CONFESSIO AUGUSTANA Kultur

Künstler und Mensch

(1874–1934)

– von Wilfried Schönweiß –

enri Marteau wurde am 31. März dent der Philharmonischen Gesell- 1874 in Reims/Champagne gebo- schaft in Reims. Dies waren ideale ren.H Der Vater, Charles Marteau, Bedingungen für die früh sich ab- Franzose, entstammte einer Industri- zeichnende intellektuelle und künst- ellenfamilie, die auf ein altes Aragon- lerische Hochbegabung von Henri nen-Geschlecht zurück- Marteau, welche die

Bild: privat ging. Die Mutter, Clara Eltern in vielfältiger Wilfried Schön- Marteau, geborene Hinsicht förderten. weiß war nach Schwendy, deren Vor- Neben seinem Instru- Jahren in der fahren aus dem würt- ment galt Marteaus Mission Pfarrer tembergischen Adelsge- Liebe den Sprachen, im Schuldienst schlecht der Freiherrn der Geschichte und der und Studiendi- rektor. von Schwendy kamen, Literatur. Zeugnisse Er war der stammte aus einem dafür sind die Kenntnis Initiator und gutbürgerlichen Haus mehrerer Sprachen, Organisator in Dresden. darunter auch Altgrie- der ersten Die Musik nahm im chisch, und seine mehr- Marteau-Violin- Hause Marteau einen wichtigen Rang tausendbändige Hausbibliothek. Als wettbewerbe. ein. Die Mutter, mit Clara und Ro- Violinpädagoge erinnerte er seine bert Schumann befreundet, war eine Schüler immer wieder daran, dass ausgezeichnete Pianistin. Der Vater, neben dem Geigenstudium allgemein- der selbst Geige spielte, war Präsi- bildende Studien Voraussetzung für

Schönweiß 50 CA IV/2011 einen ernstzunehmenden Künstler Henri Marteau gewidmet“ versah, seien. die im Jahr 1887 in der Kathedrale zu Reims uraufgeführt wurde. SCHON ALS KIND GENIAL WELTKARRIERE Im Hause Marteau gingen bedeu- tende Persönlichkeiten aus Kunst Den Grundstein für seine Weltkar- und Wissenschaft ein und aus. So riere legten die Konzertauftritte in auch der Violinvirtuose Camillo Sivo- Wien und London, wo der Dreizehn- ri, Paganinischüler. Das Geigenspiel jährige 1887/88 unter dem berühm- Sivoris faszinierte den fünfjährigen ten Dirigenten Hans Richter (1843– Henri so sehr, dass auch er Geiger 1916) — er dirigierte die Uraufführung werden wollte. Sein von Richard Wagners Bild: www.haus-marteau.de erster Lehrer war „Ring der Nibelun- Musikbegeistert der Schweizer Au- gen“ bei den Bay- – konnte gust Bünzli. Zwei reuther Festspielen Marteau auch Jahre später wurde — das berühmte Vio- viele andere Henri Schüler des linkonzert g-Moll von begeistern. weltberühmten Kom- Max Bruch spielte. ponisten, Violinvirtu- Unter den Zuhö- osen und Violinpäda- rern war auch Johan- gogen — Haupt der nes Brahms (1833— bekannten franco- 1897), der von dem belgischen Geigen- jungen Geiger re- schule – Hubert Leo- gelrecht schwärmte. nard (1819–1890) in Sein Biograph und Paris. Er war sein Musikkritiker Max wichtigster Lehrer. Kalbeck schrieb: Bereits mit 10 Jah- „… wirklich ist das ren gab Henri mit Spiel Marteaus das dem Violinkonzert Nr. 5 seines Leh- eines Mannes. In nichts verrät es das rers Leonard sein Debüt vor über jugendliche Alter des Virtuosen ... 2000 begeisterten Zuhörern in seiner Der kleine Mann braucht deswegen Heimatstadt Reims, dem ein Jahr nicht wie andere Wunderkinder vor später Mendelssohn-Bartholdys Vio- dem Älterwerden zu zittern. Seine linkonzert folgte. Kunst kommt ohne Geburtszeugnis Der bekannte französische Kom- aus.“ ponist (1818–1893) Mit diesen Konzerten war das Tor war vom Spiel des Zehnjährigen zu den europäischen Fürsten- und Henri Marteau so begeistert, dass er Herrschaftshöfen und zur internatio- in seine Jubelmesse, die er in Erin- nalen Konzertwelt offen — besonders nerung an Jeanne d‘Arc und die Krö- zur neuen Welt. nung Karl VII. (1492) komponierte, Als Neunzehnjähriger startete er als „musikalisches Hors d‘ceuvre“ 1893 seine erste Amerika-Tournee mit ein Violin-Solo mit Orgelbegleitung 50 Konzerten, der sich gleich eine mit dem Vermerk „meinem kleinen zweite Tournee 1893/94 mit 100 Kon-

CA IV/2011 51 Kultur zerten anschloss. Am 15. Dezember Marteau 1900 einem Ruf an das Con- 1893 spielte Marteau die Erstauffüh- servatoire de Musique de Geneve. rung des Violinkonzerts von Johan- Violinstudenten aus der ganzen Welt nes Brahms in der New Yorker Car- kamen nach Genf, darunter auch negie Hall. Anton Dvorákˇ (1841— sein wohl bester Schüler, der 1904), dessen Symphonie Nr. 9 „Aus Deutsch-Amerikaner Florizel Reuter der neuen Welt“ am gleichen Kon- (1890—1985), der später zwei Genera- zertabend uraufgeführt wurde, war tionen von Geigern in Amerika aus- vom Spiel Marteaus so sehr beein- bilden sollte. In seinem Leben unter- druckt, dass er ihm die Erstauffüh- richtete Marteau über 500 Schüler. rung auch seines Violinkonzertes in In Genf gründete Marteau sein den USA antrug. erstes Streichquartett und eine eige- Es folgten Konzertreisen durch ne Konzertreihe, zu der er Geigenvir- Skandinavien und Osteuropa. tuosen wie , Eugène Über 8500 Konzerte spielte Mar- Ysaÿe und Fritz Kreisler einlud. teau in seinem Leben. Mit seiner In Genf war es auch, dass die an berühmten Geige, die Giovanni Mag- sechs Abenden gespielten 45 Werke gini (1579—1630) aus Brescia gebaut von Mozart für Klavier und Violine hat und auf der Mozart einst seine Marteau den Ruf einbrachten, der Violinkonzerte bei Hofe gespielt ha- beste Mozart-Interpret seiner Zeit zu ben soll — die Geige war im Besitz sein. In dieser Zeit war auch sein von Kaiserin Maria Theresia –, er- Eintreten für das Bach’sche Werk, oberte er die Konzertsäle der Welt. vor allem für die Solo-Violinsonaten, Darunter war auch 1926 ein Konzert beispiellos. Ein Höhepunkt war das in Jerusalem, wo er mit dem Orches- Leipziger Bachfest 1908, bei dem ter aus Tel-Aviv im über 5000 Perso- Marteau mit zwei Sona- nen fassenden Amphitheater auf dem ten sowie die beiden Solosonaten Ölberg Violinkonzerte von Bach, C-Dur und d-Moll von Bach spielte. Mozart und Beethoven spielte. Und am 20. Februar 1933 konzertierte FAMILIENGRÜNDUNG Marteau auch mit dem Organisten Rudolf Zartner in der Anstaltskirche In Genf heiratete Henri Marteau in Neuendettelsau. Das Programm im Jahr 1900 die Deutsche Agnes von enthielt vornehmlich Werke von Ernst. Im Jahr 1903 kam der Sohn, Bach. den die Eltern in Verehrung Bachs Johann Sebastian nannten, zur Welt. BESTER MOZART-INTERPRET Als Jean Marteau wurde er in der französischen Schweiz ein bekannter Als wunderbarer Botschafter der Schriftsteller. Musik war er zugleich Mittler zwi- In zweiter Ehe war Marteau seit schen den Völkern. „Licht senden in 1910 mit der aus Straßburg stammen- die Tiefen des menschlichen Herzens den Deutschen Blanche Hirsekorn ist des Künstlers Beruf.“ Ganz im verheiratet. Die Kinder aus dieser Einklang mit diesen Worten Robert Ehe waren die Töchter Raymonde, Schumanns sah Marteau seine Beru- Marcelle, Blanchette und der Sohn fung. – Bereits mit 26 Jahren folgte Eugen Hendrik. Blanche Marteau hat

Schönweiß 52 CA IV/2011 über ihre Familie und besonders von Bach, Mozart und Beethoven – ausführlich über die glanzvolle Welt- ebenso wie die Werke zeitgenössi- karriere ihres Mannes in ihrem 1971 scher Komponisten, für die er sich erschienen Buch „Henri Marteau vehement einsetzte. Es störte Mar- — Siegeszug einer Geige“ eindrucks- teau nicht, wenn es dabei nicht im- voll berichtet. mer zu einem Kassenerfolg kam. Auf seinen Programmen standen Namen KÖNIGLICH PREUSSISCHER PROFESSOR

Im Jahr 1907 starb der geniale Geiger und Komponist Joseph Joa- chim. Die unangefochtene Hochach- tung, die Joachim zuteil wurde, überstrahlte die ganze zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dieses Geiger- fürsten Vermächtnis war es, Henri Marteau einmal zu seinem Nach- folger an die von ihm gegründete „Königlich-Preußische Hochschule für Musik“ in Berlin zu berufen. Marteau alleine traute er zu, dass der klassische Musikgeist, der nur den Dienst am Werk kennt, weiterge- führt würde. So kam es, dass der Bild: www.violinwettbe- Franzose Marteau 1908 zum könig- wie Carl Nielsen, , werb-marteau.de Wohnhaus lich--preußischen Professor auf Le- Camille Saint Saëns, Cesar Franck, der Familie benszeit ernannt wurde. Leander Schlegel, Christian Sinding, Marteau in Der preußische König und deut- Tor Aulin, Joseph Lauber, Wilhelm Lichtenberg/ sche Kaiser Wilhelm II. (1888—1918) Stenhammer, Karl Fritjof Valentin, Oberfranken – empfing Marteau in Audienz und Johan Svendsen, Edvard Grieg, Lud- heute Internati- sagte zu ihm: „Sie sind mir als Fran- wig Thuille, Cäsar Cui, Friedrich onale Musikbe- zose ebenso willkommen, wenn Sie Gernsheim und Max Reger. Aus der gegnungsstätte mir nur unsere Jugend in dem Geist Reihe dieser Komponisten stammen in Trägerschaft des Bezirks erziehen, der Ihrer weltgültigen mehrere Werke, die Marteau gewid- Oberfranken. Kunst entspricht.“ met sind. Im dreijäh- Die Jahre zwischen 1908 und 1914 rigen Rhyth- gehörten zu den Höhepunkten in MARTEAU UND MAX REGER mus findet der Marteaus künstlerischer Laufbahn. internationale 1910 hatte er 123 Konzertauftritte. 1911 Geigen-Wettbe- Eine besondere Freundschaft, spielte er in Berlin an sechs Aben- werb statt. verband Henri Marteau mit Max den 18 Violinkonzerte mit dem Blüth- Reger (1873—1916). Marteau erkannte nerorchester unter dem Hofkapell- früh die Genialität Regers. So spielte meister . Sein reiches er mit dem weithin noch unbekann- Repertoire enthielt die Werke klassi- ten Komponisten, der auch ein her- scher Violinliteratur — besonders die vorragender Pianist war, rund 40

CA IV/2011 53 Kultur Hüttner war es auch, der Marteau und seine Frau bald darauf in das oberfränkische, an der bayerisch- thüringisch-sächsischen Grenze gele- gene Städtchen Lichtenberg, in dem er ein Ferienhaus — „Villa Klein- Lichtenberg“ – besaß, einlud. Beide waren von der Frankenwald-Land- schaft begeistert. Dazu kam, dass die Wagnerstadt Bayreuth und Weimar, die Stadt Goethes, Schillers, Herders und Liszts, ganz in der Nähe lagen und die Entfernung nach Berlin nicht allzu weit war. Daher kam es dazu, dass Marteau im Jahr 1912 eine Villa in Lichtenberg baute. Sie ist heute „Internationale Musikbegegnungs- stätte“. So wurden der Frankenwald und das Städtchen Lichtenberg zur Wahlheimat der Familie Marteau. Blanche Marteau schrieb später, dass die Landschaft mit Marteaus Schaffen untrennbar verbunden war. „Unendlich Wertvolles ist aus dem

Bild: Bezirk Ofr. Atem der sanften Hügel, der wasser- Das Ölgemäl- Konzerte. Reger widmete dem durchrieselten Täler zu ihm empor- de aus dem Freund neben verschiedenen Kam- gestiegen ... Aus unbewusster Wahl- Jahr 1930 zeigt mermusikwerken sein großes Violin- verwandtschaft fasste er Boden: den Künstler konzert op. 101, das mit Marteau als Herb und kompromisslos wie die Marteau beim Solisten vom Gewandhausorchester Landschaft stand er in ihr wur- Geigenspiel, unter dem berühmten Dirigenten zelnd.“ gemalt von Os- kar Michaelis (1855—1922) im Jahr Marteau stand kompromisslos zu (1872–1946); 1908 in Leipzig uraufgeführt wurde. Max Reger, was u.a. zur Auflösung zu sehen im Die Freundschaft mit Max Reger, des Marteau-Quartetts führte, da sich ehemaligen die an Herzlichkeit und gegenseitiger die Mitspieler weigerten, Regersche Wohnhaus der Begeisterung einmalig im Leben Stücke zu spielen. Mit Fug und Familie in beider war, fand ihren Höhepunkt im Recht kann man sagen: Marteau war Lichtenberg. Jahr 1910, als Marteau für den der unbestrittene Wegbereiter der Freund ein „Max-Reger-Fest“ in damals umstrittenen Musik Regers. Dortmund organisierte und finanziell unterstützte. Die Gesamtleitung hatte ABSTÜRZENDE KARRIERE der mit ihm befreundete Oberfranke (aus Schwarzenbach am Wald) Georg Wie schnell, brutal und fremdbe- Hüttner (1861—1919), der Professor stimmt eine glanzvolle Karriere ab- und Dirigent des Philharmonischen stürzen kann, erlebte Marteau Orchesters in Dortmund war. schmerzlich im Jahr 1914 mit dem

Schönweiß 54 CA IV/2011 Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in machen muss, damit wir genügend dem sich der rigorose Chauvinismus Kohlen im Keller haben?“ jener Zeit voll entlud und das Ver- hältnis zwischen Deutschen und MARTEAU IN LICHTENBERG Franzosen vergiftete. Gerade hatte das für den 1. und 2. Die Lichtenberger Bevölkerung August 1914 von Marteau zugunsten stand allerdings, seit er hier lebte, der Lichtenberger Wohlfahrtseinrich- treu zu Marteau. Das hatte seinen tungen organisierte „Deutsche Kam- Grund auch darin, dass durch seinen mermusikfest“ begonnen, da wurde Zuzug internationales Leben nach am 1. August gegen 20.30 Uhr der Lichtenberg kam. Denn Künstler und Mobilmachungsbefehl bekanntgege- Schüler aus aller Welt folgten ihm ben. Marteau brach das Konzert ab. hierher. So ist in einer Aufzeichnung Obwohl er sich als französischer des Stadtrats vom 4. Juli 1913 zu le- Reserveoffizier ausdrücklich zum sen: „Der hervorragende Künstler ... Deutschen Kaiserreich bekannte, schließt sich mit seiner Familie nicht verlor er seinen Lehrstuhl in Berlin. aus, sondern verkehrt mit der hiesi- Die Professorenkollegen an der gen Bürgerschaft in liebenswürdiger, Hochschule waren der Meinung, dass feinster Weise. Ein Beweis seiner „ihre patriotischen Gefühle es nicht hochherzigen Gesinnung und Teil- zuließen, mit dem feindlichen Aus- nahme an gemeinnützigen Bestre- länder an der gleichen Anstalt zu bungen ist auch der, dass er zuguns- unterrichten.“ ten des ... seit Jahren angestrebten Es folgten schwere Zeiten der Turmbaus auf dem Schlossberg seine Internierung an verschiedenen Orten und seines berühmten Quartetts und die Vertreibung aus Berlin. Eine Kunst in hochanerkennens- und dan- Reihe von Eingaben von Seiten des kenswerter Weise in den Dienst die- Lichtenberger Stadtrats und aus ses unterstützungswürdigen Zweckes Kreisen der Bevölkerung ermöglich- stellt.“ ten schließlich 1917 die Rückkehr In einem Schreiben vom 8. März nach Lichtenberg. Doch stand die 1917 bedankt sich Marteau „mit der Familie von 1917–1918 unter Hausar- Versicherung unwandelbar treuer rest. Täglich musste das Ehepaar und anhänglicher Gesinnung … bei Marteau im Lichtenberger Bürgeramt dem … Magistrat und der Einwohner- zwischen 15 und 16 Uhr erscheinen, schaft der Stadt Lichtenberg für alle um dort seine Präsenz mit Unter- Beweise der Sympathie und Anhäng- schrift nachzuweisen. 700 Mal die lichkeit, die mir und meiner Familie Unterschrift! Für den heutigen Be- bewiesen wurden.“ trachter stumme Zeugen politischer Seinen Dank setzte er auch in die Engstirnigkeit und Intoleranz. Tat um, indem er am 1. Juli 1917 mit Finanziell konnte sich die Familie amtlicher Erlaubnis in der Lichten- nur durch die kärglichen Einnahmen berger Johanneskirche ein geistli- aus dem Privatunterricht über Was- ches Konzert gab, dessen Reinerlös ser halten. Marteau sagte damals zu er der Kirche als Dankopfer für die seiner ältesten Tochter: „Was glaubst freundliche Gesinnung ihm gegen- du, wie viele Auf- und Abstriche ich über zur Verfügung stellte. Im Zu-

CA IV/2011 55 Kultur sammenhang mit diesem Konzert orthodoxen Kirchen ein „De profun- kam von anderswo her ein Plakat in dis“ für 6-stimmigen Männerchor und Umlauf, auf dem stand: „Wer in das zu ihrem Gedächtnis eine „Introduc- Konzert des internierten Franzosen tion und Passacaglia“ für Orgel zu Marteau geht, ist kein Deutscher und komponieren. Marteau war mit Zar verdient keine Achtung.“ Es waren Ferdinand I., der aus dem Hause schmerzliche Erfahrungen, die Mar- Sachsen-Coburg-Koháry stammte und teau machen musste. später bis zu seinem Lebensende in Coburg im Exil lebte, freundschaft- MARTEAU ALS KOMPONIST lich verbunden. Eine der wenigen Verbindungen In dieser schweren Zeit war für zur Außenwelt in dieser schweren Marteau die Komposition die große Zeit war für Marteau die zu Rektor Trösterin. Als Ersatz für die unter- Hans Dannhorn, der auch Organist bundene Konzerttätigkeit goss Mar- und Chorleiter an der Lichtenberger teau seine reiche Gedankenwelt in Johanneskirche war. Dieser befähig- die Form musikalischer Werke. In- te Kirchenmusiker spielte alle in mitten einer lärmenden Umgebung dieser Zeit entstandenen Orgelwerke war Marteau im Stande zu komponie- als Erster mit dem Komponisten an ren. So entstand in dieser Zeit sein der Lichtenberger Orgel durch. Für Violinkonzert C-Dur op. 18 mit dem die großen Orgelwerke war der ge- Adagio „In memoriam“. Damit ge- bürtige Lichtenberger und in Köln dachte Marteau seiner verstorbenen tätige Organist Hans Lampen der Freunde Tor Aulin (1866–1913) ideale Interpret. — Geiger, Komponist und Dirigent – Für die Chöre der Johanneskirche und Leander Schlegel (1844–1913) in Lichtenberg schrieb Marteau für — Komponist und Pianist. die hohen Festtage der Kirche – Kar- In einem Brief an Otto Leßmann freitag, Ostern, Pfingsten und Weih- (1844–1918), dem Musikschriftsteller nachten – „Geistliche Gesänge“ für und -kritiker und Herausgeber der Männerchor, Kinder- oder Frauen- „Allgemeinen Musikzeitung“, chor. Im Jahr 1927 vertonte er das schreibt Marteau am 3. April 1918: „Vater unser“ für gemischten Chor „Alle diese Werke sind einem und Solosopran. Marteaus komposi- mächtigen inneren Trieb zufolge torisches Schaffen erstreckt sich in entstanden. Alle Kraft, welche ich der Kirchenmusik auf reiche Orgel- ehemals der reproduzierenden Kunst und Gesangswerke. widmete, hat sich in diesen anderen Auffällig dabei ist, dass seine Zweig niedergeschlagen. Ich bin wie Kompositionen Elemente des rö- ein Baum, dem ein böses Unwetter misch-katholischen Glaubens, in dem die Krone brach. Nur ein bis dahin er aufgewachsen war, und Elemente wenig kräftiger Zweig blieb erhalten des evangelisch-lutherischen Glau- und treibt deshalb ungestüm und bens, zu dem er sich seit seiner zwei- versucht eine neue Krone zu bilden.“ ten Eheschließung bekannte, enthal- Der Tod der Königin Eleonora von ten. Marteau bewies damit sowohl Bulgarien 1917 veranlasste Marteau seine Überzeugung als Christ als für die Trauergottesdienste in den auch seine Verbundenheit mit der

Schönweiß 56 CA IV/2011 Lichtenberger Kirchengemeinde, zu IDEALIST MIT GROSSEM HERZ deren Kirche er seinen eigenen Schlüssel hatte. Für sie gab er Bene- Wer sich mit Marteaus Leben be- fizkonzerte und auch der sonntägli- schäftigt, der nimmt wahr, dass der che Kirchgang mit der Familie war Künstler ein mit allen Kräften helfen- selbstverständlich. der Mensch war. Dabei hatte Mar- Marteaus Tochter Raymonde er- teau in finanzieller Hinsicht nach zählte unter anderem: Meinung seiner Frau Blanche oft Zu Zeiten Marteaus lebte in Lich- nicht das rechte Augenmaß. Das tenberg ein Mädchen, das eine Be- machte sie mit seinem Einverständ- hinderung hatte, das sog. Down-Syn- nis zum „Finanzminister“ der Fami- drom, weshalb es seine Eltern aus lie. Dennoch schrieb sie einmal, wohl Scham nicht auf die Straße ließen. mehr anerkennend als tadelnd: Davon wusste Marteau. Wenn er in „Geldangelegenheiten waren ihm von Lichtenberg war, holte er es von zu jeher ein Gräuel. Er war Idealist im Hause ab und ging mit ihm demons- höchsten, edelsten Sinne. Er gab trativ durch die Stadt spazieren. Ein gerne und aus gutem Herzen.“ wunderbares, ergreifendes Beispiel Nachdem sich Marteau vergeblich von Marteaus Wertschätzung jegli- um die deutsche Staatsbürgerschaft chen Lebens und ein Vorbild ohne bemüht hatte, verlieh König Gustaf V. Worte für die Lichtenberger Bürger: von Schweden dem in Deutschland der große weltberühmte Geiger und gedemütigten weltberühmten Geiger das behinderte Kind! aufgrund seiner großen Verdienste

Bild: www.violinwettbe- werb-marteau.de Die Hofer Symphoniker – engagiert im Internationalen Henri Marteau Geigen-Wettbe- werb.

CA IV/2011 57 Kultur um das schwedische Musikleben im winnt bis an sein Lebensende immer Jahr 1920 die schwedische Staatsbür- mehr an Bedeutung. Auch als Violin- gerschaft. Der schwedische Monarch: pädagoge tritt er wieder in Erschei- „Es ist eine Freude und Ehre für nung. Er übernimmt Lehraufträge in Schweden, einen Mann Ihrer Bedeu- Prag, Leipzig und Dresden und un- tung, der uns jahrzehntelang Zeichen terrichtet Schüler aus aller Welt in seiner Verbundenheit gab, zu den seinem Haus in Lichtenberg, wo er Unseren zählen zu dürfen. Seien Sie sie gastfreundlich aufnimmt. Die uns herzlich willkommen.“ völkerverbindende Kraft der Musik erlebbar zu machen und begabte junge Musiker zu fördern, war ihm ein Herzensanliegen. Am 31. März 1934 beging Henri Marteau seinen 60. Geburtstag, mit dem er gleichzeitig sein 50-jähriges Künstlerjubiläum feiern konnte. Groß war die Zahl der Gratulanten, darunter die Berliner, Wiener und Münchner Philharmoniker, die War- schauer und die Tschechische Phil- harmonie, , Bruno Walter, Hans Knappertsbusch, Otto Klemperer u.a.m. Auf dem Gratula- tionsbuch mit den vielen Zeichen der

Bild: www.violinwettbe- Verehrung standen die Worte: werb-marteau.de Seitdem hing vor seinem Haus in „Henri Marteau, dem großen Gedenktafel für Lichtenberg die schwedische Flagge. Künstler und Menschen. Die du in den Ehrenbür- ger der Stadt Im Jahr 1934 verlieh König Gustaf V. deinen Kreis gebannt, die reichen dir Lichtenberg/ Marteau noch den höchsten Ordens- im Geist die Hand.“ Ofr. Henri rang des Landes, den eines „Kom- Alle Marteau zuteil gewordenen Marteau. mandeurs des Nordstern-Ordens“. Ehrungen, zu denen auch die Verlei- hung der Ehrenbürgerschaft der VÖLKERVERBINDENDE MUSIK Stadt Lichtenberg gehörte, waren eine ungeahnte letzte Verneigung vor Marteau unternahm nun wieder dem großen Künstler und Menschen, Konzertreisen, meistens in skandina- der noch im gleichen Jahr, am 4. vische und osteuropäische Länder. In Oktober 1934, in seinem Haus in Deutschland konzertierte Marteau, Lichtenberg starb. Eine an Zunei- seit es bei einem Auftritt in München gung und Anerkennung, aber auch im Jahr 1922 zu einem Tumult ge- an Kämpfen und Enttäuschungen kommen war, nur noch selten. reiches Leben ging damit zu Ende. Marteau wendet sich nun noch Die Welt verlor mit Henri Marteau mehr dem kompositorischen Schaf- eine Künstlerpersönlichkeit, die ge- fen zu. Seine Tätigkeit als Heraus- prägt war von hoher Geistigkeit, von geber der klassischen Violinliteratur tiefer Religiosität und Menschenlie- bei bekannten Musikverlagen ge- be, von unerschütterlicher Standhaf-

Schönweiß 58 CA IV/2011 tigkeit, von einem großen Verlangen deine Geduld (Offenbarung 2,19). nach völkerübergreifender Versöh- Die Urne wurde im Park seines Hau- nung und einem aufrichtigen Ringen ses beigesetzt. Auf der Grabplatte um die innere Wahrheit jeglichen aus heimischem Marmor stehen nur Tuns. sein Name und die Jahreszahlen, die Bei der Trauerfeier wurde sein sein irdisches Dasein begrenzen, gelebtes Leben dem anvertraut, der HENRI MARTEAU 1874 — 1934, da spricht: Ich kenne deine Werke ein Name, der ein Vermächtnis in und deine Liebe und deinen sich birgt, das zu tätigem Gedenken Dienst und deinen Glauben und aufruft. l

Musikbegegnungsstätte Haus Marteau e.V.

Der „Freundeskreis der Musikbegegnungsstätte Haus Marteau e.V.“, der 1984, ein Jahr nach der Eröffnung der Musikbegegnungsstätte gegründet wurde und seitdem durch all die Jahre begabte und bedürftige Teilnehmer an den Meisterkursen mit seinen Mitgliedsbeiträgen unterstützt, rief 2002 den „Internationalen Henri Marteau Violin- wettbewerb“ ins Leben, der alle drei Jahre statt- findet, um den weithin in Vergessenheit geratenen großen Geiger Henri Marteau, sein Leben und Wirken wieder weltweit bekannt zu machen. – Seit 2008 wurde der Wettbewerb dem Bezirk Oberfranken als Träger und den „Hofer Symphonikern“, die für die Or- ganisation zuständig sind, übertragen. Mit der Gründung des Wettbe- werbs konnte der „Freundeskreis“ mit dazu beitragen, das Versprechen, das Marteau im Dankschreiben an den Lichtenberger Stadtrat vom 30. April 1934 für die ihm verliehene Ehrenbürgerwürde gegeben hat, jedoch selbst nicht mehr erfüllen konnte, einzulösen: „Es wird mir eine Freude sein, mit beitragen zu dürfen, der Stadt Lichtenberg zu weiterem Glanz und Ansehen zu verhelfen. Das walte Gott. Henri Marteau.“ Dass alle Veranstaltungen an historischen Stätten in Lichtenberg statt- finden konnten — in seinem Haus, in dem er lebte, unterrichtete und komponierte, und in der Kirche, in der er einst selbst viele Konzerte spielte und hörte, bekundet, dass Vergangenes nicht Vergangenheit zu sein braucht, sondern erfahrbar ist auch in der Gegenwart — erfahrbar auch als Einheit von Kunst und christlichem Glauben. Literatur  Blanche Marteau, Henri Marteau – Siegeszug einer Geige (1971)  Günther Weiß, Der große Geiger Henri Marteau. Ein Künstlerschicksal in Europa (2002)

CA IV/2011 59 Kultur Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Zeitschrift: CA - Confessio Augustana Das Lutherische Magazin für Religion, Gesellschaft und Kultur

Der dreieinige Gott wird Mensch

Heft 4 / 2011

CA wird herausgegeben von der Gesellschaft für Innere und Äußere Mission im Sinne der lutherischen Kirche e.V. http://www.gesellschaft-fuer-mission.de Weitere Artikel stehen unter http://confessio-augustana.info zum Herunterladen bereit.

Gesellschaft für Innere und Äußere Mission im Sinne der lutherischen Kirche e.V. Missionsstraße 3 91564 Neuendettelsau Tel.: 09874-68934-0 E-Mail.: [email protected]