Zur Entwicklung Und Zum Einsatz Von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) Als Bedeutendstem Chemischen Kampfstoff Im Ersten Weltkrieg
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Aufsatz Dieter Martinetz Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) als bedeutendstem chemischen Kampfstoff im Ersten Weltkrieg I. Einleitung Durch Zufallsfunde sowie die in den letzten Jahren begonnene systematische Su- che nach Rüstungsaltlasten ist man in der Gruppe der chemischen Kampfstoffe immer wieder auf das äußerst umweltstabile Schwefel-Lost (S-Lost1) oder S-Lost-gefüllte Munition gestoßen. Auch an den Stränden der Ostsee sowie in den Netzen der Fischer finden sich hin und wieder bernsteinartig verharzte Klum- pen, deren Inneres noch hochaktives Lost birgt, das aus deutschen Beständen stammt, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges in der See versenkt wurden2. Die Geschichte der industriellen Produktion und des militärischen Einsatzes dieses bis heute als Kampfstoff bedeutsamen Giftes begann im Ersten Weltkrieg, wo es sich als »König der Kampfstoffe« traurigen Ruhm erwarb. Mehr als fünfzig Jahre lang galt Lost als eine der militärisch wirksamsten Chemiewaffeft. Im Zweiten Weltkrieg wurde es von den Großmächten in großen Mengen bereitgehalten, kam aber hier nicht zum Einsatz, da keine Seite sich ei- nen Vorteil erwarten konnte. Bei zahlreichen kleineren Konflikten dagegen ist Lost offenbar in den vergangenen Jahrzehnten immer dann verwendet worden, wenn eine kriegführende Macht sich ihres Monopols sicher sein konnte und kei- ne Vergeltung befürchten mußte. In der vielfältigen Literatur über die Geschichte der chemischen Kriegführung, die militärwissenschaftlichen Aspekte sowie die völkerrechtlichen und politischen Diskussionen um den Giftgaseinsatz bleibt die Bedeutung einzelner Kampfstoffe oft unterbelichtet. Entwicklung und Ein- führung von Lost im Ersten Weltkrieg bieten beispielhaft einen Eindruck vom Zusammenwirken von Wissenschaft, Industrie und Militär, das hier aus dem Blickwinkel des Naturwissenschaftlers betrachtet werden soll. Nach dem praktisch wirkungslosen Einsatz von Tränenreizstoffen durch Frankreich (Bromessigsäureethylester; Chloraceton) und Deutschland (o-Dianisi- dinchlorsulfonat = Niespulver, Ni; Xylylbromid/Xylylenbromid = T-Stoff) von Herbst 1914 bis März 1915 ist der Beginn des »chemischen Krieges« auf den 22. April 1915 zu datieren. An diesem Tag versuchte die deutsche Seite in der Nähe von Ypern zum erstenmal, durch das massenhafte Abblasen von toxischem Chlorgas aus dem munitionsfressenden Stellungskrieg herauszukommen. Die zu 1 Chemische Bezeichnungen: ß,ß'-Dichlordiäthylsulfid, 2,2'-Dichlordiethylsulfid, Bis(2- chlorethyl)-sulfid. 2 Dieter Martinetz, Rüstungsaltlast S-Lost, in: TerraTech, 2 (1993), Nr. 2, S. 40-44; Hand- buch Rüstungsaltlasten. Hrsg. von Dieter Martinetz und Gerd Rippen, Landsberg 1996; Karlheinz Löhs, Seeversenkte chemische Kampfstoffe, in: EntsorgungsPraxis, 13 (1995), Nr. 6, S. 102-105. Militärgeschichtliche Mitteilungen 55 (1996), S. 355-379 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam 356 MGM 55 (1996) Dieter Martinetz diesem Zwecke neu aufgestellte Gaspioniertruppe (das spätere Gasregiment 35) stand unter dem Kommando von Oberst Max Peterson (geb. 1860). In einem Vortrag vom Oktober 1923 hob Prof. Fritz Haber (1868-1934), Direk- tor des »Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie« in Berlin-Dahlem und während des Krieges Leiter der für den Gaskampf zustän- digen »Chemischen Abteilung« (A 10) im Preußischen Kriegsministerium, her- vor: »Die Geschichte der Kriegskunst rechnet den Beginn des Gaskampfes vom 22. April 1915, weil an diesem Tag zum erstenmal ein unbestrittener militäri- scher Erfolg durch die Verwendung von Gaswaffen erzielt worden ist3.« In den Händen Habers lag ab 1915 die begrenzte, ab 1916 die volle wissenschaft- liche und organisatorische Leitung von Gasforschung, Produktion und Gas- schutz. Zum Zentrum der Forschung entwickelte er das von ihm geführte Kai- ser· Wilhelm-Institut, in dem Chemiker, Pharmakologen, Toxikologen, Mediziner, Physiker und Techniker interdisziplinär zusammenwirkten. Hauptpartner in der chemischen Industrie waren die Farbwerke Bayer (Leverkusen), die Farbwerke Hoechst (Höchst) und die Badische Anilin- und Sodafabrik (BASF, Ludwigsha- fen), daneben die Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrikation (AGFA, Wolfen) so- wie die Firmen Griesheim-Elektron (Bitterfeld), Leopold Cassella (Mainkur), Kalle (Biebrich) und Kahlbaum (Berlin-Adlershof). Als zentrale, koordinierende Persönlichkeit der Industrie engagierte sich besonders der Bayer-Vorstandsvor- sitzende und Chemiker Carl Friedrich Dulsberg (1861-1935), auf dessen Initiati- ve auch die im August 1916 erfolgte Bildung der »Interessengemeinschaft der deutschen Teerfabriken« zustande kam. In der Obersten Heeresleitung zeichne- ten für die Entwicklung der »Gaswaffe« sowie die Zusammenarbeit mit For- schung und Industrie Oberst Max Bauer (1869-1929) und dessen Mitarbeiter, Major Hermann Geyer (1882-1946), verantwortlich. Einen offiziellen Protest der alliierten Seite gegen den Chloreinsatz gab es nicht. Im Gegenteil engagierten sich nun in Großbritannien, Frankreich, Rußland,. Italien und den Vereinigten Staaten Naturwissenschaftler, Vertreter der chemi- schen Industrie und des (dem Gaseinsatz im allgemeinen skeptisch gegenüberste- henden) Militärs für die Entwicklung wirksamer Gaskampfstoffe4 und effektiver Einsatzmittel. In der Giftigkeit und der Feldwirkung herausragend erwies sich bald die An- wendung von Phosgen, das als Zusatzstoff zu Chlor erstmals Ende Mai 1915 von Deutschland an der Ostfront abgeblasen wurde. Mit dem Einsatz von Phosgen- granaten ohne Splitterwirkung begannen französische Truppen im Febraur 1916 in der Schlacht um Verdun, worauf die deutsche Seite wenig später mit den sehr ähnlichen Grünkreuz-Granaten (Diphosgen, Perstoff) antwortete. Kampfstoffe neuer Qualität brachte Deutschland im Juli 1917 mit den arsen- organischen Blaukreuzkampfstoffen Clark I und II (Abkürzung aus: Chlorarsin- kampfstoff5, die als »Maskenbrecher« dienen sollten, und vor allem mit dem 3 Fritz Haber, Zur Geschichte des Gaskrieges. Vortrag vor dem parlamentarischen Un- tersuchungsausschuß des Deutschen Reichstages am 1.10.1923, in: Fritz Haber, Fünf Vorträge aus den Jahren 1920-1923, Berlin 1925, S. 77. 4 Richtiger ist es, von »chemischen Kampfstoffen« zu sprechen, da es sich bei den ver- wendeten Stoffen nicht durchweg um Gase handelte; jedoch war die Bezeichnung »Gaskampfstoffe« im Ersten Weltkrieg ein feststehender Begriff. 5 Chemisch: Diphenylarsinchlorid und Diphenylarsincyanid. Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) 357 Gelbkreuz (S-Lost) an die Front. Auch hier bemühten sich die Westalliierten, möglichst rasch gleichzuziehen. Am Beispiel S-Lost wird auch deutlich, was für die meisten der während des Ersten Weltkrieges zum Einsatz gekommenen chemischen Kampfstoffe gilt. Es handelte sich nicht um die Entwicklung neuartiger Substanzen, sondern die Er- schließung teilweise lange bekannter Stoffe für den militärischen Einsatz und die Organisation der technischen Großproduktion dieser schwer handhabbaren Stof- fe. Zur technischen Lost-Herstellung waren letztlich nur die chemischen Indu- strien Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, der Vereinigten Staaten von Amerika und (Ende 1918) Italiens in der Lage. Rußland und Österreich-Ungarn verzichteten auf die Produktion dieses Kampfstoffes. II. Die Vorgeschichte der S-Lost-Synthese Die Verbindung wurde bereits im Jahre 1822 von dem französischen Physiker Cesar Mansuete Despretz (1792-1863) aus Chlorschwefel (Dischwefeldichlorid) und Elaylgas (Ethylen) hergestellt und beschrieben6. 1855 erhielt auch der in Pa- ris wirkende Chemiker Alfred Riehe (1829-1880) die Substanz, als er eine Reihe von Halogensulfiden mit verschiedenen Olefinen umsetzte7. Und bereits 1860 erkannte der Deutsche Albert Niemann (1834-1861) die hauttoxi- schen Eigenschaften des Produktes, das er nach dem gleichen Syntheseverfahren wie Despretz gewonnen, in seiner Struktur jedoch nicht weiter untersucht hatte8. In den »Annalen der Chemie und Pharmacie« von 1860 (später Justus Liebigs Annalen der Chemie) beschrieb er die charakteristische Eigenschaft der erhaltenen Verbindung: »Sie besteht darin, daß selbst die geringste Spur, die zufällig auf irgendeine Stelle der Haut kommt, anfangs zwar keine Schmerzen hervorruft, nach Ver- lauf einiger Stunden aber eine Rötung derselben bewirkt und bis zum folgen- den Tage eine Brandblase hervorbringt, die sehr lange eitert und außeror- dentlich schwer heilt, unter Hinterlassung schwerer Narben9.« Unabhängig davon stellte im gleichen Jahr der an der Londoner »School of Sciences« lehrende Chemieprofessor Frederick Guthrie (1833-1886) die Verbin- dung ebenfalls her, indem er Ethylen durch Schwefeldichlorid oder durch Di- schwefeldichlorid (Schwefelmonochlorid) perlen ließ. Er bemerkte im gleichen Band der »Annalen der Chemie und Pharmacie«, »daß sogar die Dämpfe dieses Stoffes an zarten Hautstellen schwerste Zerstörungen hervorrufen«10. 6 Cesar Mansuete Despretz, Memoire sur le composes triples du chlore. Dem Autor vor- liegende, im Archiv der Academie des Sciences (Paris) aufbewahrte handschriftliche Ausarbeitung vom 2.12.1822. Dazu liegt ein ebenfalls handschriftlicher Rapport von Jean Antoine Claude Chaptal (1756-1832) und Louis Jacques Baron Thenard (1777-1857) vom 30.12.1822 vor. Vgl. dazu auch: M.E. Cattelain, Le physicien Cesar Despretz et la de- couverte de l'yperite, in: Journal de Pharmacie et de Chimie, 22 (1935), S. 512-514. 7 Alfred Riehe, Recherches sur des combinaisons chlorees derivees des sulfures de methyle et d'ethyle, in: Annales de Chimie et