeckung und nischen und personellen Aufrüstung der Deutschen Testung des Losts geklärt haben, werfen wir einen Blick Reichswehr und der Marine in den Vorkriegsjahren war auf die damaligen politischen Verhältnisse: Deutschland keinesfalls für einen langen Krieg gerüstet.

Historie des Königs der Kampfstoffe 1822 Despretz erhält aus Äthylen und Schwefelchlorür eine zähe, unangenehm riechende Flüssigkeit (unreines Dichlordiethylsulfid) 1854 Riche lässt Chlor auf Äthylsulfid einwirken und erhält unreines Dichlordiethylsulfid 1860 Guthrie untersucht ein über Schwefeldichlorid und Äthylen erhaltenes unreines, nicht destilliertes Produkt und beschreibt dessen physiologische Wirkung. Er gibt an, dass der Stoff in Dampfform auf zarte Hautstel- len wirkt; das Produkt scheint sehr unrein gewesen zu sein, da er Geschmacksproben vornehmen konnte. 1860 Niemann erhält unabhängig von Guthrie aus einem Chlorschwefelgemisch und Äthylen ein unreines Dichlordiethylsulfid, dessen gefährliche physiologi- sche Eigenschaften er beschreibt 1886 Viktor Meyer stellt das reine Dichlordiethylsulfid dar, durch Umsatz von Thiodiglycol mit Phosphortrichlorid 1916 Im Sommer 1916 sollen nach englischen Berichten die physiologischen Eigenschaften von Dichlordiethylsul- fid und seine Verwendbarkeit als Kampfstoff geprüft worden sein. Von einer Verwendung als Kampfstoff Der deutsche Chemiker Victor Meyer wurde auf Grund unbefriedigender Ergebnisse (Bildquelle Deutsches Museum München). Abstand genommen. Auch auf französischer Seite wur- den in diesem Jahr die Kampfstoffeigenschaften von Der Erste Weltkrieg ein Krieg für den Dichlordiethylsulfid für unzureichend erklärt. niemand gerüstet war 1917 Schon bei der Gründung im Jahr 1871 war das Deutsche Auf Grund der Ergebnisse von Flury, Haber, Lommel, Kaiserreich seinen Nachbarn Frankreich und Österreich- Steinkopf u. a. wurde von deutscher Seite der militäri- Ungarn an Bevölkerungszahl (67 Millionen Einwohner), sche Wert des Dichlordiethylsulfids erkannt. Für die Fläche, wirtschaftlicher Kraft und militärischer Stärke anfangs als „V-M-Stoff“ bezeichnete Substanz wurde überlegen. Durch die Reichsgründung noch zusätzlich nach langen Versuchen zur industriellen Herstellung verstärkt nahmen Industrie und Wirtschaft einen rasanten der Deckname „Lost“ gewählt, wahrscheinlich gebil- Aufschwung: Die industrielle Produktion versechsfachte det aus den Namen Lommel und Steinkopf; Die häufig sich bis zum Ersten Weltkrieg, die Ausfuhren vervierfach- verwendete Bezeichnung „Gelbkreuz“ rührt von der ten sich. Industrielle Zentren waren das Ruhrgebiet, das Farbmarkierung von mit Lost gefüllter Munition mittels Saarrevier, Oberschlesien und Sachsen. Berlin entwickel- eines gelben Kreuzes her. Im Juli 1917 findet der erste te sich zum Zentrum von Handel und Gewerbe und zum Deutsche Einsatz statt. wichtigsten Standort der Leichtindustrie. Durch dieses Wachstum gestärkt war die damalige Zeit So setzte die damalige Oberste Heeresleitung (OHL) durch imperialistisches Streben nach Kolonien und einer unter dem Oberbefehlshaber Helmuth von Moltke alles damit einhergehenden militärischen Aufrüstung gekenn- auf einen Blitzkrieg. zeichnet. Die ausgleichende Außenpolitik Bismarcks Der sogenannte „Schlieffenplan“ sah vor, Frankreich ent- wurde von Kaiser Wilhelm jedoch nicht fortgesetzt. Dies scheidend zu schlagen, bevor Russland den Osten hatte zur Folge, dass die europäischen Mächte begannen, Deutschlands erobern konnte. Diese Zielsetzung nahm das neue, weltpolitisch auftrumpfende Deutsche Reich als das Risiko eines frühen russischen Vorstoßes nach Westen bedrohlichen Störenfried zu empfinden. So wurde und eines französischen Angriffs auf Elsass-Lothringen in Deutschland immer wieder in außenpolitische Konflikte Kauf, so dass 5 Armeen in einem gigantischen, westlich verwickelt, die von Kaiser Wilhelm II bewusst in Kauf gerichteten Vorstoß durch Belgien und Luxemburg wür- genommen wurden, und die schließlich darin endeten, den vordringen können, gefolgt von einem südlichen dass sowohl England als auch Frankreich und Russland Schwenk nach Frankreich. Die ganze Operation sollte sich abwendeten und Deutschland nur noch Österreich- genau 42 Tage dauern. Ungarn als Bündnispartner hatte. Der Plan war bereits zwischen 1897 und 1905 vom damali- Doch leider kam Deutschland nicht zur Vernunft, im gen Chef des deutschen Generalstabs, Alfred von Schlief- Gegenteil: Dieses Gefühl, eingekreist zu sein, löste in fen, entwickelt worden und wurde nun von seinem Deutschland eine trotzige Stimmung des „Nun erst recht“ Nachfolger, General Helmuth von Moltke, im August 1914 aus. Dieser Zustand wird von Historikern heute treffend in die Tat umgesetzt. Am 1. August 1914 war die deutsche als „neurotischer Massennationalismus“ bezeichnet. Mobilisierung in vollem Gang. Zwischen dem 1. und 3. ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

Mitteilung 2/2008 21 August besetzte die 4. Armee Luxemburg, am Tag darauf Alternativen des Salpeters waren im Labormaßstab drangen die ersten Vorausabteilungen in Belgien ein. bereits erfolgreich von dem deutschen Chemiker Fritz Doch die Strategie ging nicht auf. Der deutsche Vor- Haber, von dem wir noch hören werden, gelöst worden. marsch wurde bereits zu Kriegsbeginn jäh durch die Die großtechnische Umsetzung erfolgte dann in historische Schlacht an der Marne (6.-9. September 1914) Zusammenarbeit mit Carl Bosch in den BASF-Werken in gestoppt. Es entstand eine Frontlinie von der Kanalküste Ludwigshafen. über Reims und Verdun bis zur Schweizer Grenze, die aus Die künstliche Ammoniaksynthese wurde später weltweit einem System von Schützengräben und Artilleriestellun- unter dem Namen „Haber-Bosch-Verfahren“ berühmt. gen bestand. Was folgte, war ein menschen- und materi- Weitere Anlagen entstanden in Oppau und Leuna. Durch alzehrender Stellungskrieg bei dem es für keine der das neue Verfahren konnte nun zwar Nitriersäure in nahe- Kriegsparteien mehr als ein paar Kilometer Landgewinn zu beliebigen Mengen hergestellt werden, doch stellte gab. Ähnlich den heutigen Bundesligaverhältnissen sich nun immer mehr ein Mangel an den Ausgangspro- musste Moltke nach der Niederlage zurücktreten. dukten für die Sprengstoffherstellung (Toluol, Nitrophe- Neuer Chef des Generalstabes des Feldheeres wurde der nol) ein. Dies ist nicht verwunderlich – einige preußische Kriegsminister, Generalleutnant Erich von Zahlenbeispiele sollen zeigen, welche enormen Muni- Falkenhayn (1865-1937), ein kluger Kopf, wie sich schnell tionsmengen an den Fronten tagtäglich verbraucht wur- zeigte. Nach einem Gespräch mit Walther Rathenau, dem den: damaligen Chef der AEG, begriff Falkenhayn sehr Bei einem Angriff auf Gorlice am 2. 5. 1915 verschoss die schnell, dass Deutschland vor großen Schwierigkeiten deutsche Seite auf einer Angriffsfront von nur 15 km aus stand. Die Auflösung der internationalen Beziehungen 1.275 Geschützen 210.000 Granaten. Frankreich verfeuer- und die damit verbundene Kappung der Versorgungs- te bei der Schlacht an der Somme 2,5 Mio. Geschosse. In stränge hatten zu einem gravierenden Rohstoffmangel manchen Schlachten lag der Munitionsverbrauch bei geführt. Insbesondere die Salpeterlieferungen aus Chile 10.000 t pro Tag. Trotz Ammoniaksynthese und Kriegs- waren abgeschnitten. Und ohne Salpeter, der für die rohstoffbehörde – einen Munitionsnachschub in dieser Nitrierung benötigt wurde, konnte weder Pulver noch Größenordnung konnte das Deutsche Reich nicht leisten. Sprengstoff hergestellt werden. Eine Munitionskrise stand unmittelbar bevor. Giftgas als Ausweg So gründete Falkenhayn etwas bis dato neues, eine Falkenhayn musste schnell einen Ausweg finden oder Kriegsrohstoffbehörde. Sie hatte zwei Aufgaben: Erstens kapitulieren. Vielleicht war eine neue Kriegstaktik, neue Rationalisierung und Verteilung strategisch wichtiger Waffen die Lösung? So beauftragte er einen gewissen Rohstoffe und zweitens Herstellung synthetischer Alterna- Major Max Bauer (1865-1937) als Verbindungsmann des tiven des Salpeters. Kurzerhand wurde Rathenau zum Militärs mit der Rüstungsindustrie und der Wissenschaft Chef der neuen Behörde ernannt. Die synthetischen Kontakt aufzunehmen. Wer konnte damals weiterhelfen?

nister ernannt. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs übernimmt er nach der verlorenen Schlacht an der Mar- ne am 14. 9. 1914 anstelle des gescheiterten Helmuth von Moltke als Chef des deutschen Generalstabs die Leitung der militärischen Operationen des Feldheers. Am 20. Januar 1915 gibt Falkenhayn die Leitung des preußischen Kriegsministeriums ab. Gleichzeitig wird er zum General der Infanterie befördert. Er versucht durch den Einsatz von chemischen Kampfstoffen die Entschei- dung im Westen zu erzwingen, scheitert aber vor Ypern, der Durchbruch von Gorlice und die Rückeroberung Galiziens gelingen dagegen. Über die weitere Vorge- hensweise im Osten besteht weder mit dem verbünde- ten österreichischen Generalstabschef noch mit Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff Einigkeit. Er gerät im Jahr 1916 ebenfalls mit dem Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg in Konflikt und wird im August nach dem Scheitern in der Schlacht von Verdun und dem Eintritt Rumäniens in den Krieg von Wilhelm II abgesetzt. Seine Nachfolger sind Hindenburg und Ludendorff in der neu geschaffenen Position des Gene- ralquartiermeisters. Von 1916-1918 ist Falkenhayn noch Armeeoberbefehlshaber in Rumänien, Palästina und an der Ostfront, wird aber 1919 auf eigenen Wunsch verab- schiedet. Er lebt zurückgezogen auf Schloss Lindstedt bei Potsdam und widmet sich der Niederschrift seiner Erinnerungen. So veröffentlicht er 1920 das Buch „Die oberste Heeresleitung 1914-1916 in ihren wichtigsten Entscheidungen“ und 1921 „Der Feldzug der 9. Armee gegen die Rumänen und Russen 1916/17“. Am 8. 4. 1922 stirbt Erich von Falkenhayn auf Schloss Lindstedt. Erich von Falkenhayn (1861-1922) Am 11. 9. 1861 wird Erich von Falkenhayn auf der Burg Falkenhayn’s Einstellung zum Einsatz chemischer Belcha bei Graudenz als Sohn des Gutsbesitzers Fedor Kampfstoffe von Falkenhayn und seiner Frau Franziska (geb. von Da Falkenhayn sich aufgrund der schlechten Rohstoffla- Rosenberg) geboren. 1880 tritt er als Leutnant ins ge gezwungen sah, die Stellungskämpfe so schnell wie Oldenburgische Infanterie-Regiment 91 ein und wird möglich zu beenden, war er dem Einsatz Chemischer 1893 in den in den Großen Generalstab versetzt. Nach Kampfstoffe nicht abgeneigt. Unter seinem Oberkom- drei Jahren als Instruktionsoffizier in China tritt er 1899 mando fand der erste Masseneinsatz von chemischen wieder in die preußische Armee ein und wird dem Kampfstoffen statt. Den kurzzeitigen Geländevorteil ver- Generalstab des ostasiatischen Expeditionskorps zuge- mochte er dann jedoch strategisch nicht auszunützen, teilt 1913 wird Falkenhayn zum preußischen Kriegsmi- was letztlich zu seiner Absetzung führte. ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

22 Mitteilung 2/2008 Es sind keine Unbekannten, die die Idee eines chemi- schen Krieges geboren haben, denn ihre Namen zieren heute in vielen Städten Straßenschilder: – Walter Hermann Nernst (1864-1941, Nobelpreis für Chemie 1920), damals Direktor des Institutes für Physi- kalische- und Elektrochemie der Berliner Universität – (1868-1934, Nobelpreis für Chemie 1918), seinerzeit Direktor des Institutes für Physikalische Chemie und Elektrochemie der Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft in Berlin-Dahlem und Leiter der Chemie- abteilung im Preußischen Kriegsministerium und – Carl Friedrich Duisberg (1883-1935), Direktor des Bayer-Konzerns und späterer Aufsichtsratsvorsitzen- der der I. G. Farben. Eine bezeichnende Wahl. Warum? Nun, die deutschen For- schungszentren, wie z. B. die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (die heutige Max-Plank-Gesellschaft) wie auch die natur- wissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten stellten seinerzeit das Gehirn der deutschen Wirtschaft dar. Groß- industrielle und Bankiers stifteten für die Forschung gro- ße Summen, dafür saßen sie in den Verwaltungsräten der Institutionen. Immer wenn brauchbare Ergebnisse anfielen, waren sie gegenüber der Konkurrenz im Vorteil. Forschen lassen, später Geld verdienen, war ihr Motto. So wurde z. B. mit Geldern des Bankiers Leopold von Koppel, dem Chef der Deutschen Auer Gasglühlicht AG in Berlin und Oranien- burg im Jahr 1911 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Elektro- chemie gebaut. Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass von Koppel den Institutschef selbst aussuchte – Fritz Haber. Haber „dankte“ es ihm kurze Zeit später: Auer erhielt den Großauftrag zur Gasmaskenproduktion (die Carl Friedrich Duisberg (1883-1935) war Vorstandsvorsitzender der Fa. Bayer. Er hielt vor und während des Ersten Weltkriegs die Fäden der Rechte lagen zur anderen Hälfte bei der Fa. Dräger). Kampfstoffproduktion in der Hand (Bildquelle Deutsches Museum Glühlampen und Gasmasken – wie passt dies zusammen, München). wird sich der eine oder andere bestimmt fragen. Nun – eine Glühbirnenfassung und der Filterschraubverschluss Fritz Haber – Chemiker und Patriot einer Maske seien sich sehr ähnlich – so argumentierte Ab Frühjahr 1915 trug Fritz Haber mehr und mehr die Haber damals. Die Fa. Auer sei also geradezu prädesti- alleinige Verantwortung auf dem Gaskampfgebiet, ja er niert für Gasmaskenproduktion. Im Gegenzug wurde wurde zur zentralen Figur der chemischen Kriegsführung. wiederum Dr. Hans Pick, der in der Abteilung C im Haber kam zu dem Schluss, dass der Stellungskrieg nur Haberschen Institut den Gasschutz leitete, in den Direkto- durch den Einsatz weitaus giftigerer Stoffe und deren Ver- renstand von Auer versetzt. Wie man sieht, ging das wendung in großen Mengen zu beenden sei. damals alles recht einfach, einen schwarzen Aktenkoffer So entwarf er eine bis dahin völlig neue Kriegstaktik, das brauchte man nicht. Doch zurück zu unserem Beratergre- Ablassen von Chlor aus Gasflaschen, die entlang der mium. Front eingegraben wurden – ein Verfahren, das nachher Nernst, Duisberg und Haber kamen zu dem Schluss, dass als „Habersches Blasverfahren“ bekannt wurde. Als er bei der Farbenproduktion große Mengen an Brom, Chlor, seine Idee der Militärführung vorstellte, stieß er zunächst Phosgen und anderen giftigen Chemikalien anfielen. Ins- auf wenig Euphorie. Viele konservative Militärs sahen besondere bei der Herstellung von Ätznatron entstehe diese neue Kriegstechnik als inhuman an. Hierzu gehörte besonders viel Chlor als Nebenprodukt. Die Substanzen neben Kaiser Wilhelm II auch der bayerische Prinzregent könnten leicht zu kriegerischen Zwecken umfunktioniert Maria Luitpold Ferdinand Rupprecht (1869-1955), der werden. Vorteilhaft sei hierbei, dass die deutsche Che- damals Kommandeur der 6. Armee war. mieindustrie und insbesondere die Farbenindustrie eine Darüber hinaus hatte das Deutsche Reich zusammen mit weltweite Vormachtstellung innehalte. Mit einem schnel- 24 Staaten (nicht die USA) die Haager Landkriegsordnung len chemischen Vergeltungsschlag durch den Feind sei von 1899 bzw. 1907 ratifiziert. Hierin heißt es: also nicht zu rechnen. Doch hier sollte das Gremium „Die vertragsschließenden Mächte unterwerfen sich gewaltig irren. gegenseitig dem Verbote, solche Geschosse zu verwenden, So erprobte die Reichswehr auf Vorschlag von Nernst und deren einziger Zweck es ist, erstickende oder giftige Gase Duisberg zunächst Schrapnellgranaten, die den Reizstoff zu verbreiten.“ o-Dianisidinchlorsulfonat enthielten. Allerdings war der Doch Haber konnte die Zweifel mit einem Trick zer- Erfolg dieses Munitionstyps gering. streuen: Das – wie auch er wusste – bereits in geringen Es folgten eine Reihe von Versuchen mit neuartigen Gas- Konzentrationen tödlich wirkende (Lungengift) Chlor Brisanz-Granaten bzw. -minen auf den Schießplätzen könne man auch als Reizgas deklarieren, und beim Wahn und Kummersdorf sowie mehrere praktische Einsät- Abblasen handle es sich ja schließlich nicht um den Ein- ze an der Ost- und Westfront. Erprobt wurden hierbei satz von Geschossen. Deutschland verstieße also nicht Mischungen aus Sprengstoff und diversen Reizstoffen, auf gegen den Vertrag. Kaiser und Kriegsminister ließen sich die hier nicht näher eingegangen wird. Doch die ausge- überzeugen. wählten Substanzen erwiesen sich als nur bedingt geeig- Nachdem Haber’s Geländeversuche erfolgreich verlaufen net, im Gelände ausreichende Gefechtskonzentrationen waren, betraute Kriegsminister von Falkenhayn Herzog zu erzielen. Ein strategischer Vorteil war hierdurch nicht Albrecht von Württemberg, den damaligen Chef der 4. zu erlangen. Es wird also deutlich, dass es das Deutsche Armee, mit dem ersten Einsatz südlich des Ypernbogens. Reich war, das damals die ersten wenn auch anfänglich Für die königliche württembergische Armee war dies noch zaghaften Schritte in Richtung Chemischer Krieg natürlich völliges Neuland und für Haber allein waren getan hat. feldmäßige Planung und Einsatzbetreuung des Gasan- ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

Mitteilung 2/2008 23 griffs nicht zu schaffen. So gelang es ihm, eine Reihe von Naturwissenschaftlern zum Gasregiment hinzuzuziehen, darunter so berühmte Wissenschaftler wie Otto Hahn (1879-1968), der im Krieg sogar zum Beauftragten des Kommandeurs der Gastruppen aufstieg aber auch in der Kampfstoffforschung tätig war, Gustav Hertz (1887-1975), und Hans Geiger (18821945), der uns vom Geiger-Müller- Zähler her gut bekannt ist und ebenfalls im Kaiser- Wilhelm-Institut beschäftigt war. Moralische Einwände gegen den Gaskrieg gab es damals nur von sehr wenigen Wissenschaftlern. Die ersten praktischen Kampfstoff-Versuche von Mathias Muckel Haber und das Kaiser-Wilhelm-Institut Prof. Fritz Haber und das Kaiser-Wilhelm-Institut für phy- sikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem – zwei Namen, die untrennbar mit der Entwicklung, Erpro- bung und Einführung von Kampfstoffen in Verbindung stehen. Fritz Haber hatte, nachdem er die Leitung des Kaiser-Wilhelm-Instituts übernommen hatte, intensive

B-Stoff-Mine aus der Anfangszeit der chemischen Kriegsführung, die mit einem weißen Ring gekennzeichnet wurde. Es handelt sich um ein sogenanntes Kammerhülsengeschoss. Die Zerlegeladung war aus einer Kombination aus TNT-Pulver, einem Pikrinsäure-Pressling und gegos- senem TNT zusammengesetzt. Die Kampfstoff-Füllung ist noch als rela- tiv harmlos zu bezeichnen. Sie bestand aus einem bromierten Keton, das reizend wirkte. (Quelle: KATTHÖFER [1998]: Die Deutsche Rohr- waffenmunition im 1. WK).

mord. 1919 wird er mit dem Nobelpreis für Chemie für die Ammoniaksynthese ausgezeichnet. Weltweite Pro- teste ignoriert das Nobel-Kommitee. Nach dem Ersten Weltkrieg zieht sich Haber als militärischer Berater weitgehend zurück. Er führt seinen Schüler Hugo Stot- zenberg als Nachfolger ein. Aufgrund Habers jüdi- scher Abstammung gerät er nach der Machtüber- nahme der Nationalsozialisten unter politischen Druck und muss schließlich die Leitung des Kaiser-Wilhelm- Instituts niederlegen. Er flieht im Januar 1934 bereits schwer krank nach England und stirbt kurz darauf auf einer Erholungsreise in Basel. Fritz-Haber – eine dualistische Person Das Haber-Bosch-Verfahren stellt die billigste Metho- de der Ammoniakgewinnung dar. Es ermöglichte dadurch (auch) eine preisgünstige Herstellung von Fritz Haber (1868-1934) (Bildquelle Deutsches Museum München). Düngemitteln, wovon letztlich die ganze Menschheit profitierte. Dies waren die Gründe für die Auszeich- Fritz Haber wird am 9. 12. 1868 in Breslau als Kind nung mit dem Nobelpreis im Jahr 1919. Was damals einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Ab 1886 (und heute immer noch) nicht beachtet wurde, war die studiert er Chemie in Berlin, Heidelberg und Zürich. Tatsache, dass die Methode unter völlig anderen stra- 1893 konvertiert er zum protestantischen Glauben. tegischen Zielen – nämlich zur Steigerung der Explo- Nach seiner Promotion forscht Haber auf dem Sektor sivstoffproduktion, großtechnisch umgesetzt worden der Brennstoff- und Elektrochemie an der Technischen war. Fritz Haber war zweifelsfrei ein Chemiker, dem Hochschule in Karlsruhe und schreibt zahlreiche Veröf- große Verdienste zuteilwurden. Doch die andere Hälf- fentlichungen. 1901 heiratet er die Chemikerin Clara te Habers war der „Erfinder“ und „Umsetzer“ der Immerwahr. 1908 erfindet Haber die Ammoniaksynthe- modernen chemischen Kriegsführung. Glühender se. Carl Bosch gelingt es ein Jahr später, sie großtech- Patriotismus ließen ihn hierbei sein Gewissen verges- nisch umzusetzen („Haber-Bosch-Verfahren“). 1911 sen. Seine Frau versuchte ihn vergebens, zur Mensch- wird Haber Leiter des kurz zuvor gegründeten Kaiser- lichkeit zu bekehren und brachte sich schließlich aus Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie in Berlin. Verzweiflung um. Noch am Abend ihres Todes soll Nach Kriegsbeginn stellt er das Haber-Bosch-Verfah- Haber zu Kampfstoffeinsätzen an die Ostfront gereist ren der Obersten Heeresleitung vor und wird in der sein. Doch auch nach Kriegsende hat er seine Ansich- Kriegsrohstoffabteilung mit dessen großtechnischer ten niemals geändert. Umsetzung beauftragt. Das Verfahren trägt dazu bei, Er führte in Vorträgen den Einsatz von Giftgas sogar ad die sich abzeichnende deutsche Munitionskrise zu lin- absurdum: „Unzählige Menschenleben könnten hier- dern. Ab Ende 1914 arbeitet er als Leiter der „Zentral- durch gerettet werden, wenn der Krieg auf diese Weise stelle für Fragen der Chemie“ („Büro Haber“) im schneller beendet werden könne.“ Ausländischer Kri- Kriegsministerium unter anderem an der Entwicklung tik begegnete er: „So stellen sich die Vorwürfe der von Gaskampfstoffen. Ab 1915 wird er zur zentralen Presse, die sich für die Stimme des Gewissens ausge- deutschen Figur für den Einsatz chemischer Waffen ben, als der Ausdruck des Missvergnügens darüber und leitet am 22. 4. 1915 den ersten deutschen Gasan- unsere erfolgreiche Handhabung der Gaswaffe.“ griff bei Ypern. Seine Frau begeht daraufhin Selbst- Haber war ein Unbelehrbarer. ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

24 Mitteilung 2/2008 Anstrengungen unternommen, die Möglichkeiten der Versuch 246 vom 26. 1. 1918 in Döberitz. Kampfstoff-Kriegsführung zu forcieren. Temperatur + 8,5° bis + 41°, schwacher Westwind, klarer Hierzu holte er zahlreiche bedeutende Wissenschaftler an Himmel. sein Institut. Namen wie Prof. H. Wieland, 1927 Nobel- Eine 15-cm-Blaukreuz-Granate, Kampfstoffinhalt: Eine Preis-Träger für Chemie, zeugen hiervon. Das Institut Flasche mit 1.550 g Clarkacetat. selbst wurde mit allen erdenklichen und notwendigen Mitteln ausgestattet. Zwei große Arbeitsgebiete waren im Haberschen Institut vorhanden. Einerseits die Abteilungen, die Abwehrmaß- nahmen gegen feindliche Kampfstoffangriffe untersuch- ten, wie beispielsweise die Abt. A: Überwachung der Fabrikation deutscher Gasmasken. Andererseits gab es aber auch verschiedene Abteilungen, die mit der Ent- wicklung und Erprobung neuer Kampfstoffe beschäftigt waren: die Abt. D von Prof. Wieland mit der Darstellung neuer Kampfstoffe oder die Abt. E von Prof. Flury, die die Toxikologie der Substanzen an Hand von Tierversuchen Gastest: Erste Versuche mit Abblasen von Gas auf dem Übungsplatz prüften. Döberitz. Die von den Wissenschaftlern (rechts im Bild) freigesetzten Die wissenschaftlichen Studien und technischen Versuche Gase werden genutzt, um von Kollegen die Schutzwirkung von Gas- masken im Selbstversuch zu testen. fanden im Dienstgebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts in Berlin-Dahlem statt. Hier existierten verschiedene Labo- Beobachter waren die Herren Prof. W., Prof. K., Dr. K.: re, in denen beispielsweise neue Kampfstoffe erzeugt, „Ziemlich dünne graue Wolke. W. 1 min in dünner Wolke, später chemisch-physikalisch untersucht und schließlich schwacher Rachenreiz, Spur Brustreiz. K. 1 min in dünner an Tieren erprobt werden konnten. Wolke, Spur Brustreiz. K. 1 min in dünner Wolke, schwa- Wie aber konnte die Wirkung auf den Menschen cher Rachenreiz, Spur Brustreiz. Sämtliche Beobachter bestimmt werden? Auch hierfür hatte Haber umfangrei- stellten Knoblauch- und Essigsäuregeruch fest und einen che Vorkehrungen getroffen. Zunächst komplettierte eine eigenartigen Geschmack.“ eigene kleine, quasi miniaturisierte Füllstelle für Kampf- Aus heutiger Sicht stellt sich dem Forscher die Frage nach stoffe die reichhaltige Ausstattung des Institutes. Hier den Gedanken und Gefühlen dieser Spitzenwissenschaft- konnten die neu entwickelten Kampfstoffe in übliche ler, sich derartigen Gefahren bewusst auszusetzen. Um so Geschosse abgefüllt werden. Die Erprobung der mehr als ähnliche Versuche nicht nur am eigenen Leib und Geschosse unter ballistischen Gesichtspunkten erfolgte fernab bewohnter Gebiete, sondern auch inmitten von bekanntermaßen auf dem Übungsplatz Kummersdorf Berlin auf einer Insel in der Havel durchgeführt wurden. südlich von Berlin. Und die Erprobung der direkten Wir- kungen der Granaten? Hierfür hatte sich Haber umfang- Kaiser Wilhelm reiche Versuchsflächen auf dem westlich von Berlin Am 27. 1. 1859 wird Friedrich Wilhelm als erstes Kind liegenden Truppenübungsplatz Döberitzer Heide gesi- des Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen, später chert. Kaiser Friedrich III., und seiner Frau Viktoria, Princess Royal of England in Berlin geboren. Er besucht von Die Döberitzer Heide – Habers „Spielwiese“ 1874-1877 das Gymnasium in Kassel-Wilhelmshöhe und Die vielleicht beste Schilderung derartiger Versuche gibt nimmt danach ein Studium der Rechts- und Staatswis- Prof. Otto Hahn (aus D. HAHN: Otto Hahn – Eine Biogra- senschaften in Bonn auf. Nach dem Tod seines Vaters phie in Bildern und Dokumenten): wird er 1888 als Wilhelm II Deutscher Kaiser und König „In Berlin und Döberitz hatte ich vor allem die Schutzwir- von Preußen. Seine Innen- und Außenpolitik sind durch kung von Gasmasken zu prüfen. Ich war eines der freiwil- machtpolitische Ambitionen geprägt. 1890 zwingt er ligen Versuchskaninchen, das die Maske so lange Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck (1815-1898) zum aufzubehalten hatte, bis das Gas in die Atemwege durch- Rücktritt. Der Ausbau der deutschen Stellung als Koloni- brach. Wir füllten dazu eine abgedichtete kleine Bretter- almacht einhergehend mit massiver Aufrüstung (mate- bude mit einer exzessiv hohen Konzentration an Phosgen rielle und personelle Aufrüstung der Heere, Aufbau einer Flotte unter Alfred von Tirpitz) führen zu Spannun- und hielten uns in dieser Atmosphäre auf, bis die Schutz- gen mit dem Ausland, insbesondere mit England und wirkung der Gasmaske nachließ. Die Zeiten wurden von Frankreich. Aber auch in der Heimat erntet er heftige außen mit Stoppuhren bestimmt. Zwar brauchten wir eini- Kritik, die soweit führt, dass die deutsche Öffentlichkeit gen Mut dazu, wussten aber als Fachleute am besten, eine präzise verfassungsrechtliche Einschränkung sei- wann Gefahr drohte. Die Proben, wie lange frisch herge- ner monarchischen Kompetenzen zu fordern beginnt. stellte Gasmasken große Konzentrationen von Phosgen Hierzu kommt es aber nicht mehr: Nach der Ermordung abhielten, haben eigentlich nur Franck und ich gemacht. des habsburgischen Thronfolgers Franz Ferdinand Unmittelbar nach Verlassen des Gasraumes musste man durch serbische Nationalisten bricht am 4. 8. 1914 der ein heißes Bad nehmen, um die Phosgenspuren von Haut Erste Weltkrieg aus. Nach dem Scheitern von Moltke und Haar zu entfernen.“ und Falkenhayn beruft er Paul von Hindenburg und Dass diese Versuche und insbesondere diese Selbstver- Erich Ludendorff im Jahr 1916 in die OHL. Hierdurch ver- liert er selbst aber zunehmend Einfluss auf die militäri- suche nicht besonders beliebt waren, belegen u. a. auch sche Kriegsführung. Nach der Novemberrevolution im verschiedene Briefe des Dr.-Ing. Klein an seine Frau. In Jahr 1918 am Ende des Ersten Weltkriegs verkündet einem Brief schreibt er 1917: Reichskanzler Prinz Max von Baden eigenmächtig die „Leider bekomme ich soeben Bescheid, dass ich heute Abdankung des Kaisers. Er flieht in die Niederlande, wo Abend wieder mal zu einer Sprengübung nach Döberitz er in Doorn 4. 6. 1941 stirbt. muss.“ Der Kaiser und der chemische Krieg Diese „Sprengübungen“ mit Kampfstoffen können durch Kaiser Wilhelm war niemals ein Befürworter der chemi- eine Akte veranschaulicht werden, die im Bundesarchiv- schen Kriegsführung. Dem Einsatz von Chlor stand er Militärarchiv Freiburg verfügbar ist und die umfangreiche zunächst sehr ablehnend gegenüber, doch ließen ihn Laborprotokolle beinhaltet. Darunter finden sich sechs Habers erste Erfolge seine „konservative Einstellung“ Seiten chronologischer Versuchslisten mit dem Titel zumindest kurzzeitig vergessen. Den Einsatz von Lost „Sprengungen in Döberitz“. Aus diesen Tabellen geht lehnte er strikt ab, doch hatte er zu diesem Zeitpunkt – hervor, dass bis zum 20. Juli 1918 insgesamt 322 Einzelver- nachdem er selbst seinen eigenen machtpolitischen suche mit jeweils 1 bis 4 Kampfstoffgranaten durchgeführt Machenschaften zum Opfer gefallen war – auf die Kriegsführungstaktik keinen Einfluss mehr. wurden, beispielsweise auch folgender Versuch: ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

Mitteilung 2/2008 25

LOST – König der Kampfstoffe Die unendliche Umweltgeschichte – Teil 2 Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Baye- risches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten. Kaiserreich und Militär Im Mai 1915 folgten weitere Gasangriffe, diesmal an der Ostfront. Hier kamen Mischungen aus Chlor und Phosgen Insgesamt bestand das damalige Kaiserreich aus 25 zum Einsatz. Die Folge – zwischen 300 und 6.000 Tote so- Bundesstaaten: vier Königreichen, sechs Groß- und fünf wie zwischen 3.000 und 9.000 Vergiftete. Doch auch hier Herzogtümern, sieben Fürstentümern sowie drei Freien waren durch die neue Waffe keine Geländegewinne zu er- Städten, die zusammen den Bundesrat bildeten. Bei wei- zielen. Haber forderte nun, noch größere Gasangriffe tem größter und einflussreichster Einzelstaat war das Kö- durchzuführen. nigreich Preußen. Es umfasste zwei Drittel der Fläche und rund drei Fünftel der Bewohner Deutschlands. Das König- Die Einteilung chemischer Kampfstoffe nach reich Bayern war damals aber schon sehr „eigenwillig“: ihrer Wirkung Es hatte sich bei der Reichsgründung (1871) verschie- Weißkreuz tränenerregende Kampfstoffe dene Sonderrechte („Der bayerische Weg“) vorbehalten, Grünkreuz Kampfstoffe mit erhöhtem Dampf- darunter auch auf dem Gebiet des Heereswesens. Das druck, die vornehmlich über die bayerische Heer bildete einen in sich geschlossenen Be- Atemwege wirken standteil mit selbstständiger Verwaltung innerhalb des Blaukreuz Kampfstoffe mit geringer Flüchtig- deutschen Heeres, unterstand aber letztlich der OHL bzw. dem deutschen Kaiser. keit und großer Reizwirkung, vor- nehmlich auf die Atemwege wirkend Deutschland beginnt den Gaskrieg Gelbkreuz hautschädigend Impfstoffe Rotkreuz Nesselstoffe Am 22. April 1915, nachdem sich der günstige Nord-Nord- Ostwind eingestellt hatte, eröffneten deutsche Truppen am Frontbogen bei Ypern den ersten Großeinsatz von Chemische Eskalation chemischen Waffen, bei dem 150 t Chlorgas abgeblasen Entgegen den deutschen Erwartungen ließ der Gegenan- wurden. Es muss wohl nicht extra erwähnt werden, dass griff nicht lange auf sich warten. Der Feind hatte sehr die OHL für das im eigentlichen Sinn Abfallprodukt Chlor schnell herausgefunden, was da auf ihn zukam und am 25. einen Preis bezahlen musste, der weit über dem Markt- September folgte nun der erste britische Gasangriff. Die preis lag. Hier kassierte die Industrie, insbesondere Duis- deutsche Front – die erstaunlicherweise ebenfalls völlig berg und die Farbenfabriken Leverkusen (heute Fa. Bayer) unvorbereitet war – wurde auf eine Länge von 12 km auf- kräftig ab. gerissen. Der erste französische Angriff erfolgte im Doch warum wurde gerade der Frontabschnitt von Ypern Februar 1916, erste russische Angriffe wurden ab Sep- ausgesucht? Nun, zum einen sollte eine Frontbegradigung tember des Jahres gestartet. erzielt werden, zum anderen waren hier verschiedenste Die Alliierten, die durch die Windverhältnisse an der Kräfte eingesetzt: Briten, Kanadier, Franzosen, Zuaven, In- Westfront meist begünstigt wurden, standen Haber in der, algerische Turkos. Aufgrund der Sprachunterschiede Kreativität nichts nach. So erfanden sie unter anderem dürfte es sicher nicht leicht gewesen sein, diese Division Groß-Blasangriffe mit Chlor-Phosgenmischungen von zu führen, vor allem nicht, wenn plötzlich Giftgas in der fahrenden Eisenbahnzügen aus – diese Taktik ging unter Luft war. Diesen „Vorteil“ versuchten die Deutschen aus- dem Namen „Richtstrahl“ in die Annalen ein. Der Gas- zunutzen. Und da die britische und französische Militär- krieg eskalierte. Die deutsche Militärführung versuchte führung Warnungen und verschiedene Hinweise auf den mit allen Mitteln, die eigenen Verluste geheim zu halten – beginnenden deutschen Gaseinsatz, ja sogar den Bericht Abtransporte und Beerdigungen wurden nur nachts des deutschen Deserteurs August Jäger ignoriert hatten, durchgeführt. traf sie das Gift völlig unvorbereitet und schutzlos. Der schlimmste Angriff erfolgte seitens deutsch-ungari- Die Ausführungen über die Todeskämpfe nach der Ein- scher Truppen im Juni 1916: Hierbei kamen allein 5.000 atmung der gelblichen Rauchschwaden möchte ich den italienische Soldaten um. Als Vergleich: Etwa gleichviele Lesern der LGA-Rundschau doch lieber ersparen. Zahlen- Nürnberger verloren im gesamten 2. WK durch Luftangrif- angaben über die Todesopfer des ersten Angriffs (zwi- fe ihr Leben. schen 350 und 5.000) sowie über Verletzte (zwischen Es ist klar, dass auch die deutsche Front nach Schutz- 7.000 und 15.000) schwanken je nach Quelle. masken zu verlangen begann, die dann – wie wir bereits Dies bedeutete aus militärtaktischer Sicht: Entlang der gehört haben – von den Firmen Auer und Dräger her- Front war eine 6 km lange „Bresche“ entstanden. Auf gestellt wurden. Doch einen entscheidenden Vorteil oder Grund dieses Erfolges soll Kaiser Wilhelm II. General von einen Geländegewinn konnte keine der kriegsführenden Falkenhayn mehrmals umarmt haben. Haber beförderte er Parteien durch den Einsatz chemischer Kampfstoffe er- kurz darauf zum Hauptmann. Doch Falkenhayn vermochte reichen. Dies ist auf zwei Ursachen zurückzuführen: nicht, den kurzzeitigen Geländevorteil strategisch zu nut- – Zum einen entwickelten beide Parteien Schutzvor- zen. Hierfür waren mehrere Gründe ausschlaggebend: kehrungen bzw. Schutzmasken, die das Chlor zurück- Zum einen war er wohl selbst überrascht über den Erfolg hielten. der Maßnahme und hatte für ein massives Nachrücken – Zum anderen konnten keine Überraschungsangriffe zu wenige Reservisten bereitgehalten. Andererseits wa- mehr durchgeführt werden, denn man hatte erkannt, ren auch kaum noch Soldaten als Nachschub vorhanden. dass Ratten, die es in großen Mengen an allen Frontsei- Und schließlich war der freie Geländestreifen auch zu ten gab, sehr empfindlich auf Chlor reagierten. Schon schmal, um strategisch von größerem Nutzen zu sein. bei der Vorbereitung eines Gaseinsatzes war es un- Kurzum – nach kurzer Zeit hatte sich die Front neu vermeidlich, dass kleinste, für den Menschen nicht formiert. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass wahrnehmbare Mengen Chlor austraten. Die Ratten die OHL die Gasangriffe in der Heimat verheimlichte, ja ergriffen sofort die Flucht und rannten in Heerscharen die Pressesperre bis lange nach Ende des 1.WK aufrecht in Richtung Niemandsland auf die gegnerischen Stel- gehalten wurde. lungen zu. Und hier hatte man Zeit sich vorzubereiten. ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

20 Mitteilung 3/2008 Da der Erfolg der umständlichen Chlorblasangriffe mehr logischen Eigenschaften aller neu in Frage kommenden und mehr abnahm, dachte man auf beiden Seiten über Stoffe mussten aber auch Eigenschaften wie die erreich- giftigere Waffen nach. Die chemische Eskalation begann. baren Gefechtskonzentrationen die Sesshaftigkeit, die Frankreich setzte als erste Macht Granaten ein, die mit Detonationsbeständigkeit und ähnliches getestet werden. dem Lungengift Phosgen gefüllt waren. Diese Substanz er- Die bisherigen Schieß- bzw. Testplätze waren hierfür nicht oberte dann schnell die traurige Spitzenposition der mehr ausreichend. Ein neues Gelände musste her. Kampfstoffe im 1.WK. Die deutsche Antwort folgte wiede- rum auf Anregung von Carl Duisberg und Fritz Haber in Der Gasplatz Breloh Form des Diphosgen, das ähnlich dem Phosgen wirkt. Als weltweit erstes Areal zur Erprobung des feldmäßigen Aber auch die Gaskampftaktiken der kriegsführenden (Massen-)Einsatzes von chemischen Kampfstoffen wurde Parteien waren sehr unterschiedlich. Während die Deut- im Januar 1916 der „Gasplatz Brehloh“ (in unmittelbarer schen alles auf eine schnelle Erzeugung einer tödlichen Nähe zum heutigen Truppenübungsplatz Munster) einge- Gefechtskonzentration setzten, führten die Franzosen da- richtet. Er war multifunktional ausgelegt – neben Labora- gegen langdauernde Kombinationsangriffe durch. Zu- torien und Zielgebieten verfügte er ebenfalls über nächst legten sie mit der Artillerie, die damals Füllanlagen zur Munitionierung, so z. B. für Phosgen und Reichweiten von über 10 km erzielen konnte, Phosgen- Chlorpikrin. Hier begann man nun, die verschiedensten Gassperren an, die durch Nachbeschuss aufrechterhalten potentiellen Kampfstoffe systematisch auf ihre Gelände- wurden und somit den Rückzug der Feindtruppen ab- tauglichkeit zu testen. schnitten. Die vorderen Schützengräben wurden gleich- Die Blasangriffe an den Fronten gingen unter dessen munter weiter, wobei zunehmend toxischere Mischungen aus Chlor/Phosgen und Chlor/Chlorpikrin Verwendung fanden. Mittlerweile wurde der Erfolg der Gaskampftech- nik allerdings recht gemindert, da beide Seiten – wie bereits erwähnt – Gasmasken entwickelt hatten. Trotz Einführung der neuen Waffen war nach Moltke nun auch Falkenhayn gescheitert. Nachdem sein Konzept der Ab- nützungsschlacht bei Verdun im Sommer 1916 nicht auf- ging, wurde er vom Kaiser durch General Paul von Hindenburg und dessen Stabschef Erich Ludendorff ersetzt – das Bundesligasyndrom, wir kennen es ja bereits. Nur drei Tage nach seiner Ernennung legt Hindenburg ein neues Rüstungsprogramm vor (Hindenburg-Programm). Es sah eine weitere massive Ausweitung der Rüstungspro- duktion, darunter auch der Giftgasherstellung vor. Während die Kampfstofftests in Breloh fortgesetzt wur- den, forschte das Kaiser-Wilhelm-Institut unterdessen Eine Fortentwicklung des Haber’schen Blasverfahrens war das Ver- eifrig nach neuen Stoffen, insbesondere solchen, die in schießen von Gasminen, das allerdings die Engländer erfanden. Hier der Lage waren, die Filter der Gasmasken zu durch- ist eine Batterie von 18-cm-Minenwerfern zu sehen, die gerade mit Gasminen geladen werden. Gasminenwerfer kamen ab Oktober 1917 brechen. So wurden ab 1916 im Haber’schen Institut über von deutscher Seite zum Einsatz. Das etwa 1 m lange Rohr war zur Hälf- 100 verschiedene Arsenverbindungen getestet. Mit dem te eingegraben und auf einer Grundplatte befestigt. Die Treibladung so genannten Diphenylarsinchlorid (Clark I) war 1917 befand sich am Boden des Rohres, die Zündung erfolgte elektrisch. endlich die Lösung gefunden. Es hatte gegenüber Chlor Die Füllung der Gasminen bestand aus Phosgen (teils in Mischung mit Diphosgen) oder Clark 1 in Mischung mit dem Sprengstoff Hexyl. oder Phosgen einen entscheidenden Vorteil: In Aerosol- (Photo Kriegsarchiv München) form gebracht, vermochte es die damaligen Schutzfilter des Gegners zu durchdringen. Einmal eingeatmet führte es auf Grund seiner extrem starken Reizwirkung sofort zu starkem Husten, der bis zum Erbrechen gehen konnte. Hierdurch wurde der Gegner zum Herunterreißen der Maske verleitet. Wiederum war es die zweifelhafte Genialität Habers, die diesen Effekt zu nutzen vermochte. Er erfand den kombi- nierten Einsatz von Clark I, das zur Gruppe der so ge- nannten Blaukreuzkampfstoffe zählt, und Phosgen, das als

Porten Down – Das englische Breloh Eine ähnliche Entwicklung zu multifunktionalen Gas- Testplätzen hin, hat auch in England stattgefunden. Hier wurde ebenfalls im Jahr 1916 in Porten Down die erste englische Versuchs- und Produktionsanlage für che- Deutscher Übungsblasangriff am 14. 1. 1916 in Phalempin (Frank- mische Kampfstoffe errichtet. Die Engländer hatten reich). Unter den Militärs im Hintergrund befand sich auch König im Grunde sogar noch eher als die Deutschen mit Ludwig III. von Bayern. Offensichtlich vertraute man damals auf der systematischen toxikologischen Untersuchung von gleich bleibende Windverhältnisse. (Photo Kriegsarchiv München) Kampfstoffen begonnen. Hierzu war auf dem Areal zeitig mit Gasflaschen und Brandminen, die von Werfern in Porten Down eigens eine Farm zur Tierzucht und mit kurzer Reichweite (Steilfeuergeschütze) verschossen -haltung errichtet worden. Katzen, Hunde, Affen, Zie- wurden, und dauernden Beschuss durch konventionelle gen, Schafe, Meerschweinchen, Kaninchen, Ratten und Mäuse wurden in Gräben angebunden oder in Gas- Sprengmunition angegriffen. Die Soldaten in den Schüt- kammern eingesperrt und Gaswolken ausgesetzt. zengräben durften praktisch keine Sekunde die Gas- Chemische Stoffe wurden in ihre Gesichter gespritzt, in maske vom Gesicht nehmen. Wie lange hält ein Mensch sie injiziert, ja für möglichst realistische Verhältnisse so etwas aus? Nach meist wenigen Tagen konnten die de- bombardierte man sie hierbei gleichzeitig von allen moralisierten und völlig zermürbten deutschen Truppen Seiten mit Kugeln und Granaten. Als den Engländern im Sturm überrannt werden. im Krieg dann deutsches Lost in die Hände fiel, rasierte Auf Grund der französischen Erfolge musste sich die man den Bauch und Rücken der Tiere und rieb sie deutsche Führung nach noch wirksameren Substanzen damit ein, oder man schnitt sie auf und bestrich ihre Organe mit Lost und nähte sie wieder zu. umsehen. Neben den rein chemisch-physikalisch-toxiko- ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

Mitteilung 3/2008 21 Grünkreuz bezeichnet wurde, daher der Name „Bunt- durchdrang – gab es keinen Körperschutz dagegen. Und schießen“„ für diese Angrifftaktik. Atemnot und Husten- zweitens hatte Lost den Vorteil, dass die Herstellung nur in reiz steigerten sich zum Erstickungsanfall. Der Tod trat geringerem Umfang von der Rohstoffzufuhr aus dem Aus- bei nahezu vollem Bewusstsein ein. Details über die grau- land abhängig war. Allerdings war die Herstellung der samen Einsätze, die ab Mitte 1917 an der Westfront erfolg- Substanz technisch nicht ganz einfach. ten, sparen wir uns. Erwähnenswert ist jedoch, dass die Tja, nun wurde also wieder eine neue Kriegswaffe vom britischen toten Soldaten nach Porten Down abtranspor- Militär vorbereitet. Nun mag sich vielleicht der ein oder tiert wurden. Hier wurden sie von den Physiologen der andere Leser der Rundschau die Frage stellen, ob man Sanitätsgruppen „auseinander genommen“. Zum Teil denn in der OHL bzw. im Haber’schen Institut nicht mit ei- wurden Ölbilder von den geschädigten Organen zur Do- nem Gegenschlag rechnete. Sicherlich, das tat man kumentation angefertigt. Einige Gastote wurden sogar durchaus. Lommel und Steinkopf und auch der damalige konserviert. Chef des Haber’schen Instituts Hans Tappen waren sich Doch gehen wir lieber schnell zurück in unsere Heimat. durchaus der Gefahr bewusst, dass der bzw. die Gegner Die Industrie – im Fall Blaukreuz die Firmen Höchst, Cas- sehr schnell in der Lage sein könnten, das Kochrezept für sella und AGFA – verdienten natürlich nicht schlecht an Lost „abzukupfern“ um die Substanz dann selbst gegen den Blaukreuzkampfstoffen, die dann während des Krie- die Deutschen Truppen einzusetzen. ges am Haber’schen Institut systematisch weiterentwickelt In diesem Fall wäre Deutschland – das wussten alle Betei- wurden. Doch hatten alle bisher kreierten Kampfstoffe ei- ligten – auf Grund der prekären Rohstofflage nicht im nen gravierenden Nachteil: Mit ihnen ließen sich keine Stande gewesen, rasch einen Schutz (z. B. durch Gummi) dauerhaft hohen Gefechtskonzentrationen erreichen. Die zu entwickeln und diesen in ausreichender Menge herzu- Lungengifte waren hierfür zu flüchtig bzw. nicht sesshaft stellen. Man muss sich nur einmal die Soldatenmengen genug, und die Blaukreuz-Reizstoffe ließen sich meist vorstellen, die in diesem Fall geschützt werden hätten nicht fein genug in der Atmosphäre verteilen. Und noch müssen – allein vor Verdun lagen eine halbe Million in ein weiteres Problem begann sich abzuzeichnen: den Gräben. Lommel und Steinkopf erwiesen sich als ver- Deutschland war zwar im Besitz des Arsenerzlagers „Rei- nünftig, sie hatten Lost zwar kreiert, lehnten aber einen cher Trost“ in Schlesien, aber die dortigen Vorräte gingen Einsatz aus oben genannten Gründen strikt ab. Sogar der rapide zur Neige. Etwas Neues musste her und zwar drin- sonst so patriotische Haber warnte vor einer alliierten gend. Doch am Haber’schen Institut gab es außer dem Gelbkreuz-Antwort. Nur wenn der Krieg hierdurch sofort Chef selbst noch einige weitere „kreative“ Köpfe. beendet werden konnte, bestand keine Gefahr. Doch Hindenburg und Ludendorff zeigten keinerlei Skru- Lost betritt den Kriegsschauplatz pel – weder gegenüber dem Feind noch gegenüber den Die „schnelle und unbürokratische Zusammenarbeit“ eigenen Truppen und befahlen im Juli 1917 den ersten zwischen Militär, Wissenschaft und Industrie war, wie ich Lostangriff bei Ypern. Man muss noch einmal darauf hin- schon mehrmals angedeutet habe, bezeichnend für die weisen, dass die beiden dies taten, obwohl sie wussten, damalige Zeit. So formte der Abteilungsleiter Prof. Wil- dass das Deutsche Reich zum damaligen Zeitpunkt weder helm Steinkopf am Haber’schen Institut gemeinsam mit über eine ausreichende Menge an Lostgranaten verfügte, dem Chemiker Dr. W Lommel der Fa. Bayer aus dem be- um den Krieg sofort zu beenden, noch in der Lage dazu reits bekannten Dichlordiethylsulfid einen Kampfstoff der war, Schutzmaßnahmen in ausreichender Menge herzu- stellen. Der Beschuss erfolgte am 12. Juli 1917 mit 7.7- und 10,5- cm-Granaten. Was um 22:00 Uhr in der Dämmerung aus den Granaten freigesetzt wurde, kannten die britischen Truppen bislang nicht, eine ölige Flüssigkeit, die nach Senf oder Knoblauch roch. Abgesehen von einer leichten Reizung der Augen und des Rachens spürten die Soldaten nichts. Einige setzten nicht einmal die Masken auf, viele legten sich wieder schlafen. Doch am Morgen erwachten sie mit unerträglichen Schmerzen in den Augen, ein Ge- fühl, als ob ihnen Sand eingerieben worden wäre. Dann mussten sie sich dauernd übergeben. Viele waren erblin- det, auf verschiedensten Körperteilen waren zunächst schmerzhafte Rötungen und Schwellungen zu beobachten, die in den nächsten Stunden zu großen gelben Blasen an- wuchsen. Am zweiten Tag nach dem Einsatz gab es die ersten Todesopfer. Das Sterben war ein langsamer Prozess. Durch das Einatmen des Losts hatte sich in vielen Fällen die Schleimhaut von der Luftröhre gelöst, so dass die Op- fer langsam und qualvoll erstickten. War Lost tiefer einge- drungen, so füllten sich Lunge und Herzgefäße mit einem Blut- und Wassergemisch. Als die britischen Ärzte die Lei- chen sezierten, konnten sie selbst – auch wenn der Tod der Person bereits mehr als zehn Tage zurück lag – noch die Reizwirkung am eigenen Leib spüren. Die Deutschen hat- ten sich hier etwas wahrhaft Teuflisches ausgedacht, das Gelbkreuz-Granate. Lost wurde im 1. WK häufig mit Tetrachlorkoh- neben der Giftigkeit noch einen weiteren Vorteil hatte: Auf lenstoff oder Chlorbenzol vermischt. Zur Füllung, die in Berlin Ad- lershof stattgefunden hat, diente eine Füllschraube im oberen Teil Grund der Sesshaft konnte Lost, das im Winter 1917 freige- der Granate, die auf der Abbildung jedoch nicht zu sehen ist. (Quelle: setzt worden war, noch im Frühjahr 1918, als der Boden KATTHÖFER, 1998: Die Deutsche Rohrwaffenmunition im 1. WK). langsam auftaute, die Soldaten vergiften. neuen Generation, das S-Lost. Haber gab dieser Substanz Produktionsstandorte des 1. Welt- den Namen LoSt (Lommel Steinkopf). Lost hatte zwei erhebliche „Vorteile“ gegenüber den bis- krieges herigen Kampfstoffen: Erstens hinterließ es als flüssiges Wie bereits mehrmals ausgeführt arbeiteten die Produ- Aerosol schmerzhafte Wunden am ganzen Körper, die nur zenten von chemischen Kampfstoffen alle sehr eng mit äußerst schwer heilten und – da es jede Kleidung sofort den Wissenschaftlern des Haber’schen Instituts zusam- ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

22 Mitteilung 3/2008 men. Der Haupthersteller von Lost war mit über 90% an trugen und dazu angehalten waren, sich die Hände häufig der Gesamtmenge die Fa. Bayer in Leverkusen, dessen mit Chlorkalk zu waschen. Doch ist das stark zu be- Chef und Aufsichtsratsvorsitzender Carl Duisberg wie wir zweifeln, wie wir gleich hören werden. wissen, maßgeblich am Beginn des chemischen Krieges Das Vorprodukt für die Lostherstellung das Thiodiglycol beteiligt war. Bayer stellte jedoch nicht nur Lost sondern (auch Oxol genannt) wurde übrigens von den BASF ange- auch Chlor, Chlorpikrin und Diphosgen her. liefert. Neben dem Leverkusener Hauptproduzenten wur- Bayer begann im Mai 1917 mit der Lost-Produktion, die den kleinere Mengen an Lost auch von Griesheim Elektron Kapazitäten konnten im März 1918 auf fast 1.000 t pro in und von den Farbenwerken in Hoechst (heute Monat gesteigert werden. Insgesamt wurden bis zum Höchst AG) hergestellt. Die Farbenwerke in Frankfurt- Kriegsende im November 1918 etwa 5.000 t Lost herge- Höchst waren jedoch vor allem auf Diphosgen, Dick und stellt. Das Produktionsverfahren basierte auf den For- Clark I spezialisiert. Daneben wurden Kampfstoffe auch schungen von Victor Meyer. Zu Unfällen soll es angeblich von den Firmen Cassella (Frankfurt), Kalle (Biebrich) und nicht gekommen sein, da die Beschäftigten Handschuhe von AGFA in Berlin hergestellt.

Am 2. Oktober 1847 wird Paul von Beneckendorff und von nachdem ihm Hinden- Hindenburg als Sohn eines preußischen Offiziers und burg das Vertrauen entzo- Gutsbesitzers in Posen geboren. Nach der Gymnasialzeit gen hat. Am 30. Januar schlägt er eine militärische Laufbahn ein und kämpft u. a. beruft Hindenburg Hitler im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71). Als komman- zum Reichskanzler. dierender General nimmt er 1911 Abschied vom Militär, Papen wird Vizekanzler wird jedoch nach Ausbruch des 1.WK reaktiviert. Zu- des konservativ-national- nächst führt er als Oberbefehlshaber mit Erich Luden- sozialistischen Koali- dorff als Chef des Stabes die 8. Armee an, erhält jedoch tionskabinetts. im November 1915 nach erfolgreichen Schlachten gegen Mit der Unterzeichnung Russland das Oberkommando über die Truppen der Ost- der „Verordnung zum front. Nach der Absetzung von Falkenhayns im August Schutz von Volk und 1916 übernimmt Hindenburg mit Ludendorff als erstem Staat“ ebnet Hindenburg Generalquartiermeister die OHL. Vor allem Ludendorff den Weg in die national- fordert für die OHL auch die innen- und außenpolitische sozialistische Diktatur. Führung. Er wirkt mit am Sturz von Reichskanzler Theo- Am 2. August 1934 stirbt bald von Bethmann Hollweg und provoziert mit der Hindenburg in Neudeck Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs (Regierungsbezirk Ma- den Kriegseintritt der USA. Gegenüber Ludendorff und rienwerder). Hitler über- Hindenburg trat Kaiser Wilhelm II. immer weiter in den nimmt das Amt, des Hintergrund. Im September 1918 nach dem Scheitern Staatsoberhaupts. Paul von Hindenburg (1847-1934) der Frühjahrsoffensive fordert die OHL sofortige Waffen- stillstandsverhandlungen und eine parlamentarische Re- Hindenburg und der Einsatz von Lost gierung. Hindenburg rät Wilhelm II. zur Abreise nach Mit Hindenburg und Ludendorff ging die Abschaltung Holland. Hindenburg stellt sich der provisorischen Regie- der Gewissen bei der chemischen Kriegsführung noch rung des Rats der Volksbeauftragten zur Verfügung, um ein Stück weiter. Beide waren sich durchaus bewusst, die revolutionären Unruhen zu bekämpfen und die Front- dass es nicht lange dauern konnte, bis der Feind eben- truppen in die Heimat zurückzuführen. 1919 zieht er sich falls Lost herstellen und auch gegen die deutschen Trup- dann in den Ruhestand zurück. Auf Drängen der Rechts- pen einsetzen konnte. Und beide wussten ebenfalls, parteien im April 1925 kandidiert Hindenburg bei der dass es auf Grund der deutschen Rohstofflage nicht Reichspräsidentenwahl. Er siegt mit knapper Mehrheit möglich sein würde, für die eigenen Soldaten geschwei- und wird 1932 erneut in seinem Amt bestätigt. Im Mai ge denn für die deutsche Bevölkerung Schutzmaß- 1932 ernennt er Franz von Papen zum Reichskanzler, der nahmen in ausreichender Menge herzustellen, Und trotz- nach einer staatspolitischen Krise im November von Kurt dem wurde der Einsatz befohlen. Die Wertung kann der Schleicher abgelöst wird. 1933 tritt Schleicher zurück, Leser selbst vornehmen. Bereits 1917 zeichnet sich das un- de und Sudanrot eingestrichen. Trat Lost aus der Öffnung, so löste es das Sudanrot unter Rotfärbung auf. Undichte endliche Lost-Umweltproblem ab Granaten trugen also immer eine „rote Halskrause“. Die- Wo könnte man eine so gefährliche Substanz wie Lost in se Granaten mussten dann aussortiert werden. Doch was Munition abfüllen? Dies war eine dringende Frage, die tun damit? Haber beschäftigte. Er nahm schließlich zu der Berliner Bereits damals zeichnete sich das unendliche Umweltpro- Firma Kahlbaum Kontakt auf. Sie hatte auf ihrem Betriebs- blem ab. Hugo Stolzenberg, der als eine Art Oberaufseher gelände in Berlin-Adlershof bereits Erfahrungen beim von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft für Adlershof einge- Abfüllen von Reizkampfstoffen sammeln können. Kurzer- setzt worden war, schreibt hierzu: „Gefährliche, undichte hand wurde sie zur Feldmunitionsanstalt umfunktioniert. Granaten tragen also immer eine rote Halskrause und Die militärische Aufsicht übernahmen Leutnant Winter werden ausgeschaltet und vernichtet. Wie wir das ma- (ehem. BASF), Dr. Dahl (Farbenfabriken Elberfeldt) und chen sollen, wissen wir noch nicht genau, weil ein Vergra- Leutnant Siegener (Hoechst). ben, die später dort sie findenden Leute sehr gefährden Ab August 1917 wurden in Adlershof von 1.400 militäri- und ein Sprengen die Umgebung vergiften würde.“ Wie schen Arbeitern täglich 20.000 Granaten verfüllt. 1918 wir heute vermuten, war das Vergraben nach dem Krieg stieg die Zahl der Beschäftigten auf 2.800 an, so dass al- eine weit verbreitete Entsorgungsmethode. Und Habers lein 24.000 Stück 7,7-cm-Granaten täglich befüllt werden Äußerung aus dem Jahr 1917 kann als weise Voraussicht konnten. Doch trotz strengster Sicherheitsvorkehrungen bezeichnet werden, aber war er damals bestimmt nicht musste man seine Erfahrungen mit diesem Teufelszeug ahnte, ist, dass das „später“ bis ins nächste Jahrtausend machen. Der Betriebsarzt hatte pro Tag 8-10 losterkrankte reichen sollte. Zugänge zu verzeichnen. Durchschnittlich waren so 250- Da die OHL den Einsatz immer größerer Mengen an Lost- 300 Arbeiter im Krankenstand. Dies lag daran, dass es munition anordnete, reichten die Füllanlagen in Berlin- nach der Befüllung immer wieder vorkam, dass die Ab- Adlershof bald nicht mehr aus. Unter Leitung Habers dichtung der Granaten mit Magnesiakitt nicht richtig begann man daher, in der Breloher Feldmunitionsanstalt funktionierte und das Personal versehentlich mit ausge- eine neue Produktions- und Abfüllanlage zu errichten, die tretenem Lost in Berührung kam. ab Januar 1918 anlief. Zum Teil wurde auch in Frontnähe So wurden die Granaten zur Überprüfung der Dichtheit direkt laboriert. am Füllloch mit einem weißen Gemisch aus Schlemmkrei- Die zentrale integrierende Rolle bei der Kampfstoffpro- ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

Mitteilung 3/2008 23 duktion hielt, wie bereits erwähnt, Carl Duisberg inne. Be- ten im Krieg im Jahr 1916 die Interessengemeinschaft der reits früh erkannte er, dass auch die Westalliierten sehr deutschen Teerfarbenindustrie (IG Farben) gegründet. aktiv auf dem Gebiet der chemischen Kampfstoffe wur- Alle, die damals mit der Produktion von Spreng- und den. Er erkannte, dass hier eine ernste Gefahr entstand, Kampfstoffen befasst waren, traten der Gemeinschaft bei, jedoch nicht so sehr für die deutsche Bevölkerung, son- so z. B. Bayer, BASF, Hoechst, Kalle, Cassella, AGFA, Ter dern vielmehr für seine eigenen Geschäfte in der Zeit Meer und Messer Griesheim. Doch noch während Duis- nach dem Krieg. So wurde zur Kontrolle des deutschen berg versuchte, seine Schäfchen ins Trockene zu holen, Spreng- und Kampfstoffmarktes unter seiner Führung mit- holte der Feind bereits zum Gegenschlag aus.

Erich Ludendorff wird am 9. April 1865 In Kruszewnia geblich am Sturz des Reichskanzlers Theobald von Beth- (Provinz Posen) als Sohn des Rittergutsbesitzers Wilhelm mann Hollweg beteiligt. Ludendorff geboren. Bereits als Zwölfjähriger schlägt er Nach dem Scheitern der Frühjahrsoffensive 1918 fordert die militärische Laufbahn ein. Vom Generalstabsoffizier die OHL sofortige Waffenstillstandsverhandlungen und wird er schließlich zum Brigadekommandeur in Straß- eine parlamentarische Regierung. Damit wird die militä- burg befördert und besetzt nach Ausbruch des Krieges rische Niederlage eingestanden, die Ludendorff vor al- die Zitadelle in Lüttich. Im September wird er unter Paul lem den Politikern der Mehrheitsparteien anzulasten von Hindenburg zum („Dolchstoßlegende“) sucht. Im Oktober wird Luden- Chef des Generalstabs dorff aus dem Dienst entlassen. Nach dem Kriegsende der 8. Armee berufen. erhebt er Vorwürfe gegen die politische Reichsleitung Beide kämpfen „erfolg- und die neu entstandene Weimarer Republik. Er knüpft reich“ in Russland Verbindungen zur „Nationalen Vereinigung“, der auch (Schlachten bei Tannen- Wolfgang Kapp angehört und arbeitet 1920-1924 mit berg und an den Masur- Adolf Hitler zusammen. Er wird im Zusammenhang mit schen Seen). im August dem Hitler-Putsch angeklagt, jedoch freigesprochen. 1916 übernimmt nach Von 1924-1928 ist er als Abgeordneter der Nationalso- der Entlassung Erich von zialistischen Freiheitspartei Mitglied des Reichstags. Er Falkenheyns Hindenburg verliert die Reichspräsidentenwahl und gründet später mit Ludendorff als Erstem eine Art deutsch-germanischer Religionsgemeinschaft Generalquartiermeister („Deutschvolk“, „Tannenbergbund“ und „Bund für die OHL. Seine Ziele Deutsche Gotterkenntnis“) und hält viele Vorträge. 1928 sind eindeutig: „Abso- bricht er mit der NSDAP, sein religiöser Bund wird da- lute Kriegsführung“, wirt- raufhin 1932 verboten. Am 20. Dezember 1937 stirbt schaftliche Mobilmachung Erich Ludendorff in Tutzing. und uneingeschränkter Ludendorff sah den Krieg als Naturgesetz an. Ohne Rück- „U-Boot-Krieg“. Im Juli sicht auf die Folgen für die eigene Truppe ordnete er zu- Erich Ludendorff (1865-1937) 1917 ist Ludendorff maß- sammen mit Hindenburg den Einsatz von Lost an. No Copyright – Die Gegenschläge auf eigene Produkte zurückgegriffen werden, die erst- mals an der Marne-Front eingesetzt wurden. Nach dem ersten deutschen Angriff am 12. Juli 1917 mit Bis zum Kriegsende wurden in Frankreich 2,5 Mio. Grana- der neuen Substanz sammelten die Briten sofort die ten mit Lost befüllt. Daneben waren rund eine halbe Million blindgegangene Munition von den Schlachtfeldern auf. amerikanische Kampfgasgranaten zu Kriegsende bereits Schnell hatten ihre Labors herausgefunden, mit welcher verschifft, sie kamen jedoch nicht mehr zum Einsatz. neuen Substanz sie da beschossen wurden. Natürlich wur- Inzwischen hatten die deutschen Truppen durch den an- den die Ergebnisse an die Bündnispartner Frankreich, Ita- geordneten Masseneinsatz von Lostgranaten beachtliche lien und die USA weitergeleitet. Alle begannen sofort Geländegewinne erzielen können. Der Einsatz-Anteil an fieberhaft mit der Entwicklung eines Produktionsverfah- Gasmunition schwankte mittlerweile zwischen 25 und 50% rens (über die man heftigst stritt) und der Errichtung von an den Kampfhandlungen. Die deutschen Truppen rückten Produktionsstätten. Eine davon wurde in England in Avon- immer weiter vor. Doch hierbei beging die OHL wiederum mouth aus dem Boden gestampft. einen fatalen taktischen Fehler: Die kämpfenden Truppen Doch auch hier musste man seine Erfahrungen im Um- waren inzwischen so sehr ausgedünnt worden, dass zur gang mit dieser gefährlichen Substanz machen: Unter den Sicherung der Geländegewinne keine andere Möglich- 1.100 Beschäftigten des Werks traten über 1.400 Krank- keit bestand, als die Stellungen sehr weit auseinander zu heitsfälle auf, die direkt auf den Umgang mit Lost zurück - ziehen – zu weit, wie sich schnell herausstellte. zuführen waren. Es gab 160 Unfälle mit 1.000 Ver- Im Juli und August 1918 – nachdem die deutsche Früh- brennungen. Weitere Sieben starben noch während der jahrsoffensive gescheitert war – war es den Alliierten kurzen Produktionszeit des Werks. Unzählige Beschwer- möglich, einen Gegenangriff zu starten, der letztlich die den traten auf: Blasen an Händen, auf der Kopfhaut, deutsche Niederlage einleitete. Von historischer Bedeu- dem Unterleib, den Schultern, Armen, Beinen und Füßen, tung ist hierbei, dass sich bei einem der letzten britischen Rötungen an allen nur erdenklichen Körperstellen. Ent- Lostangriffe der Obergefreite Adolf Hitler unter den Ver- zündungen der Augen, des Magens, des Rippenfells, der wundeten befand. Lunge. Aber auch Symptome, wie Entkräftung, geistige Zu jener Zeit begann Haber zu erkennen, dass der Krieg Trägheit, Gedächtnis- und Sehschwäche, die sich in ähn- nicht mehr durch Gas zu gewinnen war. So war er be- licher Weise bei Victor Meyer gezeigt hatten, traten auf. strebt, „den Krieg sobald wie möglich unter einigerma- Doch dies war kein Hindernis, da die Briten besessen wa- ßen tragbaren Bedingungen zu beenden“. Unter ren von dem Gedanken der Lost-Rache. Die „Heimatfront“ „tragbaren Bedingungen“ verstand er jedoch vor allem, wurde da ohne weiteres in Kauf genommen. Trotz massi- dass er irgendwie eine Friedensausbeute aus den Kampf- ver Anstrengungen gelang es den Briten aber erst zwei stoffideen ziehen konnte. Monate vor Kriegsende, im September 1918, funktions- Am 11. November 1918 kam es zum Waffenstillstand, den tüchtige Gelbkreuzgranaten an die Front zu schicken. auch die OHL zuvor bereits gefordert hatte. Duisberg hat- Noch bevor die alliierte Herstellung funktionierte, erhiel- te sich in die Schweiz abgesetzt, Haber war nach England ten die deutschen Truppen im November 1917 einen ers- geflüchtet. ten Vorgeschmack auf das, was da noch kommen sollte: Deutsche Lostgranaten waren den Engländern als Beute- Die Bilanz munition in die Hände gefallen, die sie nun munter gegen Warum wurde der Krieg trotz Lost verloren? die Deutschen verschossen. Frankreich war allerdings Tabelle 1 zeigt noch einmal die Entwicklung der chemi- schneller als Großbritannien: Bereits ab Juni 1918 konnte schen Kriegsführung von deutscher Seite auf. Eines wird ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

24 Mitteilung 3/2008 hieraus deutlich: Dem Deutschen Reich war es innerhalb Die unrühmliche Vorreiterrolle Deutschlands von relativ kurzen Zeiträumen auch unter Kriegsbedin- Auch die Produktionszahlen (Tabelle 2) zeigen, dass das gungen immer wieder gelungen, eine Reihe von „Neu- Deutsche Reich in der chemischen Aufrüstung eine un- entwicklungen“ auf dem Sektor der chemischen rühmliche Vorreiterrolle gespielt hat. Der deutsche Anteil Kriegsführung zu erzielen. Dies ist auf die damalige inten- an Kampfstoffen übersteigt mehr als die Hälfte der welt- sive Verflechtung von Militär, Wissenschaft und Industrie weit hergestellten Menge. zurückzuführen. Der Autor BORKIN, er befasste sich inten- siv mit der Geschichte der I. G. Farben, formulierte es Land Chlor Phos- Per- Chlor- Lost Blau- Summe so: „Die Farbenindustrie und das Kaiser-Wilhelm-Institut gen stoff pikrin säure (%) fungierten als chemische Kampftruppe.“ Deutschland 58.100 18.100 11.600 4.100 7.600 – 99.500 Zeitpunkt Munitionstyp Füllung Bemerkung (56,5) Oktober 1914 Schrapnell- Dianisidinchlor- ohne nennenswerte Frankreich 12.500 15.700 – 500 2.000 7.700 38.400 granaten sulfonat Wirkung (21,8) Januar 1915 15-cm-Granaten Xylylbromide ohne nennenswerte Großbritanien 20.800 1.400 – 8.000 500 400 31.100 Wirkung (17,6) April 1915 Blasangriffe Chlor der moderne Gas- krieg beginnt USA 2.400 1.400 – 2.500 900 – 7.200 Mai 1916 Granaten Diphosgen Weiterentwicklung (4,0) der Lungenkampf- Gesamt 93.800 36.600 11.600 15.100 11.000 8.100 176.200 stoffe (100) Juli 1917 Granaten, Clark I Maskenbrecher als Schwelkerzen Neuentwicklung Tabelle 2: Produktionsmengen chemischer Kampfstoffe (Zahlen nach L.F. HABER), (Die Produktionszahl für Clark I, die in der Tabelle Juli 1917 Granaten Lost Hautkampfstoff als fehlt, betrug für Deutschland etwa 3.300 t). neue Dimension Kühle Rechnerei Tabelle 1: Deutsche Einsatzstationen chemischer Kampfstoffe. Die Zahlenangaben über Gastote und -verletzte divergie- Man muss sich nun jedoch fragen, wieso das Deutsche ren in der Literatur beträchtlich. Insgesamt kann man Reich trotz dieser Kampftruppe den Krieg verloren hat. wohl davon ausgehen, dass im 1. WK zwischen 65 und 80 Die Antwort ist vielschichtig. Einerseits lag dies daran, Mio. Menschen unter Waffen standen. Die Verluste (Ausfäl- dass es nie lange gedauert hat, bis der „Feind“ die Neue- le) betrugen 35 Millionen, hiervon entfallen 10 Millionen rungen auf dem Chemiewaffensektor kopiert, vielleicht auf Tote. Etwa 1-1,3 Millionen kamen durch Kampfstoffe zu auch vervollkommnet und dann selbst eingesetzt hat. Je- Schaden (davon 30% Russen), knapp 100.000 starben der deutsche Wissenschaftler oder Militär musste also bei durch Kampfstoffe (davon 50% Russen). An den Brenn- einem Einsatz einer neuen Waffe damit rechnen, dass sie punkten des Gasgeschehens waren bis zu einem Drittel über kurz oder lang auch gegen die eigenen Truppen der Verluste Gasvergiftete, hiervon verstarb ein Fünftel. und gegen die eigene Heimat eingesetzt werden würde. Die Sterblichkeit betrug bei Lostgeschossen zwischen In logischer Konsequenz war es also unwahrscheinlich, knapp 2 und 8%. durch den Einsatz von chemischen Kampfstoffen einen Zahlen über Lostopfer finden sich nur in angelsächsischer strategischen Vorteil zu erzielen. Diese Kausalität hat Ha- Literatur. Obwohl der König der Kampfstoffe erst gegen ber nie richtig begriffen. Beim Lost hätte sich diese Regel Ende des Krieges eingesetzt werden konnte, hatte er jedoch fast nicht bestätigt: Einerseits war das Produk- doch den größten „Erfolg“: Die Zahl an Gelbkreuz vergif- tionsverfahren – z. B. im Gegensatz zum Chlor – nicht so teten englischen Soldaten beläuft sich auf 125.000 bis leicht in den Griff zu bekommen. Damit war natürlich ein 160.000. Dies entspricht 70-90% aller durch Kampfstoffe zeitlicher Vorteil der OHL verbunden, mit dem Hinden- vergifteten Briten. Die Zahl der „Sofort-Toten“ ist dage- burg und Ludendorff gepokert hatten. Andererseits war gen mit ca. 2% gering. Die USA verzeichnete rund 70.000 Lost als Waffe etwas völlig Neues und den bisherigen Gasvergiftete, davon entfielen etwa 40% auf Lost. Die Kampfstoffen um Klassen überlegen. Es musste nur eine Hälfte aller Gastoten entfiel auf Losteinwirkung. Die Spät- geschickte Art der Munitionierung erfunden und der folgen einer Lostexposition (und auch anderer Kampfstof- Feldeinsatz optimiert werden. Falls die Vervollkommnung fe) wurden erst viel später bekannt. Hierüber gibt es des Lost als Waffe schneller gelungen wäre, hätte dies daher keine verlässlichen Zahlen. dem Deutschen Reich wahrscheinlich einen kriegsent- Andere Rechnungen ergaben, dass auf 100 Brisanzge- scheidenden Vorteil erbracht. schosse ein Verlust entfiel, bei Gasgeschossen betrug das Doch der König der Kampfstoffe konnte unter den harten Verhältnis 45:1, bei Lost 22,5:1. Kriegsbedingungen erst zu einer brauchbaren Waffe ent- Statt sich über friedenschaffende Maßnahmen Gedanken wickelt werden, als das deutsche Heer bereits zu stark de- zu machen fanden kühle Rechner bei der Auswertung des zimiert war. Die Lost-Geländegewinne konnten nicht deutschen Zahlenmaterials über den ersten Weltkrieg gehalten werden, eine Beeinflussung des Kriegsverlaufs heraus, dass – legt man alle durch Kampfstoff verursach- war nicht mehr möglich. Ja man kann den Gedanken noch ten Ausfälle zu Grunde, etwa 96 kg Giftstoff pro Mensch weiterspinnen: Hätte der Krieg noch länger gedauert, erforderlich gewesen sind. Hätte man von Anfang an Lost wäre ein massiver alliierter chemischer Gegenschlag gehabt, so wären nur 30 kg erforderlich gewesen. Im Ver- gegen die deutschen Truppen und die völlig schutzlose gleich hierzu wurden etwa 2,5 Mio t Explosivstoffe ver- Zivilbevölkerung erfolgt. braucht (von allen Seiten). Hiermit wurden 10 Mio. Insbesondere Frankreich und die USA, die erst 1917 nach Soldaten ausgeschaltet. Somit sind 250 kg für eine Aus- Ludendorffs törichter Verkündung der Wiederaufnahme schaltung nötig. Die wirtschaftlichen Vorteile für chemi- des „Totalen U-Bootkriegs“ in den Krieg eintraten, hätten sche Kampfstoffe lagen damit klar auf der Hand. ihre Kampfstoffkapazitäten enorm ausbauen können, da Welche Perspektive für die Zukunft! Trotz Haager Kon- sie im Gegensatz zum Deutschen Reich über nahezu un- ferenz, deutscher Niederlage, eigener Verluste – die begrenzte Rohstofflagerstätten verfügten. Hinzu kam noch Kampfstoffe wurden seitens der Reichswehr noch lange etwas: Die USA hatten bereits das Lewisit kreiert – eine nicht zu den Akten gelegt. Substanz, die angeblich dem Lost in nichts nachstehen Zunächst jedoch wurde man von den Siegermächten ge- sollte. zwungen, die Restbestände zu vernichten. Nach dem Mot- Gott sei Dank, muss man heute sagen, war das Schicksal to: „Die Geister die ich rief …“ wurde man Lost nicht so auf unserer Seite – es wäre grausam geworden. leicht los. Hierüber demnächst mehr von Jürgen Thieme. ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

Mitteilung 3/2008 25

LOST – König der Kampfstoffe Die unendliche Umweltgeschichte – Teil 3/1

Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten; Jens Reuther, IUQ Dr. Krengel GmbH; Wolfgang Thamm, COM Druck, Schashagen. Der erste Weltkrieg ist vorüber. Die Munitionsbestände Berlin gelegenen, heereseigenen Einrichtung wurden an den Fronten bzw. was davon übrig war müssen inner- Lostgranaten von Anfang Mai 1917 bis Oktober 1918 her- halb kürzester Zeit ins Deutsche Reich zurückgeholt gestellt. Kurz nach Betriebsaufnahme entstand am werden. Ihre Vernichtung erfolgt auf sogenannten 21. Mai 1917 ein Brand mit nachfolgender Explosion, der „Zerlegestellen“. Doch wo war nach Kriegsende eigent- zu einem vierwöchigen Betriebsausfall führte. Aber im lich das Lost bzw. die Lost-Munition geblieben? Gab es August 1917 wurden bereits täglich 20.000 Granaten der denn noch unverfüllte Bestände? Was geschah damit? Und Kaliber 7,7 cm und 10,5 cm gefüllt. Im Jahre 1918 wurde wie war das mit der Munition? Hatte man alles verschos- zwecks Erreichung von Maximalleistungen rund um die sen oder kam so einiges von der Front zurück? Wohin hat Uhr in 4 Schichten zu 5 Stunden gearbeitet, unterbrochen man die gefährliche Fracht gebracht? Was geschah da- durch eine tägliche, vierstündige Pause für die Instand- mit? Gab es noch Bestände im Reich? Sicherlich mussten haltung und Reinigung der Anlagen. Auf die große ge- sie vernichtet werden, doch wie? Bisher hatte sich ja nie- sundheitliche Gefährdung der Beschäftigten wurde mand mit der Massenvernichtung von chemischen bereits im Teil 2 verwiesen. Kampfstoffen befasst. War mit den damaligen Methoden Die Feld-Munitions-Anstalt 4 Breloh: Die Betriebsaufnah- überhaupt eine Vernichtung möglich? me des Lost-Füllwerkes auf dem „Gasplatz Breloh“ in Fragen über Fragen, die Jürgen Thieme von der IABG Niedersachsen erfolgte Mitte Februar 1918. Insgesamt Berlin beantworten wird. Thieme hat für das Umwelt- waren 4 Füllkompanien tätig, die bis zu 90 Munitionszüge bundesamt Berlin eine Reihe von Grundlagenarbeiten monatlich mit unterschiedlicher Kampfstoffmunition ins zum Thema Rüstungsaltlasten erstellt. In einer Studie, die Feld abfertigten. im Jahr 1998 erschienen ist, schildert er detailliert die Mu- Beide Munitions-Anstalten sandten bis zum Kriegsende nitions-, Explosivstoff- und Waffenzerlegungen und ihre 503 Munitionszüge mit der immensen Menge von Folgen nach dem 1.WK („Umweltrelevante und Techni- 6.595.000 Stück Munition ab. Aus Tabelle 1 geht hervor, sche Aspekte der Zerlegung von Munition und Waffen daß die Adlershofer Anlage als „Haupt-Lost-Füllstelle“ nach dem 1. Weltkrieg“ veröffentlicht in „Texte des Um- weltbundesamtes 03/99“, Berlin). Anzahl der abgesandten Lost bildet in jener Zeit nur einen kleinen, aber dafür Datum Munitionszüge Summe Summe umso interessanteren und spannenderen Teilaspekt, wie Feldmunitions- Feldmunitions- Züge Lost (t) wir sehen werden. Vieles davon dringt – hier in der LGA anstalt 3 anstalt 4 (Stck) Rundschau – zum ersten Mal an das Ohr bzw. Auge der Öffentlichkeit: das Schicksal des Königs der Kampfstoffe 1917 121 - 121 1.755 nach dem Ersten Weltkrieg. 1918 232 150 382 5.539 Das Schicksal der Kampfstoff- gesamt 353 150 503 7.294 munition nach dem 1.WK Tabelle 1: Anmerkung – Für jeden Zug wurden durchschnittlich 18 t Von Jürgen Thieme, IABG Niederlassung Berlin Lostgemisch, d. h. ca. 14,5 t Lost und 20 % Beimengungen benötigt.

Wieviel war übrig nach der Schlacht? bezeichnet werden kann. Bevor wir uns mit dem Verbleib des Lostes beschäftigen, Bezüglich weiterer Füllstellen konnte folgendes ermittelt müssen wir der Frage nachgehen, welche Mengen an Lost werden: und der mit diesem Kampfstoff gefüllten Gelbkreuzmuni- Die deutsche Armee besaß feldmäßige Füllstationen hin- tion bei Kriegsende denn eigentlich noch vorhanden wa- ter der Westfront in Mancieulles, die später nach Saulnes ren. Die Angaben über die Menge des während des in der Nähe von Longwy verlagert wurde, und im Osten 1. Weltkrieges hergestellten Schwefellostes unterschei- bei Warschau. Keine der beiden Anlagen wurde offenbar den sich bei den verschiedenen Autoren. Am wahrschein- als passend für Gelbkreuzgranaten angesehen. Unklar lichsten erscheint die bereits im Teil 2 erwähnte, von bleibt, ob dennoch Füllversuche unter Verwendung ge- HABER angegebene Gesamtmenge von ca. 7.660 t. Um ringer Mengen Lost stattfanden. uns der Beantwortung der gestellten Frage zu nähern, soll Die Firma Bayer produzierte den Hauptanteil deutschen zunächst eine Bilanz zum Verbleib dieses Lostes bis zum Lostes und sollte parallel seine Füllung in Granaten in ih- Kriegsende im November 1918 versucht werden. Hierbei rer großen Sprengstofffüllanlage in Dormagen durchfüh- muss unterschieden werden, in welchem „Zustand“ der ren. Das Unternehmen wehrte sich jedoch offenbar Kampfstoff vorlag: erfolgreich unter Bezugnahme auf die Gefährlichkeit, mit beiden Materialien in derselben Anlage zu arbeiten. Bereits verfüllt in Munition Der wesentliche Teil des produzierten Lostes war bereits Verfüllt in später vergrabene Munition während des Krieges in Granaten und Minen verfüllt wor- Bei der Abnahme (Prüfung) der Granaten in den Füllsta- den. Zwecks Erniedrigung des Erstarrungspunktes (da- tionen wurde bereits eine größere Anzahl von Granaten mit es sich auch bei niedrigen Temperaturen gut verteilen wegen Undichtheiten beanstandet. Diese durften nicht an ließ) wurde es dabei mit ca. 20% Tetrachlormethan, die Front verschickt werden. Was sollte damit geschehen? Chlorbenzol oder Nitrobenzol versetzt. Wie bereits im vorangegangen Teil erwähnt, hatte der Als Füllstellen sind bekannt: Füllstellenleiter Dr. Stoltzenberg erhebliche Bedenken Die Feld-Munitions-Anstalt 3 Adlershof: In dieser nahe gegenüber ihrer Vergrabung. Sich darüber hinwegset- ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

22 Mitteilung 4/2008 zend wurden jedoch allein in Adlershof bis zum Kriegsen- Trotz intensiver Recherchen konnten zuverlässige Über- de ca. 12.000 Schuss beanstandete Artilleriemunition mit sichten nicht aufgefunden werden. Es ist davon auszuge- einem Gesamtgewicht von ca. 180 t, darunter u. a. ca. 8 t hen, daß derartige Gesamtübersichten aus verschie- Lost, in fünf „Gräbern“ nahe der Füllstelle „beseitigt“. denen Gründen, auf die im Weiteren noch eingegangen werden soll, nicht angefertigt wurden. Unverfülltes Lost Lost wurde nach bisherigem Kenntnisstand bis zum Was geschah mit dem unverfüllten Lost in Kriegsende im November 1918 hergestellt. Der immense Einsatz an Gasmunition im letzten Kriegsjahr führte je- Breloh? doch dazu, dass infolge der Rohstofflage und eines Man- Befassen wir uns zuerst mit dem Verbleib und der Ver- gels an Arbeitskräften der Bedarf in dem erforderlichen nichtung des unverfüllten Lostes in Breloh. Was sollte mit Umfang nicht mehr gedeckt werden konnte. den Vorräten chemischer Kampfstoffe geschehen? Hinzu kam gegen Kriegsende, dass die Organisation des Gemäß dem im Juni 1919 unterzeichneten Versailler Ver- Eisenbahntransportes empfindlich gestört war. Mitte No- trag, Teil V „Bestimmungen für Landheer, Seemacht und vember 1918 waren deshalb größere Mengen in den Luftfahrt“, Artikel 171, war Deutschland „der Gebrauch Herstellerwerken bzw. auf Eisenbahnabstellgleisen vor- von erstickenden, giftigen oder sonstigen Gasen, ebenso handen. Aus Sicherheitsgründen wurde entschieden, wie von allen entsprechenden Flüssigkeiten, Stoffen oder kurzfristig alle Restmengen (und auch die noch vorhande- ähnlicher Verfahren ... verboten“. Nach Artikel 169 waren nen Ausgangsprodukte) nach Breloh zu schaffen. Bestätigt Waffen, Munition und Kriegsgerät zu zerstören oder un- wird diese Zusammenführung in einer Besprechung beim brauchbar zu machen. Zur Umsetzung dieser Festlegun- Kriegsminister am 22. Januar 1919. Danach waren 432 t gen erwies es sich als problematisch, dass kein Lostgemisch (entspricht etwa 350 t reinem Lost) und 216 t geeignetes Verfahren bekannt war, größere Mengen von Halbfabrikate (d. h. das Ausgangsprodukt Thiodiglycol, Kampfstoffen zu vernichten. Hinzu kam, dass bis zum völ- auch als Oxol bezeichnet) vorhanden. kerrechtlichen Inkrafttreten des Friedensvertrages im Ja- Schlussfolgernd kann heute davon ausgegangen werden, nuar 1920 von Seiten der Alliierten kein wesentlicher dass 1919 sowohl bei den Herstellerwerken als auch in Druck vorhanden war, diese Frage zu lösen. Erst im März der Füllstelle Adlershof kein oder nur sehr geringe Men- 1920 entstand im Zusammenhang mit der Forderung nach gen unverfülltes Lost vorhanden waren. Rückgabe der Kesselwagen an die früheren Eigentümer ein Handlungsbedarf: Wer entleert die Wagen und säu- Gesamtbilanz bert sie so, dass sie wieder für normalen Transportzwecke Ausgehend von den vorher dargestellten Erkenntnissen verwendbar werden? Was wird mit den Kampfstoffen (La- ergibt sich für den Zeitraum von 1917 bis 1918 die in Ta- gerung oder Vernichtung)? belle 2 dargestellte Bilanz. Es sollte jedoch noch bis Ende 1920 dauern, bis verstärkt Geht man von den bereits erwähnten, insgesamt herge- Aktivitäten zur Schaffung von Vernichtungsmöglichkeiten stellten 7.660 t aus, liefert diese Bilanz eine akzeptable in Breloh entstanden. Übereinstimmung. Bezüglich der eingangs gestellten Fra- 24. Oktober 1919 - Die größte Giftgasexplosion Verwendung/Verbleib Menge (t) Bemerkung Deutschlands Das Lostproblem löste sich jedoch zunächst anders, zu- Verbrauch durch Füllung 0? vermutlich keine Füllung mindest teilweise, denn am 24. Oktober 1919 ereignete hinter der Front sich im Sammellager Breloh, das zu diesem Zeitpunkt mit Füllung in Adlershof und 7.294 losen Kampfstoffen und Kampfstoffmunition angefüllt war, in Brehloh, Versand in eine verheerende Großexplosion. Dabei wurden 42 Ge - Munitionszügen bäude völlig zerstört, darunter auch die früheren Lost- Vergrabung in Adlershof 8 füllstellen. Betroffen waren auch eine größere Munitions- menge und 40 Kesselwagen mit flüssigen Kampfstoffen. Lagermenge in Brehloh 350 bei Kriegsende verblie- 1918 bene Menge, vorrangig Reste von Herstellerfir- men und aus nicht recht- zeitig in den Füllstellen eingetroffenen Kesselwa- gen Lagermenge bei Herstel- 0 Reste Ende 1918 nach lerfirmen 1918 Breloh transportiert Summe: 7.652

Tabelle 2 ge kann deshalb davon ausgegangen werden, dass sich ab 1919 das gesamte unverfüllte Lost in Breloh befand. Die Lagerung erfolgte vorrangig in Spezialkesselwagen mit einem Fassungsvermögen von jeweils ca. 15 Tonnen, die auf den dortigen Gleisanlagen abgestellt waren. Gasplatz Breloh nach der Explosion 1919 Leider verbleibt für die Gesamtbeurteilung der Proble- matik folgende offene Frage: Welche Munitionsmengen, Einen Eindruck über die Situation im Bereich der Explo- die von den Füllstellen versandt wurde, gelangten nicht sionsstelle vermittelt das Bild. zum Einsatz und verblieben bei Kriegsende in den Muni- Leider liegen keine Angaben darüber vor, in welchen tionslagern der deutschen Artilleriedepots und in front- Kesselwagen sich Lost befunden hatte und wie umfang- nahen, feldmäßigen Depots oder befanden sich auf dem reich die Zerstörungen an den Wagen waren. Berücksich- Transport zur Front? tigt man die in späteren Unterlagen angegebenen ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

Mitteilung 4/2008 23 Restbestände, könnte es sich um ca. 50 Tonnen reines Lost 1922 entstand der Verdacht, dass er den Alliierten als ver- gehandelt haben, dass von der Explosion betroffen und nichtet gemeldete Kampfstoffe illegal auf seinem Firmen- freigesetzt worden war. Damit waren noch ca. 300 t Lost gelände in eingelagert hat. Bewiesen wurde der verblieben. Verdacht leider dadurch, daß es hier im Mai 1928 zu ei- nem Explosionsunglück mit der Freisetzung von Phosgen Vernichtung durch Dr. Stoltzenberg kam. Am 05. November 1920 fand in Breloh eine Besprechung - Die Explosion in Breloh war geeignet die Interalliierte unter Leitung des Reichsschatzministeriums über die Militärkontrollkommission (IMKK) über den dabei ver- Möglichkeiten der Entleerung, Umformung und Vernich- nichteten und den verbliebenen Bestand zu täuschen. Of- tung der noch eingelagerten Kampfstoffe statt (vorrangig fenbar gelang das, denn im Abschlussbericht der IMKK waren betroffen: Perstoff, Lost, Dick, Klopper, Phosgen, vom 31. Januar 1927 wird angegeben, daß im Rahmen der Chlor und Clark I). Gleichzeitig wurden die örtlichen Ver- Demilitarisierung im Deutschen Reich insgesamt nur hältnisse für eine Nutzung der noch vorhandenen Anla- 6.038 Gallonen (d. h. ca. 27,5 m3 bzw. ca. 35 t) flüssige gen geprüft. Kurz danach unterbreitete Dr. Stoltzenberg Kampfstoffe vernichtet wurden. konkrete technische Vorschläge. Bereits im Laufe des No- vembers 1920 wurde mit dem Bau von speziellen Tankla- Schlussfolgernd muss davon ausgegangen werden, dass gern für eine Zwischenlagerung begonnen. Der Neubau eine größere Menge Lost nicht vernichtet und in durch einer Kampfstoffverbrennungsanlage sollte im Bereich die IMKK nicht aufgefundenen Lagern aufbewahrt wurde. des früheren Clarkwerkes unter Nutzung „aller brauchba- Eine Erhärtung des Verdachtes ergibt sich daraus, dass in ren Gegenstände“ bis zum 01. März 1921 erfolgen. Letz- den Jahren 1922 und 1923 Lieferungen deutscher Kampf- tendlich kam es aber erst im Mai 1921 zu einem Vertrag stoffe nach Spanien erfolgten. Dort fanden sie Verwen- zwischen der Reichstreuhandgesellschaft AG Berlin und dung bei Kampfstoffeinsätzen gegen die aufständischen Dr. Stoltzenberg, nachdem er die in insgesamt 85 Kessel- marokkanischen Rif-Kabylen (hierüber wird im nächsten wagen befindlichen Kampfstoffe zu vernichten hatte. An- Teil noch berichtet werden). gegeben wird, dass es sich dabei u. a. um 385 t Lostgemisch handelt, das aus einem Gemisch von Lost Was geschah mit der Lostmunition? (Dichlordiethylsulfid) mit Tetrachlorkohlenstoff bzw. Wesentlich komplizierter und noch undurchsichtiger Chlorbenzol bestand. Ein aufgefundener Erläuterungsbe- stellt sich der Verbleib der bei Kriegsende über die richt beschreibt das angewandte Verfahren folgenderma- Kampfgebiete verteilten bzw. im Deutschen Reich ver- ßen: „Zur Verbrennung werden die mit einer gewissen bliebenen Kampfstoffmunition dar. Um den steinigen Weg Menge leichtflüssigen Teeröl vermischten Kampfstoffe bis zu einer unter den damaligen Gesichtspunkten ver- über Verbrennungsdüsen in die Verbrennungskammer tretbaren Vernichtung der Gelbkreuzmunition darzustel- geblasen. Die Verbrennung wird eingeleitet durch reine len, wollen wir uns den chronologischen Ablauf etwas Teerölfeuerung, mit deren der Ofen (Verbrennungskam- näher ansehen. mer) zur Weißglut erhitzt wird. Die Abgase werden mittels Ein vermutlich Anfang 1918 erarbeiteter und vom Kaiser Exhaustor durch einen 60 m hohen Schornstein getrieben Wilhelm sowie vom König von Bayern bestätigter Demo- und entweichen dann ins Freie. bilmachungsplan sah vor, nach dem „ruhmvollen Sieg“ ... Bei Umgang mit Kampfstoffen ist das Tragen einer eine geordnete Überführung des deutschen Heeres aus Kampfmaske sowie zum Schutz gegen Hautverletzungen dem Kriegsstand in den Friedensstand zu gewährleisten. von Gummi-Anzügen und -Handschuhen erforderlich.“ In seinem Teil X waren Festlegungen für den Umgang mit Eine „Vorläufige Genehmigung zum Betrieb der Vernich- Waffen, Munition usw. enthalten. U. a. war im Punkt 390 tungsanlage“ wurde am 14. September 1921 erteilt. Es ist festgelegt: „Gasmunition ist an die Kommandantur des davon auszugehen, dass die Vernichtungsarbeiten noch Gas-Übungsplatzes Breloh abzugeben.“ im September 1921 begonnen wurden. Mitte Oktober 1921 wird berichtet: „Die Vernichtung der Kampfgase Die deutsche Disziplin versagt – auf dem ist... lebhaft im Gange.“ Nach einer Meldung vom 08. No- Rückzug herrscht das Chaos vember 1922 war das Lost „restlos“ vernichtet. Aber es kam alles anders: Mit dem Kriegsende und der Unterzeichnung des Waffenstillstandes am 11. November Wurde das gesamte Lost vernichtet 1918 mußte die gesamte verbliebene Munition kurzfristig Eine Reihe von Fakten sprechen dagegen, dass in Breloh geräumt und an festgelegte Lagerplätze im Deutschen eine vollständige Vernichtung erfolgte. Reich zurückgeführt werden. Der Zustand in diesen La- gern um die Jahreswende 1918/19 wurde in einem Brief - Chemische Kampfstoffe nahmen in den Plänen der des Vorsitzenden der Zentralaufsichtsstelle für Spreng- Reichswehrführung hinsichtlich einer „Wiederaufnahme stoff- und Munitionsfabriken (ZAUF) folgendermaßen ge- des Kampfes“ einen festen Platz ein. Frühzeitig ging man schildert: „Infolge des plötzlichen Rückmarsches der aufgrund der Erfahrungen aus dem 1. Weltkrieg davon Armee und der Räumung der dem Feinde nahen Gebiete aus, dass im „Zukunftskriege“ chemische Kampfstoffe des Landes kam die Munition größtenteils ohne jede Ord- eine wichtige Rolle spielen würden. Einen Einsatz durch nung mit und ohne Zünder auf den Lagerplätzen an. Nicht einschlägige Verträge wirksam unterbinden zu können, selten wurde sie sogar auf Lagerplätze gebracht, für die hielt man für nicht sehr wahrscheinlich. Die Chemiker- sie eigentlich gar nicht bestimmt war, weil die Eisenbah- Zeitung stellte schon 1919 fest: „Ohne die Fortschritte der nen nach den in Aussicht genommenen Lagerplätzen ent- Chemie ist das Heer undenkbar“. Insbesondere wurde weder überlastet oder infolge von Ausständen außer darauf abgezielt, alle Kenntnisse zu bewahren und weiter- Betrieb war. Jedenfalls entsprach ... die Unterbringung zuentwickeln sowie die vollständige Vernichtung zu ver- und Lagerung sowie die Verteilung und Anordnung in kei- hindern. ner Weise den Bestimmungen …“ (Erläuterung: Als ge- - Mit Dr. Stoltzenberg war eine Person vorhanden, die sich plante Lagerplätze sind insbesondere die ca. 70 nachdrücklich für eine Verzögerung der Vernichtung ein- Artilleriedepots zu verstehen. Sie waren von den jeweils setzte. Belegt ist eine Äußerung in einer Besprechung im zuständigen Heeresführungen in Preußen, Bayern, Sach- Januar 1923, nach der versucht werden sollte, die Vernich- sen und Württemberg während des Krieges für die Muni- tung von noch vorhandenen Kampfstoffen (hier betr. tionslaborierung und -lagerung eingerichtet bzw. Phosgen und Blaukreuz) hinauszuschieben. Aber bereits erweitert worden). Fortsetzung folgt. ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

24 Mitteilung 4/2008

LOST – König der Kampfstoffe Die unendliche Umweltgeschichte – Teil 3/2 Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg. Mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Baye- risches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten. Unter der in den Depots angelieferten Munition be- Jahres 1919 nach Breloh. Damit ist auch zu erklären, fand sich oft auch Kampfstoffmunition, wobei es sich dass von der Explosion im Oktober 1919 die gewaltige vorrangig um Artilleriemunition (Granaten und Wer- Menge von ca. 1 Mio. Kampfstoffgranaten und 230.000 ferminen) handelte. Da wegen der großen Menge der Kampfstoffminen mit einer Gesamtmasse von 20.000 t ankommenden Munition an eine systematische Ein- betroffen war. gangskontrolle und Einlagerung nicht zu denken war, Eine „einfachere“ Lösung wurde z. B. im Munitions- gelangte u. a. auch Gelbkreuzmunition zwischen ande- lager Ofenerdiek bei Hamburg gefunden: Im Januar re, herkömmliche Munition. Verstärkt wurde dieses 1919 wurden Blaukreuz- und Gelbkreuzgranaten in Durcheinander dadurch, dass ihre schnelle, zuverlässi- ehemaligen Sprenggruben in 1 m Tiefe vergraben. ge Identifizierung und Aussonderung z. T. wegen des (Anmerkung: Ende 1921 wurden diese Granaten wie- Fehlens der Kreuz-Kennzeichnung oder der geringen der ausgegraben und vor Ort gesprengt). Für den Ver- äußerlichen Unterschiede zwischen herkömmlicher bleib von nicht transportsicherer Gasmunition wurde und Kampfstoffmunition erschwert war. In einem ein- anläßlich einer Besprechung im Januar 1919 in Anwe- schlägigen Bericht heißt es: „Leider ist mit Rücksicht senheit von Geheimrat Haber festgelegt: „Undichte auf das völlige Versagen jeglicher Disziplin bei Eintre- und unsichere Gasmunition soll schleunigst ausge- tung der Demobilmachung dem vom Kriegsministe- sondert und vernichtet werden, hinsichtlich der dabei rium erlassenen Befehl der Sammlung sämtlicher zu beachtenden Gesichtspunkte halten die damit be- Kampfstoffe in Breloh nicht Folge geleistet worden; auftragten Persönlichkeiten dauernde Verbindung mit infolgedessen sind die größten Mengen von Gasmuni- dem Kaiser-Wilhelm-Institut.“ Gemäß vorliegenden tion auf die verschiedensten Munitionslager Deutsch- Recherchen musste auf die besagten Hinweise zur Ver- lands zurücktransportiert bzw. an Ort und Stelle liegen nichtung dieser gefährlichen Munition jedoch noch bis gelassen worden“. Zwangsläufig ergibt sich daraus, 1921 gewartet werden. dass eine zuverlässige Übersicht über den Bestand an Kampfstoffmunition zum Ende des 1. WK nicht vorlag. 1920 – Der Höhepunkt der Munitionszerle- In einem späteren Bericht vom Oktober 1920 wird an- gungen gegeben, „dass im Deutschen Reich schätzungsweise Im Januar 1920 erfolgte der Austausch der Friedensur- 1.000 t Gasgeschosse und Flaschen verstreut sein dürf- kunden und damit das völkerrechtliche Inkrafttreten. ten. Im ganzen lagern solche Geschosse an etwa 35 Gleichzeitig nahmen die Angehörigen der Interalliier- Stellen mit ca. 2 Mill. Schuss.“ Anzumerken ist hierzu, ten Militärkontrollkommission (IMKK) ihre Arbeit auf. dass es sich dabei vorrangig um Blaukreuzgeschosse Diese überwachten auf der Grundlage regelmäßig (meist mit CLARK I) handelte, aber auch in geringerer durch die deutsche Seite abzugebender Berichte und Stückzahl um mit Lost gefüllte Gelbkreuzgeschosse. im Rahmen oftmaliger Kontrollen alle Zerstörungen, Zerlegungen und Unbrauchbarmachungen. Von be- 1919 – Ein Syndikat beginnt mit der Muni- sonderer Bedeutung für die hier zu betrachtende Pro- tionszerlegung blematik war, dass die IMKK die Einholung einer Am 28. 6. 1919 erfolgte die Unterzeichnung des Vertra- Genehmigung „zu jeder Ortsveränderung von zu zer- ges von Versailles. Wie bereits erwähnt, sollten zur Ein- legender Munition und auch bei Versendung von be- haltung der Deutschland auferlegten Verpflichtungen reits zerlegter Munition“ verlangte. Die Zerlegung von der Reichsregierung kurzfristig Maßnahmen zur herkömmlicher Munition erreichte Ende des Jahres Verschrottung der Munition getroffen werden. Wegen 1920 ihren Höhepunkt. Die Zahl der Zerlegestellen hat- der fehlenden Transportkapazitäten und der gewalti- te nach dem Inkrafttreten des Syndikatsvertrages kon- gen Menge der Munition, aber auch zur Vermeidung tinuierlich zugenommen und belief sich im Dezember von Gefährdungen bei zusätzlichen Verlade- und auf 64 Einrichtungen. In Tabelle 3 sind die Anzahl der Transportarbeiten wurde entschieden, die herkömm- Zerlegestellen von Mitte 1920 bis Mitte 1922 angege- liche Munition i. d. R. „an Ort und Stelle“ zu zerlegen und zu vernichten. Für diese Arbeiten schloss das Tabelle 3 durch das Reichsschatzministerium beauftragte Datum Zerlegestellen für Artillerie- Reichsverwertungsamt am 13. 9. 1919 mit einem dazu und Minenwerfer-Munition gebildeten „Zerlegungssyndikat“ einen Rahmenver- trag ab. In diesem Syndikat waren über 60 Firmen 07.20 44 vertreten, die meist aus ihrer früheren Tätigkeit Erfah- 01.10.20 52 rungen im Umgang mit Munition besaßen. Bezüglich Kampfstoffmunition hieß es jedoch im § 3 des sog. 01.12.20 64 „Syndikatsvertrags K. D. 122“: „Gelb- und Grünkreuz- 01.01.21 58 geschosse sind ausgeschlossen, da sie vernichtet wer- den müssen.“ Aber was sollte mit diesen Geschossen 01.04.21 44 geschehen? Drei in verschiedenen Unterlagen aufge- 01.07.21 39 fundene Lösungsmöglichkeiten charakterisieren das herrschende Durcheinander. 01.10.21 33 Ein größerer Teil, jedoch keineswegs die gesamte 01.01.22 34 Kampfstoffmunition, gelangte in Umsetzung des vom 01.07.22 14 Kriegsministerium erlassenen Befehls im Laufe des ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

18 MITTEILUNGEN 5/2008 ben. Gleichzeitig können aber auch aus diesen Anga- Einen Sonderfall stellte die in vielen Zerlegestellen la- ben Rückschlüsse auf den Umfang der Zerlegungen gernde undichte Munition dar. Zur Beseitigung dieser abgeleitet werden. nicht transportsicheren Munition wurde im Juni 1921 festgelegt, dass Fachleute (angegeben wird ein Kom- Aber was geschah mit der Kampfstoffmunition? mando des Dr. Stoltzenberg, an anderer Stelle Sachver- Ziel einer Beratung Ende Oktober 1920 im Reichs- ständige der Deutschen Evaporator AG) alle Stellen, schatzministerium war, einen Entscheidungsvorschlag wo derartige Munition lagerte, aufsuchen sollten. Die (!) zu erarbeiten, ob die noch im Reich an verschiede- Vernichtung sollte „in geeigneter Weise an Ort und nen Stellen gelagerte Kampfstoffmunition an Ort und Stelle“ erfolgen. Ob derartige Aktionen umfassend er- Stelle zu zerstören ist oder zentral in Breloh zu diesem folgten, bleibt zweifelhaft. Bisher konnte keine Akte Zweck gesammelt wird. Nach Meinung von Geheimrat aufgefunden werden, die das bestätigte. Haber kam nur die zentrale Vernichtung in Frage. Im 1922 – Die Funde von „Gasmunition“ reißen Dezember wird in einem „Bericht über die Vernich- tung von Gas-Kampfstoffen“ festgestellt: „Die Samm- nicht ab In den ca. 30 Zerlegestellen, die zu jenem Zeitpunkt lung der Munition ist neuerdings eingeleitet worden, noch arbeiteten, wurde weiterhin „Gasmunition“ ge- jedoch nicht zu Ende geführt.“ „Es fehlt bis heute für funden. So wurde Ende Dezember 1921 in einem jegliche Art der Vernichtung sowohl die Erfahrung in Schreiben mitgeteilt, dass „auch noch bei anderen chemischer Hinsicht, wie auch über die erforderlichen Zerlegefirmen Gasgeschosse gefunden" worden sind, Schutzmaßnahmen bei der Vernichtung keinerlei die genaue Anzahl stehe jedoch noch nicht fest. Im Ja- Unterlagen vorhanden sind.“ nuar 1922 informierte schließlich auch das Reichs- 1921 – Abtransport ja, aber nur mit Geneh- wehrministerium die IMKK darüber, „dass bei der genauen Untersuchung vor der Zerlegung von Artille- migung riemunition auch künftig immer noch Gasgeschosse Wie bereits erwähnt, waren ab dem III. Quartal 1921 aufgefunden werden, die gesammelt und nach Beendi- auf dem Gasplatz Breloh die technische Einrichtungen gung der Zerlegearbeiten des betreffenden Lagers und das Fachpersonal (Dr. Stoltzenberg) vorhanden, von Fall zu Fall nach dem Gasplatz Breloh versandt um die Vernichtung von unverfüllten chemischen werden müssen.“ Einen Vorschlag zum Transport von Kampfstoffen und anschließend auch von Munition in Gasmunition nach Breloh ohne Genehmigung lehnte größerem Umfang durchzuführen. Im März 1921 wird jedoch die IMKK weiterhin strikt ab und bekräftigte in einer Beratung im Reichsschatzministerium endlich ihre Festlegung, Transporte nur nach Erteilung einer die Notwendigkeit, „alle mit Kampfstoffen gefüllten Genehmigung zuzulassen. Geschosse mit Beschleunigung unbrauchbar zu ma- Folgendes Beispiel soll für derartige, späte Funde und chen, allerseits anerkannt. Auch wurde die Hinschaf- durchgeführte Transporte angeführt werden: Vom März fung nach Breloh im allgemeinen für die hierzu bis Mai 1922 wurde ein größere Menge Gelbkreuz- zweckmäßigste Maßnahme erachtet ... Herr Geheimrat Granaten aus Zweedorf (Mecklenburg-Vorpommern) Mende ... erklärte sich einverstanden mit dem Trans- nach Breloh transportiert. port von Gasgeschossen mit Zündern auf der Eisen- bahn, wenn diese transportsicher sind.“ Danach Schlussfolgerungen erfolgten mit der Bahn konkrete Abstimmungen über Doch welche Verdachtsmomente ergeben sich nun aus den Abtransport von Kampfstoffmunition von den Zer- dem geschilderten langwierigen Anlauf der Vernich- legestellen. Er erwies sich auf Grund der o. g. Restrik- tung der Kampfstoffmunition? Betrachten wir uns dazu tionen der IMKK (betr. Einholung der Genehmigung) die Situation in den Zerlegestellen Ende 1920/Anfang jedoch als kompliziert und war nach vorliegenden Ak- 1921. Sie ist folgendermaßen zu charakterisieren: ten offensichtlich nur mit großem Aufwand realisier- – In allen größeren Munitionszerlegestellen befand bar. Folgendes Beispiel soll das unterstreichen: Nach sich in den riesigen Stapeln auch Kampfstoffmuni- einer Meldung des Zeugamtes Cassel vom 12. 4. 1921 tion. Eine zuverlässige Identifizierung und Ausson- mußten die im Rahmen der Zerlegearbeiten der derung war nicht immer möglich. Sprengstoffabriken Hoppecke in Cassel-Ihringshau- – Die Unternehmer des Zerlegesyndikats hatten die sen aufgefundenen über 2.000 Grünkreuzgranaten gesamte Munition gekauft und waren zwecks Errei- (davon einige Geschosse undicht) und eine kleine chung eines Gewinns an einer Übergabe aller Menge Gelbkreuz-Munition zurückgestellt und im Metallteile, insbesondere der Munitionskörper, an Freien eingelagert werden. Mehrfache Anträge zum die Stahlwerke interessiert. Theoretisch konnten Abtransport waren bis dahin ohne Erfolg geblieben. nach der Entnahme des Kampfstoffes aus den „Gas- Insgesamt konnten zum Ablauf und zum Gesamtum- granaten“ auch deren Granatenhüllen (evtl. nach zu- fang der Transporte nach Breloh bisher nur wenige sätzlichem Ausbrennen) abgeliefert werden. Unterlagen aufgefunden werden. Berücksichtigt man Gelbkreuzgranaten konnten prinzipiell nach dem eine durch zuständige Stellen gegebene (berechtigte) Entfernen des Verschlussstopfens entleert werden. Empfehlung, sollten die Kampfstoffe und die Munition Notwendig waren dazu lediglich geeignete Gefäße, möglichst im Winter transportiert werden, „weil diese in die die flüssigen Stoffe umzufüllen waren. Aber: bereits bei plus 12 Grad frierend, in diesem Zustand Ging eine Versickerung im Erdboden an abgelege- keine Gefahr bilden.“ Daraus wäre abzuleiten, dass als ner Stelle nicht sogar schneller? Vorzugstransportzeitraum erst der Winter 1921/22 an- – Für die ggf. angefallenen Umfüllbehältnisse bzw. zusehen war. Doch welche Schlussfolgerung ergibt die Kampfstoffe hatte die Zerlegefirma im Grunde sich daraus? Gemäß Tabelle 3 waren zu diesem Zeit- keine Verwendung, ja sie stellten sogar eine Gefähr- punkt ja nur noch etwa die Hälfte der ehemaligen Zer- dung des Betriebes dar. legestellen in Betrieb. Die anderen hatten ihre Arbeit – Immer wieder tauchten in den Lagerstapeln auf den eingestellt und mussten gemäß zentraler Weisung alle Artilleriedepots auch undichte Kampfstoffgranaten genutzten Anlagen und Flächen „aufgeräumt und auf. Irgendetwas musste damit geschehen. Nur hatte sauber“ zurückgeben. Aber wo war die noch nicht man keine Möglichkeiten, das Gift zumindest einiger- abtransportierte Kampfstoffmunition verblieben ...? maßen sachgerecht zu vernichten. Fortsetzung folgt ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

MITTEILUNGEN 5/2008 19

LOST – König der Kampfstoffe Die unendliche Umweltgeschichte – Teil 3/2 Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg. Mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Baye- risches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten. Unter der in den Depots angelieferten Munition be- Jahres 1919 nach Breloh. Damit ist auch zu erklären, fand sich oft auch Kampfstoffmunition, wobei es sich dass von der Explosion im Oktober 1919 die gewaltige vorrangig um Artilleriemunition (Granaten und Wer- Menge von ca. 1 Mio. Kampfstoffgranaten und 230.000 ferminen) handelte. Da wegen der großen Menge der Kampfstoffminen mit einer Gesamtmasse von 20.000 t ankommenden Munition an eine systematische Ein- betroffen war. gangskontrolle und Einlagerung nicht zu denken war, Eine „einfachere“ Lösung wurde z. B. im Munitions- gelangte u. a. auch Gelbkreuzmunition zwischen ande- lager Ofenerdiek bei Hamburg gefunden: Im Januar re, herkömmliche Munition. Verstärkt wurde dieses 1919 wurden Blaukreuz- und Gelbkreuzgranaten in Durcheinander dadurch, dass ihre schnelle, zuverlässi- ehemaligen Sprenggruben in 1 m Tiefe vergraben. ge Identifizierung und Aussonderung z. T. wegen des (Anmerkung: Ende 1921 wurden diese Granaten wie- Fehlens der Kreuz-Kennzeichnung oder der geringen der ausgegraben und vor Ort gesprengt). Für den Ver- äußerlichen Unterschiede zwischen herkömmlicher bleib von nicht transportsicherer Gasmunition wurde und Kampfstoffmunition erschwert war. In einem ein- anläßlich einer Besprechung im Januar 1919 in Anwe- schlägigen Bericht heißt es: „Leider ist mit Rücksicht senheit von Geheimrat Haber festgelegt: „Undichte auf das völlige Versagen jeglicher Disziplin bei Eintre- und unsichere Gasmunition soll schleunigst ausge- tung der Demobilmachung dem vom Kriegsministe- sondert und vernichtet werden, hinsichtlich der dabei rium erlassenen Befehl der Sammlung sämtlicher zu beachtenden Gesichtspunkte halten die damit be- Kampfstoffe in Breloh nicht Folge geleistet worden; auftragten Persönlichkeiten dauernde Verbindung mit infolgedessen sind die größten Mengen von Gasmuni- dem Kaiser-Wilhelm-Institut.“ Gemäß vorliegenden tion auf die verschiedensten Munitionslager Deutsch- Recherchen musste auf die besagten Hinweise zur Ver- lands zurücktransportiert bzw. an Ort und Stelle liegen nichtung dieser gefährlichen Munition jedoch noch bis gelassen worden“. Zwangsläufig ergibt sich daraus, 1921 gewartet werden. dass eine zuverlässige Übersicht über den Bestand an Kampfstoffmunition zum Ende des 1. WK nicht vorlag. 1920 – Der Höhepunkt der Munitionszerle- In einem späteren Bericht vom Oktober 1920 wird an- gungen gegeben, „dass im Deutschen Reich schätzungsweise Im Januar 1920 erfolgte der Austausch der Friedensur- 1.000 t Gasgeschosse und Flaschen verstreut sein dürf- kunden und damit das völkerrechtliche Inkrafttreten. ten. Im ganzen lagern solche Geschosse an etwa 35 Gleichzeitig nahmen die Angehörigen der Interalliier- Stellen mit ca. 2 Mill. Schuss.“ Anzumerken ist hierzu, ten Militärkontrollkommission (IMKK) ihre Arbeit auf. dass es sich dabei vorrangig um Blaukreuzgeschosse Diese überwachten auf der Grundlage regelmäßig (meist mit CLARK I) handelte, aber auch in geringerer durch die deutsche Seite abzugebender Berichte und Stückzahl um mit Lost gefüllte Gelbkreuzgeschosse. im Rahmen oftmaliger Kontrollen alle Zerstörungen, Zerlegungen und Unbrauchbarmachungen. Von be- 1919 – Ein Syndikat beginnt mit der Muni- sonderer Bedeutung für die hier zu betrachtende Pro- tionszerlegung blematik war, dass die IMKK die Einholung einer Am 28. 6. 1919 erfolgte die Unterzeichnung des Vertra- Genehmigung „zu jeder Ortsveränderung von zu zer- ges von Versailles. Wie bereits erwähnt, sollten zur Ein- legender Munition und auch bei Versendung von be- haltung der Deutschland auferlegten Verpflichtungen reits zerlegter Munition“ verlangte. Die Zerlegung von der Reichsregierung kurzfristig Maßnahmen zur herkömmlicher Munition erreichte Ende des Jahres Verschrottung der Munition getroffen werden. Wegen 1920 ihren Höhepunkt. Die Zahl der Zerlegestellen hat- der fehlenden Transportkapazitäten und der gewalti- te nach dem Inkrafttreten des Syndikatsvertrages kon- gen Menge der Munition, aber auch zur Vermeidung tinuierlich zugenommen und belief sich im Dezember von Gefährdungen bei zusätzlichen Verlade- und auf 64 Einrichtungen. In Tabelle 3 sind die Anzahl der Transportarbeiten wurde entschieden, die herkömm- Zerlegestellen von Mitte 1920 bis Mitte 1922 angege- liche Munition i. d. R. „an Ort und Stelle“ zu zerlegen und zu vernichten. Für diese Arbeiten schloss das Tabelle 3 durch das Reichsschatzministerium beauftragte Datum Zerlegestellen für Artillerie- Reichsverwertungsamt am 13. 9. 1919 mit einem dazu und Minenwerfer-Munition gebildeten „Zerlegungssyndikat“ einen Rahmenver- trag ab. In diesem Syndikat waren über 60 Firmen 07.20 44 vertreten, die meist aus ihrer früheren Tätigkeit Erfah- 01.10.20 52 rungen im Umgang mit Munition besaßen. Bezüglich Kampfstoffmunition hieß es jedoch im § 3 des sog. 01.12.20 64 „Syndikatsvertrags K. D. 122“: „Gelb- und Grünkreuz- 01.01.21 58 geschosse sind ausgeschlossen, da sie vernichtet wer- den müssen.“ Aber was sollte mit diesen Geschossen 01.04.21 44 geschehen? Drei in verschiedenen Unterlagen aufge- 01.07.21 39 fundene Lösungsmöglichkeiten charakterisieren das herrschende Durcheinander. 01.10.21 33 Ein größerer Teil, jedoch keineswegs die gesamte 01.01.22 34 Kampfstoffmunition, gelangte in Umsetzung des vom 01.07.22 14 Kriegsministerium erlassenen Befehls im Laufe des ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

18 MITTEILUNGEN 5/2008 ben. Gleichzeitig können aber auch aus diesen Anga- Einen Sonderfall stellte die in vielen Zerlegestellen la- ben Rückschlüsse auf den Umfang der Zerlegungen gernde undichte Munition dar. Zur Beseitigung dieser abgeleitet werden. nicht transportsicheren Munition wurde im Juni 1921 festgelegt, dass Fachleute (angegeben wird ein Kom- Aber was geschah mit der Kampfstoffmunition? mando des Dr. Stoltzenberg, an anderer Stelle Sachver- Ziel einer Beratung Ende Oktober 1920 im Reichs- ständige der Deutschen Evaporator AG) alle Stellen, schatzministerium war, einen Entscheidungsvorschlag wo derartige Munition lagerte, aufsuchen sollten. Die (!) zu erarbeiten, ob die noch im Reich an verschiede- Vernichtung sollte „in geeigneter Weise an Ort und nen Stellen gelagerte Kampfstoffmunition an Ort und Stelle“ erfolgen. Ob derartige Aktionen umfassend er- Stelle zu zerstören ist oder zentral in Breloh zu diesem folgten, bleibt zweifelhaft. Bisher konnte keine Akte Zweck gesammelt wird. Nach Meinung von Geheimrat aufgefunden werden, die das bestätigte. Haber kam nur die zentrale Vernichtung in Frage. Im 1922 – Die Funde von „Gasmunition“ reißen Dezember wird in einem „Bericht über die Vernich- tung von Gas-Kampfstoffen“ festgestellt: „Die Samm- nicht ab In den ca. 30 Zerlegestellen, die zu jenem Zeitpunkt lung der Munition ist neuerdings eingeleitet worden, noch arbeiteten, wurde weiterhin „Gasmunition“ ge- jedoch nicht zu Ende geführt.“ „Es fehlt bis heute für funden. So wurde Ende Dezember 1921 in einem jegliche Art der Vernichtung sowohl die Erfahrung in Schreiben mitgeteilt, dass „auch noch bei anderen chemischer Hinsicht, wie auch über die erforderlichen Zerlegefirmen Gasgeschosse gefunden" worden sind, Schutzmaßnahmen bei der Vernichtung keinerlei die genaue Anzahl stehe jedoch noch nicht fest. Im Ja- Unterlagen vorhanden sind.“ nuar 1922 informierte schließlich auch das Reichs- 1921 – Abtransport ja, aber nur mit Geneh- wehrministerium die IMKK darüber, „dass bei der genauen Untersuchung vor der Zerlegung von Artille- migung riemunition auch künftig immer noch Gasgeschosse Wie bereits erwähnt, waren ab dem III. Quartal 1921 aufgefunden werden, die gesammelt und nach Beendi- auf dem Gasplatz Breloh die technische Einrichtungen gung der Zerlegearbeiten des betreffenden Lagers und das Fachpersonal (Dr. Stoltzenberg) vorhanden, von Fall zu Fall nach dem Gasplatz Breloh versandt um die Vernichtung von unverfüllten chemischen werden müssen.“ Einen Vorschlag zum Transport von Kampfstoffen und anschließend auch von Munition in Gasmunition nach Breloh ohne Genehmigung lehnte größerem Umfang durchzuführen. Im März 1921 wird jedoch die IMKK weiterhin strikt ab und bekräftigte in einer Beratung im Reichsschatzministerium endlich ihre Festlegung, Transporte nur nach Erteilung einer die Notwendigkeit, „alle mit Kampfstoffen gefüllten Genehmigung zuzulassen. Geschosse mit Beschleunigung unbrauchbar zu ma- Folgendes Beispiel soll für derartige, späte Funde und chen, allerseits anerkannt. Auch wurde die Hinschaf- durchgeführte Transporte angeführt werden: Vom März fung nach Breloh im allgemeinen für die hierzu bis Mai 1922 wurde ein größere Menge Gelbkreuz- zweckmäßigste Maßnahme erachtet ... Herr Geheimrat Granaten aus Zweedorf (Mecklenburg-Vorpommern) Mende ... erklärte sich einverstanden mit dem Trans- nach Breloh transportiert. port von Gasgeschossen mit Zündern auf der Eisen- bahn, wenn diese transportsicher sind.“ Danach Schlussfolgerungen erfolgten mit der Bahn konkrete Abstimmungen über Doch welche Verdachtsmomente ergeben sich nun aus den Abtransport von Kampfstoffmunition von den Zer- dem geschilderten langwierigen Anlauf der Vernich- legestellen. Er erwies sich auf Grund der o. g. Restrik- tung der Kampfstoffmunition? Betrachten wir uns dazu tionen der IMKK (betr. Einholung der Genehmigung) die Situation in den Zerlegestellen Ende 1920/Anfang jedoch als kompliziert und war nach vorliegenden Ak- 1921. Sie ist folgendermaßen zu charakterisieren: ten offensichtlich nur mit großem Aufwand realisier- – In allen größeren Munitionszerlegestellen befand bar. Folgendes Beispiel soll das unterstreichen: Nach sich in den riesigen Stapeln auch Kampfstoffmuni- einer Meldung des Zeugamtes Cassel vom 12. 4. 1921 tion. Eine zuverlässige Identifizierung und Ausson- mußten die im Rahmen der Zerlegearbeiten der derung war nicht immer möglich. Sprengstoffabriken Hoppecke in Cassel-Ihringshau- – Die Unternehmer des Zerlegesyndikats hatten die sen aufgefundenen über 2.000 Grünkreuzgranaten gesamte Munition gekauft und waren zwecks Errei- (davon einige Geschosse undicht) und eine kleine chung eines Gewinns an einer Übergabe aller Menge Gelbkreuz-Munition zurückgestellt und im Metallteile, insbesondere der Munitionskörper, an Freien eingelagert werden. Mehrfache Anträge zum die Stahlwerke interessiert. Theoretisch konnten Abtransport waren bis dahin ohne Erfolg geblieben. nach der Entnahme des Kampfstoffes aus den „Gas- Insgesamt konnten zum Ablauf und zum Gesamtum- granaten“ auch deren Granatenhüllen (evtl. nach zu- fang der Transporte nach Breloh bisher nur wenige sätzlichem Ausbrennen) abgeliefert werden. Unterlagen aufgefunden werden. Berücksichtigt man Gelbkreuzgranaten konnten prinzipiell nach dem eine durch zuständige Stellen gegebene (berechtigte) Entfernen des Verschlussstopfens entleert werden. Empfehlung, sollten die Kampfstoffe und die Munition Notwendig waren dazu lediglich geeignete Gefäße, möglichst im Winter transportiert werden, „weil diese in die die flüssigen Stoffe umzufüllen waren. Aber: bereits bei plus 12 Grad frierend, in diesem Zustand Ging eine Versickerung im Erdboden an abgelege- keine Gefahr bilden.“ Daraus wäre abzuleiten, dass als ner Stelle nicht sogar schneller? Vorzugstransportzeitraum erst der Winter 1921/22 an- – Für die ggf. angefallenen Umfüllbehältnisse bzw. zusehen war. Doch welche Schlussfolgerung ergibt die Kampfstoffe hatte die Zerlegefirma im Grunde sich daraus? Gemäß Tabelle 3 waren zu diesem Zeit- keine Verwendung, ja sie stellten sogar eine Gefähr- punkt ja nur noch etwa die Hälfte der ehemaligen Zer- dung des Betriebes dar. legestellen in Betrieb. Die anderen hatten ihre Arbeit – Immer wieder tauchten in den Lagerstapeln auf den eingestellt und mussten gemäß zentraler Weisung alle Artilleriedepots auch undichte Kampfstoffgranaten genutzten Anlagen und Flächen „aufgeräumt und auf. Irgendetwas musste damit geschehen. Nur hatte sauber“ zurückgeben. Aber wo war die noch nicht man keine Möglichkeiten, das Gift zumindest einiger- abtransportierte Kampfstoffmunition verblieben ...? maßen sachgerecht zu vernichten. Fortsetzung folgt ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

MITTEILUNGEN 5/2008 19

LOST – König der Kampfstoffe Die unendliche Umweltgeschichte - Teil 3/3

Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten; Jens Reuther, IUQ Dr. Krengel GmbH; Wolfgang Thamm, COM Druck, Schashagen Und das Personal wollte kein unnötiges Risiko eingehen. ßen: „... Bei dieser Gelegenheit muß ausdrücklich darauf Aus all den genannten Gründen ergibt sich somit für alle hingewiesen werden, daß weder Erfahrungen, außer den Artilleriemunitionszerlegestellen, besonders aber für eigenen, noch Vorschriften von Seiten der maßgebenden diejenigen, die ihre Arbeit bis Anfang 1921 einstellten, Behörde zur Verfügung stehen.“ Mit einem Schreiben des der dringende Verdacht einer unsachgemäßen Vernich- Gewerberates zu Harburg vom 14.02.1921 war deshalb tung bzw. Vergrabung der Kampfstoffmunition. der Firma die Bedingung gestellt worden, beim Entlabo- rieren (nicht Sprengen!) der Gasgeschosse mit der größt- Sonderfall: Kampfstoffmunition in den be- möglichen Vorsicht zu verfahren. In einer ergänzenden setzten Gebieten Genehmigung des Regierungspräsidenten zu Lüneburg Eine kurze Erwähnung soll einem Sonderfall gelten, näm- vom 24.03.1921, in der die Fortführung des Betriebes bis lich dem Schicksal der in den besetzten deutschen Ge- zum 01.11.1921 genehmigt wurde, war jedoch die Festle- bieten verbliebenen Kampfstoffmunition. Neben der gung enthalten, „beim Sprengen und Ausbrennen der herkömmlichen Munition wurde vermutlich der wesentli- Geschosse insbesondere die Witterung und Windrich- che Teil letzterer ab 1919 nach Hallschlag in der Eifel ge- tung sorgfältig zu beobachten“. Dieses war Anlass, bracht. Im Auftrag der Siegermächte sollte die zwecks Erreichung erheblicher Gewinne auf das Spren- Vernichtung durch die dort ansässige Firma „Espagit Ei- gen der Munition in großem Umfang überzugehen. Letz- feler Sprengstoffwerke“ erfolgen. Die Arbeiten begannen tendlich wurde folgendermaßen verfahren: Mitte 1919. Im Rahmen der Delaborierungs- und Vernich- 1. Das betroffene Gelände wurde durchweg etwa spaten- tungsarbeiten brannte man dabei auch „Gasgranaten“ tief umgegraben, im Bereich von Sprengtrichtern o.ä. aus. Begleitet wurden diese Arbeiten jedoch von mehre- wurde bis zu einer Tiefe von 2-3 m nachgegraben. Die ren Zwischenfällen. Bei einer Explosion am 29.05.1920 Munition bzw. Munitionsteile wurden zusammengetra- sollen auch ca. 12.000 Gasgranaten betroffen gewesen gen. sein, deren größter Teil in die Umgebung geschleudert 2. Die noch gefüllte Munition wurde danach in Erdlö- wurde. Auf die gewaltigen Probleme an diesem Standort, chern gesprengt. die die zuständigen Behörden bis heute beschäftigen, soll 3. Anschließend wurden die Granaten und Minenteile jedoch an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. zum Zweck der Schrottverwertung durch Ausbrennen in Reisighaufen „entseucht“. Das Himmelfahrtskommando von Die Bilder 2 und 3 vermitteln einen Eindruck über die Breloh Herangehensweise und die damaligen Arbeitsbedingun- Auf dem früheren Gasplatz wurde neben dem unverfüll- gen. ten Lost bis ca. 1925 umfangreiche Mengen an Gelbkreuz- munition vernichtet. Bezüglich ihrem Zustand muß unterscheiden werden: - Die bereits im Oktober 1919 in Breloh lagernde und von der Explosion in Mitleidenschaft gezogene Muni- tion. - Die später von den Zerlegestellen aus dem Reichsge- biet angelieferte, handhabungssichere Munition. Letztere wurde nach ihrer Delaborierung über ihre Füll- öffnung (nach Entfernung der Füllschraube) entleert. Der Kampfstoff wurde anschließend durch die Fa. Dr. Stoltzen- berg in der gleichen Verbrennungsanlage behandelt, die ursprünglich der Vernichtung der unverfüllten Kampfstof- fe diente. Wesentlich aufwendiger und gefährlicher war die Vernichtung der von der Explosion betroffenen Muni- tion. Wie bereits erwähnt, wurden von der Explosion ca. 1 Bild 2: Vorbereiten der Gasgranaten zum „Entseuchen“ Mio. Kampfstoffgranaten und 230.000 Kampfstoffminen betroffen, die ja bis in eine Entfernung von 3 km um den Mehrfach verwies die Evaporator AG darauf, daß die Explosionsort überall herum lagen. Zum Teil war die Mu- praktizierte Methode der Geschoßvernichtung nach ei- nition zerstört, teils jedoch nur verformt. ner Verbindungsaufnahme mit den wissenschaftlichen Zentralstellen, wie dem Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin- Cash statt Sicherheit Dahlem, der Artillerieprüfungskommission sowie dem Der ursprüngliche Plan sah vor, diese Munition durch Ver- Reichswehrministerium erfolgt. Doch das war ganz offen- senken ins Meer zu vernichten. Wegen der umfangrei- sichtlich reine Gewissensberuhigung. Erwartungsgemäß chen Transporte und der damit verbundenen hohen musste es bei dem gewählten Verfahren zur Beeinträchti- Kosten kam man davon ab. Eine andere Methode war ge- gung der Umgebung und Schädigung der beteiligten Per- fragt. Jedoch weder das „Merkblatt für Entladestellen von sonen kommen: Artilleriemunition“ noch die „Vorläufige Vorschrift für das - Am 15.09.1920 kam es bei Sprengungen infolge einer Entlaborieren von Gas- und Nebelgeschossen“ enthielten Windrichtungsänderung zur Beeinträchtigung von be- zuverlässige Festlegungen. In einem Schreiben beklagte wohnten Gebieten. sich die zunächst mit den Aufräum- und Vernichtungsar- - Am 30.04.1921 kam es südlich des früheren Explosions- beiten beauftragte Evaporator AG darüber folgenderma- herdes zu einem Waldbrand. ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

22 MITTEILUNGEN 1/2009 - Im Oktober 1921 beschwert sich das Landesfinanzamt neu verbinden will, dann bitten und flehen sie: nur nicht an Hannover: „Die täglichen Sprengungen sind teilweise in den Verbänden zu rühren; nur nicht neu verbinden! Denn letzter Zeit so umfangreich gewesen, daß die Umgegend sie hätten so gräßliche Schmerzen. Es gibt Kranke, die in erhöhtem Maße gefährdet ist und Erkrankungen an schon monatelang im Revier liegen. So außerordentlich Menschen und Vieh eingetreten sind.“ schlecht heilen die Wunden.“

Wie lange dauerten die Aufräumungsarbeiten und wel- Gelbkreuz-Relikte aus der Vergan- che Ergebnisse wurden erreicht? Die Arbeiten verzöger- genheit ten sich aus verschiedenen Gründen mehrfach. Mitte Wie bereits erwähnt, waren für einige Standorte konkrete Oktober 1920 waren noch ca. 4.000 ... 5.000 t Gasmunition Hinweise zu Vergrabungen vorhanden. Diesen ist man z.T. vorhanden. Diese sollte bis etwa Juni 1922 vernichtet wer- bereits in den 50er und 60er Jahren, meist jedoch erst in den. Bis zum Dezember 1923 konnten jedoch die Aufräu- jüngster Zeit nachgegangen. Auf einigen Verdachtsstand- mungsarbeiten erst auf ca. 80% des Platzes erledigt orten, für die keine näheren Hinweise vorlagen, musste werden. Ein endgültiger „Abschluß“ wurde erst 1925 er- dagegen eine systematischen Absuche veranlaßt werden reicht. In Anbetracht der beschriebenen Suchmethode .... Mit Erfolg. Auf einer Reihe von Standorten tauchte Lost- dürfte verständlich sein, dass ein Teil der Munition nicht munition auf, wie durch die Recherche prognostiziert. Oft- geborgen wurde und den Eigentümer der Liegenschaft mals spielte aber auch der Zufall eine Rolle. Hier einige noch heute beschäftigt. Beispiele:

Berlin-Adlershof Während der Füllarbeiten waren, wie bereits erwähnt, ca. 12.000 Schuß undichte Artilleriemunition an mehreren Stellen vergraben worden. Was geschah nun in späteren Jahren mit dieser, allen einschlägig zuständigen Behörden bekannten Vergrabung. Bei einer ersten Probennahme im Februar 1919 aus Beobachtungsrohren, die nahe der „Gräber“ angelegt worden waren, wurde ein „eigentüm- lich stechender, mehr oder weniger an Meerrettich er- innernder Geruch“ festgestellt. Die früher in der Füllstelle beschäftigten Arbeiter bezeichneten ihn so- gleich als „Lost“geruch. Die Problematik beschäftigte nun verschiedene Einrichtungen, darunter das Kriegsministe- rium und das Kaiser-Wilhelm-Institut. Bei einer Besichti- gung von Vertretern dieser Einrichtungen am 01.10.1919 Bild 3: Ausbrennen der Gasgranaten im Reisighaufen wurden folgende Varianten diskutiert: Sprengen an Ort und Stelle - Sprengen an einem geeigneten Ort - Ausgra- Das Schicksal der Breloher Arbeiter ben und Abtransport zum Versenken im Meer - Liegenlas- Unbedingt muss auch auf das Elend der an der Beseiti- sen und regelmäßige Grundwasserbeprobungen an gung der Munition beteiligten Arbeiter eingegangen besonders anzulegenden Brunnen. Nach langem Hin und werden. Einer durch den betreuenden Arzt, Dr. Büscher, Her entschied das Kriegsministerium Anfang 1920, zu- verfaßten Schilderung müssen keine weiteren Worte hin- nächst Brunnen in der Umgebung der Vergrabungsstellen zugefügt werden: „Frühling 1922. Ich komme an einem anzulegen und Wasser- und Bodenproben zu entnehmen. Märzmorgen zu den Arbeitern, die auf dem Gasplatz Breloh Erste umfangreiche Wasseruntersuchungen erfolgten be- seit langer Zeit Gelbkreuzgranaten entlaborieren. Die Früh- reits im Februar 1920. lingssonne scheint, sie scheint so schön und doch so erbar- Folgende durchgeführte Prüfungen sind belegt: Einsetzen mungslos in die Gesichter. Ich erschrecke: Wie sehen die von Fischen in entnommenes Wasser, Geben als Trink- meisten Arbeiter aus? ... Trotzdem der Arbeitstag erst be- wasser an Mäuse, Eintröpfeln von Wasserproben in die ginnt, machen viele Arbeiter einen so müden, elenden, hin- Bindehautsäcke von Meerschweinchen sowie Verreiben fälligen Eindruck; besonders die älteren Arbeiter sehen so von Proben auf Armen und Brust von Menschen(!). Gemäß schlecht aus. Ihre Stimme ist heiser, fast tonlos, die Augen den aufgefundenen Akten ergaben sich jedoch keinerlei sind gerötet und schimmern etwas gelblich durch; der Blick negative Befunde. Im September 1920 wurde daraufhin ist müde und an den Händen sind überall kleine eiternde durch die Inspektion für Waffen und Gerät der Reichs- Schwären, die zum Teil notdürftig verbunden sind. Ganz be- wehr entschieden, dass alle Gelbkreuzgeschosse zu- sonders macht mir der Arbeiter B. Sorge, ein sonst kräftiger, nächst liegen bleiben sollen. Ein mehrfacher Versuch des gesunder Mensch. Er ist auffallend abgemagert. Ich frage, Reichsschatzministers zur Beseitigung der Geschosse war was mit ihm ist. Er weis so recht keine Antwort zu geben; in gescheitert, da keine sachverständige Firma für diese ge- letzter Zeit „hänge ihm das Zeug so am Leibe trotzdem er fahrvolle Aufgabe gefunden wurde. In einer Konsultation gutes Essen hätte, magere er immer mehr ab, und die klei- im Jahre 1928 rät Prof. Haber weiterhin von einer Ausgra- nen Spritzer und „Dinger auf der Haut, die früher noch ab- bung der Granaten ab und empfiehlt regelmäßige geheilt wären, wollten überhaupt nicht mehr heilen.“ Grundwasseruntersuchungen. Diese „unendliche“ Ge- Ergänzend fährt der Arzt fort: „Werfen wir ... - ehe wir vom schichte reicht nach bisherigem Kenntnisstand minde- Gasplatz zurückkehren - noch einen Blick in die Revierstu- stens bis in das Jahr 1953. Die in der DDR für die be, in der mehrere akut verletzte Gelbkreuzkranke liegen. Vernichtung von Kampfstoffmunition des 2. Weltkrieges Es herrscht in dem Krankenzimmer eine gedrückte Stim- geschaffene Sonderabteilung P der Gärungschemie Des- mung. Die Kranken tragen große Verbände. Die Augenlider sau nahm sich der Problematik an. Insgesamt wurden der Kranken sind zum Teil vollkommen verquollen, auch die 4.230 Stück noch bezünderter, mit einem Lost-Nitroben- Gesichter sind verquollen und aufgedunsen. Die Stimme ist zol-Gemisch befüllte und über 10.000 Stück stark verrot- tonlos, der Husten ist bellend und heiser. Die Kranken lie- tete und teils offene Artilleriegranaten verschiedener gen zusammengekauert da, mißmutig und verzweifelt. Sie Kaliber geborgen. Anschließend wurden sie abtranspor- murmeln und stöhnen leise vor sich hin. ... Wenn man sie tiert und in einer Anlage bei Dessau vernichtet. ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

MITTEILUNGEN 1/2009 23 Monsingen/Nahe stoffversuche genutzten Übungsplatz, der später auch 1918 übernahm der Besitzer der Monzinger Gelatinefa- durch die WGT genutzt wurde, fand man 1996 im Zuge ei- brik Julius Herold, ein früherer Chemiker des Kaiser-Wil- ner systematischen Munitionssuche mehrere Hundert ver- helm-Institutes, einen Auftrag der deutschen grabene Gelbkreuzgranaten. Sie lagen in Stapeln in ca. Heeresverwaltung, übrig gebliebene Kampfstoffmunition 1 m Tiefe. Ihre Herkunft ist nicht sicher nachweisbar, mög- unschädlich zu machen. Nach mehreren Wochen wurden lich erscheint eine Vergrabung durch die dort nach dem die Arbeiten durch die IMKK gestoppt. Auf Anordnung er- 1. Weltkrieg betriebene Munitionszerlegestelle, aber folgte die Vergrabung von ca. 30.000 Stck. Kampfstoffmu- auch eine Verbringung von Granaten aus Adlershof ist nition (vorrangig Phosgenmunition, Clarkflaschen) in 2 m nicht auszuschließen. tiefen Gruben. Später wurden diese Gruben noch zusätz- lich mit einer Betonglocke, bestehend aus einer Decke Mit diesen Beispielen soll der Teilbeitrag zur unendlichen und Seitenwänden, versehen. Erst im Zuge von 1962 Geschichte des Lostes für den Zeithorizont bis ca. 1924 durchgeführten Bergungsarbeiten wurden diese Grana- beendet werden. Hinzuweisen ist darauf, daß bereits zu ten und Minen mit 4.700 Zentner Kampfstoff, darunter in diesem Zeitpunkt Pläne für den Aufbau neuer Produk- geringer Zahl auch Lostgranaten, aufgefunden und zur tionsanlagen fertig waren. Unter einem geeigneten Tarn- Versenkung in den Atlantik abtransportiert. mantel begannen auch bald erste Baumaßnahmen, z. B. in Gräfenhainichen in Sachsen-Anhalt. Doch darüber mehr Gerwisch im nächsten Beitrag. Im Zuge von systematischen Sucharbeiten fand man 1993 am Rand der früheren Munitionszerlegestelle der Berlin- Schlußbemerkung von Alexander Schwendner zu Teil 3 Burger-Eisenwerke, einem Mitglied des Zerlegesyndi- Vielleicht stellt sich an dieser Stelle nun der ein oder an- kats, ca. 100 Behältnisse mit Lost auf. Sie wurden unter dere Leser die Frage: Einhaltung der erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen Kann es sein, dass in meinem Garten Lostgranaten aus durch die Bundeswehr geborgen, nach Munster transpor- dem 1.WK schlummern? Stoße ich beim Spargel-Stechen tiert und in der dortigen Verbrennungsanlage vernichtet. gar auch auf ein Clarkfläschchen? Hierzu ist zu sagen, dass die Wahrscheinlichkeit bei Gün- Niederneuendorf ter Jauch Millionär zu werden, wesentlich höher ist. Sollten Bei Munitionräumungsarbeiten auf dem Gelände der frü- Sie als Investor jedoch Interesse an einem ehemaligem heren Munitionsanstalt und späteren Munitionszerlege- Artilleriedepot oder einem Truppenübungsgelände aus stelle Nieder-Neuendorf bei Berlin wurden 1995 mehrere dem 1.WK haben, so ist zur Vorsicht zu raten, in Anleh- Gelbkreuzgranaten aufgefunden. nung an eine gängige Werbefloskel: Wegen der möglichen Nebenwirkungen lesen Sie die Dallgow-Döberitz vorliegende Rundschau oder fragen Sie Ihre LGA oder ei- Auf einem früher durch das kaiserliche Heer für Kampf- nen Autor! Frankfurt Kelsterbach-Eine Überraschung aus dem Ersten Weltkrieg Von Alexander Schwendner und Wolfgang Thamm, unter Mitwirkung von Hubert Gromotka, HIMTECH Wiesbaden Lange Zeit ging man in der Bundesrepublik davon aus, und sollten den Gegner zum Herunterreissen der Maske dass die Zerlegestellen des 1.WKs nach so vielen Jahren verleiten. Doch wie kamen sie nach Kelsterbach? Ergän- wohl keine Umweltrelevanz mehr aufweisen würden und zende Bodenuntersuchungen, bei denen Arsen im an Kampfstoffe dachte schon gleich gar niemand. So ist Grammbereich nachgewiesen wird, bestätigen den es nicht verwunderlich, dass dieser Verdachtsstandort- Blaukreuz-Verdacht. Bei einer weiteren Begehung findet typ bisher so gut wie gar nicht untersucht ist. Erst im Jahr man eine 10,5 cm Granate...gefüllt mit Lost. Hier konnte 2000 – und nachdem das ganze Ausmaß der Munitions- etwas nicht stimmen. Daraufhin werden die Probeson- zerlegung von Herrn Thieme geklärt worden war – star- dierungen eingestellt. tete das Umweltbundesamt ein Folgeprojekt, bei dem Unverzüglich beginnt man zu recherchieren. Eine Dorf- nun zwei Zerlegestellen exemplarisch erkundet werden. chronik aus dem Jahr 1920 wird aufgefunden, die besagt, Welches Schadstoffpotential hier prinzipiell auftreten dass nahe Kelsterbach einmal ein Munitionsdepot der kann, soll das Fallbeispiel Kelsterbach zeigen, ein klei- Reichswehr gelegen hat. Längst war es in Vergessenheit nes Dorf direkt südlich des heutigen Rhein-Main-Flugha- geraten. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sollen fens. Zwar hat Lost hier nur eine untergeordnete Rolle dort noch große Mengen an konventioneller aber auch gespielt, doch entstanden dafür durch Arsen- und an chemischer Munition (Grün-, Blau- und Gelbkreuz) Sprengstoffverunreinigungen hohe Sanierungskosten. gelagert haben. Wir wissen von Herrn Thieme nun, was eigentlich offiziell damit zu geschehen hatte – Abtrans- Eine böse Überraschung port nach Breloh. Doch der in Kelsterbach tätigen Zerle- Es war mal wieder mehr der Zufall, der den Stein oder gefirma Berlin-Burger Eisenwerke Munitionszerlegung besser gesagt die Granate ins Rollen brachte. Der heuti- war dies wohl zu aufwendig, denn sie hat kurzerhand die ge Frankfurter Flughafen war im Zweiten Weltkrieg ein Kampfstoffmunition zusammen mit nicht handhabungs- so genannter Einsatzhafen 1.Ordnung der Deutschen unsicherer konventioneller Munition durch Sprengen Luftwaffe. Daher war er mehrmals Ziel alliierter Luftan- vernichtet. Es lag also die Vermutung nahe, dass hier griffe. Nach der Konversion zur zivilen Nutzung nach noch mehr schlummerte, vielleicht sogar funktionsfähi- dem Krieg und durch stetig steigendes Verkehrsaufkom- ge Kampfstoffmunition. Eine Räumung scheint unum- men plant man in den 80er Jahren, den Flughafen in grö- gänglich. ßerem Umfang nach Süden zu erweitern. Vorsorglich sucht eine Räumfirma das Umfeld mit geomagnetischen Das Konzept Sonden nach Blindgängern ab als sie hierbei im August So wird unter der Federführung des zuständigen Darm- 1984 eher zufällig zwei Fläschchen im Erdreich auffin- städter Regierungspräsidiums und unter Mitwirkung det. Es stellt sich heraus, dass sie mit dem Reizstoff Clark der Bundeswehr zunächst ein allen nur denkbaren Ge- I gefüllt sind. Solche Fläschchen wurden im Ersten Welt- fahren Rechnung tragendes Sicherheitskonzept entwor- krieg zusammen mit Sprengstoff in Granaten laboriert fen. Ein abgesperrter Sicherheitsbereich von 750 m ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

24 MITTEILUNGEN 1/2009

Radius um die Arbeitsstelle wird definiert. Er errechnet scheint der Fall Kelsterbach „saniert“ – zunächst jeden- sich aus der theoretisch größtmöglichen Gefahr – der falls. Detonation einer 21 cm-Lostgranate – bei neutraler Wet- terlage und einer Windgeschwindigkeit von 2 m/s. Die Altlast Geräumt wird Video-überwacht, im Vollschutz (Gummi- In weiser Voraussicht wurden in Kelsterbach räumbe- anzug) mit Pressluftatmer und – um den Flughafenbe- gleitend Grundwassermessstellen niedergebracht. Zu- trieb nicht zu gefährden nur nachts. Aus nächst ist der Befund der ersten Beprobungen noch Sicherheitsgründen wird über dem Schadensbereich negativ, doch die weiteren chemischen Untersuchungen eine Arbeitshalle in Leichtbauweise errichtet. Bei einem zeigen, dass das Grundwasser bereits einiges abbekom- Unfall soll hierdurch die Ausdehnung der Kampfstoff- men hat. Festgestellt wird bis zu 840 µg/l Arsen. In den wolke erschwert bzw. verhindert werden. Sie ist mit ei- Jahren nach der Räumung wird daraufhin ein Überwa- ner Absauganlage mit Staubfilter versehen. So genannte chungsprogramm durchgeführt. Die Lage verschlechtert Kampfstoffwächter melden jeden noch so geringen sich. Die Arsengehalte steigen bis auf 3.600 µg/l an, nun Austritt von Phosgen. Sollten die Wächter Alarm schla- werden auch bis zu 600 µg/l Nitroaromaten (Sprengstof- gen, so schaltet sich eine Sprinkleranlage ein und fe im weiteren Sinn) festgestellt. Es wird deutlich, dass schlägt die Kampfstoffwolke nieder. Und sollte doch et- durch die Entmunitionierungen und die damit verbun- was ins Freie gelangen, so kann sich der Fliehende an denen Erdbewegungen ganz offensichtlich eine enorme den beleuchteten Wetterfahnen orientieren, die überall Mobilisierung der Schadstoffe verursacht wurde. Han- aufgestellt sind, quasi nach dem Motto – nichts wie weg, deln ist angesagt. aber gegen den Wind. Und sollte es einer nicht ganz schaffen, so sorgen ein Arzt und ein kompletter Sanitäts- Die Bodensanierung bereich vor Ort für Hilfe. Das Räumpersonal wird regel- So werden 1995 umfangreiche rasterförmige Boden- mäßig gesundheitlich überwacht. Krankengeschichte untersuchungen durchgeführt. Durch die damaligen und beruflicher Werdegang sind bereits aufgenommen Sprengungen wurde die Munition zwar „nur“ auf etwa und durch ärztliche Untersuchungen ergänzt und über- 16.000 m2 verstreut, doch zeigen die Bodenuntersu- wacht. Im November 1986 beginnen die Arbeiten. chungen, dass sich dabei aber die Schadstoffe feindi- spers auf über 40.000 m2 verteilt haben. Lost und Die Kampfmittelräumung Phosgen sind im Boden zwar nicht mehr nachzuweisen, Die Räumarbeiten dauern fast zwei Jahre. Rund 900 Gra- jedoch Metaboliten von Clark I und II sowie ebenfalls naten vom Kaliber 7 bis 24 cm, 371 Handgranaten, fast Sprengstoffe in erheblichen Mengen. Hierbei handelt es 8.000 Granatenzünder, 60.000 Zündladungen und große sich vorrangig um Dinitronaphthalin, einen klassischen Mengen an Munition für Handfeuer- und Maschinenwaf- Ersatzsprengstoff des Ersten Weltkriegs. Auch das fen werden geborgen. Viele der (äußerlich oft bauglei- Grundwasser wird nochmals überprüft. Neben Nitroaro- chen) Granaten sind stark korrodiert und von der maten und Arsen tauchen nun auch Abbauprodukte von damals üblichen Farbkennzeichnung für Kampfstoffmu- Lost auf, die darauf hindeuten, dass hier auch Gelb- nition ist längst nichts mehr übrig, so dass oft nicht klar kreuzmunition vernichtet worden ist. Im Januar 1996 lau- ist, um welchen Munitionstyp es sich nun handelt. In die- fen daraufhin unter Leitung der HIM GmbH die sen Fällen hilft eine Röntgenanlage, mit der die Munition Aushubmaßnahmen an. Bis zum Jahresende werden fast durchleuchtet wird. So werden 155 Granaten als eindeu- 240.000 t kontaminierter Boden ausgehoben. Die Verun- tig Kampfstoff-gefüllt identifiziert. Neben der Munition reinigungen erstrecken sich lokal bis in Tiefen von 5 m. müssen auch 11 Tonnen arsenhaltiger Boden ausge- Das Material wird zu gut einem Drittel in der Metallurgie verwendet, ein Teil muss unter Tage deponiert werden, der Rest wird zu Rekultivierungs- zwecken im Tagebau bzw. auf Deponien eingesetzt. Die Sa- nierungskosten beliefen sich auf 50 Mio DM. Der Fall Kelsterbach lehrt uns, dass bei Zerlegestellen gene- rell das Unerwartete erwartet werden sollte. Zwar wird Lost hier wahrscheinlich nur von randlicher Bedeutung sein, doch können auch die Arsen- kampfstoffe große Probleme verursachen, denn sie lassen sich halt nicht so einfach weg- sprengen. Diese Erfahrungen musste man auch nach dem Zweiten Weltkrieg machen, als man sich der so genannten Wintermischungen zu entledi- gen hatte – eine Kombination aus Lost und arsenorganischen Verbindungen, die in so ge- tauscht und ferner 50 Tonnen mit Sprengstoffen und son- nannte Sprühbüchsen 37 verfüllt wurde. Doch auch 30 stigen chemischen Stoffen behafteter Munitionsschrott Jahre später hatte man hierfür noch kein rechtes Rezept, aussortiert werden. Sozusagen als kleine Zugabe findet wie wir noch sehen werden. sich im Boden noch eine andere Überraschung - unter all den Kampfmitteln aus dem ersten Weltkrieg liegt noch eine amerikanische 100 lb Sprengbombe aus dem Bild: Sanierung Kelsterbach. In Spitzenzeiten waren pro Zweiten Weltkrieg, die von einem Bombardement des Tag 5000 Tonnen kontaminiertes Erdreich analytisch, lo- Flughafens stammt. Als die Räumarbeiten beendet sind, gistisch und verwertungstechnisch zu behandeln. ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

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LOST – König der Kampfstoffe Die unendliche Umweltgeschichte – Teil 4/1

Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg. Mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten; Jens Reuther, IUQ Dr. Krengel GmbH; Wolfgang Thamm, COM Druck, Schashagen. Die Weimarer Republik – geheime Vorberei- chemischer sein würde, der wahrscheinlich sogar von der tung für den chemischen Befreiungskrieg Luft aus geführt werden würde. Nach Kriegsende gab es allerdings nur vier Staaten, die als wirkliche Gasmacht Leider lernt die Menschheit und auch die „zivilisierte“ bezeichnet werden konnten: Das waren die USA, Großbri- westliche Welt meist nur wenig aus ihren Fehlern. Da sind tannien, Frankreich (das mit Schwierigkeiten in der Lost- wir Deutschen keine Ausnahme. Der 1. WK ist ein sehr herstellung zu kämpfen hatte) und natürlich Deutschland, gutes Beispiel hierfür: Die – wie Historiker es heute for- das die Rolle des Spitzenreiters in der Kampfstofftechno- mulieren – plumpe Kraftmeierei Kaiser Wilhelms hatte die logie inne hielt. Und alle wussten, dass insbesondere das militärische Konfrontation provoziert, es war das Deutsche Lost, das Deutschland beinahe zum Sieg verholfen hatte, Reich gewesen, das den Gaskrieg begonnen hat, und die auf Grund seines ambivalenten Charakters sowohl als zweifelhafte Genialität des „chemischen Kampfgespanns“ aktiver als auch passiver Kampfstoff mannigfaltige Ein- aus Militär, Industrie und Wissenschaft war schließlich satzmöglichkeiten bot. maßgeblich für die Eskalation der chemischen Kriegsfüh- Sollte es irgendwann wieder zu kriegerischen Ausein- rung verantwortlich gewesen. Am Ende standen zehn andersetzungen kommen, so lag die Entscheidung über Millionen Tote. Obwohl nur etwa jeder Zehnte durch Gift Sieg oder Niederlage eindeutig an der Beherrschung des starb, hätte die insgesamt hergestellte Menge rein rech- Königs der Kampfstoffe als Waffe. nerisch gereicht, die Menschheit auszurotten. Nun ist der Allerdings war auch bei den Gasmächten der Kenntnis- Erste Weltkrieg vorüber, die Weimarer Republik wird aus- stand über diese Substanz noch viel zu gering. Was fehlte gerufen, und Deutschland ist (zumindest offiziell) dabei, waren fundierte Daten über Toxikologie, Geländesesshaf- das Kriegspotenzial zu vernichten. Ein guter Zeitpunkt für tigkeit, Abbauverhalten unter Atmosphärenbedingungen, einen Neuanfang ... so müsste man meinen. Und wenn ich Detonationsbeständigkeit, waffentechnische Einsatzmög- mich an den Geschichtsunterricht erinnere, so habe ich lichkeiten (insbesondere von der Luft aus), um nur einige eigentlich von dieser Republik – der ersten Chance zu nennen, und natürlich ein billiges Herstellungsverfah- Deutschlands für die Demokratie – nur Gutes gehört. ren. Und so führten alle Siegermächte nach dem Kriegs- „Böse Deutsche“ gab es ja nur in der Zeit des Nationalso- ende praktisch ohne Unterbrechung ihre Kampfstoff- zialismus (und das Böse dieser Zeit wird heutzutage ja forschungen fort bzw. intensivierten sie. Ein Beispiel: einfachheitshalber nur noch auf die Judenverfolgung und Bereits Ende 1917 war der Multifunktionsgasplatz „Edge- die KZs komprimiert). Doch war die Republik wirklich so wood Arsenal“ errichtet worden. Er wurde nun zum toll und friedlich, wie es uns die Geschichtslehrer beige- zentralen US-Kampfstoff-Forschungszentrum ausgebaut. bracht haben? Nein, bei weitem nicht. Aber auch andere Nationen wollten nicht ins Hintertreffen Das „aggressive Großmachtstreben“ war in der Schlacht geraten: In Italien entstand unter Mussolini der „Servizio nicht besiegt, es war noch immer da, latent, von den Mili- Chimico Militare“. Berühmte Köpfe wie der Kampfstoff- tärs gepflegt und von der Politik finanziert, und es wuchs Toxikologe Alessandro Lustig (1857-1937), der an der Uni- und gedieh. Und bis zur „Machtergreifung“ durch die versität Florenz forschte, und der Militärchemiker Mario Nationalsozialisten (die ja keine „Ergreifung“ sondern Sartori, der später in die USA emigrierte und 1939 das eine demokratische Wahl war), gab es – was die kriegs- Standardwerk „Die Chemie der Kampfstoffe“ schrieb, chemische Rüstung betrifft – keinen merklichen Sprung. gingen aus dieser Einheit hervor. Nicht ohne „Erfolg“: Vielmehr kümmerte sich die Weimarer Republik intensiv Italien setzte Lost im Krieg gegen Abessinien (1935/36) um die „Erhaltung der deutschen Wehrfähigkeit auf dem ein. Auch Japan begann 1928 im Tandanoumi Arsenal mit der Lostproduktion und investierte große Summen in die Gaskampfgebiet“, während sie nach außen Versöhnungs- Forschung – ebenfalls nicht umsonst, denn 1938 setzten bereitschaft vortäuschte. Sie war maßgeblich an der sie ihre Kampfstoffe gegen China ein. Und natürlich führ- Grundsteinlegung beteiligt, die Hitler später die prinzi- ten auch die Großbriten ihre Aktivitäten in Porten Down pielle Wahl zwischen Kampfstoff und Sprengstoff offen fort, von dem wir ja schon gehört haben. Hier wurden im hielt. Doch greifen wir nichts vorweg. Wollen wir uns nun Jahr 1923 allein über 80.000 Pfund für Tierversuche aus- im geschichtlichen Kontext ansehen, welche Rolle dem gegeben. 618 Tiere starben. „König der Kampfstoffe“ in dieser Zeit zuteil wurde. Alle forschten, und einer sollte zuschauen – Deutschland. Keiner lernte dazu Es war ja gemäß Versailler Vertrag, der 1919 ratifiziert wurde, unter anderem die Herstellung bzw. Erforschung Während das Volk die Sinnlosigkeit des Kriegs eingese- chemischer Kampfstoffe (übrigens auch die Entwicklung hen hatte und durch Meuterei maßgeblich an der deut- von Schutzmaßnahmen) verboten. schen Kapitulation beteiligt war, wurde die Niederlage in Das war für die Militärs nicht akzeptabel. Keinesfalls den führenden Kreisen Deutschlands und insbesondere konnten sie bei einer für die Vaterlandsverteidigung so von den Militärs nicht akzeptiert. eminent wichtigen Sache wie chemische Waffen ins Noch ehe die Friedensverhandlungen begannen, dachte Hintertreffen geraten. Und die Gaswaffe war gerade für man sogar schon über eine Wiederaufnahme der Kämpfe uns Deutsche ideal, da wir ja neben dem technischen Vor- nach. Doch zuerst einmal musste die innere Ordnung sprung eine „Überlegenheit in Moral und Disziplin“ besa- Deutschlands wieder hergestellt werden, dann konnte ßen. So lauteten jedenfalls die Äußerungen all derer, die man über weitere Schritte nachdenken ... sich für eine Wiederaufnahme der Kampfstoffproduktion Auf Grund der Kriegsentwicklung war allen Staaten klar und -forschungen einsetzten. Es stellte sich also die geworden, dass der Einsatz von chemischen Kampfstoffen Frage: Wie für einen (chemischen) „Befreiungskrieg“ im Kriegsfall über Sieg oder Niederlage entscheiden forschen, ohne dass „der Feind“ (wer auch immer das kann. So rechneten alle damit, dass der nächste Krieg ein damals gewesen sein mag) etwas merkt? ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

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Das Edgewood Arsenal mit einem eigenem Generalstab gründeten. Das chemi- Etwa sechs Monate nachdem die Amerikaner in den sche Treiben erreichte im Zweiten Weltkrieg seinen Ersten Weltkrieg eingetreten waren, errichteten sie im Höhepunkt. Das so genannte CASY (Chemical Agent Sto- November 1917 den ersten Multifunktions-Gasplatz, das rage Yard) – ein Speziallager für Lost wurde errichtet. so genannte Edgewood Arsenal in Maryland, das vom Zusammen mit dem angrenzenden Truppenübungsplatz arbeiteten damals Über 30.000 Menschen auf dem Standort. Nach Kriegsende verlegte Edgewood seinen Schwerpunkt dann auf die Entwicklung von chemischen Abwehrmaßnahmen. Eine chemisch-biologische Ab- wehreinheit sowie medizinische Forschungseinrichtun- gen für chemische Verteidigung entstanden.

Prinzip her wie das deutsche Breloh oder das englische Porten Down aufgebaut war. Er stellt einen Teil des heutigen so genannten Aberdeen Proving Grounds dar. Einerseits befanden sich dort Produktions- und Abfüll- anlagen für Phosgen, Lost und Chlorpikrin. Andererseits wurde hier Grundlagenforschung betrieben. Ein Schwerpunkt war die Suche nach neuen Stoffen. So testete man nach Kriegsende etwa 4.000 Substanzen systematisch auf Ihre Verwendungsmöglichkeit als Kampfstoff. Etwa 60 erwiesen sich toxikologisch als brauchbar. Diese wurden dann feldmäßig getestet. Der zweite Schwerpunkt war die Lostforschung. Und da Fasslagerbereich des CASY. Jeder der 1.800 Container enthält 1 t die USA schon immer ein weltoffenes und global den- Lost (die Aufschrift HD ist die militärische Bezeichnung) – das ist kendes Volk waren, erprobten sie zunächst einmal die allerdings nur ein kleiner Teil der in den USA zu vernichtenden Wirkung an verschiedenen Menschenrassen – schließ- Lost-Menge. (Bildquelle: Homepage des Arsenals) lich wollte man ja wissen, gegen weichen Feind es ver- Vielleicht fragt sich der eine oder andere Leser, ob es wendbar sei. Versuchspotential war in dem Edgewood noch heute gibt? Kehren wir für also einen Einwanderungsland ja reichlich vorhanden. Bei den Moment in die Gegenwart zurück – Auch die USA haben Tests stellten sie übrigens fest, dass es so richtig schöne das Genfer-Chemiewaffenprotokoll von 1993 unterzeich- Blasen nur bei hellhäutigen Rassen gibt – Lost also net (bis 1996 taten dies 160 Länder). Es verbietet die Ent- gegen Schwarze nur bedingt verwendungsfähig ist. wicklung, Herstellung, Beschaffung, Lagerung und den Das war übrigens nicht das einzige Mal, dass die USA Einsatz von Chemiewaffen und schreibt die Vernichtung Menschenversuche durchführten ..., doch hierüber dem- aller Chemiewaffenbestände und der Anlagen zu deren nächst mehr. Produktion vor. Und so wird sich in Edgewood nach fast Weitere Lost-Forschungsschwerpunkte in Edgewood 100 Jahren der tragische Kreis um den König der Kampf- waren die Entwicklung von Schutzmaßnahmen und stoffe auch wieder schließen: Bis zum Jahr 2003 soll hier natürlich die Prüfung von neuen taktischen Einsatzfor- die „Aberdeen Chemical Agent Disposal Facility entste- men wie Bomben, Flugzeug-Absprühgeräten oder Ab- hen – eine Anlage zur Vernichtung der dort noch in gro- blasepanzern. Natürlich kostete das einiges, Edgewood ßen Mengen lagernden Lostbestände. Vielleicht sind den hatte im Rechnungsjahr 1924/25 ein Budget von fast Amerikanern die unangenehmen Erfahrungen der Deut- 24 Mio Dollar, für damalige Verhältnisse unvorstellbar schen bei den Vernichtungsversuchen nach den beiden viel Geld. Kriegen bekannt geworden. So versuchen sie etwas Neu- Wie wichtig die Amerikaner Kampfstoffe in einem künf- es – Neutralisation mit anschließendem biologischen tigen Krieg einschätzten, zeigte sich nicht nur an den Abbau. Wir werden sehen, ob diese Methode erfolgrei- Investitionssummen sondern auch daran, dass sie neben cher ist. Aber hierüber wird Herr Krippendorf in einer den „Marines“ und der „Navy“ das „Chemical Corps“ späteren Ausgabe sicherlich noch berichten. Ein geschickter Schachzug Interalliierte Militärkommission zu einer Besichtigung kommen konnte. Die kontaminierten Schuttreste wurden Zunächst stellte sich jedoch eine noch viel wichtigere Fra- eiligst mit Lagen aus Chlorkalk vergraben. Aber da war ja ge: Wie verhinderte man einen – wie man heute so schön auch noch der Gasplatz Breloh mit seiner Füllstelle, die sagt – Technologietransfer? Deutsches Kampfstoffwissen unter der Leitung Dr. Hugo Stoltzenbergs (1883-1974), durfte keinesfalls in Feindeshände fallen. Wie war noch einem Schützling Habers von dem wir noch hören wer- einmal die Ausgangslage nach Kriegsende? Erinnern wir den, gebaut worden war. Dorthin sollte ja auch alle uns an Jürgen Thiemes Ausführungen im Teil 3 der LGA Kampfstoff-Munition zur Vernichtung gelangen. Und dies Rundschau: Im Juni 1919 wurde der Versailler Vertrag war eine gute Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe unterzeichnet, die völkerrechtliche Umsetzung erfolgte zu schlagen. So ereignete sich im Oktober die Großexplo- jedoch erst im Januar 1920 und erst ab diesem Zeitpunkt sion, von der wir ja schon gehört haben. Angeblich war konnten die alliierten Kontrolleure aktiv werden. Man hat- sie von einem Brand in einer Werkstatt ausgegangen, te also nicht sehr viel Zeit nach dem Krieg. doch sind sich verschiedene Historiker heute sicher: Sie Zunächst einmal musste natürlich die Füllstelle in Berlin- wurde von Militärs inszeniert, die bis heute unerkannt Adlershof weg, und zwar schnell. So verwundert es nicht, geblieben sind. Was war das Ergebnis? Eine halbzerstörte dass sie bereits 1919 abgebrochen war – noch ehe die Füllstelle, ein völliges Durcheinander in den Kampfstoff- ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

MITTEILUNGEN 2/2009 23 bilanzen, bei denen kein Mensch mehr durchblickte, wie- guter Mann. So erfand er nicht nur, wie Kampfstoff-Muni- viel noch von was übrig war bzw. was explodiert war, und tion vernichtet werden konnte, sondern zeigte auch eine ein schön kontaminiertes Areal, das für längere Zeit als ganze Reihe weiterer vielfältiger Aktivitäten: Er richtete unbetretbar galt bzw. so dargestellt werden konnte. Insge- u. a. ein Geheimlabor ein, in dem er verdickte Loste, so samt eine prima Ausgangslage für weitere geheime Akti- genannte Salbenloste ersonn. Aus diesen wurde dann vitäten ... Und so verwundert es wenig, dass es gerade Dr. Zählost entwickelt, die wohl teuflischste Variante des Hugo Stoltzenberg war, der die Koordination der „Aufräu- Königs der Kampfstoffe. Daneben konstruierte Stoltzen- mungsarbeiten“ übernehmen sollte. Ein Mann, der inoffi- berg im Auftrag Spaniens und mit Unterstützung der ziell von der Reichswehr den Auftrag hatte, die Reichswehr Zünder für Lostbomben und er schaffte illegal Wehrfähigkeit des Deutschen Volkes auf dem Gaskampf- Kampfstoffe beiseite, die er an die Reichswehr und ans gebiet zu erhalten. Stoltzenberg war auf seine Weise ein Ausland verkaufte. Hugo Stoltzenberg (1883-1974) – Experte für Hochgiftiges und Undurchsichtiges Obwohl Dr. Hugo Stoltzenberg die zentrale Figur der – kurz darauf muss er (für das Russlandprojekt) Ver- deutschen Kampfstoffaktivitäten nach dem 1.WK war, ist gleich anmelden und er verliert sein Hamburger Werk. er keine „Berühmtheit“ im engeren Sinn. Eine Biografie Ihm bleibt jedoch eine Zweigniederlassung in Bitterfeld, über ihn gibt es nicht, keiner hat sich offensichtlich bis- wo er mit 200 Mitarbeitern Anlagen zur Kampfstoffpro- her näher mit seinem doch recht bewegten und langen duktion herstellt. Am 20. 5. 1928 ereignet sich auf seinem Leben befasst. Aus den mir vorliegenden Büchern lässt Betriebsgelände in Hamburg ein Betriebsunfall, bei dem sich sein Lebenslauf etwa wie folgt rekonstruieren: es zur Freisetzung von Phosgen kommt. Zehn Menschen Dr. Hugo Stoltzenberg war Chemiker und kämpfte zu sterben; über 300 werden vergiftet. Durch seine Bezie- Beginn des 1.WKs zunächst als Leutnant an der Ostfront. hungen zur Reichswehr wird er nicht zur Rechenschaft Nach mehreren schweren Verwundungen kommt er an gezogen. 1929 erwirbt er ein neues Gelände in Ham- das Berliner KWI, wo er als militär-technischer Aufseher burg-Eidelstedt als Produktionsstätte. Anfang der 30er für die (Lost)Füllstelle Berlin-Adlershof zuständig ist. Jahre beginnt er eine Reihe von Veröffentlichungen. Sein großes Engagement fällt auch dem Chef des KWI, 1930 erscheinen seine „Darstellungsvorschriften für Fritz Haber, auf. So setzt ihn Haber kurze Zeit später als Ultragifte“, ein recht makaberes, nennen wir es „Koch- technischen Bauleiter für die neu zu errichtende Lost- buch“, zur Herstellung von Kampfgasen, das dem „jun- füllstelle auf dem Gasplatz (Feldmunitionsanstalt) Breloh gen Militär und Gasoffizier“ ein gefahrloses Arbeiten ein. Nach Kriegsende arbeitet er zunächst in der Krebs- mit den „etwas unheimlichen Stoffen“ ermöglichen soll- forschung in Berlin, doch wird er ab Mai 1921 wiederum te. Vermutlich im gleichen Zeitraum erscheinen die auf Vorschlag seines Mentors Haber mit den Aufräu- „Hefte der chemischen Fabrik Stoltzenberg“, die sich in mungsarbeiten in Breloh betraut. Er gründet die Firma vier Bänden mit dem Gaskampf und dem bakteriologi- „Kampfstoffverwertung“ mit Sitz in Berlin. schen Krieg befassen. Im Eigenverlag veröffentlicht sei- ne Frau die Broschüre „Was jeder von Gaskampf und Dr. Hugo Stoltzenberg den chemischen Kampfstoffen wissen sollte“. Ab 1933 – wohl eine der „schil- berät er die Nationalsozialisten in chemischen Fragen. lerndsten Figuren“ des 1938 arbeitet er für das Reichsamt für Wirtschaftsaus- Kampfstoffgeschehens im bau, wo er „Gedanken eines Kampfstoffchemikers zur 20. Jahrhundert. (Bild aus Strategie und Taktik der Gaswaffe“ verfasst. 1941 wird KUNZ & MÜLLER (1990) – er Mitglied der NSDAP und errichtet in Berlin eine Giftgas auf Abd EI Krim) Zweigniederlassung. Nach 1945 erhält er von Schleswig- Holstein und dem Staat Hamburg den Auftrag, alle Ab 1922 wird er zum zen- Nebelsäuretanks, die zur Tarnung von Industrieanlagen tralen Berater der Reichs- gedient hatten, einzusammeln und zu entsorgen. Nach wehr für Kampfstofffragen Kriegsende stellt er in seinem Hamburger Werk allerlei und knüpft in deren Auf- her: Tränengas, Reizpatronen, Nebelkerzen, Übungs- trag geheime Kontakte brandsätze, Blausäure, Schädlingsbekämpfungsmittel, zum Ausland. So bringt er Begasungspulver, Wühlmaus- und Gaspatronen, Betäu- im Juni 1922 zunächst den Vertrag zwischen Reichswehr bungs- und Scheintodwaffen, darüber hinaus Gas- und Spanien über Oxollieferungen und den Bau der masken, Kampfstoffspürpulver, Nebelkörper, Bunker- Kampfgasfabrik in Maranosa unter Dach und Fach. Mit ausstattungen, Filtereinsätze, Schulungsunterlagen für der Provision beginnt er am 11. Januar 1923 mit dem Bau Reizstoffe, Desinfektionsmittel, um einige zu nennen. Zu seiner Hamburger Fabrik an der Müggenburger Schleu- seinen Auftraggebern zählt auch die Bundeswehr, die se zur Herstellung von Kampfstoffen. Er wird zum Liefe- von 1957 bis 1963 Aufträge im Wert von 2,3 Millionen ranten für die Reichswehr. 1923 errichtet er im Auftrag Mark erteilt, darunter auch für Produktion und Delabo- der Reichswehr mit Hilfe von Siemens und Linde eine rierung von Nebelkerzen. 1966 stellt er 15 kg Stickstoff- Lost-Produktionsstätte in Trock/Rußland. Nebenher ver- Lost für die Erprobungsstelle der Bundeswehr in kauft er sein Kampfstoff-Know-how an Brasilien, Grie- Munster (das ehemalige Breloh) her. Zu seinen weiteren chenland und Jugoslawien, was ihm immer wieder Ärger Kunden zählen neben dem Bundesgrenzschutz auch die mit der Reichswehr einbringt. Während seiner Reisen Innenministerien einer Reihe von Bundesländern (nicht führt seine Frau Margarete Stoltzenberg, geb. Bergius Bayern), die er mit Tränengas beliefert. 1969, fünf Jahre (1892-1950), ebenfalls Chemikerin und Schwester des vor seinem Tod, verkauft er die Firma an Martin Leusch- Chemie-Nobel-Preisträgers , seine ner, der das Recht erhält, den Betrieb unverändert fort- Geschäfte weiter. 1924 – zu dieser Zeit beliefert er im zuführen. Dementsprechend ändert sich auch an den Rahmen einer „deutschlandweiten allgemeinen Vorbe- katastrophalen Sicherheitsbedingungen im Werk unter reitung auf den Gaskrieg“ Schulen im Reich mit der sog. dem neuen Betreiber nichts. Seit dem Krieg hatte es „Geruchstasche“ – erhält er von der Reichswehr den auf dem Betriebsgelände etwa 50 Brände gegeben, bei Großauftrag für den Bau des Lost-Werks in Gräfenhaini- 21 kam die Feuerwehr. Mehrmals erkrankten Mitarbei- chen/Halle. 1926 lässt ihn die Reichswehr jedoch fallen ter mit (Kampfgas)-Symptomen. Stoltzenberg und sein ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

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Nachfolger genossen eine Art besonderen Schutz durch Bund und Land. Im September 1979 ereignet sich dann jedoch ein Unfall, der sich zum Skandal ausweitet: Drei Jungen waren in das kaum gesicherte Stoltzenberg- Gelände eingedrungen und hatten Munitionskörper mit- genommen. Beim Untersuchen in einem Keller kommt es dann zu einer Detonation bei dem ein Junge den Tod findet und zwei weitere schwer verletzt werden. Bei den daraufhin eiligst veranlassten Räumungen des Areals, bei der übrigens die umliegenden Wohnungen evakuiert und das Volkspark-Stadion gesperrt wurden, findet der Suchtrupp aus Munster 48 Tonnen Gift- und Sprengstoffe, einen mit 60 t Clark I aufgefüllten Feuerlöschteich, diver- se in und ausländische Munition, 35 Liter Tabun sowie in einem abgeriegelten Klohäuschen acht Tabungranaten. Im juristischen Nachspiel versuchten die Hamburger Behörden die Schuld auf den Bund abzuwälzen, Leusch- ner, der Stoltzenberg im Untersuchungsausschuss als Stoltzenbergs zweite Niederlassung – Hamburg-Eidlstedt vor der Räu- seinen „Lehrmeister“ bezeichnete, wird für „dauerhaft mung 1980 (aus ANGERER (1980): Chemische Waffen in Deutschland). nicht vernehmungsfähig“ erklärt und der Vater des Allein dieses stempelt es strategisch zu einer Haupt- Jungen wird wegen „Verletzung der Aufsichtspflicht und waffe.“ Herbeiführung einer Explosion“ angeklagt. Bereits 1970 Heute sind seine zentrale Rolle bei der Planung des che- hatten die Hamburger Behörden Ordnungsstrafen gegen mischen Befreiungskriegs, seine Beraterfunktion für drei Anwohner verhängt, die mit der Aufschrift „Lost = Tod“ Generationen von deutschen Armeen und seine Erfin- gegen die Fabrik protestierten ... wegen „Verunreini- dungen auf dem Kampfstoffsektor (er besaß 150 Paten- gung von Grün- und Erholungsanlagen“. te) weitgehend in Vergessenheit geraten. Was ihm blieb Soviel zum Leben Dr. Hugo Stoltzenbergs, für den die ist der Ruf des erfolglosen Betreibers einer „Giftküche“ Bezeichnung „Kampfstoffmanager“ wohl am treffendsten in Hamburg. Übrigens beschäftigt diese Giftküche noch wäre. Während für seinen Mentor Haber stets Patrio- heute die Hamburger Behörden: Denn bei der Räumung tismus die Antriebsfeder war, war es für Stoltzenberg das 1980 wurden nur die Gebäude von chemischen Stoffen „Geschäftemachen“. Keinem der beiden kamen jemals geräumt und abgebrochen. Anschließend wurde der irgendwelche Zweifel am Sinn ihrer angewandten, tod- Boden ausgehoben, von Chemikalienbehältern und bringenden Chemie. In seiner bereits 1938 erschienenen Ampullen befreit und wieder eingebaut. Nachdem 1991 „Denkschrift“ schreibt er: „Zweck und Ziel jeden Kamp- bis 1994 eine Bodenluftsanierung erfolglos betrieben fes ist die Erzwingung der Überlegenheit. Solche Überle- wurde, begann man ab 1996 mit der Sanierungsvorpla- genheit kann durch physisch und psychisch wirkende nung, denn es lagen umfangreiche Bodenkontaminatio- Mittel erreicht werden. Sie ist immer wirksamer und dau- nen durch halogenierte Kohlenwasserstoffe, Hexa- ernder, je weniger rohe Kraft und je mehr geistigseeli- chlorhexan, Polycyclische Aromatische Kohlenwasser- sche Zwangsmittel Verwendung finden. Von allen stoffe, Schwermetalle und Arsen sowie Verunreinigun- Kriegsmitteln hat das „Gas“ die Gegner am meisten gen des Grundwassers vor. Die Sanierungsmaßnahmen erregt. Es hat auch die stärkste psychische Wirkung. sind seit einiger Zeit angelaufen.

1919-1923 – Auswertung der Forschungen (geb. 1884) wurde 1921 nach Hannover verlegt und setzte dort unerkannt ihre Arbeiten fort. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Wissenschaftler, Mit der neuen Crew standen nun auch zivile Forschungs- die für den Gaskrieg gearbeitet hatten. Was passierte mit vorhaben, wie die Gewinnung von Gold aus Meerwasser, ihnen in der Nachkriegszeit? Da war natürlich zunächst auf Habers Forschungsplan. Trotz dieser neuen Schwer- Haber. Er stand nach Kriegsende auf der Liste der Kriegs- punkte beschäftigte sich eine kleine Gruppe von Wissen- verbrecher, wurde jedoch auf Grund seiner ausgezeich- schaftlern des KWI jedoch weiterhin mit Kampf- bzw. neten Verbindungen nicht verurteilt oder ausgeliefert. So Giftstoffen, finanziert durch die Reichswehr. So wurde u. a. hielt er bereits im November 1920 wieder Vorträge vor daran gearbeitet, das Blausäure-Vergasungsverfahren zu Offizieren des Reichswehrministeriums und setzte sich rationalisieren. Nach außen hin wurden diese Versuche hierbei nach wie vor vehement für den Gaskrieg ein. als Forschungen zur Schädlingsbekämpfung deklariert, Doch sein Institut für Physikalische Chemie am Kaiser- doch hatten Flury und Heubner (Wolfgang, 1877-1957) Wilhelm-Institut (KWI) in Berlin-Dahlem, das während des bereits zu Kriegszeiten über die Verwendungsmöglich- Kriegs als Kampfstoffforschungszentrum gedient hatte, keit von Blausäure als Kampfgas geforscht. In langen Rei- konnte nicht in der bisherigen Form weiter bestehen. hen hatten die beiden Pharmakologen das so genannte Haber war gezwungen, personelle und damit auch thema- „Habersche Tödlichkeitsprodukt“ der Blausäure be- tische Umstrukturierungen vorzunehmen. stimmt. Ihre Versuchsopfer waren Hunde, Katzen und So wechselten viele der ehemaligen Abteilungsleiter zu Affen gewesen. Nun widmete man sich am Institut der Universitäten über. Prof. Wilhelm Steinkopf, ehemaliger Verbesserung des Produktionsverfahrens, das als Zyklon- Leiter der Abteilung G (Überwachung der Fabrikation Verfahren bezeichnet wurde (Zyklon B entsprach der von Geschossen und Zündern für die Gasmunition) und zweiten Entwicklungsstufe). Ob die Forschungen damals „Erfinder“ des Losts, ging nach Dresden, Prof. Ferdinand mehr zivile oder mehr militärische Gründe hatten, ist Flury (1877-1947), der für Tierversuche bzw. „Gewerbe- unklar. Doch die letztliche Verwendung der Substanz ist hygienische Fragen“ zuständig gewesen war (Abteilung bekannt. Es ist beinahe als Ironie des Schicksals zu E) wechselte nach Würzburg, Prof. Heinrich Wieland (1877- bezeichnen, dass Zyklon B – im Labor des Juden und 1957), ehemals zuständig für die Darstellung neuer Kampfstoffchemikers Fritz Haber entwickelt – später zur Kampfstoffe (Abteilung D) ging nach München. Die ehe- Massenvernichtung seiner eigenen Glaubensbrüder ein- malige Gasschutzabteilung unter Dr. Ludwig Hans Pick gesetzt wurde. ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

MITTEILUNGEN 2/2009 25 Insgesamt ist in dieser Zeit festzustellen, das es in den bungslose Einrichtung von Großanlagen im Bedarfsfalle Nachkriegsjahren bei den Wissenschaftlern, die in der sichergestellt ist“. Kampfstoffforschung gearbeitet hatten, zu keinerlei Doch dies konnte zunächst nur im Geheimen vor sich Gesinnungswandel gekommen ist. Vielmehr werteten sie gehen. So blieb die ehemalige Gastruppe bestehen. Sie die während des Krieges gewonnenen Ergebnisse aus wurde unauffällig in der Inspektion 4 der Abteilung Artil- und veröffentlichten sie. Als Sprachrohr diente vorrangig lerie untergebracht. Auch der Generalstab wurde – ent- die „Zeitschrift für das gesamte Schieß- und Sprengstoff- gegen internationaler Abmachungen – nicht aufgelöst wesen“, in der zu Beginn der 20er Jahre eine ganze Reihe sondern als so genanntes „Truppenamt“ getarnt. Erste von Artikeln über Kampfstoffe und Gaskrieg erschien. größere Aktivitäten der Reichswehr sind aus dem Jahr Woher die Gelder für das Auswerten und Zusammenstel- 1923 überliefert, als im Januar eine Besprechung zwi- len der Untersuchungsergebnisse kamen, ist unklar. schen Stoltzenberg und der Reichswehr über die „Erhal- Sehen wir uns einige der Veröffentlichungen an: tung der Wehrfähigkeit auf dem Gaskampfgebiet“ Wilhelm Steinkopf (1878-1949) übernahm, wie wir gehört stattfindet. Stoltzenberg, der im Krieg die Lost-Füllanlage haben, 1919 in Dresden den Lehrstuhl für organische Berlin-Adlershof geleitet hatte und dann mit dem Bau des Chemie. Bereits 1920 veröffentlichte er den Artikel „Über Lost-Füllwerks in Breloh beauftragt war, wurde in der das Thiodiglycolchlorid und einige Abkömmlinge“. Hie- Nachkriegszeit – neben seiner Aufgabe in Breloh – zum rin ging es um nichts anderes als um ein verbessertes zentralen Ansprechpartner der Reichswehr für Fragen Herstellungsverfahren für Lost. Friedrich P. Kerschbaum der chemischen Aufrüstung. Als Besprechungsergebnis (1887-1946), ehemaliger Leiter der Abteilung B (Ausar- wird noch im gleichen Jahr die „Kommission für chemi- beitung deutscher Gaskampfmittel), schreibt einen Text- sche Fragen“ gebildet, die sich ab da regelmäßig trifft. beitrag über „Gaskampf und Gasabwehrmittel“ in dem Sie setzt sich aus Vertretern des illegalen Generalstabs ebenfalls 1920 erschienenen Buch „Die Technik im Welt- und Leitern wissenschaftlicher Forschungsinstitute bzw. kriege“. 1921 erscheint der als äußerst bizarr zu bezeich- Hochschulen zusammen und wurde vom Chef des Heeres- nende Band XIII der „Zeitschrift für die gesamte waffenamts geleitet. Noch im gleichen Jahr bespricht man experimentelle Medizin“. Es ist die erste deutschsprachi- die Vorbereitung der Kampfstoffproduktion und die Ent- ge umfassende Zusammenstellung toxikologischer Daten wicklung einer Gasbombe. über Kampfstoffe. Bei den Textbeiträgen handelt es sich teils um For- Die Deutsch-Russische Kampfstoffallianz schungsergebnisse, die noch während der Krieges am KWI gemacht worden waren (Tier- und Menschenversu- Da die Möglichkeiten auf deutschem Boden begrenzt che), teils handelt es sich um Untersuchungen an Kriegs- waren, knüpfte man gleichzeitig Kontakte zur sowjeti- opfern. Die Beiträge zum Thema Lost stammen von schen Regierung. Ihnen war die chemische Kriegsfüh- Ferdinand Flury (1877-1947), Prof. Dr. Heinrich Wieland rung noch gut in Erinnerung, denn im 1.WK hatten sie die (1877-1957) sowie von Dr. Otto Heitzmann. Im Eingangs- meisten Gastoten zu verzeichnen. Sie selbst verfügten kapitel des Bandes schreibt Flury über die durch Gas im damals jedoch kaum über Kampfstoff-Know-how. Daher Krieg Geschädigten: „Es stand also für das Studium ein wurden in der Nachkriegszeit vier Gaskampfinspektio- überaus reiches und seltenes Material zur Verfügung, des- nen und die „Gesellschaft der Freunde der chemischen sen Wert auch neben den schweren Opfern, mit denen Landesverteidigung“ (Dobrochim) eingerichtet. In der dieser erkauft ist, noch stark ins Gewicht fällt.“ Doch sein Nähe von Moskau wurde ein Gasübungsplatz gebaut. „Material“ bestand nicht nur aus Kriegsgeschädigten. Mehrere Gasfabriken existierten bereits. Die praktischen Flury und Wieland hatten auch eine ganze Reihe von Tier- Versuche wurden an Strafgefangenen vorgenommen – und Menschenversuchen mit Lost durchgeführt, wie ihrem also alles in allem ein „idealer“ Partner für Deutschland. Textbeitrag in dem Band zu entnehmen ist, und auf die in Mit deutscher Technologie und russischem Naturschätze- einem nächsten Teil noch zu sprechen sein wird. Dr. Otto Potenzial sollte eine Großanlage für Lost erbaut werden, Heitzmann war Assistent am Pathologischen Institut der die außerhalb des Zugriffs der Alliierten lag. Universität Berlin. Er wertete systematisch Sektionsbe- Parallel hierzu sollte ein Versuchsplatz errichtet werden, richte von Lostopfern verschiedener Ärzte aus und führte auf dem umfangreiche Geländetests, insbesondere mit mikroskopische Untersuchungen an histologischen Lost von Flugzeugen aus, möglich waren. Die bisherigen Schnitten durch. Ergänzend stellten ihm die Ärzte, die im geheimen Plätze in Unterlüß und auf der Kurischen Neh- Krieg die Opfer obduziert hatten, auch Anamnese und rung waren hierfür nicht mehr ausreichend. Es entbehrt Organproben zur Verfügung. Bei all diesen Auswertungen nicht einer gewissen Komik – jedenfalls standen sich im und Arbeiten stellt sich nun eine Frage: Wer finanzierte März 1923 Haber, der „Erfinder“ des Gaskriegs, und der sie? Über welche Kanäle kommt ein Assistent eines Patho- russische Vertreter seiner damaligen Opfer Nikolajewitsch logischen Instituts an Organproben von Lostopfern? Ob lpatieff (1867-1952), der wiederum Organisator der russi- hier Militärs dahinter steckten ist unklar. schen Kampfstoffproduktion im 1. WK war, auf einer Besprechung in Berlin gegenüber, bei der die künftige 1923 bis 1925 – Schaffung einer ausbau- Zusammenarbeit auf dem Gaskampfsektor beschlossen fähigen Produktion wurde. Und dies kaum vier Jahre nach dem Ende der Kämpfe. Und wie sah es in den ersten Jahren nach dem Krieg mit Die Besprechung war erfolgreich. Kurze Zeit später reiste der Reichswehr aus, die 1920 neu gegründet wurde (das Stoltzenberg, der zum Generalbevollmächtigten der Reichsheer des 1. WKs war aufgelöst worden)? Eines Reichswehr für das Geschäft bestimmt wurde, nach Russ- stand gleich von Beginn an fest: Nach einer Vorberei- land, um die Details festzulegen. Als Standort des Lost- tungszeit von etwa drei bis fünf Jahren war ein Befreiungs- (und Phosgen)werks, das „Trotzk“ genannt wurde, diente krieg geplant. Und da man auf dem Sektor der Tschapajewsk an der unteren Wolga. Zur Abwicklung konventionellen Rüstung zu sehr beschränkt und kontrol- gründete man die deutsch-russische Aktiengesellschaft liert war, plante die neue „Landesverteidigung“, den „Bersol“. Diese schloss wiederum mit der Fa. Gefu Nachteil durch chemische Kriegsmittel auszugleichen. (Gesellschaft zur Förderung gewerblicher Unternehmun- Grundkonzept war hierbei „die Kampfstoffproduktion in gen) einen Vertrag über die Lieferung von 1.230 t Kleinanlagen so zu entwickeln, dass eine rasche und rei- Lost/Jahr. Fortsetzung folgt ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

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LOST – König der Kampfstoffe Die unendliche Umweltgeschichte – Teil 4/2 Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten; Jens Reuther, IUQ Dr. Krengel GmbH; Wolfgang Thamm, COM Druck, Schashagen Hinter dieser Firma steckte eine Tarngesellschaft der auf den tierischen und Reichswehr. Geschäftsführer waren die Militärs Gene- menschlichen Orga- raloberst Hans von Seeckt (1866-1931) und Major Fritz nismus betreffen“. Tschunke sowie der Kaufmann Theodor Eckardt. Universitäten und Tech- Doch war nicht vor 1925 mit dem Baubeginn zu rech- nische Hochschulen in nen, und dies passte natürlich nicht zum Zeitplan des ganz Deutschland waren „chemischen Befreiungskriegs“. So beschloss die an den Versuchspro- Kommission im Januar 1924 die Wiederaufnahme der grammen, die über Kampfstoffproduktion im eigenen Land. Zunächst führ- 10.000 Substanzen betra- te man eine Bestandsaufnahme durch: Die Rheinzone fen, beteiligt. So forschte war entmilitarisiert, die IG Farbenwerke in Ludwigsha- Steinkopf in Dresden, fen, Höchst und Leverkusen fielen damit als Produk- Arthur Hantzsch (1857- tionsstätten aus. Die Kampfstoffanlagen waren 1935) in Leipzig und Jan- entweder demontiert oder zur zivilen Nutzung umge- der in Göttingen. In baut worden. Ergänzung zu den Potenzielle Produktionsstandorte blieben die AGFA- Ferdinand Flury, ehemaliger Abtei- Grundlagenforschungen Werke in Wolfen für Blaukreuz (4 t/Tag) und eine lungsleiter am KWI, dann Ordina- errichtete die Reichs- geringe Menge Lost (12 t/Tag), die Chemische Fabrik rius für Toxikologie an der wehr auf der Zitadelle Universität Würzburg, war der Koor- Heyden in Radebeul-Dresden für Grünkreuz (2,5 dinator des Forschungsverbands. Berlin-Spandau ein t/Tag) sowie Stoltzenberg’s Klitsche in Hamburg für die Kampfstofflaboratorium, Produktion von Grünkreuz (3 t/Tag) und Gelbkreuz das spätere „Heeresgasschutzlaboratorium“ der Wehr- (20-25 t/Monat). Den Bau seines Werks hatte er mit Hil- macht. Sieht man sich heute die Websites der betref- fe der Provisionen aus dem Spaniengeschäft finanziert. fenden Universitäten an, so ist unter dem Link History Bei allen Standorten handelte es sich um Kleinbetriebe nichts über diese Aktivitäten zu finden. Auf der Dres- mit nur geringen Kapazitäten. Die Reichswehr wusste, dener Homepage heißt es zum Beispiel sehr verklau- damit war keine chemische Befreiungsschlacht zu suliert: „Das Extraordinariat für „Sondergebiete der gewinnen. So erhielt Stoltzenberg den Auftrag, in Grä- organischen Chemie“ ging 1919 auf den vormaligen fenhainichen bei Berlin eine Großanlage für Chlor mit Abteilungsvorsteher am Kaiser-Wilhelm-Institut für Phy- verschleierter Lostproduktion und angeschlossener sikalische und Elektrochemie in Berlin-Dahlem, Wilhelm Füllstelle (diese waren überhaupt nicht vorhanden) zu Steinkopf über. W. Steinkopf hat seine Lebensaufgabe in errichten. Die Kapazität sollte 7.000 t Lost/ Jahr betra- der gründlichen Erforschung des schwefelhaltigen Ana- gen. Hierfür standen 2,5 Mio RM zur Verfügung. Paral- logons des Benzols, des Thiophens, gesehen; er hat sie lel hierzu wurde die Produktion bei AGFA aufgestockt. gegen Ende seines Lebens durch eine Monographie Stoltzenberg stand bei all seinen Aktivitäten stets in über dieses sehr umfangreich gewordene Gebiet Kontakt mit Haber und besprach sich aber auch mit gekrönt“. Flury, Kerschbaum, der nach wie vor am KWI war, und Karl Quasebart (1882-1949) von der Auer Gesellschaft, von der wir noch hören werden. Organisationsstruktur der Kampfstoff- bzw. Lostforschungen in der Weimarer 1925-1926 – Ein Know-How-Vorsprung Republik muss her Zentrale Koordination Die Produktionsvorbereitungen waren ins Rollen Professor Ferdinand Flury, Universität Würzburg gebracht worden, nun konnte man sich anderen Din- (Schutzsalben, Behandlung) gen widmen. So wurde auf der Besprechung im Dezember 1924 ein Fragenkatalog über Kampfstoffe Heereswaffenamt bzw. einen möglichen chemischen Krieg erarbeitet, in General Max Ludwig dem die „Produktentwicklung“ wie man heute sagen Generalleutnant von Vollard-Bockelberg würde, detailliert festgelegt wurde: zunächst sollte ein Industrie neuer Kampfstoff entwickelt werden (dies gelang erst Auerwerke Oranienburg 10 Jahre später), ein Stoff zur Entzündung der Aktiv- (Oxol-Lost-Versuchsanlage, Materialprüfung) Kohle des Gegners war zu erfinden (dies gelang Priv. Kampfstofflabor nicht), die bestehenden Kampfstoffe sollten verbessert Doktor-Ingenieur Stantien werden (was Stoltzenberg mit Zäh-Lost erreichte), und (Mischungen Lost/Adamsit) schließlich brauchte man bessere und billigere Her- Wehrwirtschaft stellungsverfahren (dies wurde bei Gelbkreuz mit dem Major Georg Thomas Direkt-Lost-Verfahren erreicht). Während Stoltzenberg Oberregierungsrat Docktor Zahn zur Säule der industriellen Erprobung wurde, über- Truppenamt (Artillerie) nahm Flury die Koordination sämtlicher toxikologi- Hauptmann H. Ochsner scher Forschungen. Im Vertrag, den er 1924 mit der Majore Auer, Bergmann, Zenetti Reichswehr schloss, heißt es, er übernehme „Arbei- Reichsgesundheitsamt ten, welche die Erforschung der Wirksamkeit zur (Testung von Schutzmaßnahmen, Kombination von Schädlingsbekämpfung geeigneter chemischer Stoffe Lost und Arsenorg.) ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

22 MITTEILUNGEN 3/2009 Sanitätswesen erlaubt. Anstoß hierfür hatte der Leiter des Instituts für Doktor Rundolf Hanslian, Doktor Otto Muntsch Gasanalyse der TH Berlin Prof. Fritz Wirth gegeben. (Toxikol. Tests, Entgiftung) Rasch entwickelte sich daraufhin in Deutschland eine Forschung Industrie für Masken, Filter, Schutzanzüge und -salben. Steinkopf, Universität Dresden Natürlich brauchte man zu Übungszwecken Kampf- (Arsenverbindungen, Mischungen mit Lost) stoffmuster. Und hier zeigte sich wieder das Talent des Hantzsch, Universität Leipzig zu dieser Zeit offiziell bankrotten Kontaktmanns Stolt- (Lostvarianten) zenberg. Er lieferte an Schulen die so genannte Hase, Biologische Reichsanstalt Berlin „Geruchstasche“. Sie enthielt neben einer Broschüre (Tierversuche) zwölf präparierte Gummistreifen, die mit winzigen Trenel, Geologische Landesanstalt Berlin Kampfstoffmengen getränkt waren, sowie ebenfalls (Halogen-Nitroverbindungen) kampfstoffgetränkte Streichhölzer, die den Kampfstoff Jander, Universität Göttingen beim Verschwelen freisetzten. (Fluorhaltige Stoffe) TH Berlin: Die IG-Farben stoppt die Vorbereitungen Schaarschmidt Während die Forschungen auf Hochtouren liefen, star- (Verbesserung des Direkt-Lostverfahrens) tete im Dezember 1925 mit deutschem Personal die Hoffmann (Halogenhaltige Substanzen, Quecksil- Versuchsproduktion in Trotzk. In diesem Zusammen- berlost, Cycl. Lost) hang ist erwähnenswert, dass das Deutsche Reich im Richter (Tierversuche mit Lostdampf) Juni gleichen Jahres das Genfer Protokoll über das Wirth (Geländetests in Kummersdorf) „Verbot von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Krause (Schwermetallverbindungen) Gasen“ unterzeichnet hatte und dass Deutschland Obermiller (Entgiftung, Syntese, Winterlost) 1926 dem Völkerbund beigetreten war. Die klar struk- 1926 wird Deutschland offiziell der passive Luftschutz turierten Kriegsvorbereitungen wurden nun jedoch Stresemann, Friedensnobelpreis und geheime Aufrüstung für den Gaskrieg Die Kampfstoff-Aktivitäten der Weimarer Republik, rung eines chemischen Krieges zu verzichten. Im Okt- die kaum vier Jahre nach den Schrecken des Gas- ober des gleichen Jahres unterzeichnete Deutschland kriegs einsetzten, müssen aus heutiger Sicht als (wei- den Locarno-Vertrag, in dem Deutschland, Frankreich terer) dunkler Punkt in der deutschen Geschichte und Belgien auf eine gewaltsame Veränderung ihrer bezeichnet werden: Die zentrale Figur in der Außen- gemeinsamen Grenzen verzichteten. 1926 trat politik jener Zeit war Gustav Stresemann, der auch Deutschland schließlich dem Völkerbund bei. Ent- heute noch großes Ansehen genießt. Sehen wir uns sprechende Erklärungen des damaligen Außenminis- seine Stellung im rüstungschemischen Kontext näher ters Stresemann unterstützten den offiziellen Kurs. Ein an: besonders vertrauensvolles Verhältnis hatte er zu sei- Schon den I.WK hatte Stresemann als „Kampf Deutsch- nem französischen Kollegen Briand aufgebaut, lands um machtpolitische Gleichberechtigung“ gemeinsam erhielten sie 1926 den Friedensnobel- betrachtet. Im ersten Teil des Artikels haben wir ja preis. Doch sein Kurs beruhte nicht auf ideellen Erwä- schon erfahren, das zu dieser Zeit eine Art „neuroti- gungen. Er wollte Deutschland vielmehr wieder in scher Massennationalismus“ herrschte. Bei der den Rang einer Großmacht heben und gleichzeitig Bedeutung des Wortes „machtpolitische Gleichbe- eine britisch-französisch-russische Verständigung rechtigung“ ist also Vorsicht geboten. Auch als die verhindern. Diese Großmachtstellung war nur durch Kriegslage bereits aussichtslos war, kam für ihn ein die Überwindung der Folgen des Versailler Vertrags „Verständigungsfrieden“ nicht in Frage. Die Friedens- möglich. Um das zu erreichen, verfolgte er zwei auf note des Reichstags vom Juli 1917 lehnte er ab. Hierzu den ersten Blick völlig konträre Strategien – Verstän- muss man wissen, dass er zu dieser Zeit zusammen mit digungspolitik einerseits und legale und illegale Auf- General Ludendorff den Sturz des Reichskanzlers Holl- rüstung andererseits. Auf den Punkt gebracht: weg (1856-1921) vorbe- Während er und sein Freund den Friedensnobelpreis reitet hatte und das überreicht bekommen, läuft in Oranienburg die Lost- Reichsheer den ersten produktion an und Militärs üben in Tomka den chemi- Einsatz der neuen Waffe – schen Befreiungskrieg. des Losts – vorbereitete. Natürlich spielte in den Vorbereitungen auch die Ein Frieden wäre für bei- Reichswehr eine entscheidende Rolle. Nach Ende des de zu jener Zeit also I.WK’s war das Reichsheer zwar aufgelöst worden, die äußerst ungünstig monarchistische Strukturierung wurde aber in die neu gekommen. gegründete Reichswehr mit hinübergenommen. Eine Nach dem Krieg wurde Integration in die junge demokratische Gesellschaft Stresemann Vorsitzender hatte nicht stattgefunden. Die Reichswehr stellte also des Außenpolitischen kein zuverlässiges Organ der politischen Führung Ausschusses. Im August dar, sondern bildete auch auf Grund ihrer Zusammen- 1923 wurde er zunächst arbeit mit paramilitärischen Verbänden der Rechten Reichskanzler, dann eine innenpolitische Gefahrenquelle. Dennoch stellte Reichsaußenminister. in der Weimarer Republik kein Parlamentarier jemals Gustav Stresemann - Deutschland zur Großmacht um jeden Preis Letztere Position hielt er die Frage nach der Existenzberechtigung der Reichs- bis zu seinem Tod im Jahr wehr in dieser Form. Im Gegenteil, der von der 1929 inne. Offiziell trat Stresemann für eine Politik des Reichsregierung verabschiedete Rüstungsetat stieg Verhandelns mit den Siegermächten des I. WK’s ein. stetig, während man gleichzeitig auf eine Demokrati- So hatte im Juni 1925 auch Deutschland das Genfer sierung des Militärs hoffte – vergebens. Gasprotokoll unterzeichnet. Unser Volk verpflichtete Der chemische Rüstungswahnsinn setzte also lange sich hierin, auf die Vorbereitung und die Durchfüh- vor der Machtergreifung durch Hitler ein. ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

MITTEILUNGEN 3/2009 23 von einer Macht gestört, die bisher nicht in Erschei- nalen Rüstungsausgaben, der illegalen Aufrüstung nung getreten war: dem IG Farben-Konzern. Aus huma- sowie am militaristischen Denken, das die deutsche nitären Gründen? Nein. Schuld am Ausbruch des I.WK leugnete. Einerseits sah der Konzern seine marktbeherrschende Nur knapp eine Woche, nachdem die Außenminister Stellung in der Chlorproduktion (Chlor-/Lostwerk Deutschlands und Frankreichs, Stresemann und Briand, Gräfenhainichen) gefährdet, anderseits fürchtete er den Friedensnobelpreis für ihre Bemühungen um die um seine Geschäfte mit dem Ausland. Wenn Gräfen- Verständigung zwischen beiden Ländern erhalten hat- hainichen und Trotzk aufgedeckt würden, käme das ten, erhebt der SPD-Abgeordnete Philipp Scheidemann Auslandsgeschäft, das damals 50 % des Gesamtumsat- im Reichstag heftige Vorwürfe gegen die Militärpolitik zes ausmachte, durch erneute Reglementierungen der der Reichsregierung. Er kritisiert die Reichswehr Alliierten zum Erliegen. Daher intervenierte die IG wegen der finanziellen Unterstützung durch die Groß- mehrfach bei Reichskanzlei und Auswärtigem Amt. industrie, wegen ihrer Verbindungen zu rechtsgerich- Doch mittlerweile waren die Geheimaktivitäten der teten Kampfverbänden sowie ihrer anhaltenden Reichswehr auch durch den unermüdlichen Kampf der Zusammenarbeit mit der Roten Armee. Der kurz darauf Friedensbewegung in der Weimarer Republik an die gestellte Misstrauensantrag der SPD wird im Reichstag Öffentlichkeit gedrungen (sogar die ausländische mit 249 gegen 171 Stimmen angenommen. Das Kabi- Presse berichtete darüber). Sie übte Kritik an der nett Marx tritt zurück. Struktur der Reichswehr und deren mangelnden Das fast fertige deutsche Chlor-/Lostwerk in Gräfen- demokratischen Zuverlässigkeit, den immensen natio- hainichen wurde daraufhin Ende 1926 demontiert, die Der Gaskrieg gegen die Kabylen – Deutsches Lost gegen „unterentwickelte Eingeborene“ In der Zeit der geheimen chemischen Rüstung kam doch durch deutlich erhöhte Sesshaftigkeit aus. Hier- Stoltzenberg eine außenpolitische Entwicklung sehr mit könnten prinzipiell über viele Monate wirksame zu Gute: Anfang des Jahrhunderts hatten sich die Fran- Geländesperren errichtet werden. Stoltzenberg über- zosen und die Spanier in einem kolonialen Kuhhandel zeugte. das Sultanat Marokko unter den Nagel gerissen, das Im Juni 1922 wurde bereits der Vertrag für den Bau der reich an Bodenschätzen war. Durch militärische und Anlage unterzeichnet. Als Standort wurde Maranosa wirtschaftliche Kontrolle sollte ein Protektorat aufge- bestimmt, da hier für die feldmäßige Erprobung nach baut werden. Frankreich erhielt das große südliche Breloher Vorbild genügend Platz war und auch ein Kuchenstück, Spanien nur einen schmalen lang gezo- Bombenabwurfgelände zu Verfügung stand. Die Bau- genen Küstenstreifen im Norden, der von einer Viel- leitung übernahm German Zimmermann, ein Studien- zahl von Stämmen besiedelt war. Von fünf an der Küste kollege von Stoltzenberg. In wurde eine Marokkos gelegenen Stützpunkten aus versuchte man eigene Firma gegründet, die den einfallsreichen nun, das Land zu erobern. Doch „widerborstige“ Namen STOGAS bekam. Die Anlage wurde mit deut- Stämme, die sich nicht „beschützen“ lassen wollten, schem Personal 1925 fertig gestellt. widersetzten sich und fügten der Spanischen Armee Neben dem Know-How lieferte Stoltzenberg auch ver- mal für mal große Verluste zu. Ein größerer Vorstoß schiedene Kampfstoffe als Soforthilfe gegen die Auf- ins Landesinnere im Jahr 1921 endete in einem Desas - ständischen. Welche Arten und welche Mengen, ließ ter: Abd El Krim, der Anführer des größten Berber- sich bis heute nicht genau rekonstruieren. Von 1920 stammes Beni Urriagel, war es gelungen, einige bis 1923 soll er insgesamt 500-600 Tonnen Phosgen Stämme zum Kampf gegen die Spanier zu vereinen. und Clark I illegal von den Breloher Beständen abge- Zehntausende von spanischen Soldaten starben in der zwackt haben, wobei jedoch ein Teil für die Reichs- Schlacht von Anual trotz militärischer Überlegenheit. wehr bestimmt war. Der Rest gelangte nach Spanien Eine peinliche Niederlage gegen die „unterentwi- und wurde dort auch eingesetzt. Mit den erzielten ckelten Eingeborenen“. Mit konventionellen Waffen Gewinnen errichtete er Anfang 1923 ein Kampfstoff- waren die perfekten Guerilla-Krieger um Abd El Krim werk an der Müggenburger Schleuse in Hamburg. offenbar nicht zu „befrieden“. Giftgas musste her. Doch im Juni 1923 musste er schon wieder nach Spa- Spanien war jedoch noch recht unerfahren auf diesem nien. Dort hatte sich die Lage zugespitzt. Gebiet. Es gab zwar schon eine Füllanlage in Melilla, einem der Stützpunkte an der marokkanischen Küste. Sie war mit Hilfe Frankreichs erbaut worden. Doch hatten sie den Spaniern bisher nur Tränengase und Der Anführer Nasen-Rachenreizstoffe zur Verfügung gestellt. Bezüg- der Ryf-Kabylen lich Lost wollten oder konnten sie nicht so recht. – Abd El Krim. So nahm Spanien über verstrickte geheime Kanäle Sein Volk hatte Kontakt zu Stoltzenberg auf. Ihr Wunsch: Lost, sofort gegen deutsche und soviel wie möglich, und wenn man schon dabei Kampfstofftech- war auch gleich eine eigene Produktionsstätte. nologie keine 1922 traf zunächst eine spanische Delegation auf dem Chance (aus ehemaligen Gasplatz Breloh ein, um sich über das KUNZ, MÜLLER deutsche Know-How zu informieren. Neben den teil- (1990): Giftgas zerstörten Abfüllanlagen und den Einrichtungen zur auf Abd EI Krim) Vernichtung und Umarbeitung führte er die staunen- den Besucher auch durch seine Geheimlabors. Hier arbeitete er bereits an einer schnelleren und billige- ren Methode zur Lostherstellung sowie an der Herstel- lung verdickter Loste, einer neuen wahrlich Am 1. 2. 23 hatte Abd El Krim seine islamische Repu- teuflischen Variante, die später unter dem Namen Zäh- blik ausgerufen. Spanien musste handeln. Bei einer lost bekannt wurde. Das war natürlich für die Spanier Audienz beim König fand Stoltzenberg schließlich von besonderem Interesse, zeichnete sich Zählost auch eine Lösung für das Rif-Problem. Da die Anlage ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

24 MITTEILUNGEN 3/2009 in La Maranosa immer noch im Bau war, würde er in ständischen“ aus ihren Unterschlüpfen in Räume seiner neuen Hamburger Firma das (ungefährliche) getrieben, die zuvor mit Lostbrisanzbomben bombar- Vorprodukt Thiodiglycol (Oxol) herstellen. In der Füll- diert worden waren. Parallel hierzu kontaminierte man anlage von Melilla würde es dann zu Lost umgesetzt gezielt Trinkwasser- und Nahrungsreserven (Oasen, und auch gleich abgefüllt (die Kapazität betrug etwa Märkte), Straßen, Dörfer und Felder durch Lost und 20 Monatstonnen). Ob Stoltzenberg als Startkapital zerstörte so die Lebensgrundlage der Kabylen. Das noch zusätzlich Lost aus Breloher Beständen beschaff- tapfere Völkchen war völlig ahnungs- und schutzlos. te, ist nicht geklärt. Übrigens hatte man in Melilla die gleichen Probleme, die auch in Adlershof aufgetreten waren: Alle zehn Tage musste die komplette, 200 Arbeiter umfassende Mannschaft wegen Vergiftungs- „Stoltzenbergs erscheinungen ausgetauscht werden. Stoltzenberg war Vorgeschmack, ein Meister des „Systemgeschäfts“, wie man heute so das Reizgas schön sagt, verkaufte er den Spaniern doch den che- „BN-Stoff“. Der mischen Angriffsplan gegen Abd El Krim gleich mit. abgebildete Es muss an dieser Stelle betont werden, dass Stoltzen- (deutsche) Sol- berg im Spaniengeschäft (wie auch im Russlandge- dat wurde beim schäft) nur der Unterhändler war. Hinter seinen Füllen durch Aktivitäten stand die Reichswehr bzw. der Chef des austretendes Truppenamts Otto Hasse (1871-1942). Die Abwicklung Brommethyle- erfolgte letztlich über die Inspektion 4 (Artilleriewe- thylketon (BN- sen) des Waffenamts. Stoff) verätzt Für die Reichswehr bzw. für Deutschland war das Gas- und erblindete geschäft natürlich eine riskante Sache. Wenn es auf- (aus SZILY flog, zog dies ernste politische und wirtschaftliche (1918): Atlas Konsequenzen nach sich. So wurde Stoltzenberg kurz- der Kriegsau- erhand zusätzlich die Spanische Staatsbürgerschaft genheilkunde). verpasst, so etwa nach dem Motto: Was kann denn die Reichswehr für die Aktivitäten des spanischen Unter- tans? Nun fragt sich der Leser vielleicht, warum die Reichs- wehr Spanien so großzügig unterstützte, eine Nation, die im 1.WK neutral war und zu der bis 1920 keine Als man begriff, dass es sich um eine verbotene Waffe diplomatischen Kontakte bestanden hatten? Die Ant- handelte, starteten sie einen Hilferuf beim Internatio- wort ist einfach: Man konnte im Ausland das tun, was nalen Roten Kreuz. Die spanische Regierung bestritt in Deutschland sofort aufgefallen wäre: großtechnisch den Einsatz von Lost natürlich, verweigerte aber ein neues Produktionsverfahren testen, Lostbomben gleichzeitig neutralen Beobachtern die Einreise. Im und Zünder entwickeln und erproben – wahrschein- Februar 1925 erfolgte mit französischer Unterstützung lich darunter auch die Neuentwicklung Zählost – und ein weiterer Großeinsatz, bei dem 500.000 „Zivilisier- natürlich im großen Maßstab am lebenden Objekt te“ zwölftausend „Eingeborene“ einkesselten. üben. Wer dieses Objekt war, spielte keine Rolle. Und Im Mai 1926 ergab sich Abd El Krim – sehr zum Ärger so schickte der Chef der Heeresleitung Generaloberst der Spanier – den Franzosen und wurde ins Exil nach von Seeckt (1866-1936) und der Leiter des Truppen- Reunion gebracht (er konnte erst nach 21 Jahren flie- amts Otto Hasse zwei Offiziere auf „Urlaub“ nach Spa- hen und starb im Exil in Ägypten). Einige Stämme hat- nien bzw. Marokko (offiziell hatten sie ihren Dienst ten den Kampf noch nicht aufgegeben. Die Spanische beendet). Die beiden (die ein ziemlicher Fehlgriff Militärregierung ordnete „Strafmaßnahmen“ an, um waren) bekamen in ihrem Urlaub einiges an Anima- den Wiederaufbau der Rebellion im Keim zu ersti- tion geboten: Stoltzenberg hatte sich etwas wahrlich cken. Bis Juli 1927 wurden die Rebellen mit einer wei- teuflisches ausgedacht - einen kombinierten Einsatz teren Oxol-Lieferung aus der Hansestadt ausgelöscht. von Brandbomben, Tränengas-/Lostbomben und Lost- Übrigens hatten auch Spanien und Frankreich am brisanz-Bomben (mit Sprengladung). Mittels Brand- 17.6.1925 zusammen mit 30 anderen Staaten das Gen- und Reizstoff-Kampfstoffbomben wurden die „Auf- fer Protokoll unterzeichnet ..... nicht ganz fertig gestellte Trotzker Anlage, die in der ungskriegs nicht abbringen. Und trotz des Einschrei- Zeit noch dazu mit einem Hochwasserschaden zu tens Stresemanns war die Folgezeit in der Weimarer kämpfen hatte, wurde den Russen überlassen. Stoltzen- Republik geprägt von einer schleichenden Eskalation berg wurde kurzerhand von der Reichswehr fallenge- der Untergrabung des Kampfstoffverbots, die sich lassen. Seine Firma „Bersol“ musste Vergleich noch vor dem Machtwechsel 1933 mehr und mehr zur anmelden. Stoltzenberg verlor seinen Hamburger unverhohlenen chemischen Kriegstreiberei steigerte. Betrieb. Gerechterweise muss betont werden, dass Während die Forschungen an den Universitäten und einen Teil zu diesem Kampfstoffstopp sicher auch der Hochschulen weitergingen, liefen zunächst die bereits neue Annäherungskurs des damaligen Außenminis - seit 1924 vorbereiteten Geländeversuche mit Lost auf ters Gustav Stresemann (1878-1929) beigetragen hat. dem Gasversuchsplatz „Tomka“ an, der nicht weit ent- Er wollte die Annäherungspolitik auch innenpolitisch fernt von der Trotzker Produktionsstätte lag und in umsetzen und hatte daher auf die Demontage der Pro- Kooperation mit den Russen angelegten worden war. duktionseinrichtungen gedrängt. Mit Hilfe von Junkers-Flugzeugen und Krupp-Absprüh- fahrzeugen übte man das Anlegen von Geländekonta- Die geheime Neuorientierung (1927-1931) minationen. Ein eigenes Lazarett stand für die Trotz oder gerade wegen dieser Rückschläge ließ sich „Gaskranken“ zur Verfügung. die Reichswehr von ihrer Idee des chemischen Befrei- Fortsetzung folgt ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

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LOST – König der Kampfstoffe Die unendliche Umweltgeschichte – Teil 4/3

Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg. Mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten; Jens Reuther, IUQ Dr. Krengel GmbH; Wolfgang Thamm, COM Druck, Schashagen. Jedem der delegierten deutschen Spezialisten standen die Herstellung. Die Reichswehr wandte sich nun an die russische Akademiker und Offiziere zur Verfügung. Die Auer Werke in Oranienburg. Sie sollten im Geheimauftrag Ergebnisse wurden offen ausgetauscht. Sämtliche Tests des Heereswaffenamtes die Lost-Herstellungsmethoden waren zuvor von deutschen Instituten und Universitäten, perfektionieren und hierzu Versuchsanlagen und Gas- die an der Kampfstoffforschung beteiligt waren, gründlich schutzlabors errichten. Bereits 1928 lief die geplante vorbereitet worden. Tierversuche an Pferden und Hunden Anlage mit einer Kapazität von 0,5 t Oxollost/Tag, die ergänzten die Geländeversuche. 1929 durch eine Clark-I-Versuchsanlage ergänzt wurde. Doch auch in der Heimat begann man, für den chemi- Ein „Fabrikenplan“ sah im Jahr 1928 für den Etat 3,2 Mio. schen Krieg zu üben. Im September 1927 fanden (noch) DM für die Produktion von Gasschutzmitteln (Auer und simulierte Kampfstoffübungen in Braunschweig statt. 1929 Dräger), 5,2 Mio. DM für die Produktion von Lost, 0,55 Mio. wurde eine eigene Nebeltruppe unter Hermann Ochsner DM für die Herstellung von Blaukreuz und knapp 1 Mio. (1892-1951) gebildet. Man spielte befehlstechnisch den DM für die Errichtung von Kampfstoffabfüllanlagen vor. Rückzug vor den Franzosen unter Verwendung von Lost durch. „Was haben wir 1914-1918 erlebt! Und wer mit ganzer Prof. Wirth führte nun offiziell auf dem Truppenübungs- Seele das alles durchgemacht hat, an der Front oder platz Kummersdorf praktische Kampfstofftests durch. Den daheim, wer hätte geglaubt, dass die Menschen so Höhepunkt der Gaskriegsvorbereitungen bildete im Sep- schnell und gründlich vergessen würden.“ tember 1930 ein Großmanöver in Thüringen. Dies war das „Diese Herrschaften können ihre innen- und außenpoli- erste Mal, dass nach Ende des 1. WK’s mit (simulierter) tische Machteinbuße nicht verschmerzen, betrachten sie chemischer Kampfstoffmunition umfassend Angriff und nur als vorübergehend, und rüsten unentwegt, um die Verteidigung geübt wurde. Man trainierte z. B. „Bunt- erste Gelegenheit zu ergreifen, wo sie nicht nur das Ver- kreuzschießen“, Absprühen von Lost von Flugzeugen aus, lorene wiederholen können, sondern noch mehr dazu.“ Anlegen von Lost-Geländesperren und andere Neuerfin- „Sie werden solange im Geheimen rüsten, bis sie offen dungen. Doch mit dem Üben allein gab sich die Reichs- hervortreten und sagen können, gebt uns jetzt freiwillig wehr nicht zufrieden. den politischen Korridor und Oberschlesien zurück oder Nachdem die Kontakte zu Stoltzenberg eingestellt worden wir nehmen uns das mit Gewalt und obendrein noch waren, brauchte man natürlich einen neuen Partner für Österreich, Tschechoslowakien, Südtirol, die Schweiz, Elsaß-Lothringen, Belgien, Holland, Nordschleswig und Die Hamburger Giftgaskatastrophe von 1928 über kurz oder lang ganz Europa, schließlich die ganze Nachdem die Zusammenarbeit Stoltzenbergs mit der Welt.“ Reichswehr 1926 zu einem jähen Ende gekommen war, Josef Weisbart (1929) gab es noch ein Problem zu lösen: Im so genannten Sennelager, einer Zerlegestelle bei Paderborn, befan- 1931 – Das Gaskriegsbekenntnis den sich noch 8.000 Phosgenflaschen, die Stoltzenberg 1931 beginnt die Reichswehr nun auch – trotz nach wie an die USA verkaufen wollte. Da die Kampfstoffe (mit vor bestehender Geheimhaltungspflicht – öffentlich Zustimmung der Reichswehr) dort illegal gelagert wor- (Gas)Stellung zu beziehen: „Ein allgemein verbindliches den waren und der Zustand der Behältnisse sehr Verbot des Gaskrieges gibt es gar nicht; denn das Genfer bedenklich war, forderten sie vor dem Abtransport Protokoll ist weder militärisch, noch juristisch, noch wis- eine Umfüllung des Phosgens in Tanks. Sie wussten, senschaftlich, noch gastechnisch eindeutig.“ Jetzt war es dass Stoltzenberg pleite war. Im Schadensfall wären die raus. Auf dieser „Welle“ zogen nun die ewig gestrigen Ersatzansprüche an die Reichswehr herangetragen Gasfanatiker nach: Dr. R. Hanslian gründete die Zeitschrift worden und dies hätte peinliche Fragen nach sich „Gaskrieg und Luftschutz“. Das neue Präsentationsforum gezogen. Nach der Umfüllung wurden die Tanks auf setzte sich aus Vertretern der Wissenschaft (Flury, Zernik, Stoltzenbergs Betriebsgelände zwischengelagert. Wirth, Nernst) und Industrie (Heinrich Dräger von den Am 21. Mai 1928 explodierten zwei dieser Tanks und Dräger-Werken, Johann von Düring, Karl Quasebart [Auer- eine Giftgas-Wolke bewegte sich auf Hamburg zu. Werke], Gotthart Sachsenberg [Direktor der Junkers Flug- Mehrere hundert Personen erkrankten noch am glei- zeugwerke]) sowie aus Kriegsveteranen zusammen. Auch chen Tag, zehn Menschen starben. Nur dem drehenden die bereits erwähnte „Zeitschrift für das gesamte Schieß- Wind war es zu verdanken, das die Wolke nicht Ham- und Sprengstoffwesen“ wartet nun mit einem Sonderteil burg erreichte. „Gasschutz“ auf. Stoltzenberg wurde nicht angeklagt, denn die Reichs- In dieser Zeit erscheint ebenfalls eine Vielzahl von Über- wehr legte ihre schützende Hand über ihn bzw. über sichtsarbeiten und Publikationen zur Kampfstoffchemie. sich, den sie bezog ja illegal Lieferungen von ihm. Und Als Autoren treten Chemiker, Pharmakologen, Mediziner außerdem war die Katastrophe eine gute Gelegenheit, und Militärs auf. So hat der Verein Deutscher Chemiker einmal den Kriegs-Notfall zu üben. Stoltzenberg äußer- eine eigene Abteilung für Luftschutz bei der z. B. Flury te sich zu den Toten in etwa sinngemäß: Es sei sehr und Hanslian Führungsfunktionen wahrnahmen. Sie alle bedauerlich und er hätte Mitleid mit den Opfern, trugen dazu bei, Kampfstoffe und chemischen Krieg in jedoch seien dies die unvermeidlichen Spesen jeder jener Zeit „salonfähig“ zu machen. reinen Wissensforschung, die ja enormen Nutzen mit Aber auch die Bevölkerung wird durch strategisch sich brächten. geplante Werbemaßnahmen psychologisch auf den kom- ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

24 MITTEILUNGEN 4/2009 es nicht lange dauern, bis sich eine alte und neue Macht in den Vordergrund des Kampfstoff- bzw. Lostgeschehens schiebt, doch mehr soll hier noch nicht verraten werden. Stimmen gegen den drohenden Gaskrieg wurden damals nur vereinzelt laut. Eine von ihnen war Josef Weisbart. Mit seiner 1929 erschienenen, teils zynischen Broschüre „Die Forderung der Stunde – den Giftkrieg verhindern“ ver- suchte er auf plakative Art, Bewegung in den deutschen „Schlammsumpf von Gleichgültigkeit“ zu bringen. Viele seiner Hoffnungen sind leider bis heute nicht wahr geworden und so ist das Büchlein auch 70 Jahre nach

Gewöhnung an den Gaskrieg – Gasschutzübung an einer deutschen Schule (aus ANGERER [1985]: Chemische Waffen in Deutschland) menden Gaskrieg vorbereitet. Natürlich war den Militärs klar, dass ein Gasschutz gegenüber Lost – sollte es einmal gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden – völlig illusorisch war. Doch indirekt förderten sie durch die Pro- paganda die Kriegsbereitschaft des Volkes. In Tomka gibt es unterdessen jedoch Probleme. Russland wollte nun Großversuche durchführen, konnte hierfür aber (in Trotzk) nicht genug Lost herstellen. Sie forderten die Deutschen auf, nun selbst über den IG-Farbenkonzern mit der Lost-Produktion zu beginnen. Die IG sollte darü- ber hinaus technische Hilfestellungen für ihre eigene Pro- duktion liefern und einen noch stärkeren Kampfstoff für beide Armeen entwickeln. Die Russen mutmaßten sogar, dass das Deutsche Reich wahrscheinlich diesen Kampf-

Deutschland probt den Gaskrieg – Übung auf den Gelände der Techni- schen Hochschule Berlin 1932 (aus GROEHLER 1978: Der lautlose Tod). stoff bereits besäße (was nicht stimmte). Jedenfalls mach- te sich immer mehr Misstrauen breit. Dies lag auch daran, dass die deutschen Truppen den russischen Militärs Erscheinen noch aktuell und lesenswert. Einer, der häufig immer öfters den Zutritt zu den Versuchen verweigerten – erstaunlich exakte Voraussagen über die Zukunft machen schließlich zählte Russland immer noch zu den möglichen konnte, war der Visionär H. G. Wells. Er meinte damals, es Gegnern einer künftigen militärischen Auseinanderset- sei „erstaunlich wie die Menschen alte Vorbereitungen zung. So stellte 1932 die Reichswehr Überlegungen an, ruhig hinnehmen, die getroffen werden, um sie zu gegebe- die Großversuche allmählich nach Deutschland zu verla- ner Zeit zu schlachten“. Bereits 1911 sah er die Entwick- gern. Doch daran war auch im Zeichen des bevorstehen- lung und den Einsatz der Atombombe auf Uranbasis den politischen Wechsels und der mittlerweile offenen voraus. 1933 hatte er die Vision vom apokalyptischen Militarisierung nicht zu denken. Noch brauchten die Deut- Weltkrieg, der das Ende der Menschheit bedeuten wür- schen den Versuchsplatz und man einigte sich auf eine de. Nun, tatsächlich sind es zwar „nur“ etwa 60 Millionen Fortführung. Erst im Sommer 1933 beendete der neue Tote geworden, doch bei einem Einsatz des Königs der Reichswehrminister von Blomberg – vermutlich auf Forde- Kampfstoffe wären wir seiner Vision – zumindest in Euro- rung des Reichskanzlers Adolf Hitler – die deutschrussi- pa – mit Sicherheit ein großes Stück näher gekommen. sche Zusammenarbeit. Die Bestände wurden vernichtet Welche Zufälle Europa das Leben gerettet haben erfahren und alle Gerätschaften „heim ins Reich“ geholt. Nun wird wir demnächst im Rahmen der LGA Rundschau. Ende ©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker

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