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aktuelle ostinformationen

ao Ereignisse und Entwicklungen

33. Jahrgang ISSN 0939-3099 3/4 2001 AUS DEM INHALT

BEITRÄGE

ACHT EU-BEITRITTSKANDIDATEN IM PORTRAIT

EU-WACKELKANDIDATEN? REGIERUNGSKRISEN IN LITAUEN, SLOWAKEI, UNGARN

UKRAINE UND EUROPA

ANDRZEJ SZCZYPIORSKI UND EUROPA

FORUM „JUNGES EUROPA“ Bulgarien, Ukraine, Polen/New York

BERICHTE

Deutsch-polnische Nachbarschaft neu erlebt Jedwabne – gegen das Vergessen Auschwitz-Zeitzeuge Kazimierz Smolen Vlothos Fenster nach „Osten“: Lettland, Slowakei

© Steidl, Göttingen

GROSSER REZENSIONSTEIL

GESAMTEUROPÄISCHES STUDIENWERK e.V.

Impressum

Liebe Leserinnen und Leser, in der vorliegenden Ausgabe unserer „aktuellen ostinformationen“ informieren wir Sie zunächst durch knappe Länderportraits über die aktuelle wirtschaftliche, politische und soziale Situation einiger Beitritts-länder. Damit wollen wir auch denjenigen unter unseren Leserinnen und Lesern, die nur über ein knappes Zeitdeputat verfügen, die Möglichkeit bieten, s ich einen kurzen Überblick zu verschaffen. Zugleich sind die Texte als Materialien für den Unterricht gedacht. Ausführlicher befassen wir uns alsdann mit den Regierungskrisen in Litauen, Ungarn und der Slowakei sowie der Entwicklung in der Ukraine. Dem deutsch-polnisch-jüdischen Verhältnis ist ein Be itrag zum Europaverständnis des vor gut einem Jahr verstorbenen Schriftstellers gewidmet. Exklusiv mit dem polnisch- jüdischen Ver-hältnis befasst sich die Dokumentation zum polnischen Historikerstreit um das Massaker von Jedwabne, in der die zentrale Frage nach der Verantwortung für die historische Wahrheit aufgeworfen wird. In unseren Berichten blicken wir unter anderem auf zwei Veranstaltungen zurück, die für das Studienwerk – hinsichtlich der Zielgruppe und im Hinblick auf den Referenten einen innovativen Charakter hatten. Zum einen handelt es sich dabei um ein deutsch-polnisches Begegnungsseminar mit geistig behinderten Jugendlichen und zum andern um ein Zeitzeugengespräch mit dem ehemaligen Auschwitz-Häf tling Kazimierz Smolen. Es ist kein Zufall, dass in diesem Heft vermehrt Themen berührt werden, die mit der Judenverfolgung und dem Holocaust in Verbindung stehen. Diese Fragen sind in letzter Zeit verstärkt in unseren Seminaren behandelt worden. Damit reagieren wir auf die in ganz Europa und besonders auch in Deutschland auf-keimenden nationalistischen und rassistischen Tendenzen, die in der Jugendszene bekanntlich eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Wir planen deshalb auch für das nächste Jahr eine ganze Reihe von Seminar-einheiten, in denen wir uns noch intensiver mit der Verbreitung von Rechtsextremismus und Rassismus in den Medien – und natürlich auch im Internet – beschäftigen werden. Mit einem unserer Titelbilder knüpfen wir an diese Thematik an. Es stammt a us dem in diesem Ja hr veröffentlichten Bildband mit Fotografien von Heinrich Jöst, das wir mit freundlicher Genehmigung des Steidl Verlags abdrucken. Mit einer statistischen Auswertung unserer Homepage-Zugriffe stellt sich schließlich unser neuer Mitar-beiter Jörg Stemmer vor.

Zbigniew Wilkiewicz

Jahresabonnement „aktuelle ostinformationen”: DM 12,00 (inkl. Porto) Einzelheft: DM 5,00 (zzgl. Porto) Wir bitten Sie, den Abonnementsbetrag für die „aktuellen ostinformationen” auf folgendes Konto zu überweisen: Postbank NL Hannover (BLZ 25010030), Konto-Nr. 177400305 Diese Publikation wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bezuschusst.

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Inhaltsverzeichnis

Beiträge Gerhard Schüsselbauer, Zbigniew Wilkiewicz, Michael Walter: Beitrittskandidaten auf dem Prüfstand...... 2 Michael Walter: Wackelkandidaten? Innenpolitische Turbulenzen in EU-Anwärterstaaten...... 11 Gerhard Schüsselbauer: Die Ukraine im Jahr 2001 – auf dem Weg nach Europa?...... 26 Zbigniew Wilkiewicz: Andrzej Szczypiorski und Europa...... 33

O-Ton: Forum „Junges Europa“ Jana Teneva: Die Wahlen in Bulgarien...... 50 Anja Pogrebna: Junge Ukrainer über Europa...... 51 Eryk Krysztofiak: „Kosmo-Pole“ - ein amerikanischer Traum...... 54

Berichte Gerhard Schüsselbauer, Jörg Stemmer: Nachbarschaft neu erlebt. Begegnung junger Menschen mit Behinderungen...... 56 Zbigniew Wilkiewicz: Jedwabne, der polnische Historikerstreit und der polnisch-jüdische Dialog...... 58 Michael Walter: Wider das Vergessen. Der Auschwitz-Überlebende Kazimierz Smolen berichtet über den Nazi-Terror im Konzentrationslager...... 70 Europa auf die Füße stellen - eine Kleinstadt blickt nach Osten Schulpartnerschaft des Weser-Gymnasiums Vlotho mit dem Gymnasium Agenskalns Riga...... 72 Walter Bätz: Viele Wege führen nach Oste n...... 74

Rezensionen Gerhard Schüsselbauer: Zeitgenössische europäische Literatur...... 77 Gerhard Schüsselbauer: Kafka – Zeitschrift für Mitteleuropa...... 81 Zbigniew Wilkiewicz: Deutscher und polnischer Nationalismus. Der deutsche Ostmarken-Verein und die polnische Straz...... 84 Zbigniew Wilkiewicz: Albert S. Kotowski, Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit...... 87 Zbigniew Wilkiewicz: Günther Schwaberg, Im Ghetto von Warschau. Heinrich Jösts Fotografien...... 89 Zbigniew Wilkiewicz: Andrew A. Michta, America’s New Allies. , Hungary, and the in NATO…………………...……….….91 Zbigniew Wilkiewicz: Lena Kolarska-Bobinska, Cztery ref ormy. Od Koncepcji do realizacji……………………………….………...……………..…92 Gerhard Schüsselbauer: Klaus Müller, Postsozialistische Krisen…...... …………...... 96

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Gerhard Schüsselbauer, Zbigniew nach den gewonnenen Parlamentswahlen auch Wilkiewicz, Michael Walter an einer reformorientierten Wirtschaftspolitik festhalten wird. Ebenso sind die politischen Beitrittskandidaten auf dem und wirtschaftlichen Eliten Polens, ob sie nun Prüfstand linker oder rechter Provenienz sind, dezidiert NATO- und EU-freundlich. Hingegen hat die Für das Dozententeam des GESW bilden die EU-Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung Entwicklungen in den EU-Beitrittsländern eine abgenommen. Von einer überwältigenden Kernfrage der politischen Bildungsarbeit vor Mehrheit kann nicht mehr die Rede sein; in dem Hintergrund der europäischen Einigung. 2001 waren es nur noch knapp über 50 Prozent Aus aktuellem Anlass untersuchen wir den der Polen, die sich uneingeschränkt für den Stand des Beitrittsprozesses sowie die politi- EU-Beitritt aussprachen. Ein Ausdruck dieser schen, wirtschaftlichen und rechtlichen Ent- Situation ist auch, dass sich die Beitritts- wicklungen in acht mittel- und osteuropäischen verhandlungen in Brüssel länger hinziehen a ls Kandidatenländern. mit anderen ostmitteleuropäischen Beitritts- aspiranten. Weiterhin problematisch bleiben Polen auch die unterschiedlichen Vorstellungen hin- sichtlich der Länge der Übergangsfristen in Die se it Herbst 1997 regierende Mitte-Rechts- den Bereichen Arbeitskräfte, Landwirtschaft, Regierung mit dem Ministerpräsidenten Jerzy Umweltschutz und Bodenerwerb. Insofern Buzek an der Spitze hat vier grundlegende muss der einstige Spitzenreiter Polen nunmehr Reformen (Verwa ltung, Bildung, Renten und fürchten, nicht mehr zur Gruppe jener Beitritts- Gesundheit) in Angriff genommen. Diese kandidaten zu gehören, die als erste in die EU waren zwar unerlässlich, ihre Vorbereitung aufgenommen werden. und Umsetzung wies allerdings gravierende Die wirtschaftliche Situation in dem Transfor- Mängel auf. Dies hat unter anderem dazu mationsland Polen, das in den 1990er Jahren geführt, dass die liberale Freiheitsunion die sehr hohe Wachstumswerte im Bereich des Regierung im Frühjahr 2000 verließ und die BIP (5 bis 7 %) erreichte, ist trotz aller Erfolge konservative Wahlaktion „Solidarität“ das als schwierig zu bewerten. Ähnlich wie in Land seither als Minderheitsregierung weiter anderen europäischen Staaten kam es in den führen musste. Die im Frühjahr und Sommer Jahren 2000/2001 zu einem konjunkturellen des Jahres 2001 erfolgten Entlassungen Abschwung; das Wirtschaftswachstum fiel mehrerer unfähiger oder der Korruption geringer aus (2 bis 3 %) als erwartet. Dagegen verdächtigter Minister dem Ansehen der wurden die Ungleichgewichte hinsichtlich der Regierung von Jerzy Buzek zusätzlich gescha- Leistungs- und Handelsbilanz immer größer. det. Die Wahlprognosen für den September Aufgrund der weiterhin recht schwachen 2001 gehen deshalb fast einhellig davon aus, Konkurrenzfähigkeit polnischer Produkte auf dass die Linke, bestehend aus dem Linken dem EU-Markt konnte sich der polnische Wahlbündnis und der Arbeitspartei, die Parla- Export nicht entfalten und die Handelsbilanz mentswahlen überlegen gewinnen wird. Sie fiel entsprechend unausgeglichen aus. Dabei wird von all jenen gewählt werden, die sich als wird die weiterhin bestehende Binnenmarkt- Verlierer des Transformationsprozesses orientierung und Exportschwäche der verstehen, und dazu zählen neben den polnischen Volkswirtschaft für das sich Langzeitarbeitslosen, den Landwirten und abschwächende Wirtschaftswachstum verant- Industriearbeitern durchaus auch staatlich wortlich gemacht. Insofern hofft man weiterhin Bedienstete und Angehörige freier Berufe. auf das Engagement ausländischer Kapital- Dabei ist davon auszugehen, dass die Linke anleger, die durch Direktinvestitionen nicht nur

3 für eine notwendige Kapitalausstattung export- jahrelangen demagogischen Führer József orientierter Betriebe sorgen, sondern ebenfalls Torgyán, dass der eingeschlagene Kurs der nachhaltig zu deren Modernisierung beitragen Integration unumkehrbar ist. Bedenklich können. Aufgrund der notwendigen erscheint in der momentanen politischen La nd- Umstrukturierung und Privatisierung großer schaft, dass die nationalistisch und Staatsbetriebe, vor allem in der Montan- antisemitisch orientierte Partei des Rechts- industrie, ist es a llerdings in den letzten beiden populisten Csurka (MIÉP) auf Massenver- Jahren zu einem starken Anstieg der anstaltungen immer wieder in der Lage ist, Arbeitslosigkeit gekommen, die momentan auch eine Vielzahl junger Menschen landeswe it bei etwa 16 % liegt. Da wir es in anzusprechen. den nächsten Jahren in Polen mit Heftige Kritik entzündet sich gegenwärtig an geburtenstarken Jahrgängen zu tun haben der Haltung der ungarischen Regierung, das werden, die auf den Arbeitsmarkt drängen, und Statusgesetz bezüglich der Behandlung der es in etlichen Branchen notwendige Moderni- ungarischen Minderheiten in den Nachbar- sierungs- und Anpassungsanstrengungen geben ländern Ungarns umzusetzen. Aufgrund einer wird, bleibt dieses Problem weiterhin akut. In so entstehenden „positiven Diskriminierung“ diesem Zusammenhang ist auch die besonders von ethnischen Ungarn wittert vor allem die in Deutschland kontrovers geführte Debatte rumänische Regierung, aber auch die über die Freizügigkeit von (polnischen) Slowakei, eine Ungleichbehandlung unter Arbeitskräften und die Forderung nach ent- ihren Staatsbürgern. Die schwierige staats- sprechend langen Übergangsfristen nach dem rechtliche Materie dürfte auch bei den EU- EU-Beitritt Polens zu sehen. Verhandlungen noch manches Kopfzerbrechen bereiten. Im Hinblick auf die im Frühjahr 2002 Ungarn anstehenden Wahlen zeichnen sich neben den üblichen parteipolitischen Gefechten auch Auseinandersetzungen über die Garantie der Ungarn als mitteleuropäischer EU-Beitritts- inneren Sicherheit ab. Besorgnis erregen in der kandidat gehört aufgrund seiner politischen ungarischen Bevölkerung immer wieder Reife, wirtschaftlichen Stabilität und enormer Diskussionen über die Bekämpfung der Fortschritte in der rechtlichen Angleichung organisierten Kriminalität und der Korruption. zweifellos zu den Ländern, die in der ersten Welche Koalition das Land ab dem nächsten Welle in die Union aufgenommen werden. Jahr regieren wird, bleibt ungewiss, da sich ein Allerdings trüben Versäumnisse im Justiz- Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem am- wesen und in der Angleichung an EU- tierenden Ministerpräsidenten Orbán und dem Standards in der Abfa llwirtschaft das Bild der Herausforderer, dem von der Ungarischen Harmonisierung nachhaltig. Sozialistischen Partei (MSZP) unterstützten Wie die bis 1998 regierende, von den Sozialis- parteilosen Kandidaten Peter Medgyessy ten und dem Bund der Freidemokraten abzeichnet. gebildete Koalition Gyula Horns, hält auch die Seit der Verabschiedung und Umsetzung eines momentane Regierungskoalition des dynami- umfassenden wirtschaftspolitischen Konsoli- schen Viktor Orbán unvermindert am Integra- dierungsprogramms Mitte der 1990er Jahre tionstempo und dem Willen fest, spätestens bis weist Ungarn permanent hohe reale 2004 Vollmitglied zu werden. Der Abschluss Wachstumsraten zwischen 4 und 6 % BIP- von bislang 22 der insgesamt 31 zu Wachstum pro Jahr auf. Der Zustrom an verhandelnden Kapitel zeigt trotz der innen- ausländischen Direktinvestitionen ist unge- politischen Querelen um den Koalitionspartner brochen, auch wenn die lukrativsten Priva- der Partei der Kleinlandwirte und dessen tisierungsobjekte bereits veräußert wurden.

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Wohl in keinem der mittel- und osteuro- Tschechische Republik päischen Transformationsländer ist der Strukturwandel derart sichtbar wie in Ungarn. Tschechien als demokratisches und Shopping-Malls und Multiplexkinos prägen marktwirtschaftliches Kernland Mitteleuropas das Bild der Ha uptstadt Budapest, während die zeigt bei den Fortschritten zur EU-Mitglied- östlichen Landesteile mit enormen struk- schaft ein ambivalentes Gesicht. Obwohl turellen und regionalen Defiziten sowie eine bereits 19 Kapitel abgeschlossen sind und die Arbeitslosenrate über mancherorts über 20 % politische Stabilität sowie die marktwirt- kämpfen. Auch wenn die Ungarn auf den schaftlichen Reformen gelobt werden, stocken Erfolg der traditionellen ungarischen notwendige Umgestaltungen der öffentlichen Erzeugnisse wie Salami und Tokajer nach w ie Verwaltung und der Justiz. Dies führt in vor stolz sind, sind Audi-TT-Coupé, Philips- Brüssel regelmäßig zu Verzögerungen der Videorecorder, Nokia-Mobiltelefone und IBM- Verhandlungen. Darüber hinaus belasten der Computerteile die typischen ungarischen Dauerstreit über das Atomkraftwerk Temelin Produkte von heute. und die Auseinandersetzung über die Beneš- Zum wirtschaftlichen Aufschwung tragen auch Dekrete über die Vertreibung der Sudeten- die hohen Zuwächse bei den Einnahmen aus deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg die der Tourismusbranche bei. Ungarn findet sich Beziehungen Tschechiens mit seinen EU- bei den weltweit beliebtesten Tourismuszielen Nachbarländern, insbesondere mit Deutsch- immerhin unter den zehn bestplatzierten land. Ländern. Sorge bereitet die unverhindert hohe Inflation, die sich aufgrund des hohen Die politische Landschaft der Tschechischen Wachstumstempos und der gestiegenen Real- Republik ist seit 1998 durch eine schwierige löhne nicht ohne Weiteres in die Nähe des Konstellation charakterisiert. Nach dem Maastrichter Konvergenzkriteriums drücken Scheitern der Koalitionsverhandlungen im Juni lässt. Mit der Einhaltung eines strikten 1998 bildete der Vorsitzende der Sozialdemo- wirtschaftspolitischen Kurses in der Finanz- kraten (CSSD), Miloš Zeman, eine von Vaclav und Geldpolitik möchte Ungarn jedoch in Klaus und dessen Bürgerlich-Demokratischer wenigen Jahren nach Aufnahme in die EU Partei (ODS) gebilligte Minderheitsregierung, dafür sorgen, dass die strengen Kriterien zur deren Stabilität durch den sogenannten Übernahme des Euro erfüllt werden können. Oppositionsvertrag gewährleistet ist: Die ODS Obwohl der Großteil der ungarischen Bevöl- sicherte zu, kein Misstrauensvotum gegen die kerung eine zügige Integration in die Union Sozialdemokraten zu unterstützen, im Gegen- befürwortet, ist zunehmende Reserviertheit zug bekam sie den Vorsitz in beiden Parla- über den Kurs der EU deutlich s pürbar, zumal mentskammern und in den wichtigsten die Pläne zur Einschränkung der Arbeit- Ausschüssen. Durch dieses Stillhalteab- nehmerfreizügigkeit seitens der EU auf großes kommen konnte die Funktionsfähigkeit der Unverständnis stoßen. Ein größeres Migra- legislativen und exekutiven Ebenen einiger- tionspotenzial muss aufgrund der eigenen maßen gewährleistet werden. Zur großen wirtschaftlichen Entwicklung und des sektoral Integrationsfigur in der Frage der EU- auftretenden Arbeits- und Fachkräftemangels Erweiterung, aber auch zum Gegenspieler der ohnehin nicht befürchtet werden. Regierung avanciert immer wieder Staatspräsi- dent Vaclav Havel, der im Februar 1998 erneut Hausherr auf der Prager Burg wurde. Zugleich steigen die Chancen der oppositionellen Viererkoalition, nac h der nächsten Parlaments-

5 wahl die Regierungsverantwortung zu über- bislang keine Untersuchung Hinweise auf nehmen. einen drohenden Ansturm tschechischer In den 1990er Jahren galt die Tschechische Arbeiter. Republik als Musterknabe unter den Trans- Beinahe traditionell ist die Distanz der formationsstaaten, bis dann in den Jahren 1997 tschechischen Bevölkerung gegenüber einer und 1998 die Wirtschaft von einer schweren schnellen Integration in die Union. Seit Rezession getroffen wurde, deren Auswir- Oktober 2000 fiel die Zahl der Beitritts- kungen auch heute noch spürbar sind. Befürworter von 48 auf 40 %, während die Während die Arbeitslosenrate lange Zeit Zahl der Gegner von 15 auf 22 % anstieg. Die niedrig lag, stieg sie im Gefolge der Krise auf Umfragen sind ein wichtiger Fingerzeig, da in mittlerweile 8 bis 9 % an. Im letzten Jahr Prag ein Refere ndum über die für 2004 errichte zwar das reale Wachstum des BIP angestrebte EU-Mitgliedschaft entscheidet. wieder zufrieden stellende 3 %, der Abstand Obwohl Tschechien zwar im Herzen Europas zum Durchschnitt des Pro-Kopf-Einkommens liegt, befindet es sich eher am Rande des EU- der EU-Länder bleibt aber weiterhin Interesses. Dass sowohl für die meisten signifikant. Die amtierende Regierung Tschechen, als auch für die EU die verabschiedete unlängst ein bereits früher Erweiterung eher eine Vernunftehe als eine vorgestelltes, interventionistisches Programm Liebeshochzeit ist, hat man in Tschechien zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums. längst verstanden. Eine Ablehnung Tschechi- Ob damit allerdings e ine Eindämmung der aus ens seitens der EU oder ein Scheitern der dem Ruder laufenden Defizite des Staatshaus- Volksbefragung gilt trotz der weit verbreiteten halts und der Leistungsbilanz erzielt werden Skepsis als ausgeschlossen. kann, ist mehr als fraglich. Erfreulich präsentierte sich im vergangenen Jahr die Slowenien Handelsentwicklung, insbesondere mit den EU-Staaten. Ein fulminantes Export- und Slowenien gilt mit Recht als "Musterländle" unter den EU-Beitrittskandidaten. Seit der Importwachstum von über 18 % spiegelt die Unabhängigkeitserklärung 1991 hat sich eine verstärkte Integration der tschechischen Wirtschaft in den europäischen Kernraum stabile Demokratie entwickelt. Die politischen wider. Mit der Einhaltung eines strikten geld- Institutionen entsprechen dem westlichen politischen Kurses möchte Tschechien schon Muster, doch ist das Parteiensystem noch wenige Jahren nach Aufnahme in die EU die immer instabil. Seit dem Zerfall der Samm- lungsbewegung DEMOS entstand ein strengen Kriterien zur Übernahme des Euro Multiparteiensystem aus den "Frühlings- erfüllen. parteien" der früheren Opposition auf der einen Die Vorbehalte der Unionsländer in der Frage und Zusammenschlüssen ehemaliger Kommu- der Beschäftigungsfreiheit für die Be itrittskan- nisten auf der anderen Seite. Eine Neuge- didaten verstärken die ohnehin bestehende wichtung der Kräfteverhältnisse zu Gunsten Zurückhaltung der Tschechen. Als einziges des rechten Lagers brachte im April 2000 die Beitrittsland drohte Tschechien mit dem Fusion der Volkspartei mit den Christdemo- Abbruch der Verhandlungen über das kraten zur Slowenischen Volkspartei entsprechende Kapitel. Befürchtungen, dass (SLS+SKD). Als nunmehr stärkster Fraktion nach dem Beitritt eine Völkerwanderung über gelang es der SLS+SKD, gemeinsam mit den die deutsch-tschechische Grenze einsetzen rechtsgerichteten Sozialdemokraten Minister- könnte, sind jedoch schon allein aufgrund der präsident Janez Drnovsek durch ein Tatsache zu entkräften, dass die deutsche Misstrauensvotum zu stürzen und die von den Greencard-Offensive tschechische Fachkräfte nicht massiv abwerben konnte. Zudem brachte

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Liberaldemokraten (LDS) geführte Koalition Dennoch könnte das Land bereits mit dem abzulösen. Beitritt zum Nettozahler in den EU-Haushalt Als entscheidendes Hindernis für die Stabili- werden. sierung der neuen Regierung unter Andrej Seit Beginn der Beitrittsverhandlungen konnte Bajuk erwies sich jedoch die seit längerem Slowenien 20 Kapitel vorläufig abschließen, diskutierte Frage des Wahlrechts. Während die darunter als erster Staat das schwierige Sozialdemokraten auf der Einführung des Umweltkapitel. Die Rechtsangleichung ist Mehrheitswahlrechts bestanden, hielt die trotz Defiziten in der Reform der öffentlichen Volkspartei am Verhältniswahlrecht fest. Im Verwaltung und des Justizwesens weit fortge- Verlauf des Konflikts gaben Premier Bajuk schritten und selbst der in der Region recht und Außenminister Peterle ihre Parteibücher konfliktträchtige Umgang mit ethnischen zurück und gründeten eine weitere Partei. Minderheiten ist in Slowenien geradezu Angesichts des Trauerspiels, das die Mitte- vorbildlich. Nicht zuletzt deshalb bescheinigte Rechts-Koalition bot, kehrten die Liberal- EU-Kommissar Verheugen den Slowenen, sie demokraten nur ein halbes Jahr später mit befänden sich in der "besten Startposition" für einem triumphalen Wahlergebnis an die Macht den Beitritt. Dementsprechend selbstbewusst zurück. Janez Drnovsek gelang es, mit gibt sich die Laibacher Führung. So warf taktischem Geschick eine große Koalition aus Präsident Kucan der EU vor, sie nehme postkommunistischen und bürgerlichen Probleme anderer Kandidaten als Vorwand, Parteien zu zimmern. Mit dieser Regierung, ihre eigenen Reformen hinauszuzögern. mithin der vierten unter seiner Führung, Slowenien jedenfalls sei bereit, der Union verfügt der Premier über eine komfortable Ende des Jahres 2002 beizutreten. Dieser Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Selbst bei Wunsch findet Zustimmung bei rund 60 % der einer Koalitionskrise darf die LDS auf die Bevölkerung. Zugleich sind Ängste verbreitet, Unterstützung von Teilen der Opposition ein Be itritt könne zum Ausverkauf des Landes zählen. In den wichtigsten außenpolitischen führen, insbesondere bei Agrarflächen. Für Zielen, den Beitritten zur Nato und zur EU, große Verärgerung sorgte die von der EU besteht ohnehin breiter Konsens. geforderte siebenjährige Übergangsfrist für die Von einer insgesamt erfolgreichen Transfor- Freizügigkeit der Arbeitnehmer. In der Tat ist mation zeugen die makroökonomischen Daten. die Migrationsbereitschaft der 1,9 Millionen Das BIP pro Einwohner entspricht heute schon Slowenen angesichts der positiven Entwick- 71 % des EU-Durchschnitts, bei allerdings lung im eigenen Land gering. Bereits heute großen Unterschieden zwischen der Ha uptstadt arbeiten mehr EU-Bürger in Slowenien als und den übrigen Regionen. Das jährliche umgekehrt. Wachstum beträgt 4 bis 5 %, die Arbeitslosen- Das vielleicht größte Problem stellt der geringe rate ist auf rund 7 % gefallen und das Pro- Bekanntheitsgrad der Alpenrepublik dar. Dass Kopf-Einkommen ist das höchste in Mittelost- die verbreitete Ignoranz auch Konsequenzen europa. Auch Sloweniens La ndwirtschaft steht für die Akzeptanz eines EU-Beitritts Slowe- unter Produktivitätsaspekten an der Spitze der niens in den jetzigen Mitgliedstaaten hat, Beitrittskandidaten. Die Exportentwicklung belegen Umfrageergebnisse. Würden die EU- verläuft positiv; neben der Handelsintensi- Bürger in Volksabstimmungen über die vierung mit der EU gelang es, Absatzmärkte Erweiterung e ntscheiden, bliebe dem Land der auf dem Balkan wiederzugewinnen. Etwas Beitritt wohl verwehrt. getrübt wird das Bild durch die hohe Inflationsrate von 9 %. Nachholbedarf besteht bei der Privatisierung sowie bei der Gewin- nung ausländischer Direktinvestitionen.

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Estland komplizierten Verhandlungen in Brüssel, sondern innenpolitisch auch mit wachsender Unzufriedenheit und Kritik der Bevölkerung Das nördlichste der drei baltischen Länder ist konfrontiert werden. zugleich auch die fortgeschrittenste der Erstaunlich verlief der marktwirtschaftliche ehemaligen Sowjetrepubliken. Der rasante Reformpfad Estlands in den letzten zehn politische und ökonomische Wandel Estlands Jahren. Die Wirtschaft befre ite sich schnell mit wurde 1998 mit der Aufnahme der Beitrittsver- radikalen Anpassungsschritten vom Erbe der handlungen belohnt. Auch in der Rechtsan- sowjetischen Planwirtschaft und schaffte es gleichung vermag es Estland, die wesentlichen innerhalb weniger Jahre, die Strukturen umfas- Bereiche des geltenden Gemeinschaftsrecht send zu modernisieren und eine stabilitäts- zügig zu übernehmen und a nzuwenden. Dabei orientierte Wirtschaftspolitik umzusetzen. Der setzt das 1,4 Millionen Einwohner zählende Ausbruch der Russlandkrise 1998 zeigte Land auf die Maxime „Kleines Land, kleine allerdings deutlich, wie anfällig eine kleine Probleme“. 19 Verhandlungskapitel konnten offene Volkswirtschaft für externe Einflüsse bis Mitte dieses Jahres abgeschlossen werden, ist. Dem negativen Wachstum des BIP im Jahr darunter der heikle Bereich Umweltschutz, der 1999 folgte jedoch schon im Jahr 2000 eine den meisten anderen Kandidaten großes beachtliche reale Steigerung um über 6 %. Die Kopfzerbrechen bereitet. Ein Kernfrage in den Integration in den Ostseeraum sowie das rasant Verhandlungen über den Beitritt Estlands ist angewachsene Handelsvolumen mit den die Behandlung der russischen Minderheit, die skandinavischen Nachbarländern und mit knapp 30 Prozent der estnischen Bevölkerung Deutschland legen nahe, dass auch Lä nder, die ausmacht. Die Sprachregelung und die vermeintlich an der Peripherie Europas liegen, Gesetzgebung zum Staatsangehörigkeitsrecht durchaus nicht mit einem Wettbewerbsnachteil stellen Eckpfeiler in der Anpassung an europä- ausgestattet sein müssen. Die Verabschiedung ische Rechtsstandards dar. Im Sommer dieses eines Gesetzes, das ein modernes System der Jahres ging die Ära des Staatspräsidenten direkten Besteuerung zum Gegenstand hat, Lennart Meri, der herausragenden politischen zeigt, dass Estland gewillt ist, im internatio- Gestalt Estlands, zu Ende. Meri wurde in den nalen Standortwettbewerb und in der EU- zurückliegenden zehn Jahren der Unabhängig- Harmonisierung reformfreudig voranzugehen. keit Estlands zur Vaterfigur seiner Landsleute, Wirtschaftsgeographisch betrachtet ist das weil er es vermochte, den Geist der demokra- Land eher zweigeteilt. In der Hauptstadt tischen Erneuerung und des radikalen Wandels Tallinn lebt ein Drittel der Gesamtbevöl- zu verkörpern und Estlands Werben um eine kerung. Sie liegt nur drei Stunden Fährpassage Aufnahme in die EU nachhaltig zu fördern. von Helsinki entfernt und erhält den Löwen- Schwieriger hat es da schon der amtierende anteil der Auslandsinvestitionen, während der Premierminister Maart Laar, der eine liberal- Süden um die Stadt Tartu eher unterentwickelt konservative Koalition, bestehend aus der bleibt und daher mit strukturellen Härten Vaterlandsunion, der estnischen Reformpartei kämpfen muss. Große Ungeduld macht sich in und der Partei der Moderaten, anführt. Seine der estnischen Bevölkerung breit, die nach wie Popularitätskurve zeigt deutlich nach unten. vor dem EU-Beitritt mit nordischer Skepsis Nur noch 22 % der Esten s ind mit seiner Poli- gegenübersteht. In diesem Frühjahr ergaben tik zufrieden. Zurückzuführen ist dies auf die Umfragen, dass zwischen 46 und 59 % der wachsende Ungeduld der Esten, die nun die Wähler die EU-Mitgliedschaft ablehnen, Früchte der harten marktwirtschaftlichen während lediglich 25 bis 36 % diese befürwor- Anpassungsmaßnahmen in Form von sozialen ten. Die EU-Verdrossenheit ist zum einen auf Verbesserungen ernten möchten. Die politische Vorbehalte gegen die Aufgabe der staatlichen Führung wird in Zukunft nicht nur mit

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Souveränität zurückzuführen, da das Land schaften, die überwiegend schlechte Erfahr- lange genug einer „Zwangsunion“ angehört ungen mit den bisherigen Privatisierungs- hat. Zum anderen verstärken hausgemachte konzepten gemacht haben, blieb weiterhin Krisen und mangelnde Transparenz in der erheblich und hat auch die Regierung Berzins Europäischen Union sowie befürchtete Preiser- im Sommer 2000 mit ihrem gemäßigten höhungen nach einem Beitritt die ablehnende Privatisierungskonzept hinsichtlich des Haltung. Dass die Esten allerdings den Fehler Energiesektors scheitern lassen. begehen sollten, auf den EU-Beitritt zu Im Hinblick auf die Beitrittsverhandlungen mit verzichten, gilt als äußerst unwahrscheinlich. der EU ist man dennoch recht optimistisch, Schließlich hat das kleine baltische Land zum denn bis Frühjahr 2001 wurde bereits ein ersten Mal die Gelegenheit, an zukünftigen Drittel der Verhandlungskapitel vorläufig Entscheidungen über sein Schicksal direkt zu abgeschlossen. Über 40 % der lettischen partizipieren. Bevölkerung sind gegenwärtig für einen EU- Beitritt, von etwa 30 % wird er allerdings Lettland abgelehnt. Die Probleme mit der relativ großen russischen Minderheit, die etwa ein Drittel der Lettland feierte im Juli 2001 recht selbst- Gesamtbevölkerung ausmacht, konnten durch bewusst die 800-Jahr-Feier seiner Hauptstadt entsprechende Änderungen des Sprachenge- Riga. Das Land, das über lange Jahrhunderte setzes und des Staatsbürgerschaftsrechtes in seiner Geschichte fremdbestimmt geblieben Ansätzen entschärft werden. Die Diskussion ist, einzige Ausnahmen bilden die um den NATO-Beitritt des Landes wird Zwischenkriegszeit und die Zeit seit der nach allerdings weiterhin kontrovers geführt, zumal 1990 wieder erlangten Unabhängigkeit nach Russland – wie bei den übrigen beiden balti- dem Zerfa ll der Sowjetunion, hat in den letzten schen Staaten auch – gewichtige Einwände for- Jahren einen beachtlichen Transformations- muliert. prozess durchlaufen. Für die politische Land- Wirtschaftlich betrachtet geht es nach den schaft des Landes gilt dies allerdings nur ersten schweren Jahren der Umstellung von der bedingt. Ein Zeichen für die spürbare polit- Plan- zur Marktwirtschaft sowie der Wirt- ische Instabilität waren die seit 1990 bis heute schaftskrise in Russland (1999) wieder berg- rasch wechselnden neun Regierungen. Beim auf, was sich alleine daran ablesen lässt, dass letzten Regierungswechsel im Mai 2000 trat in 2000 ein Wachstum von 6,6 % erreicht der reformfreudige Ministerpräsident Andris werden konnte. Inzwischen machen die Skele, Gründer der marktwirtschaftlich orien- Exporte in die EU zwei Drittel der Gesamtaus- tierten Lettischen Volkspartei, als Minister- fuhren Lettlands aus, obschon es auch noch präsident zurück und wurde durch den enge Bindungen zum russischen Markt gibt. Bürgermeister von Riga, Andris Berzins, Allerdings sollte man nicht außer Acht lassen, ersetzt, der der liberal-nationalen Partei Letti- dass es sich bei Lettland – im Vergleich mit scher Weg angehört. Die Kabinettsbildung den EU-Staaten, aber auch im Verhältnis zu erwies sich als schwierig, da sich die e benfalls den übrigen ostmitteleuropäischen Beitrittsas- zur Regierungskoalition gehörende rechtsna- piranten - weiterhin um ein armes Land tionale Partei Vaterland und Freiheit einer handelt. So beträgt das BIP pro Kopf lediglich Kooperation mit dem weiterhin einflussreichen 27 % des EU-Durchschnitts. Dabei ist es in Skele widersetzte. Den Hintergrund für diese erster Linie die Metropole Riga, in der sich die Regierungskrise bildete der Streit um die großen Veränderungen vollzogen haben und Privatisierung der großen Staatsbetriebe in den die für den Wirtschaftsboom verantwortlich Bereichen Schifffahrt und Energie. Der zeichnet. Hier werden 80 % des Steuere in- Widerstand der Bevölkerung und der Gewerk- kommens von gut einem Drittel der

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Bevölkerung erbracht und hier liegt die Auch wenn der erneute Regierungswechsel auf Arbeitslosenrate bei nur 3,5 %, wä hrend sie in den ersten Blick nicht dazu beitragen dürfte, anderen strukturschwac hen Regionen mehr als das Vertrauen in die Stabilität der litauischen 20 % betragen kann. Insgesamt liegt sie Politik zu stärken, so weckt der Machtwechsel landeswe it weiterhin bei etwa zehn %. Auch durchaus positive Erwartungen: Schließ lich sorgt die anhaltende Exportschwäche des sind nun die politischen Kräfte in der Landes, dessen Güter auf den EU-Märkten nur Regierungsverantwortung, denen die Mehrheit wenig konkurrenzfähig sind, dafür, dass das der Wahlbevölkerung ihre Stimme gab. Handelsdefizit mit etwa 15 % des BIP beson- Gemeinsam mit den Sozialliberalen verfügen ders hoch liegt. Dennoch geht die Europäische die Sozialdemokraten über einen stabilen Kommission in ihrem regelmäßigen Bericht Rückhalt im Parlament. Befürchtungen, die für das Jahr 2000 davon aus, dass das Land neue Mitte-Links-Regierung könne einen allzu mittelfristig dem Wettbewerbsdruck und den scharfen Kurswechsel einleiten, trat Brazaus- Marktkräften innerhalb der EU wird stand- kas bereits mit der Kabinettsbildung e ntgegen. halten können. Die lettischen Eliten hoffen die Seine Ankündigung, ein breites Spektrum Beitrittsverhandlungen mit der EU bis Anfang politischer Kräfte einzubinden, unterstrich er 2003 abgeschlossen zu haben. mit der Übernahme von sieben Ministern aus der bisherigen Regierung sowie der Ernennung Litauen von zehn Parteilosen. Für eine Fortsetzung des Reformkurses in der Wirtschaftspolitik steht Litauen ist mit 3,7 Millionen Einwohnern das Finanzministerin Dalia Grybauskaite, die größte baltische Land und zugleich das einzige bereits bei der Bewältigung der russischen mit einer katholischen Bevölkerungsmehrheit. Finanzkrise internationales Ansehen erwarb. Beobachter schmunzeln, es liege daran, dass Damals waren die Schwächen der immer noch die politischen Turbulenzen an italienische stark mit dem östlichen Nachbarland Verhältnisse erinnern. I n kaum e inem anderen verflochtenen Wirtschaft schonungslos offen- EU-Beitrittsland wechseln die Ministerpräsi- gelegt worden. In Folge des Zusammenbruchs denten so oft wie in Wilna, allein fünfmal der russischen Absatzmärkte war das reale BIP innerhalb der letzten zweieinhalb Jahre. Wie um 4,1 % gesunken. Zusätzlich sieht sich bei früheren Urnengängen nutzten die Litauer Litauen mit Gefahren konfrontiert, die sich aus auch die letzten Parlamentswahlen im Oktober den ökonomischen, sozialen und sicherheits- 2000 zur Abstrafung der bisherigen Regierung politischen Problemen der benachbarten russi- und schickten die konservative Vaterlands- schen Exklave Kaliningrad ergeben. Umso union in die Opposition. Unter Führung des mehr weiß man in Brüssel Litauen als populären früheren Staatspräsidenten Algirdas zuverlässigen außenpolitischen Partner und Brazauskas feierten die Sozialdemokraten stabilisierenden Faktor in der Region zu einen klaren Sieg. Statt aber den Auftrag zur schätzen. Regierungsbildung an den Wahlsieger zu ver- Inzwischen ist auch in der Wirtschaft ein geben, schlug Präsident Adamkus dem positiver Trend zu verzeichnen. Die Parlament den erst im Vorjahr als Premier Wachs-tumsrate wird auf 3,5 % geschätzt, zurückgetretenen Liberalen Rolandas Paksas Haushalts- und Außenhandelsdefizite konnten verringert werden. Ergebnis der vor. Ende Oktober wählte ihn eine Koalition harten Deflationspolitik nach der aus vier Parteien zum Ministerpräsidenten. Russlandkrise ist eine Inflationsrate von Bereits im Juni trat Paksas nach Differenzen 1,3 %. Handlungsbedarf besteht aber über wirtschaftspolitische Fragen erneut weiterhin bei den zurück. Diesmal führte kein Weg an Privatisierungsmaßnahmen, insbesondere im Energiesektor. Große Proble-me Brazauskas vorbei. bereitet die Umstrukturierung der Land-

10 wirtschaft, in der rund ein Fünftel der litaui- Führung von Mikulaš Dzurinda die Regierung schen Beschäftigten tätig ist. Das BIP pro bilden. Kopf liegt mit 29 % des EU-Durchschnitts Nach den verlorenen Jahren unter Meciar im hinteren Feld der Beitrittskandidaten, ebenso das monatliche erzielte die neue Regierung beachtliche Durchschnittseinkommen von 200 US- Fortschritte auf dem Weg zur EU-Mitglied- Dollar. Die Arbeitslosenquote wird mit 12,4 schaft. Hatte die EU die Slowakei zuvor als % angegeben; tatsächlich dürfte die Zahl einzigen Beitrittsanwärter wegen mangelnder in einigen ländlichen Regionen dreimal so Erfüllung der politischen Kriterien in die hoch sein. Ein großer Teil der Bevölkerung lebt an oder unterhalb der Armutsgrenze. zweite Reihe verbannt, so honorierte der Diejenigen, die unter der Last der Europäische Rat von Helsinki die Reformbe- Transforma-tion besonders leiden, vor mühungen mit der Aufnahme offizieller allem Landwirte und Rentner, machen Beitrittsverhandlungen. ihrem Unmut öffentlich Luft. Die Regierung Allerdings blieb das heterogene Regierungs- steht vor der schweren Auf-gabe, nicht nur bündnis in Bratislava labil und produzierte die EU von der eigenen Beitrittsreife zu überzeugen, sondern zugleich auch die einen Konflikt nach dem anderen. Die Krise litauische Bevölkerung für die Integration eskalierte im Juli, als ein Versuch zur zu gewinnen. Mitverantwortlich für die Neugliederung der regionalen Verwa ltungs- verbreitete EU-Skepsis ist der langwierige einheiten scheiterte, von der insbesondere die Streit um das Kernkraftwerk Ignalina, das magyarische Minderheit profitiert hätte. Bei rund drei Viertel des litauischen Energiebedarfs deckt und ein wichtiger der Parlamentsabstimmung votierten Abgeord- Arbeitgeber ist. Für die EU stellt das nete mehrerer Koalitionsparteien gemeinsam Kraftwerk dagegen trotz umfangreicher mit der Opposition gegen die auch von der EU Nachrüstung ein Sicherheits-risiko dar. unterstützte Reform. In letzter Minute stoppte Vielen Litauern stellt sich daher die Frage ein Sonderparteitag der Partei der ungarischen nach den Vorteilen einer EU-Mitglied- Koalition den daraufhin bereits angekündigten schaft. Die letzten Umfragen zählen eine knappe Mehrheit von 53 % für den Beitritt. Rückzug ihrer Vertreter aus der Regierung. Brazauskas jedenfalls unterstrich seine Von der Krise profitieren gleich mehrere um- Ambi-tionen, Litauen 2004 in die Union zu strittene Oppositionspolitiker. So führt Ex- führen, indem er als Ziel für seine erste Premier Meciar trotz seiner unrühmlichen Dienstreise Brüssel wählte. Regierungsbilanz die Liste der beliebtesten

Politiker an. Rund 30 Prozent der Slowaken Slowakei gaben bei der "Sonntagsfrage" an, für seine HZDS stimmen zu wollen. Auf der aktuellen Zu den EU-Beitrittskandidaten, die Brüssel Beliebtheitsskala folgen mit Robert Fico und mehr durch politische als durch wirtschaftliche seiner Parteineugründung Smer, Anna Mali- Probleme Sorge bereiten, gehört die Slowakei. kova von der rechtsextremen SNS und dem Dabei hatte die Arbeit der regierenden Medienmogul Pavel Rusko weitere Populisten, Vielparteien-Koalition vor drei Jahren vielver- die in Brüssel eher Bedenken wecken dürften. sprechend begonnen: Im Ziel vereint, den Da lediglich 7 % Ministerpräsident Dzurinda autokratischen Ministerpräsidenten Vladimir als vertrauenswürdig beurteilen, wird er nach Meciar abzulösen, hatten sich vor der letzten der nächsten Wahl kaum noch e ine prominente Nationalratswahl mehrere Parteien zur Slowa- Rolle spielen. Für den Fall eines Regierungs- kischen Demokratischen Koalition zusammen- wechsels wies EU-Kommissar Verheugen mit geschlossen. Gemeinsam gewann das Anti- Blick auf Meciar vorsorglich darauf hin, dass Meciar-Bündnis eine knappe verfassungs- eine Rückkehr der "alten Kräfte" den ändernde Dreifünftelmehrheit und konnte unter Beitrittsbemühungen schaden könnte.

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Bis das ehrgeizige Ziel eines EU-Beitritts zum Beitrittskapitel vorläufig abzuschließen - Wunschdatum 1. Januar 2004 erreicht werden womit man zu Tschechien aufschloss und kann, müssen auch ökonomische Probleme Polen überholte. gelöst werden. Zwar kann die Slowakei auf eine Reihe erfolgreicher Privatisierungs- maßnahmen, ein geschätztes Wachstum von 3 bis 4 % im laufenden Jahr und sinkende Michael Walter Inflationsraten verweisen. Dennoch bereitet nicht nur die Umstrukturierung der Stahl- und Wackelkandidaten? Innenpolitische Turbulenzen in EU-Anwärterstaaten der Rüstungsindustrie weiterhin Schwierigkei- ten. Vorzeigeprojekte wie das Montagewerk Das angesichts der geringen Wahlbeteiligung von Volkswagen bilden die Ausnahme. Trotz und der innenpolitischen Situation auf der des investitionsfreundlichen Klimas mit Grünen Insel mit Vorsicht zu bewertende großzügigen Steuerbefreiungen schreckt viele irische "No" zum Vertra g von Nizza sowie die potentielle Investoren die noch immer weit bisweilen von ebenso wenig Sachlichkeit und - verbreitete Korruption. Der internationale kenntnis geprägte Debatte über Chancen und Korruptionsindex weist der Slowakei einen Risiken einer Zuwanderung ausländischer unrühmlichen Platz 51 zu - weit hinter anderen Arbeitskräfte in die Bundesrepublik haben der Beitrittsaspiranten und noch hinter Kolumbien. Diskussion über die EU-Erweiterung etwas Obwohl der rasante wirtschaftliche Aufhol- Belebung verschafft. Nach wie vor konzen- prozess der Slowakei insgesamt auch beim trieren sich jedoch Befürchtungen, Hoffnungen IWF viel Lob findet, ist Realismus a ngebracht. und Erwartungen ebenso wie Lob und Tadel Experten gehen davon aus, dass die Slowakei für die EU-Aspiranten fast ausschließlich auf bis 2015 erst zwei Drittel des durchschnitt- ökonomische Aspekte1. lichen BIP der heutigen EU erreichen wird. Bei der Bewertung der "Unionsreife" der Besorgniserregend bleibt die hohe Arbeits- Beitrittskandidaten scheint die Frage der losenquote von rund 19 %. Die sozialen Belas- politischen Stabilität gegenüber der wirtschaft- tungen infolge radikaler Sparmaßnahmen lichen nachrangig behandelt zu werden. Dies nehmen für viele Slowaken unerträgliche überrascht um so mehr, als man davon Ausmaße an. Mehr a ls 10 % der Bevölkerung ausgehen kann, dass die ökonomische - und leben unter der Armutsgrenze. Davon sind noch mehr die soziale - Situation in einem insbesondere die Roma betroffen, die trotz Land stets im Zusammenhang mit den poli- eines staatlichen Minderheitenschutzpro- tischen Machtverhältnissen steht. Jeder grammes zudem unter Diskriminierungen und tatsächliche oder sich abzeichnende Regie- rassistisch motivierter Gewa lt leiden. rungswechsel müsste daher zum einen Trotz aller Probleme sind jedoch die großen daraufhin analysiert werden, inwieweit er Fortschritte und das Engagement der Slowa- Ausdruck wirtschaftspolitischer Misserfolge ken nicht genug zu würdigen. Die langjährige der abgelösten Regierung ist, zum andern stellt internationale Isolierung wurde in der sich nicht zuletzt die Frage, welche Konse- Slowakei, wo zuletzt 80 % einen EU-Beitritt quenzen ein Machtwechsel für den befürworteten, als äußerst schmerzlich em- pfunden. Entsprechend erfreut vernahm man 1 das Lob des Bundeskanzlers: "Wenn die Lediglich beim Sonderfall Türkei ist die Situation anders: Hier spielt die Frage nach wirtschaftlichen Slowakei so weitermacht, kann sie bei der Fortschritten gegenüber etwa der Kritik an EU-Erweiterung in der ersten Reihe stehen." mangelnder Achtung der Menschenrechte oder Dies scheint in der Tat möglich. Jedenfalls kulturellen Unterschieden zu den jetzigen Mit- gliedsstaaten der EU in der öffentlichen Debatte gelang es der Regierung Dzurindas, bereits 19 eine untergeordnete Rolle.

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Annäherungsprozess an die EU hat. Ohne dies für die Bildung e iner breiteren Koalition unter erschöpfend beantworten zu können, soll im Einbeziehung der Sozialdemokraten plädiert4. Folgenden der Versuch unternommen werden, die entsprechenden Ereignisse der letzten Monate zumindest in drei der betreffenden Länder zusammenzufassen.

Litauen: Comeback des Ex-Präsidenten Algirdas Brazauskas

In der letzten Ausgabe der "aktuellen ostinfor- mationen" wurden unter der Überschrift

"Everybody gets a second chance" die innenpolitischen Entwicklungen des vergang- Hintergründe des Koalitionsbruchs enen Jahres in Litauen ausführlich dargestellt2. Der damals auf die erneute Regierungs- Aktueller Auslöser der Regierungskrise war übernahme des bereits von Mai bis Oktober wie bei der ersten Demission von Rolandas 1999 amtierenden Liberalen Rolandas Paksas Paksas ein Streit um die Privatisierung eines bezogene Titel erhielt mit den innenpolitischen Energieunternehmens, diesmal des Gasmono- Turbulenzen des Jahres 2001 eine nicht ganz pols Lietuvos Dujos. Dahinter steckten jedoch unerwartete Bestätigung. Nur rund acht grundsätzlich divergierende Auffassungen über Monate nach dem letzten Regierungswechsel, die wirtschaftspolitischen Reformmaßnahmen. trat Paksas am 18. Juni zum zweiten Mal Während die als konservativ eingestuften innerhalb von zweieinhalb Jahren von seinem Wirtschaftsliberalen unter Führung von Paksas Amt als Regierungschef zurück. Staatspräsi- eine möglichst freie Marktwirtschaft anstreb- dent Valdas Adamkus, der es nach den ten, traten die Mitglieder der sozialliberal Parlamentswahlen vom 8. Oktober 2000 trotz ausgerichteten Neuen Union des Parlaments- des klaren Wahlerfolges der Sozialdemokraten präsidenten Arturas Paulauskas für eine noch abgelehnt hatte, deren Vorsitzenden stärkere Kontrolle der Wirtschaft durch den Algirdas Brazauskas zum Ministerpräsidenten Staat ein. Anlässlich konkreter Entscheidungen zu ernennen, blieb angesichts der Kräftever- zeigte sich, dass diese Differenzen größer hältnisse im Seimas diesmal nichts anderes waren, als es kurz nach der Parlamentswahl übrig, a ls einen USA-Besuch abzubrechen und schien. Allerdings war es bereits damals nicht dem populären Ex-Präsidenten den Weg in das gelungen, Einvernehmen über Einzelfragen der Regierungsamt zu ebnen. Adamkus ließ keinen Steuerpolitik und des Privatisierungskurses zu Zweifel daran, dass er den 70-jährigen e hema- erzielen5. Statt der erhofften Annäherung der ligen Kommunisten Brazauskas nur wider- Positionen in der Regierungsarbeit kam es zu 3 willig ernannte . Allerdings hatte der immer größeren Differenzen. Laut eines Staatspräsident sich selbst erst wenige Wochen Berichts der litauischen Tageszeitung Lietuvos zuvor in seiner Jahresbilanz kritisch über die Leistungen der Regierung Paksas geäußert und 4 Vgl. Paksas lehnt Rücktritt ab, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.6.2001; Hannes 2 Vgl. Michael Walter, Everybody gets a second Gamillscheg, Comeback für Brazauskas, in: chance - Ein Rückblick auf die Wahlen in Frankfurter Rundschau vom 20.6.2001; Slowenien und in Litauen, in: aktuelle Regierungschef in Wilna tritt zurück, in: die ostinformationen 1/2-2001, S. 15-24, hier S. 19 ff. tageszeitung vom 21.6.2001. 3 Vgl. Brazauskas ernannt, in: die tageszeitung vom 5 Vgl. Paksas lehnt Rücktritt ab, in: Frankfurter 2.7.2001. Allgemeine Zeitung vom 20.6.2001.

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Rytas bestand in keinem der 30 letzten Tages- Sitze im Parlament, was eine weitaus stabilere ordnungspunkte Einigkeit in der Koalition6. Basis darstellt als jene, auf die sich Paksas Da die als Juniorpartner der Regierung ange- stützen konnte. Befürchtungen, die neue Mitte- hörende Neue Union Paksas' Pläne zur Links-Regierung könne einen allzu scharfen Senkung der Steuern und beschleunigten politischen Kurswechsel einleiten, trat Privatisierung der Staatsbetriebe ablehnte, Brazauskas bereits mit der Kabinettsbildung forderte ihr Vorsitzender Paulauskas den entgegen. Seine Ankündigung, ein breites Ministerpräsidenten "wegen unüberbrückbarer Spektrum politischer Kräfte einzubinden, Differenzen" zum Rücktritt auf7. Paksas lehnte unterstrich er nicht nur mit der überraschenden dies zunächst ab8. Dass die Neue Union Ernennung von zehn Parteilosen zu Ministern. daraufhin ihre sechs Minister aus dem Kabinett Als Ausdruck des Willens zur Kontinuität gilt zurückzog, wovon unter anderem die auch die Entscheidung, sieben von 13 Schlüsselressorts für Inneres und Außenpolitik Ministern aus der bisherigen in die neue betroffen waren, brachte Paksas in eine Regierung zu übernehmen, darunter auch ausweglose Lage. Nachdem es bereits in den Politiker, die von den Liberalen nominiert Monaten zuvor Ministerrücktritte und worden waren. Für die Beitrittsverhandlungen Kabinettsumbildungen gegeben hatte, kam nun zur Europäischen Union und zur NATO kann Artikel 101 der Verfassung zum Zuge. Dieser es als positiv gewertet werden, dass verlangt: "Werden mehr als die Hälfte der Außenminister Antanas Valionis und Minister ausgewechselt, so muss die Regierung Verteidigungsminister Linas Linkevicius ihre von neuem ihre Befugnisse vom Seimas Ämter behielten. Personelle Veränderungen übertragen erhalten. Anderenfalls muss die gab es dagegen im Wirtschafts- und im Finanz- Regierung zurücktreten."9 Paksas gab auf. ministerium. Die Ernennung des parteilosen Unternehmers Petras Cesna zum Wirtschafts- Mögliche Folgen des Regierungswechsels minister und der ebenfalls nicht den Sozialdemokraten angehörenden bisherigen Auch wenn der erneute Regierungswechsel in stellvertretenden Außenministerin Dalia Litauen auf den ersten Blick nicht gerade dazu Grybauskaite zur Finanzministerin lassen beitragen dürfte, das Vertrauen in die Stabilität jedoch eine Fortsetzung des Reformkurses und Effzienz der politischen Führung zu erwarten. So hatte sich Grybauskaite Ende stärken, so lassen sich mit dem Machtwechsel 1999 internationales Ansehen erworben, als sie mittelfristig durchaus positive Erwartungen erfolgreich dazu beitrug, die Folgen der verbinden: Schließlich sind nun die politischen Russlandkrise zu bewältigen10. Nachdem das Kräfte in der Regierungsverantwortung, denen Wachstum 1999 noch um 3,9 Prozent die Mehrheit der Wahlbevölkerung bereits im zurückgegangen war, vermeldete das Statisti- vergangenen Oktober ihre Stimme gegeben sche Amt Litauens für die ersten beiden hatte. Gemeinsam mit den Sozialliberalen ver- Quartale 2001 Zuwachsraten von 5,1 bzw. 5,6 fügen die Sozialdemokraten über 81 der 141 Prozent11. Ob allerdings die Forderung der neuen Finanzministerin, am Austeritätskurs 6 Vgl. Lietuvos Rytas vom 21.6.2001. festzuhalten, auch in der Mitglied- und 7 Vgl. Hannes Gamillscheg, Comeback für Anhängerschaft insbesondere der sozialdemo- Brazauskas, in: Frankfurter Rundschau vom 20.6.2001. kratischen Partei Zustimmung findet, darf be- 8 Vgl. Zerbrochene Regierungskoalition in Litauen, zweifelt werden. Zur Gretchenfrage könnten in: Neue Zürcher Zeitung vom 20.6.2001. 10 9 Zit. nach Herwig Roggemann (Hrsg.), Die Vgl. Brazauskas stellt sein Kabinett vor, in: Verfassungen Mittel- und Osteuropas. Einfüh- Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.7.2001. rungen und Verfassungstexte mit Übersichten und 11 Vgl. Litauens Wirtschaft wächst wieder, in: Neue Schaubildern. Berlin 1999, S. 531-569, S. 556. Zürcher Zeitung vom 14.8.2001.

14 ein drittes Mal Maßnahmen zur Privatisierung drei Jahren in Bratislava vielversprechend des Energiesektors werden. Von den umfang- begonnen: Im Ziel vereint, den autoritären reichen Vorhaben sind immerhin drei der fünf Langzeit-Ministerpräsidenten Vladimír Meciar größten litauischen Unternehmen betroffen12. aus dem Amt zu vertreiben, hatten sich damals Weitere Hürden bilden die ebenso notwendi- fünf Parteien bzw. Parteiengruppen - die gen wie unpopulären Reformmaßnahmen in Christdemokraten (KDH), die Demokratische der Steuerpolitik und beim Sozialversiche- Union (DU), die Demokratische Partei (DS), rungswesen. Es spricht für die Seriosität die Sozialdemokraten (SDSS) und die Grünen Brazauskas', dass er in seiner Regierungs- (SZS) - nominell zur Partei Slowakische erklärung ausdrücklich darauf hinwies, dass Demokratische Koalition (SDK) zusammenge- "Geld für sozialpolitische Vorhaben nur schlossen, einem Bündnis das heute nur noch ausgegeben werden könne, wenn es vorher als Parlamentsfraktion existiert 15. Gemeinsam erwirtschaftet worden sei."13 Noch in diesem mit der postkommunistischen Partei Demokra- Jahr soll z.B. das Defizit der öffentlichen tische Linke (SDL), der Partei der bürgerlichen Finanzen auf 1,4 Prozent des BIP gesenkt Verständigung (SOP) und der aus drei werden (2000: 2,8). Hinsichtlich des sich Gruppen bestehenden Partei der Magyarischen abzeichnenden NATO-Beitritts seines Landes Koalition (SMK) der ungarischen Minderheit dürfte der neue Ministerpräsident im Westen gewann die SDK im Parlament eine knappe Punkte gesammelt haben, als er sich für die verfassungsändernde Dreifünftel-Mehrheit und geforderte Erhöhung der Verteidigungsaus- konnte unter Führung des SDK-Vorsitzenden gaben auf zwei Prozent des Bruttoinlands- Mikuláš Dzurinda die Regierung bilden. produktes aussprach. An die Adresse der Nach der langen Zeit der Stagnation und der Europäischen Union schließlich war seine außenpolitischen Isolation unter Meciar optimistische Erklärung gerichtet, die Beitritts- erzielte die neue Regierung in kurzer Zeit verhandlungen bis Ende 2002 abzuschließen, enorme Fortschritte bei der Demokratisierung um 2004 Mitglied werden zu können14 - und des Landes. Dies wurde auch von der Euro- damit rechtzeitig vor den nächsten (regulären) päischen Union bescheinigt und mit der Parlamentswahlen. Aufnahme offizieller Beitrittsverhandlungen honoriert. Nach zähen Verhandlungen und Slowakei: Stabile Dauerkrise der einem dreiwöchigen Redemarathon gelang es Vielparteien-Regierung im Februar 2001 sogar, die für die EU- Integrationsbemühungen wichtige Reform der Nicht nur an der Ostsee, sondern auch in der slowakischen Verfassung in insgesamt 79 Donauregion waren in den zurückliegenden Punkten zu verabschieden16. Schwieriger war Monaten heftige politische Gewitter zu ver- die Aufgabe, den wirtschaftlichen Rückstand zeichnen. Doch stellte die sommerliche aufzuholen. Zwar kann die Regierung Regierungskrise in der Slowakei ebenfalls Dzurinda auf eine Reihe erfolgreicher lediglich eine neue, besonders heftige Privatisierungsmaßnahmen, gute Wachstums- Entladung atmosphärischer Störungen dar, raten und sogar auf die Aufnahme in die welche die regierende Vielparteien-Koalition OECD verweisen. Mit einer Inflationsrate von von Anfang an belasteten. Dabei hatte es vor zwischenzeitlich über 10 Prozent, einem BIP-

12 Vgl. Jakob Lemke, dpa, Litauen vor Linksruck, in: FAZ.NET vom 1.7.2001. 15 Vgl. ausführlich: Michael Walter, Die zweite 13 Zit. nach Kontinuität in Litauens "samtene Revolution" in Bratislava, in: aktuelle Integrationspolitik, in: Neue Zürcher Zeitung vom ostinformationen 1/2-2000, S. 34-41. 10.7.2001. 16 Vgl. Verfassungsänderungen in der Slowakei, in: 14 Vgl. ebda. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.2.2001.

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Wachstum von 2,2 Prozent17 und einer Arbeits- und der österreichischen ÖVP orientieren22. losenquote von und 19 Prozent18 liegt die Allerdings erklärte Dzurinda, den Willen des Slowakei jedoch noch immer weit hinter den Wahlvolkes, das 1998 für die SDK gestimmt erfolgreichsten Kandidaten des Bewerberfeldes hatte, zu respektieren und mit der neuen Partei zurück. erst bei der nächsten Parlamentswahl offiziell Dagegen scheint der Wunsch der Regierung, anzutreten. Ohnehin hätte eine andere bald der NATO beizutreten, in naher Zukunft Entscheidung den Koalitionsvertrag gefährdet. erfüllt zu werden. Die Verantwortlichen in Die Hoffnung, in der Zwischenzeit große Teile Bratislava schmerzt es besonders, dass man als der Anti-Meciar-Koalition in die SDKU einziger Staat der Visegrád-Gruppe bei der integrieren zu können, wurde enttäuscht. letzten Erweiterungsrunde abgelehnt worden Abgesehen vom Übertritt einzelner Politiker war. Daher versicherte man - trotz erheblicher fusionierte lediglich die DU mit der neuen Skepsis in der Bevölkerung - wiederholt, bis Partei23. Das Regierungsbündnis blieb labil Ende 2002 aufnahmebereit zu sein, räumte und produzierte eine Krise nach der anderen. jedoch noch erheblichen Nachholbedarf bei der Umgestaltung der Armee, dem Aufbau eines Amtes für Datenschutz sowie der sprachlichen Qualifizierung der slowakischen Soldaten ein19. Die Lösung aller politischen und wirtschaft- lichen Probleme w ird indes noch immer durch die Zerstrittenheit der "Koalitionen-Koalition" in Bratislava erschwert. Ein Versuch, die Zusammenarbeit des von "ideologischen, nationalen, sozialen, kulturellen und re ligiösen 20 Korruptionsvorwürfe Gegensätzen" bestimmten Parteienbündnisses mit Hilfe eines "Rates der Vorsitzenden" der Nachdem im Januar der unter Korruptions- SDK-Parteien zu verbessern, erwies sich als verdacht geratene Verteidigungsminister Pavol wenig hilfreich, zumal dieses Gremium Kanis zurückgetreten war, erschütterte im potenziell die Macht des Regierungschefs April erneut eine Korruptionsaffäre das Land. bedrohte21. Daher entschloss sich Dzurinda zu Ein slowakischer Ministerialdirektor wurde einem radikalen Schritt und gründete im beschuldigt, EU-Fördermittel aus Phare- und November 2000 eine neue Partei mit dem ISPA-Programmen in Höhe von umgerechnet Namen Slowakische Demokratische und rund 100 Millionen Mark veruntreut zu Christliche Union. Das politische Profil der 24 haben . Diese Summe, immerhin 60 Prozent SDKU sollte sich an der CDU Deutschlands 22 Vgl. Hans-Jörg Schmidt, Slowakischer Premier 17 Vgl. Heterogene EU-Beitritts-Kandidaten, in: Dzurinda gründet eigene Partei, in: Die Welt vom Neue Zürcher Zeitung vom 14.8.2001. 20.11.2000; Dzurinda schafft sich eine Hausmacht, 18 Vgl. Nový Den vom 7.8.2001. in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.1.2000. 23 19 Vgl. NATO-Beitritt der Slowakei, in: Prager Vgl. Andreas Oplatka, Verworrene Zeitung vom 10.5.2001; Nato-Anwärter tagen in Parteiverhältnisse in der Slowakei, in: Neue Preßburg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Zürcher Zeitung vom 4.2.2000; Dzurindas Partei 12.5.2001; Die Slowakei gehört in die Nato, in: Die offiziell gegründet, ebda., 20.11.2000; Dzurinda Welt vom 3.3.2001. Vorsitzender zweier Parteien, in: Frankfurter 20 Allgemeine Zeitung vom 20.11.2000. Karl-Peter Schwarz, Die EU als Korsett, in: 24 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.2.2001. Vgl. auch zum Folgenden: Skandal um EU- 21 Gelder erschüttert Slowakei, in: Prager Zeitung Vgl. Krise in Pressburg geht weiter, in: vom 10.5.2001; Beamter soll Fördermittel der EU Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.1.2000. veruntreut haben, in: Frankfurter Rundschau vom

16 aller bisherigen EU-Fördergelder für die kraten wurde die politische Verantwortung für Slowakische Republik, soll der frühere Phare- peinliche Misserfolge der Sicherheitskräfte Koordinator in eigene Firmen umgeleitet zum Verhängnis. So ist es noch immer nicht haben. Zwar fehlten konkrete Beweise, doch gelungen, den mit Haftbefehl gesuchten stellte die Europäische Kommission vorüber- früheren Sicherheitschef Lexa wegen seiner gehend sämtliche Zahlungen an die Slowakei Rolle bei der Entführung des Sohnes des ein und ließ den Verbleib der Fördermittel damaligen Staatsoberhauptes Kovac festzu- durch ihre Anti-Betrugs-Behörde OLAF unter- nehmen. Ebenso erfolglos blieb die Suche nach suchen. Auch wenn erhebliche Zweifel am den Mördern des früheren Wirtschaftsministers Wahrheitsgehalt der Anschuldigungen blieben Jan Ducký. Ein Tatverdächtiger musste nach und offenbar keine EU-Gelder verschwunden zweieinhalb Jahren aus der Untersuchungshaft sind25, trugen die Korruptionsvorwürfe nicht entlassen werden. Und auch bei der dazu bei, den gerade in diesem Bere ich wenig Durchleuchtung zweife lhafter Privatisierungs- positiven Ruf der Slowakei zu verbessern. Der fälle der Ära Meciar blieb Vieles im aktuelle Korruptionsindex von Transparency Dunkeln28. Unter diesen Umständen wurde es International führt die Slowakei auf P latz 51 - zunehmend schwieriger, an Pittner festzuhal- hinter Peru und Kolumbien 26. Und selbst die ten. Dass Dzurinda aber angeblich ohne Leitung des Vorzeigeunternehmens US Steel Rücksprache mit seinen Koalitionspartnern mit Košice sah sich nicht ohne Grund genötigt, Ivan Simko einen Mann aus den eigenen einen Ethik-Codex zu veröffentlichen, dass Reihen als Nachfolger präsentierte, brüskierte man hart gegen Bestechlichkeit und die Christdemokraten. Verärgert verkündete Bestechungsversuche vorgehen werde27. die KDH, man habe dem Regierungschef das Vertrauen entzogen, wolle die Koalition Regierungsumbildunge n vorerst aber nicht verlassen29. Zur weiteren Verwirrung trug Staatspräsident Rudolf Konkrete Folgen hatte die Affäre um die EU- Schuster bei, als er am Premier vorbei Justiz- Gelder für die Zusammensetzung der minister Jan Carnogurský zum Interims-Leiter Regierung. Da sich der für die Westintegration des Innenressorts ernannte. Vollends absurd zuständige Vizepremier und SOP-Vorsitzende wurde die Situation, a ls Dzurinda Carnogurský Pavol Hamžík als direkter Vorgesetzter des aufforderte, den Ruf des Präsidenten abzu- belasteten Spitzenbeamten weigerte, Konse- lehnen, dieser sich weigerte und schließlich quenzen aus der Affäre zu ziehen, wurde er auf drei der Koalitionsparteien in einer gemein- Betreiben Dzurindas seines Amtes enthoben. samen Erklärung den Staatspräsidenten gegen Dass dies nur der Auftakt zu einer weiter- den Ministerpräsidenten unterstützten 30. gehenden Kabinettsumbildung war, zeigte sich wenig später. Mitte Mai räumte Innenminister Ladislav Pittner seinen Posten und kam damit seiner Entlassung zuvor. Dem Christdemo-

26.4.2001; Korruptionsaffäre mit Folgen in der 28 Vgl. Slowakische Gleichgewichtsübungen, in: Slowakei, in: Neue Zürcher Zeitung vom 7.5.2001. Neue Zürcher Zeitung vom 14.5.2001; Hans-Jörg 25 Vgl. Die Eintrittskarte hat noch keiner in der Schmidt, Slowakischer Premier Dzurinda bildet Tasche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom sein Kabinett um, in: Die Welt vom 16.5.2001. 20.7.2001. 29 Vgl. Koalitionspartner entzieht Premier Dzurinda 26 Vgl. www.transparency.org/documents/cpi/ Vertrauen, in: Die Welt vom 18.5.2001. 2001/cpi2001.de.html. 30 Vgl. Ulrich Glauber, In Bratislavas Regierung 27 Vgl. Steeled for anti-grass assault, in: The Slovak kocht jeder sein Süppchen, in: Frankfurter Spectator, August 13-19, 2001. Rundschau vom 18.5.2001.

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da bemühte sich, die Wogen zu glätten. Er akzeptiere die Kritik, doch sei es wenig hilfreich, Skepsis zu verbreiten. Überdies stand Schusters in Bratislava verlesene Negativ- bilanz ganz deutlich im Widerspruch zur positiven Einschätzung der Entwicklungen in der Slowakei, wie sie der Präsident kaum zwei Wochen zuvor vor den Abgeordneten des Europäischen Parlaments in Straßburg präsentiert hatte 32.

Konflikte zwischen Präsident und Rücktrittsdrohungen und –aufforderungen Regierung Fast zum gleichen Zeitpunkt konnte der Schusters Vorgehen trug nicht dazu bei, die Premier mit einer Rücktrittsandrohung gerade ohnehin kühlen Beziehungen zum Pre mier zu noch verhindern, dass die zwei Linksparteien verbessern. Einen vorläufigen Tiefpunkt er- seines Regierungsbündnisses ein von der fuhren diese Ende Mai, als Schuster seine oppositionellen HZDS initiiertes parlamen- Jahresbilanz vor dem Parlament dazu nutzte, tarisches Misstrauensvotum gegen den der Regierung in ungewöhnlich scharfer Form liberalen Wirtschaftsminister und Vize- einen umfangreichen Misserfolgskatalog Premier Ivan Mikloš unterstützten. Da die 31 vorzuhalten . Er warf ihr zudem vor, die Demission Dzurindas das Ende der Zusammenarbeit mit der - in se iner Rede weit- Regierungskoalition und wahrscheinlich gehend geschonten - Opposition zu vernach- Neuwahlen zur Folge gehabt hätte, gab die (in lässigen und seine eigenen Vorschläge zu Umfragen schwache) SDL nach und enthielt ignorieren. Auch wenn der slowakische sich bei der Abstimmung der Stimme33. Der Präsident in einer Reihe von Punkten zweifel- Misstrauensantrag scheiterte. los nicht falsch lag, bleiben Zwe ifel, ob er mit Zuvor hatte bereits Finanzministerin seinem Anspruch, aktiver in die Politik Schmögnerová, die sich mit ihrer ebenso einzugreifen, nicht seine verfassungsmäßigen unpopulären wie erfolgreichen Sanierungsstra- Kompetenzen überstrapazierte. Für die Nerven tegie den Beinamen "brutale Brigita" erworben der angegriffenen Regierungsmannschaft galt hatte, ihren Rücktritt für den Fall angekündigt, dies ganz sicherlich. Während der stellver- dass ihre geplanten Maßnahmen keine we itere tretende Vorsitzende der Christdemokraten, Unterstützung fänden34. Palko, öffentlich die frühere Nominierung Im Juli drohte schließ lich die Partei der unga- Schusters zum Präsidentschaftskandidaten rischen Minderheit zum dritten Mal innerhalb bereute, riet der Führer der ungarischen von neun Monaten mit dem Bruch der Koalition Béla Bugár dem Präsidenten Koalition und forderte überdies den diplomatisch, seinen Beraterstab auszuwech- Ministerpräsidenten zum Rücktritt auf35. seln. Auch in der slowakischen Presse fand sich fast ausschließlich Kritik an Schusters 32 Vgl. Die Slowakei hofft auf baldigen EU-Beitritt, Vorgehen. Lediglich Ministerpräsident Dzurin- in: Neue Zürcher Zeitung vom 17.5.2001. 33 Vgl. Erzwungene Einigkeit im slowakischen 31 Vgl. Aufsehen um den slowakischen Präsidenten, Regierungslager, in: Neue Zürcher Zeitung vom in: Neue Zürcher Zeitung vom 28.5.2001; In der 25.5.2001. Slowakei heftige Kritik an Schuster, in: Frankfurter 34 Vgl. Erlahmt der slowakische Erneuerungseifer?, Allgemeine Zeitung vom 28.5.2001. Vgl. auch das in: Neue Zürcher Zeitung vom 28./29.4.2001. Interview mit Rudolf Schuster in der Welt vom 35 Vgl. zum Folgenden: Brüchige slowakische 3.3.2001. Regierungskoalition, in: Neue Zürcher Zeitung vom

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Vorausgegangen war eine Parlamentsab- Nach dem Bruch der Koalitionsvereinbarung stimmung über eine seit zwei Jahren durch gleich drei der Regierungsparteien vorbereitete Regierungsvorlage zur Verwa l- konnte die Reaktion der Ungarischen Koalition tungsreform, welche die Schaffung von zwölf nicht überraschen. Wie ihr Vorsitzender Béla territorialen Selbstverwaltungseinheiten vor- Bugár erklärte, sprachen sich alle Präsi- sah. Dieses Reformvorhaben wurde auch von diumsmitglieder seiner Partei für das Verlassen der Europäischen Union unterstützt. Bei der der Koalition aus. Eine Entscheidung sollte entscheidenden Abstimmung votierten dann aber erst der formal zuständige Landesrat auf aber Abgeordnete der Koalitionsparteien SDL einer außerordentlichen Sitzung am 25. August und SOP gemeinsam mit der oppositionellen treffen. Bis dahin wurde die Mitarbeit in der HZDS sowie der rechtsextremen Slowakischen Regierung suspendiert37. Da jedoch nur wenige Nationalpartei gegen die Regierungsvorlage. der, je nach Zählwe ise der verschiedenen Ziel der Linksparteien war es offensichtlich, Allianzen, ursprünglich bis zu elf Parteien der einen drohenden Machtverlust in ihren Regierungskoalition Chancen haben, in das Hochburgen in Folge der Dezentralisierung nächste Parlament einzuziehen, fehlt trotz aller abzuwenden, während die Nationalisten eine Turbulenzen bei der Mehrheit der Koalitions- politische Stärkung der ungarischen Minder- partner das Interesse, die Regierung vorzeitig heit im Süden des Landes verhindern wollten. platzen zu lassen. In den folgenden Wochen Zur allgemeinen Überraschung schloss s ich in bemühten sich auch Vertreter der EU intensiv, letzter Minute auch die SDK des Minister- die SMK noch einmal umzustimmen, um einen präsidenten, die keine Möglichkeit mehr sah, möglichen Auftrieb nationalistischer Kräfte zu das Zwölfer-Modell durchzusetzen, den bremsen. Dennoch war es für die meisten Reformverweigerern an, so dass zuletzt ledig- Beobachter e ine große Überraschung, dass s ich lich die Fraktionen der Christdemokraten und die überwältigende Mehrheit der Landes- der Ungarn an der Regierungsvorlage delegierten in letzter Minute entschied, festhielten36. vorläufig in der Regierung zu bleiben. Die Damit bestätigten die Reformgegner die 1996 SMK verband dies aber mit einem Ultimatum unter Meciar verfügte regionale Gliederung an die Koalitionspartner, bis Ende September des Landes in acht Kreise und verhinderten mehrere Bedingungen zu erfüllen, mit denen eine Neueinteilung, die den regionalen die Stellung ihrer Volksgruppe verbessert Siedlungsgegebenheiten stärker Rechnung werden sollte 38. Bereits eine Woche später getragen hätte. Davon ist insbesondere die setzte die Regierung ein „Kompetenzgesetz“ in magyarische Minderheit betroffen, die unter Meciar bewusst auf mehrere Verwaltungsein- heiten aufgeteilt worden war. Mit der Parlamentsentscheidung wurde den Ungarn weiterhin die Wahrnehmung des Rechts auf zweisprachige Schulen und der Gebrauch ihrer 37 Vgl. Gescheiterte Verwaltungsreform führt zu Sprache vor Ämtern und Gerichten erschwert. Regierungskrise in der Slowakei, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.7.2001; SMK party loudly packs coalition bags, in: The Slovak Spectator, August 13-19, 2001. 5.7.2001; Verhärtung in der Slowakei, ebd. vom 38 Vgl. Ungarnpartei in der Slowakei stellt 7./8.7.2001. Zu den früheren Drohungen der SMK, Koalitionspartnern ein Ultimatum, in: Die Welt; die Koalition zu verlassen: Krise in der Slowakei, Die Partei der ungarischen Minderheit bleibt vorerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom in der slowakischen Koalition, in: Frankfurter 10.10.2000; Ungarische Minderheit löst in der Allgemeine Zeitung; Eine Frist für die slowakische Slowakei Krise aus, in: Die Welt vom 8.3.2001. Koalition, in: Neue Zürcher Zeitung, alle 36 Vgl. Brüchige slowakische Regierungskoalition, 27.8.2001; In der Slowakei hat die Staatsräson in: Neue Zürcher Zeitung vom 5.7.2001. gesiegt, in: Prager Zeitung vom 30.8.2001.

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Kraft, mit dem acht Regionen geschaffen und die HZDS stimmen zu wollen40. Ein Blick auf ihre Zuständigkeitsbereiche geregelt werden39. die einzelnen Bezirke zeigt, dass die HZDS bei Spitzenergebnissen von 33,7 Prozent in Populäre Populisten - Oppositionspolitiker Trencin und 31,9 Prozent in Žilina in allen führen in Umfrageergebnissen Regionen führt - mit Ausnahme der beiden Bezirke Trnava und Nitra, in denen aufgrund Unabhängig davon, ob die Koalition bis zu den eines starken ungarischen Bevölkerungsanteil nächsten regulären Parlamentswahlen im die SMK vorne liegt. Herbst 2002 hält oder nicht, wächst mit der ständigen Unruhe innerhalb des Regierungs- bündnisses in der Bevölkerung der Wunsch nach einem erneuten Wechsel des politischen Spitzenpersonals. Offenbar haben die Slowaken das parteipolitische Verwirrspiel um persönliche Machtgruppierungen inzwischen leidlich satt und wünschen sich klarere Konstellationen. Von diesem Klima profitieren einige vermeintlich "starke Männer" bzw. "starke Frauen". So lagen laut den Umfragen der vergangenen Monate gleich drei umstrit- tene Oppositionspolitiker auf den vorderen Auf Platz zwei liegt mit landeswe it 17,3 Plätzen in der Gunst der Wählerinnen und Prozent der 36-jährige Abgeordnete Robert Wähler. Fico, einst stellvertretender Vorsitzender der mitregierenden Demokratischen Linken. Fico, den der FAZ-Korrespondent Karl-Peter Schwarz als "eine Art 'Jung-Meciar', enorm ambitioniert, politisch wendig und ohne erkennbare Grundsätze" charakterisiert, gelang es mit seiner linksgerichteten Parteineu- gründung Smer (zu deutsch "Richtung"), über die Grenzen der Slowakei hinaus Aufmerk- 41 samkeit auf sich zu lenken . Für Furore sorgte Fico, als er sich während einer Moskaureise Ein unerwartetes Comeback feiert derzeit mit dem russischen Industrieminister und dem Vladimír Meciar. Trotz seiner unrühmlichen Atomminister traf, um die Finanzierung und Regierungsbilanz führt der nach drei schweren Fertigstellung des slowakischen Atomkraft- Niederlagen von vielen Beobachtern bereits werks Mochovce sowie den von Bratislava abgeschriebene Ex-Pre mier die Liste der gestoppten Kauf des russischen Raketenab- beliebtesten Politiker an. 17,6 Prozent der Befragten bescheinigten ihm, der vertrauens- würdigste Politiker zu sein, sogar rund 26 40 Vgl. auch zum Folgenden: Nový Den vom Prozent gaben bei der "Sonntagsfrage" an, für 10.8.2001, TV Markiza, 6.8.2001, 19 Uhr- Nachrichten, Karl-Peter Schwarz, Wende und Rückkehr des Populisten Meciar, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.7.2001. 41 Vgl. Karl-Peter Schwarz, Der Widerspruch 39 Vgl. Föderalisierung beendet schwelende zwischen den Wahlversprechen und der Wirk- Regierungskrise, in: Frankfurter Rundschau vom lichkeit danach, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 6.8.2001. vom 2.2001.

20 wehrsystems S-300 zu erörtern42. Letzteres bringen46. In den Umfrageergebnissen liegt dürfte kaum dazu angetan sein, die Nato- ANO bei etwa 6 Prozent, in den östlichen Beitrittsbemühungen der Slowakei zu fördern. Hochburgen Prešov und Košice bei 8 Prozent. Dass "Smer" mit 17,8 Prozent (in den Dass der Multimillionär mit seinem Medien- nördlichen Bezirken 22 bis 23 Prozent) in der imperium, zu dem auch Lokalradiostationen aktuellen Wählergunst fast das gleiche und Printmedien gehören, politischen Einfluss Umfrageergebnis erzielt wie ihr Vorsitzender geltend macht, zeigte sich bereits, als er zur bestätigt im Übrigen das Etikett der "Ein- Abwahl Meciars als Regierungschef beitrug47. Mann-Partei". Dank seiner guten Umfrage- Sollte es Rusko - wie angekündigt - gelingen, ergebnisse strotzt Fico vor Selbstbewusstsein. ein Bündnis mit Fico einzugehen, könnte dies So erklärte er frühzeitig, nach der nächsten die übrigen Parteien ernsthaft in Bedrängnis Wahl weder mit Meciar noch mit einem Anti- bringen48. Allerdings scheinen Zweifel ange- Meciar-Bündnis unter Dzurinda koalieren zu bracht, ob einer der beiden politischen wollen und ste llte bereits sein Schattenkabinett Shootingstars sich in einer entsprechenden vor43. Koalition mit der Rolle der Nummer Zwei An dritter Stelle folgt mit rund 13 Prozent zufrieden geben würde. Anna Malíková, die Führerin der rechts- Aus der aktuellen Regierung, deren Parteien extremen SNS, der es im August gelang, ihre insgesamt bei rund 40 Prozent der Befragten innerparteilichen Kritiker durch die Zustimmung finden (davon SMK 10,8, SDKÚ Suspendierung ihrer Parteimitgliedschaft aus- 10,3, KDH 5,9, SDL 4,7), genießt derzeit zuschalten44. Malíková ist vermutlich die Wirtschaftsminister Mikloš mit knapp neun einzige der ernst zu nehmenden Akteure, die Prozent noch das meiste Vertrauen, während die Beitritte zur Europäischen Union und zur lediglich sieben Prozent Ministerpräsident NATO ablehnt. Die Gegnerschaft zur Allianz Dzurinda für vertrauenswürdig halten. begründete sie damit, sie könne nicht ver- gessen, was die NATO "unseren slawischen Regierungswechse l in Sicht und christlichen Brüdern in Jugoslawien" angetan habe45. Die SNS lag in den Umfragen Sowohl die Dauerkrise der Regierung des Frühsommers bei knapp neun Prozent Dzurinda als auch die genannten Umfrage- (Bezirk Žilina 13 Prozent). ergebnisse lassen spätestens nach den Als eine Art "slowakischer Berlusconi" Parlamentswahlen im kommenden Jahr einen versucht sich schließlich der 37-jährige Wechsel an der Spitze der slowakischen einflussreiche Besitzer der populären privaten Regierung erwarten. Andererseits ist es Fernsehstation TV Markiza, Pavel Rusko, mit sicherlich noch zu früh, eine Prognose darüber seiner Ende Mai gegründeten liberalen Partei zu wagen, ob damit auch ein radikaler Wandel Alianca nového obcana (ANO) in Position zu in der slowakischen Politik verbunden sein könnte. Zwar wies EU-Kommissar Verheugen vorsorglich darauf hin, dass eine Rückkehr der "alten Kräfte" den Beitrittsbemühungen der 42 Vgl. Slowakei auf Westkurs, in: Prager Zeitung vom 15.2.2001. 43 Vgl. Fico denkt an alle, in: Prager Zeitung vom 19.7.2001. 46 Vgl. Neue Ein-Mann-Partei?, in: Prager Zeitung 44 Vgl. SNS boss has eight party members vom 14.6.2001. suspended, in: The Slovak Spectator, August 13-19, 47 Vgl. Die Slowakei kommt nicht zur Ruhe, in: 2001. Prager Zeitung vom 14.6.2001. 45 Zit. nach Karl-Peter Schwarz, Wende und 48 Vgl. Michael Frank, Berlusconi und Haider auf Rückkehr des Populisten Meciar, in: Frankfurter Slowakisch, in: Süddeutsche Zeitung vom Allgemeine Zeitung vom 14.7.2001. 31.1.2001.

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Slowakei schaden könnte49. Doch selbst Vladimir Meciar als derjenige, dem man nach den Erfahrungen se iner Regierungszeit "in der EU und in der Nato am meisten mißtraut"50, gibt sich gewandelt. Glaubt man seinen Erklärungen, so befürwortet er heute nicht nur den von der großen Mehrheit seiner Landsleute gewünschten Beitritt zur Europäischen Union, sondern auch die weit weniger populäre

NATO-Mitgliedschaft. Mit dieser programma- Zur Erinnerung: Nach dem erdrutschartigen tischen Annäherung an die Regierungsparteien Erfolg bei den Parlamentswahlen vom 10. bzw. eröffnet sich die HZDS natürlich auch eine Reihe neuer Koalitionsmöglichkeiten. Meciars 24. Mai 1998 verfügte der Bund der Jungen staatstragendes Angebot, im Falle eines Demokraten - Bürgerliche Partei (FIDESZ- MPP) über 148 von 386 Mandaten in der Rückzugs der Partei der Ungarn aus der Nationalversammlung. Mit 134 Sitzen fiel die Koalition bis zum Herbst 2002 ein Minder- Sozialistische Partei (MSZP) auf den zweiten heitskabinett zu unterstützen, wurde indes von 51 Rang zurück. Drittstärkste Kraft wurde die Dzurinda zurückgewiesen . Wer auch immer schließlich das Rennen Unabhängige Partei der Kleinbauern (FKgP, machen wird; der fortdauernde Transforma- 48 Sitze), vor der Allianz Freier Demokraten (SZDSZ, 24), dem Demokratischen Forum tionsprozess des Parteiensystems mit dem (MDF, 17) sowie der rechtsextremen ständigen Auftauchen, Umgruppieren, Umpro- Ungarischen Gerechtigkeits- und Lebenspartei filieren und Verschwinden von Parteien lässt (MIÉP, 14)52. Dazu kam ein unabhängiger auch für eine neue Exekutive mehr oder weniger fragile Bündnisse erwarten, die Parlamentarier. Regierungschef einer Koalition effizientes Regierungshandeln erschweren. der rechten Mitte aus Jungdemokraten, Klein- bauern und dem Demokratischem Forum

wurde der damalige FIDESZ-MPP-Vorsitzen- Ungarn: Flurbereinigung im de Viktor Orbán. Seinem Vorschlag ent- Parteiensystem? sprechend beschloss ein Sonderparteitag der

Wir bleiben an der Donau, wenden den Blick Jungdemokraten am 29. Januar 2000, die jedoch auf die ein paar Stunden stromabwärts Führungsämter von Regierung und Partei zu trennen. Während László Kövér zum neuen gelegene ungarische Hauptstadt. In Budapest Parteivorsitzenden gewählt wurde, wollte sich scheint das Parteiensystem auf den ersten Blick Orbán auf seine Aufgaben als Minister- stabiler als in Bratislava zu sein. Eine Analyse präsident konzentrieren. Diese Entscheidung der innenpolitischen Entwicklungen der zurückliegenden Monate zeigt jedoch, dass der sollte sich als durchaus sinnvoll erweisen, da Transformationsprozess auch hier noch nicht neben der "normalen" Regierungsarbeit insbesondere Probleme beim Koalitionspartner abgeschlossen ist. FKgP zunehmend Zeit und Energie bean-

spruchten53.

52 49 Zit. nach Karl-Peter Schwarz, Wende und Alle genannten Parteien präsentieren sich auch Rückkehr des Populisten Meciar, in: Frankfurter im Internet, in der Regel jedoch nur in ungarischer Allgemeine Zeitung vom 14.7.2001. Sprache: www.fidesz.hu, www.mszp.hu, 50 www.fkgb.hu, www.szdsz.hu, www.mdf.hu, Ebd. www.miep.hu. 51 Vgl. Sommer-Denkpause in der Slowakei, in: 53 Vgl. auch zum Folgenden: Dilemma für Ungarns Neue Zürcher Zeitung vom 18.7.2001. Jungdemokraten, in: Neue Zürcher Zeitung vom

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Großes Ausmisten bei den Kleinbauern Eine Korruptionsaffäre um Torgyáns Sohn55 sorgte schließlich Ende Januar für den Gleich eine ganze Reihe von Korruptions- Rücktritt des umstrittenen Politikers von vorwürfen belastete die K leinbauernpartei über seinem Ministerposten. Zwar gelang es dem Monate hinweg und sorgten für dramatisch FKgP-Vorsitzenden entsprechend den Verein- fallende Werte in den Meinungsumfragen. Der barungen des Koalitionsvertrags einen seiner im Januar von einer innerparteilichen Opposi- Gefolgsleute als Nachfolger zu positionieren. tionsgruppe unternommene Versuch, dieser Torgyáns Versuch, anschließend seinen Entwicklung mit einem Vorstoß gegen den innerparteilichen Gegner Imre Boros aus der autoritären Parteivorsitzenden und Landwirt- Regierung zu entfernen, scheiterte dagegen am schaftsminister József Torgyán zu begegnen, Widerstand des Ministerpräsidenten56. misslang. Ohne Anhörung und Aussprache Umso heftiger wurde nun a ber der Kampf um wurde Torgyáns Hauptkritiker László Csúcs die innerparteiliche Vormachtstellung ausge- aus der Fraktion ausgeschlossen. Fünf weitere tragen. Nachdem Torgyán bereits zum Abgeordnete solidarisierten sich mit Csúcs und Jahreswechsel für einen Austausch von fünf folgten ihm fre iwillig in die Parteiunabhängig- der acht Mitglieder der Fraktionsführung sowie keit. für eine Suspendierung des gesamten Präsi- Auch wenn sich die Mehrheit der diums gesorgt hatte57, setzte er Mitte Februar Regierungsparteien in der Nationalversamm- in der erweiterten Führung seiner Partei einen lung dadurch rechnerisch auf fünf Mandate Beschluss durch, nach dem Minister nicht verringerte, war die Regierung nicht unmittel- zugleich Mitglieder des Parteipräsidiums sein bar gefährdet. Sowohl die dissidenten Parla- konnten. Damit verdrängte er die drei bis dahin mentarier als auch der Ministerpräsident verbliebenen FKgP-Minister aus der Partei- versicherten, weiterhin zusammenarbeiten zu führung58. Statt seine Macht zu konsolidieren, wollen. Problematischer war, dass das ver- provozierte Torgyan dadurch eine neue heerende Erscheinungsbild der Kleinbauern- Revolte. Anfang Mai eskalierten die Span- partei das Image der Regierung insgesamt zu nungen in der Kleinbauernpartei. Unter verdüstern drohte. Die Opposition jedenfalls chaotischen Umständen bestätigten etwa 2.000 nutzte die Situation, indem sie die Ausgaben- Anhänger Torgyáns den Parteichef auf einem politik des von Torgyán geführten Landwirt- Sonderparteitag in Cegléd per Akklamation in schaftsministerium kritisierte. Dass Ver- seiner Funktion. Kritikern wurde zum Teil mit schwendungsvorwürfe nicht ganz aus der Luft Gewalt der Zutritt zu der Veranstaltung gegriffen waren, sah wohl auch der Minister- verwehrt, andere, darunter die FKgP-Minister präsident. Indem das Finanzministerium János Szabó (Verteidigung) und Turi-Kovács Anfang des Jahres das Recht erhielt, Agrarsub- (Umwelt), mussten den Saal verlassen. Die ventionen zu kontrollieren und zu bewilligen, zahlreichen Misstrauensanträge gegen Torgyán beschränkte Orbán die Spielräume des wurden gar nicht erst zugelassen. Landwirtschaftsress orts ebenso wie durch verstärkte Kontrollen seitens einer entspre- 55 chenden Regierungsbehörde54. Vgl. Neuer Wirbel um Ungarns Kleinbauern, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30.1.2001. 56 Vgl. Keine Gefahr für Ungarns Regierung durch Kleinbauernpartei, in: Neue Zürcher Zeitung vom 26.3.2001. Vgl. auch zum Folgenden Torgyans Stellungnahmen unter www.fkgp.hu. 25.1.2001; Neuer Wirbel um Ungarns Kleinbauern, 57 Vgl. Hektik bei Ungarns Kleinbauernpartei, in: ebda., 30.1.2001. Neue Zürcher Zeitung vom 6./7.1.2001. 54 Vgl. Dilemma für Ungarns Jungdemokraten, in: 58 Vgl. Wirrwarr in Ungarns Kleinbauernpartei, in: Neue Zürcher Zeitung vom 25.1.2001. Neue Zürcher Zeitung vom 19.2.2001.

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Während Torgyán mit diesen von einem das politische Profil der diversen Partei- merkwürdigen Demokratieverständnis zeugen- funktionäre zu erkennen oder auch nur die den Maßnahmen seine Machtposition schein- Zahl der verbliebenen Splittergruppen zu bar erfolgreich verteidigte, tagten seine Gegner nennen, sei auf eine weitere Beschäftigung mit als "Bürgerliche Reformplattform" zeitgleich der Kleinbauernpartei vorerst verzichtet. "Zur in Budapest. Die etwa 1.000 Parteimitglieder Charakterisierung der Zustände genügt die dieses Gegenparteitags beschlossen ihrerseits, Angabe, dass Torgyán als Parteipräsident aus Torgyán abzuwählen und bestimmten den der parlamentarischen Fraktion ausgeschlossen Abgeordneten Zsolt Lányi zu seinem wurde, er aber wiederum mehrere Klein- Nachfolger 59. Im Gegensatz zu Torgyán landwirte-Minister sowie den Fraktions- genießt Lányi über die Parteigrenzen hinaus vorsitzenden aus der Partei ausschließen , zumal er bereits Mitglied der histori- ließ."62 Inzwischen unterstützt die FKgP sogar schen FKgP war, die vor der Machtergreifung oppositionelle Initiativen zur Einberufung von der Kommunisten die ersten Wahlen nach dem Sonderkommissionen, um Betrugsvorwürfe Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte60. gegen den Ministerpräsidenten zu klären63. Die nahe liegende Frage, welcher der Partei- Auch wenn Torgyán beachtliche Steher- flügel - die sich in der Folge weiter qualitäten besitzt, ist zu erwarten, dass die atomisierten - nun zukünftig legitimerweise Kleinbauernpartei letztlich ein ähnliches Name und Vorsitz der Partei für sich bean- Schicksal erwartet, wie es Mitte der 1990er spruchen könnte, musste vor Gericht geklärt Jahre dem Ungarischen Demokratischen werden. Tatsächlich lehnte das Höchste Forum (MDF) widerfuhr. Nach dem Tod von Gericht Ungarns den Antrag der Reformer auf Ministerpräsident József Antall zerfiel die juristische Bestätigung ihres Vorsitzenden ab, konservative Sammlungsbewegung infolge so dass Torgyán weiterhin die Führung von innerparteilichen Konflikten fast beansprucht61. vollständig. Vom Wahlsieger des Jahres 1990 Wenn es überhaupt e in gemeinsames Interesse blieb acht Jahre später nur eine Kleinpartei der verfeindeten Lager gibt, dann das, übrig, der es lediglich mit Hilfe eines Listen- möglichst bis zu den kommenden Wahlen an bündnisses mit den Jungdemokraten gelang, in der Regierungsbeteiligung festzuhalten. Ein das Parlament einzuziehen und Regierungs- Verlassen der Koalition würde angesichts der verantwortung zu übernehmen64. parlamentarischen Kräfteverhältnisse Neu- wahlen und damit den nahezu sicheren Unentschlossen vor der Fünfprozenthürde: Untergang nach sich ziehen. Nach den die Allianz Freie r Demokraten Meinungsumfragen des Frühsommers lag die FKgP in der Wählergunst nur noch bei etwa Um ihre Zukunft fürchten muss auch die einem Prozent und damit weit unter der für den linksliberale Allianz Fre ier Demokraten Einzug in die Nationalversammlung zu (SZDSZ), der es knapp ein Jahr vor den überspringenden Fünfprozenthürde. Da es Parlamentswahlen noch immer nicht gelungen mittlerweile selbst ausgewiesene Kenner der ist, entscheidende personelle und programma- ungarischen Parteienlandschaft überfordert, tische Fragen zu klären. Dabei schien es

59 Vgl. Chaos bei Ungarns Kleinlandwirtepartei, in: 62 Rebellionsversuch in Ungarns Koalition, in: Neue Neue Zürcher Zeitung vom 7.5.2001. Zürcher Zeitung vom 12.7.2001. 60 Vgl. Matthias Rüb, Politisches Erdbeben in 63 Vgl. Widerstand gegen Orbán, in: Prager Zeitung Ungarn, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom vom 2.8.2001. 8.5.2001. 64 Vgl. Matthias Rüb, Politisches Erdbeben in 61 Vgl. Schlammschlacht um die Macht in Ungarn, Ungarn, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom in: Die Welt vom 28.8.2001. 8.5.2001.

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Anfang Dezember 2000, als hätte die Partei der Sozialisten im Juni wählten die Delegierten endlich die notwendigen Weichen gestellt. Mit fast einstimmig den ehemaligen Finanzminister dem Budapester Oberbürgermeister Gábor Péter Medgyessy zum Spitzenkandidaten für Demszky wählte der SZDSZ-Parteitag einen den Urnengang im nächsten Frühjahr 67. Damit Politiker, dessen Popularität die U mfragewerte endete eine zeitraubende Suche nach einem der Freien Demokraten kurzfristig wieder geeigneten Herausforderer des amtierenden ansteigen ließ 65. Demszkys Strategie, die Premiers, die sich zuletzt auf drei mögliche SZDSZ als unabhängige Kraft zwischen den Kandidaten konzentrierte. Miklós Né meth, der beiden großen Volksparteien zu positionieren, letzte reformkommunistische Minister- stieß vor allem bei denjenigen auf anhaltenden präsident, warf das Handtuch, weil er wenig Widerspruch, die auf eine Neuauflage der Unterstützung für sein Werben um eine Koalition mit den Sozialisten hoffen. Grund- Annäherung seiner Partei an die Jungdemo- satzdiskussionen über das Selbstverständnis kraten fand und den bisweilen recht der SZDSZ zwischen politischer Partei und aggressiven Konfrontationskurs der MSZP intellektuellem Debattierzirkel schadeten den gegenüber der (ebenfalls mehr als forsch Linksliberalen zusätzlich. Nach nur knapp auftretenden) Regierung ablehnte. Nachdem sieben Monaten resignierte Demszky und trat auch der Ende November 2000 wieder- vom Parteivorsitz zurück66. Damit befindet gewählte Parteivorsitzende László Kovács "aus sich auch die Allianz Fre ier Demokraten in persönlichen Gründen" auf eine Kandidatur einer Krise, die sie den Wiedereinzug in die verzichtet hatte, war der Weg frei für Nationalversammlung kosten könnte. Medgyessy. Dass der 59-jährige Volkswirt bereits unter den Kommunisten Regierungs- Kandidatenkür beendet: Die Sozialiste n mitglied war und noch kurz vor dem Umbruch sind gerüstet von 1989 in das Zentralkomitee der Staatspartei aufstieg, dürfte ihm heute kaum In e iner ähnlichen Situation wie die genannten noch schaden. In seiner Tätigkeit als kleinen Parteien befand sich Mitte der 1990er Bankfachmann erwarb sich Medgyessy jeden- Jahre die Ungarische Sozialistische Partei. falls auch internationales Ansehen. Offen ist, Nach heftigen Richtungskämpfen drohte welche Auswirkungen die Tatsache hat, dass damals ein Zerfall der MSZP in einen starken der als wenig charismatisch geltende Politiker linken Flügel, eine SZDSZ-orientierte Gruppe kein Mitglied der MSZP ist. Vielleicht macht sowie eine gemäßigte Mitte. Dem damaligen Medgyessy aber genau dies für Wähler Parteichef Gyula Horn gelang es jedoch, den interessant, welche die Sozialisten bisher nicht Niedergang aufzuhalten und die Partei zu erreichen konnten. Die Parteiführung regelte konsolidieren. Heute stellen die Sozialisten die sicherheitshalber bereits das Verfahren der einzige politische Kraft im ungarischen Par- Zusammenarbeit zwischen Partei und Minister- teiensystem dar, die Chancen hat, den präsident für den Fall eines Wahlsieges. Die Jungdemokraten bei der nächsten Parlaments- Vereinbarung räumt Medgyessy ein wahl ernsthaft Paroli zu bieten. Das Personal Mitspracherecht in den Führungsgremien der dafür steht bereit. Auf dem Programmparte itag Partei ein, im Gegenzug wäre er verpflichtet, vor wichtigen Entscheidungen die MSZP- 65 Vgl. Frühe Wahlkampfstimmung in Ungarn, in: Neue Zürcher Zeitung vom 16./17.12.2000; Matthias Rüb, Klärung auf der Linken, Bewegung auf der Rechten, in: Frankfurter Allgemeine 67 Vgl. auch zum Folgenden: Matthias Rüb, Zeitung vom 11.6.2001. Klärung auf der Linken, Bewegung auf der 66 Vgl. Zwei große Blöcke in Ungarns Rechten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Parteiensystem, in: Neue Zürcher Zeitung vom 11.6.2001; Medgyessy als Gegner Orbans in 15.6.2001. Ungarn, in: Neue Zürcher Zeitung vom 18.5.2001.

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Spitze zu konsultieren68. Dazu müsste er indes überschätzung als von diplomatischem erst einmal seinen Kontrahenten Orbán Geschick. schlagen. Als Affront muss es in diversen europäischen Hauptstädten überdies gewertet werden, dass Selbstbewusst und siegessicher: die der Ministerpräsident des aussichtsreichen EU- Jungdemokraten in Pole -Position Beitrittskandidaten seine politischen Freunde zunächst ausgerechnet in den umstrittenen Ob die gegenwärtigen Oppositionsparteien Regierungen in Wien und Rom suchte71. vom Chaos um die Kleinbauernpartei profi- Obwohl Pokorni eine Zusammenarbeit mit der tieren, ist fraglich. Ministerpräsident Orbán ist antiwestlichen, fremdenfeindlichen und offen es trotz fortgesetzter Interventionen Torgyáns antisemitischen MIÉP72 ausdrücklich bislang gelungen, ein Überspringen des ausschloss, provozieren Orbáns Äußerungen "kleinbäuerlichen" Konfliktes auf die eigenen die Frage nach dem künftigen Verhältnis der Reihen zu verhindern. Im Gegenteil zeigen Jungdemokraten zu den ungarischen Umfragen wieder steigende Werte für die Rechtsnationalen. Dass der FIDESZ nach der Jungdemokraten. Neben einigen werbewirk- kommenden Wahl über die absolute Mehrheit samen Vorwahlgeschenken – darunter eine verfügt, gilt als unwahrscheinlich. Daran dürfte Erhöhung der Löhne und Gehälter für Beamte auch das Anfang September mit dem MDF und Verwaltungsangestellte um 70 %, die s ich unterzeichnete Abkommen über eine gemein- die Regierung angesichts sechsprozentiger same Liste beim Urnengang im Frühjahr 2002 Wachstumsraten erlaubte, trug dazu sicherlich nichts ändern73 Der Gedanke einer Großen auch die im Mai erfolgte Wahl des als be- Koalition mit den Sozialisten wird von beiden sonnen geltenden Erziehungsministers Zoltán Seiten glaubhaft zurückgewiesen. Auch bei Pokorni zum neuen Parteivorsitzenden bei. den Linksliberalen gibt es starke Vorbehalte Pokornis Vorgänger Kövér hatte nämlich gegen ein Bündnis mit den Jungdemokraten, ebenso wie Regierungschef Orbán nicht wobei es noch fraglich ist, ob sich der SZDSZ unerheblichen Anteil daran, dass der Tonfall im nächsten Jahr noch den Luxus der Jungdemokraten in den vergangenen entsprechender Diskussionen leisten kann. Jahren zunehmend aggress iver geworden Wenn es aber außerdem als ausgeschlossen war69. In innenpolitischen Auseinander- gilt, dass die Kleinbauern noch einmal in die setzungen mochte dies noch eine Frage des Nationalversammlung einziehen werden, angemessenen politischen Stils sein. Dass man bliebe nur noch eine realistische Option: eine aber im Zusammenhang mit dem sogenannten FIDESZ-Minderheitsregierung mit Statusgesetz, das ungarischen Minderheiten im parlamentarischer Unterstützung der MIÉP. Ausland Sonderrechte gewährt70, auch gegen- Dann könnten Haider und Berlusconi sich für über den Nachbarstaaten revanchistisch anmu- die ihnen bekundete Solidarität erkenntlich tende Töne anschlug, zeugte eher von Selbst- zeigen. Allerdings verärgerte die ungarische Regierung im Sommer zumindest die 68 Vgl. Medgyessy als Gegner Orbans in Ungarn, Österreicher. Um die K lientel der Kleinbauern in: Neue Zürcher Zeitung vom 18.5.2001. nicht zu verprellen, erklärte die Regierung 69 Vgl. Keine Gefahr für Ungarns Regierung durch Kleinbauernpartei, in: Neue Zürcher Zeitung vom 71 Vgl. Chaos bei Ungarns Kleinlandwirtepartei, in: 26.3.2001. Neue Zürcher Zeitung vom 7.5.2001. 70 Vgl. Ungarns umstrittenes "Statusgesetz", in: 72 Neue Zürcher Zeitung vom 27.4.2001; Keno Vgl. z.B. Polemik um einen ungarischen Fussballklub, in: Neue Zürcher Zeitung vom Verseck, Nationalkonservative Yuppies, in: die 26.7.2001. tageszeitung vom 21.6.2001; Rumänien weiter gegen Ungarns Statusgesetz, in: Neue Zürcher 73 Vgl. Wahlbündnis in Ungarns Regierungslager, Zeitung vom 23.7.2001. in: Neue Zürcher Zeitung vom 3.8.2001

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Orbán, ohne die Nachbarn zu konsultieren, alle Ereignisse zu vermelden vergab. Dies alles Verträge über Landkäufe, die seit 1994 illegal gehört zur Normalität in demokratischen abgeschlossen wurden, für nichtig. Nach Systemen innerhalb und außerhalb der Euro- offiziellen Schätzungen sind davon zwei bis päischen Union, leider ebenso wie politische fünf Prozent der landwirtschaftlichen Erfolge z. T. fragwürdiger populistischer Nutzflächen betroffen. Damit verlieren viele Gestalten. Wie jedoch die Beispiele Torgyán österreichische, aber auch italienische und und Meciar vermuten lassen, sind ihre deutsche Landwirte Ackerland, das sie in Möglichkeiten auch in den EU-Beitrittsländern Erwartung der EU-Erweiterung ungarischen begrenzt und der Druck enorm, sich den Bauern abkauften. Eine Entschädigung ist Spielregeln einer demokratischen politischen nicht vorgesehen74. Vor laufenden Kameras Kultur anzupassen. Zwar ist nur in wenigen drohte Orbán im Sommer wörtlich: "Diese mittelosteuropäischen Staaten ein Ende der Österreicher können froh sein, wenn sie mit Transformationsprozesse auch im parteipoli- heiler Haut davonkommen. (...) Von nun an tischen Bereich abzusehen, was es nicht nur gibt es kein Pardon mehr. Ein jeder den Verhandlungspartnern in den EU-Staaten Österreicher wird lernen müssen, dass Ungarn mitunter schwer macht, den Überblick zu ein Rechtsstaat ist"75 Und vielleicht auch, wie behalten. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass man Sündenböcke für e igenes Versagen in der mit Ausnahme weniger extremer Gruppie- Landwirtschaftspolitik findet. rungen alle relevanten politischen Kräfte an den Integrationsbemühungen festhalten. Im Fazit kommenden Jahr stehen in einer ganzen Re ihe von EU-Anwärtern Parlamentswahlen an. Wer Die vier untersuchten EU-Anwärter sind aus ihnen siegreich hervorgeht, darf sich gute bekanntlich nicht die einzigen, die mit Chancen ausrechnen, noch während seiner innenpolitischen Turbulenzen zu kämpfen Amtszeit die Beitrittsverträge zu unter- haben. Vielmehr fanden der Regierungs- zeichnen. wechsel in Bulgarien sowie der Niedergang der Regierungskoalition in Polen erheblich größere Aufmerksamkeit in den deutschsprachigen Gerhard Schüsselbauer Medien. Im Falle Sofias dürfte dies mit der Persönlichkeit des früheren Zaren zu erklären Die Ukraine im Jahr 2001 - auf sein, bei der Berichterstattung über die dem Weg nach Europa? Entwicklungen in Warschau mit der größeren Bedeutung des östlichen Nachbarlandes für die „Es gibt drei populäre Missverständnisse im Bundesrepublik. Regierungskrisen, Kabinetts- Ausland über die Ukraine. Sie lauten, es gebe umbildungen, Koalitions- und gegebenenfalls hier eine Bürgergesellschaft, eine Marktwirt- Regierungswechsel geben indes nicht per se schaft und eine Demokratie.“ (Wolodimir 76 Anlass zur Beunruhigung. Ein flüchtiger Blick Polochajlo, ukrainischer Politologe) auf Schlagzeilen aus London, , Rom oder Dublin zeigt, dass es während der vergangenen Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Monate auch in EU-Staaten ent-sprechende führte die Ukraine, das südliche Nachbarland Russlands, in den 1990er Jahren lange Zeit ein Schattendasein in Osteuropa. Von einer 74 Vgl. Ungarn erklärt Verträge von Landkäufen für nichtig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom tiefgreifenden Wirtschaftskrise gebeutelt, im 23.7.2001. Disput mit Russland wegen der Schwarzmeer- 75 Zit. nach Ungarns "Blut und Boden" durch den Westen aufgekauft, in: Prager Zeitung vom 76 Zit. in Frankfurter Rundschau vom 24.8.2001, S. 2.8.2001. 21.

27 flotte, ohne Atomwaffen, aber mit der Erblast massiven Ungereimtheiten darin, dass das von Tschernobyl ausgestattet, verharrte das Regime eines „neo-totalitären Kurses“78 ver- Land lange Zeit in Isolation. Erst in diesem dächtigt wurde. Die Ukraine hat sich im neuen Jahr ist der Ukraine die Aufmerksamkeit zuteil Jahrhundert in der Tat weiter von der demo- geworden, die das Land aufgrund seiner Größe kratischen Kultur entfernt, als offizielle und seines Potenzials eigentlich verdient. Verlautbarungen vermuten lassen. Beim Zurückzuführen ist diese Tatsache auf Papstbesuch im Juni 2001 nutzte Kutschma die mehrere, mitunter unrühmliche Faktoren, die Gunst der Stunde und beschwor nicht nur Gegenstand dieses Beitrags sein sollen: das eindringlich die christlichen Wurzeln und die Verschwinden und die Ermordung des Kiewer wechselvolle Geschichte des Landes, sondern Journalisten Georgi Gongadse, die Ver- bekräftigte auch den Entschluss, auf dem Weg strickungen des Präsidenten Leonid Kutschma nach Europa zu bleiben79. Darin zeigt sich die in dieses Verbrechen, die Re gierungskrise und ganze Ambivalenz der ukrainischen Politik, die die Absetzung des Ministerpräsidenten Viktor sich aufgrund des ständigen Lavierens Juschtschenko sowie der nicht unumstrittene zwischen verschiedenen Systemen aufzureiben Besuch des Papstes Johannes Paul II im scheint. Wohl nirgends in einem europäischen Sommer 2001. Darüber hinaus soll als weiterer Land kommt der klass ische Ost-West-Konflikt Schwerpunkt die wirtschaftliche Lage in der noch so offen zum Vorschein wie in der Ukraine analysiert werden. Ukraine. Darüber hinaus verstärken kulturell Seit der Erlangung der U nabhängigkeit im Jahr bedingte Entwicklungsmuster zentrifugale 1991 ist das osteuropäische Land immer Kräfte sowohl im Volk als auch in der poli- wieder in den Verdacht geraten, ein bevor- tischen Landschaft. stehender Konflikt zwischen dem Die Feiern zum zehnten Jahrestag der Ukraine 80 „prowestlichen“ Westen und dem eher im August 2001 standen zwar ganz im prorussischen, „sowjetnostalgischen“ Osten Zeichen der Betonung der „harmonischen“ der Ukraine könnte die Stabilität nachhaltig Beziehungen im Land, konnten aber nicht über gefährden. Viele Beobachter sprachen bereits die weiterhin bestehenden massiven Differen- vorschnell von einem drohenden Nationali- zen zwischen der Staatsführung und der tätenkonflikt, übersahen aber dabei, dass das Opposition hinwegtäuschen. Ein positives ukrainische Nationalbewusstsein bei weitem Zeichen war darin zu erkennen, dass dem nicht so stark ausgeprägt ist. Die besonders Staatsakt am 24. August die Staatschefs der- von amerikanischen Kommentatoren festge- jenigen Länder beiwohnten, mit denen die stellte Sollbruchlinie in der Ukraine hat bislang Ukraine ein historisch belastetes und schwieri- jedenfalls nicht zum befürchteten Auseinander- ges Verhältnis hat. Nicht nur scheinen sich die brechen geführt. Beziehungen zum mitteleuropäischen Nach- Auf politischer Ebene reißen die internen und barn Polen zu normalisieren, in regelmäßigen internationalen Vorwürfe gegen den im Abständen findet eine verstärkte Annäherung November 1999 wiedergewählten Präsidenten an Russland statt, die auch von Präsident Putin Kutschma77 wegen der Einschränkung der intensiv betrieben wird. Die intensivere Medienfreiheit, Manipulationen und Re pressa- Zusammenarbeit im Rüstungs- und Raumfahrt- lien gegen die Opposition nicht ab. Im sektor legt die Vermutung nahe, dass die Gegenteil, die Entwicklung kulminierte in 78 diesem Jahr aufgrund der Häufung der Vgl. tageszeitung vom 3.4.2001, S. 6. 79 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.6.2001, S. 3. 77 Vgl. dazu ausführlich Winfried Schneider-Deters, 80 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 24.8.2001, S. 5 Präsident Kucma wiedergewählt, osteuropa 4/2000, sowie Frankfurter Allgemeine Zeitung vom S. 351-366. 24.8.2001, S. 1 und 6.

28 ukrainisch-russischen Beziehungen auf der Situation bei Demonstrationen der Regime- Grundlage bereits in der Sowjetzeit exis- gegner zu eskalieren. Die Ukraine war nicht tierender Kooperation wieder aufleben. Eine nur von einer anhaltenden Depression ge- neue Umfrage zeigte, wie stark die imperiale beutelt, sondern befand sich auch am Rande Nostalgie in Russland verbreitet ist81. 56 % der einer gewaltsamen Auseinandersetzung. befragten Russen unterstützen die Vereinigung Mittlerweile hat sich die Situation zwar wieder Russlands und der Ukraine. beruhigt, Regimekritiker sprechen aber Die Feierlichkeiten verdeutlichten auch, dass weiterhin von einem antidemokratischen Kurs sich das Land mitten in der Nationenbildung der Staatsführung. Aussagen junger Menschen befindet. Ob aus der heterogenen Mischung, zufolge schwindet die Hoffnung zusehends, bestehend aus Ukra inern und der russischen dass die Ukraine in den nächsten Jahren den Bevölkerung, die vom politisch privilegierten Weg ins demokratische Europa im Rahmen Teil des sowjetischen Staatsvolks zur Minder- einer verstärkten Integration finden könnte83. heit wurde, eine politische Nation entsteht, Staatliche Willkür äußerte sich auch in der muss angezweifelt werden. 1991 entstand die Festsetzung der populären Oppositions- Ukraine im Gefolge des Untergangs des politikerin Julia Tymoschenko84, die ein Opfer Sowjetimperiums als Kompromiss zwischen der Schachzüge Kutschmas wurde und im den politisch schwachen nationalbewussten Frühjahr 2001 sechs Wochen unrechtmäßig in Kräften und der sowjetukrainischen Nomen- Haft bleiben musste. Die charismatische Politi- klatura um Leonid Krawtschuk, der als damals kerin und reiche Unternehmerin, die eine steile dominierende Figur die Unabhängigkeit Karriere als „Gas-Prinzessin“ hinter sich hat, durchsetzen konnte. In der heutigen Lage der fiel bei den Oligarchen des lukrativen Ukraine spiegelt sich diese unausgewogene Energiesektors in Ungnade. Ihre Absicht war Tendenz wider. es, gemeinsam mit dem ehemaligen Premier- minister Viktor Juschtschenko das marode Politik - Dominanz der staatlichen Willkür Wirtschaftssystem, und darin vor allem den Energiesektor, radikal umzustrukturieren. Die Auslöser des Konfliktes zwischen dem Staats- Dominanz „steinzeitlicher“ Tauschgeschäfte, präsidenten und der Bevölkerungsmehrheit war die für einige wenige Gruppierungen höchst die undurchsichtige Rolle Kutschmas bei der profitabel waren, sollte verhindert werden, Ermordung des regimekritischen Journalisten indem finanzwirtschaftliche Regelungen die Georgi Gongadse. Später aufgetauchte Ton- Rückkehr zur Geldwirtschaft ermöglichen bandaufzeichnungen, die vom früheren sollten. In dieser Affäre zeigt sich die gesamte Leibwächter Kutschmas, Nikolai Melnitschen- Tragweite der Einflussnahme mächtiger ko, an die Öffentlichkeit gebracht worden Wirtschaftsbosse auf politische Entscheidungs- waren, enthüllten eine skandalöse, letztlich träger, die als ein typisches Charakteristikum jedoch nicht gänzlich aufgedeckte Ver- von Transformationsländern gilt. Bei strickung des Staatsoberhauptes in einen fehlendem Wettbewerb und privatwirt- 82 Auftragsmord . Im Frühjahr 2001 drohte die schaftlichen Eigentümerstrukturen üben Monopolisten und Oligopolisten einen ent- 81 Vgl. Die Welt vom 24.08.2001, S. 6. scheidenden, lobbyistischen Druck auf 82 Vgl. dazu den Beitrag in „Der Spiegel“ 12/2001, S. 230-234. Darin werden die mitgeschnittenen politischer Ebene aus, der insbesondere der Unterredungen im „Fall Gongadse“ zwischen dem Staatspräsidenten und dem Innenminister sowie 83 Vgl. dazu den Beitrag im O-Ton in dieser dem Geheimdienstchef dokumentiert. Die mitunter Ausgabe der „aktuellen ostinformationen“. drastische, vulgäre Ausdrucksweise Kutschmas 84 lässt den Schluss zu, dass sich Kutschma weit Vgl. Frankfurter Rundschau vom 27.2.2001, S. 9, abseits aller demokratischen Regeln bewegt und sowie Welt am Sonntag vom 19.8.2001, S. 7; siehe einen autoritären Führungsstil pflegt. auch http://tymoshenko.freeservers.com

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Besitzstandswahrung dient. Aber auch Parlaments im April 2001 als Garant für vordergründig ehrenwerte Oppositionspolitiker einen Reformkurs, der nicht nur politische und –politikerinnen geraten im Dschungel der Stabilisierung sondern auch marktwirtschaft- Seilschaften und Günstlingswirtschaft immer liche Erholung verhieß. Sein Kampf gegen öfter in den Verdacht, an betrügerischen Korruption, Amts- und Machtmissbrauch Machenschaften teilzuhaben. sowie die Dominanz der Oligarchen schien zunächst vielversprechend, endete dann aber Derzeit lassen sich mindestens drei Zentren der mit der Amtsenthebung durch das Parlament. Macht in der Ukraine ausmachen: Sowohl seine Rolle a ls auch sein Einfluss als 1. Präsident Leonid Kutschma: Nach seiner einer der Oppositionsführer sind bislang Wiederwahl als Präsident der Ukraine ließ nicht deutlich genug ausgeprägt und müssen Kutschma seine Kompetenzen per erst noch stärker positioniert werden. Ein Referendum ausweiten. Erweiterte Voll- weiterer führender Kopf der Opposition ist machten stürzten das Land in eine Situation Oleksandr Moros, der Vorsitzende der unklarer Machtverhältnisse. Das Recht, das Sozialisten, der immer wieder als ein enga- Parlament aufzulösen, wenn es keine gierter Kämpfer für soziale Gerechtigkeit arbeitsfähige Regierung hervorbringt, sowie auftritt. die Einschränkung der Immunität der gewählten Volksvertreter bedingen eine An der Spitze der Oppositionsbewegung unheilvolle Konstellation von Macht- finden sich mehrere Organisationen, wie kämpfen in der Führungselite. Durch die „Ukraine ohne Kutschma“ und das „Forum zur Verstrickungen im Mordfall Gongadse verlor nationalen Rettung“. Die Zusammenarbeit zwi- Kutschma in den ersten Monaten dieses schen den einzelnen, zersplitterten Jahres völlig das Vertrauen der Bevölkerung. Oppositionsfraktionen gestaltet sich allerdings Massive Proteste und Demonstrationen sehr schwierig, da sich darin das gesamte brachten das Land mehrmals an den Rand politische Spektrum wiederfindet. Derzeit ist einer unkontrollierbaren Eskalation. Die die Ukraine für die Witwe Gongadses ein neue Regierung um Ministerpräsident „Land ohne Helden, denn Helden der Wirk- Anatolij Kinach und Außenminister Anatolij lichkeit werden hier ausgegrenzt, missachtet, Slenko gibt sich weitaus präsidententreuer fertig gemacht.“85 Obwohl die Oppositions- als die entmachtete Regierung Juschtschen- bewegung permanent versucht, die manipu- kos. lierte Präsidentschaftswa hl von 1999, die 2. Wirtschaftsoligarchen: Die Oligarchen sind Günstlingswirtschaft und grassierende Korrup- über drei Parteien direkt im Parlament tion86, den sanktionierten Betrug bei der vertreten, gehen mitunter mit den Kommu- Übertragung des Eigentums an staatlichen nisten unselige Koalitionen ein und Unternehmen sowie die Fassadendemokratie kontrollieren ähnlich wie in Russland den anzuprangern, gelingt es ihr bislang nicht, die Großteil der Medien. Ihre Einflusssphäre sind monopolistisch bzw. oligopolistisch 85 Zit. im Beitrag Ukraine – Land der toten Helden strukturierte Märkte (bspw. im Energie- von Michael Thumann in: Die Zeit 9/2001. sektor), die es ihnen erlauben, abseits demo- 86 Die in Berlin ansässige, angesehene kratischer und marktwirtschaftlicher Spiel- Nichtregierungsorganisation „Transparency Inter- regeln die Machtverhältnisse zu ihren national“ (siehe www.transparency.org) dokumen- tiert in ihrem aktuellen Korruptionsindex 2001 das Gunsten zu ordnen. erschreckende Ausmaß der Korruption und Miss- 3. Zersplitterte Opposition: Ex-Premierminister wirtschaft in der Ukraine. Bei insgesamt 91 Viktor Juschtschenko galt bis zu seiner untersuchten Ländern rangiert die Ukraine mit Platz 83 weit unten, auf einer Stufe stehend mit Russland, Abwahl durch ein Misstrauensvotum des Pakistan oder Aserbeidschan.

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Festung Kutschmas in ihren Grundfesten zu er- unmissverständliche Botschaft war ein Aufruf schüttern. Zu stark ist weiterhin sein Rückhalt zur gegenseitigen Versöhnung zwischen Polen bei den mächtigen Einflussgruppierungen im und der Ukra ine. Ein wichtiger Schritt wurde Land (Wirtschaftsoligarchen, Banken, Armee unternommen, die historisch bedingte Feind- und Polizei). In den letzten fünf Jahren wurden schaft zwischen der mit Rom unierten in der Ukraine elf Journalisten umgebracht87. griechisch-katholischen Kirche im Westen der Im Juli starb der regimekritische Chef einer Ukraine und den Orthodoxen, die vor allem in lokalen Fernsehstation in der Ostukraine, Igor der Zentralukra ine und im Süden sowie Aleksandrow. Auch dieser Mord konnte bis- Südosten am stärksten sind, zu beseitigen. lang nicht aufgeklärt werden. Unabhängige Doch nicht einmal unter den orthodoxen Kreise sprechen davon, dass die Ukraine Glaubensrichtungen herrscht Einigkeit. Im momentan ein „einzigartiges Gewaltniveau“88 Gegenteil: Die drei orthodoxen Patriarchate erreicht habe. Kutschma allerdings beschwört gleichen einem Spiegel, der die innere bei jeder Gelegenheit die Pressefreiheit und die Zerrissenheit des Landes reflektiert. Die Möglichkeiten zur unabhängigen Berichter- Auseinandersetzungen der orthodoxen Kirche stattung in den Medien. des Moskauer Patriarchats mit der orthodoxen Rätselhaft und unklar wirkt die Europapolitik Kirche des Kiewer Patriarchats sowie der der ukrainischen Exekutive. Ministerpräsident ukrainischen autokephalen (unabhängigen) Kinach legt zwar immer wieder ein Bekenntnis orthodoxen Kirche belegen, dass die Ansprü- zur Integration ab und unterstreicht die che auf die religiöse Führung im Land noch Absicht, die Ukraine wolle in zehn Jahren längst nicht zufriedenstellend geregelt sind91. Mitglied der EU sein89, die Umsetzung des Die Kontroversen sind zudem mit schwierigen Aktionsplan für die Annäherung steckt jedoch kirchenrechtlichen Fragen verbunden und immer noch in den Kinderschuhen. zeigen, welche Rolle der Aussöhnung in der christlichen Glaubenswelt zukommt. Religion – das schwierige Verhältnis der Insofern ist der Besuch des Papstes als Erfolg 90 Kirchen zu werten. Mehr a ls zwei Millionen Menschen

besuchten die vier Messen des Papstes, und das Nicht unumstritten war der Papstbesuch im in einem Land, in dem die Menschen unter Juni dieses Jahres. Der russische Patriarch sowjetischer Herrschaft gewaltsam zum Aleksej II., der die gesamte Ukraine und a uch Atheismus bekehrt wurden und die Hälfte der Weißrussland als ein Gebiet betrachtet, das der Bevölkerung nicht getauft ist92. Das russischen orthodoxen Kirche untersteht, hätte Medieninteresse am Papstbesuch war enorm. die Reise des Papstes am liebsten verhindert. Zum ersten Mal in der Geschichte der jungen Die versöhnlichen Worte Johannes Paul II. und Ukraine wurden Fragen der Bedeutung der die Bemühungen, das ökumenische Zusam- Religion für die gesellschaftliche und staat- menleben der verschiedenen christlichen Kir- liche Entwicklung derart intensiv diskutiert. chen voranzubringen, brachten den Patriarchen Von nachhaltiger Bedeutung dürften die am allerdings in Zugzwang. Johannes Paul II. Rande des Papstbesuches stattgefundenen Treffen zwischen hochrangigen Vertretern 87 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom beider Kirchen bleiben. 20.8.2001, S. 16. Freilich ließ es sich Präsident Kutschma nicht 88 Zit. in tageszeitung vom 11.7.2001, S. 4. nehmen, medienwirksam mit dem Papst 89 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.8.2001, S. 1. 91 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 90 Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Juri 26.6.2001, S. 3. Durkot, Zwischen Zwist und Dialog, KAS – 92 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Auslandsinformationen, 8/01, S. 4-18. 28.6.2001, S. 8.

31 aufzutreten und den Geist der christlichen und Rückgang des Volkseinkommens aufgrund europäischen Werte zu beschwören. Die permanenter negativer Wachstumsraten ging Gelegenheit zur Harmoniebekundung kam dem auch ein entsprechender Rückgang bei den Staatschef in Zeiten eigener Krisen gerade Realeinkommen der Bevölkerung einher. Es recht. Besonders aufgewertet wurde durch die bedarf wenig Phantasie, sich auszumalen, wie Papstreise die westukrainische Region mit sehr sich die sozialen Lebensverhältnisse der ihrer Hauptstadt Lwiw (Lemberg) auch in der Bevölkerung verschlechterten, zumal mit der europäischen Öffentlichkeit. Jahrhundertelang Depression auch eine zunehmende unter polnischer Herrschaft, später ein Te il der Verschlechterung der Einkommensverteilung Habsburger Monarchie und nach dem Zweiten einherging. Die Lebenserwartung eines ukrai- Weltkrieg von den Sowjets besetzt, stellt Lwiw nischen Mannes beträgt mittlerweile nur noch die „westlichste“ Stadt der osteuropäischen 58 Jahre. Ukraine dar. In dieser Region leben knapp eine Zunächst stand die Stabilisierung im Million römisch-katholische ukrainische Vordergrund. Die neue Währungspolitik Ende Staatsbürger, die zum Großteil der polnischen der 1990er Jahren brachte erst 2001 Wachs- Minderheit zuzurechnen sind, während eine tumsimpulse. Die neue Währung der Ukraine, kleine Minderheit der Ungarn den Südwesten die Hryvna, zeigte sich nach der Russlandkrise bewohnt. D ie griechisch-orthodoxe Kirche, der vom August 1998 als stabil. Die Inflationsrate, fast sechs Millionen Gläubige angehören, feiert im Jahr 2000 noch mit 26 % jenseits des momentan eine Art Wiederauferstehung, die Stabilisierungsziels, weist mittlerweile mit 2,7 vor allem durch den Papstbesuch begünstigt % beherrschbare Werte auf. Ab 2000 begann wurde93. Das Leitprinzip der Versöhnung sollte ein verhaltener Aufschwung, allerdings von nicht nur in den Kirchen Anwendung finden, einem extrem niedrigen Niveau ausgehend. sondern a uch auf die politische und zwischen- Das BIP stieg im letzten Jahr real um 5,2 %, staatliche Ebene übertragen werden. die Industrieproduktion legte um 12,9 % zu und auch die Agrarproduktion konnte um 6 % Wirtschaft – Ende der Talfahrt in Sicht? erhöht werden. In der ersten Hälfte dieses Jahres stieg die volkswirtschaftliche Wert- 94 Die Ukraine war vom Zusammenbruch des schöpfung gar um 9 % . sowjetischen Staatshandelssystem besonders Aufgrund des Präsidentenerlasses Nr. 1529/99, stark betroffen, da die Spezialisierung in der der Anfang 2000 wirksam wurde, konnte die Landwirtschaft, in der Rohstoffförderung und Vergabe von Landzertifikaten an die Mitglie- in der Schwerindustrie das Land für die der der Agrarbetrieb geregelt werden, so dass postsozialistische Transformationskrise anfäl- die kollektiven Landwirtschaftsbetriebe in lig machte. Ohne einen halbwegs entwickelten private Familienhöfe auf Pachtbasis umgewan- Privatsektor und ohne ein durchgreifendes delt werden konnten. Für die Ukraine als ein Umstrukturierungskonzept musste der Absturz landwirtschaftlich strukturiertes Land, in dem der industriellen Produktion und der Rückgang der Anteil des primären Sektors an der der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung gesamten Wirtschaftsleistung hoch ist, war besonders drastisch ausfallen. Berechnet auf dieser Schritt von richtungsweisender Be- der Basis des Jahres 1990 (=100) betrug die deutung, zumal mehr als fünf Millionen Wirtschaftsleistung, also das N iveau des realen Pachtverträge abgeschlossen wurden. Im Bruttoinlandsprodukts, im Jahr 2000 nur noch Ergebnis gleicht die Landreform einer macht- 43,2 %. Mit dieser Entwertung des volkswirt- vollen antikommunistischen Propaganda, da schaftlichen Kapitalstocks und dem drastischen 94 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.8.2001, S. 16 sowie Neue Zürcher Zeitung vom 93 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 27.06.2001, S. 5 28.5.2001, S. 7.

32 sich jetzt auf dem Land eine pluralistische und Kosteneffizienz nicht zur Anwendung (Land-)Eigentümergesellschaft herausbildet. kommen. Als Folge davon verschlechtert sich die finanzielle Lage der meisten Betriebe zusehends. Vielen Betrieben droht der Bankrott, weil dringend notwendige Schritte der technologischen, finanziellen (notleidende Kredite bei den Banken) und organisatorischen Umstrukturierung ver- säumt wurden. Nur wenn die Leistungs- struktur der Unternehmen radikal moderni- siert wird, erhält die Wirtschaft eine Chance, sich aus der Umklammerung der

permanenten Depression zu befreien. Trotz der sichtbaren Ergebnisse während der ??Im Bankensystem droht eine Vielzahl von Erholungsphase fehlt dem Land gleichwohl e in Instituten aufgrund der explodierenden not- konsequent umsetzbares, radikales Programm, leidenden Kredite Insolvenz anmelden zu das folgende ordnungspolitische Elemente müssen. Die aufgrund der Exportschwäche beinhalten müsste95: gestiegene Devisenknappheit verstärkt ??Der Aufbau von effizienten Unternehmens- dabei massiv die Zahlungsschwierigkeiten. strukturen in Industrie und Dienstleistung Notwendig ist daher ein marktwirt- wurde auch nach der Privatisierung schaftliches Konsolidierungsprogramm, fatalerweise nicht ernsthaft verfolgt. ähnlich dem, wie es in den 1990er Jahren in Insider-Strukturen und staatlich Autoritäten Polen und Ungarn durchgeführt wurde. Die dominieren weiterhin den Produktions- Steuer- und Kapitalflucht muss nachhaltig sektor. Es fehlen „echte“ Eigentümer. Auf bekämpft werden. So sind in den zehn oligopolistischen Märkten dominiert Jahren der Unabhängigkeit ca. 40 Mrd. Insider-Handel. Die Machtstrukturen sind Dollar ins Ausland geflossen. Im Vergleich zwischen den Betriebsleitern, teilweise dazu erhielt das Land während dieses identisch mit den Wirtschaftsoligarchen, Zeitraums lediglich vier Mrd. Dollar an und staatlichen Behörden sowie Bürokrate n ausländischen Direktinvestitionen. aufgeteilt. Das Ausnützen von informellen Kanälen für Beschaffung, Produktion und Anatolij Kinach als Nachfolger von Ex- Vertrieb kennzeichnet auch in der heutigen Ministerpräsident Juschtschenko fällt die Ukraine das Bild der wirtschaftlichen Akti- heikle Aufgabe zu, die beabsichtigten, aber vitäten. Daher fällt die maßgebliche Rolle noch nicht ausgereiften Wirtschaftsreformen einem radikalen Aufbau ordnungspoliti- konsequent gegen den Widerstand der ver- scher Kompetenz bei den Entscheidungs- schiedensten Interessengruppen durchzusetzen. trägern zu. Vergleicht man die Situation der Ukraine mit ??Der Einfluss des zentralistischen Apparates den Erfahrungen in anderen Transformations- muss drastisch verringert werden, um ländern, dann lässt sich festhalten, dass noch Verhaltensänderungen zu ermöglichen. Das ein weiter und steiniger Anpassungsweg zu Fehlen echter Investoren bedingt, dass bewältigen ist, will das Land ernsthaft die tief entscheidende betriebs- und marktwirt- greifende Krise überwinden. schaftliche Steuerungsgrößen wie Gewinn

95 Vgl. auch Finance & Development, Economies in Transition, September 2000, S. 2-27.

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Fazit hin, als dass ein einheitlicher Pfad in Richtung EU-Integration beobachtet werden könnte. Ob die Ukraine wirklich nach Europa zurück- Viel mehr wird die Ukraine noch für längere kehrt und die „Orientierung auf europäische Zeit ein Pendler zwischen verschiedenen Werte der Demokratie, sozialen Marktwirt- Systemen bleiben. schaft und Achtung der Menschenrechte“96 tatsächlich mit der Nachhaltigkeit verfolgt wird, wie der ukrainische Außenminister Zbigniew Wilkiewicz Anatolij Slenko in einem Beitrag in der FAZ tatsächlich Glauben machen möchte, ist eine Andrzej Szczypiorski und mehr als umstrittene Frage. Zwar stehen Europa europäische Werte, wie die Würde des Menschen, der Schutz des Einzelnen vor dem Der vorliegende Beitrag speist sich aus drei Zugriff des Staates und das Wohlergehen der Zugängen zu Autor und Werk, wobei das Bevölkerung in den Sonntagsreden ukrai- Thema der europäischen Identität die Folie nischer Politiker an oberster Stelle. Aussagen bildet. Im ersten Abschnitt wird nach den von vielen Oppositionellen und unabhängigen persönlichen Dispositionen des am 16. Mai Journalisten, die immer wieder Repressalien, 2000 verstorbenen Autors gefragt. In einem willkürliche Übergriffe oder sogar um ihr zweiten Abschnitt wollen wir uns a m Beispiel Leben fürchten müssen, sprechen eine völlig zweier Romane Szczypiorskis mit dem in andere Sprache. Die Ukraine ist ein Land im fiktiver Form modulierten Europa-Verständ- Übergang, noch ohne festen Boden und nis des Autors beschäftigen. Schließlich versucht, den schwierigen Weg einer Partner- werden wir im dritten Teil jene diskursiven schaft mit der Europäischen Union und mit Aussagen zusammenstellen und analysieren, Russland gleichzeitig zu gehen. Die Bewegung die für das Gesa mtthema relevant scheinen. in Richtung EU sowie die Entwicklung freund- Bei den beiden fiktiven Texten handelt es sich schaftlicher und vertiefter Beziehungen zu zunächst um den 1988 in deutscher Über- Russland muss nicht notwendigerweise ein setzung erschienenen Roman „Die schöne Paradox sein. Solange aber die Ukraine keine Frau Seidenman“98, der zwei Jahre zuvor echte entwickelte demokratische Kultur und unter dem Titel „Poczatek“ [Der Anfang] bei eine Marktwirtschaft mit sozialpolitischer dem polnischen Exilverlag „Instytut Komponente hat, fällt es sehr schwer, den Literacki“ in Paris veröffentlicht wurde. 99 Absichtserklärungen der politischen Führung Als zweiter fiktiver Text wurde der Roman Glauben zu schenken. Viel eher erscheint die „Nacht, Tag und Nacht“ ausgewählt, dessen Tendenz als wahrscheinlich, dass dem Land deutsche Übersetzung zeitgleich mit dem noch weitere politische und gesellschaftliche polnischen Original im Jahre 1991 veröffent- Turbulenzen bevorstehen. Kutschma versucht licht wurde. 100 97 zwar, den „starken Mann“ und patriotischen Hinsichtlich der diskursiven Aussagen können Patriarchen zu spielen, der die politischen wir sowohl auf die Sekundärliteratur zu Autor Fäden in der Hand zu halten scheint, die Macht und Werk zurückgreifen als auch auf einige anderer Oligarchengruppierungen im Land zentralen Essays und Reden Szczypiorskis, deutet jedoch auf e in viel komplexeres Gefüge

98 96 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Andrzej Szczypiorski: Die schöne Frau 23.8.2001, S.12. Seidenman. Zürich 1988. 99 97 Vgl. darüber hinaus den Beitrag von Herbert Ders.: Poczatek. Paris 1986. Küpper, Starke Männer, Patriarchen oder Staats- 100 Ders.: Tag, Nacht, Tag und Nacht. Zürich 1991. notare? osteuropa 10/2000, S. 1083-1096. Polnisch: Noc, dzien i noc. Poznan 1991.

34 die 1996 in deutscher Übersetzung erschienen Gewerkschaften, während der deutschen sind. Dieser Band ist als Gesamtvolumen Okkupation in der konspirativen Organisation nicht in polnischer Sprache veröffentlicht der PPS „Wolnosc, Równosc, Niepodleglosc“ worden.101 [WRN, „Freiheit, Gleichheit, Unabhängig- Der dritte Abschnitt dieses Beitrags trägt dem keit“] und zwischen 1944 und 1945 Häftling Umstand Rechnung, dass Szczypiorski von des KZ Sachsenhausen-Oranienburg. Er den Medien – besonders in der Bundesre- kehrte erst 1955 aus dem Exil in der Schweiz publik – hinsichtlich der polnisch-deutschen, in die Volksrepublik Polen zurück und war ab aber auch polnisch-jüdischen Beziehungen als 1958 Professor an dem der Polnischen wichtiger Zeitzeuge und ausgesprochener Akademie der Wissenschaften affilierten Experte wahrgenommen wurde und so über Institut für die Geschichte der materiellen eine große Medienpräsenz verfügte. Aufgrund Kultur. Diese Rückkehr war nur aufgrund der seiner guten Deutschkenntnisse und seiner seit sich nach dem Tode Stalins fundamental Ende der 1980er Jahre auf Versöhnung verändernden Situation in der Volksrepublik zwischen Deutschland und Polen orientierten Polen möglich, denn die Repräsentanten der Grundaussagen wurde er zu einer regelrechten WRN hatten in der Okkupationszeit einen Instanz, die den deutschen Nachbarn immer strikt sozialdemokratischen, antikommunisti- wieder die Besonderheit Polens und seiner schen Kurs verfolgt und sich a uch noch nach Geschichte näher zu bringen suchte. 102 Kriegsende der Sowjetisierung Polens wider- setzt. Zahlreiche ihrer Spitzenpolitiker ent- Biographische Dispositionen und historische schieden sich deshalb nach 1945 endgültig für Kontexte das westliche Exil. Das politische Milieu, in dem Szczypiorski Geht man von dem Begriff persönlicher Dis- aufwuchs, war also entschieden sozialdemo- positionen aus, so ist die familiäre, schulische, kratisch. Neben dem zentralen polnischen berufliche und kulturelle Sozialisation eines Kultureinfluss gab es auch Berührungspunkte Individuums sicherlich von ausschlag- zur jüdischen und deutschen Kultur. Der gebender Bedeutung. Entscheidend ist auch Vater war mit zahlreichen jüdischen Politi- die historische Epoche, in die man hinein- kern aus dem polnischen Sejm, die entweder geboren wird sowie der weltanschauliche, bei den Zionisten oder beim sozialistisch soziale und kulturelle Kontext, in dem man orientierten „Bund“ aktiv waren, befreun- aufwächst. det.103 Von e iner ethnisch definierten Segrega- Der am 23. Februar 1924 in Warschau tion, wie sie für die multiethnische Hauptstadt geborene Andrzej Szczypiorski entstammte Polens eher typisch war, konnte keine Rede einer Familie, die man der in Polen recht sein: „Polen und Juden, auch die armen und dünnen Schicht des sozialdemokratischen orthodoxen, waren ganz einfach meine Bildungsbürgertums zurechnen kann. Der Wirklichkeit, sie bildeten gewissermaßen das 1895 geborene Vater, Adam Szczypiorski, Zentrum meines Lebens, weil ich ihnen auf war Historiker und Funktionär der Polnischen Schritt und Tritt begegnete, weil ich ihre Sozialistischen Partei [PPS]. Zwischen 1931 Sprache hörte, unverständliche Wörter, die ich und 1939 Generalsekretär der polnischen indessen für e ine Art Polnisch hielt, natürlich etwas anders, so wie sie selbst etwas anders

101 Ders.: Europa ist unterwegs. Essays und Reden. waren in Aussehen, Verhalten und Gesten, Zürich 1996. aber doch zu dieser farbigen und verführeri- 102 Gerhard Gnauck: Der Stellvertreter Polens auf Erden. Streitlustig, umstritten, gern gelesen: Zum 103 Andrzej Szczypiorski: Mein Warschau vor über Tode des großen Schriftstellers Andrzej Szczy- fünfzig Jahren. In: ders.: Europa ist unterwegs, S. piorski. In: Die Welt, 17.5.2000, S. 33. 157-172, S. 161.

35 schen Strömung des Polentums gehörten, in drängten, dafür aber unabhängigen Polen der wir alle gemeinsam schwammen.“104 sollte mit dem Einmarsch der deutschen Polnischer Nationalismus oder katholischer Truppen und der NS-Besatzungspolitik in Klerikalismus hatten hier kaum oder keinen Polen ein jähes und das weitere Leben Raum. In se inen später in Deutschland gehal- Szczypiorskis prägendes Ende nehmen. Die tenen Vorträgen wiederholte Szczypiorski Zeit der „nationalsozialistischen Nacht“ in recht häufig folgendes Fragment, das eine Polen wurde zu einem seiner Grundthemen Reminiszenz aus der Zeit der deutschen Be- und ließ ihn nicht mehr los. Diese Erfahrung satzung darstellt, und das in Ansätzen blieb bei dem Autor aber auch mit dem Auskunft über das in der Familie herrschende übergeordneten Thema, der europäischen Kulturverständnis gibt: „In jener Zeit las ich Identität, verbunden. Zumal Szczypiorski, wie die „Buddenbrooks“ von Thomas Mann. Eine zahlreiche seiner polnischen Zeitgenossen, Erzählung über ganz normale Menschen in zum Opfer zweier totalitärer, kollektiver einer ganz normalen Welt. [...] Von jenen Systeme wurde, die das Individuum dem merkwürdigen Deutschen, von denen mir Kampf der Rassen, später der Klassen, unter- noch vor dem Krieg meine Mutter gern zuordnen trachteten. Der von ihm persönlich erzählte, die als junges Mädchen oft nach miterlebten Vernichtung der polnischen Juden Berlin fuhr, um Schumann und Brahms auf und der existenziellen Gefährdung der Polen dem Klavier zu spielen, und stets w iederholte, durch die Nazis folgte eine lange Ära des dass die Deutschen das kultivierteste Volk sowjetischen Totalitarismus, in der es eben- Europas seien. Etwa 1940 hörte sie auf, das zu falls nur bedingt möglich war, in Polen Unab- wiederholen, denn sie wurde vor Verzweif- hängigkeit und Selbstbewusstsein auszuleben. lung, Verwunderung und Angst ganz Für die Intellektuellen und Schriftsteller jener stumm...“105 düsteren Nachkriegszeit schien es im Grunde Dieser transnationalen und kosmopolitischen genommen nur drei Möglichkeiten zu geben: Grundstimmung hat der Autor ganz offen- Anpassung, (passiven) Widerstand oder sichtlich seine in späteren Jahren auffällige (innere) Emigration. Die komplizierten Zwi- Weltoffenheit zu verdanken. A uch wenn man schenlagen und Gratwanderungen, die so konzedieren muss, dass seine Karriere in der manches polnische Schriftstellerleben und – westeuropäischen, besonders aber deutschen werk in der Volksrepublik Polen oder im Öffentlichkeit erst relativ spät beginnen westlichen Exil prägten, seien an dieser Stelle konnte.106 außer Acht gelassen, obwohl man aus ihnen Die mehr oder minder glückliche Kindheit viel über Uneindeutigkeiten und Ambivalen- und Jugend in einem zwar armen und be- zen lernen kann107. Szczypiorski, der nicht zum Exilanten wurde, durchlief fast alle 104 Ebd., S.160; Elzbieta Dzikowska: Die polnisch- übrigen Etappen, wobei er den nationalsozia- jüdisch-deutsche Schicksalsgemeinschaft im listischen Terror (KZ-Haft im KZ Buchen- Erzählwerk von Andrzej Szczypiorski. In: Jan- wald nach der Niederschlagung des Pieter Barbian, Marek Zybura: Erlebte Nachbarschaft. Aspekte der deutsch-polnischen Warschauer Aufstands) sowie den kommunis- Beziehungen im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 1999. tischen Terror (Internierung nach Ausrufung 105 Zitiert nach: Hamburger Morgenpost Online des Kriegsrechts durch General Jaruzelski) am vom 2.9.1999. Aus dem Vortrag des polnischen eigenen Leib erlitt. Schriftstellers Andrzej Szczypiorski zum 60. Jahrestag des Überfalls auf Polen. Dass Szczypiorski über etliche Jahrzehnte 106 Gabriele Lesser: Eine späte Karriere. Das hindurch das politische System der Volksre- deutsch-polnisch-jüdische Verhältnis ließ ihn nicht los: Der polnische Schriftsteller Andrzej 107 Zbigniew R. Wilkiewicz: Polnische Exilliteratur. Szczypiorski starb im Alter von 76 Jahren in Eine Bestandsaufnahme. Köln, Wien 1991, S. 48- Warschau. In: tageszeitung, 17.5.2000. 65.

36 publik Polen mehr oder minder gut hieß, folgten. (...) Ich sa h, wie ein Deutscher einen ergibt sich schon alleine daraus, dass er Deutschen quälte, ein Holländer einen Hollän- zwischen 1956 und 1958 Kulturattaché bei der der, ein Franzose einen Franzosen, s o wie ich polnischen Botschaft in Dänemark und zwei Jahre zuvor auf einer Warschauer Straße zwischen 1964 und 1974 Redaktionsmitglied gesehen hatte, wie ein Jude einen anderen Ju- der renommierten, durchaus kritischen, wenn den den deutschen Gendarmen ausliefert.“109 auch regierungsnahen Wochenschrift „Polityka“ war. Was sein literarisches Werk Eine Messe für die Stadt Arras angeht, so stand in den Romanen und Erzählungen, die er bis in die 1960er Jahre Zu einem literarischen Ereignis wurde in veröffentlichte, die Thematik der deutsch-pol- Polen der 1971 veröffentlichte Roman „Msza nischen Beziehungen sowie die Verant- za miasto Arras“ [Eine Messe für die Stadt wortung des deutschen Volkes für die Nazi- Arras]110, eine Parabel auf totalitäre Macht- Verbrechen im Vordergrund. Bis Mitte der ausübung, die historisch betrachtet in die 1960er Jahre war er, wie Janusz Tycner meint, Jahre 1558 bis 1561 zurückreicht, und in der ein „glühender kommunistischer Agitprop- am Beispiel einer Pest- und Hungerepidemie Schreiber“.108 Die Tatsache, dass Szczypiorski die Mechanismen für die Inszenierung einer als Zwanzigjähriger in den Reihen der „Armia Massenhysterie, die zur Verfolgung von Juden Ludowa“ (also des kommunistisch orientier- und Andersgläubigen führt, aufgezeigt ten Zweigs des bewaffneten polnischen werden. Die Anspielung auf das Jahr 1968, in Widerstands) am Warschauer Aufstand dem Tausende Intellektuelle, vornehmlich teilnahm, mag verdeutlichen, dass er zu dieser jüdischer Provenienz, Polen verlassen Zeit entschieden links orientiert war. Sein mussten, da sich der nationalistische Flügel später akzentuierter Universalismus, als der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei Antidotum gegen einen authentischen oder durchsetzen konnte, waren offenkundig, instrumentalisierten (polnischen) Nationalis- obschon sich der Roman vordergründig mit mus, geht ganz offensichtlich auf ent- dem Machtmissbrauch katholischer Würden- sprechende Erfahrungen im KZ Buchenwald träger in der Stadt Arras beschäftigt. Deshalb zurück: konnte das Werk wohl auch in der VR Polen „Am 2. September 1944 bekam ich auf der erscheinen, und gilt heute als der literarisch Lagerrampe zum ersten Mal eines mit dem wertvollste Roman Szczypiorskis. 111Seine Ab- Ochsenziemer über den Rücken, weil ich zu kehr von der PVAP und der Utopie eines real langsam aus dem Waggon sprang. Ich bekam umsetzbaren Sozialismus lässt sich also einen Schlag mit dem Ochsenziemer von dem spätestens auf den Anfang der 1970er Jahren Lager-Kapo, der kein Deutscher war, sondern datieren. Seine Hinwendung zur Haltung eines Franzose. Und wenige Tage später gab mir ein liberalen Intellektuellen brachte mit sich, dass deutscher Häftling, der seit 1934 in Sachsen- er 1977 ein Veröffentlichungsverbot erhielt. hausen saß, ein Stück Brotrinde, damit ich Es ist ganz deutlich, dass es die von Teilen der meinen Hunger stillen konnte. Damals brach in mir eine historiosophische und politische 109 Szczypiorski, Andrzej: Die Vergangenheit kann Konstruktion zusammen, die mich in vorange- man nicht „bewältigen“. Rede zum 50. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1995 im Parlament in gangenen Jahren begleitet hatte. Denn ich sah Den Haag. In: ders.: Europa ist unterwegs, S. 288. Deutsche, die meine Kameraden im Unheil 110 Andrzej Szczypiorski: Msza za miasto Arras. waren, und sah Polen, die mich im KZ ver- Warszawa 1971. Deutsch: Leipzig 1979, Zürich 1988. 111 Halina Urbas: Szczypiorski. In: Literatura 108 Janusz Tycner: Der Versöhner. Zum Tode eines Polska. Przewodnik Encyklopedyczny. Warszawa Freundes. In: Die Zeit, 18.5.2000, S. 9. 1988, Bd. II, S. 426.

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PVAP gesteuerte antizionistische, im Grunde Wendemarken im Leben eines Autors, genommen antisemitische Hetze des Jahres sondern ebenfalls einschneidende Wende- 1968 war, die ihn zum Oppositionellen wer- marken in der polnischen und europäischen den ließen. Und insofern scheint das déjà vu Geschichte. Am Beispiel des Romans „Die eines staatlich gelenkten Antisemitismus, schöne Frau Seidenman“ wollen wir dies dessen extreme Exzesse er als junger Mann nunmehr nachvollziehen. im besetzten Warschau erlebt hatte, für den Bruch mit der Partei und dem real existieren- Die schöne Frau Seidenman den Sozialismus in Polen verantwortlich zu sein. Ab 1977 war er Mitarbeiter mehrerer Den historischen Rahmen bildet das Jahr 1943 oppositioneller Zeitschriften, die in Polen, im deutsch besetzten Warschau, allerdings aber auch im westlichen Exil erschienen, gibt es auch zeitliche Rück- und Vorgriffe, die anlässlich der Auguststreiks des Jahres 1980 in der Regel mit den Biographien der handeln- bereits ein entschiedener Anhänger der den Figuren gekoppelt werden. Dieses Ver- oppositionellen Solidarnosc-Bewegung. Nach fahren einer lockeren Montage von erzählter Ausrufung des Kriegrechts wurde er, wie Zeit und Erzählfragmenten ist für den zahlreiche andere Aktivisten der Solidarnosc, gesamten Roman, der aus 21 Kapiteln besteht, bis zum Frühjahr 1982 interniert. Nach der typisch. Die Handlung ist gleichsam zweit- Wende des Jahres 1989 betätigte er sich poli- rangig und wird häufig von Reflexionen des tisch und war als Kandidat der Gewerkschaft Erzählers, aber auch der Figuren durchsetzt, Solidarnosc Mitglied des polnischen Senats. die – in einer Periode ständiger Bedrohung – Aus der aktiven Politik zog er sich jedoch nach dem Sinne ihres eigenen Lebens, aber bald zurück. auch nach dem Sinn menschlicher Existenz Nach der Veröffentlichung seines Romans fragen. Insofern kommt den Psychogrammen „Die schöne Frau Seidenman“ erfuhr und Biographiefragmenten der entworfenen Szczypiorski zahlreiche nationale und interna- Figuren eine besondere Bedeutung zu. Wir tionale Ehrungen. So erhielt er 1988 für eben werden sie nunmehr rekonstruieren, wobei die diesen Roman den begehrten Literaturpreis Fragen nach der persönlichen Identität und der „Wiadomosci Literackie“ [Literarische Wertestruktur der einzelnen Figuren als Nachrichten], 1991 den Preis der Warschauer Leitfaden dienen sollen. Buchhändler für „Nacht, Tag und Nacht“, Die Titelfigur, Irma Seidenman, Witwe des wurde 1995 wegen seiner Verdienste um die jüdischen Wissenschaftlers und Arztes Ignacy deutsch-polnischen Beziehungen mit dem Seidenman, entstammt der Schicht des Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik assimilierten polnischen Judentums. Sie hat Deutschland ausgezeichnet, im gleichen Jahr ein „absolut arisches Aussehen“ und verfügt – zum Mitglied im deutschen Orden „Pour le was während der Nazi-Okkupation lebens- merite“ ernannt, und 1997 vom Präsidenten wichtig ist – über ausgezeichnet gefälschte der Republik Polen für seine Verdienste um Papiere, aus denen hervorgeht, dass sie die Polen mit der Verleihung des Ordens „Polonia polnische Offizierswitwe Maria Magdalena Restituta“ geehrt.112 Gostomska sei. Mit diesen beiden existenz- Zahlreiche, hier nur angedeutete, biogra- sichernden Ressourcen ausgestattet, lebt sie phische Fragmente spiegeln sich in seinen während der ersten Okkupationsjahre relativ Romanen wider. In literarisierter Form mar- unbehelligt im „arischen“ Teil Warschaus. kieren sie allerdings nicht nur persönliche Verhaftet wird sie nur deshalb, weil sie von dem professionellen Denunzianten und 112 Andrzej Szczypiorski. Poetik-Dozent im „Judenjäger“, dem Juden Bronek Blutman, Sommer 1998. Portrait Biographie Leseprobe. wiedererkannt und in der berüchtigten http://www.uni-tuebingen.de/Poetik-Dozentur/as/asbio.html.

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Schuch-Allee abgeliefert wird. Damit akzen- bleibt und arbeitet Irma Seidenman alias tuiert der Autor die Tatsache, dass es nicht nur Maria Magdalena Gostomska nach dem Krieg deutsche und polnische „Judenjäger“, die in der VR Polen. Erst ihre Vertreibung, deren berüchtigten „szmalcowniki“, waren, die historischen Hintergrund die antizionistischen Juden an die deutschen Besatzer auslieferten, Exzesse des Jahres 1968 bilden, lässt sie mit sondern auch Juden an diesem schmutzigen dem Polen der Nachkriegszeit brechen; das Geschäft beteiligt waren. Der Druck der Land erscheint ihr aus der Par iser Perspektive Besatzer sorgte für eine entsprechende Seg- einer einsamen und enttäuschten Frau als mentierung der Gesellschaft, das eigene traurig und abstoßend. Das heitere und Überleben, um welchen Preis auch immer, fröhliche Polen der Vorkriegszeit, als eine wurde zur Maxime der Mehrheit. So hofft der Periode persönlich erlebten Glücks, ist Denunziant Blutman, der ein bestimmtes unrettbar verloren. Kontingent von Juden in der Schuch-Allee Der Deutsche Johannes Müller ist zwar Mit- abzuliefern hat, sein eigenes Leben dadurch glied der NSDAP, seine kulturelle und retten oder mindestens verlängern zu können. politische Prägung hat er aber als Auslands- Seine Grenzen, als willfähriges Instrument der deutscher aus Lodz und Angehöriger der Besatzer, muss er allerdings erkennen, als er Polnischen Sozialistischen Partei, im versucht – gegen die Aussage eines internationalen Milieu der gegen das despo- Deutschen, der Frau Seidenman durch die tische Zartum ankämpfenden polnischen Bestätigung ihrer falschen polnischen Identität Sozialisten erfahren. Als naher Gefolgsmanns rettet -, bei seiner Version zu bleiben. Der SD- Pilsudkis war ihm die Befreiung Polens wich- Offizier Stuckler macht dies durch folgenden tiger als ein wie auch immer empfundenes Satz deutlich: „Ein Jude darf die Worte eines deutsches Nationalgefühl. Seine deutschen Deutschen nicht in Zweifel ziehen.“ (S. 214) Landsleute, auch die Nazis, hält er für Der Wahrheitsanspruch wird so auf die Rasse- „geradlinig“ und „flach wie ein Brett“, sie zugehörigkeit reduziert. Während Frau seien allerdings bestrebt, immer erstrangig zu Seidenman also durch die direkte Intervention sein, was den gefährlichen deutschen Wahn des Deutschen Johann Müller das national- ausmache. (S. 154) Müller lebt von seinen sozialistische Inferno überlebt, stirbt Bronek Erinnerungen an die glorreiche Zeit des Blutman einige Zeit später im Warschauer Befreiungskampfes gegen Russland und Ghetto. formuliert im Gespräch mit Frau Seidenman Allerdings gerät Irma Seidenman hinsichtlich folgenden Satz: „Ich bin De utscher dem Leibe ihrer eigenen Identität in Zweifel. Nach ihrer und Pole der Seele nach.“ (S. 94) Diese Rettung durch einige beherzte Polen und doppelte Identität Müllers sowie sein in der einen De utschen, die Kette der Retter besteht PPS erworbener freiheitlicher Wertekanon aus dem weltabgewandten Altphilologen Dr. sind Voraussetzung dafür, dass er – trotz Korda, dem in Irma Seidenmann verliebten großen persönlichen Risikos – erfolgreich Pawel Krynski, dem Eisenbahner Filipek, der hilft. Für jene Zeit ein recht atypischer seinen einstigen PPS-Genossen Müller akti- „Deutscher“, der aber auch nach seiner Flucht viert, fühlt sie eine starke Bindung zu Polen, vor der anrückenden Roten Armee, die ihn will sich für dieses Land entscheiden, ohne nach Bayern führt, eine gespaltene sich dadurch aber dem Polentum zuordnen zu Persönlichkeit bleibt. können. Der Erzähler fasst diese Situation so: „Dort auf der Schuch-Allee hatte sie sich weder als Jüdin noch als Polin gefühlt, viel- leicht war sie mehr gewesen, nämlich ein zum Tode verurteilter Mensch [...]“. (S. 245) Also

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Ethnische Segregation versus Pawel, dass dies der Anfang ist, der Anfang Universalismus der Zeit der Trennungen, A bschiede und ewi- gen Ängste. (S. 200) Diese Textstelle korres- Ihm steht die stereotyp konstruierte Figur des pondiert mit dem polnischen Titel des SD-Manns Stuckler gegenüber. Hier zeichnet Romans und setzt somit die Zäsur für den so der Erzähler das Psychogramm eines über- verstandenen „Anfang“ auf den Beginn des zeugten Nationalsozialisten, der von seiner Ghetto-Austandes und die endgültige Ver- Mission für das Dritte Reich und für ein nichtung des Warschauer Judentums. Henio großdeutsch dominiertes Europa gänzlich trifft eine geradezu paradoxe Entscheidung überzeugt ist, und den keine Skrupel oder gegen sein eigenes Leben. Er will nicht Zweifel plagen. Der aus kleinbürgerlichen begreifen, warum er sich als Jude wie ein Verhältnissen stammende SD-Mann Stuckler, gehetztes Tier versteckt halten muss, und dem das Dritte Reich den Karriereaufstieg hadert mit seinem Schicksal und Gott, dass er ermöglicht hat, ist überzeugter Rassist und nur deshalb sterben soll, weil er Jude ist. tötet aus Überzeugung. Für Stuckler gibt es Pawel überlebt den Krieg und hat sogar Ge- nur die Geschichte der Sieger und Führer: legenheit, viele Jahre später seiner Jugend- „Nur sie erfreuen sich der Freiheit, nur ihnen liebe Irma Seidenman in Paris zu begegnen. stehen Rechte und Privilegien zu. So war es Allerdings ist auch er inzwischen eine immer. Und infolgedessen existierte ganz e in- gebrochene Persönlichkeit, denn obwohl er fach die We lt. Wenn wir den Krieg verlieren, 1945 das Kriegsende guthieß, „weil in Europa wird die Geschichte abgeschafft.“ (S. 238) nicht mehr getötet wurde“, musste er doch Der „Übermensch“ Stuckler stirbt nach seiner schon einige Jahre später erkennen, dass es in Gefangennahme ungeläutert in einem am Ob seiner Heimat zu einer Entwicklung kam, die gelegenen sowjetischen Lager. ihn nicht mehr den Krieg, sondern den Die Zentralfigur des Romans ist der junge Frieden schrecklich erscheinen ließ. (S. 204) Pawel Krynski, der das alter ego des Erzählers Noch viel bitterer formuliert Pawel Krynski darstellt. Seit seiner Kindheit ist er mit dem diese Erkenntnis viele Jahre später im jüdischen Rechtsanwaltssohn Heniek Fichtel- Zusammenhang mit der Zerschlagung der baum befreundet, für den er nach 1940, als Solidarnosc-Bewegung, als er mit Wladyslaw Heniek das Ghetto verlässt und illegal auf die Gruszecki über den Sinn und Widersinn des „arische“ Seite der Stadt wechselt, ein Ver- polnischen Widerstands diskutiert. Während steck bei einem polnischen Uhrmacher Gruszecki die Frage aufw irft, ob es denn besorgt. Und seit seiner Jugend ist Pawel in wirklich notwendig sei, dass jede Generation die schöne Frau Seidenman verliebt. Er ist es in Polen dezimiert werden müsse, hebt auch, der nach ihrer Verhaftung den Krynski noch einmal auf das Ethos der Eisenbahner Filipek für die Rettungsaktion „Solidarnosc“ ab: „Niemand hier hatte den aktiviert. Pawel besucht ein Untergrund-Gym- Anspruch, die Welt zu erlösen. Ein Stück nasium in Warschau und legt dort se in Abitur Authentizität zu erkämpfen, eine Prise eigene ab, er ist im Widerstand aktiv und kämpft im Wahrheit, nur darum ging es.“ (S. 209) Die Warschauer Aufstand vom August 1944, bei Ausrufung des Kriegsrechts kommentiert er dem seine Freundin Monika umkommt. demzufolge so: „Zum ersten, ersten, ersten Als sich sein jüdischer Freund Henio, nach- Mal hat doch Polen selbst Polen geschändet dem er im arischen Teil der Stadt bei einer und in den Schmutz gezogen.“ (S. 210) Seine barmherzigen polnischen Hure seine sexuelle Internierung bewertet er schlimmer als die Initiation erlebt hat, im April 1943 dafür KZ-Haft, denn nun sei er von den „eigenen entscheidet, ins Ghetto zurückzukehren, um Leuten“ gedemütigt worden. Allerdings revi- nicht alleine sterben zu müssen, verspürt diert Pawel unter dem Einfluss der Argumente

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Gruszeckis, der immer wieder auf die „tat- Weronika und dann als Marysia Wiewióra bei sächlichen Machtverhältnisse“ abhebt, und polnischen Bauern Unterschlupf findet. Nach versucht, „realistisch“ zu bleiben, diese Ein- dem Krieg wandert sie nach Israel aus und schätzung, indem er die nationale Legende nennt sich Miriam Wewer. des „heiligen Polen“ und den Mythos der pol- Der Richter Romnicki beteiligt sich an der nischen Sonderrolle in Frage stellt. Denn Rettung Joasias, weil er von deren Vater, dem schließlich lasse sich die jüngste polnische Rechtsanwalt Fichtelbaum, der kurz darauf im Geschichte durchaus auch als eine Geschichte Ghetto ermordet wird, inständig gebeten wird, des permanenten Verrats interpretieren. (S. seine Tochter in den arischen Teil der Stadt zu 211) bringen. Der Richter w ird als Mensch charak- terisiert, der „weder auf seine Zigarre noch Verschlungene Identitäten auf seine Würde“ verzichten möchte. Diese aufrechte Haltung eines bürgerlichen Neben diesen Hauptfiguren des Romans gibt Vorkriegs-Intellektuellen adliger Provenienz es aber noch ein ganzes Ensemble interessant sorgt später auch ganz offensichtlich dafür, konstruierter Ne benfiguren, die als Charaktere dass Romnicki mehrere Jahre in volks- nicht der Typisierung unterliegen, stereotype polnischen Gefängnissen verbringen muss, Einordnungen nicht zulassen und so authen- bevor er als gebrochener, aber aufrechter tisch wirken. Mensch im Juli 1956 stirbt. Da ist zunächst die Figur des Landwirtschafts- Auf dem gesellschaftlichen Gegenpol der ge- experten Wladyslaw Gruszecki, alias Wladzio fürchtete polnische Berufsverbrecher Gruszka, alias Artur Hirszfeld, der a ls von der Suchowiak, der von Überfällen und dem Vernichtung bedrohtes jüdisches Kind in Menschenschmuggel aus dem Ghetto lebt. einem katholischen Kloster untergebracht Suchowiak bringt Joasia nicht nur sicher in wird, eine neue falsche Identität als Wladzio den „arischen“ Te il der Stadt, er beschützt sie Gruszka erhält und von Schwester Weronika, auch vor dem „schönen Lolo“, einem sadis- einer erzkatholischen polnischen Nonne, die tischen polnischen „Judenjäger“, der später in auf diese Weise eine ganze Reihe jüdischer der Volksrepublik Polen unbehelligt bleibt Kinder rettet, christlich erzogen wird. Nach und eine ganz gewöhnliche Karriere macht, dem Kriege ändert Wladzio seinen Nach- während Suchowiak seinem Beruf auch im namen in Gruszecki und entwirft für sich Kommunismus treu bleibt und lange selbst und seine polnische Umwelt eine neue Gefängnisstrafen absitzen muss. Bei einer urpolnische, adlige Herkunft. Er formuliert späteren, zufälligen Begegnung einigt man polnisch-national, ist antideutsch und anti- sich auf einen erpresserischen Kompromiss, semitisch gestimmt, und freut sich im Jahre der beiden Verbrec hern Vorteile bringt. 1968 darüber, dass die Juden Polen endlich Alsdann die Figur des Schneiders Apolinary verlassen müssen Kujawski, eines polnischen Kleinbürgers, dem Ganz anders Joasia Finkelbaum alias Marysia die Juden fremd bleiben, der weder Wiewióra alias Mirian Wewer, die Schwester Moskowiter noch Deutsche leiden mag, und von Heniek Finkelbaum, die auf „Bestellung“ einen konservativen polnischen Katholizismus des in der Vorkriegszeit renommierten Rich- pflegt. Durch die Enteignung der jüdischen ters Romnicki von dem polnischen Berufsver- Firma Mitelman, bei der er als Schneider brecher Wiktor Suchowiak – gegen ent- angestellt ist, und den baldigen Tod der sprechende Bezahlung und kurz vor der end- jüdischen Eigner, wird er zum Erbe eines gültigen Liquidierung des Warschauer großen Vermögens, was ihm erlaubt, seiner Ghettos – in den arischen Teil der Stadt Passion, dem Einkauf von Kunstgegen- gebracht wird, wo s ie zunächst bei Schwester ständen, die er der verarmenden polnischen

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Oberschicht abkauft, nachzugehen. Aber nicht Strategisches Ziel war die Herstellung eines schnödes Gewinnstreben sind dabei sein germanischen Großreiches, in dem „minder- Antrieb, sondern die Vorstellung, seine wertige Rassen“ kein Recht auf Leben oder Sammlung nach dem Kriege der polnischen nur Helotenstatus haben sollten. Zu diesen Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Dies minderwertigen Rassen gehörten im Sinne der möchte er als seinen patriotischen Beitrag zur nationalsozialistischen Rassenlehre in erster Rettung der polnischen Kultur verstanden Linie Juden, aber auch Polen. Sie sollten aus wissen. Allerdings stirbt Kujawski im Herbst dem zukünftigen deutschen Siedlungsraum 1943 – eher zufällig - bei einer Straßenexe- verdrängt werden oder zu Sklaven der kution, während seine Kunstsammlung im deutschen „Herrenrasse“ werden.113 Warschauer Aufstand verbrennt. Dieser permanente A usnahmezustand erzeug- Schließlich noch zwei Figuren aus dem te bei den Unterdrückten zwei gegenläufige Bildungsbürgertum, der Altphilologe Dr. Verhaltensmuster: A npassung an das „Recht“ Korda, der sich gänzlich in die Welt der der herrschenden Besatzer, im Extremfall Antike zurückgezogen hat und die Okkupa- Kollaboration, oder subversiven, später tion aufgrund seiner gutmütigen, geradezu offenen Widerstand. Die Gleichrangigkeit „idiotischen“ Weltfremdheit überlebt, sowie dieser Haltungen bei den verschiedenen der Lehrer Winiar, den in der Nähe der ethnischen und sozialen Gruppen zeigt der Ghetto-Mauer und des dort aufgestellten Roman deutlich auf. Im Sinne des „Rechts“ Karussells ein zufälliger Tod ereilt, der dann der Besatzer muss man über ein „gutes später zum Heldentod stilisiert wird. Tiefe arisches“ Aussehen und „gute Papiere“ Betroffenheit und Trauer empfindet der verfügen, hat man weder das eine noch das liberale Christ, Philosemit und Pazifist Winiar andere, oder nur eins von beiden, droht kurz vor seinem Tod beim Anblick des mit Degradierung oder gar Ver nichtung. „Ariern“ gut besetzten Karussells, hinter dem Die beabsichtigte Segregation der Polen von – nur durch die Mauer getrennt - sich die den Juden gelingt aber nicht vollständig, sieht Tragödie des Ghettos abspielt. Dagegen fasst man von der faktischen Trennung durch die ein polnischer, anonym bleibender Lands- Ghetto-Mauer ab. Die Beschreibung der mann, der einige Tage später an der gleichen Verhältnisse im Ghetto bleibt im Roman Stelle steht, seine Eindrücke ganz anders allerdings ausgespart, er handelt ausschließ- zusammen: „Die Jidden braten, dass es lich im arischen Teil der Stadt. brutzelt.“ (S. 227) Betrachtet man das Figuren-Ensemble nach ethnischer Zugehörigkeit, so fällt auf, dass Auf der Suche nach neuer Identität deutsche Protagonisten lediglich durch die beiden Figuren Müller und Stuckler vorge- Aus diesen rekonstruierten Psychogrammen stellt werden. Im Unterschied zu dem über- und Biographiefragmenten ergibt sich zeugten Nazi Stuckler ist Müller allerdings hinsichtlich der Frage nach menschlicher eine gedoppelte Persönlichkeit, die als Identität ein recht differenziertes Bild. Das binationales Individuum bezeichnet werden nationalsozialistisch besetzte Polen war kann, das sich weder für die eine noch für die bekanntlich ein Experimentierfeld für die andere Option entscheiden kann oder will. Verdrängung, Vertreibung, Umsiedlung und Das Figureninventar der Polen ist weitaus Vernichtung ganzer Volksgruppen, insbeson- breiter angelegt, wobei es begreiflicherweise dere der Juden. Die Aufte ilung der Ha uptstadt Warschau in einen polnischen, deutschen und 113 Immanuel Geiss, Wolfgang Jacobmeyer (Hg.): jüdischen Bezirk diente der ethnischen Segre- Deutsche Politik in Polen 1939-1945. Aus dem gation und wirtschaftlichen Ausbeutung. Diensttagebuch von Hans Frank, Generalgouver- neur. Opladen 1980.

42 keine positiven zwischenmenschlichen Berüh- liche Wege: Sie reichen von freiwilliger und rungspunkte zum Deutschtum gibt. Die erzwungener Emigration bis hin zu voll- einzige Ausnahme bildet die Beziehung kommener Anpassung und zur Verleugnung zwischen den beiden einstigen PPS-Genossen der eigenen Abstammung. Filipek und Müller, die aufgrund ihrer Die Heterogenität der hier vorgestellten politischen Sozialisation und Freundschaft Figurengruppen verdeutlicht, dass eine – wie gegen das Verbot der ethnischen Segregation auch immer geartete - ethnische Zugehörig- verstoßen und, bei großem Risiko für das keitsdefinition aus Sicht des Erzählers obsolet eigene Leben, (über)menschlich handeln, um ist. Relevant ist nur die Möglichkeit der fre ien eine Jüdin zu retten. Wahl und ihr Vollzug. Nur sie sichert Das Verhältnis der polnischen zu den existenzielle Identität und Authentizität. Unter jüdischen Figuren ist hingegen sehr den Verhältnissen der nationalsozialistischen differenziert. Gerade angesichts der Liqui- Besatzungs- und Vernichtungspolitik ein dierung des Ghettos scheiden sich die Geister. hehres Ziel, an dem sich nur die wenigsten Neben Mitgefühl und aktiver Hilfe herrschen orientieren können. ebenso Schadenfreude und aktive Mithilfe bei Freiheit, Gleichheit, materielle Ressourcen der Judenjagd vor. In den Psychogrammen der und Wahrheitsanspruch sind lediglich den meisten polnischen Figuren, die aus bäuerli- Besatzern gegeben, die diese Rechte aus der chem und kleinbürgerlichem Milieu stammen, Überlegenheit ihrer Rasse ableiten. In einer wird Abneigung gegen die Juden, die man als solchen Situation kann selbst die Haltung Fremdkörper empfindet, formuliert. Hinzu eines demütigen Versuchs zu überdauern, kommen Vorbehalte, die dem katholischen existenzgefährdend sein. Angesichts des auf Antijudaismus entnommen sind. Ausmerzung gerichteten nationalsozialis- Anders bei den assimilierten Juden, die fast tischen Totalitätsanspruchs, kann nur die pure das gesamte jüdische Figuren-Ensemble in physische Gegengewa lt die Beherrschten Szczypiorskis Roman ausmachen.114 Weder davor schützen, sich nicht vollends aufzu- Irma Seidenman noch Heniek Finkelbaum geben, auch wenn sie dabei den Tod finden verstehen sich im ethnischen, religiösen oder sollten. Davon zeugen die beiden Warschauer kulturellen Bereich als Juden. Sie werden erst Aufstände vom April 1943 und August 1944, durch die Rassedefinition der Nazis dazu die den Rahmen der erzählten Zeit des gemacht. Romans bilden.115 Trotz ihres tragischen Pawel und der Richter Lomnicki sind zwar Ausgangs sind sie die Kulmination eines polnische Patrioten, aber auch Vertreter eines jüdischen und polnischen Strebens nach die Ethnien übergreifenden Universalismus, Befreiung. Allerdings sollten die Aufstän- also Menschenfreunde, die helfen, weil sie dischen des Warschauer Ghettos genauso meinen, helfen zu müssen. Man kann sie als einsam sterben wie die Aufständischen des Repräsentanten der dünnen Schicht des aufge- Warschauer Aufstands vom August 1944. Das klärten polnischen Bürgertums aus der Vorkriegszeit charakterisieren. 115 Die die Nazi-Okkupation überlebenden Ange- Wladyslaw Bartoszewski: Das Warschauer Ghetto – wie es wirklich war. Zeugenberichte eines hörigen des jüdischen Figuren-Ensembles Christen. Mit einem Vorwort von Stanislaw Lem. gehen durchweg vollkommen unterschied- Frankfurt am Main 1983. Ders.: Aus der Geschichte lernen? Aufsätze und Reden zur Kriegs- und Nachkriegsgeschichte Polens. Mit einem Vorwort 114 Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften von Stanislaw Lem. Nördlingen 1986, S. 259-276; für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V.(Hg.): Bernard Goldmann: „Die Sterne s ind Zeugen“. Der Gesichter einer verlorenen Welt. Fotos aus dem bewaffnete Aufstand im Warschauer Ghetto. Leben des polnischen Judentums 1864-1939. Bericht eines der Anführer. Mit einem Geleitwort Frankfurt am Main 1982. von Beate Klarsfeld. 2. Aufl. Freiburg 1994.

43 demokratische Europa schaute in beiden sozialer Schichten, die s ich dem „Fortschritt“ Fällen entsetzt zu, tat aber herzlich wenig, um widersetzen. Hierzu müssen „Volksfeinde“ den Aufständischen zu helfen. Die Rote ausgeschaltet und erfunden, entsprec hende Armee, der Verbündete der westlichen Provokationen inszeniert werden. Die all- Alliierten, griff erst ein, als die Stadt mächtige Partei und der allgegenwärtige vollkommen vernichtet war. Die Befreiung Sicherheitsdienst haben alle Hände voll zu durch die Sowjets mündete bald in eine neue tun, um die erwünschten Ziele zu erreichen Besatzung Polens durch die UdSSR, deren und entsprechende Ergebnisse aus den Men- Führer ebenfalls an der Umsetzung einer schen herauszupressen, was nunmehr an den totalitären Ideologie interessiert waren. Dies Schicksalen der Protagonisten dieses Romans wurde von der Mehrzahl der Polen, die sich rekonstruiert werden soll. bereits 1939 auf sich selbst gestellt dem Angriff zweier totalitärer Systeme erwehren Die „Opfer“ mussten, als weiterer „Verrat“ des Westens, mit dem das freie Europa konnotiert wurde, Antoni Rudowski, der mit seiner Freundin verstanden. Die eigentliche europäische Justyna am Warschauer Aufstand teilgenom- Identität und Wertestruktur ist im Roman men hat, lebt kurz nach dem Kriege in einer Szczypiorskis nur bei jenen Figuren zu finden, nunmehr westpolnischen Großstadt, wahr- die ihren Mitmenschen, ohne zu kalkulieren, scheinlich dem ehemals deutschen Breslau. Hilfe erweisen. Sie speist sich vornehmlich Im Roman beantwortet er die Fragen einer aus zwei sehr europäischen Quellen: dem anonym bleibenden Interviewerin und ist Christentum und einem Sozialismus, der die somit das alter ego des Erzählers. Mit se inem zwischenmenschliche Solidarität in den Nachbarn, dem Juden Knoller, der Auschwitz Vordergrund stellt. überlebt hat und sich nun mit (illegalen) Devisengeschäften über Wasser hält, pflegt er Nacht, Tag und Nacht einen fre undschaftlichen Kontakt. Antoni, der Knoller vor seiner Verhaftung bemitleidet, Auch in diesem Roman gibt es nur wenig konstatiert andererse its, dass es im Unter- Handlung, dominant sind längere historioso- schied zur nationalsozialistischen Besatzungs- phische Passagen, Reflexionen des Erzählers zeit nunmehr auch von Vorteil sein kann, Jude und der dargeste llten Figuren sowie die zu sein, da man Juden aufgrund ihres Skizzierung ihrer Psychogramme und tragischen Schicksals und der entsprechenden Biographien. D ie erzählte Zeit s ind die ersten Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit die Nachkriegsjahre im stalinistischen Polen, als Ausreise aus Polen kaum verweigern könne. die Festigung des kommunistischen Systems Mit den Polen stehe es diesbezüglich ganz in Szene gesetzt wurde. Die deutsche Be- anders: „Wer aber schreit in meiner Sache? satzungszeit bildet nur noch die historische Wer schreit für die Millionen, die tief in Folie für die Modellierung der Schicksale Russland geblieben sind?“ (S. 61) Selbst ein einzelner Figuren. Im Vordergrund steht das Opfer der fatalen polnischen Geschichte, fühlt Verhältnis zwischen Juden und Polen, die sich er jedoch gleichzeitig, dass Jemandem offen- im neuen System zurechtfinden müssen. bar sehr daran liegt, Juden und Polen zu ent- Dieses System ist von außen oktroyiert und zweien. lässt dem Einzelnen wenig Spielraum. Knoller, der seine gesamte Familie im KZ Immerhin zielt die Etablierung der kommunis- Auschwitz verloren hat, kann in Polen nicht tischen Macht nicht auf die Verdrängung und mehr leben, „weil hier ein einziger großer Vernichtung ganzer Volksgruppen, sondern jüdischer Friedhof ist“, und möchte in die die Isolierung und Eliminierung bestimmter USA ausreisen. Hierzu hofft er auf die Unter-

44 stützung des Milizionärs Kamaszek, der die brecher Arens teilen muss, dessen Prozess von jüdischen Devisenhändler gewähren lässt, sie der volkspolnischen Justiz sehr sorgfältig und nicht anzeigt, um sich selbst die Taschen lange vorbereitet wird.116 Arens kann sein füllen zu können. Der Milizionär Kamaszek Leben schließlich dadurch retten, dass er die benutzt Knoller als Informanten, indem er ihm von ihm geforderte Falschaussage hinsichtlich die Ausreisemöglichkeit nach Amerika ver- der Kollaboration zwischen Angehörigen der spricht, und hasst den reichen und polnischen nationalen Widerstandsbewegung genusssüchtigen jüdischen Schieber und (Rudowski, Kamaszek) und den deutschen Devisenhändler Szyja Gutmajer „mit jener Besatzern leistet. Damit ist die politische geheimen Kraft, mit der nur ein armer Christ Konstruktion perfekt, die die polnischen einen begüterten Juden hassen kann“. (S. 96) Kommunisten brauchen, um noch radikaler Knoller, der verhaftet wird und von dem die gegen die „nationalistische Opposition“ vor- Sicherheitsdienstler im Zusammenhang mit zugehen, denn der „Nachweis“ einer dem ungeklärt bleibenden Mord an Gutmajer Kollaboration mit den Nazis wiegt natürlich eine Falschaussage erpressen, die sowohl schwer. Das gegen Arens vorgesehene Todes- Kamaszek als auch Antoni Rudowski schwer urteil wird in 25 Jahren Haft umgewandelt, belastet, wird nach seiner Freilassung selbst wonach man ihn in die Bundesrepublik Opfer eines ganz offensichtlich provozierten Deutschland entlässt, wo er als alter und kran- Pogroms, bei dem außer Knoller ein we iterer ker Mann ein auskömmliches Rentnerdasein jüdische Devisenhändler ermordet wird. Ob führen kann. (S. 241) Im Unterschied zur die Täter tatsächlich Angehörige einer im egoistischen und menschenverachtenden Untergrund operierenden, antisemitischen Figur von Arens wird Hryniewicz als über- „Polnischen Nationalarmee“ oder gedungene zeugter Christ und unbeugsamer polnischer Mörder des Sicherheitsdienstes sind, bleibt Patriot stilisiert, der den deutschen Kriegs- offen. Für den unschuldigen Antoni bedeutet verbrecher dazu verleiten will, bei der diese Verstrickung allerdings, dass er lange Wahrheit zu bleiben, um die unschuldigen Jahre in volkspolnischen Gefängnissen ver- polnischen Häftlinge nicht noch mehr zu bringen muss. Nach zehnjähriger Haft wird er belasten. freigelassen und just dann von seiner Freundin Justyna verlassen, we il sich niemand nur „mit Die „Täter“ dem Erinnern an das Märtyrertum“ abfinden kann. (S. 258) Die Täter bereiten als Repräsentanten der Inzwischen hat Justyna selbst anderthalb Jahre Staatsmacht eine Provokation vor, um sich – „völlig sinnloser Haft“ hinter sich sowie im Namen der Durchsetzung der neuen zahllose vergebliche Versuche, die Frei- Gesellschaftsordnung sowie ihres eigenen lassung ihres Freundes zu erwirken. Ein Opfer Machterhalts bestimmter „Volksfeinde“ – also des Nationalsozialismus sowie des Stalinis- der jüdischen Devisenhändler und polnischen mus ist die Figur des Polen Hryniewicz, der Nationalisten - zu entledigen. nach Kriegsende als Angehöriger der polni- Dabei handelt es sich um die Figur des jüdi- schen Heimatarmee über elf Jahre inhaftiert, schen Parteifunktionärs Chaim Szwarcblatt, gefoltert und verhört wird, wobei von Beginn der die deutsche Okkupationszeit in Warschau an klar ist, dass er nicht wegen eines Ver- gehens, sondern we gen se iner Überzeugungen 116 Einfluss auf diese Konstruktion hatte mit festgehalten wird, also im juristischen Sinne Sicherheit das Schicksal Kazimierz Moczarskis, der vollkommen unschuldig ist. Die Besonderheit zeitweilig gemeinsam mit Jürgen Stroop in einer seiner Haftsituation besteht darin, dass er Zelle inhaftiert war und darüber Zeugnis ablegte. Vgl.: : Gespräche mit dem seine Zelle mit dem deutschen Kriegsver- Henker. Frankfurt am Main 1982.

45 in einem Versteck überlebte, und nach dem zurückgefunden und versteht sich als Kriege den Na men Czarnocki annahm, sowie gläubiger Jude. den aus Warschau angereisten polnischen Ganz anders stellt sich der Werdegang der Geheimdienstmann Trojan, der mit dem Figur des polnischen Sicherheitsdienstlers Parteifunktionär Czarnocki die Art der Durch- Trojan dar, der, aus bürgerlichem Elternhaus führung der „Aktion“ diskutiert und vorbe- stammend, im Herbst 1939, nach der reitet. Im Hintergrund bleiben die Figur des Besetzung Ostpolens durch die Sowjets, seine russischen Offiziers der Sonderdienste in polnische Uniform abstreift und in eine „neue Polen, Fjodor Iwanowitsch Lomekin, sowie Haut“ schlüpft, sich also aus reinem Opportu- des jüdischen Hauptmanns Glabusz. nismus den Sowjets anschließt. Er gehört zu Czarnocki, in jungen Jahren bereits überzeug- jenen kommunistischen Kadern, die fernab ter Kommunist, ist ein gebildeter Mann, der von der Front, im asiatischen Teil der UdSSR vor dem Krieg die fünfzehn Jahre jüngere für ihre zukünftige Aufgabe in Polen vorbe- Polin Lidka heiratet. Lidka, die ihren Mann reitet werden. Trojan hasst die sowjetische während der deutschen Okkupation versteckt, Welt zwar, aber er fürchtet sie auch. (S. 66) sich aufopfernd um ihn kümmert und ihm Der Erzähler charakterisiert ihn als intelligent, nach dem Warschauer Aufstand, durch frühe kalt, berechnend, unaufrichtig, grausam und Kontaktaufnahme mit der herannahenden einsam. (S. 31) Als Geheimdienstoffizier Roten Armee endgültig das Leben rettet, macht Trojan im stalinistischen Polen eine verstirbt allerdings recht plötzlich in den aufsehenerregende Karriere, im Unterschied ersten Nachkriegsjahren. Diesen persönlichen zu Czarnocki ist er allerdings von Beginn an Verlust kann Czarnocki nicht verwinden, er als egoistischer Machtmensch und Zyniker fühlt s ich e insam und muss nun erleben, dass stilisiert, dem es ausschließlich um das eigene seine kommunistischen Ideale kaum noch Überleben und die Ausübung des Gewalt- etwas mit der konkreten Umsetzung der monopols geht. Allerdings wird auch er kommunistischen Machtübernahme zu tun zeitweilig zum Opfer des Systems, als die haben. Allerdings versucht Czarnocki seine Parteilinie nach 1956 stärker national ausge- Entscheidung für das kommunistische System richtet wird. historisch zu begründen, indem er die west- Die Figur des Sowjetfunktionärs Lomekin, lichen Alliierten wegen ihres Nachgebens die, so die Charakteristik des Erzählers, ein gegenüber Hitler für die Katastrophe des bäuerliches, russisches, leibeigenschaftliches Nationalsozialismus verantwortlich macht. In Verhältnis zur Welt hat, und weiß, dass man den Kriegsjahren sei die Hoffnung der Völker sich der Obrigkeit bedingungslos unterordnen Europas mit der alliierten Sowjetunion muss, hat von ihren kommunistischen Idealen verknüpft gewesen: „Hatten Millionen nicht längst Abschied genommen. Lomekin ist in während des Krieges in der entsetzlichen erster Linie ein stolzer Russe, der den Überzeugung gelebt, wenn Stalin sich Kommunismus als Tarnkappe interpretiert, verspätet oder zögert oder resigniert, ja durch die man sein Polentum, Russentum, womöglich verliert, dann hört Europa für die Deutschtum – und vielleicht sein gesamtes Ewigkeit auf zu existieren.“ (S. 148-149) Menschsein – verbergen wolle. In Polen Erst viele Jahre später, nachdem er sich nach stören ihn die Leute, da sie den „Wahnsinn 1968 aus dem Parteiapparat zurückgezogen der Idee“ verkörpern. Eine Ausnahme bildet hat, macht sich Czarnocki klar, dass er einem in seinen Augen nur der Genosse Czarnocki, verbrecherischen System gedient und Schuld der gerade wegen se ines „jüdischen Buckels“ auf sich geladen hat. Allerdings ist er zu die- glaubwürdiger und objektiver wirke als sem Zeitpunkt, A nfang der 1970er Jahre kein andere, weder polnischer Nationalist noch Kommunist mehr, sondern hat zu Gott Romantiker sei. (S. 87) Lomekin beteiligt sich

46 als sowjetischer Berater an der Ausschaltung Revolution stammende Ethos Europas – der polnischen Oppositionellen und unter- Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – , und stützt Geheimdienst und Polizei bei ihren behaupteten, dass sie ein Anrecht auf die Provokationen und Terroraktionen. Er stirbt Erlösung der Menschheit hätten. Wä hrend die Jahre später in Moskau eines natürlichen deutschen Besatzer bemüht waren, aus ihren Todes, nach e inem zufrieden und harmonisch Opfern, ein Stück Wahrheit herauszupresse n, verbrachten Lebensabend. um jeden Widerstand zu brechen, sie dann ins Eine weitere Figur des kommunistischen KZ verfrachteten oder totschlugen, lag den Repressionsapparats ist der Jude und Sowjets, so der Erzähler, nicht an der Hauptmann des Sicherheitsdienstes Glabusz, Wahrheit, vielmehr strebten sie nach der der Antoni verhaftet und mehrfach vernimmt, Bestätigung ihrer Theorien, ihrer eigenen wobei er sich durch eine besondere Brutalität Lüge. (S. 225) Allerdings verdeutlichen die auszeichnet. Glabusz muss die VR Polen nach Psychogramme der Täterfiguren, dass die 1968 verlassen, lässt sich in der Bundesre- Motive für ihre Handlungen und Haltungen publik nieder, wo er Vorträge über den polni- recht unterschiedlich sind. Dem „idealisti- schen Antisemitismus hält und eine kleine schen“ jüdischen Kommunisten Czarnocki Wäscherei betreibt. Der ironische Kommentar steht der jüdische Menschenschinder Glabusz des Erzählers: „Andererseits muss es recht gegenüber, der in der Bundesrepublik komisch sein, wenn ein Mensch wie mein Deutschland in den 1970er Jahren als Opfer Untersuchungsoffizier Glabusz, die finsterste polnischen Antisemitismus auftritt, dem Figur unter der Sonne, in Deutschland seine „stolzen Russen“ Lomekin, der nicht an das demokratischen Ansichten verkündet und sowjetische Experiment, sondern an die schmutzige Wäsche wäscht, deutsche Stärke der siegreichen Weltmacht UdSSR Wäsche.“ (S. 292) glaubt, der zynische polnische Funktionär Trojan, der seine unschuldigen Landsleute Relativierung des Opfer-Täter-Schemas psychisch drangsaliert und foltert, we il er aus Furcht und Opportunismus zu einem Teil des Der Erzähler aus „Nacht, Tag und Nacht“ Apparats geworden ist. Allerdings wird auch setzt sein in „Die schöne Frau Seidenman“ er, ähnliche wie Czarnocki, zum Opfer des erprobtes Verfahren fort, traditionelle und Systems. Selbst die durch ihre Haft in stereotype Schemata, besonders auf der Auschwitz gebrochenen und seelisch moralischen Ebene der Wertung von Hand- vernichteten jüdischen Devisenschieber lungen und Rechtfertigungsmechnismen, Knoller und Gutmajer, die zu Opfern außer Kraft zu setzen. Es gibt keine scharfe inszenierter Morde werden, sind nicht nur Trennungslinie zwischen Verfolgern und reine Opfergestalten: Knoller belastet den Verfolgten, Täter können zu Opfern werden unschuldigen Rudowski, Gutmajer wird als und umgekehrt. Die historischen Umbrüche skrupelloser Geschäftemacher charakterisiert, erlauben drastische Frontwechsel, die neue der einem hedonistischen Lebenswandel frönt. Ideologie und ihre Vollstrecker konstruieren Selbst das Täterschema des deutschen Kriegs- eine Realität, die den Protagonisten, in der verbrechers Arens wird insofern relativiert, als Regel gewaltsam, oktroyiert wird. Während er zwar mit den neuen Machthabern des die Nazis ein materialistisches, nicht- kommunistischen Polens kollaboriert, um sein eschatologisches, rassistisches Weltbild Leben zu retten, andererseits aber 25 Jahre in schufen, in dem die germanische Rasse die Haft bleibt und in der Bundesrepublik so Führungsrolle übernehmen sollte, hatten die etwas wie eine ansatzweise Läuterung durch- Kommunisten einen anderen Anspruch. Sie macht. „Echte“ Opfer sind hingegen Antoni, beriefen sich auf das aus der Französischen Justyna und der a lte Hryniewicz, die zu reinen

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Objekten des kommunistischen Machtergrei- Ohne die gründliche Rezeption dieser fungsmechanismus werden. Justyna kommt Erfahrungen durch den Westen scheint ihm ins Gefängnis und investiert zehn Jahre ihres der Aufbau eines neuen Europa, das nicht in jungen Lebens in den Kampf um die Frei- die alten Fehler verfällt, kaum denkbar. lassung Antonis. Antoni weiß nach seiner Entlassung aus der Haft, dass er die eine Europäische Identität? Unfreiheit gegen eine andere austauscht, und selbst Hryniewicz, der a ls „alter Kämpfer“ der Wir verlassen nun die Ebene der literarischen Heimatarmee nach einem Kurswechsel der Fiktion und wenden uns jenen diskursiven Partei so etwas wie eine kurzfristige mora- Aussagen des Autors Szczypiorski zu, die sich lische Wiedergutmachung erfährt, weiß, dass explizit mit dem Thema Europa und seiner es sich hierbei nur wieder um einen Identität auseinandersetzen. In diesem Zusam- Schachzug der kommunistischen Führung menhang können wir neben dem bereits handelt, die die „patriotischen Empfindungen“ erwähnten Sammelband „Europa ist unter- der polnischen Bevölkerung durch einen wegs“ auch auf die Te xte anderer öffentlicher späten „historischen Kompromiss“ für ihre Stellungnahmen des Autors zurückgreifen. Zwecke wecken und instrumentalisieren Seine letzte Rede zum Thema Europa konnte möchte. Szczypiorski bekanntlich nicht mehr halten, Stärker als in „Die schöne Frau Seidenman“ sie wurde aber kurz nach seinem Tode in steht deshalb in diesem Roman das Problem mehreren deutschen Zeitungen abgedruckt, so 117 der Möglichkeit einer freien Wahl des dass sie als erstrangige Quelle dienen kann. Einzelnen und einer ganzen Gesellschaft im Ähnlich w ie in einigen fiktiven Texten ist das Vordergrund. Die Gesamtaussage des Erzäh- Europa-Verständnis Szczypiorskis von einer lers tendiert nämlich dahin, dass die Opfer des tiefen Skepsis geprägt. Der Kontinent habe Totalitarismus keine Möglichkeit hatten, sich nie eine echte Einheit dargeste llt, sich viel- frei zu entscheiden. Zu reinen Objekten degra- mehr durch Vielfalt ausgezeichnet. Die diert, wurden sie zu einem Symbol für die einzigen drei Elemente, die Europa über individuelle und kollektive Ohnmacht. Das im Jahrhunderte miteinander verbanden, waren Roman a postrophierte Unverständnis Europas die Macht des Papsttums, die Auflehnung für das Wesen des Kommunismus, die Baga- dagegen sowie das Lateinische der gebildeten tellisierung seiner Konsequenzen für den Schichten. Zwar existierten Jahrhunderte lang Fortbestand und die Identität ganzer Faktoren für e ine geistige Einheit, sie würden Gesellschaften, lassen in dem skeptischen aber gegenwärtig in Frage gestellt. In erster Erzähler einen schlimmen Verdacht auf- Linie meint der Autor damit das Menschen- kommen: „Irgendwann einmal wird es heißen, bild des christlich-jüdisch geprägten Konti- diese Jahre hätte es nicht gegeben, man müsse nents. Zwe itens verwe ist Szczypiorski auf das sie ausstreichen, vernichten, aus der Chronik europäische Verhältnis zum Eigentum, das auf der Geschehnisse löschen. Da durch wird man dem Römischen Recht beruhe. Allerdings aus der Geschichte Europas die nutzlose müsse konzediert werden, dass, obwohl das Erfahrung des Kommunismus streichen und heutige moderne Europa noch immer in der zusammen mit ihr das Los vieler Millionen griechischen Philosophie und der römischen auslöschen.“ (S. 256) Insofern ruft der Erzähler indirekt dazu auf, sich intensiver mit 117 Andrzej Szczypiorski: Von der Fiktion und der der kommunistischen Praxis in jenem Teil Einheit Europas. Die letzte Rede des großen polni- Europas auseinanderzusetzen, der nach den schen Schriftstellers Andrzej Szczypiorski. In: Verträgen von Jalta und Potsdam der sowje- Frankfurter Rundschau, 18.5.2000, S. 19; Hotel Europa leuchtet nicht mehr. Andrzej Szczypiorskis tischen Einflusssphäre zugeschlagen wurde. letzte Rede. In: die tageszeitung, 18.5.2000, S. 4.

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Praxis des Gesellschaftslebens wurzele, es bei gibt, dass nicht die Welt uns gehört, sondern der normativen und funktionalen Auslegung wir der Welt.“118 dieser geistigen Basisgrößen stets heftigen Ergänzt und ausgeweitet wird die Frage- Streit gegeben habe. Daraus ergibt sich auch stellung der kollektiven Identität und des die polemische Folgerung des Autors, dass nationalen Selbstbewusstseins in den man die Einheit Europas nicht auf eine Überlegungen Szczypiorskis um das Problem gemeinsame Währung und die Festlegung der der Ambivalenz zwischen Gleichheit und Größe von Dosengurken reduzieren dürfe. Die Freiheit, das, der Tradition der europäischen skeptische Schlussfolgerung Szczypiorskis Aufklärung folgend, durch die Vernunft des lautet deshalb, dass es ohne das Wissen über Menschen gelöst werden soll. Allerdings die Geschichte der Vaterländer Europas weder könne angesichts e iner unfassbaren und kaum Europa noch die Vaterländer geben werde. noch nachvollziehbaren Vielfalt von Gefragt sei deshalb eine kontinuierliche und Meinungen, deren Werthierarchie permanent nach allen Seiten ausgerichtete Bildungs- relativiert wird, die Sehnsucht nach einer arbeit. autoritären Lösung und nach einem „weisen Monarchen“ entstehen. Ein Rückfall in die Beitrag der Ostmitteleuropäer - Krise der Ständegesellschaft sei nicht ausgeschlossen. Masse ndemokratie Auch wenn dies die Erwägungen eines geschichtsbewussten polnischen Intellektuel- Vor dem Hintergrund seiner historischen, len sind, der den nach 1989 einsetzenden spezifisch polnischen Erfahrungen formuliert Transformationsprozess in seinem Lande Szczypiorski hier also eine Befürchtung, die intensiv erlebt und mitgestaltet hat, so handelt gegenwärtig für die polnische Gesellschaft es sich dabei durchaus nicht um Fragestel- und für das Bewusstsein ganzer Gesellschafts- lungen, die nur die Reformstaaten und ihre schichten nicht atypisch ist. Nach den Gesellschaften betreffen. Die Verflachung des Erfahrungen mit zwei totalitären Systemen, Politischen zugunsten einer rigiden Ökonomi- die die physische und geistige Existenz der sierung, Renationalisierungstendenzen, dema- polnischen Nation in Frage stellten, drängt gogische Populisten, Machtmissbrauch und sich nunmehr durchaus die Frage auf, welchen politische Korruption schwächen die Demo- Rang Polen als präsumptiver Beitrittskandidat kratie nicht nur in Warschau, Prag und in einer erweiterten Europäischen Union Budapest, sondern auch in Berlin, Rom und einnehmen soll. Fern aller politischen und Brüssel. Die Sorge des Autors ist also eine ökonomischen Zwänge beantwortet Szczy- gesamteuropäische und verdeutlicht, dass das piorski diese Frage so: “Die Polen können ganze Europa, besonders aber die Europäische zum gemeinsamen Europa einen paradoxen , Union der fünfzehn Mitgliedsstaaten einen scheinbar schwer zu definierenden Wert immensen Reformbedarf hat, um funktions- beitragen. (...) Die Polen – und übrigens nicht und demokratiefähig zu bleiben. nur sie, sondern alle, die am eigenen Leibe den Kommunismus erfahren haben – werden Haben oder Sein zu Europa die alte europäische, heute im Westen etwas vergessene Überzeugung beitra- Den Westeuropäern wirft der Autor Taten- gen, dass der Mensch schwach ist, unvoll- losigkeit und Selbstzufriedenheit vor und kommen und sterblich, dass es Grenzen der kollektiven und individuellen Möglichkeiten 118 Andrzej Szczypiorski: Die Berliner Mauer trennte uns von Europa. Rede zum ersten Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands am 3.10.1994 in Bremen. In: ders.: Europa ist unterwegs. Essays und Reden. Zürich 1996, S. 89-95, S. 94.

49 konstatiert eine allgemeine Orientierungs- deshalb haben die beiden hier besprochenen losigkeit: „Wir leben in einer Welt ohne Romane Szczypiorskis einen ausgesprochen Kompass. Der große historische Sturm hat appellativen Charakter, indem sie historisch bewirkt, dass das Schiff Europa driftet und die belegte, kaum hinterfragbare Stereotype und Besatzung langsam das Vertrauen in die Rollenverteilungen relativieren und neue, eigenen Kapitäne verliert.“119 Allerdings durchaus fiktive Vorschläge für die Dar- wendet der Autor diese Kritik nicht in ein stellung und das Verstehen von Welt machen. konkretes Programm, vielmehr spricht auch er Apodiktische Schuldzuweisungen an Einzelne nur Hoffnungen aus, wenn er im Hinblick auf oder ganze Gruppen haben hierin kaum die Osterweiterung der EU fordert: „Das neue Raum, und insofern ist Szczypiorski, trotz und vereinigte Europa, wo sich der deutsche aller biographischen Mäander, ein Autor mit Perfektionismus, die britische Voraussicht, die einer zutiefst positiven, christlichen Grund- französische Erfindungsgabe, die italienische aussage: „Meine Anschauung über die Welt Fantasie, die polnische Geistesfreiheit und die ist genauso denkbar einfach, wie es das tschechische Genauigkeit verbinden, muss ein Christentum ist, in dem ich einst erzogen Europa von Menschen sein, die gemeinsam wurde. Der Sinn dieser christlichen Erziehung eine Antwort gefunden haben auf die Frage, sind Liebe, Erbarmen und Vergebung.“121 was wesentlicher ist: Sein oder Haben.“120 Obwohl der Autor diesen idealistischen An- satz zuvor im Grunde genommen verworfen hat, weil er sich weder mit der banalen O-Ton: Forum „Junges Em+pirie noch mit den Interessen des weitaus Europa“ größten Teils der Menschheit deckt, besteht er doch hartnäckig auf diesem personalistischen Mit diesem Forum möchte die Redaktion der und dem Materiellen enthobenen Prinzip. Sein „aktuellen ostinformationen“ jungen Euro- ehemals sozialistisches Ethos ist einem päern aus Mittel-, Südost- und Osteuropa die christlichen gewichen, der aufklärerische Möglichkeit eröffnen, in essayistischer Form Glaube a n die Vernunft des Menschen ersetzt zu einem breit angelegten Thema zu Wort zu worden durch die Hoffnung, glauben zu kommen. Unter dem Schlagwort „Gedanken können, auch wenn es sich dabei um ein ver- zu und über Europa“ beleuchten die Autorin- zweifeltes „sperare contra spem“ zu handeln nen und Autoren auf höchst unterschiedliche scheint. Angesichts der für den skeptischen Weise die Wahrnehmung dieses Gedankens Kommentator deprimierenden Welt der Realia und der Idee „Europa“ in ihren jeweiligen bleibt noch die hoffnungsvolle, fiktive Welt Ländern. Persönliche Erfahrungen und Erwar- der Realiora, Kunst und Literatur, die es er- tungen rücken dabei naturgemäß in den lauben, dort Ansätze von Freiheit, Gerech- Vordergrund. Die Ergebnisse, die auf den tigkeit und Menschlichkeit zu konstruieren, nächsten Seiten zusammengefasst sind, stellen wo es sie sicherlich nicht gegeben hat und einen ersten Versuch dar, das Meinungsbild in geben wird. den einzelnen Ländern in kleinen, nicht Insofern ist es der Anspruch des Autors, durch unbedingt repräsentativen Ausschnitten zu seine schriftstellerische Arbeit nach gerechten beleuchten. Beim Bemühen, junge Studieren- Maßstäben für die Welt zu suchen. Und de und Wissenschaftler nach ihrer ganz persönlichen Einschätzung zu fragen, ging es 119 Ders.: Europa ist unterwegs. Über die „Wende“ uns auch um Authenzität. Die einzelnen Texte in einigen Ländern Europas und ihre politischen Folgen für alle. In: ders. Europa ist unterwegs, S. 121 Ders.: Die Rückgewinnung des Glaubens. Vom 24. Segen der Literatur in einer schweren Zeit. In: 120 Ebd., S. 95. ders.: Europa ist unterwegs, S. 362.

50 erscheinen daher aus Gründen der Originalität kerung zur neuen Regierung ist auf drei Fak- in sprachlich lediglich leicht geglätteter Form. toren zurückzuführen: 1. Ein hohes persönliches Rating des Premierministers (76 %): Das Vertrauen in Jana Teneva ihn ist nicht nur außerordentlich groß, son- dern größer noch als dasjenige in den Die Wahlen in Bulgarien Präsidenten, ein Phänomen, das es in der bulgarischen Politik bis jetzt noch nicht „Ich bin als Prinz geboren und die Götter sind gegeben hat. meine Brüder“ 2. Das keineswegs negative Verhältnis der

Bevölkerung zu den Ministern mit Mit diesem Zitat aus dem bekannten Gedicht Schlüsselfunktionen im neuen Kabinett. Zu „Märchen für die Leiter“ des berühmten den populärsten gehört der Wirtschafts- bulgarischen Poeten Hristo Smirnenski minister Nikolai Vassilev. Obwohl erst 31 begrüßte der Präsident Peter Stoyanov den Jahre alt, hat er an vier Universitäten auf neuen Premierminister Simeon Saxkoburg- drei Kontinenten studiert und bringt Er- gotski. fahrung durch seine Arbeit bei zwei Enttäuscht, belogen und ausgenutzt - so fühlten internationalen Großbanken in die Arbeit sich die Bulgaren vor den Parlamentswahlen mit ein. Ebenso beliebt ist der Finanz- im Sommer dieses Jahres. Am Ende der minister Milen Veltschev. Vor seinem Amt Regierungszeit der Demokraten haben Korrup- als Vizepräsident beim Finanzgiganten tion und die fehlende Moral eine rasche Merryl Lynch in der Abteilung für Erosion des Vertrauens der Gesellschaft in die Schwellenmärkte war er zwei Jahre im Machthabenden bewirkt und alle Hoffnungen Außenministerium als Vertreter der auf eine Verbesserung der Lage zunichte Vereinten Nationen tätig. gemacht. Viele, wenn auch nicht alle Länder, 3. Die Koalition der Regierung mit der fragen s ich, was ein Volk dazu bewe gen kann, „Bewegung für Rechte und Freiheiten“, die vor ein paar Monaten vom ehemaligen der Partei der türkischen Minderheit. König (Zaren) gegründete Partei („National- bewegung Simeon II“) mit so großer Mehrheit „800 Tage“ – so lautete das Motto der Werbe- zu wählen. Die Antwort lautet, dass die kampagne der „Nationalbewegung Simeon II“. Bulgaren in Simeon Saxkoburggotski nicht den Die Partei versprach, das Land und die Wirt- Sohn des Zaren Boris, sondern die Alternative schaft innerhalb von 800 Tagen auf die Beine für ein besseres Leben sehen. Und mit der zu stellen. Das Volk hat ihnen nun die Chance Stimme für die „Nationalbewegung Simeon II“ gegeben, zu zeigen, was sie können, und die haben sie für eine Veränderung votiert. Das Zeit läuft! Volk folgte dem Aufruf „Glauben Sie mir!“, mit dem sich Simeon Saxkoburggotski in sei- Das Maßnahmenpaket zur Be lebung der nem leicht veralteten Bulgarisch an das Volk bulgarischen Wirtschaft wandte. „Überraschend“, „jung“ und „überparteilich“ - (von Premierminister Simeon Saxkoburggotski das waren die ersten Einschätzungen des neuen am 19. August 2001 veröffentlicht) Kabinetts. Die am 24. Juni 2001 gewählte 89. bulgarische Regierung zeichnet sich sowohl 1. Radikale Steuerreform ab dem 1. Januar durch „Überpopularität“ als auch durch „Über- 2002 erwartungen“ aus. Das außerordentlich - Ausdehnung des Steuerfre ibetrags von 110 positive Verhältnis der bulgarischen Bevöl- DM auf das Monatseinkommen

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- Senkung der Einkommensteuersätze von Anja Pogrebna, Übersetzerin, Kiew, 20 bis 38 % auf 18 bis 29 % Ukraine - Freibetrag von Gewinnen bei Reinvestition des Gewinns Junge Ukrainer über Europa - Freibetrag für Kapitalgewinne aus dem Handel mit Wertpapieren Die Idee des vereinigten Europa ist ja vor 2. Umstrukturierung der Tätigkeit der Zoll- relativ langer Zeit e ntstanden. Die Staaten der ämter, darüber hinaus Einbeziehung aus- Europäischen Gemeinschaft haben den „festen ländischer Zollinspektoren Willen, die Grundlagen für einen immer 3. Schnelligkeit, Transparenz und Effektivität engeren Zusammenschluß der europäischen in der Privatisierung durch: Völker zu schaffen“. So heißt es im Vertrag - Abschaffung der Präferenzen und Privi- zur Gründung der EWG von 1957. Immerhin legien für Management-Buy-Outs bleibt diese Idee aktuell und manchmal um- - Abschaffung der Privatisierungsmethode stritten, sie wird von den Politikern und „Verhandlungen mit potenziellen Käufern“ Entscheidungsträgern sowie von einfachen - Konzentration der Abwicklung der Privati- Bürgern diskutiert. sierungsgeschäfte auf die staatliche Priva- Wie bekannt liegt die Ukraine in der Mitte tisierungsagentur Europas, obwohl sie manchmal als Teil Ost- - Aufbau spezialisierter Institutionen außer- europas angesehen wird. D ieses Land hat jetzt halb der Privatisierungsagentur für die eine schwierige Wahl in seiner Auslandspolitik Kontrolle nach dem Privatisierungsprozess zu treffen. Einerse its ist es die aktive Zusam- 4. Senkung der Haushaltsausgaben in der menarbeit mit dem Westen, dies bedeutet auch, staatlichen Verwa ltung; darüber hinaus die Bedingungen, Wünsche und Richtlinien Entlassung von 10 % der staatlichen Ange- vom Westen zu akzeptieren, was im Moment stellten ab Oktober 2001 mehr oder weniger der Fall ist. Als Folge 5. Erhöhung (bis max. 10 %) der Strom- und dieser Zusammenarbeit wird auch der EU- Heizkosten ab Oktober 2001 Beitritt der Ukraine in der Zukunft nicht ausge- 6. Erhöhung des Mindestarbeitslohnes von 85 schlossen. Andererseits hat die Ukraine als auf 100 DM ab Oktober 2001 starken Nachbarn Russland, das gegen die 7. Verdoppelung des Kindergeldes ab dem 1. europäische Integration der Ukraine ist, aber Januar 2002 sich stark für die Integration mit We ißrussland 8. Aufbau eines staatlichen Garantiefonds für und Russland einsetzt. Für eine solche die Vergabe von Kleinkrediten in Höhe Vereinigung gibt es u. a. mehrere wirtschaft- von 20 Mio. DM. Dieser Fonds wird liche Gründe, da Russland vor allem der Kredite mit niedrigen Zinsen sowie Hauptlieferant von Gas, Erdöl, Rohstoffen zinslose Kredite zur Förderung der priva- sowie anderen Ressourcen in die Ukraine ist. ten Initiative in Gemeinden mit sehr hoher Dazu gehören noch die gemeinsame Geschich- Arbeitslosigkeit gewähren. te unserer Völker, ähnliche Sprachen und

Mentalitäten. Die Ukraine selbst kann man wie folgt einteilen – die Ostukraine, die traditionell mehr zu Russland neigt, und die Westukraine, die traditionell mehr zum Westen (Polen) neigt. Für diesen Essa y habe ich e ine Mini-Umfrage durchgeführt, wobei ich junge Ukrainer über die Idee der europäischen Einigung, Vor- und Nachteile dieser Einigung, mögliche Folgen

52 und Probleme sowie den Platz der Ukraine in vorstellen. Ein ganz geringer Anteil der Europa befragt habe. Es wurden folgende Befragten war ziemlich gleichgültig und zeigte Fragen beantwortet: kein Interesse, was die Europa-Idee und 1. Was denkst du über die Europa-Idee und Fragen in diesem Zusammenhang angeht. Sie was bedeutet das für dich? interessieren sich kaum für die Politik und 2. Was erwartest du von der europäischen machen sich keine Gedanken über die Zukunft Einigung? ihres Landes. Das wichtigste ist – sie leben, 3. Wo siehst du Probleme, Vorteile und Nach- egal wo, deswegen haben sie nie über die teile der europäischen Einigung, ist die Ver- europäische Einigung oder über die Zukunft wirklichung dieser Idee überhaupt realistisch? der Ukraine nachgedacht. 4. Wo ist der Platz der Ukraine in Europa? Zum Schluss einige interessante Beobach- Da die Fragen miteinander logisch verbunden tungen: sind, haben die meisten Befragten die Fragen ?? Junge Ukrainer und Ukrainerinnen glauben nicht einzeln beantwortet, sondern eher globale nicht an ihr Land, seine Möglichkeiten und Ideen zu ihrem Verständnis der Europa-Idee sein Potenzial und meinen, dass die geäußert. Wie erwartet, fielen die Meinungen Ukraine noch lange Zeit braucht, um ein und Aussagen sehr unterschiedlich aus. Die entwickelter Staat zu werden. meisten haben sich theoretisch über die euro- ?? Junge Leute sind mehr daran interessiert, päische Einigung geäußert, aber betrachten die lokale und persönliche Probleme zu lösen, Idee der Integration der Ukraine in die EU eher sie kümmern sich um ihre Zukunft nur skeptisch, weil sie meinen, dass „unser Land dann, wenn es im Alltagsleben notwendig noch nicht so weit entwickelt und stark ist, um wird, und haben anscheinend keine bzw. dieser Union beizutreten“. Außerdem haben wenig Zeit, um über die globalen Probleme die Ukrainer schon vieles aus der Geschichte der Menschheit nachzudenken. gelernt, das Land hatte früher noch nie seine ?? Für junge Ukrainer und Ukrainerinnen ist eigene Unabhängigkeit, es war immer in eine es nicht so wichtig, ob das Land einer Union eingebunden. Man denke nur an Polen Union beitritt oder weiterhin neutral und und an Russland. Dieser Gedanke war bei den unabhängig bleibt, das wichtigste ist – gut meisten Befragten auch dominierend. Wir und interessant zu leben. wollen die Geschichte nicht wieder erleben, Einige Aussagen der Befragten (es sind keine und wer kann garantieren, dass die Ukraine richtigen Namen, nur „nicknames“ – ich habe nach dem Beitritt als gleichberechtigtes Mit- die meisten per Internet-Chat befragt): glied angesehen wird? Und macht es Sinn für die entwickelten Länder, eine Union mit Kamelly unterentwickelten Ländern abzuschließen? „Theoretisch ist es eine gute Idee. Es kann Wollen die Unionsländer den anderen helfen? grenzenlose Möglichkeiten bieten für Reisen Oder gibt es andere Gründe dafür? Einige oder Studium, für Ausbildung und Beruf, für Befragte waren ziemlich pessimistisch. Die Urlaub und Alter. Leider lässt die wirtschaft- Befragten haben ziemlich viele Vorteile der liche und politische Entwicklung der Ukraine europäischen Einigung genannt, aber die meis- es nicht zu, einen würdigen Platz in dieser ten wollten ganz genau die Bedingungen, Union einzunehmen (wenn auch die Ukraine Prinzipien und Folgen der Integration wissen. der EU beitritt).“ Einige Befragte behaupteten, dass die e uropäi- sche Einigung nicht realistisch ist, aus politi- Enigma schen und wirtschaftlichen Gründen, und „Eigentlich habe ich nie darüber nachgedacht. konnten sich die Ukraine in dieser Union kaum

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Ein kleiner Staat hat kleine Probleme, ein sehen, aber wir müssen ja realistisch sein - wir großer Staat große Probleme.“ sind für die nur noch ein zusätzliches Problem – es gibt so viele Leute hier, die einen Job im Zaragozano Ausland gerne haben würden oder ausreisen „Ich mag die Idee des vereinigten Europas wollen.“ nicht. Jede Vere inigung bedeutet Bildung einer Einheit, dann besteht die Gefahr, dass die Xena Bestandteile dieser Einheit ihre Unabhängig- „Die Idee des vereinigten Europas finde ich keit und Eigenartigkeit verlieren, andererseits gut, nur soll jedes Land seine Souveränität und verfolgt ja jedes Land vor allem se ine e igenen Eigenartigkeit behalten. Interessen, was zu Konflikten und Problemen Ich glaube, dass in der Zukunft sogar das führt. Diese Idee hat natürlich viele Vorteile, vereinigte Eurasien entsteht. Für die Ukraine man muss sich nur überlegen, ob sie die ist es eine gute Erfahrung, für die wirtschaft- Nachteile überwiegen. liche und politische Entwicklung. Für mich bedeutet das vereinigte Europa eine Probleme: Einführung des EURO. Union europäischer Länder, die gleiche Vorteile: Es sind entwickelte Länder, die es Rechte, gleiche Vergünstigungen nach der irgendwann schaffen, den USA Konkurrenz zu Integration haben, und miteinander eng machen. kooperieren für die weitere Entwicklung. Nachteile: Im Moment sehe ich keine. Wenn dies nicht der Fall ist, kann man von der Perspektiven für uns: Vielleicht in 50 Jahren.“ europäischen Einigung kaum sprechen.“ Great Tanya „Die Einigung Europas bedeutet für mich „1. Was denkst du über die Europa-Idee und Bildung einer einheitlichen Gesellschaft, in der was bedeutet das für dich? die Mitglieder ungefähr das gleiche Niveau Ich finde die Idee sehr gut – kommt darauf haben (kulturell wie wirtschaftlich gesehen). an, mit wem die Einigung erfolgt. Ich Das wichtigste an der Europa-Idee ist die persönlich bin gegen eine Vereinigung mit Bildung eines starken Gegengewichts zu den Russland. Die europäische Integration bedeutet für mich soweit noch gar nichts. USA, politisch wie ökonomisch. Vielleicht eine einheit-liche Währung. Das Hauptproblem – weitere Verschärfung der 2. Was erwartest du von der europäischen Gegensätze im Lebensstil und Lebensstandard Einigung? zwischen den EU-Ländern und anderen Län- Verbesserung der Situation im Lande. dern, die zwar geographisch gesehen zu Möglichkeit, ohne Visa zu reisen. Europa gehören, aber nicht in der EU s ind (das 4. Wann kommt die Ukraine in die EU? gilt auch für die Ukraine). Das wird gar nicht so schnell passieren.“ Vorteile der europäischen Einigung: Einführung des EURO, Abschaffung der Lenka Grenzen im europäischen Raum. „Eigentlich ist es mir egal - keiner will uns da Was die Ukraine angeht, so sind die Chancen haben.“ für uns zu gering, als gleichberechtigtes Land der EU in den nächsten 50 bis 100 Jahren Beatrix beizutreten. Wie kann ein Staat als entwickelt „Die Idee an sich finde ich gar nicht so betrachtet werden, wo immer noch Anarchie in schlecht. Für die entwickelten Länder Europas der Politik herrscht und die Bevölkerung so hat es viele Vorteile, wie z. B. Möglichkeit der gleichgültig und nicht imstande ist, im eigenen freien Grenzüberschreitung usw. Es wäre Land etwas zu ändern?“ schön, die Ukraine unter diesen Ländern zu

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Bublik kamen, sehr hart als Putzfrauen oder Bauar- „Ich bin gegen eine solche Einigung und gegen beiter arbeiten müssen. Sie sind sehr sparsam. den EU-Beitritt der Ukraine. Ich glaube, wir Am Wochenende treffen sie sich in den müssen uns mehr auf den Osten orientieren.“ polnischen Kirchen, kaufen in den polnischen Lebensmittelläden ein, lesen meistens Salamatov polnische Zeitungen und sehen sich polnische „Die Vereinigung der westeuropäischen Län- Nachrichten an. Meine Ausbildung als der kann ich mir gut vorstellen, aber nicht die Deutschlehrer war nicht unbedingt die beste Vereinigung des ganzen Europa. Die Länder Wahl für den Arbeitsmarkt in New York. Ich sind ja so unterschiedlich entwickelt, die habe w ochenlang nach e inem Job gesucht, bei Völker haben eine unterschiedliche Mentalität. dem nicht unbedingt meine Muskeln das Und dann verstehe ich wirklich nicht – warum einzige Attribut der Einstellung gewesen soll man sich überhaupt vereinigen? Um den wären. Ich fand eine Stelle als Deutschlehrer in USA Konkurrenz zu machen? Die Ukraine ist einer New Yorker Sprachschule. Ich vergesse doch aber unterentwickelt, dass die Vereini- nie mein erstes Jobinterview, bei dem der gung mit einem entwickelten Land für sie Interviewer, kolumbianischer Herkunft, weder positive Folgen haben wird.“ auf meine Ausbildung noch auf meine Jober- fahrung achtete. Er guckte auf die letzte Seite meines Lebenslaufs und unter dem Stichwort Eryk Krysztofiak Hobbys fragte er mich, ob ich wirklich gern koche. Das war mein erstes Jobinterview und das letzte, bei dem man mich nach meinen „Kosmo-Pole“ – ein Hobbys fragte. amerikanischer Traum

Es sind genau drei Jahre vergangen, nachdem ich meine Familie, meine Freunde und den alten Kontinent verlassen habe, um mich in ein Abenteuer zu stürzen, um meinen „American Dream“ in Erfüllung gehen zu lassen. Das war im April 1998, gerade nachdem ich mein Germanistikstudium an der Warschauer Uni- versität abgeschlossen hatte. Ich hatte genug Glück, um eine Green-Card in der Green-Card- Lotterie zu gewinnen und genug Mut, um mein bisheriges Leben und meine He imat gegen den American Drea m einzutauschen.

Geld, Arbeit und Glück

Mein Leben im Big Apple New York sieht nicht so typisch polnisch aus. Ich wohne nicht in Greenpoint, dem polnischen Stadtteil von New York in Brooklyn. Meine Reise in die Amerika ist für einen Europäer ein USA war auch nicht aus ökonomischen Grün- interessantes, aber auch e in fremdes Land. Die den unternommen. Ich musste schnell fest- Umstellung und die Orientierung fielen mir stellen, dass viele Polen, die nach Amerika

55 sehr schwer: Schul- und Universitätssystem, Ehrlich gesa gt fühle ich mich geistig nicht mit Gesundheitswesen, „Full-time-jobs“, „Part- diesem Land verbunden, obwohl Amerika zu time-jobs“. Selbst das Einkaufen läuft anders meinem neuen „Vaterland“ wurde, da ich jetzt ab. In Europa sc hien das Einkaufen eine Art zu vor kurzem amerikanischer Staatsbürger sein, wo die Blumenverkäuferinnen ihre wurde. Ich bin sehr weit von der amerikani- Blumensträuße mit Kunst und Hingabe schen Mentalität entfernt. Wenn ich jedoch zu komponieren. Hier fühlt man sich in einem Besuch nach Polen zurückkomme, fühle ich Supermarkt eher wie im Zoo, wo a lle Lebens- mich doch eher wie ein Tourist als ein mittel sehr bunt in riesigen Verpackungen Einheimischer. Sicherlich habe ich Sehnsucht verkauft werden. Sie sehen anders als in nach Europa, nach Polen und danach, was ich Europa aus. Obst und Gemüse und auch die in der neuen Welt vermisse. Mein eigenes Blumen s ind dicht in eine Welt, bestehend aus Bewusstsein wurde dadurch ganz schön auf die Plastik verpackt. Probe gestellt. New York ist eine Stadt der Chancen und Ich frage mich dauernd, ob ich Pole, Europäer, Möglichkeiten, aber auch der Beliebigkeiten, oder doch schon Amerikaner bin. Oder bin ich so sagt man. Wo so viele Menschen anzu- ein Kosmo-Pole? Ich bin selbst nicht so sicher, treffen sind, dass man sich nie einsam fühlt. wozu ich mich bekennen soll. Es wäre naiv zu Vielleicht ist das wirklich so, nur hat man glauben, dass ich der Erste bin, den diese wenig Gemeinsames mit ihnen zu tun. In Fragen beschäftigen, dass es nicht noch mehr dieser Stadt kann man an einem Tag Dutzende Leute gibt, die sich die gleichen Fragen stellen. neuer Menschen kennen lernen und am Man spricht so viel über die Globalisierung nächsten Tag hat man ihre Namen schon und ich bemerke, wie stark ich unter ihrem wieder vergessen. Und wenn man wirklich Einfluss stehe. Ich bin mir nicht sicher, ob sie einen anderen Menschen trifft, mit dem man unbedingt immer eine positive Wirkung auf etwas gemein hat, dann kommt das Problem das menschliche Bewusstsein hat. Es w ird klar, der Zeit. New York ist schnell. Man arbeitet so dass die Welt immer kleiner und damit alles viel, dass praktisch nur die Wochenenden in erreichbarer wird. Natürlich ist auch in Europa Frage kommen. Aber wie kann man eine die Globalisierung überall spürbar und bis zu soziales Leben nur auf zwei Wochentage einem bestimmten Grad auch die Amerikani- beschränken? Das ergibt insgesamt 104 Tage sierung. Nur glaube ich für mich persönlich, im Jahr. Das ist möglich und die A merikaner, dass die Grundprinzipien der europäischen die ich kenne, leben so. Man geht aus in einen Werte, die ich ehrlich gesagt erst nach drei Club, eine Disco, eine Bar und natürlich lernt Jahren im Ausland kennen gelernt habe, für man andere kennen. Für mich als Polen ist das immer lebendig, aktuell und sogar unantastbar nicht so eine natürliche Art und Weise, bleiben. Menschen kennen zu lernen. Natürlich wurde ich auch von dem „Wochenend-Soziali- sierungssyndrom“ verschlungen. Man kann viele interessante Telefonnummern sammeln, nur bringen sie einem keinen Nutzen. Am Anfang schien Amerika sehr reizvoll und spannend zu sein. Jetzt beginne ich allerdings zu schätzen, wieviel Glück ich hatte, in Europa geboren und aufgewachsen zu sein. Immer wenn ich jemand aus dem alten Kontinent treffe, erweckt das sofort eine Art Sympathie und ein Gefühl der Zugehörigkeit in mir. Berichte

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wechslungsreichen Programmpunkten zu Gerhard Schüsselbauer, Jörg Stemmer folgen. Im Mittelpunkt standen Integrationsaktivitäten, gemischte Gruppenar-

beiten, gesta lterische Aktivitäten, Theaterpäda- Nachbarschaft in Mitteleuropa gogik, Zeitungs- und Collagengestaltung, ein neu erlebt - deutsch-polnische Ausflug in die Rattenfängerstadt Hameln und Begegnung junger Menschen als Höhepunkt eine „Reise durch die We lt der mit Behinderungen Musik“ mit dem Vlothoer Musikpädagogen Peter Ausländer. Erstmals führte das Gesamteuropäische Studienwerk ein Seminar für junge Menschen mit Behinderungen aus Deutschland und P olen Programm: durch und beschritt damit neue Wege der Dienstag 15. Mai 2001 Begegnung. Laut Informationen des Deutsch- Polnischen Jugendwerks gibt es nicht einmal eine Handvoll solcher Seminartypen während eines Jahres. Aufgrund der hervorragenden persönlichen Kontakte der verantwortlichen Lehrerinnen aus Poznan und Berlin gelang es, die bereits seit zehn Jahren bestehende Schul- partnerschaft zwischen der Helene-Haeusler- Schule, einem sonderpädagogischen Förder- zentrum aus Berlin, und der Spezialgrund- schule Nr.103 (Szkola Podstawowa Specjalna nr 103) aus Poznan mit einen Pilotseminar am GESW als Drittort fortzuführen. Das Das Seminar beginnt mit unseren "icebreaking Programm wurde vom Seminarleiter, Dr. activites", d.h. Integrationsspiele mit der Gerhard Schüsselbauer, mit Frau Hilke Gruppe, um die erste Hemmschwelle abzu- Hartmann und Frau Hanna Majchrzycka bauen und sich näher zu kommen. Dann intensiv vorbereitet und inhaltlich auf die kommt als erster Höhepunkt der Zauberer zu Bedürfnisse von jungen Menschen mit uns und entführt uns in die Welt der Magie. geistigen Behinderungen abgestimmt. Jörg Stemmer als neuer Mitarbeiter im Bereich in die Welt der Magie. Medienpädagogik und Joanna Marzec, die als Erstellen von zweisprachigen Wand- Sprachmittlerin und Teamerin äußerst plakaten (Die nstagvormittag) engagiert das Seminar mitgestaltete, ergänzten In gemischten Gruppen werden Plakate erstellt. mit den Lehrerinnen und Betreuerinnen aus Wer bin ich? Woher komme ich? Was sind Berlin und Poznan das Seminarteam. Ziel der meine Hobbys? Was interessiert mich? Danach Begegnung war sowohl das gemeinsame Er- stellte sich jede Schülerin und jeder Schüler auf leben der deutsch-polnischen Nachbarschaft seine ganz persönliche Art der Gruppe vor (mit als auch die inhaltliche Arbeit der teil- oder ohne Worte). nehmenden Kinder und Jugendlichen (Zeitung, Collagengesta ltung, Computer und vor allem

Theaterpädagogik). Durch die konsekutive Übersetzung vom Deutschen ins Polnische und vice versa wurde es allen Teilnehmenden möglich gemacht, den einzelnen, sehr ab- Zeitung, Collage, Theater (Nachmittag)

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Am Nachmittag geht´s dann in zwei Motto „Nachbarschaft“ gemeinsam gestaltet. großen Gruppen weiter: Improvisationstheater mit Frau Hanna Fortse tzung der Gruppe Theater und Majchrzycka sowie Zeitungs- und Collagen- Collage am Nachmittag gruppe mit Frau Hartmann. Am Nachmittag wird dann die Arbeit in der Theatergruppe mit spannenden Improvisationen fortgesetzt. Die Collagen- und Dokumentationsgruppe gestaltet Plakate, arbeitet mit Computern und einer digitalen Kamera. Was dabei herauskommt, ist das "Produkt" der gemeinsamen Anstrengungen in den gemischten Gruppen.

Gemeinsam nehmen die Gruppen die Reise Donnerstag, 17.Mai 2001 nach V lotho und das gemeinsame Erlebte in Auf den Spuren des Rattenfängers von ihre Arbeit auf. Als Abschluss des arbeits- Hameln, Ausflugsfahrt in die Rattenfänger- und auch inhaltsreichen Tages besichtigt stadt Hameln (Vormittag) dann die gesamte Gruppe die Stadt Vlotho In Hameln begibt sich die Gruppe auf ihrem und die Burg. Ausflug auf die Spuren des Rattenfängers. Der Geist des Rattenfängers, der vor vielen Jahrhunderten über hundert Kinder entführt Mittwoch 16.Mai 2001 haben soll, ist in Hameln immer noch präsent. Juge ndkunstschule (gestalterische Aktivitä- ten: T-Shirts bemalen) Vormittag In den Räumen der Jugendkunstschule in Vlotho, die von Frau Heidi Blunk geleitet wird, kann sich die gestalterische Energie in der deutsch-polnischen Begegnung frei ent- falten.

Die jungen Menschen genießen die Atmosphäre in der Stadt sichtlich.

T-Shirts mit deutsch-polnischen Motiven, auf denen sich nicht nur die Schülerinnen und Schüler verewigen, werden unter dem

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Musikpädagogik mit Peter Ausländer vom mitgestalteten. Eine Neuauflage dieser Juge ndhof Vlotho (Nachmittag) deutsch-polnischen Schülerbegegnung mit den sonderpädagogischen Einrichtungen aus Poznan und Berlin ist für den Frühsommer 2002 angesetzt.

Zbigniew Wilkiewicz

Jedwabne, der polnische Historikerstreit und der polnisch-jüdische Dialog Am Nachmittag folgt dann noch ein echtes

Highlight. Peter Ausländer vom Jugendhof Vlotho lädt a lle zu einer Reise durch die Welt Am 10. Juli 1941, also gute zwei Wochen der Musik ein. nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die UdSSR, befahlen die deutschen Besatzer in Jedwabne, einem Städtchen bei Lomza (Region Bialystok), das in Übereinstimmung mit den Regelungen des Hitler-Stalin-Paktes zuvor sowjetisch besetzt gewesen war, die gesamte jüdische Bevölkerung zu vernichten. Das Todesurteil wurde von polnischen Ein- wohnern des Städtchens ausgeführt. Dies belegen die im Jahre 2000 veröffentlichten Berichte jüdischer Augenzeugen, die dem Massaker entgingen. Polnische Augenzeugen Tanz, Musikimprovisationen und die gemein- der Tragödie widersprechen ihnen nur zum same Freude an Bewegung und Klängen Teil, und zwar im Hinblick auf die Beteili- werden zu einem echten Erlebnis für die gung von Deutschen. Aus den gleichen Gruppe. Quellen erfährt man, dass die deutschen Besatzer ebenfalls in den Ortschaften Wasosz, Wizna und Radzilów die jüdische Fazit Bevölkerung mit Hilfe einheimischer polni-

scher Ortsansässiger töten ließen. Zahlreiche Das gemeinsam Erlebte macht Spaß, und noch Zeugnisse dieser Art waren der polnischen mehr Spaß macht die gemeinsame Arbeit in Forschung seit Jahrzehnten bekannt. Gruppen. Das ist in der Arbeit mit jungen Allerdings stellt erst das im Jahre 2000 in Menschen mit sehr unterschiedlichen geistigen polnischer Sprache veröffentlichte Buch des Behinderungen nicht anders als mit so amerikanischen Soziologen Jan Tomasz Gross genannten „normalen“ Jugendgruppen und „Sasiedzi. Historia zaglady zydowskiego Gruppen junger Erwachsener. Für das miasteczka” [Nachbarn. Die Geschichte der Studienwerk war diese Arbeit e in Experiment, Vernichtung eines jüdischen Städtchens]122 und a llen Beteiligten ist es zu verdanken, dass die polnische Täterschaft an der Vernichtung es gelungen ist – vor allem den Schülerinnen und Schülern selbst, die mit großem Engage- 122 Jan Tomasz Gross: Sasiedzi. Historia zaglady ment und mit großer Freude diese Begegnung zydwoskiego miasteczka. Sejny 2000.

59 der Juden in Jedwabne so deutlich in den dann aber nach dem Abkommen Sikorski- Vordergrund. Inzwischen ist es auch in Majskij der Anders-Armee beitreten und die englischer und deutscher Sprache erschienen. Sowjetunion verlassen konnten. Ihre Zeug- Es überrascht deshalb nicht, dass es in Polen nisse wurden über Jahrzehnte in den Hoover seit dem Erscheinen dieses Buches eine Institution Archives in Stanford (Kalifornien) Historikerdebatte gibt, in der über die aufbewahrt und bereits vor Jahren eben von Glaubwürdigkeit der von Gross zitierten Jan Tomasz Gross für eine Publikation, die Quellen, die Beteiligung der deutschen die Sowjetisierung Ostpolens zum Gegenstand Besatzer, die Rolle der jüdischen Bevölkerung hatte, ausgewertet.126 In seiner Studie aus dem während der sowjetischen Okkupation dieser Jahre 1983 akzentuierte Gross allerdings die Landstriche und die Motive der polnischen Sympathien jüdischer Bevölkerungsteile mit Täter heftig gestritten wird. Besonders den Sowjets nicht, im Gegenteil, er hob kontrovers ist die Tatsache, dass Gross in hervor, dass sich Tausende von Juden, die im seinem Buch die gesamte polnische Gesell- Mai 1940 die Möglichkeit erhielten, in das schaft für die Morde verantwortlich zu deutsche Okkupationsgebiet zurückzukehren, machen scheint, auch wenn sich dieser davon Gebrauch machten, was für viele den Schlusssatz in seinem Buch auf die falsche sicheren Tod bedeutete. 127 Dass es sich hierbei Schuldzuweisung auf der einstigen Erin- um eine in der polnischen Historiographie und nerungstafel in Jedwabne bezieht.123 veröffentlichten Meinung kontrovers geführte Dies hat zu einer undifferenzierten Ethni- Debatte handelt, bezeugen auch die Reak- sierung der Debatte geführt, in der häufig nur tionen polnischer Historiker und Publizisten, noch von „den Juden”, „den Deutschen” oder die sich in die seit Mitte 2000 schwelende „den Polen” die Re de ist, so als hätte es auch Debatte um das Massaker von Jedwabne 128 in jenen tragischen Jahren nicht die eingemischt haben. unterschiedlichsten Grundhaltungen bei Be- In der nachfolgenden Dokumentation wollen satzern und Besetzten, bei O pfern und Tätern wir deshalb einen längeren Text des be- gegeben.124 Angefacht wurde die Diskussion kannten polnischen Zeithistorikers Jerzy unter anderem durch einen ausführlichen Jedlicki vorstellen, der im Februar 2001 in der Artikel von Professor Tomasz Strzembosz

„Przemilczana kolaboracja” [Die verschwie- 126 125 Jan Gross: Und wehe, du hoffst... Die gene Kollaboration] , in dem der Autor die Sowjetisierung Ostpolens nach dem Hitler-Stalin- Kollaboration jüdischer Bevölkerung mit den Pakt 1939-1941. Freiburg/ Basel/ Wien 1988; vgl. sowjetischen Okkupanten Ostpolens schildert, auch: Jan Tomasz Gross, Irena Grudzinska-Gross: W czterdziestym nas matko na Sybir zeslali..., die angeblich gleich nach dem Einmarsch der London 1983. sowjetischen Einheiten in Ostpolen 127 ibd., S.187-189. (17.9.1939) einsetzte. Strzembosz beruft sich 128 Wybiórcze traktowanie zródel [Selektive dabei auf die Berichte polnischer Augen- Behandlung der Quellen]. Z dr. Markiem zeugen aus jenem Gebiet, die zunächst in Wiezbickim, pracwnikiem Instytutu Studiów sowjetische Gefangenschaft geraten waren, Politycznych PAN, rozmawia Tadeusz M. Pluzanski. In: Tygodnik Solidarnosc, http://www.solidarnosc.pol.pl/2001/ts09/t16.html. 123 Dariusz Stola: Pomnik ze slów (2). [Denkmal Jerzy Robert Nowak: Zydowscy kolaboranci aus Worten], in: Rzeczpospolita, 2.6 2001. [Jüdische Kollaboranten]. In: Tygodnik Glos, 3. 124 Dawid Warszawski: Odpow iedzialnosc i jej brak März 2001. Bogdan Musial: Historiografia [Verantwortung und ihr Fehlen], in gazeta mityczna. [Mythische Historiographie]. In: wyborcza, 9.-10.12.2000,http://pogranicze.sejny.pl/ Rzeczpospolita, 24.2.2001. Stefanie Peter: jedwabne/warszawski.html. Bergmann im Stollen der Geschichte. Der 125 Tomasz Strzembosz: Przemilczana kolaboracja. Reemstma-Kritiker schaltet sich in die polnische In: Rzeczpospolita, 27.1.2001, http://rzeczpospolita. Debatte ein. Ein Besuch bei Bogdan Musial. In: pl/gazeta/wydanie010127/publicystyka FAZ, 22.2.2002, S.51.

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„Polityka“ erschien, und in dem der Autor Jerzy Jedlicki: Jak sie z tym poradzic? versucht, deutlich zu machen, dass die Polacy wobec zaglady Zydów [Wie damit gesamte polnische Gesellschaft dazu aufge- fertig werden? Die Polen und die rufen ist, bestimmte, fest stehende Vor- Judenvernichtung], in: Polityka, 10.2.2001. stellungen des eigenen Geschichtsbildes (Professor Jedlicki ist Historiker und zumindest zu relativieren, wenn nicht zu Vorsitzender des Programmrats der revidieren. Dass es sich hierbei um einen Gesellschaft gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit „Offene Republik”). schmerzhaften Prozess handelt, stellt Jedlicki dabei nicht in Frage. Allerdings sieht er in 1. Das Buch von Jan Tomasz Gross diesem Bemühen nach Wahrheit die einzige „Nachbarn: Die Geschichte der Vernichtung Möglichkeit zu einem authentischen Dialog eines jüdischen Städtchens“ hat erregte Dis- und einem partnerschaftlichen Verhältnis kussionen und Kontroversen hervorgerufen zwischen Polen und Juden zurückzufinden. und der Verlag „Fundacja Pogranicze“ hatte Zweifelsohne finden sich in diesen eine bei weitem zu niedrige Auflage geplant. Ausführungen auch Analogien zu der Das Buch verschwand im heißesten Moment Problematik des deutsch-jüdischen und des aus den Buchhandlungen. Und das braucht deutsch-polnischen Dialogs, der ebenfalls uns nicht zu verwundern. Wird doch in dem stark durch die Begriffe der Schuld und der Buch über ein außergewöhnliches Ereignis Verantwortung geprägt ist, wobei die Täter- berichtet. Darüber, wie die polnischen Opfer-Relation weiterhin bestimmend bleibt. Einwohner eines Städtchens bei Lomza an einem Sommertag des Jahres 1941 auf über-

aus grausame Weise – und unter den Augen der deutschen Besatzer – ihre jüdischen Nachbarn ermordeten, ohne irgendwen zu schonen. Und darüber, dass dieses Ereignis fast sechzig Jahre lang von Schweigen überdeckt blieb. Man müsste sich eher wundern, wenn ein solcher Bericht keine Aufregung hervorrufen würde. Ähnliche Emotionen werden aller- dings nicht zum ersten Mal geweckt. Man kann an die Unruhe erinnern, die der in Bei dem zweiten Text handelt es sich um „Tygodnik Powszechny“ im Jahre 1987 einen ins Internet gestellten Appell des veröffentlichte Artikel von Jan Blonski „Die Stellvertretenden Vorsitzenden der Stiftung armen Polen schauen a uf das Ghetto“ hervor- Christliche Kultur „Znak“ [Fundacja Kultury gerufen hat, und ein paar Jahre später der Chrzescijanskiej „Znak“], Stefan Wilkano- Artikel von Michal Cichy über den wicz, in dem der Autor zu einem möglichst Judenmord während des Warschauer Auf- breit angelegten polnisch-jüdischen Dialog stands oder der Film von Lanzmann unter aufruft, der mehrere Ebenen miteinander dem Titel „Shoah“. Immer dann, wenn die verbinden soll. Die 1993 ins Leben gerufene Öffentlichkeit Gelegenheit hat, mit Texten Stiftung versteht sich als Instrument der oder Bildern konfrontiert zu werden, die einen internationalen Zusammenarbeit zur Entwick- Schatten auf das Verhalten der Polen lung der christlichen Kultur. Ihr Ziel ist die gegenüber den Juden während der Okkupation Vertiefung und Propagierung des christlichen werfen, ruft das die unterschiedlichsten Ge- Humanismus. fühle hervor: Bei den einen moralische Unruhe und Scham, bei den anderen den

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Vorwurf, dass es sich um Phantasien oder Arbeit 1944 in einem Versteck in der Schmähschriften handele, und schließlich Grójecka-Straße zu Ende schreiben konnte, beruft sich eine nächste Gruppe auf die bevor er mit allen a nderen Bewohnern dieses Umstände, die die Schuld der Täter verringern Verstecks aufgrund einer Denunziation ums oder auf den marginalen Charakter des Leben kam. Dieses Buch, das sich durch die Vorfalls verweisen. Es gibt in Polen wahr- respektable Sorge um gerechte Wertungen scheinlich kein anderes historisches Thema, auszeichnet, konnte über viele Jahre die von das, trotz des großen Zeitabstands, die der Zensur aufgetürmten Hindernisse nicht verborgene Saite moralischer Empfindsamkeit überwinden. Schließlich wurde es im Jahre oder des Ressentiment so stark berührt. Die 1988 von Professor Artur Eisenbach heraus- Redakteure der Zeitschriften wissen, welch gegeben – und rief kein größeres Echo hervor. umfangreiche und emotionsgeladene Post sie Mehr Aufmerksamkeit konnte der im Jahre nach solchen Artikeln erhalten. 1992 von Krystyna Kersten herausgegebene Warum ist das so? Die Reaktionen lassen sich Sammelband „Polen – Juden – Kommunisten: nicht unbedingt auf kontrovers diskutierte Anatomie von Halbwahrheiten 1939-1968“ Tatsachen reduzieren. Bezeichnend ist aller- auf sich ziehen, in dem die Problematik der dings, dass einige Nachrichten, darunter auch Vernichtung nicht berücksichtigt wurde, in die Geschichte der Pogrome um Lomza, so dem aber dokumentarisches Wissen mit den lange in den Archiven verborgen blieben. Und auf beiden Seiten tief verwurzelten Stereo- alleine das gibt schon zu denken, obwohl die typen konfrontiert wird. Es gab dann eine Erforscher dieser Epoche sich kaum noch über ganze Reihe von Veröffentlichungen, in denen etwas wundern dürfen. Die wissenschaftliche analysiert wurde, welches Bild der Vernich- Literatur über die Okkupationszeit in Polen tung und ihres Umfelds im Gedächtnis jener nimmt lawinenartig zu, und die Meinungs- Menschen zurückgeblieben ist, die überlebten, unterschiede unter den Historikern beziehen und andererse its bei jenen, die von außen sich eher auf Details. Eine echte Barriere beobachteten und wie sich hieraus die besteht zwischen dem Korpus gesicherten „Erinnerung“ ganzer Gesellschaftsgruppen historischen Wissens und dem allgemeinen herausdestillierte, also ihre geronnenen Bewusstsein, das die zugänglichen Informa- Versionen von Geschichte. „Vernichtung und tionen nur durch einen dichten Filter sedimen- Erinnerung“ von Barbara Engelking (1994) tierter Urteile, Vorurteile und persönlicher oder die vom Französischen Institut in Krakau Erinnerungen passieren lässt. Diesen Filter herausgegebenen Materialien des Kollo- können bestimmte Nachrichten nicht durch- quiums „Jüdische Erinnerung – Polnische dringen, oder wenn sie ihn durchdrungen Erinnerung“ (1996) sind Beispiele für haben, werden sie abgewiesen, da sie mit dem Veröffentlichungen, die von unserer Presse akzeptierten System von Überzeugungen nicht und unserer öffentlichen Meinung kaum übereinstimmen. wahrgenommen wurden. Auf dem Büchermarkt erscheinen schon lange In polnischer Sprache ist noch nicht das Veröffentlichungen, die die öffentliche Mei- seriöse, vorurteilsfreie Buch von Michael nung hätten erschüttern oder zumindest eine Steinlauf „Bondage to the Dead: Poland and ernsthafte Reflexion hervorrufen können. Als the Memory of the Holocaust“ erschienen, erste muss hier „Die polnisch-jüdischen dagegen hat der vom Jüdischen Historischen Beziehungen während des Zweiten Institut herausgegebene Sammelband von Weltkriegs“ von Emanuel Ringelbaum ge- Feliks Tych „Der lange Schatten der nannt werden. Ringelbaum war der führende Vernichtung“ (1999), der den gleichen jüdische Historiker, der das Archiv des Bereich polnischer Erinnerung, historischen Warschauer Ghettos begründete, und der seine Bewusstseins und erzieherischer Schablonen

62 behandelt, bisher kein Interesse hervor- dieses Risiko eingingen, umso größer und gerufen. Das zwei Jahre vor „Nachbarn“ beachtenswerter. Gut, dass an ihre Recht- herausgegebene Bändchen von Tomasz Gross schaffenheit und ihren Mut in solchen unter dem Titel „Ein grauenhaftes Jahrzehnt: Sammelbänden erinnert wird, wie sie als erste drei Essays zum Thema Juden, Polen, von Wladyslaw Bartoszewski, Zofia Lewin, Deutsche und Kommunisten 1939-1948“ hatte später u. a. von Szymon Datner und zuletzt mehr Glück, denn die „Gazeta Wyborcza“ von Elzbieta Isakiewicz („Mundharmonika. wurde a uf es aufmerksam, und die, was diese Berichte von Juden, die von Polen vor der Thematik angeht, überaus aufmerksame Vernichtung gerettet wurden.“) herausge- Zeitschrift „Wiez“ w idmete diesem Buch eine geben wurden, ganz zu schweigen von den Redaktionsdiskussion. Dennoch hat die zahlreichen Erinnerungen, in denen Zeugnisse Rezeption dieses Bändchens in keiner Weise der Dankbarkeit übermittelt wurden. das Aufsehen angekündigt, das sich durch Es stellt sich nur die Frage, wer das Rec ht hat, „Nachbarn“ einstellen sollte. auf diejenigen stolz zu sein, die die Retter Ich erinnere an diese Bücher, da die in ihnen waren. Denn a us Erinnerungen und Berichten und in einer Reihe anderer Veröffent- geht hervor, woran sich im übrigen auch jene lichungen enthaltenen Quellenmaterialien gut erinnern, die im Generalgouvernement sowie ihre Interpretationen ausreichen, sich lebten, dass nicht nur die sich verbergenden die Frage zu stellen, ob die allgemein Juden, sondern auch deren Wohltäter vor den vertretenen Ansichten über das Verhalten Blicken der neugierigen Nachbarn, dem einzelner polnischer Gesellschaftsgruppen prüfenden Blick des Hausverwalters, des während des Krieges nicht einer gewissen Ladenbesitzers oder eines Passanten erzitter- Revision bedürfen. Dazu ist es aber nicht ten. Wenn es nur die Gestapo gewesen wäre, gekommen. Es brauchte erst eines so starken um wie viel leichter hätte man im Versteck Schlages, wie die Information darüber, was in überleben, um wie viel leichter hätte man auf Jedwabne geschah, um unsere Schutzmauern die Kette mitmenschlicher Solidarität zählen zu durchbrechen und die Besatzung der können, und um wie viel weniger notwendig polnischen Festung in Bewegung zu bringen. wäre das anhaltende Wechseln der Verstecke Es ist allerdings noch zu früh, um sagen zu gewesen. können, was mit dieser immerhin ersten Was zählt also in der Gesamtrechnung der Bresche geschehen wird. Man kann nicht Nation? Heldentum oder Schäbigkeit? Mitge- ausschließen, dass schlussendlich, nach dem fühl oder Mangel an Erbarmen? Es zählt das Austausch polemischer Stiche, jeder bei seiner eine wie das andere, und weder lässt sich das eigenen Wahrheit bleibt, bei seinen seit eine von dem anderen trennen noch kann das langem gepflegten Überzeugungen, in die eine durch das andere abgegolten werden. Es man zu viel an Glauben und Gefühlen wird immer zwei getrennte Register geben. investiert hat, um sie jetzt in Zweifel ziehen Das Problem besteht allerdings darin, dass, zu können. indem wir uns des ersten Registers erinnern, wir das zweite am liebsten vergessen würden 2. Jawohl, w ir haben einige tausend Gerechte oder es - sowohl quantitativ als auch gesell- unter den Völkern der Erde und sicherlich schaftlich - als Marginalie behandeln möch- eine vielfach größere Zahl derjenigen, denen ten. Aber es war keine Randerscheinung, und dieser Titel auch zukäme, wenn sie am Leben wenn es sogar eine solche gewesen sein sollte, geblieben wären, oder wenn sich jemand für so hat sie doch das gesamte polnische Leben sie eingesetzt hätte. Wenn man abwägt, dass während der Okkupation schwer belastet. für das Verbergen von Juden in Polen der Tod Zudem fällt es schwer, das Jahr 1968 zu ver- drohte, so ist das Verdienst derjenigen, die gessen, als eine neue Generation von Juden-

63 jägern und Polizeispitzeln eine allpolnische war, dass die Juden in der Gesellschaft bedeu- antisemitische Hetze veranstaltete, die bei uns tend tiefer standen als der Adel, das christ- und auf der ganzen Welt die schlimmsten liche Bürgertum und die Intelligenz. Die Assoziationen hervorrief. Gleichzeitig hatte Gleichgültigkeit endete, als die Juden, in sie die Chuzpe, gegen die „antipolnischen“ unterschiedlichen Zeitepochen und in ver- Reaktionen, die von ihr selbst hervorgerufen schiedenen Teilungsgebieten anfingen, worden waren, zu protestieren und sich auf gleiche zivile Rechte, allmählich Bürgerrechte das Argument der Gerechten zu berufen. Was und schließlich auch Rechte für ihre Sprache im übrigen auch heute noch passiert. und Kultur zu fordern. Je mehr sie an Es ist leider so, dass das, was wir nicht wissen gesellschaftlicher Bedeutung gewannen, desto und erinnern wollen, andere wissen und mehr wurden sie zu einem Volk und waren erinnern, und wir nicht mehr das erste ohne nicht nur Bekenner des Alten Testaments. das zweite Register haben können, genauso Und desto schwerer gestalteten sich die wie andere damals unterworfene Völker nicht Beziehungen mit den polnischen Gesell- über einen solchen psychischen Komfort schaftsgruppen, die diese Bestrebungen nicht verfügen. Wenn wir das Erbe der vorange- unterstützen konnten und ihrer Überzeugung gangenen Generationen antreten, dann gib es nach a uch nicht wollten. Hinzu kam der Ein- keine Wahl: fluss der aus dem Westen kommenden Welle Dann fällt auch ihre Größe und Schäbigkeit, des rassistischen Antisemitismus, der danach ihre Ehre und Scham auf uns zurück. Unge- strebte, alle Wege zur Assimilation, also der achtet dessen sind diese beiden Register, das sittlichen und allmählich auch bewusstseins- Register der Lebensretter und das Register der mäßigen Integration in die Mehrheits- Henkersknechte, nur zwei Elemente der gesellschaft, bis hin zum Schwund unter- Gesellschaft. Und zwar extreme Elemente. schiedlicher Eigenschaften, inklusive des Wer sich in we lches Register eingetragen hat, religiösen Bekenntnisses zu blockieren. In war am häufigsten eine Sache des Charakters, Polen wurde bekanntlich die Nationaldemo- ohne jedwede soziologische Zuordnungen. kratie zu einer eifrigen Künderin des Menschen aus allen Gesellschaftsschichten Antisemitismus, aber den Juden gegenüber befanden sich unter jenen, die ihr Leben und ablehnende oder sogar fe indliche Stimmungen das ihrer Familien auf die Waagschale legten, machten sich, die Linke ausgenommen, weil sie fest daran glaubten, dass man dazu ebenfalls bei anderen ideologischen Gruppen verpflichtet sei. Vertreter aller Stände waren sowie innerhalb der katholischen Kirche breit. unter jenen anderen, für die der nazistische Wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg Überfall und das Übermaß menschlichen wurde der Kampf gegen die Juden zu einer Leids eine hervorragende Gelegenheit bot, um wahren Besessenheit, der zum Beispiel in der Geschäfte zu machen. Die einen wie die Warschauer Presse mehr Platz einnahm und anderen bewegten sich vor einem mehr Emotionen hervorrief als irgendein gesellschaftlichen Hintergrund, von dem man anderes Thema. häufig mit einer Mischung aus Trauer und So sollte es von nun an immer bleiben, Tadel sagt, dass er gegenüber dem Schicksal obschon mit wechselnder, pulsierender seiner jüdischen Nachbarn gleichgültig war. Spannung. Hier ist nicht der Platz, um die Und gerade an dieser Stelle ist Zweifel Geschichte dieser schäumenden Strömung angebracht. darzustellen, an ihre drastischen Episoden zu erinnern – wie die Ermordung des 3. Die Polen pflegten den Juden gegenüber Präsidenten, das Sitzbank-Ghetto in den gleichgültig zu sein, freundlich oder Universitäten bis hin zu den blutigen verächtlich gleichgültig, so lange offenkundig Pogromen. Es gibt auch keinen Grund, die

64 polnischen oder andere Juden zu idealisieren: So sahen telegraphisch verkürzt die polnisch- da gab es unterschiedliche Repräsentanten, jüdischen Beziehungen im Moment der wie jedes andere Volk vertraten sie alle Invasion Hitler-Deutschlands und der UdSSR möglichen Klassen und politischen Optionen, aus. Es wäre extrem idealistisch, sich vorzu- es gab tief gläubige und vollkommen stellen, dass sich die Haltung der polnischen verweltlichte, nationalistische und voll- Bevölkerung gegenüber den Juden sofort kommen assimilierte, unermesslich reiche und geändert hätte, weil sich die einen wie die hungernde, geniale und primitive, tugendvolle anderen gemeinsam unter dem Stiefel der und lasterhafte Juden. Das Problem bestand Okkupanten befanden. In der sowjetischen darin, dass unabhängig davon, was jemand Besatzungszone konnte unter einem Teil der darstellte, was er tat, wo sein Verdienst oder Juden, besonders bei jenen, die bittere Erfah- seine Schuld lag, ihn von allen Seiten rungen gemacht hatten und links orientiert erniedrigende Beschuldigungen und Belei- waren, die Hoffnung auf Sicherheit und digungen erreichten und zwar nur deshalb, anständige Behandlung keimen. Nach kurzer weil er als Jude zur Welt gekommen war. Das Zeit sollte sich allerdings herausstellen, dass jüngst von Anna Landau-Czajka herausge- Enteignungen, die Schließung religiöser gebene Buch „Sie standen in einem Haus... Stätten sowie die Deportationen nach Osten Konzeptionen zur Lösung der Judenfrage in keine nationalen Unterschiede duldeten. Unter der polnischen Publizistik der Jahre 1933- deutscher Herrschaft sollte sich angesichts des 1939“ dokumentiert ausführlich ein Terrors der Besatzer niemand sicher fühlen Phänomen, das heute, aus der Perspektive der können, aber bald stellte sich heraus, dass es Zeit, den Eindruck einer Besessenheit hinter- in dieser Hölle verschiedene Kreise gab, und lässt, der ein großer Teil der Intelligenz, der die Bewohner des besseren Kreises grund- Kirche und der öffentlichen Meinung sätzlich keinen Grund sahen, sich ihrer unterlag. festsitzenden Vorurteile gegenüber den noch Dies war natürlich nicht nur ein für Polen stärker verfolgten Untermenschen zu spezifisches Phänomen. Man kann sagen, dass entledigen. fast ganz Europa, obschon in unterschied- Tomasz Szarota hat in dem gerade erst ver- lichem Grade, für diesen psychischen und öffentlichen (und jüngst in der „Polityka“ mentalen Abweg verantwortlich war, der in rezensierten) Buch „An der Schwelle der Deutschland (sowie dem angeschlossenen Vernichtung“ ein breites und quellenmäßig Österreich) bereits vor dem Krieg als detailliert dokumentiertes Panorama der anti- Rechtfertigung für die totalitäre Ordnung jüdischen Vorfälle und Pogrome im besetzten diente. Dies ist allerdings ein schwacher Europa in den Jahren 1940 bis 1941 – von Trost. Polen war zweifellos eines der Länder, Paris und Antwerpen über Den Haag und das am stärksten von dieser Besessenheit Amsterdam bis hin zu Warschau und Kaunas erfasst wurde. Deren ideologische Verkünder vorgestellt. Dies ist ein Buch, das durchaus wetteiferten darin, wie man einige Millionen nicht weniger betroffen macht als das Buch Bürger der Republik entrechten, ente ignen von Gross. In ihm w ird unter Beweis gestellt, und aus dem Land vertreiben könnte. Diesen dass wo auch immer die deutsche Okkupa- Ideen traten nur die Sozialisten und tionsverwaltung den Aufruhr gegen Juden Kommunisten sowie der liberale Teil der entfesseln wollte, um zu zeigen, dass die Intelligenz entgegen, was die Neigung der Bevölkerung der besetzten Länder selbst nach sich assimilierenden Juden erklärt, nach solchen Abrechnungen giert, sie überall Unterstützung bei jenen Gruppen zu suchen, willige, zuweilen allzu willige Vollstrecker die ihnen gegenüber weder Aggression noch für diese Arbeit fand. Auch in Warschau: Verachtung an den Tag legten. sowohl ideologische Vollstrecker, die das

65 deutsche Entgegenkommen als Aufforderung Wille, im Rahmen des Möglichen, den Opfern zur Kollaboration verstanden (worin sie sich Schutz und Hilfe zu gewähren. Aus-druck irrten), als auch jene Kampfgruppen, für die dieser Haltung waren, neben Tausenden von das Schlagen und Bera uben von Juden an s ich Einzelaktionen, entsprec hende Appelle eines schon ein Vergnügen darstellte. Teils der Untergrundpresse mit dem Die Situation verschärfte sich mit dem „Informationsbulletin“ [Biuletyn Informa- deutschen Überfall auf die UdSSR erheblich. cyjny] an der Spitze, und im Jahre 1942 die Szarota führt gewichtige Beweise für die Gründung des Rats zur Judenhilfe, bekannt These an, dass die Entscheidung für die Ver- unter dem Kryptonym Zegota. Ein Großteil nichtung der Juden in der Umgebung Hitlers der Gesellschaft hegte solche Gefühle aller- am Vortag des Überfalls auf die UdSSR dings nicht. Natürlich waren die Besatzer gefasst wurde: jedenfalls spielte sich der 1. Feinde Polens, aber das, was sie mit den Akt der „Endlösung“ im Osten a b, wobei die Juden machten, rief nicht unbedingt Wider- Gesamtheit der Operationen Sonderkomman- spruch hervor. Und es handelte sich dabei dos übertragen wurde, die den Namen nicht nur um Gleichgültigkeit. Leider hörte Einsatzgruppen trugen. Diese Einheiten soll- man in jenen Tagen, als das Ghetto brannte, ten, zumindest während der ersten Tage der auf den Warschauer Straßen und in den Invasion, einheimische Freiwillige zu Aktio- Straßenbahnen eher Spott über die nen der „Selbstreinigung“ ermutigen. Dort, Sterbenden, Gelächter und Freude aufgrund wo dies gelang, wie zum Beispiel in Kaunas, eines so außergewöhnlichen Spektakels als hatten die Pogrome des Sommers 1941 einen Bekundungen des Mitgefühls oder des Ent- überaus blutigen und grausamen Verlauf. setzens. Von Solidarität spreche ich nicht, Alles scheint darauf hinzuweisen, dass denn die durfte man nicht laut äußern. Es geht Jedwabne zu einem Element dieses Plans hier vielmehr um die Reaktionen, die man wurde. unter sich zum Ausdruck brachte und die von Es gibt keinen Zweifel daran, dass den einem Großteil der Untergrundpresse legiti- Deutschen bei diesen Massakern die Rolle der miert wurden, in zahlreichen Schriften, in Inspiratoren zukam, ungeachtet der Tatsache, denen die Hauptsorge der Redakteure darin wie viele Deutsche sich am Tatort befanden, bestand, wie man nach dem Krieg jenen Rest was von den Historikern im übrigen kontro- von Juden loswerden könne, denen es vers diskutiert wird. I n der Gegend um Lomza vielleicht gelingen würde, die Vernichtung zu fanden sie ganz offensichtlich einen Haufen überleben. Bekanntlich wurde dieses Projekt williger Vollstrecker, die, nachdem sie einmal in hohem Maße umgesetzt; teilweise gleich Blut gewittert hatten, bei dieser Orgie des nach dem Krieg, zum Teil erst im Jahre 1968. Massenmordes keine Hemmungen mehr Die Vernichtung führte also nicht zu einer hatten. Die bekannt gewordenen Berichte allgemeinen Umwertung polnischer Haltung- deuten auch nicht darauf hin, dass irgend- en, obschon sie die bestehende Spaltung jemand in der Stadt versuchte, sie aufzuhalten. vertiefte. Was für die einen das grauenhafteste Ereignis des 20. Jahrhunderts darstellte, blieb 4. Die Vernichtung der Juden verursachte eine für andere nur eine Episode ohne größere Aufspaltung der polnischen Öffentlichkeit, die Bedeutung. Aber sogar in den Seelen jener sich nicht immer mit den einstigen Fraktio- Menschen, deren rassische oder religiöse Vor- nierungen deckte. Für viele Menschen war urteile so stark in ihren Gehirnen verankert das, was die Nazi-Okkupanten realisierten, in sind, dass sie durch keine Erfahrung getilgt seiner Unmenschlichkeit ungeheuerlich: aus werden können, hinter ließ die Vernichtung einer Regung des moralischen Protests sowie eine gewisse Dissonanz, wurde das Bekennt- des Mitgefühls für die Opfer erwachte der nis zum Antisemitismus weltweit doch zu

66 etwas höchst Unanständigem. Umso mehr Zeiten niemand ein Zeugnis für kollektive musste jedweder Schatten eines Verdachts der Unschuld verdient hat. Gerade darin besteht Unterstützung des nazistischen Vernichtungs- die Ansteckung durch Hass und Verachtung. programms der europäischen Juden als Wir müssen keine Buße dafür leisten, dass Verleumdung abgewiesen werden. So wurde sich vor sechzig Jahren in unserem Lande eine Sprache der Camouflage geboren, in der Mörder und Kollaborateure fanden, die durch Gefühle und Überzeugungen nicht – wie einst die Besatzer aufgehetzt, willig eine Aufgabe - direkt, sondern nur mittelbar geäußert erfüllten, die in jedem normalen Menschen wurden. Entsetzen auslöst. Das Problem besteht jedoch Anderseits begannen die ehrenwertesten darin, dass sich in dem von uns ererbten Menschen sich nicht ganz ohne Grund davor Gepäck historischer Traditionen neben ruhm- zu fürchten, dass man sich hinsichtlich der vollen Elementen auch e ine moralische Kultur Polen weltweit nicht so sehr an den Edelmut findet, die zum Verbrechen führen, es recht- der Gerechten erinnern würde, als vielmehr an fertigen oder mit Schweigen bedecken konnte. das Gekicher der Gaffer auf dem Krasinski- Wir sind dafür verantwortlich, wie wir mit Platz und an die am 4. Juli 1946 in Kielce unserer Vergangenheit umgehen, wie wir wutschnaubende Menge. Man dachte auch, Ruhm und Scham miteinander versöhnen, wie dass es Zeit brauchen werde, bis Gefühle und wir uns unsere Vergangenheit berichten und Einstellungen verarbeitet sind, und dass man welche Schlüsse wir aus ihr ziehen. eine solche Arbeit nicht leisten könne, wenn Wir s ind sicherlich in Europa nicht die ersten man die Gesellschaft an den Pranger stellt. und nicht die letzten, die diesen Prozess der Und im Übrigen: Wer war berechtigt anzu- Umwertung der eigenen Legende durchlaufen. klagen? Und wen? Mit einem Wort, lieber Für jedes Volk ist dies ein schwieriger Pro- nicht reizen und abwarten, bis jene herange- zess, so wie es schwierig und schmerzlich ist, wachsen sind, die keine schlechten Erinne- den eigenen Lebenslauf neu zu überdenken, rungen mehr haben. wenn man im Lichte neuer Erfahrungen und Dies alles waren keine unbegründeten Sorgen. Wertmaßstäbe die Bewertung e instiger Hand- Jedes Volk, auf dem der Makel lastet, dass e in lungen ändern muss. Es ist immer schwer Teil seiner Bürger in irgendeiner Form an einzugestehen, dass wir in unserem Leben Taten beteiligt war, die nach Jahren Scham nicht jede Prüfung ehrenhaft überstanden hervorrufen, obwohl sie den Tätern durchaus haben und dass einige unserer tiefsten nicht beschämend erschienen, ist damit gut Überzeugungen sich als Illusionen und Betrug vertraut. Diese Abwehrmechanismen, dieses erwiesen haben. Nicht anders steht es mit der halb bewusste Verschweigen und Vergessen Geschichte einer Nation. Der Fall von ist psychologisch nachvollziehbar, zögert aber Jedwabne bietet die Gelegenheit dazu, eine den Augenblick hinaus, in dem man mit den solche Arbeit, zumindest hinsichtlich dieses dunklen Stellen der eigenen Geschichte einen Aspekts, ernsthaft aufzunehmen. Man konfrontiert wird. Diese gelangen letztlich kann natürlich auch weiterhin ausweichen. immer ans Tageslicht, treffen uns unvorbe- Man kann schreiben, dass es zu früh ist, dass reitet und schockieren. Das war also möglich? es in den Berichten unklare Stellen gibt, dass Also waren Polen dazu fähig, Säuglinge ins man nicht genau nachgezählt habe, wie viele Feuer zu werfen? Und die anderen, die dabei Mörder und Ermordete es waren. Dass man zuschauten? Die Deutschen, das ist bekannt, das eine oder andere Archiv noch erforschen die Litauer, natürlich, die U krainer, wer hätte müsse. Es lohnt sich immer, weiter zu recher- etwas anderes von ihnen erwartet? Aber die chieren, man hätte dies vor vielen Jahren Polen? Es ist wirklich nicht leicht, nach einem machen müssen, aber das ändert rein gar halben Jahrhundert zu erfahren, dass in jenen nichts. Die Wahrheit wird dadurch nicht ange-

67 nehmer und früher oder später wird man mit schen Schuld und das Verdrängen der unange- ihr fertig werden müssen. nehmen Elemente unseres Erbes. Und Ich höre allerdings noch andere Zweifel. Ich schließlich geht es hier nicht um das Ausland, höre die Befürchtungen, dass der durch das sondern darum, dass wir selbst damit be- Buch von Gross erzeugte Lärm antisemitische ginnen, offen miteinander zu sprechen. Nur Reaktionen hervorrufen wird und dass das auf diese Weise kann man sich von Ängsten Hervorzerren schlechter Erinnerungen, zudem und Komplexen befreien. von unvorsichtigen Verallgemeinerungen be- gleitet, nichts Gutes bringen wird. Ich ignoriere solche Befürchtungen nicht. Ihnen hat jüngst Jacek Zakowski Ausdruck gegeben, ein Publizist, den man keiner Vorurteile bezichtigen kann. Allein, es stellt sich heraus, dass die Schlaftherapie auch keine guten Ergebnisse zeitigt. Fast unbemerkt ist es in Polen zu einer antisemitischen Infektion der jungen Generation gekommen, die diesbezüg- lich über kein Wissen und über keine Erfahrungen verfügt, aber von der ein Teil bereits auf entsprechende Signale und Losungen reagiert hat. Sie sollten zumindest Stefan Wilkanowicz: Przyszlosc stosunków wissen, wovon sie reden und was sie zu polsko-zydowskich. Wstep do dyskusji. [Die vertreten meinen. Es ist an der Zeit, die Dinge Zukunft der polnisch-jüdischen Be ziehung- beim Namen zu nennen. en. Einleitung zur Diskussion]. In: Forum Aber es gibt noch, so sa gt man, die a usländi- Zydzi-Polacy-Chrzescijanie, www.forum- schen Angriffe auf den guten Namen Polens znak.org.pl/opinie/opinie7a.html und auf seine Geschichte, und Juden haben daran keinen geringen Anteil. Das ist wahr. Es Wer mit wem? kommt vor, dass man in amerikanischen Zei- tungen Berichte liest oder in der israelischen Will man sich diesem Thema nähern, so muss Knesseth Aussagen hört, die verlogen oder man natürlich die unterschiedlichen Ebenen beleidigend sind. Uns verwundert auch nicht dieser Beziehungen beschreiben, denn weder mehr die Praxis von Anwälten, den Holocaust die Juden noch die Polen stellen mono- für die sehr diesseitigen Interessen der Erben lithische Gemeinschaften dar. Unter ihnen zu verwenden. Es ist aber auch bekannt, dass, gibt es Gläubige und Ungläubige, es gibt jene, wenn jemand individuell oder kollektiv die sich ausschließlich als Juden und Israelis beschuldigt wird, er eher an Verteidigung als fühlen (dafür aber, in Abhängigkeit von ihrem als an se ine moralische Verantwortung für die Herkunftsland, kulturell häufig sehr differen- Vergangenheit denkt. ziert sind), und andere, die s ich als Juden und Es lohnt sich aber, in Betracht zu ziehen, dass Amerikaner, als Juden und Franzosen, als sich auf der jüdischen Seite über Ja hre bittere Juden und Deutsche, als Juden und Polen Enttäuschungen angesammelt haben. Ihre verstehen, oder als Juden, die sich zu ihren Vorwürfe oder verjährten Vorurteile werden polnischen Wurzeln bekennen. Und es gibt durch unsere eigene Abrechnung mit der Polen mit jüdischen Wurzeln, Polen ohne Geschichte und mit unserer Straßenbahn- jüdische Wurzeln, Polen, die etwas über das mentalität nicht belebt. Im Gegenteil: was sie Judentum wissen, sowie jene, die so gut wie belebt, ist das sture Verneinen jeder polni- nichts über die Juden wissen, schließlich

68 andere, die lediglich über falsche Informa- In letzter Zeit haben sich die verschiedensten tionen verfügen, die auf Stereotypen und Initiativen entwickelt und es sind viele Publi- Mythen fußen. kationen (über einhundert Bücher jährlich) Und letztlich gibt es die Alten und die Jungen veröffentlicht worden, in denen die polnischen mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten, Juden und die polnisch-jüdischen Bezie- unterschiedlichen Komplexen und Wunden hungen behandelt werden. Aber die Versäum- sowie unterschiedlichen Empfindlichkeiten. nisse eines halben Jahrhunderts lassen sich Wir können also nur über eine Serie recht nicht so leicht wettmachen. Heraufbe- unterschiedlicher Dialoge und recht verschie- schworen werden auch die alten Dämonen der dener Beziehungen sprechen. Über die Angst und des Hasses, immer wieder belebt Möglichkeit und Unmöglichkeit des Dialogs man falsche Stereotype über Juden und Polen, sowie über die Art und Weise ihn zu führen. auch fehlt es nicht an Provokationen, die zum Ziel haben, Konflikte zu schüren oder ent- Welche Ebenen? stehen zu lassen. Es ist also notwendig, ehrlich, systematisch Sehr stark vereinfachend kann man folgende und nachhaltig über diese Fragen nachzuden- Ebenen des Dialogs und der Zusammenarbeit ken. U nd gleichzeitig muss den sich abzeich- unterscheiden: nenden Gefahren entgegengewirkt werden. Zusammenarbeit auf politischem Gebiet, die zum Ziel hat, Konflikte und Katastrophen wie Die Politik die Shoah zu verhindern, Zusammenarbeit im Bereich der Bildung, die zum Ziel hat, Men- Die Kooperation in diesem Bereich ist absolut schen so zu erziehen, dass sie zu Empathie evident und sollte möglichst breit angelegt und Dialog fähig sind. Dialog im Bere ich der sein. Wir alle streben nach Frieden und nor- Religion, der zum Ziel hat, geistig zu malen Entwicklungsbedingungen. Wir fürch- bereichern und zu vertiefen, Kooperation bei ten uns vor einer Propaganda, die Angst, Hass der Heilung und Entwicklung unserer Zivili- und Gewalt sät, und sind daran interessiert, sation, der es an Transzendenz, Kontempla- Konflikten entgegenzuwirken, die in extre- tion und Solidarität mangelt. mistische Aktivitäten übergehen können, und Für jede dieser Disziplinen müssen eine Reihe alle gefährden. von Vorschlägen gemacht und umgesetzt Hieraus ergibt sich ad hoc ein Minimal- werden. Wir sollten uns auch der auftretenden programm. Ein gemeinsamer Standpunkt Schwierigkeiten, ihres Charakters und ihrer angesichts verschiedener Erscheinungen des Reichweite bewusst sein. Davon ist im letzten gesellschaftlichen und politischen Lebens, Heft von „Znak“ („Shoah – bedrohte also die Verlagerung der Aufmerksamkeit von Erinnerung?“) ausführlich die Rede. In ihm den bilateralen Beziehungen auf das versuchen wir, die Diskussionen, die über Gemeinwohl. Eine offensichtliche, allerdings diese Tragödie geführt werden, zu beschrei- schwierige Aufgabe, die noch viele Schritte ben und nach Wegen des Dialogs und der erfordert. Zusammenarbeit zu suchen. Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns auch im Internet- Die Bildung Service „Forum: Zydzi-Polacy-Chrzescijanie“ (www.forum-znak.org.pl). Hier müssen wir sehr viel tun, denn wir haben Die Diskussionen über die Tragödie in ein halbes Jahrhundert verloren. In dieser Zeit Jedwabne bergen sowohl Risiken als auch wurde in der Regel geschwiegen oder Chancen in sich. gelogen, nur in Ausnahmesituationen waren bestimmte Portionen an Wahrheit zugelassen.

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Diese Situation verursachte eine enorme ten, insbesondere für die Bibelforscher, ist der „Erinnerungslücke“ in Polen, war aber auch Dialog bestimmt nützlich und sollte weiter hinsichtlich des Wissens um die Realität der entwickelt werden. polnisch-jüdischen Beziehungen in anderen Kann er auch für breitere Kreise der Christen Ländern, insbesondere in Israel, sehr hinder- und Bekenner des Judaismus nützlich sein? lich. Wenn es aber an Wissen über die Ja, insofern man seinen Charakter verändert Realität mangelt, so bleiben alte Mythen und und die für alle wichtige Grundsatzfrage ste llt: Stereotype zurück, zu denen häufig Propagan- Wie bleibt man Gott treu? Und insbesondere: dalosungen hinzukommen, die politisch Wie bleibt man Gott heute treu? Die betrachtet zur Realisierung dieser oder Antworten können unterschiedlich ausfallen, anderer taktischer Ziele kurzfristig von aber ich denke, dass sie allen nutzen. Sie Vorteil, ansonsten aber für a lle sehr schädlich können allen „zu denken geben“, ihnen sind. Daher sind wir in einer paradoxen helfen, Lücken oder Deformationen in ihrer Situation. Wir müssen uns zum Beispiel eigenen religiösen Erziehung und darum bemühen, das Wissen über die Lebenspraxis zu entdecken, und neue Geschichte und die Kultur der polnischen Initiativen zu fördern. Juden sowohl unter jungen Polen als auch unter den Juden in Israel und in der Diaspora Kooperation zugunste n der Zivilisation zu verbreiten. Natürlich sind hier die Lehrbücher von Be- Es scheint (zumindest für mich) offensichtlich deutung, die man verbessern und ergänzen zu sein, dass unsere westliche (die ganze Welt muss. Bis dahin ist es aber noch ein langer beeinflussende) Zivilisation in eine Ära Weg. Wir müssen versuchen, die breitesten besonderer Schwierigkeiten hineingeraten ist, Kreise der Jugendlichen auf schnellen und die sich als sehr gefährlich erweisen können. universellen Kommunikationspfaden zu errei- Sie ist gekennzeichnet durch eine Abnahme chen, hauptsächlich über das Internet. Dabei des „Sinns für Transzendenz“, und zwar nicht sollte das Interesse durch Ereignisse aus der nur hinsichtlich der religiösen Dimension des Vergangenheit, die aber auch heute noch menschlichen Lebens, sondern auch im Hin- wichtig sind, geweckt werden. We iterhin soll- blick auf das Gefühl für seine höheren Werte, te der Gedankenaustausch zwischen jungen seine Berufung, die den gewöhnlichen Utili- Menschen aus der ganzen Welt gefördert tarismus übersteigt. Gleichzeitig schwächt werden. sich der „Sinn für Kontemplation“ ab, der durch die Verbreitung von techno-ökono- Der religiöse Dialog mischen Haltungen vernichtet wird. Geschwächt werden die gesellschaftliche Die grundsätzliche Schwierigkeit scheint hier Bindungen, und auch das Solidaritätsgefühl eine gewisse Asymmetrie zu sein. Die wird durch die allmächtige Konkurrenz Christen müssen sich aufgrund der Wurzeln verdrängt. des Christentums für den Judaismus interes- Alle religiösen Menschen haben demnach sieren, die Bibel gilt grundsätzlich für beide die Verpflichtung, im Bereich der sehr breit verstandenen Rechte sowie der Bekenntnisse. Für die Bekenner des Bildung des Menschen, aber auch im Judaismus scheint ein Interesse für das Umweltschutz, der unser gemeinsames Christentum nur wenig förderlich zu sein, und Gut darstellt, zu kooperie-ren. auf sehr konservative Strömungen kann dieses Hieraus ergibt sich das Minimalprogramm, Interesse sogar verdächtig und skandalös zumindest von Zeit zu Zeit einen gemein- wirken, da es die Authentizität des eigenen samen Standpunkt in den oben genannten Glaubens gefährdet. Für andere Gemeinschaf- Angelegenheiten einzunehmen. Um dies

70 möglich zu machen, muss man sich begegnen Dies gilt umso mehr, als es heute nicht mehr und den Gedankenaustausch pflegen, wobei nur einige verbliebene unverbesserliche Alt- man allerdings ständig das Gemeinwohl im Nazis sind, die den Holocaust leugnen. Sinn behalten sollte. Revisionisten wie Irving oder Leuchter finden Ein Beispiel hierfür kann die geplante durchaus auch bei Jugendlichen Gehör. Wo Diskussion „Welches Europa streben w ir an?“ entsprechende Überzeugungen bereits verfes- sein, an der die Bischöfe dreier christlicher tigt sind, wird es auch für die politische Kirchen, ein Rabbiner und ein Imam Bildungsarbeit sehr schwer, mit argumenta- teilnehmen werden. Es gibt sehr viel zu tun, tiven Mitteln zu überzeugen oder durch die Kooperation ist eine Notwendigkeit. Gedenkstättenbesuche Betroffenheit zu erzeu- Und die Zukunft der polnisch-jüdischen gen. Umso wichtiger ist es, die indifferenten Beziehungen ist sehr viel stärker von der Teile der Bevölkerung anzusprechen sowie Kooperation für das Gemeinwohl als von der diejenigen argumentativ zu stärken, die sich Erforschung der bilateralen Beziehungen gegen den Rechtsextremismus engagieren abhängig. Diese ist zwar auch notwendig, möchten, sich bisher aber noch hilflos fühlen. erweist sich aber als ungenügend. Hier scheint die Erinnerungsarbeit besonders sinnvoll.

Michael Walter

Wider das Vergessen. Der Auschwitz-Überlebende Kazimierz Smolen berichtete am 14. März 2001 im Gesamteuropäischen Studien- werk über den Nazi-Terror im Konzentrationslager

Wenn in Deutschland Menschen wegen ihrer

Hautfarbe, ihrer politischen Überzeugungen, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Von entsprechenden Erfahrungen ausgehend, Obdachlosendaseins zu Tode getreten werden, lud das Gesamteuropäische Studienwerk e.V. wenn jüdische Gräber geschändet und Syna- in Zusammenarbeit mit dem Kreis Herford am gogen mit Hakenkreuzen beschmiert werden, 14. März 2001 zu einer Veranstaltung mit dem dann ist nicht zuletzt die politische Bildung Auschwitz-Überlebenden Kazimierz Smolen gefragt, ihren Beitrag zur Bekämpfung des nach Vlotho ein. Zuvor hatte der polnische neuen Faschismus zu leisten. Entsprechende Jurist mehrere Schulen des Kreises besucht, Aktivitäten können sich angesichts der Viel- um Schülerinnen und Schülern von den schichtigkeit des Rechtsextremismus und schrecklichen Jahren im Konzentrationslager seiner Ursachen sicherlich nicht auf die Erin- zu erzählen. Auch in Vlotho berichtete der nerungsarbeit beschränken, weshalb auch die heute 80jährige, wie er mit 19 Jahren als Seminare des Gesamteuropäischen Studien- Angehöriger des polnischen Widerstands von werks sich differenzierter mit der Problematik der Gestapo verhaftet und im Juli 1940 in das beschäftigen. Eine Auseinandersetzung mit damals im Aufbau befindliche Konzentrations- den heutigen Formen des Rechtsextremismus lager nach Auschwitz verschleppt worden war. wäre indes geschichtsvergessen, wenn sie nicht In einer angesichts des Erlebten beeindruckend auch immer wieder die Gräueltaten der sachlichen Weise informierte Smolen über die Nationalsozialisten in Erinnerung rufen würde. grausame Zeit im Lager, in dem er zunächst

71 technische Hilfsdienste, später Verwaltungsar- eine Verlegung war, wurde ermordet, die beiten verrichten musste. So konnte Smolen übrigen Häftlinge in andere Lager gebracht. aus eigenem Erleben über die Brutalität der Auf diese Weise gelangte Smolen zunächst Arbeitseinsätze berichten, die zunächst von nach Mauthausen und später in das Lager sadistischen Berufsverbrechern beaufsichtigt Ebensee in Österreich, wo er in den Stollen wurden, von tödlichen Unfällen und Er- arbeiten musste. Mit der Kapitulation der krankungen, aber auch von Anfang an von Wehrmacht flohen die SS-Männer und willkürlichen Tötungen - gab es doch für jeden überließen es einem Jungen aus Hitlers Mörder drei Tage "Sonderurlaub", wenn er "letztem Aufgebot", die weiße Fahne zu angab, er habe einen "Fluchtversuch" verhin- hissen. dert. Zugleich versuchten die Nazis, die Zahlen Nach dem Krieg stellte sich Smolen der der Verschleppten und Ermordeten zu manipu- Aufgabe, an den Ort des Terrors zurückzu- lieren. Den zu Tausenden ermordeten russi- kehren und 35 Jahre lang als Direktor des schen Kriegsgefangenen schrieben verbreche- Staats-Museums Auschwitz-Birkenau sowie rische Nazi-Ärzte einen "Tod durch Herz- als langjähriger Generalsekretär bzw. Vize- schwäche" in das Totenbuch. Zu den präsident des Internationalen Auschwitz- Vertuschungsmaßnahmen gehörte es ebenso, Komitees die Erinnerung an die dort be- die für die Arbeiten an den Verbrennungsöfen gangenen Verbrechen aufrecht zu erhalten. Als abkommandierten Häftlinge in bestimmten Mitglied der Hauptkommission zur Unter- Zeitabständen auszutauschen und die uner- suchung der Naziverbrechen in Polen sagte wünschten Mitwisser zu ermorden. Smolen in mehreren Kriegsverbrecher- Die historische Einmaligkeit des Verbrechens prozessen als Belastungszeuge aus und trug zeigte sich spätestens ab dem Zeitpunkt, als die dadurch dazu bei, wenigstens einige der SS die ersten "Vergasungsexperimente" mit Mörder zu verurteilen. Neben der wissen- Zyklon B durchführte. Einige der ersten schaftlichen Aufarbeitung der Hinter- Gasopfer starben erst 48 Stunden nach Beginn lassenschaft der Mordbürokratie gehörten zu der Gasvergiftungen. Innerhalb von zwei Smolens Aufgaben als Museumsleiter vor Jahren warfen die Nazi-Schergen rund 20.000 allem die Gespräche mit Besuchergruppen, Kilogramm Zyklon in die Gaskammern. Daran häufig auch aus Deutschland. Insbesondere starben bis zu 1.500 Menschen täglich in den Aktion Sühnezeichen und die kirchlich Gaskammern. Die meisten von ihnen waren organisierte Jugend hätten frühzeitig einen gerade erst aus den Waggons geholt und an der wertvollen Beitrag zur Versöhnungsarbeit Rampe zur Vernichtung selektiert worden. geleistet, so Smolen. Diese Aufgabe gelte es auch im neuen Jahrtausend fortzusetzen. Man war als Zuhörer schon fast dankbar dafür, Auch wenn es an diesem Abend nicht offen dass Smolen nach all dem Bedrückenden auch ausgesprochen wurde: Jeder im Saal wusste, von gelungenen Aktionen des Widerstands im dass dies wahrscheinlich eine der letzten Lager zu berichten wusste, von Informationen, Gelegenheiten war, mit einem der Überleben- die man auf Zigarettenpapier aus dem KZ den zu sprechen. Dies kann kein Bücherwissen schmuggelte, von Sabotagen an der Terror- oder Aktenstudium ersetzen. Umso wichtiger maschinerie und vor allem von einigen wird es bleiben, sich auch in der politischen wenigen Männern und Frauen, denen die Bildungsarbeit wider das Vergessen zu Flucht aus der Lagerhölle glückte. Die meisten engagieren. aber, die dies versuchten, wurden gefasst und hingerichtet. Als die Rote Armee vorrückte und sich die Niederlage des Hitler-Regimes abzeichnete, nahm die Brutalität der SS- Männer noch einmal zu. Wer zu schwach für

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Europa auf die Füße stellen - aufgenommen und als Chance betrachtet, einen eine Kleinstadt blickt nach Beitrag zum Prozess der Öffnung der osteuro- Osten päischen Staaten zum Westen hin zu leisten. Die Anfangsphase der Beziehungen war naturgemäß gekennzeichnet von den immensen Nicht erst seit dem gescheiterten irischen Schwierigkeiten des Umbruchs in den bal- Referendum über den Vertrag von Nizza wird tischen Republiken, die teilweise bis in die allerorten gefordert, nun die Bürgerinnen und Gegenwart hineinreichen. Daher war es z.B. Bürger stärker in den Prozess der europäischen immer wieder notwendig, zur Abwicklung der Einigung einzubeziehen. Dabei wird über- Reiseorganisation die politischen und sehen, wie viele spannende Projekte es bereits diplomatischen Stellen einzuschalten. gibt - mit großem privaten Engagement und An den Begegnungen, die seit 1990 (mit nicht selten ohne jede finanzielle Unter- gewissen Unterbrechungen) jährlich einmal stützung durch offizielle Stellen. Vor dem stattfanden, und zwar im Wechsel in Riga und Hintergrund der Diskussion über die europäi- in Vlotho, nahmen zunächst von 1990 bis 1996 sche Bürgergesellschaft wollen wir im die Schulchöre und Instrumentalgruppen Folgenden zwei in der ostwestfälischen Klein- beider Schulen teil, begleitet von den stadt Vlotho bestehenden Initiativen ein Musiklehrkräften (zugleich Chor- und Präsentationsforum bieten. Ein schulische und Ensembleleiter) sowie einem Kollegen als ein kirchliches West-Ost-Projekt stehen stell- Organisationsleiter. Die Teilnehmer waren vertretend für eine Vielzahl anderer Partner- jeweils privat in Gastfamilien untergebrac ht. schaften, mit denen zahlreiche Vlothoerinnen und Vlothoer Brücken zu den Nachbarn schlagen. mw

Schulpartnerschaft des Weser- Gymnasiums Vlotho mit dem Gymnasium Agenskalns Riga

Konzertauftritt des Agenskalns-Chores im Weser- Gymnasium Seit dem Jahre 1990 bestehen partnerschaft- liche Beziehungen zwischen dem Weser- Die Aufenthalte an der Partnerschule dauerten Gymnasium Vlotho und dem Gymnasium jeweils ca. neun bis zehn Tage. Hinzu kamen Agenskalns (seinerzeit noch die 5. ca. vier Reisetage. Schwerpunkte des Begeg- Mittelschule) in Riga (Lettland). Die ersten nungsprogramms waren neben Besichtigungs- Kontakte wurden auf politisch-administrativer fahrten vor allem festliche Konzertveranstal- Ebene durch Vermittlung des Kreises Herford tungen sowie die gemeinsamen Proben dafür. angebahnt und gehen zurück auf eine A nfrage Zu den bisherigen Höhepunkten zählten der der lettischen Schule, die im Zuge des mit Begeisterung aufgenommene Konzertauf- politischen Umbruchs in der damaligen tritt anlässlich des 125-jährigen Bestehens des Sowjetunion großes Interesse an Begegnungen Weser-Gymnasiums im Jahre 1993 sowie die mit einer deutschen Schule hatte, zumal es sich gemeinsame Teilnahme am großen lettischen um eine Schwerpunktschule für Deutsch als Sängerfest der Schüler (ca. 10.000 Mitwirken- Unterrichtsfach handelt. de) im Juli 1995 in Riga. Das Angebot wurde von der gesamten Schul- Die Partnerschaft mit einer Schule in Riga gemeinde des Weser-Gymnasiums interessiert eröffnete für die Schüler des Weser-Gymna-

73 siums die völlig neue Perspektive, die Kultur sowie die wirtschaftlichen und sozialen Die bislang letzten Begegnungen wurden im Verhältnisse eines baltischen Volkes in unmit- Jahre 1999 vom Fachbereich Mathematik in telbarem Kontakt mit Gleichaltrigen kennen zu Form eines Projektes zur vergleichenden statis- lernen. Sie förderte die Akzeptanz anderer tischen Untersuchung des Verhaltens Jugend- Lebensweisen gerade auch durch das licher in Riga und Vlotho durchgeführt. gemeinsame Musizieren als gemeinschafts- Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen bildende Aktion. Beide Seiten erfuhren die 12 und 13 beider Schulen unternahmen Begegnungen sowohl als soziale wie auch als Umfragen in Riga und Vlotho, die kulturelle Bereicherung, die u.a. in der anschließend gemein-sam ausgewertet wurden. Übernahme des jeweils anderen Liedgutes zum Dabei wurden unter professionellem Einsatz Tragen kam. der neuen Medien wichtige Lebensbereiche Ju- Die Begegnungen erforderten umfangreiche gendlicher in beiden Städten untersucht. Mit organisatorische und inhaltliche Vorberei- Hilfe von Fragebögen wurden Fragen zu drei tungen in enger Absprache zwischen den Themengebieten gestellt: Beruf und Schule Partnerschulen. Der musikalische, gesellige (Schulsystem, Fremdsprachenkenntnisse, und touristische Teil des Programms wurde auf Haupt- und Nebenbeschäftigungen, Chancen deutscher Seite weitgehend in den fre iwilligen im Beruf, Zukunftsperspektiven), Freizeit Arbeitsgemeinschaften Chor und Instrumental- (Schwerpunktbereich Drogen, Rauchen, gruppen erarbeitet. Alkohol) sowie Privatleben (Liebesbeziehung- Die Begegnungen stellen einen festen en, Wohnsituation). Bestandteil des Schulprogramms und eine Die insgesamt über 500 Fragebögen in letti- Bereicherung des gesamten Schullebens dar, scher und in deutscher Sprache wurden jeweils die aufgrund der Konzertauftritte weit in das von drei verschiedenen Gruppen ausgewertet. öffentliche Kulturleben am Schulort ausstrahlt. Die Arbeitsgruppen bestanden immer aus Zwischen Schülern, Lehrern und Familien deutschen und lettischen Schülern. Es zeigte entstanden vielfältige persönliche Bezie- sich, dass die Zusammenarbeit und das hungen. Der Nachhall der Konzerte führte am Verständnis zwischen den Schülern in den Weser-Gymnasium zur Gründung eines Eltern- jeweiligen Gruppen se hr gut war. Dazu trugen Lehrer-Chores. Anlässlich des o.g. Sänger- nicht zuletzt die ausgezeichneten deutschen festes besuchte auch eine Eltern- und Sprachkenntnisse der lettischen Schüler bei. Lehrerdelegation Riga. Nicht zuletzt nahm In den Auswertungsdiskussionen der Jugend- durch die Partnerschaft das Interesse am lichen wurde auch deutlich, dass sowohl die Schulchor und an den Instrumentalgruppen Schüler aus Riga als auch diejenigen aus einen Aufschwung. Vlotho sich positiv über ihre Zukunftsaus- sichten äußerten. Eine Null-Bock-Mentalität zeigte sich nicht. Betroffen machte die Vlothoer Schüler jedoch, dass viele Menschen in Lettland zwei Arbeitsstellen haben müssen, um ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Ziel des Projektes war der Erwerb von authen- tischen Kenntnissen über die Lebensver- hältnisse und das Zusammenleben im jeweiligen Gastland, um damit die Völkerver- ständigung zu fördern. Als Abschluss der Sängerfest der Jugend in Riga im Jahre 1995 gemeinsamen Arbeit wurden die Ergebnisse in

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Riga der Schulgemeinde sowie Vertretern des wissenschaft etc.) und ein vertieftes gegen- Schulministeriums und der örtlichen seitiges Verständnis. Schulaufsicht und in Vlotho der Alle Begegnungen wurden jeweils durch die Schulgemeinde des Weser-Gymnasiums unter Bezirkregierung aus Mitteln des Landes- Einsatz einer Computer-Präsentation mit jugendplans bzw. durch den Pädagogische großem Erfolg vorgestellt. Austauschdienst der Kultusministerkonferenz aus Mitteln des Auswärtigen Amtes finanziell gefördert und von den Gastfamilien in hohem Vlotho Maße materiell und ideell unterstützt. (Eine Dokumentation des Statistikprojektes kann 91 100 vom Weser-Gymnasium, Prof.-Domagk-Str.12, 90 80 62 32602 Vlotho für einen Anerkennungsbetrag von 70 DM 10,- bezogen werden.) 63 68 60 50 40 30 Walter Bätz 20 10 Mädchen 0 Viele Wege führen nach Osten Jungen Raucher Nichtraucher Um die im Bericht geschilderten Zusammen- hänge zu verstehen, sei mir eine kurze Riga Einführung gestattet. Um die Mitte des 19.

86 Jahrhunderts hatte in mehreren europäischen 90 Staaten eine intensive Pflanzenzüchtung einge- 80 67 setzt mit dem Ziel, neue Sorten zu schaffen, 70 60 die in ihrer Ertragsleistung und in ihrer 47 55 50 Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten und 40 Schädlinge besser als die vorhandenen Land- 30 20 sorten waren. Auch um die Verbesserung der 10 Mädchen Inhaltsstoffe bemühte man sich, wie die 0 Jungen Züchtung der Zuckerrübe zeigt. Landwirte und Raucher Nichtraucher Gärtner fragten aber beim Erscheinen der Statistische Untersuchung des Verhaltens neuen Sorten am Markt, ob sie wohl wirklich Jugendlicher in Riga und Vlotho: neu wären und worin die Leistungsver- Gegenüberstellung der grafischen Auswertung zum besserung bestände. So kam es Ende des 19. Thema Rauchen Jahrhunderts zu einer amtlichen Sorten-

prüfung, die zunächst von der Deutschen Wie hier nur an einigen Beispielen aufgezeigt Landwirtschaftsgesellschaft und den Landwirt- werden konnte, haben die Schüler durch die schaftskammern durchgeführt wurde. mathematisch-statistische Untersuchung nicht nur viel in diesem Fach dazugelernt, sondern Der Staat griff im Interesse der Käufer von sie waren auch bei der Analyse der Hypo- Saat- und Pflanzgut in diese Prüfungen ein, thesen und Daten gefordert, landes- und gesell- und so entwickelte sich ein amtliches Sorten- schaftstypische Besonderheiten des jeweiligen prüfungssystem. Nach 1945 wurde in den Gastlandes zu eruieren und mit einzubeziehen. westlichen Besatzungszonen ein Amt für Dadurch ergaben sich weitere Erkenntnisse Sortenprüfungen geschaffen, aus dem mit dem und Erfahrungen für andere Fachbereiche Saatgutgesetz von 1953 das Bundessortenamt (Politik, Sozialwissenschaften, Erziehungs- in Rethmar im Landkreis Hannover, heute in

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Hannover ansässig, hervorging. In der DDR kennen und halten die Verbindung auch nach entstand die Zentralstelle für Sortenwesen in meiner Pensionierung von Vlotho aus aufrecht. Nossen bei Dresden. Im Jahr 1980 kam meine Kollegin Marie Um das Jahr 1970 hatte der damalige Präsident Rasochova mit einer Kollegin aus der des Bundessortenamtes, Dr. Dirk Böringer, damaligen Tschechoslowakei nach Hannover. Kontakt mit dem Zentrum für Sortenprüfung in Sie sandte mir 1981 eine Einladung zu einer Supia Wielka bei Posen aufgenommen. Daraus Tagung in Lipa bei Havlickuv Brod mit der ergab sich e ine intensive Zusammenarbeit. Ich Bitte um einen Vortrag. Dort traf ich die war damals als Referatsleiter im Bundes- polnische Kollegin wieder und lernte meinen sortenamt, einer selbstständigen Bundesober- Kollegen Gustav Schumann aus Nossen behörde im Geschäftsbereich des Bundes- kennen. Obwohl wir vom Bundessortenamt ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft damals schon viele Verbindungen nach Osten und Forsten, tätig. So lernte ich den Präsi- hatten, waren die in unser östliches Bruderland denten des polnischen Sortenzentrums, Dr. spärlich. Wir waren ja „Klassenfeinde“. Aber Eugeniusz Bilski, bei seinem Besuch 1977 in Gustav Schumann und ich vereinbarten an Hannover kennen und konnte ihm unser diesem Abend in Lipa eine illegale Prüfschema für Kartoffelsorten, für das ich Zusammenarbeit, bei der uns Dr. Borys bis zur zuständig war, erläutern. Einige Wochen später Wende 1989 gut unterstützt hat. 1992 wurde kam Professor Dr. Wojciech Gabriel vom pol- Gustav Schumann in Hannover mein nischen Kartoffelforschungsinstitut in Bonin Nachfolger. Wie mit den Polen entwickelte bei Köslin nach Hannover. Mit ihm wurde der sich auch mit den Tschechen im Laufe der fachliche Gedankenaustausch fortgesetzt. Jahre eine enge und für beide Seiten nützliche Zusammenarbeit. Im Frühjahr 1990 durften 1978 fand in Warschau der Marie Rasochova und ihre Familie erstmals Internationale Kongress der gemeinsam in den Westen fahren. Sie kamen Europäischen Gesellschaft zu uns, und wir führten s ie durch das Bundes- für Kartoffelforschung sortenamt. 1999 fuhren wir nach Tschechien (EAPR) statt, an dem meine und ste llten erfreut den Wandel fest. Die Stadt Frau und ich teilnahmen. Havlickuv Brod hatte Farbe bekommen, Wir erlebten eine vorzüglich Eigeninitiative wurde gefördert, und das organisierte Tagung, eine Sortenprüfzentrum Lipa war mit neuen herzliche Gastfreundschaft und nahmen Maschinen und einer Erweiterung seiner wertvolle Informationen mit. Im Sorten- Gebäude ausgestattet worden. Familie Rasocha zentrum Supia Wielka, zu dem eine Exkursion fuhr uns durch das Land, so dass wir einen führte, lernte ich meine Kollegin Dr. Julia Einblick in den Wandel bekamen. In den Borys kennen, mit der uns seitdem eine gute Jahren 1993 und 1994 reiste ich mit einem Freundschaft verbindet. Sie besucht uns Beratungsauftrag des Bundes landwirtschafts- gelegentlich in Vlotho und war auch Gast im ministeriums nach Kiew in der Ukraine und Gesamteuropäischen Studienwerk. von dort weiter zu dem 40 km westlich Mit dieser Polenreise, der noch weitere folgten, gelegenen Kartoffelforschungsinstitut Nemi- war unser Interesse an den mittelosteuro- shaevo. Wie überall im Osten gab es eine päischen Staaten geweckt. Es entstanden freundliche Aufnahme und herzliche Gastlich- Verbindungen zu anderen wissenschaftlichen keit. Einen tiefen Eindruck hinterließ bei mir Instituten in Polen. Bei Tagungen im In- und die Stadt Kiew, durch die mich die Ausland lernten wir manche Wissenschaftlerin ukrainischen Kollegen an einem Wochenende und zahlreiche Wissenschaftler aus Polen führten. Aber es war ein Land der Gegensätze: Moderne Kraftwagen der gehobenen Klasse

76 waren neben Fahrrädern zu sehen, die bei uns Daneben gibt es Bemühungen um die Zigeuner keine Polizeikontrolle überstanden hätten. Im im Land, erste Gottesdienste w urden mit ihnen Herbst nach der Ernte „stoppelten“ Menschen inzwischen gehalten. Pastor Schmidts Aktivitä- auf den Äckern die verbliebenen Kartoffe ln ten erstrecken sich weit über das Land und das und sammelten in den Plantagen Fallobst. alles bei einem Lohn, für den hier kein Anderen schien es auffallend gut zu gehen. Lehrling auch nur einen Hammer aufheben Bemerkenswert war hier wie auch in Polen und würde. Tiefe Gläubigkeit spricht aus allen Tschechien der Eifer der jungen Generation seinen Worten und Briefen. Selbstverständlich um eine gute Ausbildung. Eine enge ist, dass er die ungarische Sprache erlernt hat – Verbindung zwischen der Evangelisch- soll leicht se in, meint er. reformierten Kirchengemeinde St. Johannis in Unser Weg führte nach Bratislava, das uns mit Vlotho und dem Süden der Slowakei entstand seiner Architektur und Sauberkeit gefallen hat. im Jahr 1999. Über die Neukirchener Mission Wir stiegen auf die benachbarte Burg Devin hatten wir von den Problemen der Refor- und blickten auf die Mündung der March in die mierten Kirche der Slowakei erfahren. Die Donau und nach Österreich hinein. Nachhaltig dortigen 120.000 Gemeindemitglieder sind wirkte ein Besuch in der Schriftenmission. D ie ursprünglich Ungarn, denn dieser Streifen des dort tätigen Menschen setzen sich mit Eifer Landes gehörte bis 1920 zu Ungarn. Die und der Bereitschaft zu Entbehrungen für die reformierten ungarischen Christen hatten unter Verbreitung des Wortes Gottes ein. dem Kommunismus kein gutes Leben, und Als Abschluss der Tagesfahrt besuchten wir auch nach 1990 hatte sich, besonders unter das „Jahrhundertbauwerk“, nämlich das Präsident Meciar, vieles in politischer, Stauwer k der Donau in Gabcikovo. H ier hatten wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht nicht Ungarn, Slowaken und Tschechen sich be- gebessert. müht, die Donau zu stauen, um Wasserenergie Die Vlothoer Kirchengemeinde nahm Kontakt zu gewinnen. Auf einer Länge von 40 km ist zu dem Bischof der Reformierten Kirche der ein Trog entstanden, dessen Mauern nie reißen Slowakei, Dr. Géza Erdélyi, a uf. Im Mai 1999 dürfen. Nach 1990 haben nur die Slowaken besuchte er gemeinsam mit Pastor Uwe-Martin noch weiter gebaut. Die Stromerzeugung reicht Schmidt, der in Jelka als deutscher Pfarrer im gerade mal aus, um die Schleusentore zu Auftrag der Neukirchener Mission tätig ist, öffnen oder zu schließen, dafür hat man aber Vlotho und die Dörfer im Kalletal. Beide das Austrocknen der Auwälder und damit eine berichteten ansc haulich vom kirchlichen Leben ökologische Katastrophe in Kauf genommen. in der Slowakei. Ein Besuch im Studienwerk Am Sonntag erlebten wir einen gut besuchten gehörte auch zu ihrem Programm. Im Gottesdienst im Dorf Marcel Haza. Der September 1999 fuhren sechs Vlothoer Gemeindepfarrer wurde in sein Amt einge- Gemeindemitglieder mit ihrem Pastor Winfried führt, Kinder und Jugendliche gestalteten mit Reuter mit der Bahn nach Bratislava. Dort Wort, Gesang und Musik den liturgischen Teil. holte uns Pastor Schmidt mit dem Gemeinde- Am Nachmittag erlebten wir einen Gottes- bus ab. Wir verbrachten einige Tage in Jelka, dienst in Komarno, in dem junge Theologinnen erfuhren viele Einzelheiten über das Land und und Theologen der dortigen Theologischen das dortige Leben. Pastor Schmidt und seine Akademie Johannes Calvin nach ihrem Familie haben sich dort stark engagiert. Neben Studium verabschiedet wurden. Die Kirche hat der seelsorgerischen Tätigkeit ist Pastor 3000 Plätze und war fast vollständig besetzt. Schmidt Bauleiter eines Waisenhauses im Dank Pastor Schmidts Simultanübersetzung, Dorf, das im Januar 2000 seine Arbeit begann. hinter uns geflüstert, verstanden wir alles. Ein eigener landwirtschaftlicher Betrieb wird Am Abend fuhr uns ein junger Theologe nach aufgebaut, um die Selbstversorgung zu sichern. Rimavska Sobota, wo wir unser Quartier in

77 einem Schulinternat hatten. Gespräche mit voll entbrannt. Auch in der zeitgenössischen Bischof Erdélyi, Besuche in der Kirche, europäischen Literatur spiegelt sich die Viel- Fahrten durch das Land zu verschiedenen falt europäischer Wertetraditionen wider. Kirchengemeinden und Schulen waren das Einige der jüngst erschienenen Werke europäi- Programm der nächsten Tage. Überall stießen scher Schriftsteller von Rang seien beispielhaft wir auf reges kirchliches Leben, genossen die ausgewählt, um die gesamte Spannbreite Gastfreundschaft und freuten uns mit den zeitloser europäischer Themen und des Menschen über das Erreichte. gemeinsamen kulturellen Erbes aufzuzeigen. Auf unseren Wunsch gab es eine Tagesfahrt in die Mittlere und Hohe Tatra bis Poprad. Der „Von der endgültig vergangenen Zeit möchte Stausee Dediny und das schöne Schloss Betliar ich erzählen, einer vergangenen Zeit, die sich mit seinem vielseitigen Baumbestand waren hinter der anderen vergangenen Zeit verbirgt die letzten Stationen, bevor wir am A bend mit und ihre Wurzeln in den späten Gefilden der Bischof Erdélyi in Rosenau (Rožnava) zusam- Kindheit hat, einem Dämmergebiet“ (Cees mentrafen. Beim Abschlussgespräch wurde Nooteboom, Nootebooms Hotel) eine Partnerschaft zwischen der Kirche der

Slowakei und unserer Gemeinde vereinbart. Cees Nootebooms Werke gehören schon seit Seitdem sind Briefe und Telefonate hin und Jahren zum Besten, was die europäische her gegangen. Mehrere Transporte mit brauch- Literatur hervorgebracht hat. In „Nootebooms baren Dingen des alltäglichen Lebens traten Hotel“, im Suhrkamp Verlag erschienen, von Vlotho den Weg nach Jelka an. Während begegnet uns der niederländische Autor von dieser Bericht geschrieben wird, erwarte n wir seiner intimsten Seite. Nooteboom wird zum den Besuch einer Gruppe der Reformierten Heraklit der Jetztzeit, für ihn ist der Ursprung Kirche aus der Slowakei in Vlotho. So sind im Laufe von etwa 25 Jahren viele des Daseins die Bewegung und das Reisen. Kontakte zu unseren östlichen Nachbarn Stillstand bedeutet für ihn Rückschritt. Gerade geknüpft worden. Sie haben uns Freude im „Auge des Sturms“ fühlt er sich wohl. Auf geschenkt, ganz andere Eindrücke praktisch allen Kontinenten sucht er in der vermittelt, und mit Dr. Marion Gräfin Begegnung mit dem Anderen das Wesen der Dönhoff sagen wir: „Warum immer nur Existenz der Erdenbürgers. Seine Zeitreisen nach Westen blicken?“ führen den Leser durch die letzten Jahrzehnte

der Weltgeschichte. Ob Gambia, Mali, Boli- vien, Mexiko oder europäische Stationen mit dem Orient-Expreß – aus einem scheinbar wahllosen Ländergemisch ragt Nootebooms Botschaft heraus: Das Reisen ist ein Lebens- zustand (Blaise Pascal), und die zufällige Unterkunft in einem eher zufälligen Land lockt den Schriftsteller zu zufälligen Begegnungen

mit Menschen. Durch diese Begegnungen und Gerhard Schüsselbauer Erfahrungen wird er zu einem konsequenten

Zeitgenössische europäische Verfechter der Gleichheit zwischen den Literatur Menschen. Wie viele seiner literarischen Vor- gänger in Europa ist Nooteboom ein Humanist und ein Bildungsreisender, der sich die Welt Die Diskussion um das Vorhanden- bzw. mit Hilfe der Bilder und Impressionen er- Nichtvorhandensein einer europäischen Iden- schließt, die er auf dem „Unterwegs-Sein“ tität ist auf allen Ebenen der Politik und Kultur sammelt. Sein Kosmos ist das Hotel, sein

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Haus, das viele Zimmer hat und doch keinen beruhen auf mehr oder minder berühmten festen Platz auf dieser Welt. Das Hotel wird Shakespeare-Zitaten, treibt Marías in seinem für ihn zu einem Zustand des Augenblicks, neuen Roman sein ureigenstes Stilmittel der sowohl der Augenblicke der vergangenen, Verwechslung von Fiktion und Wirklichkeit Proust’schen verlorenen Zeit, die er in seinen auf die Spitze. Auch „Schwarzer Rücken der Geschichten wiederfindet, als auch der Zeit“ ist indirekt eine Hommage an Momente in der Gegenwart. Shakespeare, ohne dass Marías ein reiner Nooteboom ist der Nomade unter den zeitge- Epigone wäre. Seine Liebe zur englischen nössischen europäischen Schriftstellern, ohne Sprache des wohl größten europäischen Dich- dass er dabei se ine europäischen Wurzeln ver- ters geht aus jeder geschriebenen Zeile hervor. lieren würde. Sein „Geschriebenes ist immer Marías bewegt sich in einem Zwischenreich, in auch für denjenigen bestimmt, der es liest“. einer Zwischenwelt der Wahrnehmung. Dies Daher schreibt Nooteboom auch nicht zwang- ist „die Kehrseite der Zeit, ihr schwarzer haft verkopft. Seine Geschichten, Anekdoten Rücken genannt“, und a uch diesen geheimnis- und Interviews (z. B. mit dem italienischen vollen Ausdruck hat er von Shakespeare Schriftsteller und Philosophen entlehnt, „um die Zeit zu benennen, die nicht oder dem Regisseur Fellini) offenbaren einen existiert hat, die uns erwartet, und auch die, die tiefen Geist, der sich der europäischen Tradi- uns nicht erwartet und sich daher nicht ereignet tionen und Werte in der Kultur bewusst ist. Er oder nur in einer Sphäre, die nicht eigentlich hat „in der Bewegung die Stille gesucht“ und zeitlich ist und in der womöglich das Schrei- gefunden. Sein Leben ist „ein schreibendes ben angesiedelt ist oder vielleicht nur die und beschreibendes Dasein in der Welt der Fiktion“. Erscheinungen“. „Nootebooms Hotel“ ist ein Marías erweist sich in seinem mittlerweile wunderbares Panoptikum der Welt. Diese Welt neunten Roman wiederum als Meister der ist nicht abstrakt, abgehoben und erdacht, minutiösen Schilderung von scheinbar banalen, sondern gesehen, erlebt und gefühlt. Damit zusammenhanglosen Ereignissen, die sich erst konzentriert Nooteboom ähnlich wie der spät in ein Gesamtbild zusammenfügen. Seine Spanier Javier Marías die Erzählwelt auf das Selbstironie und die Tatsache, dass seine emotional Durchlebte und Erfühlte. Menschen sowohl fiktiv als auch aus seinem wirklichen Leben gegriffen sind, machen das „Es ist alles so zufällig und Geheimnis und die scheinbare Paradoxie lächerlich, daß man nicht seines Romans aus. Es ist „die Erinnerung begreift, wie wir der daran, dass es für viele noch Nacht ist, obwohl Tatsache unserer Geburt die Dämmerung schon begonnen hat und das oder unserer Existenz oder unseres Todes irgendeine Licht sich ausbreitet, während sie laufen oder Bedeutung verlei-hen auf den Autobus warten und einen Fuß heben können.“ (Javier Marías, und dann den anderen [...] und vage an das Schwarzer Rücken der Zeit) denken, was sie zu Hause zurückgelassen haben, und an das, was sie an dem endlosen Javier Marías gilt seit Jahren als das gefeierte Tag erwartet, und das Zuhause wird nicht mehr Aushängeschild spanischer Erzählkunst. Seine dasselbe Zuhause sein, wenn der Tag zu Ende fulminante Schreibtätigkeit mündete jetzt in ist und sie zurückkehren.“ sein sicherlich bislang autobiographischstes Marías ist ein Erzählarchitekt, ohne dies Werk „Schwarzer Rücken der Zeit“, das im konstruktivistisch zu überziehen. Er entwirft in Klett-Cotta Verlag erschienen ist. Nach seinen seiner selbstironischen Reflexion, in der er Erfolgen „Mein Herz so we iß“ und „Morgen in „noch nie Fiktion mit der Wirklichkeit ver- der Schlacht denk an mich“, beide Titel wechselt habe“, ein Vexierspiel der Erzähl-

79 ebenen. Der Leser gleitet scheinbar unbemerkt ist das „Nicht-Vergessen“ dessen, was vom Rea len ins Irreale, um dann festzustellen, geschehen ist, die einzige Möglichkeit, den Opfern eine Form von Gerechtigkeit dass es lediglich die Zufälligkeit ist, die den zukommen zu lassen. Sein Gewissen Unterschied ausmacht. „Schwarzer Rücken der stemmt sich vehement dagegen zu sagen: Zeit“ ist nichts Anderes als eine Definition des „Und für nichts wird es einen Beweis Schreibens, der Literatur per se. Marías bedient geben, denn der Tod versöhnt alle, und sich dabei ebenso meisterhaft der Stilelemente das, was geschehen ist, deckt er mit der europäischen literarischen Tradition wie einem Leichentuch zu, das Leichentuch wird jedoch von einem S tein erdrückt, und seit mehreren Jahrzehnten der polnische auf diesem Stein sät der Wind Gras des Schriftsteller Andrzej Szczypiorski. Vergessens, des Zweifels und neuer Freude.“ Szczypiorskis Messias ist ein „In der Polemik mit euch „weinender Messias“ im und eurem Fluch habe ich „smaragdfarbenen Paradies“, der auf eine begriffen, dass im Leben Welt schaut, die dunkel und abgeriegelt des Menschen nicht die ist, „wo die Herzen der Menschen Tugenden wesentlich sind, ausgetrocknet waren, in einem Klima der sondern die Werte, denen Nichtigkeit eingefroren“. die Tugenden dienen „Feuerspiele“ als Szczypiorskis letztes sollen.“ (Andrzej Werk ist eine R ückblende mit Figuren, die Szczypiorski, Feuerspiele) als Exilrusse, amerikanischer Industrieller, Ungar, deutscher Baron oder als Andrzej Szczypiorskis letzter Roman überlebender Jude in der Gegenwart von „Feuerspiele“ (im Jahr 2000 im Diogenes der weit zurückliegenden, aber immer Verlag erschienen) nimmt schon auf den präsenten Vergangenheit eingeholt ersten beiden Seiten den eigenen Tod werden. Auf dem Kulminationspunkt des eines des bekanntesten polnischen Romans gerät die Welt aus den Fugen. Schriftstellers nach dem Zweiten Weltkrieg Eine geplante große Kunstausstellung in vorweg. Trotz des nahenden Todes verlor Bad Kranach wird buchstäblich zum Spiel Szczypiorski jedoch weder die Leichtigkeit mit dem Feuer. Im Feuer liegt des Schreibens noch den Humanismus, Vernichtung, aber auch Reinigung. Genau der ihn über Jahrzehnte hinweg das sind die Erzählthemen, die charakterisierte. Auch „Feuerspiele“ greift Szczypiorski in seinem Roman aufgreift. ebenso wie seine berühmten Romane „Die „Feuerspiele“ ist aber zudem eine feine, schöne Frau S eidenman“ und „Nacht, Tag melancholische Liebesgeschichte, in der und Nacht“ die Zeit der Okkupation Polens es dem Protagonisten Jan zunehmend durch die Nazis auf, die er selbst durch- schwer fällt, über den Tod seiner Frau und überlebt hat. Obwohl ihn sein Blick hinwegzu-kommen. Er flüchtet immer zurück in dunkelste Zeiten zu einer wieder in die Abgeschiedenheit, in die pessimistischen Geschichtsbetrachtung Stille der Nacht, um dann die Erinnerung aufgrund der Er-fahrungen mit dem wachzurufen und aus ihr zu leben, das Totalitarismus bringt, verliert er in seinen Herbeisehnen des Todes wird zur Werken nie den christlich motivierten Existenz. Auch er wird von der Spannung Glauben an das Gute, das Menschliche im zwischen Erinnerung und Vergessen Angesicht des Grauens und der Brutalität. aufgerieben. Die „Flucht vor dem ihm vom Auch in „Feuerspiele“ atmet man Schicksal auferlegten Leid“ kann ihm den einerseits unmissverständlich den Hauch ständigen Zweifel am Sinn des des Humanen, andererseits aber den Weiterlebens nicht nehmen. Szczypiorski unbarmherzigen Sog der Grausamkeiten ist es zum Ende seines Lebens gelungen, während der faschistischen in einem Roman seine schriftstellerische Besatzungszeit. Diese Ambivalenz hat Kunst durch seine Präzision nochmals so Szczypiorski immer in den Mittelpunkt zu bündeln, dass einerseits das gerückt, auch verbunden mit einem Furchtbare erzählbar wird, andererseits Abgesang an den Mythos der „ewigen das Mitgefühl und der Trost eine polnischen Unschuld“ dieser Zeit. Für ihn literarische Stimme haben.

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Das gestern Geschehene mit dem nostalgisch angehauchten Schmerz in der Weiterleben heute zu verbinden war Fremde. Wo sind der tiefe Geist und die immer auch das schriftstellerische Präzision Kunderas verblieben, die ihm die Anliegen Milan Kunderas, der ähnlich wie Szczypiorski eine heraus-ragende Rolle in Glaubwürdigkeit, Originalität und den Ruhm der modernen europäischen literarischen der letzten Jahrzehnte einbrachten? Vielleicht Tradition einnimmt. sind es jetzt Schriftsteller wie Andrej Kurkow, die die Leichtigkeit und den Witz Kunderas „...im Haus ihres Lebens haben fortzuführen vermögen. sich Fenster aufgetan, nach rückwärts gewandte Fenster „In jeder Nation gibt es Idioten auf das, was sie erlebt hat; von und Weise, Engel und Banditen, nun an wird ihre Existenz ohne aber der Geist berührt mit diese Fenster nicht mehr seinen Flügeln nur die Besten, denkbar sein.“ (Milan und er schaut nicht auf deinen Kundera, Die Unwissenheit) Paß oder deine Nationalität,

sondern auf deine Seele.“ Kunderas mittlerweile zwölfter Roman „Die (Andrej Kurkow, Petrowitsch) Unwissenheit“, bei Hanser erschienen, greift wieder einmal sein großes Thema auf, das sein In Andrej Kurkows Geschichte „Petrowitsch“, schriftstellerisches Schaffen seit den 1960er die im Züricher Diogenes-Verlag erschienen Jahren prägt: Die innere Zerrissenheit und die ist, begegnet uns e in post-sowjetischer „Road- „große Rückkehr“ in seine Heimat, die Roman“ durch die Hinterlassenschaften der unmöglich geworden ist. Im Roman begegnet ehemaligen UdSSR. Das zentrale Motiv kreist uns Kundera als Irena, die seit der nicht um die Frage, wie oder ob, sondern wen sowjetischen Besetzung 1968 in Paris lebt und der Mensch eigentlich liebt (darin ist Kurkow zwischen der Heimatstadt Prag und Frankreich Kundera nicht unähnlich). Heimat, Nation oder im Niemandsland aufgerieben wird. Für Frau/Mann? Kurkows spannender Roman ist Kundera ist diese Zwiespältigkeit wiederum im Kern eine Abkehr von engstirnigem die Quintessenz seines Schreibens. Nur zeigt Nationalismus in Verbindung mit verblende- sich gerade darin auch sein literarisches tem, übersteigertem Nationalstolz. Der Autor Problem: Seinem Werk der letzten Jahre fehlt Andrej Kurkow, Jahrgang 1961, wurde in St. die Frische und die Originalität der Schaffens- Petersburg geboren und lebt seit seiner jahre bis 1990. Danach wirken seine Bücher Kindheit in Kiew. Seine Bücher, auf Russisch nur noch wie ein kalter, fader Aufguss. Schon geschrieben, erscheinen in Kiew und haben als sein letzter, 1997 erschienener Roman „Die Protagonisten Tagträumer und Menschen, die Identität“ offenbarte, dass Kundera ausge- urplötzlich in der Nachwendezeit in einen brannt ist und sich in pseudo-philosophische Strudel unausweichlicher Geschehnisse ge- Spielereien flüchtet. Seine immer wieder raten. hervorgehobene Heimatlosigkeit verkommt zur Die Irrfahrt des Ich-Erzählers Kolja in der Worthülse. Er vermag es nicht mehr, sie mit Gemeinschaft Unabhängiger Staaten spannt dem bitteren, tiefgründigen Geschmack den Bogen zwischen Identitätsfindung und anzureichern, der ihn in die allererste Garde Flucht vor der eigenen Banalität. Kolja findet zeitgenössischer europäischer Schriftsteller erst nach e iner turbulenten Reise, von Kiew in hob. Seine Beliebigkeit der Formulierung Richtung Osten ausgehend, bei den archai- verläuft im Sande. Sein großes Diktum vom schen Nomadenhirten in Kasachstan und durch „Das Leben ist anderswo“ wirkte an anderer die Liebe zur Kasachin Gulja zu sich selbst Stelle viel besser. Das Emigranten-Dase in wird zurück. Auf der Suche nach e inem verschollen bei ihm nunmehr zum vordergründigen, geglaubten Tagebuch des patriotischen ukrai-

81 nischen Nationaldichters Taras Schewtschen- Andrzej Szczypiorski, Feuerspiele, Diogenes ko, der im 19. Jahrhundert in se inem Gedicht- Verlag Zürich 2000, 363 S. zyklus Der Kobsar für die nationale Eigenstän- , Die Unwissenheit, Carl Hanser digkeit der Ukraine e intrat und dessen geistige Verlag München 2000, 180 S. Verwandtschaft mit dem ungarischen National- Andrej Kurkow, Petrowitsch, Diogenes Verlag helden von 1848, Sándor Petofi, unübersehbar Zürich 2000, 444 S. ist, gerät Kurkows Held Kolja in immer schwierigere Lebenslagen. Darin spiegelt sich auch ein Bild der gegenwärtigen Zustandes in den Nachfolgestaaten und Krisenregionen der ehemaligen Sowjetunion wider. Waffen- und Rezensionen Drogenhandel sowie überall um sich greifende Korruption und Schiebereien bestimmen das Geschehen auf den Reisewegen. Dieser Sog zieht Kolja immer tiefer in Verstrickungen mit der Drogenszene und Agentenverbrechen. Es ist die Atmosphäre der grau gefärbten Halb- und Unterwelt, die das Buch zwischen dem Licht der Liebe zweier Menschen und dem Dunkel der anderen Wirklichkeit schweben lässt. Und wer ist Petrowitsch? Ein Kafka – Zeitschrift für Mitteleuropa herausgegeben vom Goethe Institut Inter Chamäleon, das Kolja unterwegs aufliest und Nationes e.V. Berlin, bereits erschienen: das ihn begleitet, gleichsam als Symbol (auch Ausgaben 1 und 2 / 2001; Bestellungen an für Kurkow selbst) für seine „Zwischenexis- E-mail-Adresse: [email protected] tenz“ zwischen russischer und ukrainischer kultureller Identität und Sprache. „Kafka – Zeitschrift für Mitteleuropa“, so Vordergründig ist Petrowitsch ein Abenteuer- lautet der Titel einer neuen Kulturzeitschrift, und Liebesroman, im Inneren jedoch ein die vom Goethe Institut Inter Nationes e. V. Protest gegen die Instrumentalisierung von seit Anfang dieses Jahres viermal jährlich Patriotismus und Nationalismus, ohne beide herausgegeben wird. Die ambitioniert aufge- Begriffe austauschbar zu verwenden. „Ein machte Zeitschrift setzt sich zum Ziel, im absoluter Patriot kümmert sich nicht um mitteleuropäischen Kulturraum ein Forum für nationale Mehrheiten oder nationale Essayisten zu schaffen. Schon die erste der Minderheiten. Die Liebe zu seiner Frau ist zwei bislang erschienenen Ausgaben verrät, stärker als die Liebe zur Heimat, weil die Frau, wohin die Reise geht – „Auf dem Weg nach die seine Liebe erwidert, sowohl das Symbol Europa“. Jedes Heft, in diesem Jahr noch der Heimat als auch das Ideal eines absoluten kostenlos zu beziehen, setzt einen thema- Patrioten ist. Die Verteidigung der Frau, die tischen Schwerpunkt, vereint namhafte, seine Liebe erwidert, ist die höchste Form des mitunter berühmte Autoren und erscheint Patriotismus“. dankenswerterwe ise jeweils in polnischer, ungarischer, deutscher und einer gemischten , Nootebooms Hotel, tschechischen und slowakischen Ausgabe. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2000, Gespickt mit wohlklingenden Namen startet 520 S. die Redaktion von „Kafka“ ehrgeizig und Javier Marías, Schwarzer Rücken der Zeit, bisweilen etwas überzogen mit dem Satz: „Wir Klett-Cotta Verlag Stuttgart 2000, 375 S. wollen Europa neu abschreiten, neu entdecken, neu entwerfen.“ Mit der Zeitschrift wird der

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Versuch unternommen, mehr als zehn Jahre wir [Mitteleuropäer] erkennen, dass wir wegen nach dem Ende des Kalten Krieges und der unserer Rückständigkeit nicht nur bei der politisch-militärischen Grenzziehung zwischen Herausbildung bürgerlicher Werte, sondern Ost und West, Mitteleuropa ein neues geistiges auch bei deren Verkümmerung dem westlichen Gesicht zu geben. Über geographische Defini- Entwicklungsstand hinterherhinken.“ Adam tionsversuche hinaus kann die Besinnung auf Krzeminski sieht mit dem Voranschreiten der das geistige Erbe und die gesamteuropäische Europäischen Integration eine konkrete Utopie Zukunft nur durch die konsequente Betonung heranbrechen, die den mitteleuropäischen Be i- der gemeinsamen Wurzeln ermöglicht werden. trittsländern die einmalige Chance bietet, „sich Nicht nur der verstorbene polnische Schrift- von den uralten Komplexen zu befreien, steller Andrzej Szczypiorski, sondern auch der 'Stiefkind Europas' zu sein“, „den ungarische Romancier Péter Nádas betonte europäischen Stier bei den Hörnern zu packen immer wieder eindringlich die Rückkehr zu und sich in die Zukunft tragen zu lassen.“ einer Kultur der Erinnerung, ohne die ein Eher skeptisch richten sowohl Juraj Alner als Neuaufbau nicht gelingen kann, sondern auch Tomáš Kafka den Blick erneut auf „revanchistischem Nationalismus“ (István Mitteleuropa. Unser „buntes Kulturerbe, Eörsi) der Weg bereitet wird. Aus der Fülle der dessen Scherben wir aufzusammeln versuchen Beiträge von Schriftstellern und Journalisten und zu einem neuen Mosaik zusammenfügen wird deutlich, dass Mitteleuropa – und Europa wollen“, gleicht einem Mitteleuropa, das wie noch viel mehr – eine Idee, ein Konzept ist, ein Wartesaa l wirkt, „in dem die Zeit verkürzt das täglich neu entworfen werden muss. werden kann und die Wartenden durch Dieses Anliegen wird bereits im ersten Heft Ausschluss oder Wiederaufnahme bei Laune „Auf dem Weg nach Europa“ unmissver- gehalten werden, und zwar schmerzlos für alle ständlich zum Leitgedanken. Wer sich auf den Beteiligten“. Die ästhetisch ansprechende erste Weg macht, muss seine eigene Vergangenheit Ausgabe von „Kafka“ wird durch Fotografien kennen, und „wer sich nicht erinnert, der des im selben Jahr wie der Namenspatron der existiert nicht“, so schreibt der ungarische Zeitschrift (im Jahr 1883) geborenen tschechi- Schriftsteller und Träger des diesjährigen schen Fotografen František Drtikol auch Karlspreises György Konrád. Individuelle diejenigen zufrieden stellen, denen insbeson- Erinnerung paart sich mit dem Erinnerungs- dere das optische Erscheinungsbild ins Auge vermögen des Gemeinwesens, denn „wir erben springt. den kollektiven Ruhm und die kollektive Die zweite Ausgabe von „Kafka“ setzt sich Schande“. Die Erinnerung an Mitteleuropa und zum Ziel, den Begriff „Fremde Heimat“ und die ewig junge Frage nach dem Konzept seine vielschichtigen Bedeutungen im Mittel- „Mitteleuropa“ wirft Matthias Rüb auf. „Erst europa von Einst und Heute aufzugreifen. Der wenn das Bewusstsein entstanden ist, dass Begriff „Heimat“ definiert sich nicht nur über „Mitteleuropa keine Steinbrücke ist“ (Péter Vertrautes und die kulturelle Verwurzelung Hanák), da es sich in der vergangenen Dekade von Menschen, sondern viel eher durch sein mit einer ungeheuerlichen Dynamik verändert Antonym „Heimatlosigkeit“. Flucht, Vertrei- hat, wird es möglich sein, der „Utopie von bung, erzwungene Auswanderung oder inneres Mitteleuropa“ näher zu kommen. István Eörsis Exil stehen für den Verlust von Heimat. Aus Anmerkung, dass „Mitteleuropäer mit dem den Essays aller Autoren wird deutlich, dass enormen Gepäck der 'Östlichkeit' vor dem Tor die Sehnsucht nach einer nicht ideologischen des Westens stehen“, deutet an, womit die Heimat einerseits und der Schmerz des Diskussion um die Erweiterung der Europäi- Verlustes in Zeiten nationalistischer und totali- schen Union auch konfrontiert ist: „Beim tärer Dominanz andererseits die Vorstellung Warten auf Einlass ins westliche Tor müssen von „Heimat“ prägen.

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Andrzej Stasiuk sieht in der Erinnerung den einem Land erlebten, in dem fremde Okku- Inbegriff der Zugehörigkeit zu etwas, das nicht panten herrschten und die Menschen um die Nichts ist. Es ist „die zerbrechliche Konti- persönliche Freiheit brachten.“ Rudolf nuität der Gesten und Gefühle“, die unserer Herzinger verweist in seinem Essay nicht nur menschlichen Vorstellung von Heimat Sinn auf die unglückselige Instrumentalisierung des verleiht. Und diese Vorstellung stammt aus der Heimat-Begriffs in der nationalistischen und Erinnerung an Ereignisse und Orte der Ver- besonders der nationalsozialistischen Ideolo- gangenheit. Hingegen ist die Zukunft eine gie. Er warnt zugleich vor einer Rückkehr der „große Leere. In ihr gibt es nichts, sie vermag begrifflichen Vereinnahmung und Instrumen- allenfalls Sciencefictionliebhaber, Marxisten, talisierung in der deutschen, aber auch in der Kapitalisten oder alternde Jungfern erregen.“ österreichischen konservativen Politik, was Für György Dalos jedoch findet die Suche unabsehbare Folgen für den Rec htspopulismus nach Heimat „nicht im Räumlichen, sondern in in Mitteleuropa nach sich ziehen könnte. der Zeit“ statt. Er unterscheidet das Dase in Beiträge von Pawel Huelle über die Danziger (Heimat) vom Aufenthalt (Fremde). Beides Jugenderinnerungen Johanna Schopenhauers, muss sich nicht ausschließen. Irena Brežnás Velten Schäfer zum Stichwort „Schengen“ sinnliche Wahrnehmung von Heimat bezieht sowie Christina Virágh über den ungarischen sich auf den anderen Menschen. Doch auch sie Schriftsteller Gyula Krúdy runden die zweite leidet im für sie fremden Land: „Wie kann ich Ausgabe von „Kafka“ ab. Für die optische in der Fremde integriert sein, wenn die Aufmachung der Zeitschrift sorgt diesmal der Urheimat [Slowakei] in meinem Heimatbegriff tschechische Fotograf Josef Sudek. fehlt?“ Auch Rudolf Chmel kann nur eine Einen Vorwurf muss sich die Redaktion von unklare Vorstellung, keinesfa lls eine Defini- „Kafka“ allerdings gefallen lassen. Die tion seines „Vaterlandes“ anbieten. Die natio- Zeitschrift intendiert, die gesamte Spannbreite nale und staatliche Identität ist für ihn im des mitteleuropäischen Kulturraumes abzu- Mitteleuropa der letzten Jahrzehnte einem decken, erscheint jedoch stark „berlinlastig“ permanenten „Wertechaos“ ausgesetzt. Radikal (siehe die Liste der Autoren und Übersetzer entmythologisiert dagegen Herta Müller den der ersten beiden Ausgaben). Vergeblich sucht Heimat-Begriff. Sie entlarvt die plumpe und man in den ersten zwei Heften nach Vertretern durchsichtige Verklärung des Wortes. „Der der Alpenrepubliken Österreich, Schweiz und jetzige Augenblick ist gleichzeitig Ver- Slowenien. Wie bedeutsam die geistige Hinter- gangenes. Das Vergangene ist jetziger lassenschaft der Donaumonarchie für Mittel- Augenblick. So werden beide Realitäten europa ist, braucht an dieser Stelle nicht eigens verzerrt. Die 'Heimat' ersetzt jedes betont zu werden. Ein ausgewogeneres Schuldgefühl durch Selbstmitleid. Sie ist ein Erscheinungsbild wäre sicherlich zu wünschen. unauffälliges, weil zugelassenes Mittel der „Kafka“ möchte ein Gegengewicht zur wirt- 'guten Menschen' zur Verdrängung und schaftlichen Dominanz der Diskussion um die Verfälschung.“ Damit geht sie ein beispiel- zukünftige Gestalt (Mittel-)Europas sein, loses Risiko der totalen Entzauberung ein. Im vergisst dabei aber, dass es auch liberale Gegensatz zu Herta Müller kann Josef Ökonomen aus Mitteleuropa (von Hayek, Škvorecký noch Trost in der Erinnerung Schumpeter, Kornai) waren, die die freiheitlich finden, auch wenn eine Rückkehr nicht mehr gesinnte, geistige Entwicklung des 20. Jahr- möglich geworden ist. Heimat kann man nur hunderts in Europa maßgeblich voranbrachten. im Herzen der Kindheit und Jugend tragen, Auf die verworrene These der Redakteure, denn „während wir auf dem Weg zur Ewigkeit dass dem „Terror der Ökonomie“, der die voranschreiten, erinnern wir uns an diese Zeit Menschen im Westen wie im Osten unter- mehr und mehr in Liebe, obwohl wir sie in drückt, mit kulturellem Freiheitskampf

84 geantwortet werden müsste, sei der Hinweis te sich sehr bald die Bezeichnung Hakata ein, gestattet, dass die Ökonomie nichts anderes als die von den Anfangsbuchstaben der Vereins- ein sozio-kulturelles Beziehungsgeflecht gründer und Hauptförderer des Vereins zwischen Menschen und den von ihnen Hansemann, Kennemann und Tiedemann geschaffenen Institutionen darstellt. Eingedenk abgeleitet wurde. Deutsche Vereinsmitglieder der vorgebrachten Einwände sei ein ab- wurden dementsprechend Hakatisten genannt, schließendes Urte il erlaubt: Sollte Mitteleuropa worunter man im Übrigen auch sämtliche eine kulturelle Identität besitzen oder sollte sie „Polenfresser“ verstand, die die Bismarcksche ihm erst verliehen werden müssen, dann wird Polenpolitik der Verdrängung und Germani- „Kafka“ in Zukunft ein wichtiger Mosaikstein sierung des Polentums guthießen oder aktiv im Bemühen sein, dem interkulturellen Dialog unterstützten. mit einer hoffentlich breiten Leserschaft auf Ganz anders das Eigenverständnis und die die Beine zu helfen. Selbstdarstellung des DMVO, der seinen GSch „defensiven“ Charakter betonte und sich als

Abwehr- und Notwehrorganisation gegen das geburtenstärkere und nach Gleichberechtigung strebende Polentum in den preußischen Ost- provinzen zu stilisieren versuchte. Mit diesem vor allem nach außen gekehrten Selbstver- ständnis konnte der DOMV, der über eine beachtliche Mitgliederbasis verfügte, im Großen und Ganzen mit dem Wohlwollen der jeweiligen preußischen Regierung und Sabine Grabowski Verwaltung rechnen, es sei denn, die leitenden Funktionäre, in erster Linie der patriarchalisch Deutscher und polnischer waltende und bis in die höchsten Stellen Nationalismus. Der deutsche agitierende und intrigierende Tiedemann, Ostmarken-Verein und die übertrieben ihre Propaganda hinsichtlich der polnische Straz 1894-1914. (zu) „polenfreundlichen“ Politik der Verlag Herder-Institut. Marburg 1998, 373 S. preußischer Regierungsste llen. Dann konnte es auch zu beinhart ausgetragenen Konflikten Die vorliegende Untersuchung zum deutschen zwischen einzelnen Repräsentanten der preuß- und polnischen Nationalismus wurde im ischen Verwa ltung einerseits und der Wintersemester 1996/97 von der Philoso- Vereinsführung andererseits kommen. Einen phischen Fakultät der Heinrich-Heine- solchen Konflikt rekonstruiert Grabowski vor Universität in Düsseldorf als Dissertation dem Hintergrund der Auseinandersetzungen angenommen. Sie erschien ein Jahr später in zwischen dem Oberpräsidenten von Posen von Buchform beim Verlag des Herder-Instituts in Wilamowitz-Möllendorff und der Vereins- der Reihe Materialien und Studien zur Ost- führung, die ganz im Geiste Bismarcks den mitteleuropaforschung. Die Arbeit beschäftigt Versöhnungskurs der Regierung Caprivi scharf sich hauptsächlich mit dem am 3. November angriff. (S. 128-153) 1894 in der preußischen Provinzhauptstadt Mit der zunehmenden Bedeutung der poli- Posen gegründeten „Verein zur Förderung des tischen Repräsentanten des Polentums, die s ich Deutschtums in den Ostmarken“, der einige unter dem Druck der restriktiver werdenden Jahre später den gängigeren Namen preußischen Polenpolitik von einem breit ver- „Deutscher Ostmarkenverein“ [DMVO] standenen, vom polnischen Adel und der erhielt. Im polnischen Sprachgebrauch bürger- polnischen hohen Geistlichkeit getragenen

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Loyalismus (Józef von Koscielski) immer sehr dynamisch und betrieb eine unauffällige, stärker in Richtung eines bürgerlichen Natio- dafür aber überaus effiziente Bildungsarbeit. nalismus bewegten, konnte die polnische Zudem wurde er korrekt geführt und verwa ltet, Gruppe im Reichstag ihren Einfluss stärker so dass weder die preußische Verwa ltung noch geltend machen. Zeitweilig musste die die Führung des DOMV die Möglichkeit preußische Regierung deshalb entsprechende hatten, sein Wirken in Frage zu stellen. Gerade Konzessionen machen, zum Beispiel in der dem DOMV war der Marcinkowski-Verein Sprachenfrage und hinsichtlich der Organi- aber ein Dorn im Auge, denn aufgrund seiner sation des Polnischunterrichts. Stipendien und Bildungsinitiativen sowie der Die ansonsten bis zum Ausbruch des Ersten zahlreichen ehrenamtlichen Initiativen seiner Weltkriegs feststellbare Zuspitzung der Stipendiaten war im Großherzogtum Posen in Diskriminierung der polnischen Bevölkerung wenigen Jahrzehnten ein polnisches Bildungs- führte aber ebenfalls zu einer Radikalisierung bürgertum entstanden, das - ähnlich wie das innerhalb der polnischen Parteienlandschaft, deutsche – national e mpfand und handelte. So wobei die polnischen Nationaldemokraten wurde der polnische Marcinkowski-Verein in unter Roman D mowski, deren Basis eigentlich gewisser Weise zum Vorbild des über 50 Jahre Russisch-Polen war, auch im preußischen später gegründeten DOMV. Ganz im Teilungsgebiet ihren politischen Einfluss Unterschied zu dem polnischen Prototyp erheblich steigern konnten. beschränkte sich der DOMV jedoch nicht auf In diesem Kontext spielte der extrem nationa- eine diskrete und effektive Unterstützung listische DOMV als provokativer Gegenpart (verarmter) Deutscher, sondern sorgte mit des aufkommenden, reaktiven polnischen seiner über ganz Preußen und Teile des Nationalismus eine wichtige Rolle. Als Deutschen Reiches reichenden Organisations- vaterländisch orientierte preußisch-evangeli- struktur, seinem Lobbyismus (Beamte, Lehrer, sche Gruppierung bekämpfte man sowohl den evangelische Pfarrer, weniger Kaufleute und (internationalen) Katholizismus als auch das keineswegs die ostelbischen Junker, die an Polentum. Hierbei waren neben nationaler billigen Saisonarbeitern aus Kongresspolen Überheblichkeit (Kulturträgertum), sozialdar- interessiert blieben) und seine Öffentlichkeits- winistischen Positionen sowie rassistischen arbeit („Die Ostmark“) anhaltend für eine Ansätzen gewiss auch soziale und wirtschaft- Vertiefung und Zuspitzung der nationalen liche Faktoren maßgebend. Schließlich Konflikte zwischen Polen und Deutschen. bildeten letztere den Anlass zur Gründung des Seine Propagandafeldzüge gegen den DOMV, der sich durch die Effizienz des polnischen Nationalismus, dem der Aufbau polnischen Vereinswesens hatte beeindrucken eines gesamtpolnischen Staates in den Grenzen lassen. Grabowski exemplifiziert diese von 1772 unterstellt wurde, sorgten schluss- Interdependenz am Beispiel des bekannten endlich für das Gegenteil dessen, was man sich Marcinkowski-Vereins, den sie für den auf Seiten der deutschen Nationalisten erhofft DOMV als „polnisches Vorbild“ bezeichnet. hatte. Das polnische Bürgertum und die Dieser war am 19. April 1841 von dem polnischen Nationalisten begannen angesichts Posener Arzt Dr. Karol Marcinkowski gegrün- der zunehmenden Diskriminierung der det worden und hatte sich zum Ziel gesetzt, Reichsregierung noch stärker zusammenzu- armen, aber talentierten Jugendlichen im Groß- rücken und sich zu organisieren. herzogtum Posen Stipendien zu gewähren, um Ein unübersehbares Signal für diesen erstark- ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen. Der ten polnischen Widerstand war die Gründung Verein entwickelte sich sowohl finanziell des „polnischen Ostmarkenvereins“, der am (zahlreiche Schenkungen vermögender Polen) 28. April 1905 in Posen unter dem Namen als auch hinsichtlich seiner Mitgliederbasis „Straz – Towarzystwo ku obronie spraw

86 ekonomicznych, spolecznych i obywatelskich” hinsichtlich der Rechts- und Sozialberatung [„Die Wacht – Verein zur Verteidigung der der polnischen Bevölkerung des Großherzog- wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und tums große Verdienste erwarb. (S. 269) bürgerlichen Interessen”] von dem einstigen Diesbezüglich glich er sich zumindest struk- Loyalisten Józef von Koscielski aus der Taufe turell den Bestrebungen des Marcinkowski- gehoben wurde. Der Genese, Struktur und dem Vereins an. Anspruch dieses Vereins ist der zweite, Allerdings konnte die Straz weder eine solche kleinere Hauptteil der Untersuchung von Bedeutung wie der Marcinkowski–Verein er- Grabowski gewidmet. Die Satzung der Straz langen noch war s ie von ihrem Einfluss her mit wies Ähnlichkeiten zur Satzung des DOMV dem DOMV vergleichbar. Auch konnte sie auf, allerdings war man von Beginn an natürlich nicht mit einer – wie auch immer bestrebt, einen Verein ins Leben zu rufen, der gearteten – Unterstützung der preußischen von allen polnischen Gesellschaftsschichten Verwaltung rechnen. Ganz im Unterschied akzeptiert werden sollte. Ideologisch war von zum DOMV, der zeitweilig massiv unterstützt Bedeutung, dass Vertreter der national- wurde und von polnischer Seite als eine Art katholisch und entschieden antideutsch orien- Nebenregierung empfunden wurde. tierten Nationaldemokraten in der Straz Die Untersuchung von Grabowski schließt im vertreten waren. deutschsprachigen Raum eine Forschungs- Aufgrund der Tatsache, dass dem Verein lücke, schon alleine deshalb, weil sich die seitens der preußischen Verwa ltung, die ent- Autorin um eine beziehungsgeschichtliche sprechenden Druck auf den Erzbischof von Deutung und Interpretation bemüht. Zudem hat Gnesen und Posen, von Stablewski, ausübte, Grabowski für ihre Untersuchung eine inten- untersagt wurde, katholische Geistliche als sive Archivrecherche betrieben und für ihre Mitglieder zu gewinnen oder als Vereins- Darstellung eine Vielzahl bis dahin nicht funktionäre einzusetzen, musste die Straz bald erschlossener ungedruckter Quellen verwe ndet. nach ihrer Gründung eine einscheidende Durch die sachbestimmte und a däquate Einbe- organisatorische Schwächung hinnehmen, von ziehung der deutschen und polnischen Sekun- der sie sich nicht mehr erholen sollte. Der därliteratur zeichnet sicht die Arbeit durch Misserfolg des großen Schulstreiks 1907/1908, einen hohen Grad an Objektivität aus. Sie ist an dem sich die Straz maßgeblich beteiligt jedem an deutsch-polnischer Zeitgeschichte hatte, sorgte ebenfalls dafür, dass die interessierten Leser zu empfehlen. Mitgliederzahl zu schwinden begann. Reorga- zw nisationsversuche blieben im Großen und Ganzen erfolglos, der Verein setzte zeitweilig auf Mund-zu-Mund-Propaganda, hielt keine öffentlichen Versammlungen mehr ab und konzentrierte sich auf die kulturelle, kirchliche und familiale Konsolidierung des Polentums, wozu der 1908 veröffentlichte „Nationale Katechismus“ der Straz als Leitfaden dienen sollte. Grabowski hat dieses interessante Doku- ment in polnischer und deutscher Sprache in den Anhang ihrer Arbeit aufgenommen. (S. Albert S. Kotowski 351-356) Dieser Rückzug der „Straz“, der vom DOMV hämisch und mit großer Schaden- Polens Politik gegenüber freude kommentiert wurde, sollte aber nicht seiner deutschen Minderheit darüber hinwegtäuschen, dass sich der Verein 1919-1939

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Wiesbaden 1998, 383 S. schließend die Anfänge polnischer Minder- heitenpolitik, wobei er auf deren ideologische Die vorliegende Abhandlung stellt die Habili- und konzeptionelle Nähe zur polnischen tationsschrift des Autors dar, der sich im Nationaldemokratie verweist. Der Autor macht Sommersemester 1996 an der Universität deutlich, dass die polnischen Nationalitäten- Freiburg habilitieren konnte. politik von dem Axiom ausging, dass man die Kotowski hat auf einer breiten Quellenbasis Deutschen als feindlichen und illoyalen die Minderheitenpolitik der II. Polnischen Bevölkerungsteil zu betrachten habe. Dement- Republik gegenüber den Deutschen in Polen sprechend setzten recht bald Entdeutschungs- rekonstruiert. Er recherchierte nicht nur in den maßnahmen ein, wie die Entfernung der zentralen Archiven (PAAA – Politisches deutschen Sprache aus der Verwa ltung und die Archiv des Auswärtigen Amtes sowie AAN – Tilgung deutscher Aufschriften in der Archiv Neuer Akten in Warschau), sondern Öffentlichkeit. Auch wurden deutsche Vereine, auch in den polnischen Regionalarchiven in denen man konspirative Aktivitäten unter- Bromberg, Kattowitz, Thorn und in der stellte, streng überwacht. Woiwodschaft Schlesien. Natürlich konnte Intensiviert wurde diese Politik unter dem Kotowski dabei auch auf die mittlerweile Ministerpräsidenten Wladyslaw Sikorski ansehnliche deutsche und polnische Sekundär- (Dezember 1922), der sich dem strikt anti- literatur zurückgreifen. Neben den polnischen deutschen Programm der polnischen National- Standardwerken, die in der Zwischenkriegszeit demokratie anschloss, indem er zum Beispiel und in der VR Polen zu diesem Thema die Ausweisung der 160.000 deutschen veröffentlicht wurden, auch auf Bücher, die Optanten forderte. nach der Wende entstanden sind, um hier nur Benachteiligt wurde auch das deutsche Schul- an die Arbeiten von Andrzej Sakson oder wesen in Polen, so dass man für die Jahre 1919 Wojciech Wrzes inski zu erinnern. Auf bis 1923 füglich von einer „Entdeutschungs- deutscher Seite lagen seit Jahrzehnten die recht politik des ehemaligen preußischen Teilungs- allgemein gehaltenen Übersichtsdarstellungen gebiets“ sprechen kann. Polnischerseits der Polenexperten Gotthold Rhode, Hans Roos wurden diese Maßnahmen als Vergeltung für und Martin Broszat vor, allerdings gab es die deutsche Politik gegenüber der polnischen bislang keine deutschsprachige Arbeit, die s ich Minderheit im Deutschen Reich gerechtfertigt mit der sehr unfangreichen polnischen Fach- (S. 107). literatur auseinandergesetzt hätte. Diese Bis zu diesem Zeitpunkt war aber kein beziehungsgeschichtliche Forschungslücke übergreifendes polnisches Minderheitenkon- wurde mit dem vorliegenden Buch sicherlich zept erarbeitet worden. Angesichts der geschlossen. Versuche der polnischen Regierung, die Ziel dieser Abhandlung ist die Darstellung und Deutschen und ihren Besitz in den westlichen Auswertung der Konzeptionen, der Reali- Woiwodschaften zu verdrängen, sind sierung und der Ergebnisse der polnischen Parallelen zur preußischen Polenpolitik Minderheitenpolitik der Zwischenkriegszeit Bismarcks und des Deutschen Ostmarkenver- gegenüber der deutschen Minderheit. Dement- eins offenkundig. Wie aus Äußerungen des sprechend referiert der Autor zunächst die damaligen polnischen Innenministers Cyryl preußische Polenpolitik und die Beziehungen Ratajski klar hervorgeht, war man bestrebt, zwischen der II. Republik Polen und dem eine „ethnische Flurbereinigung“ durchzu- Deutschen Reich nach dem Ersten Weltkrieg. setzen: „Ich bin ein Mann des hiesigen Landes. Sodann liefert er einen bis zum Jahre 1933 Ich kenne die Deutschen, ihre Tendenzen und reichenden Überblick über die Lage der Methoden und bin mir der großen Gefahr deutschen Minderheit und beschreibt an- bewusst, die uns von ihrer Seite droht. Allzu

88 viel und unmittelbar hatte ich mit ihnen zu tun, Misstrauen geprägt. Dem gemäß wurden die als dass ich in dieser Hinsicht irgend welche deutschen Gruppen besonders vor Sejm- und Illusionen haben könnte. Ich verstehe daher Senatswahlen sehr genau beobachtet. Gleich- ausgezeichnet, dass jeder Deutsche, den wir zeitig war die polnische Diplomatie auf inter- nur irgend los werden können, Polen verlassen nationaler Ebene bemüht, sich von dem so muss. Wir brauchen sie hier nicht aus irgend genannten „kleinen Versa iller Vertrag“, also welchen Rücksichten zu halten. Dasselbe lässt dem Polen auferlegten Minderheitenschutz- sich hinsichtlich der Auflösung des deutschen vertrag, zu befreien. Schließlich kündigte Besitzes, der Optantenfrage usw. sagen.“ (S. Polen diesen Vertrag im Jahre 1934, zu einer 116). Zeit, als das internationale Minderheiten- Eine planvolle Entdeutschungspolitik setzte schutzsystem weltweit außer Kraft gesetzt aber erst zwischen 1926 und 1932 ein, wobei wurde. erwähnenswert ist, dass sich die meisten Die Minderheitenprobleme blieben der be- nationalen Minderheiten Polens im Zusam- stimmende Faktor in den deutsch-polnischen menhang mit dem Staatsstreich von Marschall Beziehungen. In der We imarer Republik wurde Pilsudski im Mai 1926 (unberechtigte) Hoff- die Minderheitenfrage für die Re visionspolitik nungen auf eine Liberalisierung der pol- gegenüber Polen und für antipolnische nischen Minderheitenpolitik gemacht hatten. Propaganda benutzt. Aber auch die polnische Immerhin kritisierte der neue Innenminister Minderheit im Deutschen Reich wurde vice Kazimierz Mlodzianowski die bisherige polni- versa als Druckmittel instrumentalisiert. Dies sche Minderheitenpolitik und schlug vor, die wurde zum Beispiel bei der Behandlung der Politik nationaler Assimilierung durch eine Optantenfrage, die häufig erpresserische Züge Politik staatlicher Integration zu ersetzen. annahm, deutlich. Dadurch kam auch das Dabei hatte er allerdings in erster Linie die sogenannte Gegenseitigkeitsprinzip zur Gel- polnischen Ostgebiete im Blick, wo die tung, bei dem es sich um gegenseitige, mehr ukrainische Frage weiterhin virulent blieb und oder minder begründbare, in der Regel für viel Unruhe sorgte (S. 134). spektakuläre und damit öffentlichkeitswirk- Diese neue Tendenz spiegelt sich in den zu same Revancheakte handelte. In diesem Beginn des Jahres 1927 im polnischen Innen- Kontext kam es aber auch zu Reibungen ministerium erarbeiteten „Richtlinien pol- zwischen dem polnischen Innen- und dem nischer Nationalitätenpolitik“ wider, die auf Außenministerium, dem die Obhut gegenüber die staatliche Integration nationaler Minder- der polnischen Minderheit in Deutschland heiten abheben, während auf nationale und oblag. sprachliche Assimilierungsmaßnahmen ver- Nach der Machtergreifung Hitlers erfolgte zichtet werden soll. Die Auswirkungen dieser bekanntlich eine Spaltung und Radikalisierung Richtlinien für Pomerellen und Oberschlesien der politisch aktiven Teile der deutschen behandelt Kotowski in dem sich an- Minderheit: „Deutscher Volksbund“ versus schließenden Kapitel, wobei er die antideut- „Jungdeutsche Partei“. Die Führungen beider sche Politik des Wojewoden Michal Grazynski miteinander konkurrierender Gruppierungen besonders hervorhebt (S. 151). wurden von den entsprechenden Stellen im Die in den Regionen umgesetzte Praxis Reich beeinflusst und benutzt. Dies war schon unterschied sich also erheblich von der Theorie deshalb nicht besonders schwierig, weil alle der Richtlinien. Unabhängig davon vertraten Deutschtumsorganisationen materiell voll- höchste polnische Regierungsstellen in kommen vom Reich abhängig waren. Wenn es Warschau weiterhin das Konzept der staat- notwendig schien, wurde aber a uch ideologisch lichen Integration. Das Verhältnis zu den „gleichgeschaltet“, wie im Falle der Deutschen blieb aber weiterhin von größtem

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„Deutschen Katholischen Volkspartei“ in Jahren trägt deren Behandlung gegenwärtig Ostoberschlesien. allerdings zur Normalisierung des Verhält- Die Monate vor dem Kriegsausbruch waren nisses zwischen Deutschland und Polen bei. durch massive Provokationen des Dritten Ob die heutige deutsche Minderheit in Polen Reichs gegenüber Polen gekennzeichnet. Die freilich zu einem Bindeglied zwischen beiden damit verbundene Verfolgung polnischer Nationen werden kann, wie dies manchmal Minderheitenorganisationen brachte auch eine von den politischen Eliten in Deutschland Änderung der polnischen Minderheitenpolitik, erhofft wird, bleibt aber weiterhin offen. da man eine „Sudetisierung“ der deutschen Ähnliches lässt sich über die „polnische Bevölkerung befürchtete. So wurden gegen- Gruppe“ in Deutschland sagen. über den De utschen in Polen mehrere Restrik- zw tionsverordnungen erlassen. Ab Mai 1939 verschärften sich die antideutschen Stim- mungen innerhalb der polnischen Gesellschaft zusehends, nicht zuletzt wegen einer entsprechenden Kampagne der polnischen Presse, in der die deutsche Minderheit pauschal mit den Begriffen „Irredenta“ und „Agentur des Dritten Reiches“ belegt wurde. Auch das polnische Innenministerium erblickte Günther Schwarberg in einer weiteren Zuspitzung der Restriktionen gegenüber den Deutschen ein probates Mittel. Im Ghetto von Warschau. Tatsächlich war dies aber ein relativ stumpfes Heinrich Jösts Fotografien. und wenig erfolgversprechendes Instrument Steidl Verlag. Göttingen 2001, 137 S. gegen eine ganze Volksgruppe, die mit den Dieser von dem bekannten Publizisten und vom Dritten Reich inspirierten und organisier- Buchautor Günther Schwarberg herausge- ten Kampf- und Sabotageorganisationen in gebene und mit einer Einleitung versehene Posen und Schlesien gleichgesetzt wurde. Dass Bildband verdient aus mehreren Gründen die es diese Organisationen gab, ist mittlerweile Aufmerksamkeit eines interessierten Lesers/ unbestritten. Umstritten ist in der deutschen Betrachters. Außergewöhnlich ist mit Sicher- und polnischen Historiographie aber weiterhin heit, dass diese beeindruckenden bis die Genese des sogenannten „Bromberger erschütternden Schwarz-Weiß-Aufnahmen erst Blutsonntags“ sowie die Bewertung der knapp sec hzig Jahre nach ihrer Entstehungszeit sogenannten „Fünften Kolonne“. als Gesamtheit in einem Bildband der In den abschließenden Kapiteln rekonstruiert deutschen Öffentlichkeit zugänglich gemacht der Autor die Rolle der deutschen Minderheit werden. Zwischen ihrem Entstehen und ihrer während der Okkupation Polens sowie die Veröffentlichung liegen also ziemlich genau Konsequenzen des Kriegsausgangs, die mit zwei Generationen. Inzwischen ist das sich brachten, dass es nach Vertreibung und Warschauer Ghetto sowie der Ghetto-Aufstand Aussiedlung der meisten Deutschen offiziell durch die Edition zahlreicher Erinnerungen keine deutsche Minderheit mehr in der (von Tätern und Opfern), durch die Veröffent- Volksrepublik Polen gab. Dass es heute eine lichung von Bild- und Filmmaterialien sowie anerkannte deutsche Minderheit in Polen gibt, durch die wissenschaftlichen Forschungen ist auf die Wende des Jahres 1989 und die zahlre icher Historiker intensiv beschrieben und Unterzeichnung der deutsch-polnischen Ver- analysiert w orden. Dies war nicht zuletzt auch träge aus den Jahren 1990 und 1991 deshalb möglich, weil das von Emanuel zurückzuführen. Im Unterschied zu den 1930er Ringelblum angelegte und akribisch geführte

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Ghetto-Archiv bald nach dem Krieg zumindest Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Dr. zum großen Teil aufgefunden wurde. In ihm Shmuel Krakowski, in Jerusalem ausgestellt wird der Ghetto-Alltag aus erster Hand wurden. Sie gingen dann als Wanderausstel- minuziös beschrieben und einer ersten Inter- lung um die ganze Welt. Dramatischer Weise pretation unterzogen. wurden sie nun von Menschen betrachtet, die All diese Informationen waren dem in 48 Jahre danach auf ihnen im Holocaust ver- Warschau stationierten deutschen Feldwebel lorene Familienmitglieder wiedererkennen und Hobby-Fotografen Heinrich Jöst, der am konnten. 19. September 1941, an seinem 43. Geburtstag, Leider gibt es einige Mängel, die durchaus zu einen Ausflug ins Ghetto unternahm, um sich beanstanden sind. Einige Bildunterschriften ein Bild von den dort herrschenden Zuständen sind fälschlicher Weise doppelt gesetzt zu machen, natürlich nicht zugänglich. Jöst worden, so dass man sie kaum entziffern kann. befand sich also in der Ausgangssituation eines Die Schreibweise etlicher Straßennamen ist nur wenig informierten, dem NS-Propaganda- fehlerhaft, einige Begriffe sind ganz offen- apparat ausgesetzten, naiven Zeitzeugen, der sichtlich falsch aus dem Polnischen übersetzt aber, wenn auch sehr verspätet – und worden. Der Bildkommentar zu dem Foto gleichsam etwas widerwillig – Zeugnis Nummer 36 ist falsch, denn im September ablegen sollte. Aus seinen Fotos und durch die 1941 hätte sich ein polnischer Offizier in viel später für Günther Schwarberg aus der Uniform weder in Warschau noch im Erinnerung formulierten Bildkommentare wird Warschauer Ghetto frei bewegen können. jedoch deutlich, dass Jöst an einem einzigen Überdies trägt die aufgenommene Person keine Tag im Ghetto nicht nur das dort herrschende polnische Uniform. Grauen – distanziert und empathisch zugleich Diese formalen und inhaltlichen Unstimmig- – erspürte und e infing, sondern sich sicherlich keiten trüben den ansonsten hervorragenden auch Gedanken machen musste, wer für die Eindruck, den dieser Bildband bei einem perfide Inszenierung dieser Hölle verantwort- empathischen Leser und Betrachter hinterlässt, lich war. Dass er sich als (deutscher) Mensch bedauerlicherweise etwas. Man kann diesem nach den Erfahrungen dieses Tages schlecht Buch im Bereich der schulischen, universitären gefühlt haben muss, bezeugt die Tatsache, dass und außerschulischen Bildung insgesamt er seine Geburtstagsfeier, die im renommierten jedoch nur eine möglichst weite Verbreitung Hotel Bristol stattfinden sollte, absagte, aber wünschen. Es handelt sich hierbei in der Tat auch der Umstand, dass er die Aufnahmen um erstrangiges Quellenmaterial. zwar in Warschau entwickeln ließ, sie aber erst zw im Jahre 1982 dem Magazin „stern“ zur Verfügung stellte. Hieraus lässt sich durchaus schlussfolgern, dass es sich bei Jöst um einen teilnehmenden Beobachter und Fotografen handelte, keinesfalls um einen verrohten, sensationssüchtigen deutschen Besatzungssol- daten. Derlei fotografische Zeugnisse von Kriegsgräueln und menschenverachtenden Exekutionen, nicht selten den Lieben in der Heimat zugeeignet, sind sattsam bekannt und Andrew A. Michta sprechen eine andere Sprache.

Bemerkenswert ist auch, dass die Fotografien aufgrund ihres einzigartigen dokumentarischen Wertes im Frühjahr 1988 vom Leiter der

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America’s New Allies. Poland, NATO im Kosovo. Dabei beschrän-ken Hungary, and the Czech sich die Autoren erfreulicher Weise nicht nur auf die normative Seite des Republic in NATO. Integrations-prozesses, die in den University of Washington Press. Seattle and einzelnen Beitrittsver-trägen schon recht London 1999, 214 S. weit entwickelt wurde, sondern geben ebenfalls einen konzisen Über-blick über Dieser von Andrew A. Michta, Professor die materiellen, logistischen und für Internationale Studien am Rhodes organisatorischen Voraussetzungen der College, herausgegebene Band gliedert Beitrittsländer, die ja gleichzeitig mit aller sich in fünf Ab-schnitte, die von einer Macht in die EU streben und diesbezüglich Einführung und einem Resümee des einem enormen Anpassungsdruck Herausgebers eingerahmt werden. Den ausgesetzt sind. Hervorgehoben werden Länderstudien zu Polen (Michta), Ungarn aber auch die Erwartungen des (Zoltan Barany) und Tschechien (Thomas Bündnisses und der USA gegenüber den S. Szayna) ist ein Aufsatz von Dale R. neuen Verbündeten. Eine nicht Herspring vorangestellt worden, in dem unerhebliche Rolle spielt hierbei die Einbe- der Autor die Probleme bei der Integration ziehung Russlands in diesen Prozess der NVA in die Bundeswehr analysiert, einer wie auch immer definierten und wobei er neben den organisatorischen und institutionell abge-sicherten kollektiven materiellen Herausforderungen dieses europäischen und transatlantischen Prozesses auch auf den Transfer Sicherheitspolitik. Hier bleiben, wie nicht demokratischer Institutionen und eines anders zu erwarten, die meisten Fragen westlichen Militärethos abhebt. Diese offen, gerade in Hinsicht auf das Problem, erfolgreiche Inkorporation einer einst dem ob es nach dem Beitritt der drei zentralen Warschauer Pakt angehörenden Armee ostmitteleuropäischen Staaten zu weiteren kann in gewisser Weise als Muster für die Erweiterungsrunden kommen wird oder Transforma-tionsprozesse in den Armeen nicht. Welche Rolle dabei der Ukraine, der der drei neuen Mitglieder gelten, allerdings Slowakei oder den baltischen Staaten – und das machen die Länderbeiträge im zukäme, braucht hier nicht besonders Anschluss an das erste Kapitel deutlich – ausge-führt zu werden. Wichtig ist in unter jeweils anderen Bedingungen und diesem Kontext nur, dass es der NATO- auf der Grundlage sehr unterschiedlicher Führung und ihren Mitgliedsstaaten Traditionen und historischer Erfahrungen. gelingt, dem mächtigen Partner Russland Die Überschriften der einzelnen überzeugend zu verdeut-lichen, dass das Länderkapitel sprechen in diesem aus dem Kalten Krieg stammende Prinzip Zusammen-hang für sich und einer reinen Verteidigungs-organisation charakterisieren wohl recht objektiv die allmählich durch das Prinzip eines Haltungen der involvierten poli-tischen und transatlantischen militärischen Führungen der neuen Verteidigungsbündnisses ersetzt werden Mitgliedsstaaten, andererseits aber auch soll. Letzteres schließt gerade die aktive die Rezeption dieser Haltungen durch die Partizipation Russlands ein, setzt aber NATO, in erster Linie aber durch die auch die Akzeptanz westlicher Wertevor- bestimmenden US-Eliten. Während Polen stellungen voraus. Insofern definiert sich als Achsnagel (linchpin) für regionale die NATO immer stärker normativ politisch Sicherheit bezeichnet wird, Ungarn das und weniger militärisch funktional. Und Epitheton des Außenpostens einer insofern muss man den Autoren dieser unruhigen Peripherie erhält, bleibt für die lesenswerten Studie uneingeschränkt Tschechische Republik nur die Alternative beipflichten, wenn sie verdeutlichen, dass zwischen einem „kleinen Beitragenden” auch die nunmehr vor gut zwei Jahren (small contributor) oder einem „freien vollzogene NATO-Erweiterung weiterhin Reiter” (free rider). Sicherlich spiegelt einen offenen Prozess darstellt, bei dem diese Graduierung auch die Stimmungen es in erster Linie darauf ankommen wird, in den jeweiligen Gesellschaften wider, in welcher Form die neuen Mitglieder zumal nach dem auch in diesen Ländern bereit und in der Lage sind, als Teil des recht kontrovers diskutierten Krieg der Bündnisses substanziell zur Festigung der

92 territorialen Sicherheit in ihrem jeweiligen Einzelfall lag: zum Beispiel aufgrund von Umfeld zu sorgen und so etwas wie einen Lücken in der Gesetzgebung oder wegen glaubhaften Demokratietransfer z u leisten. administrativer Umsetzungsprobleme Dass sie dies in hohem Maße gerade auch im Interesse der NATO-Altmitglieder aufgrund fehlender Ausführungsbestim- tun, sollte dabei weder in Washington, mungen. Schließ lich wird die Frage auf- Berlin oder Paris außer Acht gelassen geworfen, ob die in Gang gesetzten werden. Und trotz anhaltender all- Reformen im Zweifelsfall lediglich korrigiert waltender Sparzwänge sollte in Brüssel oder grundsätzlich geändert werden sollten. dafür Sorgen getragen werden, dass Polen, Ungarn und Tschechien dafür die Der Zeitrahmen der Beiträge reicht bis ins notwendige materielle und ideelle Jahr 1999, die Einschätzungen und Wer- Unterstützung erfahren. tungen der Autoren verstehen sich somit als zw eine erste Bestandsaufnahme. Im Einzelnen handelte es sich bekanntlich um vier Schlüsselvorhaben, die seit Jahren diskutiert wurden, aber erst unter der aus der Wahlaktion „Solidarnosc“ und der Frei- heitsunion gebildeten Regierung unter Ministerpräsident Jerzy Buzek in Angriff

genommen wurden: die Verwa ltungsreform, Lena Kolarska-Bobinska die Reform des Bildungswesens, die Renten- reform und die Reform des Gesundheits- Cztery reformy. Od koncepcji do wesens. Bei der Verwa ltungsreform ging es realizacji [Vier Reformen. Von der um die längst überfällige und angesichts des Konzeption zur Realisierung]. mittelfristig bevorstehenden EU-Beitritts Oficyna Naukowa. Warszawa 2000, 319 S. notwendige Dezentralisierung des Landes,

also darum, Polen ein neues territoriales Dieser vom Institut für Öffentliche Angelegen-heiten unter der Redaktion von Gefüge zu geben und die Kompetenzen der Lena Kolarska-Bobinska herausgegebene einzelnen Gebietskörperschaften neu zuzu- Sammelband besteht aus fünf schneiden. Dabei stand der Gedanke der übergreifenden Kapiteln, an denen Bürgergesellschaft und das Prinzip der insgesamt zwanzig Autoren mitgearbeitet Subsidiarität im Vordergrund. Die Schaffung haben. Insofern verbietet sich eine von 16 Woiwodschaften (anstelle von 49) Analyse der einzelnen Beiträge, es kann nur ein Gesamteindruck vermittelt werden, sowie die Wiedereinrichtung der Kreise wobei wir uns auf einige Schwerpunkte musste allerdings gegen beträchtliche poli- beschränken müssen. Zuvor sollte noch tische und gesellschaftliche Hindernisse angemerkt werden, dass sich unter den durchgesetzt werden. Obschon man davon Autoren sowohl für die Reformen ausgehen kann, dass die Verwa ltungsreform verantwortliche Personen als auch unabhängig wirkende Experten (Volkswirt- zu einer grundlegenden Ä nderung des politi- schaftler, Juristen, Soziologen und schen Ordnungssystems geführt hat, bleibt Psycholo-gen) befinden. Insofern ist eine doch zu bemängeln, dass die territorialen kritische Rekonstruktion und Analyse der Selbstverwaltungen in Polen noch immer Vorbereitung und Umsetzung der über kein stabiles Einnahmesystem verfügen. einzelnen Reformvorhaben gewährleistet. Da die Territorialverwaltungen mit einer Dabei stellen sich die Autoren die Aufgabe Vielzahl von neuen Aufgaben beauftragt auszuloten, ob die einzelnen Reformen zu wurden (Gesundheitsfürsorge, Bildungsbe- tatsächlich spürbaren Veränderungen geführt reich, Sozial- und Regionalpolitik, Umwelt, haben, ob Konzepte erfolgreich umgesetzt Arbeitsmarktpolitik, Modernisierung der wurden oder nicht und woran dies dann im

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Landwirtschaft, Straßenbau), dafür aber tisierung der Rentenversicherung durchaus keine zusätzlichen Mittel aus dem Staats- Vorbehalte. Allerdings stieß das Reformvor- haushalt zur Verfügung gestellt wurden, haben auf eine breite gesellschaftliche spricht man bis heute nicht ganz zu Unrecht Unterstützung, wurde von einem politischen von einer „Dezentralisierung der Haushalts- Konsens zwischen Regierung und Opposition probleme“. Das Hauptproblem besteht aller- begleitet und fand auch den Beifall des dings weiterhin darin, dass die Finanzministeriums, das sich von der Reform Verwaltungsreform parallel zu den etwa in eine Entlastung der Staatskasse versprach. der gleichen Zeit angestoßenen Struktur- Józefina Hrynkiewicz formuliert deshalb reformen verläuft. Bisher war es nicht nicht ganz zu Unrecht ihre Kritik so: „Bei der möglich, diese Prozesse miteinander zu Reform der Sozialversicherung geht es um koordinieren. Zyta Gilowska fasst diesen den Aufbau eines starken Kapitalmarktes. Sachverhalt so zusammen: „In gewisser Offiziell wird allerdings erklärt, dass man ein Weise ist alles beim Alten geblieben. Der beständiges, stabiles, gut ausgestattetes und zentrale Apparat verfügt weiterhin über die sicheres Sozialversicherungssystem aufbauen Finanzmittel, während er einen Teil der möchte. Das Kapitaldeckungsverfahren soll schwierigsten Pflichten der territorialen in der Tat durch die Absenkung des realen Verwaltung überantwortet hat.“ (S. 37). Zu Werts an Renten- und Pensionsleistungen einer ähnlichen Wertung kommt Janusz entstehen, also auf Kosten der Rentner und Sepiol, wenn er in seiner abschließenden Pensionäre.“ (S. 275) Wertung Folgendes schreibt: „Die Regierung Problematisch blieb bei der Umsetzung der verfügt über mehr Mittel als ihre Aufgaben Reform allerdings der Umbau des bislang kosten, während den territorialen Selbstver- zentralen Sozialversicherungsträgers ZUS waltungen – gemessen an den ihnen (Zaklad Ubezpieczen Spolecznych), der den übertragenen Aufgaben – zu wenig Mittel zur neuen Strukturen (Beitragszahlungen ad Verfügung stehen.“ (S. 47) Insofern dürfte personam in monatlichen Abständen auf das vorläufige Fazit zutreffend sein, dass es Grundlage eines eigens entwickelten landes- weiterer legislativer Schritte sowie ergän- weiten EDV-Systems) angepasst werden zender Ausführungsbestimmungen bedarf, musste. Es kam zu massiven Verspätungen bis die territorialen Selbstverwaltungen in der bei der Beitragsakquisition und bei den Lage sein werden, die ihnen anvertrauten Auszahlungen, was in vielen Betrieben und Aufgaben effektiv zu erfüllen. Angesichts bei der Bevölkerung Unzufriedenheit und des EU-Beitritts des Landes und den damit Unverständnis hervorrief. zur Entwicklung der Regionen Polens zur Bei der Schaffung der zweiten Säule des Verfügung stehenden Mitteln, müssen noch neuen Rentensystems, den Allgemeinen die Voraussetzungen dafür geschaffen wer- Rentengesellschaften (Powszechne Towarzy- den, dass die Woiwodschaften bei diesem stwa Emerytalne, PTE) und den Offenen Verfahren zu einem echten Partner der Rentenfonds (Otwarte Fundusze Emerytalne, Regierung werden. OFE) gab es insofern beträchtliche Probleme, Die am 1. Januar 1999 begonnene Renten- da die Rentenfonds keiner adäquaten und reform stellt eine echte Systemveränderung effizienten Kontrollinstanz unterste llt worden dar und war durchaus nicht nur eine waren. Deshalb gehen die Fachleute heute Modifikation der bisherigen Ansätze. Das füglich davon aus, dass diesbezüglich weitere ergibt sich ganz deutlich daraus, dass sie eine legislative Schritte notwendig sind, aber auch Kombination aus Umlage- und Kapital- im Hinblick auf die Reform des Rentensys- deckungsverfahren darstellt. Dabei gab es tems für private Landwirte sowie hinsichtlich angesichts der damit eingeleiteten Teilpriva- des Renteneintrittsalters für Frauen und

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Männer. Umstritten bleibt auch die Frage unter den bestehenden Bedingungen für die nach dem Verhältnis zwischen den von den meisten Dienstleister nicht bezahlt macht. Arbeitnehmern und den Arbeitgebern zu Der Endverbraucher muss die entsprec hende leistenden Beiträgen. Qualität wiederum durch private Transfers an Die Diskussion über eine Reform des Sys- die Dienstleister erkaufen, immer vorausge- tems der Gesundheitsfürsorge geht in Polen setzt, dass er über die Mittel verfügt. Der bis auf das Jahr 1989 zurück und wurde grauen Sphäre sind Tor und Tür geöffnet. Es damals vom Gesundheitsausschuss der „Soli- ist nicht von der Hand zu weisen, dass es sich darnosc aufgegriffen. Dabei erhofften sich hierbei um einen expliziten Systemfehler die in der Gesundheitsfürsorge Beschäftigten, handelt, den man nur schwer wird korrigieren dass die Umstellung von einer Budgetfinan- können. Józefina Hrynkiewicz, die in diesem zierung auf eine Beitragsfinanzierung das Kontext der Kombination aus Versicherungs- zukünftige System neutralisieren und dem und Marktmodell keine Zukunftschance gibt, Einfluss politischer Kurswechsel entziehen fasst ihre Kritik so zusammen: „Der offizielle würde. Allerdings blieb zu berücksichtigen, Standpunkt, dass wir zum Schutz der dass es breite Gesellschaftsgruppen gab (zum Gesundheit Sozialversicherungssysteme ein- Beispiel die Landwirte oder jene führen sowie die „heimliche“ Privatisierung Arbeitslosen, deren Anspruch auf Arbeits- des Eigentums und die Kommerzialisierung losengeld erloschen ist), die weiterhin direkt der Dienstleistungen verursacht für die vom Staat alimentiert werden mussten. Nach Patienten eine weitere Beschränkung des der Umstellung des Systems erhalten nun 16 Zugangs zu den Dienstleistungen, führt zu regionale Krankenkassen sowie eine Spannungen und sozialen Konflikten.“ (S. Branchenkrankenkasse die Mittel aus den 279) Beiträgen der Versicherten. Die Kassen sind Die Bildungsreform hatte schon bei ihrem nunmehr diejenigen, die entsprechende Ver- Start erheblich Probleme. Zwar hatte das träge mit den Dienstleistern, also Kranken- Parlament bereits im Sommer 1998 ein drei- häusern und Ärzten, zu schließen haben. gliedriges Schulsystem verabschiedet, aller- Dabei stellt sich aber heraus, dass die Preise dings nicht über den Zeitpunkt seiner für die Behandlung einzelner Patienten, die Einführung entschieden. Erst ein Jahr später die Kassen an die dienstleistenden wurde das Gesetz zur Reform des Schul- Krankenhäuser abführen sollten, keinen klar wesens verabschiedet. Inhaltlich betrachtet definierten Kriterien unterliegen. An- geht es darin in erster Linie um die scheinend wollten die Reformer die Preis- Verbesserung der Entwicklungschancen der bildung dem Markt überlassen, der aber Schülerschaft, die durch Innovationen im angesichts mangelnder Transparenz und Bereich der Didaktik und Lehrprogramme Konkurrenz nicht funktionierte. So verfügen erreicht werden soll. Dazu machen Lehrer- die regionalen Krankenkassen weiterhin über teams in allen Schulen entsprechende, selbst eine fast monopolistische Machstellung. Im entwickelte Programmangebote. Interesse der Dienstleister liegt es hingegen, Bei der Umsetzung der Reform, deren möglichst viele Patienten zu versorgen (und Ergebnisse erst mittelfristig erkennbar sein abzurechnen), allerdings nur die, deren Be- werden, ergaben sich bisher folgende zentra- handlung deutlich unter den Durchschnitts- len Probleme: die sehr kostspielige Erwei- kosten der Behandlung in der entsprechenden terung und Umwidmung des polnischen Abteilung liegt. Die medizinische Dienst- Schulnetzes, die Schaffung eines effektiven, leistung wird damit immer stärker zu einer flächendeckenden, aber nur schwer zu marktabhängigen Ware, die Gefahr läuft, realisierenden Schülertransportwesens, be- zusehends an Qualität einzubüßen, da sie sich sonders für die benachteiligten ländlichen

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Regionen, die Überwindung des sog. enzy- aufgrund ihrer teilweise chaotischen Imple- klopädischen Lehrens und Lernens durch die mentierung weitgehend enttäuscht, zum Teil Einführung einer neuen Didaktik und neuer bestürzt. Befürchtet wird eine weitere Aus- Lehrprogramme, ohne eine entsprechende differenzierung der polnischen Gesellschaft, Weiterbildung der Lehrer sowie eine eine Aushebelung des Sozialstaatsgedankens adäquate Entlohnung und Ausstattung der durch die Vermarktung sozialer und medi- (unterbezahlten) Lehrerschaft, die für die zinischer Dienstleistungen, was einem noch Umsetzung der neuen Lehrinhalte und größeren Verlust an sozialer Sicherheit Methoden hauptverantwortlich zeichnet. gleichkommt. Sicherlich können etliche Angesichts der angespannten Haushaltslage Fehler in Zukunft noch korrigiert werden. zeichnet sich in diesem Kontext durchaus Auch sollte man sich vor Augen führen, dass keine Entspannung ab. Und so lassen sich die die Regierung Buzek unter einem enormen bereits im Mai 1999 von einer Experten- Zeitdruck gestanden hat und das umzusetzen kommission des Bildungsministeriums for- suchte, was zuvor über Jahre vernachlässigt mulierten Probleme im Zusammenhang mit wurde. Um Polen schnell zu modernisieren dem Beginn eines neuen Schuljahres auch für und EU-kompatibel zu machen, aber auch um das Jahr 2000 wie folgt zusammenfassen: der die eigene Leistungsfähigkeit zu unterstrei- Schülertransport ist schlecht organisiert, chen, hat man sich offensichtlich nicht die notwendige Bildungsinvestitionen werden nötige Zeit gelassen. So wurde die polnische nicht getätigt, die Stimmung unter der Gesellschaft zum zweiten Mal schockiert. Lehrerschaft ist schlecht, die neu ge- Von diesem Schock wird sie sich während schaffenen Gymnasien sind ungenügend der Parlamentswahlen des Herbstes 2001 ge- ausgestattet, die neuen Lehrprogramme sind wiss erholen, indem sie dem Linken Wahl- nicht fristgerecht bei den Schulen einge- bündnis ihr Vertrauen ausspricht. Inwiefern gangen, die Versorgung mit Lehrbüchern dieses seine sozialen Versprechungen wird weist Mängel auf, in den kommunalen Kas- einhalten können, bleibt allerdings fraglich. sen fehlen die Mittel für erhöhte Ausgaben, zw zum Beispiel, um die Abfindungen für entlas- sene Lehrer zu zahlen, die Gymnasien auszu- statten oder die gesetzlich verabschiedeten Gehaltserhöhungen für die Lehrerschaft aus- zuzahlen. (S. 236) Angesichts dieser gravierenden strukturellen Probleme sowie eines hohen Grades an Unzufriedenheit bei Lehrern, Eltern, Kindern und Jugendlichen wird es für die polnische Schulreform auch in Zukunft schwierig sein, Klaus Müller ein höheres Maß an Akzeptanz zu erlangen. Insgesamt fällt das Fazit über die vier Postsozialistische Krisen Schlüsselreformen in Polen ernüchternd aus. Verlag Leske + Budrich, Opladen 1998, 250 S. Dabei sind es in erster Linie die schlechte Vorbereitung und die mangelhafte Um- Der von Klaus Müller herausgegebene setzung der Reformvorhaben, die nicht nur Sammelband „Postsozialistische Krisen“ von den Endverbrauchern, sondern auch von beabsichtigt, zwei Schwerpunkte zu setzen: den Fachleuten massiv kritisiert werden. Obschon man die Notwendigkeit der einzel- 1. Im Spannungsfeld zwischen Soziologie nen Reformen durchaus akzeptierte, war man und Ökonomie sollen kohärente Ansätze

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einer Transformationstheorie formuliert Mit den Schwierigkeiten des institutionellen und mit empirischen Befunden belegt Wandels und der „mangelnden Handlungs- werden. kompetenz von in den Institutionen wirkenden 2. Die aus der Zeit des klassischen Ost-West- Akteuren“ beschäftigt sich der Aufsatz von Gegensatzes resultierenden Modernisier- Anton Sterbling, der als zentrale Ausgangslage ungsdefizite mittel- und osteuropäischer der „historischen Modernisierungsforschung“ Staaten sollen erklärt und gegenwärtige die Theorien von Max Weber und Talcott komplexe Prozesse in Transformations- Parsons heranzieht. Sterbling macht im Verlauf gesellschaften analysiert werden. der Systemtransformation richtigerweise einen Wandel weg von zentralistischen Institutionen- Im ersten Artikel untersucht Johann Arnason hierarchien hin zu „komplexeren und die Genese, die Entwicklung und das Scheitern differenzierteren Institutionengebilden“ aus. des sowjetischen Modells vor dem Hintergrund Stichhaltig ist darüber hinaus sein Argument, der Dynamik der Globalisierung, ohne jedoch dass „institutionelle Innovationen der einzige eine erschöpfende Erklärung des Zusammen- Weg der Überwindung von Modernisierungs- bruchs der UdSSR anbieten zu können. dilemmata“ in postsozialistischen Gesellschaf- Sowohl die totalitäre stalinistische Ära als auch ten seien. die „poststalinistischen Adaptionen der imperialen Macht“ konnten den rapiden Einen Exkurs in die phänomenologische Verfall der Gesellschaftsstrukturen nicht Philosophie Husserls unternimmt Ilja Srubar. aufhalten und mündeten im totalen Scheitern Auf Basis der Einsicht in den „dynamischen, des ideologischen Modells und der Wachs- plastischen Charakter der Lebensweltstruktur“ tumsstrategien sowie im Verlust des sozialen und der drei Ebenen der menschlichen Orientierungsrahmens. Das Regime, das in den Aktivitäten (Zeitlichkeit, Leiblichkeit und 1980er Jahren einen „letztlich selbstzer- Intersubjektivität) lässt sich die „Dynamik und störerischen Reformkurs einschlug“, konnte Geschichtlichkeit sozialer Realität“ postsozia- den Ausbruch der Transformationskrise nicht listischer Gesellschaften analysieren. Die verhindern, sondern beschleunigte durch völlig zeitliche, räumliche sowie die soziale Dimen- ungeeignete (wirtschafts-)politische Entschei- sion des Übergangs seien so die wesentlichen dungen den Niedergang. Edward Tiryakian Bestandteile der Beschreibung der „conditio analysiert in seinem Beitrag die Krise in humana“ in der Lebenswelt der Menschen in postsozialistischen Gesellschaften auf der postsozialistischen Ländern. Bruno Grancelli Grundlage des Ansatzes der „Neo-Moder- geht in seinem Beitrag zum organisatorischen nisierung“. Dazu bedient er sich einiger Wandel in Transformationsgesellschaften ä hn- Voraussetzungen, die a ls Basis die „Niveauan- lich den anderen Autoren von der These aus, hebung (upgrading)“ eines politischen, dass „die Industrialisierung von Gesellschaften wirtschaftlichen und sozialen Systems betonen. sowjetischen Typs nicht gleichbedeutend mit Auffallend in seiner Beschreibung ist zum Modernisierung ist“. Er plädiert über die einen der wenig hilfreiche Ansatz, die bekannten Organisationsmodelle hinaus für Moderne als bloßen „Schauplatz von eine Theorie, „die das Zusammenspiel Überraschungen“ abzustempeln. Zum anderen zwischen institutionellem und organisatori- werden mitteleuropäische Länder wie Polen schem Wandel unter Bedingungen erklärt, die oder Ungarn und deren Geschichte, die stark sich durch eine hochgradige strukturelle und mit dem Deutschen bzw. dem Österreichisch- kulturelle Kontinuität mit dem vorange- Ungarischen Reich zusammenhängen, gangenen Regime auszeichnen.“ bedenkenlos der osteuropäischen Landschaft Eine zweckmäßige U nterscheidung in die drei zugeschlagen - eine wohl weit verbreitete Diskursebenen Theorie, Strategie und Ideolo- angelsächsische Sichtweise. gie erlaubt es Andreas Pickel, unterschiedliche

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Grundpositionen herauszuarbeiten, die auf die Liberalisierung zu großen Anpassungslasten, Diskussion zwischen radikal-neoklassischen aber auch zu herausragenden Erfolgen im und gradualistisch-evolutionären Ansätzen Aufbau einer funktionsfähigen Marktwirtschaft abstellen. Damit versucht Pickel, den ver- beitrugen. Andererseits verweist er zurecht auf schiedenartigen Transformationsproblemen im die tiefgreifenden institutionellen Schwächen politischen und ökonomischen Diskurs gerecht in allen Transformationswirtschaften und deren zu werden, w obei die „Theoriebildung oft von „externe Krisenanfälligkeit“. strategischen und politischen Problemen Der Aufsatzband stellt zweifellos für diejeni- [überhaupt erst] motiviert“ wird. Susanne gen, die sich mit den unterschiedlichsten Dittberners Beitrag zur spanischen Transition Entwicklungen in den postsozialistischen eignet sich nur sehr bedingt, um alle Gesellschaften der letzten Dekade beschäfti- Dimension der Systemtransformation unter die gen, eine wichtige Quelle dar. Lupe nehmen zu können. Zwar stellt Spanien GSch in der Nach-Franco-Ära ein illustratives Beispiel des friedlichen Übergangs von der Diktatur zur Demokratie dar. Die gesamt- gesellschaftlichen und vor allem die ökono- mischen Voraussetzungen in den postsozialis- tischen Ländern Mittel- und Osteuropas divergieren jedoch stark von der westeuro- päischen Entwicklung Spaniens. Auch wenn sich einige Parallelitäten im politischen Lern- und Demokratisierungsprozess (Etablierung der Parteienlandschaft, [fehlende] Aufarbei- tung der totalitären Vergangenheit und Frustration der Bevölkerung) erkennen lassen, kann weder das Timing noch die Sequenz- Abfolge in der Systemtransformation post- sozialistischer Wirtschaften ohne Weiteres mit der Liberalisierung und den Reformen in Spanien verglichen werden. Der abschließende Beitrag von Klaus Müller befasst sich ausführlich mit Fragen des Übergangs zu demokratischen und marktwirt- schaftlichen Strukturen, indem er drei zentrale Hypothesen aufgreift und an Hand von empirischem Material untersucht. Der „neoliberalen Programmatik der Strukturan- passung“ stellt er ein zweites Szenario der „Gefahren eines Armutskapitalismus“, d.h. eine Verschärfung der Ungleichheiten in Transformationsländern, gegenüber. Ein drittes Szenario schließlich betrachtet die „Transitionen zur Demokratie“, vergleichbar den südeuropäischen Ländern in den 1970er Jahren. Müller verdeutlicht einerseits, inwie- fern die marktbasierte Modernisierung und

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In eigener Sache

Jörg Stemmer

Das Gesamteuropäische Studienwerk e. V. im Netz

Das Gesamteuropäische Studienwerk e. V. Vlotho ist seit dem April des Jahres 2000 auch im Internet unter der Adresse www.gesw.de vertreten. Im Zeitraum von April bis Dezember 2000 wurden 9.352 Seiten der Internetpräsenz abgerufen. Insgesamt hatten wir Zugriffe auf alle Daten von 52.567. Nachstehend finden Sie eine nach Monaten sortierte Übersicht.

Gesamtübersicht der Monate April bis Monat Hits Daten Seitenansichten Sitzungen KBytes gesendet Dezember 2000 Dezember 2000 7936 4264 1211 633 39109 November 2000 9636 5024 1489 780 43955 Oktober 2000 8872 4699 1490 695 36182 September 2000 8518 5582 1656 632 33960 August 2000 4781 4017 979 568 29319 Juli 2000 3600 3149 811 364 21299 Juni 2000 3009 2611 565 251 17506 Mai 2000 4230 3154 769 287 21984 April 2000 1985 1657 382 91 10880 Total 52567 34157 9352 4301 254190

Durchschnitt 4380 2846 779 358 21182

Interessanterweise beschränkte sich der Kreis der Nutzer nicht auf europäische Staaten, sondern umfasst alle Kontinente, wie folgende Länderübersicht veranschaulicht: Deutschland | Schweden | Österreich | Polen | Ungarn | Tschechische Republik | Großbritannien | Finnland | Rumänien | Russische Regierung | Bulgarien | Schweiz | Frankreich | Luxemburg | Niederlande | Kanada | Saudi Arabien | Estland | Australien | Malaysia | Belgien | Japan | Mexiko | Griechenland | Singapur | Spanien | Dänemark | Jugoslawien | Irland | Ukraine | Italien | Indien | Israel | Kroatien | Südafrika | Mazedonien | Peru | Brasilien | Bosnien Herzegowina | Argentinien | Guatemala | Slowakei | Neuseeland | Pakistan | U.S. Military

Abschließend möchten wir darauf hinweisen, dass seit Mai 2001 die Mitarbeiter des GESW über eine eigene Email-Adresse zu erreichen sind:

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