HELMUT LACHENMANN (*1935) Das Mädchen Mit Den Schwefelhölzern Musik Mit Bildern
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© A.T. Schaefer HELMUT LACHENMANN (*1935) Das Mädchen mit den Schwefelhölzern Musik mit Bildern CD1 CD2 1 Nr. 1 Auf der Straße („Oh du fröhliche“) 7:12 1 Nr. 16a Ritsch 3 0:28 2 Nr. 2 „In dieser Kälte“ 1:56 2 Nr. 16b Kaufladen 3:41 3 Nr. 3 „Frier-Arie“ 3:53 3 Nr. 17 Abendsegen 4:10 4 Nr. 4 Trio und Reprise 4 Nr. 18 „... zwei Gefühle ...“ 22:29 („Frier-Arie“ 2.Teil) 3:11 Musik mit Leonardo 5 Nr. 5 Scherzo („Königin der Nacht“) 2:38 5 Nr. 19 Hauswand 4 2:34 6 Nr. 6 „Schnalz-Arie“ – „Stille Nacht“ 3:06 6 Nr. 20a Ritsch 4 0:56 7 Nr. 7 „Zwei Wagen“ 0:52 7 Nr. 20b Großmutter 1:25 8 Nr. 8 „Die Jagd“ 3:51 8 Nr. 21 Nimm mich mit 2:57 9 Nr. 9 „Schneeflocken“ 4:19 9 Nr. 22 Himmelfahrt 2:58 10 Nr. 10 „Aus allen Fenstern“ 10:37 10 Nr. 23 Shô 10:00 1 1 Nr. 11 Hauswand 1 9:05 11 Nr. 24 Epilog 6:12 12 Nr. 12 Ritsch 1 („Ofen“) 3:55 13 Nr. 13 Hauswand 2 1:00 (Nr. 14 / Ritsch 2 „gedeckter Tisch / Hauswand 3“ - not applicable) 14 Nr. 15 Litanei 07:11 TT: 2:00:52 Lothar Zagrosek Staatsopernchor and Staatsorchester Stuttgart A coproduction of Staatsoper Stuttgart with Festival d’automne à Paris and BBC Radio 3 2 Lothar Zagrosek artistic director Peter Mussbach mise en scène and staging Andrea Schmidt-Futterer stylist Matthias Hermann music rehearsal director Michael Alber master Andreas Breitscheid sound director Dieter Fenchel sound Peter Mussbach, Dieter Billino light design Stefan Runge video Klaus Zehelein, Hans Thomalla dramaturgy Elizabeth Keusch solo-soprano Sarah Leonard 2nd solo-soprano Salome Kammer speaker Melanie Fouché actress Mayumi Miyata shô-player Yukiko Sugawara solo-piano Tomoko Hemmi solo-piano Statisterie der Staatsoper Staatsopernchor and Staatsorchester Stuttgart Klaus Zehelein general director 3 Eine musikalische Handlung Die Raserei verebbt. Die Nacht senkt sich auf Helmut Lachenmann die Stadt, „Schneeflocken“ fallen, in verstreuten Dreiklangsequenzen. Ihre kleinen Hände waren I. Auf der Straße vor Kälte fast ganz erstarrt, ihre Füße „blau und „In dieser Kälte und in dieser Finsternis ging ein rot“. Von den Hölzchen, die sie in ihrer Schürze kleines Mädchen mit bloßem Kopfe und nackten trägt, hat sie kein einziges verkauft. Füßen auf der Straße...“ „Hungrig und halb er- Verkehr lärmt vorüber und „aus allen Fenstern“ froren schlich es einher...“. Die musikalische dringen Weihnachtschoräle, Musik-und Sprach- Situation zu Beginn der Oper ist geprägt von fetzen aus Radios. Heimeliges aus der Perspektive „kalten“ Klängen, quasi tonlosem Streichen, des Ausgegrenzten wird unheimlich, zeigt sich von Luftgeräuschen, auch „eisig“ Klirrendem. Das seiner hermetischen, feindlichen Seite, führt zum Mädchen, ver-„körpert“ nicht nur von den beiden Schrei gegen/nach Gewalt. Die Musik versammelt Solistinnen, sondern darüber hinaus vom Orches- hier eine Reihe von abrupten Orchesterschlägen ter ebenso wie von den „erzählenden“ Vokalisten, aus der historischen Literatur: Strawinskys friert erbärmlich, es zittert, bibbert, ringt nach Luft, Schlußtanz aus dem Sacre du Printemps („Danse haucht in die Hände, reibt sie am Körper: verzwei- de l’élue“), Beethovens Coriolan-Ouvertüre, felte Versuche, sich der Kälte zu erwehren. Schönbergs Schluß der Orchestervariationen Die Erinnerung an die verstorbene Mutter, deren op. 31, Boulez’ Anfang von Pli selon Pli, der Pantoffeln sie getragen und von denen sie den A-moll-Schlußakkord aus Mahlers Sechster, einen beim Ausweichen vor einem vorüberjagen- der fff-Sechsklang aus Alban Bergs Wozzeck den Fahrzeug verloren hatte, erwärmt sie für einen und anderes: alle diese Einsätze unverfremdet Augenblick; der erstickte Klang weicht pedalisier- aber bis zur Unkenntlichkeit entfremdet durch ten Intervall-Klängen, utopischen Hall-Räumen. ihre Herauslösung aus ihren angestammten Jedoch die Kälte kriecht wieder herauf, der sich Umgebungen und gewaltsame Nachbarschaft das Mädchen durch kindlich-tapfere Heiterkeit, bzw. gegenseitige Konfrontation - dazwischen als „Königin der Nacht“ zu widersetzen versucht zum erstenmal der Ruf des Mädchens: „Ich“.. – schließlich soll es doch die ihr anvertrauten Streichhölzer verkaufen: „Stille Nacht, Heilige II. An der Hauswand Nacht“ als geschnalztes Siciliano, um im tänzeri- Es ist späte Nacht, die Straßen sind leer, verlassen. schen Spiel die Kälte und Sorge für einen Moment „In einem Winkel zwischen zwei Häusern setzte sie zu vergessen. sich und kauerte sich zusammen“. Sie wagt nicht, Das komödiantische Spiel wird „überfahren“, nach Hause zu gehen. Die Kälte wird zunehmend gestört durch die „Jagd“ um den anderen, von aggressiv, greift nach ihr. Musik als ihr Abbild, einem „Knaben“ entwendeten Pantoffel: letzte Er- gerät nochmals auf andere Weise ins Schrille, innerung an die – verzweifelt angerufene – Mutter. Gewaltsame, beschwört zugleich Erstarrung und 4 zitternde Todesangst vor dem eigenen Erkalten. hatte: „Wenn ein Stern vom Himmel fällt, steigt In letzter Not: „Ein Streichhölzchen! Wenn es nur eine Seele zu Gott empor“. wagen dürfte, eins anzuzünden...“. „Collegno sal- Hier – quasi über Satelliten – der Ausbruch und tando“ und erstes zartes „Ritsch!“ an der unteren Einschnitt: Sprung aus dem winterlichen Märchen Hörgrenze: Violinen als Streich-Holz... Erstarrung in südlichere Längengrade: dorthin, wo nicht löst sich zur Stille, aus welcher der Klang des am Schnee fällt, sondern heiße Lava sich ergießt und Rand geriebenen („angewärmten“) japanischen woher der Schwefel kommt. Tempelgongs („Dôbachi“) die erste wärmende “Musik mit Leonardo” – Pastorale in unwirtlicher Halluzination einläutet: der große messingne Gegend: aus der Wüste menschlicher Zivilisation Ofen, Konsonanzen abstrahlend. in die Einöde mediterraner Felsklippen über dem Aber das Streichholz erlischt, der Ofen ver-schwin- tobenden Meer, wo Leonardos Wanderer, umherir- det, zurück bleibt die kalte Hauswand: das taube rend, in den Eruptionen der speienden Vulkane, im Rauschen von Verpackungsmaterial, „Styropor“. brausenden Nordwind und im sturmge-peitschten Jedoch der Widerstand ist erwacht, reflektiert Meer die Unruhe seines Herzens wiedererkennt und artikuliert seine Situation. Vom extrem ver- und im Staunen vor dem großen Durcheinander, langsamten Streich-Gestus flankiert, „kommt er das die sinnreiche Natur hervorgebracht hat, zur Sprache“: nach den Konsonanzen jetzt die und zugleich im Gefühl der Unwissenheit vor Konsonanten der „Litanei“; Text von Vokalisten und der großen Höhle beides empfindet: „Furcht vor Orchester im tonlosen Fortissimo geflüstert: „Der der drohenden Dunkelheit der Höhle, Verlangen Kriminelle, der Wahnsinnige, der Selbstmörder aber, mit eigenen Augen zu sehen, was darin an – sie verkörpern diesen Widerspruch. Sie verre- Wunderbarem sein möchte“. cken in ihm...“ (Schluß eines Briefes der Gudrun Haben wir das Mädchen verlassen? Vielleicht Ensslin aus der Stammheimer Haft). „Schreibt auf hat es sich selbst eine Zeitlang vergessen. Kalte unsere Haut“ –Tomtoms und Pauken „schreiben“ Hauswand hier, finstere Höhle dort, beides un- auf die ihre. durchdringlich, beides Medium von Halluzinationen „Ritsch!“ zum zweitenmal, und wiederum eine zau- des Geistes, die zwar verfehlen, was wir be- berhaft trügerische Erscheinung: der Kaufladen schwören, und die doch zugleich in Erinnerung mit so vielen schönen „Spiel-Sachen“ – ornamen- rufen, wonach es uns im Innersten drängt: nach talste Klangsituation im ganzen Werk – dazu der Erkenntnis, heim zur Großen Mutter. strahlende Weihnachtsbaum, dessen Lichter nach Das Orchester wird hier, am Schluß dieser oben steigen und sich als Sterne am nächtlich- Eskapade, nach Abbruch des auskadenzierenden kalten Winterhimmel entpuppen. Sie erinnern das tonlosen Streicher-Rauschens vom Dirigenten in Mädchen an die geliebte Großmutter – oder ist es völliger Stille alleingelassen. Dies ist dessen die Große Mutter? – und es singt – bzw. „singt“ eigene Fermate, er verweilt, wartet, während aus – als „Abendsegen“, was diese ihr einst gesagt dem Orchester nach und nach individuelle 5 Signalsplitter von allen Seiten sich zu lockeren bruchlos hinüber – bzw. zurückführend in die „kalte Strukturen versammeln, ungesteuert, ohne ge- Morgenstunde“, die über der Leiche des kleinen schlagene Zeit. Mädchens aufgeht: feierlich-tänzerisches Terzett Das Mädchen selbst kommt wieder zu sich im aus erstickt geschlagenen Geistermelodien der gehaltenen Sekundklang und schließlich das Klaviere, quasi cantabile gehauchten Trompeten erneute „Ritsch!“. Größte Geräuschperforation: im Pedaltonbereich und großräumig hin- und zu- Riß über die Wirbel der Klaviersaiten, ebenso wie rückschwingenden Wischbewegungen der Strei- prasselnde pizzicato-Arpeggien, ausgeführt mit cher mit auf der Saitenoberfläche aufgelegter Plektren hinterm Steg der Streicher, Übergang Bogenstange. durch hämmernden Holzstab zur Erscheinung der Groß Mutter, ihre Riesenkontur vom Orchester einstimmig gezeichnet als quasi pedalisierte Unisono-Linie. („Die Großmutter war noch nie so schön, so groß gewesen“.) Angst-/Hoffnungsschreie des Mädchens: „Nimm mich mit!“ Alle noch vorhandenen Streichhölzer werden angezündet, die fünf geriebenen Tamtams feiern ein „Ritsch“-Festival mit Trompetensignalen; die Luft vibriert im hohen Streicherflirren – und die Großmutter nimmt das Kind zu sich zu gemein- samer Himmelfahrt – die offene Fahrstuhlwand des Orchesters rast in Zweiklängen vorbei in die Tiefe – und das Mädchen, im Arm der Großmutter, weiß sich befreit von Kälte, Entbehrung, Angst, Verlassenheit: „Sie waren bei Gott!“ Hier hat die Musik den Orchesterklang endgültig hinter - bzw. unter sich gelassen. Der noch ver- bleibende Instrumentalapparat