Martin Pfister, Thomas Zaugg

Porträt Bundesrat

Nicht im Handel Beitrag aus: Urs Altermatt (Hrsg.) Das Bundesratslexikon

1. Auflage 2019, S. 349–355 © 2019 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG Philipp Etter 349

55 Philipp Etter 1891 – 1977

1934 –1959 ZG, KVP

28. März 1934 Wahl in den Bundesrat

31. Dezember 1959 Rücktritt

1934 –1959 Departement des Innern

1939, 1942, Bundespräsident 1947, 1953

schied sich aber für ein Rechtsstudium und den Journalismus. Ende 1911 zog Etter zunächst nach Zürich. Dort absolvierte er ein journalistisches Lehrjahr bei Georg Baumberger, dem Doyen der christlich­ sozialen Bewegung und Chefredaktor der Neuen Zürcher Nachrichten. Gleichzeitig begann er 1912 an der Universität Zürich sein Jusstudium. In Herkunft und politische Laufbahn jenen Jahren stand Etter unter dem Eindruck der Am 21. Dezember 1891 im zugerischen Menzingen weltweiten Streikbewegungen und begrüsste die geboren, wuchs Philipp Etter in einfachen Ver- Organisation der Arbeiterschaft. Er kritisierte die hältnissen auf und wurde vom ländlichen Katholi- Auswüchse des kapitalistischen Systems ebenso zismus geprägt. Der Vater war Küfermeister, die wie den Marxismus. Nach der Russischen Revolu- Mutter führte einen kleinen Lebensmittelladen. tion 1917 und dem Landesstreik 1918 wurde die Früh sah man für Etter eine geistliche Laufbahn politische Linke für Etter zum Schreckbild. vor. Von 1907 bis 1911 besuchte er die Stiftsschule Der Lebenslauf Etters zeugt von einer exemp- Einsiedeln. Die barocke Atmosphäre des Marien- larischen katholisch-konservativen Politkarriere. wallfahrtsorts eröffnete Philipp Etter eine Welt, 1912 wurde er mit 20 Jahren Chefredaktor der ka- die er in Erinnerungen mit einer « zweiten Hei- tholisch-konservativen Zuger Nachrichten, die er mat » gleichsetzte. bis 1934 leitete. Trotz Redaktionsarbeit und Aktiv- Wie eine ganze Generation junger katholi- dienst als Infanterieoffizier konnte Etter 1917 sein scher Intellektueller wurde Etter geprägt durch Rechtsstudium in Zürich mit dem Lizenziat ab- die Aufbruchsstimmung in der katholischen So­ schliessen. Im gleichen Jahr erwarb er in Schwyz ziallehre, die Papst Leo XIII. mit seiner Enzy- das Anwaltspatent und wurde als 25-Jähriger in klika Rerum novarum 1891 gefördert hatte. Den Zug zum Verhörrichter ernannt. Ein Jahr darauf « Quertreibereien und Drohfingern unserer Gross­ erfolgte die Wahl in den Kantonsrat. Im Mai 1918 industrie », wie der 20-jährige Etter sich 1912 heirateten Philipp Etter und Marie Hegglin, die ausdrückte, sollte christliche Gerechtigkeit entge- ebenfalls aus Menzingen stammte. Die Familie gengehalten werden. Der Stiftsgymnasiast hätte ­Etter, die bald insgesamt zehn Kinder zählte, lebte Benediktiner oder Jesuit werden sollen, er ent- in relativ bescheidenen Verhältnissen. 350 Philipp Etter

Im Alter von 31 Jahren wurde Etter 1923 Zuger Wahl 28. März 1934

­Regierungsrat und übernahm die Erziehungs- und ausgeteilte Stimmzettel 218 Militärdirektion. 1930 zog er in den Ständerat ein. eingegangene Stimmzettel 217

Zu Beginn der 1930er-Jahre gehörte Philipp Etter leer 11 zu den einflussreichen Meinungsmachern in Zugs ungültig – konservativen Kreisen. In zwei für die katholische gültig 206 absolutes Mehr 104 Jugendbewegung verfassten Schriften deutete er 1933/34, inspiriert durch die päpstliche Enzyklika Philipp Etter wird im 1. Wahlgang mit 115 Stimmen Quadragesimo anno, die Weltwirtschaftskrise als zum Nachfolger von Bundesrat Musy gewählt. das Ende der liberalen Ära. Das Christentum solle Weitere Stimmen : wieder an Einfluss gewinnen, und die Fehler des Johannes Huber (SG, soz.dem.) 62 Emil Mäder (SG, kath.-kons.) 20 Wirtschaftsliberalismus müssten bekämpft wer- vereinzelte Stimmen 9 den, meinte Etter und warnte gleichzeitig vor ei- ner zu autoritären Reaktion. Seine Erneuerungs­ rhetorik zielte auf eine Veränderung im « Geist ». Damit mässigte er die Forderungen der Partei­ jallaz-Faschismus in der Waadt passte. Sie waren jugend nach institutionellen Reformen. Am auf- überzeugt, dass Etter die bürgerliche Allianz nicht kommenden Frontismus in der Schweiz kritisierte mit Alleingängen nach Musys Art strapazieren Etter unter anderem die Nachahmung der « Ju- würde. Andererseits bot sich für KVP-Fraktions- denhetze » in Deutschland. Zugleich bezeichnete chef Heinrich Walther und die Katholisch-Kon- er mit antisemitischen Stereotypen einen Zustrom servativen der Innerschweiz die Möglichkeit, den jüdischer Flüchtlinge als unerwünscht. Freiburger Flügel um Musy zu zähmen. Die letzten Zweifel von freisinniger Seite wur- Bundesratswahl den kurz vor der Wahl zerstreut. FDP-Bundesrat 1934 traten innerhalb von wenigen Tagen zwei suchte Etter zu einem Ge- Bundesräte zurück : am 12. März der Freisinnige spräch auf. Im Aargauer Tagblatt, der Hauszeitung Heinrich Häberlin, weil sein Staatsschutzgesetz von Schulthess, erschien schliesslich eine Wahl­ vom Stimmvolk abgelehnt worden war, und am empfehlung. Mit 115 Stimmen bei einem absoluten 22. März der Katholisch-Konservative Jean-Marie Mehr von 104 wurde Ständerat Etter am 28. März Musy (heute CVP), der das Machtvakuum hatte 1934 im ersten Wahlgang gewählt. Das Wahlergeb- ausnützen wollen, um eigene Reformen durchzu- nis zeugte von einem gewissen Misstrauen der drücken. Linken und einem Teil der Freisinnigen gegen- Etter sprach sich in jenen Tagen wiederholt über dem « Kreuzritter Philipp » und « Freisinns- gegen eine Wahl in den Bundesrat aus. Sorgen fresser », wie Etter von politischen Gegnern ge- über mangelndes Fachwissen, finanzielle Beden- nannt worden war. Mit der Wahl von Etter für den ken und ein schlechtes Gewissen gegenüber der französischsprachigen Musy verlor die Romandie Familie lösten schwere Zweifel bei ihm aus. Seine einen Sitz im Bundesrat, den sie erst 1947 wieder- Kandidatur wurde von den Spitzen der Konser­ erlangte. vativen Volkspartei (KVP) gefördert. Im Hinter- Dass Jungkonservative und Frontisten den grund zogen jedoch führende Freisinnige, allen Wechsel im Bundesrat als einen Sieg verbuchten, voran Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz, die war die eigentliche Täuschung hinter der Wahl Fäden. Die westschweizerischen Freisinnigen ­Etters. Der 42-jährige Zuger Konservative vermit- ­sahen in Etter einen frankophilen, föderalistisch telte zwar den Eindruck eines volksnahen, autori- und antisozialistisch gesinnten Innerschweizer, tären Landesvaters, der auf eine « christliche Re- der gut in ihre Sammelbewegung gegen den Fon- generation unserer schweizerischen Demokratie » Philipp Etter 351

hoffte. Zugleich aber vertrat Etter als Exponent zahlreiche neue Aufgaben übertragen wurden. der gemässigten Innerschweizer Linie seiner « Etternell », wie er gegen Ende seiner Karriere an ­Partei eine ausgesprochen vorsichtige Haltung. der Basler Fasnacht genannt wurde, war bereits Er war der Meinung, dass die berufsständische 1940 mit dem Rücktritt der Bundesräte Baumann Neuordnung der Wirtschaft, ein zentrales katho- und Minger und dem Tod von lisch-konservatives Programmelement, wenn nach Bundesrat Pilet-Golaz der amtsälteste De- überhaupt nur durch die Wirtschaft selbst und nie partementsvorsteher. Diese Position verschaffte von oben durch einen « Korporationenstaat » ein- ihm früh und über Jahre hinaus eine zentrale zuführen sei. Im Gegensatz zum Freiburger Musy ­Rolle im Bundesratsgremium. hatte sich Etter zudem 1931 für die Einführung der Ab der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre enga- AHV eingesetzt. gierte sich Etter in der « Geistigen Landesverteidi- gung », die nachhaltig in die Ideengeschichte ein- Tätigkeit als Bundesrat ging. Verschiedene politische Kreise hatten seit Philipp Etter blieb während 25 Jahren im Bun­ 1935 eine Antwort auf die deutsche Propaganda desrat, so lange wie niemand mehr nach ihm. Er und andere Bedrohungen der schweizerischen übernahm das damals noch wenig bedeutende ­Eigenständigkeit gefordert. In seiner Botschaft ­Innendepartement, dem während seiner Amtszeit über « Kulturwahrung und Kulturwerbung » vom

Der Gesamtbundesrat an der Eröffnung der Landesausstellung 1939 in Zürich. In der vorderen Reihe v. l. n. r. Marcel Pilet-Golaz, Bundespräsident Philipp Etter und Giuseppe Motta ( Keystone ). Winston Churchill am 17. September 1946 im Gespräch mit den Bundesräten Nobs, Kobelt und Etter ( v. l. n. r. ) auf Schloss Allmendingen bei ( Staatsarchiv des Kantons Bern, T. 1112 ).

9. Dezember 1938 beschwor der Zuger Bundesrat te er sich 1937 gegenüber einem Freund. Am Ende den geistigen Zusammenhalt der mehrsprachigen formulierte Philipp Etter den Minimalkonsens Schweiz auf dem Gotthardpass mit ­seinen vier ­einer Kulturpolitik, die nicht unumstrittenen sprachlich-kulturellen Quellen : « Der schweizeri- war. Teile der politischen Linken hätten sich ein sche Staatsgedanke ist nicht aus der Rasse, nicht weniger ländliches Bild der Schweiz und mehr aus dem Fleisch, er ist aus dem Geist geboren. » In Subventionen für die Kultur gewünscht. Der ultra- zahllosen Reden prägte Etter als Bundespräsident konservative Freiburger Schriftsteller Gonzague das Jahr der Landesausstellung 1939 in Zürich und de Reynold legte Etter erfolglos nahe, in der Kul- die Erinnerung ganzer Gene­rationen. Seine Kul- turbotschaft die schweizerische Demokratie we- turpolitik mündete 1938 in die Anerkennung des niger stark zu betonen. Andere Intellektuelle wie Rätoromanischen als Landessprache, 1939 in die Karl Barth kritisierten die generelle Nationalisie- Gründung der Arbeits­gemeinschaft­ Pro Helvetia, rungstendenz. Angesichts dieser verschiedenen in Bemühungen für das Filmwesen, die Filmwo- Vorbehalte blieben Etters Bestrebungen oftmals chenschau und das schweizerische Kunstschaffen. Flickwerk. Die finanziellen Mittel der Pro Hel- Eine ­pessimistische, fremdenfeindliche Stimmung vetia, die der Bundesrat bewusst unter Einbezug durchzog teilweise die Krisenjahre und führte zu vieler Regionen und Minderheiten aufbaute, wa- Diskriminierungen ausländischer Künstler zu- ren zudem äusserst beschränkt. gunsten einheimischer. Mitten in die Landesausstellung 1939 fiel der Etter selbst war der geistigen Landesverteidi- Kriegsausbruch. Die bundesrätliche Haltung in gung zunächst skeptisch gegenübergestanden. Als den Jahren 1939 bis 1945 kann rückblickend als ein Föderalist störte ihn vor allem der zentralistische übertrieben vorsichtiger Pragmatismus bezeich- Propagandabegriff und die Forderung nach einer net werden. Die Regierung schwankte zwischen weitausholenden « nationalen Erziehung ». Über Anpassen und Durchhalten. Durch Todesfälle, die « Mist-ik [sic] » der Nationalsozialisten mokier- Rücktritte und Kompetenzstreitigkeiten mit dem Philipp Etter 353

General zusätzlich herausgefordert, machte der chen IKRK-Mitgliedern einen öffentlichen Appell Gesamtbundesrat besonders 1940 einen ge- gegen die Judendeportationen und die Luftangrif- schwächten Eindruck. Nach dem Zusammen- fe auf Städte. Etter verwies dabei unter anderem bruch Frankreichs hielt Bundespräsident Pilet- auf die Gefahr, die Einschränkung konkreter Golaz am 25. Juni 1940 eine Rede, die von den ei- Hilfsmöglichkeiten des Roten Kreuzes zu provo- nen als Ankündigung einer entbehrungsreichen zieren. Im August 1942 engagierte sich Etter ver- Zeit aufgefasst, von den anderen als defätistisch geblich für die Rettung der beiden zum Katholizis- gegenüber Nazi-Deutschland verstanden wurde. mus konvertierten Karmeliterinnen Edith und Philipp Etter, der diese Rede auf Deutsch vortrug, Rosa Stein sowie des Benediktinernovizen Paulus galt in autoritären Kreisen im Sommer 1940 als der Bernheim, die in Auschwitz umgebracht wurden. kommende Mann der Erneuerung. Die Ligue vau- 1943 unterstützte Etter, gegen den Widerspruch doise etwa schlug ihn als ständigen Bundespräsi- des Justizdepartements und von General Guisan, denten vor und sah in ihm eine Art Landammann ­einen Wehrbrief zur « Judenfrage », der antisemi- der Schweiz. Gegenüber solchen Ideen ging Etter tische Tendenzen in der Armee bekämpfte. Nach auf Distanz, auch wenn er die Diskussion mit 1945 wurde Etter als einem der prominentesten ­Erneuerungsbewegungen nicht verweigerte. Mitglieder des Kriegsbundesrats Versagen vorge- Im Zentrum von Etters eigenen Bestrebungen worfen. Er geriet auch in den Sog des wiederauf- standen föderalistische und berufsständische An- kommenden politischen Grabens zwischen links sätze, wie er sie Anfang der 1930er-Jahre propa- und rechts. giert hatte. Allerdings blieb er auch 1940 gegen- Die dritte Phase von Etters Amtstätigkeit war über einschneidenden politischen Reformen die Zeit der wirtschaftlichen und sozialen Neu- kritisch. Einen fundamentalen Widerspruch zu ordnung und der beginnenden Hochkonjunktur Faschismus und Nationalsozialismus sah Etter im nach 1945. Zu den wichtigsten Dossiers gehörten schweizerischen Föderalismus. Nicht alle Völker der Ausbau der Eidgenössischen Technischen des Kontinents müssten zu einem totalitären Hochschule, 1952 die Errichtung des Schweizeri- ­Regierungssystem übergehen, warnte er im Okto- schen Nationalfonds zur Förderung der wissen- ber 1940 de Reynold, mit dem er in regelmässigem schaftlichen Forschung, der vermehrte Schutz Briefaustausch stand. Er könne sich für die historischer Denkmäler, die Intensivierung des Schweiz « nicht recht vorstellen, wie Totalität und Alpen- und Nationalstrassenbaus sowie die Schaf- Föderalismus, Totalität des Staates und Christen- fung eines Filmartikels in der Bundesverfassung. tum sich vereinbaren liessen ». Im September 1955 wurde dem Innendepartement das Bundes- 1940 unterbreitete Etter der parlamentarischen amt für Sozialversicherung angegliedert, was das Vollmachtenkommission seine « Richtlinien » über EDI stark aufwertete. Unter Philipp Etter wurde die bundesrätliche Politik. Etters Ausführungen die AHV weiter ausgebaut und 1959 die Invaliden- zerstreuten Gerüchte um eine angeblich geplante versicherung als neues Sozialwerk eingeführt. autoritäre Totalrevision der Bundesverfassung. 1953 war der Innerschweizer ein viertes und letz- Schliesslich etablierte sich ab Ende 1940 eine tes Mal Bundespräsident. 1957 verzichtete er auf ­politisch breit abgestützte Durchhaltepolitik, die das Amt. weitgehende Konzessionen an die Achsenmächte beinhaltete. Rücktritt und spätere Tätigkeit Die vorsichtige Haltung seiner Bundesrats- Etters Rücktritt 1959 hing wesentlich mit der Ein- kollegen teilte Etter in der Pressezensur, in der führung der sogenannten Zauberformel in der Flüchtlingsfrage wie auch als Mitglied des Inter- ­Zusammensetzung des Bundesrats zusammen. nationalen Komitees vom Roten Kreuz. 1942 ver- Diese ging aus einer Absprache der Konservativ-­ hinderte er zusammen mit anderen einflussrei- Christlichsozialen (später CVP) mit den Sozial­ 354 Philipp Etter

demokraten hervor, die in den 1930er-Jahren noch der geistigen Landesverteidigung ein nationales zu Etters Hauptgegnern gehört hatten. Die SP Integrationskonzept, das breite Bevölkerungsteile zog sich 1953 kurzzeitig aus dem Bundesrat in ansprach. Insbesondere im Schicksalsjahr 1940 den « Jungbrunnen der Opposition » zurück. Doch lavierte er zusammen mit dem Gesamtbundesrat auch die Christdemokraten waren unzufrieden. und verfolgte in den weiteren Kriegsjahren einen Bereits bei den Bundeskanzlerwahlen von 1951 Kurs, der den Erhalt der staatlichen Unabhängig- hatte die FDP einen katholisch-konservativen An- keit ins Zentrum stellte. In der wirtschaftlichen wärter mit konfessionellen Argumenten abgelehnt. Dynamik der Nachkriegsjahre begleitete er mit Das Gefühl der Christdemokraten, nicht angemes- seinem Departement einen beispiellosen Ausbau sen vertreten zu sein, verstärkte sich weiter, als staatlicher Tätigkeit etwa in der Bildungs-, Sozial-, 1953 auch der demissionierende SP-Bundesrat Kultur- und Verkehrspolitik. durch einen Freisinnigen ersetzt wurde. Der Bun- Etters Biografie lässt sich in eine lange staats- desrat bestand nun aus vier FDP-Mitgliedern, politische Entwicklungsgeschichte einfügen. Die- zwei CVP-Vertretern und einem Sitz der SVP. se führt von dem auf bürgerlicher wie auch linker ­Etter, der schon 1954 hatte zurücktreten wollen, Seite mitgetragenen demokratisch-korporativen wartete in Absprache mit Parteisekretär Martin Staatsmodell der Vorkriegszeit zum sozialmarkt- Rosenberg zu, bis sich die politische Konstellation wirtschaftlichen Nachkriegskonsens. Zu dieser als günstig erwies, den Sozialdemokraten zwei Geschichte der politischen und sozialen Integra­ ­Sitze zur Verfügung zu stellen. Etter bekundete tion verschiedener gesellschaftlicher Gruppen keine Mühe damit, die einst gefürchtete Linke passt, dass Etter mit seinem verzögerten Rücktritt einzu­binden. Die inhaltliche Distanz zur SP hatte 1959 die Einführung einer Konkordanzregierung sich merklich verringert. Sein Rücktritt gemein- unter doppelter Vertretung der Sozialdemokratie sam mit drei weiteren Bundesräten leitete eine ermöglichte. neue Ära der Bundespolitik ein. Etter selbst entwickelte sich von einem katho- Während seiner fast 20 Jahre dauernden Pen- lisch-konservativen Milieupolitiker zu einem bür- sion mischte sich Philipp Etter nicht mehr in die gerlich-konservativen Bundesrat, der oft eine Politik ein. Nach Zug kehrte er nur noch tageweise­ Mittlerrolle einnahm. Gleichwohl blieb er kraft zurück. Er begann neben wenigen politischen vor seiner Ausstrahlung als Prototyp des katho- allem fröhliche Erinnerungen und literarische Er- lisch-konservativen Politikers in der Erinnerung zählungen zu verfassen. Mit Freunden ging er auf haften. Dies erklärt sich aus seinen rhetorischen Jagdausflüge. Er verstarb am 23. Dezember 1977 Fähigkeiten und seinem Talent zur politischen In- nach kurzer Krankheit 86-jährig in Bern. szenierung. Durch seine Schriftstellerei und seine vielen öffentlichen Auftritte wurde er legendär. Würdigung Seine Sprache « zündete », seine Reden waren « Ta- In Philipp Etters persönlicher Entwicklung als ten », sagten Freunde. Bundesrat spiegeln sich in gewisser Weise die Ver- In der Nachkriegszeit wurde Etter zu einer änderungen des schweizerischen Staatswesens Projektionsfläche für den Unmut und die Scham während der 25 Jahre seiner Amtszeit. So stand über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Etter bei seiner Wahl 1934 mitten in den europäi- Dabei geht oft vergessen, wie prägend Philipp schen Krisenjahren für die konservative Erneue- ­Etter für die Innenpolitik der Schweiz während rung, die sich auch als schweizerische Antwort eines ganzen Vierteljahrhunderts war. Von Weg- und gleichsam als Antibewegung zum National­ gefährten und Politikern anderer Parteien wurde sozialismus und zu den schweizerischen Fronten er im Rückblick oft so gewürdigt, wie er sich selbst verstand. In den Jahren vor dem Zweiten Welt- sah : als Vertreter einer geselligen Mitte. krieg entstand dann unter Etters Moderation mit Martin Pfister, Thomas Zaugg Philipp Etter 355

Zeitgenössische Stimmen Literaturhinweise « An Selbstbewusstsein fehlt es dem Manne nicht. Er be- – Paul Letter, Philipp Etter und seine Zeit 1891 – 1977, zeichnete sich selber als den Vertreter der Jugend. Das Freiburg im Üechtland 1981. hätte viel glaubhafter geschienen, wenn seine tadellose – Josef Widmer, Philipp Etter 1891 – 1977, in : Urs Alter- Glatze nicht von der Nase bis in den Nacken reichte. Ein matt (Hg.), Die Schweizer Bundesräte, Zürich/Mün- Blick in dieses zerwetterte Antlitz – nein, Jugend sieht chen 1991. anders aus. » (Volksrecht. Sozialdemokratisches Tag- – Georg Kreis, Philipp Etter – « voll auf eidgenössi- blatt der Stadt Zürich, 29. März 1934) schem Boden », in : Aram Mattioli (Hg.), Intellektuel- « Etter ist national zuverlässig, schwebt aber mit sei- le von rechts, Zürich 1995. ner Politik in den Wolken seiner Mystik und verarbeitet – Martin Pfister, Die Wahl von Philipp Etter in den zu wenig zuverlässig eine einmal vorhandene Situa­ Bundesrat 1934, ungedruckte Lizenziatsarbeit, Frei- tion. » (, 27. Dezember 1941, in : Ders., burg im Üechtland 1995. Tagebuch 1939–1941, Basel 2001, S. 618) « Der Ausgleich war immer sein Ziel. » (Martin Rosen­ Archiv berg, in : Bundesrat Dr. Philipp Etter. Eine Festgabe­ der Handakten im Schweizerischen Bundesarchiv. Privat- Freunde zu seinem siebzigsten Geburtstag, ­Olten 1961, nachlass im Staatsarchiv Zug. S. 74) « Die bitterste Enttäuschung war für mich jene Rede vom 25. Juni 1940, die Pilet-Golaz auf französisch und Philipp Etter auf deutsch am Radio hielten. Wie viele andere auch, empfand ich diese Rede als defaitistisch. » (Walther Bringolf, in : Luzerner Neuste Nachrichten, 24. Dezember 1977) « In seiner unkomplizierten, natürlichen Mensch- lichkeit war er für jedermann zugänglich. Ungezählte haben sich in kleinen und grossen Dingen an ihn ge- wandt. ‹Schreiben wir das einmal dem Bundesrat Etter›, so konnte man oft hören. Sehr vieler, sei es Einzelner oder Institutionen, hat er sich ganz persönlich ange- nommen. » (Pfarrer Johannes Stalder, Trauergottes- dienst vom 28. Dezember 1977, in : Heimat-Klänge. Kul- turelle Beilage zu den Zuger Nachrichten, 9. August 1978)

Reden und Schriften (Auswahl) – Grundriss der Verfassungsgeschichte der Schweize- rischen Eidgenossenschaft, Zug 1929. – Die vaterländische Erneuerung und wir, Zug 1933. – Die schweizerische Demokratie, Olten/Konstanz 1934. – Reden an das Schweizervolk, Zürich 1939. – Versuch einer Bilanz, in : Zuger Neujahrsblatt 1975, Zug 1974.