Aufsatz

Dieter Martinetz

Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) als bedeutendstem chemischen Kampfstoff im Ersten Weltkrieg

I. Einleitung

Durch Zufallsfunde sowie die in den letzten Jahren begonnene systematische Su- che nach Rüstungsaltlasten ist man in der Gruppe der chemischen Kampfstoffe immer wieder auf das äußerst umweltstabile Schwefel-Lost (S-Lost1) oder S-Lost-gefüllte Munition gestoßen. Auch an den Stränden der Ostsee sowie in den Netzen der Fischer finden sich hin und wieder bernsteinartig verharzte Klum- pen, deren Inneres noch hochaktives Lost birgt, das aus deutschen Beständen stammt, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges in der See versenkt wurden2. Die Geschichte der industriellen Produktion und des militärischen Einsatzes dieses bis heute als Kampfstoff bedeutsamen Giftes begann im Ersten Weltkrieg, wo es sich als »König der Kampfstoffe« traurigen Ruhm erwarb. Mehr als fünfzig Jahre lang galt Lost als eine der militärisch wirksamsten Chemiewaffeft. Im Zweiten Weltkrieg wurde es von den Großmächten in großen Mengen bereitgehalten, kam aber hier nicht zum Einsatz, da keine Seite sich ei- nen Vorteil erwarten konnte. Bei zahlreichen kleineren Konflikten dagegen ist Lost offenbar in den vergangenen Jahrzehnten immer dann verwendet worden, wenn eine kriegführende Macht sich ihres Monopols sicher sein konnte und kei- ne Vergeltung befürchten mußte. In der vielfältigen Literatur über die Geschichte der chemischen Kriegführung, die militärwissenschaftlichen Aspekte sowie die völkerrechtlichen und politischen Diskussionen um den Giftgaseinsatz bleibt die Bedeutung einzelner Kampfstoffe oft unterbelichtet. Entwicklung und Ein- führung von Lost im Ersten Weltkrieg bieten beispielhaft einen Eindruck vom Zusammenwirken von Wissenschaft, Industrie und Militär, das hier aus dem Blickwinkel des Naturwissenschaftlers betrachtet werden soll. Nach dem praktisch wirkungslosen Einsatz von Tränenreizstoffen durch Frankreich (Bromessigsäureethylester; Chloraceton) und Deutschland (o-Dianisi- dinchlorsulfonat = Niespulver, Ni; Xylylbromid/Xylylenbromid = T-Stoff) von Herbst 1914 bis März 1915 ist der Beginn des »chemischen Krieges« auf den 22. April 1915 zu datieren. An diesem Tag versuchte die deutsche Seite in der Nähe von Ypern zum erstenmal, durch das massenhafte Abblasen von toxischem Chlorgas aus dem munitionsfressenden Stellungskrieg herauszukommen. Die zu

1 Chemische Bezeichnungen: ß,ß'-Dichlordiäthylsulfid, 2,2'-Dichlordiethylsulfid, Bis(2- chlorethyl)-sulfid. 2 Dieter Martinetz, Rüstungsaltlast S-Lost, in: TerraTech, 2 (1993), Nr. 2, S. 40-44; Hand- buch Rüstungsaltlasten. Hrsg. von Dieter Martinetz und Gerd Rippen, Landsberg 1996; Karlheinz Löhs, Seeversenkte chemische Kampfstoffe, in: EntsorgungsPraxis, 13 (1995), Nr. 6, S. 102-105.

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diesem Zwecke neu aufgestellte Gaspioniertruppe (das spätere Gasregiment 35) stand unter dem Kommando von Oberst Max Peterson (geb. 1860). In einem Vortrag vom Oktober 1923 hob Prof. (1868-1934), Direk- tor des »Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie« in Berlin-Dahlem und während des Krieges Leiter der für den Gaskampf zustän- digen »Chemischen Abteilung« (A 10) im Preußischen Kriegsministerium, her- vor: »Die Geschichte der Kriegskunst rechnet den Beginn des Gaskampfes vom 22. April 1915, weil an diesem Tag zum erstenmal ein unbestrittener militäri- scher Erfolg durch die Verwendung von Gaswaffen erzielt worden ist3.« In den Händen Habers lag ab 1915 die begrenzte, ab 1916 die volle wissenschaft- liche und organisatorische Leitung von Gasforschung, Produktion und Gas- schutz. Zum Zentrum der Forschung entwickelte er das von ihm geführte Kai- ser· Wilhelm-Institut, in dem Chemiker, Pharmakologen, Toxikologen, Mediziner, Physiker und Techniker interdisziplinär zusammenwirkten. Hauptpartner in der chemischen Industrie waren die Farbwerke Bayer (Leverkusen), die Farbwerke Hoechst (Höchst) und die Badische Anilin- und Sodafabrik (BASF, Ludwigsha- fen), daneben die Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrikation (AGFA, Wolfen) so- wie die Firmen Griesheim-Elektron (Bitterfeld), Leopold Cassella (Mainkur), Kalle (Biebrich) und Kahlbaum (Berlin-Adlershof). Als zentrale, koordinierende Persönlichkeit der Industrie engagierte sich besonders der Bayer-Vorstandsvor- sitzende und Chemiker Carl Friedrich Dulsberg (1861-1935), auf dessen Initiati- ve auch die im August 1916 erfolgte Bildung der »Interessengemeinschaft der deutschen Teerfabriken« zustande kam. In der Obersten Heeresleitung zeichne- ten für die Entwicklung der »Gaswaffe« sowie die Zusammenarbeit mit For- schung und Industrie Oberst Max Bauer (1869-1929) und dessen Mitarbeiter, Major Hermann Geyer (1882-1946), verantwortlich. Einen offiziellen Protest der alliierten Seite gegen den Chloreinsatz gab es nicht. Im Gegenteil engagierten sich nun in Großbritannien, Frankreich, Rußland,. Italien und den Vereinigten Staaten Naturwissenschaftler, Vertreter der chemi- schen Industrie und des (dem Gaseinsatz im allgemeinen skeptisch gegenüberste- henden) Militärs für die Entwicklung wirksamer Gaskampfstoffe4 und effektiver Einsatzmittel. In der Giftigkeit und der Feldwirkung herausragend erwies sich bald die An- wendung von Phosgen, das als Zusatzstoff zu Chlor erstmals Ende Mai 1915 von Deutschland an der Ostfront abgeblasen wurde. Mit dem Einsatz von Phosgen- granaten ohne Splitterwirkung begannen französische Truppen im Febraur 1916 in der Schlacht um Verdun, worauf die deutsche Seite wenig später mit den sehr ähnlichen Grünkreuz-Granaten (Diphosgen, Perstoff) antwortete. Kampfstoffe neuer Qualität brachte Deutschland im Juli 1917 mit den arsen- organischen Blaukreuzkampfstoffen Clark I und II (Abkürzung aus: Chlorarsin- kampfstoff5, die als »Maskenbrecher« dienen sollten, und vor allem mit dem

3 Fritz Haber, Zur Geschichte des Gaskrieges. Vortrag vor dem parlamentarischen Un- tersuchungsausschuß des Deutschen Reichstages am 1.10.1923, in: Fritz Haber, Fünf Vorträge aus den Jahren 1920-1923, Berlin 1925, S. 77. 4 Richtiger ist es, von »chemischen Kampfstoffen« zu sprechen, da es sich bei den ver- wendeten Stoffen nicht durchweg um Gase handelte; jedoch war die Bezeichnung »Gaskampfstoffe« im Ersten Weltkrieg ein feststehender Begriff. 5 Chemisch: Diphenylarsinchlorid und Diphenylarsincyanid. Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) 357

Gelbkreuz (S-Lost) an die Front. Auch hier bemühten sich die Westalliierten, möglichst rasch gleichzuziehen. Am Beispiel S-Lost wird auch deutlich, was für die meisten der während des Ersten Weltkrieges zum Einsatz gekommenen chemischen Kampfstoffe gilt. Es handelte sich nicht um die Entwicklung neuartiger Substanzen, sondern die Er- schließung teilweise lange bekannter Stoffe für den militärischen Einsatz und die Organisation der technischen Großproduktion dieser schwer handhabbaren Stof- fe. Zur technischen Lost-Herstellung waren letztlich nur die chemischen Indu- strien Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, der Vereinigten Staaten von Amerika und (Ende 1918) Italiens in der Lage. Rußland und Österreich-Ungarn verzichteten auf die Produktion dieses Kampfstoffes.

II. Die Vorgeschichte der S-Lost-Synthese

Die Verbindung wurde bereits im Jahre 1822 von dem französischen Physiker Cesar Mansuete Despretz (1792-1863) aus Chlorschwefel (Dischwefeldichlorid) und Elaylgas (Ethylen) hergestellt und beschrieben6. 1855 erhielt auch der in Pa- ris wirkende Chemiker Alfred Riehe (1829-1880) die Substanz, als er eine Reihe von Halogensulfiden mit verschiedenen Olefinen umsetzte7. Und bereits 1860 erkannte der Deutsche Albert Niemann (1834-1861) die hauttoxi- schen Eigenschaften des Produktes, das er nach dem gleichen Syntheseverfahren wie Despretz gewonnen, in seiner Struktur jedoch nicht weiter untersucht hatte8. In den »Annalen der Chemie und Pharmacie« von 1860 (später Justus Liebigs Annalen der Chemie) beschrieb er die charakteristische Eigenschaft der erhaltenen Verbindung: »Sie besteht darin, daß selbst die geringste Spur, die zufällig auf irgendeine Stelle der Haut kommt, anfangs zwar keine Schmerzen hervorruft, nach Ver- lauf einiger Stunden aber eine Rötung derselben bewirkt und bis zum folgen- den Tage eine Brandblase hervorbringt, die sehr lange eitert und außeror- dentlich schwer heilt, unter Hinterlassung schwerer Narben9.« Unabhängig davon stellte im gleichen Jahr der an der Londoner »School of Sciences« lehrende Chemieprofessor Frederick Guthrie (1833-1886) die Verbin- dung ebenfalls her, indem er Ethylen durch Schwefeldichlorid oder durch Di- schwefeldichlorid (Schwefelmonochlorid) perlen ließ. Er bemerkte im gleichen Band der »Annalen der Chemie und Pharmacie«, »daß sogar die Dämpfe dieses Stoffes an zarten Hautstellen schwerste Zerstörungen hervorrufen«10.

6 Cesar Mansuete Despretz, Memoire sur le composes triples du chlore. Dem Autor vor- liegende, im Archiv der Academie des Sciences (Paris) aufbewahrte handschriftliche Ausarbeitung vom 2.12.1822. Dazu liegt ein ebenfalls handschriftlicher Rapport von Jean Antoine Claude Chaptal (1756-1832) und Louis Jacques Baron Thenard (1777-1857) vom 30.12.1822 vor. Vgl. dazu auch: M.E. Cattelain, Le physicien Cesar Despretz et la de- couverte de l'yperite, in: Journal de Pharmacie et de Chimie, 22 (1935), S. 512-514. 7 Alfred Riehe, Recherches sur des combinaisons chlorees derivees des sulfures de methyle et d'ethyle, in: Annales de Chimie et de Physique, 43 (1855), S. 283-304. 8 Albert Niemann, Uber die Einwirkung von braunem Chlorschwefel auf Elaylgas, in: Annalen der Chemie und Pharmazie, 113 (I860), S. 288-292. 5 Ebd. io Ebd. 358 MGM 55 (1996) Dieter Martinetz

Die extrem entzündungserregende Wirkung am Auge beschrieb der Ophthal- mologe Theodor Leber (1840-1917) im Jahre 1891». Nochmals umfassend untersucht wurde das Bis(2-chlorethyl)-sulfid in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre im kaiserlichen Deutschland durch Viktor Meyer (1848-1897), der auch einen neuen Syntheseweg entwickelte12. Die von ihm eingeführte Umsetzung von Bis(2-hydroxyethyl)-sulfid (Thiodiglycol, Oxol) mit Phosphortrichlorid ergab ein viel reineres und stabileres Produkt. Eine im Jahre 1912 von Hans Thacher Clarke (geb. 1887) als Schüler Emil Fischers (1852-1919) im chemischen Institut der Berliner Universität auf dieser Basis wei- terentwickelte Synthese ging ebenfalls von Thiodiglycol aus, setzte dieses jedoch mit trockenem Chlorwasserstoff um13.

III. Entwicklung und Einsatz als Kampfstoff

Das erste, zur Testung auf Kampfstoffeigenschaften vorgesehene Muster gewann im Frühjahr 1916 der in Leverkusen tätige, in die Gaskriegsforschung in vielerlei Weise einbezogene Chemiker Dr. W. Lommel (geb. 1878), wobei er sich auf die be- reits genannten Arbeiten stützen konnte. Im Elberfelder pharmakologischen Fir- menlabor ließ er die Verbindung testen. Gleichzeitig übersandte er dem Fritz Ha- ber unterstehenden »Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elek- trochemie« in Berlin-Dahlem (zu dieser Zeit als »Preußisches Militärinstitut« direkt der ebenfalls von Haber geleiteten »Chemischen Abteilung« im Preußischen Kriegsministerium unterstellt) eine entsprechende Stoffprobe. Dort stellte man sehr rasch die extrem hauttoxischen Wirkungen fest und lehnte zunächst einen Einsatz ab, weil entsprechende Schutzmittel gegen diese Verbindung nicht existierten und auch nicht kurzfristig geschaffen werden konnten. Später entschied sich Prof. Wil- helm Steinkopf (1878-1949), dessen Abteilung G den Stoff bearbeitete, dann den- noch für die Einführung als Kampfstoff. Aus den Namen Lommel und Steinkopf, prägte Haber die deutsche Bezeichnung »Lost« (Deckname: VM-Stoff)14. Steinkopf wurde, nachdem er seinen Bericht über die Arbeiten an dieser Ver- bindung bereits längere Zeit abgegeben hatte, zu einem Immediatvortrag vor dem Kaiser befohlen. Dieser erklärte danach, er werde die Anwendung eines so furchtbaren Kampfmittels verbieten. Allerdings hatten seine Willensäußerungen in militärischen Angelegenheiten zu diesem Zeitpunkt kein allzu großes Ge- wicht mehr15. Unter der militärischen Bezeichnung »Gelbkreuz« begann man im Mai 1917 mit der technischen Produktion.

11 Theodor Leber, Die Entstehung der Entzündung und die Wirkung der entzündungser- regenden Schädlichkeiten, Leipzig 1891, S. 338. 12 Victor Meyer, Über Thioglykolverbindungen, in: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft, 19 (1886), S. 628-632,3259-3266. 13 Hans Thacher Clarke, 4-Alkyl-l, 4-thiazines, in: Journal of the Chemical Society, 101 (1912), S. 1583-1590. 14 W. Lommel in einem Brief an Johannes Jaenicke (1888-1984) vom 18.3.1955, Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft (Archiv MPG), Abt. V, Rep. 13,1478. 15 Paul Günther, Fritz Haber, ein Mann der Jahrhundertwende, in: Abhandlungen und Berichte des deutschen Museums, 37 (1969) Nr. 2, S. 4-29. Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) 359

Gegenüber dem neuen Verwaltungsleiter seines Instituts, Dr. Hans Tappen (geb. 1879), äußerte Haber auf dessen entsprechende Frage, daß auch der Gegner praktisch sofort in der Lage wäre, diesen Kampfstoff herzustellen. Er verfüge so- wohl über die erforderlichen Rohstoffe als auch die Produktionseinrichtungen. Daraufhin meinte Tappen: »Dann ist es unverantwortlich, daß wir es anwenden, wenn diese es nach ein paar Monaten in zehnfacher Menge auch machen können16.« Während eines Vortrages im Großen Hauptquartier wies Haber auch den Gene- ralquartiermeister Erich Ludendorff (1865-1937) darauf hin, daß der Einsatz von Gelbkreuz eine baldigste Beendigung des Krieges erfordere, da anderenfalls ein Gebrauch gleichartiger Stoffe durch den Gegner nur eine Frage der Zeit sei (Ha- ber rechnete mit einem deutschen Vorsprung von weniger als einem Jahr), was sich bei der deutschen Rohstofflage verhängnisvoll auswirken würde17. In der Tat gab es auch bei den französischen und britischen Experten entspre- chende Überlegungen. Bereits Anfang 1916 schlug der französische Oberstabs- arzt Chevalier der Militärführung die Anwendung von Bis(2-chlorethyl)-sulfid vor. Francis Charles Moureu (1863-1929) untersuchte die chemischen, Andre Mayer (1875-1956) die physiologischen Eigenschaften. Dabei bemerkte letzterer zwar die hautschädigende Wirkung, schätzte die Substanz jedoch weniger giftig als Phosgen und Blausäure ein, so daß sie von den militärisch Verantwortlichen wegen »zu geringer Giftigkeit« abgelehnt wurde. Auch der Physiologe John Scott Haidane (1860-1936) hatte den entsprechenden britischen Stellen schon 1915 diesen Stoff vorgeschlagen, ebenfalls erfolglos. 1916 untersuchte der Phy- siologe Ernest Harvey Starling (1866-1927) die Verbindung noch einmal und ver- wies auf die durch sie verursachten Hautschäden. Die extremen Effekte auf die Augen sowie die hohe Persistenz waren ihm jedoch entgangen. Da er auch den Wirkungsradius als relativ gering einschätzte, zeigte der Leiter des britischen Gasdienstes, General Henry Fleetwood Thuillier (geb. 1868), kein Interesse18. Trotzdem ordnete Ludendorff, ohne eine nach Expertenmeinung strategisch ausreichende Menge an Geschossen zur Verfügung zu haben, für den 12./13. Juli 1917 den Einsatz in der Flandernschlacht bei Ypern an. Die chemische Füllung der Granaten bestand aus in 10 bis 25 % Tetrachlormethan, Chlorbenzol oder Nitrobenzol gelöstem Lost. Die zugesetzten Lösungsmittel dienten hauptsäch- lich der Herabsetzung des relativ hohen Erstarrungspunktes (13,5 °C) der Chlor- Schwefel-Verbindung; ein Anteil von etwa 20 % senkte diesen auf etwa 6 °C. Die im Laufe des ersten Angriffes verschossenen 7,7-cm- sowie 10,5-cm-Gra- naten wiesen nur eine geringe Sprengladung zur Zerlegung des Geschosses auf. Dabei erlitten die Briten nach Angaben des Kommandeurs ihrer »Special Bri- gade«, Charles Howard Foulkes (1875-1969), Verluste von insgesamt 2000 Mann,

16 Johannes Jaenicke, Notiz über ein Gespräch mit Hans Tappen vom 31.5.1958, Archiv MPG, Abt. V, Rep. 13,1507. 17 Wilhelm Westphal (1863-1941), Erinnerungen an Fritz Haber, Archiv MPG, Abt. V., Rep 13, 1511; Adolf-Henning Frucht, Joachim Zepelin, Die Tragik der verschmähten Liebe, in: Neue Horizonte 93/94. Hrsg. von Ernst Peter Fischer, München, Zürich 1994, S. 94. 18 Rudolf Hanslian, Zur Geschichte des Gaskrieges, in: Gasschutz und Luftschutz, 1 (1931), S. 49-52; A. Sollman, Manual of Pharmacology; John B.S. Haidane (1892-1964), Bulletin, 24 (1938), S. 7, beides zit. in: Kurt Stade, Pharmakologie und Klinik synthetischer Gifte, Berlin 1964, S. 130, 461; Ludwig F. Haber, The Poisonous Cloud. Chemical Warfare in the First World War, Oxford 1986, S. 117. 360 MGM55(1996) Dieter Martinetz

einschließlich 50 bis 60 Toten19. Nach Angaben des Franzosen Jules Poirier wur- den innerhalb einer Woche 2229 britische und 348 französische Soldaten vergif- tet, 87 starben20. Bei den meisten soll der Tod erst ein bis vier Wochen nach dem Kontakt eingetreten sein21. Der deutsche Chemiker und Gaskriegspublizist Ru- dolf Hanslian (geb. 1883) beziffert die Gasverluste der Engländer auf 2143 Ver- giftete, davon 86 Tote; die der Franzosen auf 347 Vergiftete, davon 1 Toter22. Robert Harris und Jeremy Paxman geben an, daß nach britischen Schätzun- gen innerhalb von zehn Tagen mehr als eine Million Granaten mit einem Inhalt von 2500 Tonnen Kampfstoff verschossen wurden, wobei die Zahl der vergifte- ten Soldaten am Ende der ersten Woche 2934 betrug; am Ende der zweiten Wo- che hatte sich ihre Zahl um weitere 6676 erhöht, am Ende der dritten Woche nochmals um 4886 (Gesamtzahl 14 496)23. Die von Hanslian zusammengestellten Zahlen sind ähnlich. Danach hatten die Engländer in den ersten drei Einsatzwochen Verluste von 14 276 Vergifteten, darunter rund 500 Tote, zu verzeichnen. Er nimmt an, daß die »Abgangsziffern« der Alliierten durch Lost etwa achtmal höher als sämtliche durch andere Kampf- stoffe hervorgerufenen Verlustziffern lagen24. Es war das zweifelhafte »Verdienst« von Gelbkreuz, daß in den letzten 18 Monaten des Krieges jeder sechste Verlust Großbritanniens (16,5 %) durch Kampfstoffeinwirkung erfolgte25. Bis zum Ende des Krieges soll sich die Zahl der gelbkreuzvergifteten englischen Soldaten auf mindestens 125 000 belaufen haben. Das sind etwa 70 % aller durch Kampfstoffe ausgefallenen Briten. Wenn- gleich die Zahl der Toten nach zurückhaltenden Schätzungen mit 1859 »nur« 1,5 % ausmachte26, waren monatelange Ausfälle zu verzeichnen; abgesehen da- von, daß man erst Jahre nach dem Krieg Folgeerkrankungen und Spätwirkun- gen (Krebs) feststellen konnte. Mit diesem Kampfstoff war der »chemische Krieg« also in eine neue Qualität eingetreten. Der Organisator des amerikanischen Kampfstoffkrieges und Kommandeur der Gastruppen im »Chemical Warfare Service«, Oberst Arnos Alfred Fries (geb. 1873) äußerte später in seinem gemeinsam mit Major Clarence J. West (1852-1931) verfaßten Buch »Chemical Warfare« (New York, London 1921):

19 Die Gaswaffe in englischer Darstellung. Übersetzter Auszug aus: Charles Howard Foulkes, Gas! The Story of the Special Brigade, Edinburgh, London 1934, in: Zeitschrift für das gesamte Schieß- und Sprengstoffwesen, 30 (1935), S. 194-197, 221-225, 252-256, 285-289,320-323,356-358,382-384. 20 Heinz-Günther Mehl, Ein französischer Beitrag zur Entwicklung der chemischen Kampfstoffe im Weltkriege. Deutsche Inhaltsangabe von: Jules Poirier, La Chimie meurtriere des Belligerants au Cours de la Guerre 1914/18, aus: La France Militaire, 15 Fortsetzungen Juli bis Oktober 1931, in: Z. ges. Schieß- und Sprengstoffwesen, 29 (1934), S. 213-216,250-252,279-281,316-318,390 f. 21 Hans Günter Brauch, Der chemische Alptraum, Berlin, Bonn 1982, S. 71. 22 Der chemische Krieg. Hrsg. von Rudolf Hanslian, 3., völlig neubearb. Aufl., Berlin 1937, S. 29, 140; Rudolf Hanslian, Der Gaskampf im artilleristischen Verfahren. Die chemischen Kampfstoffe und die Arten des Gasschießens, in: Der Stellungskrieg 1914-1918. Hrsg. von Friedrich Seeßelberg, Berlin 1926, S. 418-425. 23 Robert Harris und Jeremy Paxman, Eine höhere Form des Tötens. Die geheime Ge- schichte der B- und C-Waffen, München 1985, S. 42 f. 24 Der chemische Krieg (wie Anm. 22); Hanslian, Gaskampf (wie Anm. 22). 25 Harris/Paxman, Eine höhere Form des Tötens (wie Anm. 23), S. 42 f. 26 Ebd. Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) 361

»Diese neue Gasmunition hätte bei zweckentsprechendem Einsatz großer Mengen die Deutschen noch im Jahre 1917 zu einem endgültigen Siege be- fähigt27.« Da es beim Verschuß größerer Kaliber häufig nur zum Herausfließen des Kampf- stoffes kam, entwickelte man auf Anforderung der Obersten Heeresleitung Gelb- kreuz-Brisanzgranaten, die im März 1918 an die Front gelangten. Es handelte sich dabei um neuentwickelte sogenannte Zwischenbodengeschosse, bei denen Sprengstoff und Kampfstoff im Verhältnis 1:3 in zwei getrennte Kammern abge- füllt wurden. Durch den erhöhten Sprengstoffanteil bildeten sich nach der Deto- nation Gelbkreuz-Schwaden, wodurch neben der Haut auch die Augen und der Atmungstrakt stärker betröffen wurden. Ferner versprach man sich von der ei- ner normalen Brisanzgranate ähnlichen Detonation eine Verschleierung der Lost- Einsätze. Der französische Medizinprofessor Raoul Mercier schilderte das typische Vergiftungsbild durch Gelbkreuz: »Erst nach sechs Stunden traten die ersten Vergiftungserscheinungen, welche dreierlei Art waren, zutage. Heftige Bindehautentzündungen mit Lichtscheu- heit verwandelten die Vergifteten vorübergehend in Blinde. Eine brennende Blasenbildung beschränkte sich nicht auf die unbedeckten Körperteile, son- dern setzte sich unter den Kleidern fort und ließ nur die Teile unberührt, wel- che von dem Gürtel und den Hosenträgern bedeckt waren. Die Beschädi- gung der Lungen verbunden mit Dysphonie vervollständigten das klinische Bild28.« Selbst die sogenannten leichteren Vergiftungsfälle waren noch immer schwer ge- nug. In einem britischen Sanitätsbericht heißt es: »Als die leichteren Fälle abtransportiert wurden, mußte jeder einzeln, wie ein Blinder, zum Sanitätswagen geführt werden. Das Gesicht war häufig über- mäßig durchblutet und geschwollen, hauptsächlich bei den ernsteren Fällen, und bei vielen konnte man kleine Blasen auf der unteren Gesichtshälfte, un- term Kinn und manchmal auf dem Hals entdecken. Einige Fälle hatten schmerzhafte, mit Blasen bedeckte Stellen auf der Rückenseite der Ober- schenkel, des Körpers und sogar auf dem Hodensack, mit Scrotum- und Pe- nisödem. Die Blasenbildung auf den Hinterbacken und die Wasserge- schwulst der Genitalien erlitten wahrscheinlich diejenigen, die auf dem Bo- den saßen und von der giftigen Substanz verseucht wurden29.« Bei der Sektion der verstorbenen Lost-Opfer fand man starke Schwellungen an Kehlkopf und Stimmbändern. Die Luftröhre war mit einer dünnen, schaumigen Flüssigkeit angefüllt, die Lunge selbst wog das Doppelte ihres Normalgewichts und fühlte sich fest und kompakt an, Teile der Lungenflügel »versanken in Was- ser«, das Herz wog ebenfalls das Doppelte des Normalgewichts und die Venen über der Gehirnoberfläche enthielten unzählige Gasbläschen30. Selbst die bei den

27 Zit. in: Rudolf Hanslian, Vom Gaskampf zum Atomkrieg. Die Entwicklung der wis- senschaftlichen Waffen, Stuttgart, Berlin 1951, S. 38. 28 Raoul Mercier, Der Soldat im Kampfe mit den Gasen. Ubersetzte Auszüge aus: Mer- cier, Revue d'Artillerie, Juni 1929, in: Z. ges. Schieß- u. Sprengstoffwesen, 25 (1930), S. 339-342, 381-385. 29 Zit. in: Harris/Paxman, Eine höhere Form des Tötens (wie Anm. 23), S. 40. 30 Bericht des Sanitätsleutnants Templeton im Feldlazarett Nr. 44, zit. ebd., S. 41 f. 362 MGM 55 (1996) Dieter Martinetz

Sektionen anwesenden Ärzte litten Stunden später teilweise an deutlichen Rei- zungen von Augen, Atemtrakt und Gesichtshaut. Im Gegensatz zu allen bis dahin eingesetzten gasförmigen oder leicht ver- dampfbaren Giften war Gelbkreuz von äußerster Seßhaftigkeit und blieb an ge- schützten Stellen wochen-, ja monatelang wirksam. Dadurch eignete es sich erst- mals zur planmäßigen, defensiven Geländevergiftung, was auch bald in die Tat umgesetzt wurde. Beispielsweise schuf man mit der neuen Verbindung im No- vember 1917 im Wald von Bourlon und im April 1918 bei Armentieres soge- nannte »gelbe Räume«, d.h. verseuchte, nicht mehr betretbare Gebiete31. Harris und Paxman nennen für die hohe Persistenz ein charakteristisches Beispiel: »Senfgas, das im Winter 1917 freigesetzt worden war, vergiftete im Frühjahr 1918, als der Boden auftaute, die Soldaten. Auf diese Weise konnten ganze Gebiete eines Schlachtfeldes >abgeriegelt< werden32.« Auch von Fritz Haber wurde der »defensive« Charakter des Lost besonders her- vorgehoben: »Als fabelhafter Erfolg hat sich Lost erwiesen; nicht wegen der Wirkung auf die inneren Organe, sondern wegen seiner Hautwirkung. Sein Siedepunkt ist zu hoch: man kann bei ihm nur mit der Wirkung des Schwadens rechnen. Die Tröpfchen, die auf die Erde fallen und dort langsam nachdunsten, erzeu- gen nicht die genügende Dampfdichte, um als Atemgift wirken zu können. Der Verwendungsmöglichkeit des Lost ist eine Grenze gesetzt durch sein An- haften im Gelände, das der eigenen Truppe ein Vorgehen unmöglich macht. Es kommt ihm somit nur Bedeutung als Defensivkampfstoff zu33.« Dennoch nutzten die Militärs Lost, in Form der Gelbkreuz-Brisanzgranaten, auch zur Begleitung offensiver Handlungen, z.B. zur Flankensicherung vordrin- gender deutscher Truppen. Deutscher Haupthersteller während des Ersten Weltkrieges waren die Far- benfabriken Bayer, die nach Angaben des amerikanischen Chemikers James F. Norris (1871-1940) im Mai 1917 die Produktion aufnahmen und von Juni 1917 bis November 1918 4800 Tonnen Lost auslieferten34. Kontakte Habers betreffs Aufnahme der Lostherstellung bestanden auch zur Firma Griesheim-Elektron, zu den Farbwerken Hoechst und der AGFA35. So wurden in Griesheim bei

31 Harris/Paxman, Eine höhere Form des Tötens (wie Anm. 23), S. 42 f. 32 Ebd., S. 43.. 33 Protokoll der Besprechung [der Chemischen Abteilung des Kriegsministeriums und des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin- Dahlem, D.M.] mit den Vertretern der Industrie über den Stand der Gaskampfstoffe vom 15.5.1918, Archiv MPG, Abt. V, Rep. 13,522. 34 James Flack Norris, Die Herstellung von Kampfgas in Deutschland in den Farbenfa- briken. Ubersetzung aus: Revue generale des matieres colorantes, 1920, S. 28, in: Z. ges. Schieß- und Sprengstoffwesen, 15 (1920), S. 187-189; ders., The manufacture of wargases in , in: The Journal of Industrial and Engineering Chemistry, 11 (1919), S. 817. 35 Die Anfrage Habers betreffs Aufnahme der Lostpro.duktion bei Hoechst und Gries- heim-Elektron wird in den Akten der AGFA Wolfen erwähnt, z.B. Protokoll der Be- sprechung im Kriegsministerium am 31.10.1916, Reiz- und Wirkstoffe. Schriftwechsel 1916/17, Landesarchiv Merseburg, I.G. Farbenindustrie, Farbenfabrik Wolfen, Nr. 765, Bl. 114-115; vgl. ferner Besprechung über Herstellung von Lost in Leverkusen am 11.11.1916, in: ebd., Bl. 74. Das Protokoll der Besprechung vom 31.10.1916 enthält auch die Angaben zur beabsichtigten Aufteilung der Lostproduktion. Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) 363

Darmstadt bis Kriegsende 950 Tonnen produziert36. Über eine Produktion in Höchst ist nichts bekannt. Auch die Aufnahme der Produktion in den Wolfener AGFA-Werken (vgl. weiter unten) konnte vor Kriegsende nicht mehr realisiert werden37. Nach Ludwig (Lutz) F. Haber (geb. 1920), einem Sohn Fritz Habers, produzierte Bayer 6709 Tonnen Lost; die deutsche Gesamtproduktion soll bei 7659 Tonnen gelegen haben38. Zur industriellen Fertigung diente das von Victor Meyer entdeckte Synthese- prinzip. Die Produktion des Schlüsselvorproduktes Thiodiglycol erfolgte sehr wahrscheinlich ab März 1917 in den BASF-Werken Ludwigshafen (die nicht über die entsprechenden korrosionsfesten Anlagen zur Endumsetzung verfügten), wo man aus Ethanol gewonnenes Ethylengas zunächst mit unterchloriger Säure zu Ethylenchlorhydrin umsetzte39. Die Ludwigshafener hatten mit der Herstellung von Ethylenchlorhydrin bereits gewisse Erfahrungen, da die Verbindung ab 1909 für eine neue Indigo-Synthese hergestellt wurde. Das Ethylenchlorhydrin brach- te man in zweiter Stufe mit Schwefelnatrium (Natriumsulfid) zur Reaktion. Das dabei anfallende Thiodiglycol wurde dann an Bayer geliefert. Insgesamt ver- ließen 7026 Tonnen das Werk40. In Leverkusen erfolgte durch Einwirkung von getrocknetem Chlorwasserstoff die Umsetzung zum Endprodukt, das nach De- stillation in einem Lösungsmittel (Chlorbenzol, Tetrachlormethan) aufgenom- men wurde41. Diese »optimierende« Aufteilung der Arbeiten erfolgte, wenn auch nicht oh- ne Konkurrenz, in regelmäßig unter Habers Leitung in Berlin abgehaltenen Kon- ferenzen mit Vertretern der chemischen Industrie und der Forschung. So hob Haber in der Sitzung vom 31. Oktober 1916 die äußerste Dringlichkeit der mög- lichst umgehenden Herstellung von Lost hervor. Im einzelnen wurde dazu fest- gelegt, daß die über entsprechende Erfahrungen verfügende BASF das erforder- liche Vorprodukt Ethylenchlorhydrin und daraus das Schlüsselvorprodukt Thio- diglycol herstellt. In den nächsten drei Monaten sollte die Kapazität zunächst 100 Monatstonnen erreichen, danach auf 800 Monatstonnen ausgeweitet werden. Die Weiterverarbeitung übertrug man den besser ausgerüsteten Bayer-Werken. Die Firmen Hoechst, Griesheim-Elektron und AGFA wurden aufgefordert, sich zu äußern, ob sie den Rest der Fabrikation übernehmen können. Da man zu die- sem Zeitpunkt noch Dimethylsulfat als Streckungsmittel in Erwägung zog, sollte

36 Die Angaben zur Lostproduktion in Griesheim finden sich in: Fertigung, Lagerung und Beseitigung chemischer Kampfstoffe unter besonderer Berücksichtigung des Ter- ritoriums der Bundesrepublik Deutschland. Bericht des Bundesarchivs Koblenz und des Militärarchivs Freiburg, publiziert als Dokument 75 in: Hans Günter Brauch und Rolf-Dieter Müller, Chemische Kriegführung — Chemische Abrüstung. Dokumente und Kommentare, Berlin 1995, S. 274-292. 37 Nach den Akten der AGFA Wolfen: Reiz- und Wirkstoffe. Schriftwechsel 1916/17, Landesarchiv Merseburg, I.G. Farbenindustrie, Farbenfabrik Wolfen, Nr. 756; Korre- spondenz über Delostversuche (1917-1919), I.G. Farbenindustrie, Farbenfabrik Wolfen, Nr. 2677; Korrespondenz über die Produktion von Delost (1918), I.G. Farbenindustrie, Farbenfabrik Wolfen, Nr. 3070. 38 Haber, The Poisonous Cloud (wie Anm. 18), S. 157-159,164,168-170. 39 Ebd., S. 157-159, 164, 168-170. Dietrich Stolzenberg, Fritz Haber. Chemiker, Nobel- preisträger, Deutscher, Jude, Weinheim, New York, Basel, Cambridge, Tokyo 1994, S. 266. 4° Haber, The Poisonous Cloud (wie Anm. 18), S. 157-159,164,168-170. 41 Norris, Die Herstellung von Kampfgas; ders., The manufacture of wargases (beide wie Anm. 34). 364 MGM 55 (1996) Dieter Martinetz

diesbezüglich bei den Firmen Kahlbaum, Boehringer, Cassella und Knoll ange- fragt werden42. Für den Bau einer Munitionsfüllanlage unter der Oberaufsicht Habers und seines Abteilungsleiters im Dahlemer Institut, Friedrich (Fritz) P. Kerschbaum (1887-1946), hatte das Kriegsministerium den bei Munster gelegenen Gasplatz Breloh ausgewählt. Zwischenzeitlich vereinbarte Haber mit der Berliner Firma Kahlbaum (die bereits sehr frühzeitig Reizstoffgranaten gefüllt hatte), deren Ad- lershofer Betriebsgelände für die Lost-Laborierung zu nutzen. Als Inspizienten des Kaiser-Wilhelm-Instituts setzte dessen Verwaltungsleiter Friedrich Meffert den als Frontoffizier mehrfach schwer verwundeten Chemiker Dr. Hugo Stol- zenberg (1883-1974) ein. Zuständig für die unter militärischer Verwaltung ste- hende Adlershofer Abfüllanlage waren Leutnant Winter, der von der BASF kam, Dr. Dahl von den Elberfelder Farbwerken (Bayer) und Leutnant Siegeneger von den Farbwerken in Höchst. Als Arbeiter waren Mannschaften des Gaspionierre- giments 35 und der Warschauer Munitionsfüllanlage (die später demontiert und nach Breloh gebracht wurde) abkommandiert worden43. Mitte August 1917 wur- den täglich bereits insgesamt 20 000 7,7-cm- und 10,5-cm-Haubitzengranaten ge- füllt. Für die in der Lostlaborierung tätigen 600 Arbeitskräfte war Oberarzt Bolt- mann zuständig, der pro Tag acht bis zehn losterkrankte Zugänge zu betreuen hat- te. Der durchschnittliche tägliche Gesamtkrankenstand belief sich bei insgesamt 1400 Arbeitern auf 250 bis 300 Personen. Als wesentlichste Vorsichtsmaßnahmen hatte man sämtliche Verbindungsstellen an Rohrleitungen und Apparaturen mit einer weißen, Sudanrot enthaltenden Schutzfarbe gestrichen, die sich beim Austre- ten von Lost sofort rot verfärbte. Für den Fall eines Hautkontaktes standen eine vom Kaiser-Wilhelm-Institut entwickelte, entgiftungswirksame Chlorkalkpaste (Acetylentetrabromid, Ethylbromid, feingesiebter Chlorkalk) sowie p-Toluolsul- fochloramid-Natrium (Monochloramin T) bereit, für Reparaturarbeiten Schutzklei- dung aus Gummistoff sowie dichtem, mit Acetylcelluose, Ethylcellulose oder Nitrocellulose imprägniertem Stoff. Die Einrichtung einer ständigen Sanitätsstati- on und die tägliche ärztliche Überwachung wurden als notwendig erachtet. Die Arbeitszeit war auf zwei mal vier Stunden innerhalb von 24 Stunden festgelegt. Je- der vierte Tag war frei, der Urlaub betrug pro Jahr sechs Wochen44. Die schwierige und gefahrvolle Arbeit beschreibt Hugo Stoltzenberg in ei- nem seiner Wochenberichte: »Die Granaten werden leer durch Schiebetüren eingeschoben und die Türen zugeschoben. Dann wird die Granate, die auf einer beweglichen kreisrunden Platte steht, unter den Lostauslauf geschoben, eine bestimmte Menge des Lost eingefüllt, die Granate wieder etwas weiter geschoben und durch ein kleines Loch von oben der Zünder aufgeschraubt. Nach einer weiteren Dre- hung wird die Granate mit einer Zange herausgehoben und in ein Wäglein gestellt, das 20 von ihnen zur Erhärtungshalle bringt. In der Erhärtungshalle

42 Protokoll der Besprechung im Kriegsministerium am 31.10.1916 (wie Anm. 35). 43 Nach: Stoltzenberg, Fritz Haber (wie Anm. 39), S. 290-292. 44 Bericht über eine Besichtigung der Feldmunitionsanstalt 3 in Adlershof, Füllstellen für Lost (Teilnehmer nicht angegeben), in: Korrespondenz über Delostversuche (1917-1919), Landesarchiv Merseburg, I.G. Farbenindustrie, Farbenfabrik Wolfen, Nr. 2677, Bl. 269-275. Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) 365

stehen die Granaten 12 Stunden aufrecht, damit der in das Gewinde ge- schmierte Magnesiakitt, derselbe, den die Arzte zum Plombieren gebrauchen, steinhart wird. Dann wird die Granate umgelegt, um sehen zu können, ob et- was ausfließt. Da die Flüssigkeit sehr gefährlich ist, und schon ein Tröpfchen die schlimmsten Brandwunden und Eiterungen erzeugt, müssen selbst die feinsten Poren im Kitt erkannt werden. Deshalb wird jede Granate auf großen Tischen nach dem Abputzen des übergequollenen Kitts an der Dichtungsstel- le mit einer weißen Farbe bestrichen, die aus Leim, Schlemmkreide und Su- danrot besteht. Das Sudanrot ist als ganz feines Pulver beigemischt und löst sich nicht in der wäßrigen Leimlösung, wohl aber in dem etwas hervorquel- lenden Lost. Gefährliche undichte Granaten tragen also immer eine rote Halskrause und werden ausgeschaltet und vernichtet. Wie wir das machen sollen, wissen wir noch nicht genau, weil ein Vergraben die später dort sie findenden Leute sehr gefährden und ein Sprengen die Umgebung vergiften würde45.« Am 15. August 1917 trafen sich in Adlershof Major Schober vom Kriegsministe- rium und Friedrich Kerschbaum vom Kaiser-Wilhelm-Institut mit Stolzenberg, Winter und Dahl, um den Bau der Lost-Abfüllanlage in Breloh in Gang zu brin- gen. Mit der Leitung der Bauarbeiten, später auch des fertigen Lostwerks wurde Hugo Stolzenberg beauftragt. Durch Einwände der Firma Kahlbaum, Material- mängel und einen hohen Krankenstand verzögerten sich die Bauarbeiten, über deren Fortschritt sich Haber, in Begleitung von Kerschbaum, Wilhelm Westphal (1863-1941), Oberst Leopold Goslich (geb. 1859, Kommandeur des Gaspionierre- giments 36) u.a., am 8. Januar 1918 an Ort und Stelle überzeugten. Mit den ersten Füllarbeiten, die in kürzester Zeit auf Maximalproduktion gebracht wurden, konnte im Februar begonnen werden46. Bei einem Besuch am 12. April kam mit Haber und Kerschbaum auch der Leiter des »Allgemeinen Kriegsdepartments A«, Oberst Ernst von Wilsberg (1863-1927), mit nach Breloh (siehe folgende Abbildung). Kommandeur der Feldmunitionsanstalt Breloh war der Hoechst-Chemiker Hauptmann Dr. Ludwig Hermann (1882-1938), sein Stellvertreter der von Merck kommende Chemiker Otto Wolfes (1877-1942). Den gesamten Gasplatz kom- mandierte vom 14. Juli 1917 bis Kriegsende Oberstleutnant Ernst Freiherr von Wangenheim (geb. 1847?). Bereits 1917 begann man, angeregt durch die ersten militärischen »Erfolge« des Losteinsatzes, im Haberschen Institut mit der Synthese einer Reihe von verwand- ten Strukturen, um zu möglicherweise noch wirksameren Verbindungen zu gelan- gen, aber auch um den Mechanismus der Giftwirkung durch Vergleich verschiede- ner eng verwandter Verbindungen zu studieren. In der Anlage des Protokolls ei- ner Besprechung mit den Vertretern der Industrie über den Stand der Gaskampf- stoffe vom 5. Mai 1918 werden dreißig verschiedene, mit dem Lost verwandte Verbindungen genannt, die synthetisiert und untersucht wurden47. Eine noch wirksamere Verbindung wurde dabei jedoch nicht gefunden.

45 Nach: Stoltzenberg, Fritz Haber (wie Anm. 39), S. 290-292, unter Bezug auf die in sei- nem Besitz befindlichen Wochenberichte seines Vaters, Hugo Stoltzenberg, vom 10.6.1917 und 10.-17.6.1917. Ebd. 47 Protokoll der Besprechung mit den Vertretern der Industrie über den Stand der Gas- kampfstoffe (wie Anm. 33), Anlage zum Protokoll. 366 MGM 55 (1996) Dieter Martinetz

Inspektion in Breloh am 12. April 1918: der Leiter der »Chemischen Abteilung« im Preu- ßischen Kriegsministerium, Hauptmann Prof. Fritz Haber (2. v. 1.), der Leiter des »Allgemei- nen Kriegsdepartments«, Oberst Ernst von Wrisberg (4. v. L), der Kommandant des Gasplatzes Breloh, Oberstleutnant Ernst von Wangenheim (4. v. r.), der Kommandant der Feldmuni- tionsanstalt Breloh, Hauptmann Dr. Ludwig Hermann (3. ν. L), und der Abteilungsleiter im Haberschen »Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie«, Dr. Fried- rich Kerschbaum (1. v. I.) Quelle: Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin

Im Rahmen der Untersuchungen arbeitete man u.a. auch die verschiedenen Experimente Guthries (vgl. Abschnitt II) nach, der angegeben hatte, daß bei der direkten Einwirkung von Schwefeldichlorid auf Ethylen 1,2-Dichlorethan ent- stünde, und meinte, daß es sich um ein Gemisch aus Lost und chlorierten Losten handle. Man optimierte dieses direkte Einstufen-Verfahren im Laboratorium durch Anwendung eines Ethylenüberschusses und nannte es Delostsynthese (D- Lost-Synthese; nach Dietrich Stoltzenbergs (geb. 1926) Ansicht, weil sie in der Abteilung D entwickelt wurde48; später, weil es sich im Gegensatz zu dem aus Thiodiglycol [Oxol, daher Oxol-Lost; O-Lost] um direkt erzeugtes Lost [Direkt- Lost, D-Lost] handelte).

48 Bericht über die Arbeiten der Abteilung D des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikali- sche Chemie und Elektrochemie vom 1.10.1917 bis 9.11.1918, zit. in: Stolzenberg, Fritz Haber (wie Anm. 39), S. 268 (in dessen Privatbesitz sich das Dokument befindet); IX. und X. Delostbericht (X. vom 31.8.1918) des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie, in: Korrespondenz über Delostversuche (1917-1919), Lan- desarchiv Merseburg, I.G. Farbenindustrie, Farbenfabrik Wolfen, Nr. 2677, Bl. 191-194; XII. Delostbericht des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektro- chemie vom 28.9.1918, in: Korrespondenz über die Produktion von Delost (1918), Lan- desarchiv Merseburg, I.G. Farbenindustrie, Farbenfabrik Wolfen, Nr. 3070, Bl. 110-112. Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) 367

Der zunächst angenommene Mechanismus, daß sich primär Lost bildet und dieses durch Einwirkung von weiterem Schwefeldichlorid chlorierte Loste er- gibt, die bei der Destillation teilweise unter Chlorwasserstoff-Abspaltung zu un- gesättigten Verbindungen führen, teilweise unzersetzt übergehen (weshalb man auch Ethylen im Uberschuß einsetzte), wurde später von dem amerikanischen Lost-Spezialisten James Bryant Conant (1893-1978) und seinen Mitarbeitern revi- diert49, die darauf hinwiesen, daß primär ein Monoaddukt aus Schwefeldichlo- rid und Ethylen entsteht, das mit einem weiteren Molekül Ethylen zum Lost rea- giert. In einer Nebenreaktion disproportionieren zwei Moleküle Schwefeldichlorid zu Chlor und Dischwefeldichlorid (Schwefelmonochlorid). Letzteres setzt kolloi- dalen Schwefel frei, der zur Bildung von Polysulfiden (Levinstein-Loste) führt. Diese wiederum können mit freiem Chlor Folgereaktionen zu Dischwefeldichlo- rid und 2-Chlorethylschwefelchlorid eingehen. Das später auch auch als »Prochlerit« bezeichnete rohe Direktlost enthält et- wa 70 bis 75 % Bis(2-chlorethyl)-sulfid, dazu Bis(2-chlorethyl)-disulfid, ein in Al- kohol unlösliches Gemisch aus Polysulfiden und geringe Mengen anderer Ne- benprodukte. Das »Delostverfahren« wurde am 16. November 1917 der BASF zur techni- schen Realisierung übergeben50. Die Besonderheit des im Kaiser-Wilhelm-Institut entwickelten Laborverfahrens bestand darin, daß man das in Chlorbenzol oder Tetrachlormethan gelöste, durch Chlorierung von Schwefel über das Dischwefel- dichlorid gewonnene Schwefeldichlorid in einer Reaktorschlange im Gegen- strom zu überschüssigem Ethylen führte, wobei der obere Teil gekühlt, der unte- re Teil auf 100 °C erhitzt wurde, wodurch enthaltenes bzw. während der Reakti- on gebildetes Dischwefeldichlorid vollständig entfernt (Bildung von Lost und Schwefel) und gleichzeitig das Lösungsmittel abdestilliert werden konnte51. Trotz einiger Abwandlungen kam man in Ludwigshafen bis Mai 1918 zu keinem industriell nutzbaren Ergebnis. Am 15. Februar 1918 konferierte daher der stellvertretende Leiter der Abtei- lung D des Haberschen Institutes, Prof. Kurt H. Meyer (1883-1952), mit Direktor Dr. Geldermann vom Wolfener AGFA-Werk, der ihm die Übernahme der weite- ren technischen Delost-Entwicklung (AGFA-Tarnname: Delius) zusagte52. Meyer sicherte zur wissenschaftlichen Unterstützung die Abkommandierung des am Kaiser-Wilhelm-Institut tätigen Chemikers Dr. Wesche nach Wolfen zu. Einen

49 James Bryant Conant, E.B. Hartshorn and G.O. Richardson, The mechanism of the re- action between ethylene and sulfur chloride, in: Journal of the American Chemical So- ciety, 42 (1920), S. 585-595. 50 Stoltzenberg, Fritz Haber (wie Anm. 39), S. 269; IX. und X. Delostbericht (X. vom 31.8.1918) des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie (wie Anm. 48); XII. Delostbericht des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Che- mie und Elektrochemie vom 28.9.1918 (wie Anm. 48). 51 Bericht über die Arbeiten der Abteilung D des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikali- sche Chemie und Elektrochemie vom 1.10.1917 bis 9.11.1918 (wie Anm. 48); IX. und X. Delostbericht (X. vom 31.8.1918) des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Che- mie und Elektrochemie (wie Anm. 48); XII. Delostbericht des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische, Chemie und Elektrochemie vom 28.9.1918 (wie Anm. 48). 52 Protokoll der Besprechung vom 15.2.1918 und Brief GeldermannS an Geheimrat Franz Oppenheim vom 16.2.1918, in: Korrespondenz über die Produktion von Delost (1918), Landesarchiv Merseburg, I.G. Farbenindustrie, Farbenfabrik Wolfen, Nf. 3070. 368 MGM 55 (1996) Dieter Martinetz

Die wichtigsten deutschen S-Lost-Geschosse des Ersten Weltkrieges (nach Rudolf Hanslian53) Kaliber Kennzeichnung Kampfstoffmenge Art der chemischen Füllung

7,7-cm- 1 gelbes Kreuz 0,611 80-90 % S-Lost, Feldkanone 20-10 % Tetrachlor- methan oder Chlorbenzol

10,5-cm-leichte 1 gelbes Kreuz 1,21 80-90 % S-Lost, Feldhaubitze 20-10 % Tetrachlor- methan oder Chlorbenzol

1 gelbes Kreuz 1,21 S-Lost, Bis(chlor- rriethyl)-ether, Tetrachlormethan

1 gelbes Kreuz 1,21 77,5 % S-Lost, 11,5 % Nitrobenzol, 9 % Chlorbenzol

15-cm-schwere 1 gelbes Kreuz 2,881 80 % S-Lost, Feldhaubitze 20 % Chlorbenzol, 0,7 kg TNT

1 gelbes Kreuz 72 % S-Lost, (Geschoß mit 28 % Nitrobenzol falscher Haube)

2 gelbe Kreuze 80 % S-Lost, 20 % Bis(chlormethyI)-ether

1 gelbes Lothringer S-Lost und TNT, Kreuz getrennt durch (Gelbkreuz-Brisanz) Zwischenboden

15-cm- 1 gelbes Kreuz 3,081 80% S-Lost, Kanone (Gelbkreuz- 20 % Chlorbenzol, Brisanz) 0,7 kg TNT

21-cm- 1 gelbes Kreuz 8,01 75 % S-Lost, Mörser 15 % Chlorbenzol, 5 % Bis(chlormethyl)-ether, 5 % Formaldehyd

7,6-cm- leichter 2 gelbe Kreuze? 0,81 S-Lost (genauere Minenwerfer Daten unbekannt)

17-cm-mittlerer 2 gelbe Kreuze 10,7 kg 83 % S-Lost, Minenwerfer 12 % Chlorbenzol, rauch- erzeugende Substanzen (roter Phosphor, Paraffin, Arsen)

53 Der chemische Krieg. Hrsg. von Rudolf Hanslian, 2. umgearb. Aufl., Berlin 1927, S. 66-69; Der chemische Krieg (wie Anm. 22), S. 61-63. Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) 369

Tag später informierte Geldermann in einem Brief seinen Vorstandsvorsitzen- den, Geheimrat Franz Oppenheim (1852-1929). Den schriftlichen Auftrag der Haberschen »Chemischen Abteilung« zur Produktion von 500 Monats tonnen Delost erhielt Wolfen am 12. September 1918 nachgereicht. Darin wurde zugesi- chert, daß die der AGFA entstehenden Unkosten für die Apparaturen und Mon- tage durch einen entsprechenden Preisaufschlag auf das Fertigprodukt beglichen werden sollten54. Bei Kriegsende waren in Wolfen zwei Verfahren erprobt, das korrosionsempfind- liche und als technisch nicht praktikabel bewertete Pumpenverfahren und das kontinuierliche Turmverfahren, das auf dem im Kaiser-Wilhelm-Institut ent- wickelten Verfahrensprinzip beruhte. In einem ersten Rieselturm (gefüllt mit Ra- schigringen aus Blei oder Porzellan) wurde die mit Eiswasser auf 0 °C gekühlte Lösung von Schwefeldichlorid in Tetrachlormethan im Gegenstrom zu getrock- netem Ethylen geführt, in einem zweiten, beheizten Rieselturm erfolgten die Entfernung von Dischwefeldichlorid und die Verdampfung des Lösungsmittels, das in den Prozeß zurückgeführt wurde. Dabei erhielt man ein Produkt, das als direkt in Geschossen verwendbar bewertet wurde. Der gepilante Großversuch konnte jedoch nicht mehr ausgeführt werden. Am 11. November 1918 wurde der Auftrag zur Delostproduktion von der Haberschen Abteilung A 10 per Militärte- legramm widerrufen. Zwei Tage später bezifferte die AGFA in einem Schreiben an das Kaiser-Wilhelm-Institut die ihr im Zusammenhang mit dem Delost-Auf- trag entstandenen Kosten auf 485 000 Mark55.

IV. Die Reaktion der Alliierten

Sichergestellte Blindgänger des ersten deutschen Lost-Einsatzes wurden von den Briten umgehend in ihr Zentrallaboratorium nach Hesdin (Nordostfrankreich) gebracht und analytisch-chemisch untersucht, wobei Prof. B. Mouat Jones, Prof. Herbert Bereton Baker (1862-1935) und Colonel Edward Frank Harrison (1869-1918), der gemeinsam mit Major Bertrand Lambert auch eine wirksame, mit Atemschutzfilter ausgerüstete Gasmaske, den »Small Box Respirator« (S.B.R.), entwickelt hatte, eine wesentliche Rolle gespielt haben sollen56. Der da-

54 Auftrag der Chemischen Abteilung A 10 im Kriegsministerium vom 12.9.1918, in: Kor- respondenz über die Produktion von Delost (1918), I.G. Farbenindustrie, Farbenfabrik Wolfen, Nr. 3070. 55 Niederschrift über die Besprechung betr. Delost am 2.11.1918 (KWI: Prof. Friedländer, Prof. Meyer, Dr. Kalischer; AGFA: Chefing. Chavouen, Dr. Schneider), in: Korrespon- denz über die Produktion von Delost (1918), Landesarchiv Merseburg, I.G. Farbenin- dustrie, Farbenfabrik Wolfen, Nr. 3070, Bl. 72-73; Verfahren zur Herstellung von Delost (Bericht Dr. Schneiders vom 30.12.1921 für F. Oppenheim), in: ebd., Bl. 6-8; Brief Dr. Geldermanns (Wolfen) an Geheimrat F. Oppenheim (Heiligendamm) vom 22.8.1918 zum französischen Verfahren und dem Stand des Delostverfahrens in Wol- fen, in: Korrespondenz über Delostversuche (1917-1919), I.G. Farbenindustrie, Farben- fabrik Wolfen,-Nr. 2677, Bl. 234-236; Militärtelegramm der Chemischen Abteilung A 10 im Kriegsministerium vom 11.11.1918 und Schreiben der AGFA an das Kaiser-Wil- helm-Institut vom 13.11.1918, in: Korrespondenz über die Produktion von Delost (1918), Landesarchiv Merseburg, I.G. Farbenindustrie, Farbenfabrik Wolfen, Nr. 3070. 56 Siegfried Franke, Militärchemie, 2. Überarb. Aufl., Bd 1, Berlin 1977, S. 28. 370 MGM 55 (1996) Dieter Martinetz

mals als junger Chemiker nach Hesdin einberufene Ernest Rudge (geb. 1894) be- richtet über die täglichen Untersuchungen der gegnerischen Kampfstoffe, die bald »tödliche Routine« waren. So wurden auch die mit einem gelben Kreuz ge- kennzeichneten Granaten in einem hölzernen Trog positioniert und manuell auf- gebohrt. Den entnommenen flüssigen Kampfstoff brachte Sergeant C.W. Spiers, der auf diese Weise während des Krieges etwa 200 Geschosse öffnete, in einer Winchester-Flasche zur Laboruntersuchung. Die Destillation von 100 Milliliter des der Gelbkreuzgranate entnommenen Stoffes unter vermindertem Druck er- gab rückstandslos zwei Fraktionen: 25 % Chlorbenzol und 75 % einer klaren Flüssigkeit, die nach Vergleich ihrer physikalisch-chemischen Daten mit »Beil- steins Handbuch der organischen Chemie« als Dichlordiethylsulfid identifiziert wurde57. Ludwig F. Haber berichtet von einem viel später mit dem Oxford-Dozenten und Leiter des britischen Gasschutz-Dienstes, General Harold Hartley (1878-1972) dazu geführten Gespräch: »Am auf den Ersteinsatz folgenden Tag fand Hartley einige nicht explodierte Granaten, die mit einem gelben Kreuz markiert waren. Nachdem die Zünder ausgebaut worden waren, wurden sie zum Hauptquartier gebracht, geöffnet und der Inhalt analysiert [...] und das Ergebnis mit den Eintragungen im Beil- stein [...] verglichen. Am 16. Juli wußte man, um welchen Stoff es sich han- delte58.« Aufgrund des schwach meerrettichartigen Geruches des technischen Produktes nannten die Engländer und Amerikaner den neuen Kampfstoff »« (Senfgas), aufgrund seiner verheerenden Wirkung auch »hun stuff« (Hunnen- stoff). Die Franzosen bezeichneten das Gift nach dem Ersteinsatzort als »yperi- te«, die Russen als »iperit« und die Italiener als »iprite«. Frankreich und England nahmen nach dem deutschen Lostangriff und der chemischen Identifizierung umgehend Vorarbeiten zur eigenen Herstellung auf und intensivierten die Kontakte ihrer Laboratorien auf dem Kampfstoffsektor. In Frankreich begann man noch im Juli 1917 mit der Entwicklung eines tech- nischen Verfahrens und errichtete zunächst eine Versuchsanlage bei der Firma »Usines du Rhöne« in Peage du Roussillon (bei Lyon) sowie eine weitere, direkt von der dem »Ministere de FArmement« unterstellten »Direction du Materiel Chimique de Guerre« betriebene Versuchsstation in Nanterre. Beide sollten nach dem Prinzip des Meyerschen Verfahren arbeiten. Da man damit aber nicht voran kam, entschloß man sich ziemlich rasch für die Umsetzung von Ethylen mit Schwefelchloriden. Im Januar 1918 arbeiteten auf dem Gebiet drei Wissen- schaftlergruppen, die von Francis Charles Moureu (1863-1929) und Paul Job (1886-1957), Gabriel Bertrand (1867-1962) sowie Jacques Kap de Herr geleitet wurden59. Job und Bertrand nutzten die Umsetzung von Ethylen mit Schwefel- dichlorid und fanden rasch heraus, daß eine ständige intensive Durchmischung und eine sorgfältige Temperaturkontrolle der exothermen Reaktion notwendig sind, wobei sie als günstigsten Temperaturbereich 30 bis 38 °C ermittelten. Sie fanden ferner, daß bei einer Zufuhr des Ethylens in das Reaktionsgefäß unter

57 Ernest Rudge, Chemists go to war, in: Chemistry in Britain, 20 (1984), S. 139 f. 58 Haber, The Poisonous Cloud (wie Anm. 18), S. 192. 59 Ebd., S. 113,161 f. Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) 371

Druck dieses gleichzeitig als Kühlmittel verwendet werden kann. Andererseits zeigte sich jedoch, daß bei niederen Temperaturen und damit verlängerter Reak- tionszeit die Gefahr der Zersetzung des Schwefeldichlorids in Dischwefeldichlo- rid, Schwefel und Chlor wächst. In der technischen Praxis bei »Usines du Rhone« gab es aus diesem Grund zunächst auch Schwierigkeiten, da es immer wieder zu Verstopfungen der Rohrleitungen kam. Auch das Arbeiten unter vermindertem Druck war nicht erfolgreich. Erst als man sich entschloß, das Schwefeldichlorid vor der Einleitung des Ethylens in Tetrachlormethan zu lösen, konnten diese Probleme behoben werden. Im März 1918 lief eine entsprechende Pilotanlage. Im Mai, drei bis vier Monate früher als die Briten und Amerikaner, begann die Fir- ma »Usines du Rhone« mit der technischen Produktion nach dem Schwefeldi- chlorid-Verfahren, wobei man nach Abschluß der Reaktion destillativ auf 85 % Yperit (und 15 % Tetrachlorkohlenstoff) anreicherte. Die Ausbeuten lagen bei et- wa 80 %. In dem einen Kilometer entfernten Ort Salaise erfolgte die Abfüllung des Yperits in Granaten60. Die Anleitung des Personals der Fabriktionsanlage ob- lag dem Chemiker J. Kap de Herr und dem Ingenieur-Chemiker Joseph Fros- sard, der aus dem Privatbüro des Rüstungsministers Louis Loucheur kam61. Nach dem erfolgreichen Anlauf soll die französische Produktion dreißigmal so schnell angestiegen sein wie die deutsche62. Zwei weitere Firmen, »Chlor liquide« in Pont-de-Claix und »Stearineries et Savonneries de Lyon«, wurden ebenfalls in das Yperit-Programm einbezogen. Sie arbeiteten mit Dischwefeldichlorid, erzeugten ihre ersten Batch-Produkte im April 1918 und nahmen Ende Mai die volle Produktion auf. Noch vor Kriegsen- de produzierten drei weitere kleine Werke, darunter ein Betrieb des »Service des Poudres«, französisches Yperit. Die Hauptmenge entstand allerdings bei »Usi- nes«. Füllanlagen befanden sich außer in Salaise noch in Pont-de-Claix und Au- bervilliers. Der erste Einsatz französischer Yperit-Geschosse erfolgte im Juni 1918 an der Marne. Im Preußischen Kriegsministerium und im Haberschen Institut erfuhr man Näheres über die französischen Fabrikationsanlagen durch zwei aus französi- scher Gefangenschaft geflohene, in Roussillon zur Arbeit eingesetzte Deutsche, Wilhelm Bodenstein und Josef Klutzny. Nach ihren ersten Vernehmungen am 11. und 16. August 1918 wurden sie von Prof. Meyer am 21. August nach Wolfen gebracht, wo man gemeinsam mit den beiden zuständigen Bearbeitern, Dr. S. Schneider und Chefingenieur Chavoen, zu dem Ergebnis kam, daß Frankreich bereits nach dem Verfahren der direkten Umsetzung von Ethylen mit Schwefel- dichlorid produzierte63, was die deutschen Bemühungen zur Entwicklung des »Delostverfahrens« weiter stimulierte.

60 Vernehmungen der Rückläufer Wilhelm Bodenstein und Josef Klutzny vom 11.8., 16.8. und 21.8.1918, in: Korrespondenz über die Produktion von Delost (1918), Landesar- chiv Merseburg, I.G. Farbenindustrie, Farbenfabrik Wolfen, Nr. 3070, Bl. 186-190, 205-211, 212-216; Brief Dr. Geldermanns (Wolfen) an Geheimrat F. Oppenheim (Heili- gendamm) vom 22.8.1918 zum französischen Verfahren und dem Stand des Delostver- fahrens in Wolfen (wie Anm. 55). « Haber, The Poisonous Cloud (wie Anm. 18), S. 113,161 f. 62 Der chemische Krieg (wie Anm. 22), S. 29, 140; Die Herstellung von Kampfgas in Eng- land. Ubersetzung aus: Revue generale des matieres colorantes, 1920, S. 8, in: Z. ges. Schieß- und Sprengstoffwesen, 15 (1920), S. 145 f. 63 Vernehmungen der Rückläufer Wilhelm Bodenstein und Josef Klutzny vom 11.8., 16.8. 372 MGM 55 (1996) Dieter Martinetz

In der Zeit von April bis November 1918 produzierte die französische Seite nach Jules Poirier 2340 Tonnen Yperit64, mit denen etwa 2,5 Millionen Geschosse gefüllt wurden. Paul Pascal gibt für den Zeitraum März 1918 bis Oktober 1918 nur 1047 Tonnen an65. Nach Ludwig F. Haber lag die bis Kriegsende erzeugte Lostmenge insgesamt bei 1937 Tonnen; 1509 Tonnen davon stammten von »Usi- nes du Rhöne«66. Rudolf Hanslian beziffert den Stand im Juni 1918 auf 1967 Ton- nen67. Nach seinen Angaben wurden vom 1. April 1918 bis 11. November 1918 insgesamt 2 160 000 7,5-cm-Granaten, 91 000 10,5-cm-Granaten und 141 000 15,5- cm-Granaten gefüllt68. In England beauftragte man zunächst den bekannten, an der University of St. Andrew wirkenden Chemiker Prof. James Colquhoun Irvine (1877-1952) mit entsprechenden Verfahrensentwicklungen. Am 7. August 1917 übergab dieser dem »Chemical Advisory Committee« des Munitionsministeriums seinen ersten Bericht, in dem er die Herstellung nach dem Meyerschen Verfahren beschrieb. Wegen sehr niedriger Ausbeuten und großer Schwierigkeiten bei der Beschaf- fung des als Ausgangsprodukt erforderlichen Etylenchlorhydrins schlug er je- doch vor, Guthries Verfahren anzuwenden. Dafür zog man ab Oktober den an der Universität Cambridge tätigen William Jackson Pope (1870-1939) heran, der sich auf die Umsetzung von Ethylen mit Dischwefeldichlorid konzentrierte69. Das »Ministry of Munitions« ordnete jedoch die Übernahme und Adaption des deutschen Verfahrens in einer groß angelegten »National Factory« an. Die beratend hinzugezogene »United Alkaly Company« erklärte ziemlich leichtfer- tig, daß sie keinerlei prozeßtechnische Probleme sähe, obwohl es zu diesem Zeit- punkt keine Chemiefirma in Großbritannien gab, die über Erfahrungen in der Produktion von Ethylenchlorhydrin verfügte. Die unrealistischen Pläne des Mu- nitionsministeriums, die im August auf 15 Wochentonnen, im September sogar auf 200 Wochentonnen orientierten, waren in keiner Weise erfüllbar. Verschiede- ne Fachexperten erkannten die Realitätsferne und schlugen vor, nach dem ver- mutlich technisch einfacher zu lösenden Verfahren von Guthrie zu arbeiten. Ob- wohl sich beide Seiten nicht einigen konnten, bestätigte der Minister für Muniti- on, Winston Churchill (1874-1965), am 5. November den mit Kosten von zwei Millionen Pfund bezifferten Plan seines Ministeriums. Das Finanzministerium erhob jedoch Einspruch. Drei Wochen später mußte Churchill dem »Chemical Warfare Department« daher eine Reduzierung auf 75 Wochentonnen mitteilen. Im Dezember erhielt die Firma »Nobel's Explosives« den Auftrag, in Chittening bei Avonmouth, wo das Ministerium über ein größeres Gelände verfügte, eine Fabrikanlage zur Herstellung von Thiodiglycol zu errichten. Der in Oldbury an- sässige Alkaliproduzent »Chance and Hunt«, der gerade von »Brunner, Mond

und 21.8.1918 (wie Anm. 60); Brief Dr. Geldermanns (Wolfen) an Geheimrat F. Oppen- heim (Heiligendamm) vom 22.8.1918 zum französischen Verfahren und dem Stand des Delostverfahrens in Wolfen (wie Anm. 55). 64 Mehl, Ein französischer Beitrag zur Entwicklung der chemischen Kampfstoffe im Weltkriege (wie Anm. 20), S. 281. 65 Kampfgase. Ubersetzte Auszüge aus: Paul Pascal, Explosifs, poudres, gaz de combat, in: Z. ges. Schieß- und Sprengstoffwesen, 22 (1927), S. 155-157. 66 Haber, The Poisonous Cloud (wie Anm. 18), S. 113,161 f. 67 Der chemische Krieg (wie Anm. 22), S. 73. 68 Ebd. 69 Haber, The Poisonous Cloud (wie Anm. 18), S. 113,161 f. Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) 373 and Co.« übernommen worden war, wurde mit der Herstellung von Ethylen- chlorhydrin sowie der pilotmäßigen Produktion von Thiodiglycol beauftragt. Bereits auf einer vom 17. bis 19. September 1917 in Paris unter Teilnahme Großbritanniens, Frankreichs, der USA und Italiens stattgefundenen gastechni- schen Konferenz hatte Großbritannien von den Vereinigten Staaten die Produkti- on von Ethylenchlorhydrin in großem Maßstab gefordert, was jedoch nicht zuge- sagt werden konnte70. Immer wieder kam es zu heftigen Auseinandersetzungen der Anhänger des deutschen Verfahrens mit den Wissenschaftlern, die eine bessere Chance in der Umsetzung von Ethylen mit Schwefelchloriden sahen. Aus diesem Grund be- schäftigte sich auch eine dritte, von Arthur Lapworth (1872-1941) in Manchester geleitete Gruppe mit der Verwendung von Schwefeldichlorid71. Weitere Untersuchungen zu Meyers und Guthries Verfahren liefen in der For- schungsabteilung von »Nobel's Explosives«. Prof. Frederic Stanley Kipping (1863-1949) untersuchte an der Universität Nottingham entsprechende Bromver- bindungen und die Professoren Gilbert Thomas Morgan (1870-1940), London, sowie Leonhard Hill (geb. 1866) die homologen Propyl- und Butyl-Loste72. Im Januar 1918 wirkten etwa 20 bis 25 Chemiker an der Ausarbeitung prakti- kabler Herstellungsmethoden für »mustard gas«. Weitere Gruppen beschäftigten sich am »Royal Army Medical College« in Millbank und auf dem militärchemi- schen Versuchsgelände in Porton mit der Natur und den Heilungsmöglichkeiten der verursachten Hautschäden sowie Studien zur Persistenz der Verbindung. Später begann Prof. Ernest Francis Francis (1871-1941) in Bristol mit grundlegen- den Studien zur Molekularstruktur der Schwefelchloride (aber erst um 1940 ge- lang die vollständige Aufklärung des Mechanismus der Schwefelchlorid-Reak- tionen)73. Am 17. Januar 1918 setzte sich Pope, der zu diesem Zeitpunkt als der führen- de und einflußreichste auf militärchemischem Gebiet tätige Chemiker galt, beim »Chemical Warfare Committee« für die Aufnahme des Lapworthschen Schwefel- dichlorid-Verfahrens ein. Nur elf Tage später hatte er seine Ansicht geändert und empfahl das von ihm selbst, gemeinsam mit seinem Assistenten Charles Stanley Gibson (1884-1950) untersuchte Dischwefeldichlorid sowie Temperaturen von 50 bis 70 °C, wofür er auch ein vorläufiges Patent (Geheimpatent 142, 875 vom 2. Februar 1918) anmeldete. Die folgenden Monate nutzte er intensiv für die Pro- pagierung seines etwa 60 % Ausbeute ergebenden Verfahrens und wandte sich am 13. April sogar mit einem ausführlichen Memorandum an Churchill persön- lich. Im Februar gab das »Chemical Warfare Department« der Firma »Chance and Hunt«, die mit dem Thiodiglycol-Prozeß nicht vorankam, grünes Licht zur Er- probung der pilotmäßigen Umsetzung von Ethylen und Dischwefeldichlorid nach den Popeschen Vorschlägen. Etwa zur gleichen Zeit boten die in der Ver- fahrensentwicklung bedeutend weiter fortgeschrittenen Franzosen ihre Hilfe bei der technischen Einführung des »kalten Verfahren« an, was auf zuständiger bri-

70 Der chemische Krieg (wie Anm. 22), S. 29,140; Die Herstellung von Kampfgas in Eng- land (wie Anm. 62). 71 Haber, The Poisonous Cloud (wie Anm. 18), S. 113,161 f. 72 Ebd. 73 Ebd. 374 MGM 55 (1996) Dieter Martinetz

tischer Seite — auch nach Übergabe der vollständigen Verfahrensunterlagen im Mai — weitgehend ignoriert wurde. Lediglich die Farbenfabrik »Herbert Levin- stein Ltd.« in Manchester und ihr wissenschaftlicher Berater, Prof. Arthur Georg Green (1864-1941), reagierten positiv, und es gelang ihnen mit relativ einfachen Mitteln, bei Temperaturen von 30 bis 40 °C ein qualitativ befriedigendes Senfgas herzustellen. Levinstein verhandelte daraufhin mit den Amerikanern, die das Verfahren in Lizenz übernahmen. In Großbritannien führten die Aktivitäten der Firma Levinstein jedoch zu heftigem Streit mit Pope, der zum einen auf die (von ihm patentierten) hohen Temperaturen setzte, zum anderen das Verfahren für sich reklamierte. Im Mai 1918 wurde die Firma sogar aufgefordert, das Verfahren einzustellen. Doch man setzte die Arbeiten am »Levinstein-Prozeß« auf eigene Gefahr fort. Die technischen Entwicklungsarbeiten waren im Mai 1918 dann so- weit abgeschlossen, daß eine Produktionsaufnahme erfolgen konnte74. Als Green am 7. Juni in der Dienststelle des »Chemical Warfare Department« dem stellver- tretenden Controller Edward Frank Harrison (1869-1918) Proben des von der Firma Levinstein erzeugten Produktes übergab, erntete er dort Verwunderung sowie Neid, und die Irritation war groß, als er erklärte, daß man die Mustard- Entwicklung aus patriotischen Motiven und nicht wegen des Geldes übernom- men habe. In einem Vortrag, den Herbert Levinstein Mitte Juli 1919 auf der Generalver- sammlung der »Society of Chemical Industry« hielt, beklagte er, daß die Produk- tion von Senfgas in Großbritannien viel zu lange ein »Vorrecht der wissenschaft- lichen Berater der Regierung« (gemeint war vor allem Pope) gewesen sei. Da- durch wurde zunächst gar nichts produziert. Erst als die britische Farbenindu- strie (gemeint war Levinstein) die Sache aufgenommen und ein neues Verfahren (die »kalte Umsetzung«) eingeführt habe, kam man in England und den USA zu einer erfolgreichen Produktion. Leider habe die Regierung nicht genügend Auf- träge erteilt75. Ende April 1918, als es im Munitionsministerium wieder einmal zu einer (der vierten!) Umstrukturierung kam und der Chemieanlagenbauexperte K.B. Quinan die Zuständigkeit für alle Aufgaben der Konstruktion sowie Fabrikation der Ex- plosiv- und Kampfstoffe erhielt, wurde festgelegt, daß sämtliche mit »mustard gas« zusammenhängenden Fragen fortan in »National Factories« bearbeitet wür- den. Alle involvierten Privatfirmen erhielten den Status von Subauftragnehmern mit genau festgelegten, begrenzten Verantwortlichkeiten. Die in Chittening vorhandenen Anlagen wurden geschlossen. Hunderte, im Mai und Anfang Juni rund um die Uhr tätige Arbeiter errichteten in Avonmouth eine völlig neue Fabrik, die ihr erstes, nach dem »heißen Verfahren« erzeugtes Senfgas am 15. Juni herstellte, obwohl zwischenzeitlich auch die Chemiker der Firma »Chance and Hunt« herausgefunden hatten, daß die höchsten Ausbeuten bei Temperaturen von 30 bis 35 °C erhalten werden. Dennoch votierte »White Hall« weiterhin für Popes Ansichten. Das Ergebnis waren eine unvollständige Umsetzung, komplexe Produktgemische, hohe Kosten und Frustrationen bei den Beteiligten. Auch das eingesetzte, durch Dehydratation von Alkohol gewonnene

74 Der chemische Krieg (wie Anm. 22), S. 29, 140; Die Herstellung von Kampfgas in Eng- land (wie Anm. 62). 75 Der Völkerbundgeist in der englischen Farbstoffindustrie, in: Chemiker-Zeitung, 43 (1919), Nr. 97, S. 509. Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) 375

Ethylen war nur von unzureichender Reinheit. Der Leiter der Arbeiten, White- law, und sein Stab, griffen daher Anfang Juli nach jedem Strohhalm. Nun erin- nerte man sich auch des Hilfsangebotes der Franzosen, und Joseph Frossards Vorschlag, auf das »kalte Verfahren« überzugehen, wurde in die Tat umgesetzt. Ausbeuten und Qualität verbesserten sich. Dennoch mußte die Produktion we- gen des Ausfalls der Ethylenanlage, danach wegen zahlreicher Vergiftungen und fehlenden Fachpersonals zur Instandhaltung der Anlage in der zweiten Julihälf- te wieder eingestellt werden. Die erste qualitativ akzeptierte Senfgas-Charge verließ Avonmouth am 15. August. Bis zum Waffenstillstand wurden insgesamt 560 Tonnen »mustard gas« produziert, von denen sich 416 Tonnen zur Laborie- rung in Geschosse eigneten. Dabei konnte in der letzten Oktoberwoche bereits eine Kapazität von 135 Tonnen pro Woche erreicht werden76. Nach Harris und Paxman verfügte das englische Hauptwerk in Avonmouth im Dezember bei ei- ner Belegschaft von 1100 Beschäftigten über eine Kapazität von 20 Tonnen pro Tag. Die Produktion wurde allerdings durch zahlreiche Unfälle und mit der Ar- beit zusammenhängende Erkrankungen häufig gestört77. Im September 1918 setzten die Briten ihre ersten 10 000 Yperit-Geschosse bei Bellenglise ein. (Ende November 1917 verschossene Lost-Granaten hatten die Briten bei einem Tankangriff am 20. November bei Cambrai erbeutet.) Danach wurden Geschosse aller Kaliber, gegen Kriegsende sogar Handgranaten, mit Lost gefüllt. Die Verluste der deutschen Truppen durch französischen und britischen Yperitbeschuß waren beträchtlich, zumal eine Versorgung mit entsprechenden Gasschutzmitteln und Ersatzkleidungsstücken, wie von Haber erwartet, zu die- sem Zeitpunkt nicht mehr gewährleistet war. Unter den Lostgeschädigten eines Angriffs am 14. Oktober 1918 auf das 16. Bayerische Reserveinfanterie-Regiment befand sich auch der 29jährige Gefreite Adolf Hitler (1889-1945). Verschiedene Historiker führen seine Zurückhaltung beim Einsatz chemischer Kampfstoffe während des Zweiten Weltkrieges zumindest teilweise auf diese Erfahrung zurück. Die amerikanischen Arbeiten zur Senfgasherstellung begannen Ende Septem- ber 1917 unter Leitung von James Bryant Conant, der von Havard an die »Ameri- can University« nach Washington, das Kampfstoff-Forschungszentrum der USA, gerufen wurde. Nachdem er zunächst mit wenig Erfolg die Meyersche Route verfolgt hatte, kam er Mitte Januar mit Pope zusammen, später verhandelte man mit der Firma Herbert Levinstein und favorisierte nun die »kalte Umsetzung« von Ethylen mit Dischwefeldichlorid. Im Mai erfolgte im »Edgewood Arsenal« die vorläufige Produktionsaufnahme, wobei analog der Firma Levinstein mit Di- schwefeldichlorid bei etwa 35 °C gearbeitet wurde. Die reguläre Produktion lief im August an. Bis zum Waffenstillstand verfügte man nach Ludwig F. Haber über einen Vorrat von 897 Tonnen78. Von Juli bis November 1918 wurden nach Hanslian, der sich auf E.S. Farrow bezieht, 155 025 7,5-cm-Granaten mit Yperit gefüllt79. Die Produktionskapazität im Edgewood Arsenal bei Kriegsende gibt

76 Haber, The Poisonous Cloud (wie Anm. 18), S. 164-166. 77 Zit. in: Harris/Paxman, Eine höhere Form des Tötens (wie Anm. 23), S. 43. 78 Haber, The Poisonous Cloud (wie Anm. 18), S. 157-159,164,168-170. 79 Der chemische Krieg (wie Anm. 22), S. 35, 75 f. 376 MGM 55 (1996) Dieter Martinetz

Hanslian mit 30 Tonnen pro Tag an80, Ludwig F. Haber mit 10 Tonnen81. Für den Dezember 1918 nennt Hanslian bereits Kapazitäten von 80 Tonnen für Edge- wood, 25 Tonnen für eine Anlage bei Hastings und 50 Tonnen für ein Werk in Buffalo82. Die anfallenden Produkte der Briten und Amerikaner waren durch Verunrei- nigungen an Polysulfiden (die sogenannten Levinstein-Loste), Dischwefeldichlo- rid und kolloidalen Schwefel wenig lagerstabil und auch weniger wirksam als das destillierte, reine Lost. Bei Kriegsende sollen auch in Italien die ersten Anlagen zur Produktion von Lost fertiggestellt worden sein83. Die auf italienischer Seite im Herbst 1918 ver- schossenen Yperit-Granaten wurden jedoch von Frankreich bezogen. Die chemischen Industrien der anderen kriegsteilnehmenden, Kampfstoffe einsetzenden Staaten (Rußland, Österreich-Ungarn) waren zu einer Lost-Herstel- lung nicht in der Lage. Die von Österreich-Ungarn in begrenztem Ausmaß ein- gesetzten Lost-Granaten stammten aus Deutschland. Die wohl ersten in der offenen deutschen Fachliteratur erschienenen Anga- ben zum Einsatz und zur Produktion von Bis(2-chlorethyl)-sulfid als Kampfstoff (Lost, S-Lost, Gelbkreuz, Mostrichgas, Senfgas) im Ersten Weltkrieg und seinen wichtigsten Eigenschaften finden sich in der »Chemiker-Zeitung« vom 19. Juni und 12. August 191984, sowie der »Zeitschrift für das gesamte Schieß- und Sprengstoffwesen« vom Dezember 191985. Anfang der zwanziger Jahre wurden Details über technische Herstellung und die pharmakologische Wirksamkeit mitgeteilt86.

80 Ebd. ei Haber, The Poisonous Cloud (wie Anm. 18), S. 157-159,164,168-170. 82 Der chemische Krieg (wie Anm. 22), S. 35, 75 f. 83 Die Gaswaffe in italienischer Beleuchtung. Übersetzte Auszüge aus: Pagniello: L'Arma Chimica, in: Z. ges. Schieß- und Sprengstoffwesen, 23 (1928), S. 101 f., 145 f., 209-211, 244-250, 287-290. 84 Das Gas als Kampfmitel, in: Chemiker-Zeitung, 43 (1919), Nr. 74, S. 365 f. Der Völker- bundgeist in der englischen Farbstoffindustrie, in: Chemiker-Zeitung, 43 (1919), Nr. 97 S. 509. Unter dem Titel »Die Fernwirkung der Kampfgase« veröffentlichte die Z. ges. Schieß- und Sprengstoffwesen, 12 (1917), S. 387-389, 411 f., eine erste, von M. Reuter verfaßte Arbeit zum Kampfstoffeinsatz, lastete diesen jedoch nur dem Kriegsgegner an und ging lediglich auf das Phosgen ein. 85 Die Verwendung der giftigen Gase in englischer Beleuchtung, in: Z. ges. Schieß- und Sprengstoffwesen, 14 (1919), Nr. 23, S. 384 f. Der Artikel bezieht sich auf das (aller- dings offiziell nicht nach Europa versandte) »Journal of Industrial and Engineering Chemistry« vom April 1918, das einen am 17.1.1918 von Major S.J. Auld (Mitglied der britischen Militärmission in den USA) vor der »American Chemical Society« zu Wash- ington gehaltenen Vortrag vollständig abgedruckt hatte. Bereits im zweiten Septem- berheft 1918 (Nr. 23, S. 331) der gleichen Zeitschrift war in der Abteilung »Referate« unter der Uberschrift »Ueber giftige Gase im Kriege« unter Bezug auf die Zeitschrift »Chemical and Metallurgical Engineering«, 1918, S. 337, ein kurzer Bericht über diesen Vortrag gebracht worden, in dem das Bis(2-chlorethyl)-sulfid keine Erwähnung fand, sei es aus deutschen Zensurgründen oder weil der vollständige Vortragstext noch nicht zur Verfügung stand. 86 Die Herstellung von Kampfgas in England (wie Anm. 62), S. 146. — Die erste ausführ- liche Schilderung der verschiedenen Stufen der technischen Herstellung in Deutsch- land (Ethylen - Ethylenchlorhydrin - Thiodiglycol - Lost) findet sich in: Norris, Die Herstellung von Kampfgas in Deutschland (wie Anm. 34). Die erste (deutsche) mono- graphische Erwähnung findet Lost in: Max Schwarte (geb. 1861, Generalleutnant), Die Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) 377

V. Schlußteil

Die Geschichte der Entwicklung von S-Lost zu dem die größten Gasverluste (wenn auch nicht den größten Anteil an Todesfällen) des Ersten Weltkrieges nach sich ziehenden Kampfstoff verdeutlicht, daß es im Ersten Weltkrieg nicht völlig neuartige Stoffentwicklungen waren, die als chemische Kampfstoffe Ein- satz fanden. Vielmehr war es zunächst den deutschen Naturwissenschaftlern und Industriechemikern mit viel Geschick und Einfallsreichtum sowie dem or- ganisatorischen Talent Fritz Habers gelungen, in der zivilen Farbstoffherstellung anfallende toxische Produkte bzw. Zwischenprodukte als Kampfstoffe oder Kampfstoffausgangsprodukte zu nutzen sowie die großtechnische Herstellung aus der Fachliteratur bekannter Verbindungen zu realisieren. Bei dem aus der Literatur bekannten S-Lost konnte man beispielsweise auf das bereits vor dem Krieg produzierte Ethylenchlorhydrin als Ausgangsverbindung zurückgreifen. Die bis ins letzte Kriegsjahr zu verzeichnenden Vorteile der Deutschen resul- tierten dabei aus ihrer Vormachtstellung in der zivilen Farbstoffindustrie, nicht aus der Erfindung neuer Gifte. Auf dem Höhepunkt des Gaseinsatzes 1917/18 erreichte der Anteil der Gas- munition bei der deutschen Artillerie 25 bis 30 %. Zu diesem Zeitpunkt machte auch der Anteil der Gasverluste etwa ein Viertel der Gesamtverluste aus. Beson- ders deutlich wurde dies bei den amerikanischen Expeditionsstreitkräften, die erst im April 1917 in den Krieg eintraten. Der größte Teil der Verluste war dem Lost zuzuschreiben87. Angesichts des zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Kampfstoffpotentials und bereits massiert auftretender, weit ins Hinterland reichender Luftstreitkräfte, zeichnete sich die Gefahr ab, daß sich die chemischen Kampfstoffe in zukünfti- gen Kriegen zu einem, vor allem auch die Zivilbevölkerung gefährdenden Mas- senvernichtungsmittel entwickeln könnten. Gegen Kriegsende machte sich auf deutscher Seite durch fehlenden Nach- schub (Rohstoff- und Arbeitskräfteknappheit) jedoch ein drastischer Mangel an Gasmunition bemerkbar. Die Kampfstoffproduktion der Alliierten hatte die deutsche erheblich überholt. Wie schon im Ersten Weltkrieg vertritt auch aus heutiger Sicht der größte Teil der Völkerrechtler die Meinung, daß sowohl der Einsatz von Reizstoffen als auch das Abblasen von Chlor bzw. Chlor-Phosgen-Gemischen formal nicht ge- gen den Wortlaut der Haager Landkriegsordnung verstießen. Die leichte Um- gehbarkeit zeigt den diesbezüglich geringen Wert des Abkommens, das lediglich

Technik im Weltkriege, Berlin 1920. Der von Friedrich P. Kerschbaum (1887-1946; während des Krieges Leiter der Abteilung Β im Haberschen Institut) verfaßte XI. Ab- schnitt »Gaskampf- und Gasabwehrmittel« beschreibt die zum Einsatz gekommenen chemischen Kampfstoffe. Eine erste umfangreiche (deutsche) Monographie zu den Wirkungen findet sich unter dem Titel »Kampfgasvergiftungen VII. Die pharmakolo- gische Wirkung des Dichloräthylsulfids« in der Zeitschrift für experimentelle Medizin, 13 (1921), S. 367-484. Sie wurde nach Versuchen zahlreicher Mitarbeiter des Haber- schen Institutes von Ferdinand Flury (1877-1947; Leiter der Abteilung E) und Her- mann Wieland (1885-1929) zusammengestellt. 87 Vgl. auch: Dieter Martinetz, Der Gaskrieg 1914-1918. Entwicklung,. Herstellung und Einsatz chemischer Kampfstoffe, Bonn 1996; ders., Vom Giftpfeil zum Chemiewaffen- verbot, Thiin, 1996. 378 MGM 55 (1996) Dieter Martinetz

die Anwendung von Geschossen, »deren einziger Zweck es ist, erstickende oder giftige Gase zu verbreiten«88 untersagte. Nicht explizit geächtet wurden das Ab- blasen von Giften und der Einsatz von Geschossen, deren Splitterwirkung die Giftwirkung übertrifft. Auch aus dem Verbot des Gebrauches »von Waffen, Geschossen oder Stoffen [...], die geeignet sind, unnötige Leiden zu verursachen«, wird von den meisten Völkerrechtlern bis heute keine Völkerrechtswidrigkeit des Gaseinsatzes abgelei- tet, »da die Vorschrift der Einsatz nur solcher Kampfmittel verbietet, deren inhu- manitäre Wirkung (unnötige Leiden) in einem Mißverhältnis zu ihrem militäri- schen Wert steht, der Einsatz von Gas jedoch immerhin angemessene militäri- sche Erfolge brachte«89. Ausgenommen wird dabei nur der Gaseinsatz gegen die Zivilbevölkerung, deren Vergiftung keine Rolle für den militärischen Erfolg spielt. Nach dieser Ansicht, wäre es erst mit dem Einsatz der französischen Phos- gengranaten ohne Splitterwirkung ab Februar 1916 und der entsprechenden deutschen Diphosgengranaten (Grünkreuz) ab Mai 1916 zu einer Verletzimg der Haager Landkriegsordnung gekommen. Gleiches gilt für die ab Juli 1917 ver- schossenen Gelbkreuz-Granaten. Diesen formaljuristischen Spitzfindigkeiten kann sich der Autor als Natur- wissenschaftler nicht anschließen, da es zum einen bedeuten würde, daß der mi- litärische Erfolg jedes Mittel rechtfertigt. Zum anderen dürfte es für den Betroffe- nen kaum eine Rolle spielen, ob er durch ein abgeblasenes Chlor-Phosgen-Ge- misch oder durch Phosgen/Diphosgen aus Granaten ohne Splitterwirkung ver- giftet oder getötet wird. Die Symptome sind die gleichen. Im Gegenteil geben britische Statistiken an, daß der prozentuale Anteil der Gastoten an den Gasver- lusten mit 24 % bei Chlor-Phosgen-Blasangriffen bedeutend größer war als bei Beschießung mit Diphosgen-Projektilen (6 bis 10 %)90. Die chemisch-toxikologische Unsinnigkeit dieser Betrachtungsweise zeigt sich besonders auch beim Lost. Denn in diesem Fall sollten die zunächst ab Juli 1917 verschossenen Gelbkreuz-Granaten ohne Splitterwirkung als verboten ein- gestuft werden, die ab März 1918 eingeführten Gelbkreuz-Brisanzgranaten (Zwi- schenbodengeschosse) als erlaubt, obwohl gerade bei dieser Einsatzform durch Schwadenbildung neben der extremen Hautwirkung auch Augen und Atmungs- trakt stark betroffen wurden. Die »Erfolge« der chemischen Kampfstoffe auf dem Höhepunkt des Gas- kampfes und vor allem der Gelbkreuzeinsatz wurden zum Ausgangspunkt der Kampfstoffangriffe Spaniens gegen die aufständischen marokkanischen Rif-Ka- bylen in den Jahren 1922 bis 192791 sowie Italiens gegen Abessinien 1935/3692,

88 Wörterbuch des Völkerrechts. Begründet von Karl Strupp, in völlig neu bearb. 2. Aufl. hrsg. von Hans-Jürgen Schlochauer, Bd 1, Berlin I960, S. 615 f. 89 Ebd. 90 The Problem of Chemical and Biological Warfare. Vol. 1: The Rise of CB Weapons. Ed. Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), Stockholm, New York 1971, S. 131. 91 Vgl. Rudibert Kunz und Rolf-Dieter Müller, Giftgas gegen Abd el Krim. Deutschland, Spanien und der Gaskrieg in Spanisch-Marokko 1922-1927, Freiburg 1990. 92 Vgl. u.a. W. Volkart, Die Gaswaffe im italienisch-abessinischen Krieg 1935/1936, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung, 116 (1950), S. 744-751, 799-816, 870-887; 117 (1951), S. 47-61, 99-110. Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) 379 die unter den schutzlosen Kämpfern und der Zivilbevölkerung eine verheerende Wirkung entfalteten und in entscheidendem Maße zur Niederringung dieser Völker beitrugen. So nimmt es nicht wunder, daß auch vor und während des Zweiten Weltkrie- ges auf allen Seiten S-Lost produziert und bevorratet wurde. Neue taktische Mi- schungen sowie die verwandten Stickstoff-Loste entstanden. In den dreißiger Jahren gelang Deutschland die Entwicklung, wenige Jahre später die großtechnische Produktion einer neuen Kampfstoffgeneration, der hochtoxischen, sofort tödlichen phosphororganischen Nervengase vom Tabun-, Sarin- und Somantyp. Nach 1945 gipfelten diese von den westlichen Großmächten und der Sowjet- union aufgegriffenen und fortgeführten Entwicklungen93 in der Schaffung der in noch weitaus geringeren Mengen tödlichen V-Stoffe (wie VX) und der Ein- führung der Binärwaffentechnik. Aber auch das S-Lost behielt weiterhin militäri- sche Bedeutung als Geländekampfstoff. Es wurde sowohl von den Großmächten bevorratet als auch von Staaten der »Dritten Welt« produziert und in regionalen Konflikten eingesetzt. Genannt seien die Lost-Einsätze Ägyptens gegen den Je- men in den Jahren 1963 bis 1967 und des Iraks gegen den Iran 1983 bis 1985 so- wie gegen aufständische Kurden 198894. Erst das Ende Januar 1993 in Paris unterzeichnete »Ubereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen« (Chemiewaffen-Konvention)95 läßt auf ein Ende der chemischen Massenvernichtungsmittel hoffen. Leider aber schließt der erklärte Wille der USA, Rußlands und anderer kampfstoffbesitzen- der Staaten nicht die Herstellung, den Besitz und Einsatz durch Nichtunterzeich- nerstaaten, Extremistengruppen und fanatische terroristische Vereinigungen aus, wie die im März 1995 in der Tokyoter U-Bahn bekannt gewordenen Anschläge der Weltöffentlichkeit deutlich vor Augen geführt haben. Letztlich werden aber wohl kaum ethisch-moralische Bedenken oder die Rücksichtnahme auf entsprechende Abkommen die Triebfeder eines Verzichtes auf chemische Waffen sein, sondern eher die Angst vor einer nicht abwendbaren sofortigen Vergeltung, so wie dies auch bei den Nuklearwaffen der Fall ist. Die Erinnerung an die Schrecken des Gaseinsatzes im Ersten Weltkrieg, der im Ver- gleich zu den heutigen Möglichkeiten nur ein, wenn auch gigantisches »Experi- ment« war, sollte dazu einen Beitrag leisten.

93 Basis der sowjetischen Entwicklungen bildete, neben erbeuteten Unterlagen, vor allem die der Roten Armee unzerstört in die Hände gefallene Tabunfabrik in Dyhernfurth, die demontiert und später in der Nähe von Stalingrad wiederaufgebaut wurde. Die Briten erbeuteten die in Munster betriebene Pilotanlage zur Sarinproduktion, welche sie 1952 in ihrem Kampfstoff-Forschungszentrum Poton in Betrieb nahmen. Die Ame- rikaner versicherten sich der Mitarbeit der an den deutschen Entwicklungen führend beteiligten Wissenschaftler und Techniker, wie Gerhard Schräder (1903-1990; Ent- decker des Tabuns und Sarins), Dr. Albert Palm (gest. 1994; Leiter des Tabunwerkes Dyhernfurth), Oberingenieur Willi Bilfinger (Bauleiter des Werkes Dyhernfurth) und Dr. Wilhelm Kleinhans (Leiter der Synthese). 94 Martinetz, Vom Giftpfeil zum Chemiewaffenverbot (wie Anm. 87). 95 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 44 vom 26.5.1993, S. 417-480. Tschechen und Deutsche

Kren, Jan Konfliktgemeinschaft, Die Konfliktgemeinschaft Katastrophe, Entspannung Tschechen und Deutsche Skizze einer Darstellung der 1780-1918 deutsch-tschechischen Geschichte (Übersetzung aus dem seit dem 19. Jahrhundert. Tschechischen von Peter Heumos). Herausgegeben von der gemein- 1996. 405 Seiten, DM 68- samen deutsch-tschechischen ISBN 3-486-56017-4 Historikerkommission. Veröffentlichungen des Collegium 1996. 92 Seiten, DM 20,- Carolinum, Band 71 ISBN 3-486-56287-8

DIE KONFLIKTGEMEINSCHAFT Die Mitglieder der deutsch-tschechi- schen Historikerkommission disku- tieren abweichende Wahrnehmungen und Asymmetrien in der wechselsei- SäMtiä^.cSi: tigen Wahrnehmung. Sie decken For- TSCHECHEN JAN schungslücken auf, die zu verzerrten UND KREN DEUTSCHE 1780- 1918 Bewertungen historischer Abläufe und zu unterschiedlichen Gewichtun- gen ihrer Faktoren führen. Neunzehn neuralgische Punkte im deutsch- tschechischen Verhältnis werden in der vorliegenden Broschüre beleuch- OLDENBOURG tet. Jan Kren, tschechischer Vorsitzen- Pressestimmen: der der deutsch-tschechischen Hi- „Ihr kleines Werk zeige, erklärten die storikerkommission, lehrt an der Historiker voller Stolz, daß „Verstän- Karls-Universität in Prag. Er schreibt digung und Abbau von Barrieren auch die wechselvolle Geschichte der Be- bei einzelnen unterschiedlichen ziehungen zwischen Tschechen und Standpunkten möglich sind." Ein Deutschen im europäischen Zusam- Fingerzeig an die Politik." menhang. Entscheidend geprägt wur- (Die ZEIT) de sie durch die Nationsbildungspro- zesse in der Habsburgermonarchie, „Dennoch wird man in den Debatten die Revolution von 1848, die Reichs- über die deutsch-tschechische Ver- gründung von 1871 und die Neuord- gangenheit nicht mehr um diese Dar- nung der europäischen Staatenwelt stellung herumkommen. " nach dem Ersten Weltkrieg. (Frankfurter Allgemeine Zeitung) Oldenbourg