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D'Est ist. Allmählich, während wir weiter in das Land vordringen, geht der Sommer zu Ende und macht dem Herbst Platz. Von Osten Einem dumpfen und farblosen Herbst, der von viel Nebel bedeckt ist. Männer und Frauen, die auf den Feldern Rüben Land Frankreich/Belgien 1993 sammeln, bücken sich so tief über die schwarze Erde der Produktion Lieurac Productions, Paradise Ukraine, daß sie mit ihr zu verschmelzen scheinen. Un­ Films weit von ihnen die Landstraße, durch den ständigen Ver­ kehr ausgedienter, schwarzen Rauch ausstoßender Lastwa­ Regie, Buch gen voller Schlaglöcher. Dann der Winter und Moskau, wo der Film sich verdichtet. Kamera Raimond Fromont, Bernard Er wird wahrscheinlich etwas von dieser aus den Fugen ge­ Delville ratenen Welt vermitteln, diesen Eindruck von Nachkriegs­ Schnitt Ciaire Atherton, Agnes Bruckert zeit, wo jeder vorübergegangene Tag einem Sieg gleich­ Ton Pierre Mertens, Didier Pecheur kommt. Es kann fürchterlich und belanglos wirken, doch Mischung Thomas Gauder inmitten von all dem werde ich Gesichter zeigen, die iso­ Regieassistenz Simon Zaleski liert von der Menge noch etwas Unberührtes an sich haben Produzenten Francois Le Bayon, Marilyn und dann oft das Gegenteil von jener Uniformität ausdrük- Wate let ken, die einem manchmal an Menschenmengen auffällt, Produktionsleitung Simon Zaleski (Ausland), Helena auch das Gegenteil unserer Uniformität. Ohne sentimental Van Dantzig, Marilyn Watelet werden zu wollen, würde ich sagen, daß diese Gesichter (Frankreich) unzerstört sind, daß sie offen sind; sich geben als das, was Cello Natalia Tschachowskaja sie sind, und einen Moment lang das Gefühl von Verlust, von einer Welt am Abgrund auslöschen, das einen manch­ Uraufführung 5. August 1993, Locarno mal ergreift, wenn man durch den ,Osten' reist, wie ich es gerade getan habe. (...) Format 16mm, Farbe Nach und nach wird einem bewußt, daß immer wieder das­ Länge 110 Minuten selbe erscheint, gleichsam wie eine Ur-Szene - obwohl ich mich dagegen wehre und schließlich wütend werde, muß Weltvertrieb Paradise Films ich es doch akzeptieren. Tief im Hintergrund oder immer 29 Rue de la Sablonniere im Vordergrund, notdürftig überdeckt von anderen leuch­ 1000 Bruxelles, Belgien tenderen oder sogar strahlenderen befinden sich alte Bil­ Tel.: (31-02) 2186044 der: von Evakuierung, Märschen im Schnee, mit Bündeln Fax: (31-02) 2194826 beladen auf dem Weg zu einem unbekannten Ort, Gesich­ ter neben Körpern, Gesichter, in denen sowohl der Lebens­ Folgende Institutionen waren an der Produktion beteiligt: wille wie die Möglichkeit eines Todes, der sie ereilen wür­ RTP (Portugiesisches Fernsehen), RTBF (Belgisches Fernse­ de, ohne daß sie darum gebeten hätten, sichtbar ist. hen, Carre Noir), Centre de l'Audio-Visuel ä Bruxelles Und es ist immer das gleiche. Gestern, heute und morgen (C.B.A.), LASEPT/ARTE, Polnisches Fernsehen, CNC, Favi, gibt es in diesem Augenblick Menschen, die von der Ge­ Gouvernement de la Communaute Francaise de Belgique, schichte heimgesucht werden, die in der Menge eingepfercht Loterie Nationale und Fonds Eurimages des Europarates warten, umgebracht, geschlagen und ausgehungert zu wer­ den, die laufen, ohne zu wissen, wohin der Weg geht, in Inhalt einer Gruppe oder allein. D'EST beschreibt eine Reise, die von Ostdeutschland nach Man kann nichts daran ändern, das läßt einen nicht los und Moskau führt, im Sommer beginnt und im tiefsten Winter das verfolgt mich. Trotz des Cellos, trotz des Kinos. endet; eine Reise, die Chantal Akerman machen wollte, „so­ Als der Film fertig war, habe ich mir gesagt, das war es also, lange noch Zeit ist". Ihre Eindrücke gibt sie in einer doku­ wieder einmal. mentarischen, an die Fiktion grenzenden filmischen Form Chantal Akerman wieder; Akerman filmt „alles, was sie berührt". Im Verlauf einer subjektiven und imaginären Fahrt durch das heutige Rußland übermittelt und fixiert Akerman Klänge und Bilder, Begegnung mit dem Osten ohne sie zu kommentieren. D'EST ist eine filmische Elegie, Man weiß noch nicht, daß es auf den Winter zugeht. Der die an Chantal Akermans vor fünfzehn Jahren in New York Film öffnet sich wie ein Fenster auf eine Landschaft, die entstandenen Film anknüpft. unbestimmt ist. Und schon unendlich. Drinnen ist es warm, es herrscht das goldene Licht der Innenaufnahmen Chantal Die Regisseurin über ihren Film Akermans. Draußen ist es schon kälter. Sei es am Fuß eines einsamen Baumes, auf dem reifen Getreidefeld oder an ei­ Der Film wird mit dem strahlenden Sommer in Ostdeutsch­ nem Sommernachmittag: von Anfang an gestaltet die belgi­ land und dann in Polen beginnen. Nur der Blick eines Pas­ sche Filmemacherin {Golden Eighties, Jeanne Dielman..., santen, dessen Begriff von dieser Realität unvollkommen Nuit et Jour) eine geistige Landschaft, die es ohne Führung zu durchqueren gilt. Von West nach Ost oder von Ost nach Der Zuschauer als Reisender West? Auf einer Art border line, genau dort, wo die Tragödie D'EST reflektiert ein Erforschen der verschwindenden Gren­ des Ostens auf die des Westens trifft. zen des Kommunismus, dieses lange Zeit sinnbildlichen, Der erste Teil gilt dem Weg nach Osten. „Seit zwanzig Jah­ teilweise unergründlichen Territoriums, dessen Undurchsich- ren wollte ich einen Film über Osteuropa machen", sagt tigkeit heute eigenartigerweise weit davon entfernt ist, sich sie, „Meine Eltern stammen aus dem Osten. Aber das er­ aufzuklären, vielmehr im Hinblick auf die bekannten poli­ klärt zu wenig... Ich bin schon einmal dort gewesen. Das tischen Umwälzungen sich zu vergrößern und komplexer war vor dem Fall der Mauer, zur Zeit von Gorbatschow. Ich zu werden scheint. war bewegt. Ich hätte nicht sagen können, weshalb ich da­ Von diesem mangelhaften Verständnis und einem dringen­ mals so bewegt war. Wahrscheinlich Kindheitserinnerun­ den Bedürfnis weniger nach Wissen als nach Empfindung gen. Ihre Kleidung, die Nahrungsmittel. Seltsamerweise fühl­ getrieben, hat Chantal Akerman sich auf die Reise begeben te ich mich nah. Nah, bewegt und traurig." und uns einen wunderbaren Dokumentarfilm mitgebracht, Der Film beginnt langsam. „Als wir begannen, hatten wir der sich weigert, von Ländern zu sprechen und die Dinge keinen festen Plan." Ostdeutschland, ein Sommertag. „Am zu fixieren. Die Herangehensweise will impressionistisch Anfang berührt mich ein Baum und ich filme ihn." Man sein, sie sträubt sich gegen jede reduzierende Symbolisie­ fährt einige Tage durch die Ukraine im Herbst. „Der Film rung. Es heißt daher nicht ,Der Osten', sondern VON OSTEN, hat sich nach und nach entwickelt." An einem Wintermorgen das bedeutet sowohl eine zwangsläufig enttäuschende Su­ betritt man auf einer Landstraße russischen Boden. „Am che (im Ausland bleibt man immer Ausländer, vor allem Anfang war es wie ein Vagabundieren." Man erkennt Mos­ heute), als auch ein Geschenk (das ,von'). VON OSTEN ge­ kau an den großen Hochhäusern der überdimensionierten langen neue Geheimnisse zu uns: heimlich, ohne etwas Vorstädte, bevor sich der Film in die Menschenmenge, die auszusprechen, in der Distanz enthüllen die Menschen et­ Bahnhöfe, die breiten Straßen begibt. Ohne unterzugehen, was von sich und ihrer aus der Fassung geratenen Welt; dank ohne auch nur einmal anzuhalten. „An diesem Punkt ging des Einsatzes einer Kamera, die so präsent wie distanziert es ohne Umwege voran." Der zweite Teil gilt dem Ausfüllen ist. dieser Unermeßlichkeit. „Der Film bedeutet mir auch viel Der in 16mm gedrehte Film besteht vor allem aus Außen­ durch seine Form; eine freie Form." Eine klare Syntax, die aufnahmen, festen Einstellungen und Kamerafahrten. Kein mit einigen elementaren Formen spielt: der Gegenstand hält Kommentar, fast kein einziges Gespräch stört unsere Wahr­ inne - der Gegenstand bewegt sich, die Kamera hat einen nehmung. Nur der Widerhall von Tönen erreicht uns gleich­ festen Standort - die Kamera bewegt sich. Wenige Bewe­ sam wie identifizierbare Zeichen: das Geräusch des eisigen gungen von vorn nach hinten, wenige Annäherungen. Ein Windes, eine bei jemandem gehörte Musik, das Dröhnen Gleiten über die Landschaft, die Menschen hin, oft von links der Autos. D'EST ist eine Reise mit langem Atem, wobei der nach rechts wie die Schrift. „Es sollte wie eine Liebkosung Zuschauer wie ein Reisender abwechselnd erschöpft, un­ sein", sagt sie. Nicht die Bilder, der Film kommt näher, im­ ternehmungslustig, aufmerksam oder abwesend ist. Es geht mer näher an die Gesichter heran. Eine ausführliche Fahrt vom Sommer zum Winter, vom flachen Land in die Stadt, in einem beständigen, langsamen Rhythmus. Eine Art von den Vorstädten ans Meer, von Polen nach Rußland, ohne Bradykardie (Verlangsamung der Herzfrequenz) bei der An­ daß all diese Orte explizit benannt würden. Der Zuschauer näherung an den Osten. wird ebenso geführt wie auch sich selbst, seinen Gedan­ Komponierte Sätze, wie man bei einem Musikstück sagen ken, seiner Neugierde überlassen. würde. „Unser Denken von Osteuropa ist belastet. In je­ Die erste Hälfte des Films zeigt vor allem Landschaften: ein dem Gesicht sehe ich eine Geschichte... die Lager, Stalin, vereinsamter, wogender Baum mitten in der Ebene, eine Denunziationen, die Schlacht von Stalingrad." Doch davon Kreuzung auf dem verlassenen Land. Das Bild vibriert, hier wird nichts erzählt. Nichts wird je gesagt. Einige Schimpf­ kann alles geschehen. Die Geheimnisse des Ostens enthül­ worte gelegentlich gegenüber der vorbeifahrenden Kamera. len dann Menschenansammlungen am frühen Morgen oder „Ich war überrascht, daß es kaum aggressive Reaktionen in der Nacht, gespenstische Gruppen eingemummelter gab. Wir fahren an ihnen vorbei, die Kamera steht auf dem Menschen, die warten - auf den Zug, den Bus, das Ende der Anhänger eines Zil, eines dieser dicken Bürokratenautos... Welt, man weiß es nicht. Gesichter betrachten uns oder und nichts passiert." Nur der eigenartige Schatten der Ka­ scheinen die Gegenwart der Kamera zu ignorieren, deren mera auf den parkenden Autos. hypnotisierende Fahrten von seltener Qualität sind. Man hat Nur schwere Blicke, die bald den ganzen Raum einneh­ den Eindruck, als habe Akerman wiederholt, als sei sie mehr­ men. Die sich auf uns richten, ohne daß sie von der Kamera mals an denselben Ort zurückgekehrt, um die Atmosphäre isoliert werden. Unsere Blicke treffen sich, die Filmema­ tiefer in sich aufzunehmen. Wie jeder große Dokumentar­ cherin läßt uns dabei die ganze Fahrt über unter vier Augen. film ist D'EST voll potentieller Fiktionen. „An ihrer Haut, in den Blicken sieht man, daß man sie wie Jacques Morice,in: Cahiers du cinema, Nr. 472, Paris 1993 Hunde behandelt hat. Man sieht alle Spuren." Sie prägen den Film. Gesichter der Menge, verschlossen, fast in sich Biofilmographie zurückgezogen. Gesichter in Zimmern, glatt. Chantal Akerman, geboren am 6. Juni 1950 in Brüssel. Der melancholischen Musik der Bilder entsprechen allein Filme: 1968: Saute ma ville; 1971: L'enfant aime; 1972: Momente drückender Stille, das Sammeln von Kartoffeln ; 1973: La Chambre, Le 15/8 (zus. mit Samy auf den Feldern, das Anstehen für die Tramway, das Warten Szlingerbaum), Hanging Out Yonkers; 1974: je, tu, il, eile; in den Bahnhöfen, das Knirschen der Stiefel im Schnee, der 1975: Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 tonlose Stadtlärm oder das Schmettern eines Orchesters im Bruxelles; 1977: News from Home; 1978: Les Rendez-vous Restaurant. Bis zu dem vollkommenen Augenblick, als das d'Anna; 1980: Dis-moi; 1983: Toute une nuit, Les annees filmische Pianissimo wieder auf Musik trifft. Eine Cellistin 80; 1984: UHomme ä la valise, Un Jour Pina m'a demande, spielt Tschaikowsky. Trugschluß dieser elegischen Reise. „Der J'ai faim, j'ai froid, Family business, New York, New York letzte Schnitt ist abrupt, weil es kein Ende gibt. Wie in den bis, Lettre d'un cineaste; 1985: Golden Eighties; 1986: Letters Klagen der Musik Schostakowitschs." Home, Le Marteau, Mallet-Stevens; 1988: Histoires Annick Peigne-Giuly, in: Liberation, Paris, 18./19.9.1993 d'Amerique; 1991: Nuit et Jour; 1993: D'EST