kapitel 3 Sufismus und Futuwwa Männerbünde und ihre sozialen und religiösen Bezüge

Die Untersuchungen von M. Gronke, Ch. Werner, sich jedoch gerade im Osten der islamischen E.S. Wolper und J. Pfeiffer machen übereinstim- Welt Kräfte bemerkbar, die mystisches Erleben mend auf die politischen Instabilitäten im Städt- auch breiteren Kreisen der Bevölkerung zugäng- edreieck zwischen Konya, und Bagdad nach lich machen wollen und deren alltäglichen Sor- dem Einfall der Mongolen aufmerksam. Die breite gen Aufmerksamkeit schenken. In diesem Rah- Bevölkerung litt infolge der diffusen Machtver- men kommt es zur Bildung von mystischen Orden hältnisse ab der zweiten Hälfte des 13. Jh. unter (ṭarīqa, Pl. ṭuruq).2 vielfachen Unsicherheiten. Der Mongolensturm In der frühen islamischen Mystik (bis etwa beschränkte sich aber nicht auf den Einfall von ins 12. Jh.) haben sich immer wieder Einzelper- feindlichen Kriegern. Das Eindringen der Mongo- sonen durch ihren ausserordentlichen Charakter len in den östlichen Teil der islamischen Welt löste und ihre ganz individuelle Gotteserfahrung her- vielmehr auch umfangreiche Migrationsbewegun- vorgetan. Diese für die Anfänge der islamischen gen aus. Einerseits gelangten viele mongolisch- Mystik typische Situation soll hier nur im Vorbei- stämmige Turkvölker nach und Ostanatolien. gehen mit dem Hinweis auf einige zentrale Figu- Die ortsansässigen Einwohner machten sich oft ren verdeutlicht werden. Den weiteren Ausführun- bereits auf die Flucht, bevor die Mongolen selbst in gen sei die Bemerkung vorausgeschickt, dass der ihre frühere Heimat einfielen. In dieser gemeinhin zur Bezeichnung der islamischen Mystik verwen- als Khorasan bekannten Gegend lassen sich ander- dete Begriff Sufismus gern mit dem Ausdruck seits seit dem 12. und verstärkt dem 13. Jh. aber ṣūf (Wolle) in Zusammenhang gebracht wird. Die auch bedeutende religiöse Veränderungen beob- Sufis wären demnach jene Männer und Frauen, achten. Davon ist in erster Linie die islamische die wollene Kleidung tragen und dadurch die Mystik (Sufismus) betroffen. für ihre Lebenshaltung charakteristische Armut Es ist hier der inzwischen überholten Auffas- ( faqr) und Weltentsagung (zuhd) zum Ausdruck sung entgegenzutreten, dass es sich bei der isla- bringen.3 mischen Mystik (taṣawwuf ) um eine ausschliess- Die spätere Sufi-Literatur identifizierte im nach- lich auf das jenseitige Wohlergehen des Menschen hinein bereits im unmittelbaren Umfeld des Pro- ausgerichtete Erscheinung handle. Der Sufi wird pheten Muḥammad verschiedene Persönlichkei- zwar gern als weltabgewandter Eremit verstan- den, der unbehelligt von den Entwicklungen und Umwälzungen in seinem Umfeld seine spiritu- 1 Man beachte gerade auch die Praxis der vierzigtägi- ellen Ziele zu realisieren versucht. Es soll auch gen Klausur (čilla); vgl. dazu unten Kapitel 3.4.2, nach Anm. 462. nicht in Abrede gestellt werden, dass es im islami- 2 Zum Prozess der Ordensbildung vgl. Trimingham Sufi schen Kulturraum derartige weltabgewandte Mys- orders 1–30, I. The formation of schools of mysticism; tiker tatsächlich gegeben hat. Allerdings deuten Knysh, Islamic mysticism v.a. 169–179 (Kapitel 8: The rise zahlreiche Beobachtungen darauf hin, dass Welt- of the ṭarīqas). Zu einer modernen Definition der islami- schen Mystik (taṣawwuf ) vgl. Green, u.a. 1–3. abgewandtheit zwar ein wichtiger Aspekt des Sufi- 3 Siehe dazu Knysh, Islamic mysticism 5, wo auch weitere Ideals darstellt.1 Bereits ab dem 12. Jh. machen Erklärungen des Ausdrucks Sufismus; Trimingham, Sufi orders 1.

© Tobias Nünlist, 2020 | doi:10.1163/9789004429154_004 This is an open access chapter distributed under the terms of the CC BY-NC-ND 4.0 license. Tobias Nünlist - 9789004429154 Downloaded from Brill.com10/01/2021 07:31:33AM via free access 66 kapitel 3 ten, die diesen Idealen nachlebten.4 Sie wären (810–261/875) Erwähnung,14 auf den das Konzept sozusagen als Sufis avant la lettre zu bezeichnen. des fanāʾ, des Entwerdens in Gott, zurückgehen Dazu zählen Abū Ḏarr al-Ġifārī (gest. 32/652)5, dürfte.15 Dieses Bestreben erklärt sich aus monisti- Abu d-Dardāʾ (gest. 32/652) und seine Frau Umm schen Vorstellungen, kann neben Gott doch nichts ad-Dardāʾ6, Salmān al-Fārisī (gest. 35/655 oder anderes bestehen. Auch Manṣūr al-Ḥallāǧ war von 37/657)7, Ḥuḏayfa b. al-Yaman (gest. 37/657)8 und Basṭāmīs Auffassungen geprägt worden.16 Er hat ʿImrān b. al-Ḥusayn al-Ḫuzāʿī (gest. 53/672 oder für seine besondere Art der Annäherung an Gott 54/673)9. einen hohen Preis bezahlt, ist ihm doch gerade Im frühen Sufismus (7.–9. Jh.) lässt sich ein wegen seines Ausrufs Anā l-ḥaqq („Ich bin Gott.“) auffälliges Nebeneinander von Gerichtsfurcht und der Vorwurf der Ketzerei gemacht worden. Er Liebesmystik beobachten. In dieser ersten Ent- wurde in Bagdad auf grausame Weise hingerichtet wicklungsphase nahm die asketische Haltung der (309/922). Sufis einen zentralen Platz ein. Dies kommt u.a. Obwohl Muḥammad einen Kult um seine Per- im Leben Ḥasan al-Baṣrīs (gest. 110/728) zum Aus- son ablehnte, lässt sich doch bereits in dieser frü- druck, der sich gerade durch seine negative Einstel- hen Phase (ab dem 8. Jh.) die Entwicklung einer lung gegenüber dem Diesseits hervortat.10 Etwas Muḥammad-Mystik beobachten.17 In Muḥammad später lebte Ḏū n-Nūn al-Miṣrī (gest. 859 oder hat sich das alles überstrahlende Licht Gottes 245/860).11 Erwähnung verdient sodann Ǧunayd manifestiert. Um die Person des Propheten entwi- al-Baġdādī (gest. 298/910).12 Gern wird bei der ckelte sich eine Lichtmystik, die um 900 voll ausge- Aufzählung wichtiger Vertreter der frühen Mystik bildet war (nūr muḥammadī).18 Aus dieser Vereh- mit Rābiʿa al-ʿAdawiyya (ca. 95–185/714–801) auch rung des Propheten heraus – sie lässt sich auch in auf eine Frau verwiesen. Für sie stellte die Liebe der breiten Bevölkerung beobachten – ging später das zentrale Element in der Beziehung zwischen das Konzept des vollkommenen Menschen (insān Gott und dem Menschen dar.13 Unter den frühen kāmil) hervor. Frommen verdient überdies Abū Yazīd al-Basṭāmī Während die spirituellen Erlebnisse individuel- ler Gottsucher die Anfänge der islamischen Mys- tik prägen, lässt sich in einer zweiten Phase 4 Vgl. Knysh, loc. cit. (ca. 10.–12. Jh.) eine Systematisierung dieser Erfah- 5 Afsaruddin, Abū Ḏarr al-Ghifārī, in EI3; Robson, Abū rungen beobachten.19 Die Verfasser von systema- D̲h̲arr, in EI2; Tayob, Abū Dharr al-Ghifārī, in The Oxford Encyclopedia of the Islamic World I, 23–24. tisch angelegten Werken sind darum bemüht, den 6 Vgl. Melchert, Abū l-Dardāʾ, in EI3; Jeffrey, Abu ’l-Dardāʾ, zunehmend heftigeren Anfeindungen aus dem in EI2. Umfeld des traditionalistisch orientierten 7 Levi Della Vida, Salmān al-Fārisī, in EI2; Knysh, Islamic entgegenzutreten und Wesen und Zielsetzungen mysticism 5; Renard, Sufism 209f.; Schimmel, Mystische des Sufismus zu erklären. Zu diesem Schrifttum Dimensionen 52f. 8 Ḥuḏayfa b. al-Yaman zählt zu den Ahl aṣ-Ṣuffa; vgl. zählt Abū Ṭālib al-Makkīs (gest. 386/996) Qūt Tottoli, Ahl al-Ṣuffa, in EI3. 9 Knysh, Islamic mysticism 5f. 10 Ritter, Ḥasan al-Baṣrī, in EI2; Schimmel, MystischeDimen- 14 Vgl. Mojaddedi, al-Bisṭāmī, Abū Yazīd (Bāyazīd), in EI3. sionen 54–56. 15 Vgl. Schimmel, Mystische Dimensionen, 207–213; Knysh, 11 Vgl. Schimmel, Mystische Dimensionen 71–78, und ihr Islamic mysticism u.a. 69–72. Index s.v. Dhu ’n-Nun; Mojaddedi, Dhū l-Nūn Abū l-Fayḍ 16 Vgl. Schimmel, Mystische Dimensionen, 100–120, und ihr al-Miṣrī, in EI3. Index s.v. Hallaj; Knysh, Islamic mysticism 72–82. 12 Vgl. Arberrry, D̲j̲unayd, in EI2; Schimmel, Mystische 17 Schimmel, Mystische Dimensionen 305f. Dimensionen 87–90, und ihr Index s.v.Junaid; Knysh, Isla- 18 Vgl. Rubin, Nūr muḥammadī, in EI2; derselbe, Pre- mic mysticism 52–56. existence and light. 13 Zu ihr siehe Smith, Rābiʿa; Knysh, Islamic mysticism 26– 19 Siehe Ernst, Eternal garden 9–13 (22004); Creming, Sufis- 32. mus 144f.

Tobias Nünlist - 9789004429154 Downloaded from Brill.com10/01/2021 07:31:33AM via free access sufismus und futuwwa 67 al-qulūb.20 Ebenso hierhin gehört Abū Naṣr as- bīs (gest. 638/1240) Name darf in einer Aufzäh- Sarrāǧs Kitāb al-lumaʿ, das die Aussagen bedeuten- lung bedeutender Philosophen-Mystiker nicht feh- der Vertreter der islamischen Mystik zusammen- len.30 stellt.21 Ähnliche Zielsetzungen verfolgen Sulamī Die soeben angeführten Mystiker haben vor (gest. 937/1021) in den aṭ-Ṭabaqāt aṣ-ṣūfiyya22 1250 gelebt. Zwar gibt es selbstredend auch nach und Qušayrī (gest. 465/1072) in seiner berühm- der Mitte des 13. Jh. immer wieder Einzelpersonen, ten Risāla.23 Huǧwīrī (gest. ca. 465/1072) wiederum deren Ruf auf ihrer ausserordentlichen Frömmig- stellt in seinem persischen Kašf ul-maḥǧūb die keit beruht. Allerdings besteht die bedeutendste Lehren und Biographien wichtiger Sufis zusam- Entwicklung in der islamischen Mystik ab dem men.24 Ähnliche Feststellungen treffen auf ʿAṭṭārs 13. Jh. doch darin, dass sie sich zunehmend für (gest. ca. 618/1221) Taḏkirat ul-awliyāʾ zu.25 ʿUmar breitere Kreise der Bevölkerung öffnet. Damit ist as-Suhrawardī (1145–1234) seinerseits hielt die Leh- auch eine grundlegende Veränderung ihrer Orga- ren und Übungen des Sufismus in einer konzisen nisation und Strukturen verbunden. Es kommt ab Übersicht fest.26 dem 13. Jh. zur Ausbildung von Orden (ṭarīqa, Pl. Im Zusammenhang mit der Mystik sind in ṭuruq). Diese Entwicklung geht mit einer Systema- dieser zweiten Phase auch mehrere Autoren zu tisierung des mystischen Erlebens selbst einher.31 erwähnen, die zugleich als Philosophen tätig Diese Prozesse waren bereits im 12. Jh. – und waren. Dazu zählt u.a. Ibn Sīnā (gest. 428/1037), ansatzweise im 11. Jh. – in Gang gekommen, setz- der mehrere Schriften esoterischen Inhalts ver- ten sich aber in indirekter Abhängigkeit vom fasst hatte.27 Hierhin gehört sodann Abū Ḥāmid Mongolensturm nach 1250 mit erhöhter Intensität al-Ġazzālī (gest. 505/1111).28 Er vertrat gemässigte fort. Sie führen auf dem Gebiet der islamischen Positionen und bemühte sich darum, die tradi- Mystik zur Ausbildung von Derwischorden und tionalistisch orientierte Theologie und die isla- weiteren damit wesensverwandtenVereinigungen. mische Mystik miteinander in Einklang zu brin- Zu diesen Vereinigungen gehören die Futuwwa- gen. Im Gegensatz zu andern Mystikern war Ġaz- Bünde (13. Jh.), die Aḫī-Bruderschaften (14. Jh.) zālī unter den Seldschuken (431–590/1040–1194) und die Handwerksgilden (ṣinf; Pl. aṣnāf; 15.–16. auch politisch aktiv. Sein Bruder Aḥmad-i Ġaz- Jh.).32 Diese Männerbünde lassen sich oft kaum zālī (gest. 520/1126) wiederum war Mystiker im voneinander unterscheiden. Die vorangehenden engeren Sinn, wie sich anhand seiner Aphorismen- historischen Ausführungen haben auch verdeut- sammlug Sawāniḥ aufzeigen lässt.29 Auch Ibn ʿAra- licht, dass derartige aus Männerbünden entstan- dene Gruppierungen in die machtpolitischen Ent- 20 Ohlander, Abū Ṭālib al-Makkī, in EI3; Knysh, Islamic wicklungen eingriffen. Die weiteren Ausführungen mysticism 121f.; al-Makkī, Die Nahrung der Herzen. befassen sich aber nicht mit diesen machtpoliti- 21 Lory, al-Sarrād̲j̲, in EI2; Knysh, Islamic mysticism 118–120; schen Aspekten, sondern gehen in erster Linie den Sarrāǧ, Schlaglichter. 22 Böwering, al-Sulamī, in EI2; vgl. Schimmel, Mystische weltanschaulichen Auffassungen und Zielen die- Dimensionen 130–133; Knysh, Islamic mysticism 125–127. ser Gruppierungen nach. 23 Vgl. Halm, al-Ḳus̲h̲ayrī, in EI2; Knysh, Islamic mysticism H.J. Kissling hat sich wiederholt mit den Eigen- 130–132. heiten des Derwischtums befasst und den Ver- 24 Hidayet und Massé, Hud̲j̲wīrī, in EI2; Knysh, Islamic mysticism 132–135. hältnissen in Anatolien besondere Beachtung 25 Vgl. Omid, ʿAṭṭār, Farīd al-Dīn, in EI3; Ritter, Meer der Seele. 30 Chittick, Ebn al-ʿArabī, in EIr; Knysh, Islamic mysticism 26 Knysh, Islamic mysticism 195–203 und 203–207. 163–168. 27 Vgl. et al., , in EIr. 31 Siehe Ernst, Eternal garden 14f. (22004); Green, Sufism 28 Böwering et al., Ḡazālī, Abū Ḥāmed Moḥammad, in EIr. 81f. 29 Pourjavadi, Ḡazālī, Majd-al-Dīn Abu’l-Fotūḥ Aḥmad, in 32 Diese Gruppierungen werden später eingehender vorge- EIr. stellt; vgl. Kapitel 3.2.

Tobias Nünlist - 9789004429154 Downloaded from Brill.com10/01/2021 07:31:33AM via free access 68 kapitel 3 geschenkt.33 Er versteht Derwischorden grund- Die Spannweite der in der einstigen Partei ʿAlīs sätzlich als Männerbünde. Wegen ihrer eindeu- (šīʿat ʿAlī) vertretenen Auffassungen vergrösserte tig religiösen Ausrichtung sind Derwischorden sich in kurzer Zeit. Sie umfasste die der Orthodo- gerade im Westen mit dem Mönchtum verglichen xie eng verbundene Fünfer-Schia (Zaydiyya). Die worden. Eine derartige Angleichung ist allerdings Siebner-Schia, auch als Ismāʿīliyya bekannt, spielte allein schon daher unstatthaft, da im ein während der Kreuzzugszeit eine wichtige Rolle. gesellschaftliches Gegenstück zur christlichen Kir- Die Mongolen hatten dieser im Westen auch als che fehlt. Die christlichen Mönchsorden zeichnen Assassinen bekannten Gruppierung mit der Ein- sich in religiösen Fragen durch eine grosse Lini- nahme ihrer Festung Alamut (1256) einen her- entreue aus. Sie stellen wichtige Knotenpunkte ben Rückschlag versetzt. Zum grossen Gebilde der im übergeordneten Kirchengefüge dar. Das Feh- Schia gehört ebenso die Zwölfer-Schia, auch als len kirchlicher Strukturen im Islam verbietet aber Imāmiyya bekannt, die im Jahr 1501 in Iran zur eine derartige Funktion von Derwischorden. Diese Staatsreligion proklamiert wurde. Zur Schia zäh- Bemerkungen zeigen auch auf, dass es sich bei len sodann unterschiedliche extremistisch ausge- den Derwischorden und weiteren Männerbünden richtete Gruppierungen (Ġulāt-Schia). Ihr Extre- nicht um eine Vorausabteilung eines traditionalis- mismus äussert sich primär darin, dass sie in Imam tisch orientierten Islams handelt. ʿAlī eine Verkörperung Gottes erkennen.35 Die Derwischorden sind nicht aus der von Die vielfältigen Überbleibsel vorislamischer re- den Gelehrten (ʿulamāʾ) getragenen islamischen ligiöser Vorstellungen fanden gerade unter dem Orthodoxie heraus entstanden. Sie weisen viel- Deckmantel der ʿAlī-Verehrung eine neue Hei- mehr enge Bezüge zu den religiösen Auffassun- mat.36 In diesen oft auch politisch motivier- gen und hergebrachten Vorstellungen auf, wie sie ten Gruppierungen konnten neoplatonische Ideen aus der breiten Bevölkerung bekannt sind (Volksis- und indisches Gedankengut ebenso gedeihen wie lam). In den Derwischorden lassen sich zahlreiche mystisch-pantheistische Auffassungen. Überdies Auffassungen feststellen, die von grundlegenden gelangten im Gefolge des Mongolensturms reli- Dogmen des Islams abweichen und eine grosse giöse Vorstellungen aus Zentralasien (z.B. Scha- Nähe zu unter dem Oberbegriff Schia, gerade auch manismus) nach Westen.37 All diesen Strömun- der Ġulāt-Schia, bekannten religiösen Strömungen gen gemeinsam ist, dass sie oft nur oberfläch- aufweisen.34 lich ein islamisches Gepräge angenommen hat- Die Schia entwickelte sich früh zu einer eigent- ten. Zugleich machen sich in diesen Entwicklun- lichen Anti-Bewegung. Diese Feststellung trifft gen aus dem Sufismus bekannte Ideen bemerk- sowohl in politischer als auch religiöser Hin- bar. Einzelne Gruppierungen aus dem Umfeld der sicht zu. Die Schia fungiert unter diesen Voraus- Schia und aus jenem des Sufitums näherten sich setzungen als Sammelbecken unterschiedlichster Kreise mit heterodoxen Auffassungen und auch 35 Moosa, Extremist Shiites IX: „Members of these [Ghulāt] unter sich selbst verfeindeter Gruppierungen. Im sects […] share common religious beliefs, the most fun- Lauf dieser Entwicklungen fanden auch nicht- damental being that the Imam Ali […] is God.“ Auch den islamische Vorstellungen, gerade solche neoplato- weiteren schiitischen Imamen werden gern gottähnliche Züge zugeschrieben. Zur Ġulāt-Schia vgl. bereits Kapitel nischer Natur, Eingang in die Schia. Dies war mit 2, vor Anm. 147 und bei Anm. 224–225; auch Kapitel 3.1.3, der Ausbildung eigentlicher Häresien verbunden. bei Anm. 115–118. 36 Kissling, Derwischorden 3. 37 Vgl. zu den Einflüssen aus dem Schamanismus oben Kapitel 2, bei Anm. 22–23 und Anm. 99; siehe auch 33 Kissling, Derwischorden; derselbe, orders in the einen Hinweis bei Eliade, Shamanism 402f., auf Barāq . Bābā. Man beachte überdies Köprülüzade, Influence du 34 Kissling, Derwischorden 2f. chamanisme 14–19.

Tobias Nünlist - 9789004429154 Downloaded from Brill.com10/01/2021 07:31:33AM via free access sufismus und futuwwa 69 einander an, da sie in der ʿAlī-Verehrung und Auch H. Sohrweide macht darauf aufmerk- im Imam- bzw. Mahdī-Kult wesentliche Gemein- sam,42 dass im Verlauf dieser Invasionen, zuerst samkeiten zu erkennen glaubten. Zahlreiche Der- jener der Seldschuken, dann jener der Mongo- wischorden weisen eine grosse Nähe zu ʿalidisch- len, zahlreiche türkische Scheiche (türkisch: bābā, schiitischen Auffassungen auf. Dies kommt auch ) nach Westen gekommen seien. Im 13. Jh. darin zum Ausdruck, dass ihre häufig auf habe es sich bei ihnen häufig um - ʿAlī b. Abī Ṭālib zurückgeht.38 Dies ist selbst dann und Yasawiyya-Derwische gehandelt. Sie seien v.a. der Fall, wenn der betreffende Orden eigent- unter den türkischen und mongolischen Noma- lich zur Sunna gehört. Allerdings ist hier doch denstämmen aktiv gewesen. Man konnte ihnen anzumerken, dass diese einer historisch- jedoch auch in den Städten und an den Fürs- kritischen Überprüfung zumeist nicht standhal- tenhöfen begegnen. Sie hätten einen mystisch ten.39 Sie bringen jedoch die in diesen Gruppierun- geprägten Islam mit ʿalidischem Hintergrund ver- gen herrschenden Grundhaltungen gut zum Aus- treten. Unter den Stämmen sei das althergebrachte druck. Die älteren Glieder in dieser silsila sind den Brauchtum aus Zentralasien leicht islamisiert wei- meisten Orden gemeinsam und werden als klassi- tergepflegt worden. Die Städter hätten in den scher isnād bezeichnet. Angehörigen dieser Nomadenstämme und ihren H.J. Kissling charakterisiert dieses Nebeneinan- Scheichen jedoch Häretiker gesehen. der von religiösen Vorstellungen unter der breiten Bereits die Ausführungen zu den historischen Bevölkerung in der islamischen Welt, vornehm- Entwicklungen enthielten Hinweise auf den Auf- lich ausserhalb Arabiens, als „organisierte Mystik“. bau von Derwischorden, wobei die Ṣafawiyya in Der Begriff „organisierte Vorhofreligion“ charakte- Ardabil im Vordergrund stand.43 Es ist dennoch risiert das Wesen der Derwischbünde am besten. angezeigt, hier nochmals auf allgemeine Merk- Die in diesem Umfeld vertretenen Auffassungen male dieser Gruppierungen hinzuweisen.44 Bei der bilden den ideologischen Nährboden, auf dem die kleinsten Einheit, die sich noch als Bundesgebilde Derwischorden ab dem 12. und 13. Jh. gedeihen bezeichnen lässt, handelt es sich um die zāwiya können. In Anatolien finden diese Orden erst im (arabisch), den ḫānaqāh (persisch) bzw. die tekke 14. und 15. Jh. ihre definitive Ausbildung.40 (türkisch). Der Begriff wird gern mit „Derwisch- Die Ursprünge dieser Volksbewegung verlie- kloster“ übersetzt, wobei der Ausdruck „Konvent“ ren sich im Dunkeln. Man bringt ihren Aufstieg unverfänglicher ist. Hier lebt eine kleine Zahl von zumeist mit den grossen Migrationsströmen in Ordensbrüdern zusammen. Die Quellen bezeich- Verbindung, die durch das Vordringen der Mon- nen bereits Zentren mit 25–30 Derwischen als golen nach Westen ausgelöst worden sind. Dies gross. Diese Derwische sind einem Vorsteher (ara- führte zu einer Masseninvasion von Wanderder- bisch: šayḫ; persisch: pīr; türkisch: bābā, dede) wischen aus Zentralasien und Khorasan (Nordost- unterstellt und ihm zu bedingungslosem Gehor- Iran) nach Anatolien und letztlich bis nach Rume- sam verpflichtet. Die Ordensbrüder nehmen in lien.41 ihrem Konvent bestimmte Aufgaben wahr. Es soll hier besonders auf die als murīd bekannten Novi- zen hingewiesen werden. Sie werden nach einer 38 Eine gewichtige Ausnahme ist die Naqšbandiyya, die auf mehrjährigen Ausbildung als Vollmitglieder in den Abū Bakr zurückgeht; zur Naqšbandiyya vgl. Knysh, Isla- Orden aufgenommen, was ihnen in einer iǧāza mic mysticism 221–234, und sein Index s.v. „Naqshban- diyya“ (345); Öztürk, The eye of the heart 107–109. 39 A. Kasrawī hat dies für die Ṣafawiyya exemplarisch auf- gezeigt; vgl. Kapitel 2, Anm. 154. 42 Sohrweide, Ṣafaviden 101f. 40 Kissling, Derwischorden 4. 43 Vgl. oben Kapitel 2.4. 41 Loc. cit. 44 Kissling, Derwischorden 4f.

Tobias Nünlist - 9789004429154 Downloaded from Brill.com10/01/2021 07:31:33AM via free access 70 kapitel 3

(Befähigungszeugnis) bestätigt wird.45 Diese Kon- ausbilden, der sich durch sein persönliches Cha- vente bieten übrigens Fremden ohne Rücksicht auf risma auszeichnet.48 Die Forschung hat wieder- ihre Glaubensauffassungen gastliche Aufnahme holt darauf hingewiesen, dass sich diese Entwick- an und unterstützen die Bedürftigen. lungen anfänglich v.a. in Zentralasien, besonders Ein Orden verfügt häufig über mehrere Neben- in Khorasan, feststellen lassen.49 Im Zentrum des konvente, deren Beziehungen zum Stammkon- Ordens steht dessen Stifter, wobei bei der Fest- vent unterschiedlich stark ausgebildet sind. In stellung der eigentlichen historischen Verhältnisse straff organisierten Gruppierungen bleiben auch grösste Vorsicht angebracht ist, haben diese Män- die Tochterkonvente eng mit dem Hauptzentrum nerbünde doch die Tendenz, sich ein möglichst des Ordens verbunden. Die Mawlawiyya mit ihrem hohes Alter zuzuschreiben. Zentrum in Konya stellt ein gutes Beispiel für Die Angehörigen und Sympathisanten dieser einen straff organisierten Orden dar. Weniger Männerbünde stammen oft aus proletarischen deutlich entwickelt sind die Bindungen im Fall Umfeldern und unterscheiden sich dadurch von der Bektāšiyya, deren Stammhaus im heute nach den Religionsgelehrten des Hochislams (ʿula- dem Ordensgründer Ḥācı Bektaş benannten Ort māʾ).50 Die Aufnahme in einen Derwischorden liegt.46 Im Fall der Ḫalwatiyya lassen sich der- ist aber nicht an eine bestimmte gesellschaftli- artige Abhängigkeiten kaum noch feststellen. Sie che Stellung oder intellektuelle Bildung gebun- stellt ein Konglomerat von Einzelzweigen dar, die den. Häufig wird die Vermutung geäussert, dass je einen eigenen Namen haben und sich oft zu „gelehrte Typen in den Derwischorden nicht ein- einem eigenständigen Orden entwickelt haben. mal besonders erwünscht waren“ (H.J. Kissling). Die Zahl der tatsächlich in den Konventen Zwar lassen sich auch weibliche Derwische nach- lebenden Angehörigen eines Ordens ist verhält- weisen. Sie stellen allerdings eher eine Begleit- nismässig gering. Allerdings lässt sich um diesen erscheinung dar, handelt es sich bei den Derwi- innern Kreis der Ordensbrüder ein deutlich zahl- schorden von ihrer Natur her doch um Männer- reicherer äusserer Kreis feststellen.47 Diese Mit- bünde. glieder führen weiterhin ein weltliches und priva- Die traditionalistisch ausgerichtete islamische tes Leben, nehmen jedoch regelmässig an religiö- Theologie nahm an den in Derwischkreisen ge- sen Übungen im lokalen Ordenszentrum teil. Aus- pflegten religiösen Auffassungen und Bräuchen serdem lässt sich um diese dem Orden enger ver- Anstoss, da sie ihr aus unterschiedlichen Gründen bundenen Mitglieder herum eine sehr grosse Zahl suspekt erschienen. Die oft übersteigerte Vereh- von Sympathisanten beobachten. Sie dominieren rung ʿAlīs war nicht einmal der hauptsächlichste oft ganze Landstriche, wie sich dies im Fall der Bek- Kritikpunkt, denn auch in sunnitischen Kreisen tāšiyya in späterer Zeit in Albanien beobachten wurde und wird ʿAlī grosse Wertschätzung ent- lässt. In solchen Konstellationen kann aber nicht mehr von Männerbünden die Rede sein; es handelt sich vielmehr um Kongregationen oder sogar sek- 48 Die Bezeichnung „heiligmässige Männer“ wurde von tenähnliche Gebilde. H.J. Kissling geprägt; vgl. z.B. seinen Aufsatz Die islami- Die Entstehung dieser Derwischorden ist im schen Derwischorden 10. B.S. Amoretti nennt dieselben Personen Häresiarchen und rückt damit eine weitere, einzelnen nicht geklärt. Es ist aber typisch, dass ebenso bedeutende Facette ihres Wirkens in den Vorder- sie sich um einen heiligmässigen Vorsteher herum grund (Religion in the Timurid an Safavid Periods, in CHI VI, 611). 49 Vgl. Knysh, Islamic mysticism 169–244, Kapitel 8: Unity 45 Für eine solche iǧāza aus der Rifāʿiyya vgl. Staatsbiblio- and diversity in Sufism: The rise of the ṭarīqas; beachte thek Berlin, Ms. or. fol. 1622. v.a. die Beispiele der Naqšbandiyya (218–234) und der 46 Ḥācı Bektaş zwischen Ankara und Kayseri. Kubrāwiyya (234–239). 47 Kissling, Derwischorden 5. 50 Kissling, Derwischorden 6f.

Tobias Nünlist - 9789004429154 Downloaded from Brill.com10/01/2021 07:31:33AM via free access sufismus und futuwwa 71 gegengebracht.51 Problematischer waren die oft Volk derart tief verwurzelt, dass der Schulislam sie kaum verhüllten pantheistischen Neigungen die- stillschweigend dulden und einen modus vivendi ser Gruppierungen. Auch ist dem Umstand Beach- damit finden musste. Gerade die Bektāšiyya liess tung zu schenken, dass in den Derwischorden das sich an jenen Stätten nieder, wo bereits vor der Isla- alte Glaubensgut und Brauchtum der erst frisch misierung Heilige, zumeist christliche Heilige, ver- und nur oberflächlich zum Islam konvertierten, oft ehrt worden sind. Dieses Phänomen ist unter dem aus Zentralasien eingewanderten Stämme weiter- Begriff der „utraquistischen Heiligen“ bekannt.54 gepflegt wurde. Dies führte zur Ausbildung eines Diese Voraussetzungen haben synkretistische Ent- von synkretistischen Elementen geprägten Islams. wicklungen selbstredend begünstigt. In ihrer ekstatischen Verfassung verfügen die Entscheidend ist nun, dass sich in der islami- Derwische über ausserordentliche Fähigkeiten. Sie schen Welt auch immer wieder lebendige Hei- sind in der Lage, Krankheiten zu heilen, können lige nachweisen liessen. Bei ihnen handelt es aber auch weitere Wunder wirken. Die Vorsteher sich zumeist um Derwische, gerade um Derwisch- der Derwischorden verfügen über diese Fähigkei- Šayḫs. Wenn den von Derwischen gewirkten Wun- ten in besonderer Weise. Das Volk schreibt ihnen dern auch viel Lug und Trug zugrunde liegen deshalb heiligmässige Eigenschaften zu und ver- mag, beeindruckten die entsprechenden Fähigkei- ehrt sie wegen ihrer Segenskraft (baraka). Es liegt ten doch gerade das breite Volk. Diese ausser- in der Natur der Sache, dass sich diese ausseror- ordentlichen Fähigkeiten erklären auch, dass die dentlichen Fähigkeiten der Derwisch-Šayhs einer Derwischorden derart grosse Bedeutung erlangen wissenschaftlichen Analyse stricto sensu entzie- konnten. hen. Jedenfalls rücken die Berichte über derar- H.J. Kissling macht darauf aufmerksam, dass tige Wunder die Derwische in bedrohliche Nähe die Heiligen im Islam gemäss ihren Fähigkeiten in zu den Zauberern (sāḥir), den Medizinmännern unterschiedliche Kategorien eingeteilt werden.55 bei Naturvölkern oder medial veranlagten Per- Jedenfalls müssen die an den Heiligen gerichte- sonen, wie sie aus der Moderne bekannt sind. ten Gebete erhört werden. Der wahre Heilige muss Gewiss ist auch, d