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175 Modernisieren und Sterben?

Die Auswirkungen der Agenda 2010 auf die Wahlergebnisse der deutschen Sozialdemokratie

Hanna Schwander und Philip Manow

Es ist eine Binsenweisheit, dass man aus der der Kernpunkt sozialdemokratischer Mobi Vergangenheit lernen soll. Mit Blick auf die lisierungsstrategien. Reformen der Agenda 2010 1 ist sie aber für Doch seit Reformen, Modernisierun die bevorstehende Bundestagswahl im Jahr gen und Haushaltskürzungen die Politik 2017 für die Sozialdemokratische Partei prägen, steht die Sozialdemokratie vor be Deutschland (SPD) umso entscheidender. sonderen Herausforderungen: Soll sie den Denn die Agenda – eine der tiefgreifendsten Sozialstaat den Anforderungen einer post Sozialstaatsreformen seit der Wiederverei industriellen, wissensbasierten Wirtscha nigung – hat in einer bislang beispiellosen anpassen und damit die Unterstützung ihrer Weise die Optionen für neue Wählergrup Stammwähler/innen riskieren? Der dauer pen verschoben. Erstaunlich ist, dass bisher hae Schutz der Interessen der traditionel die Reaktionen der Wähler/innen auf Sozial len Wählerscha würde gleichzeitig eine staatsreformen kaum empirisch untersucht Bindung von Wähler/innen aus der Mittel wurden. Insbesondere direkt betroene schicht an sozialdemokratische Parteien er Wählergruppen sind bisher nicht untersucht schweren. Die Rolle einer ewigen Oppositi worden (siehe u. a. Arndt 2013). An dieser onspartei wäre die Folge (vgl. Hopkin 2004; Lücke setzt der folgende Beitrag an. Er un Karreth et al. 2013). Darüber hinaus ist die tersucht die Auswirkungen auf den Wahler Sozialdemokratie mit divergierenden Inter folg der SPD bei denjenigen Gruppen, die essen innerhalb der Arbeiterscha konfron direkt von der Agenda betroen sind. tiert. Die Dualisierung der Arbeiterscha in Die Agenda wird o als Grundstein für sogenannte Insider und Outsider verändert den aktuellen wirtschalichen Erfolg des die möglichen Strategien der Sozialdemo Landes angeführt. Gleichzeitig steht sie je kraten. Sie muss sich zwischen dem Schutz doch für eine komplette und unerwartete der InsiderInteressen und der Modernisie Abkehr vom traditionellen sozialpolitischen rung des Sozialstaates entscheiden. Modell (vgl. Kemmerling/Bruttel 2006; Fle Um die Folgen der Agenda zu erfassen, ckenstein 2008; Hassel/Schiller 2010). Für muss auf die bislang unzureichende Da die SPD ist dies problematisch, läu sie tenlage reagiert werden. So enthalten Mei doch Gefahr, durch den Umbau des Sozial nungsumfragen selten detaillierte Informa staates ihre Kernwählerscha zu verlieren. tionen über den sozioökonomischen Status Schließlich war der Sozialstaat lange Zeit und über das Wahlverhalten der Befragten. Zudem sind sie meist wenig verlässlich, 1 Im Folgenden wird von „Agenda“ gesprochen, gerade wenn es um marginale Arbeits wenn die „Agenda 2010“ gemeint ist. marktgruppen geht. Hierfür setzen wir de

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taillierte Daten über die sozioökonomische nen „modernen“ Wohlfahrtsstaat, der einer Situation der Wähler/innen aus über 400 postmodernen Gesellscha und Wirtscha Landkreisen und kreisfreien Städten 2 mit entspricht. Beispielsweise ist die Verlage den oziellen Wahlergebnissen in diesen rung von Sozialausgaben weg von Arbeits Bezirken miteinander in Bezug. Die Daten losenentschädigungen hin zur Absicherung wurden über einen Zeitraum von mehre von postindustriellen Risiken – wie zum ren Wahlen erhoben. Dieses Vorgehen er Beispiel der Vereinbarkeit von Beruf und laubt, die komplexen Verteilungseekte Familie durch Elternzeit und Kinderbetreu von Sozialstaatsreformen auf die verschie ungssysteme – eher dazu angelegt, die Gunst denen gesellschalichen Schichten zu ent dieser Wählerscha zu gewinnen. Dass die echten. deutlichen Verbesserungen in diesem Be Unsere Untersuchung zeigt, dass die reich im letzten Jahrzehnt der Reformlogik Agenda tatsächlich zu einer Entfremdung der Agenda entsprechen und von der SPD zwischen der SPD und ihrer Kernwähler maßgeblich gestaltet wurden, sollte jedoch scha geführt hat – allerdings nicht unmit deutlicher kommuniziert werden. Gleich telbar nach der Einführung der Reformen, zeitig wirkten sich die Reformen positiv auf sondern erst, als sich mit der Partei Die die deutsche Wirtscha und den Arbeits Linke eine Alternative zur SPD etablier markt aus. Eine Umkehr der Reformen, te hatte. Zu diesem Zeitpunkt entschieden die zum Beispiel in einer tieferen Beschäf sich enttäusche SPDWähler nicht mehr, tigungsquote resultieren würde, würde dies der Urne fernzubleiben, sondern gaben ihre gefährden. Stimme der Linken. Gleichzeitig waren die Daher empfehlen wir der SPD, eindeutig Stimmengewinne bei der Mittelklasse – eine zum Reformprojekt Agenda zu stehen und bekanntermaßen volatile Wählergruppe – einerseits die positiven Eekte der Agenda nicht stark genug, um die Stimmenverluste auf Wirtscha und Arbeitsmarkt hervor bei den Stammwählern auszugleichen. Es zuheben und anderseits zu betonen, dass stellt sich die Frage, wie die SPD mit diesem notwendige Anpassungen getätigt wurden Dilemma umgehen soll. Die Versuchung ist und weiter getätigt werden. Der Mindest groß, vom Reformkurs abzuweichen, um die lohn ist hierfür ein gelungenes Beispiel, mit verlorenen Stimmen zurückzugewinnen. dem sich auch niedrigqualizierte Outsider Wir warnen jedoch vor solch einer Strategie, gewinnen lassen. Die Bemühung um diese da wir sie weder parteipolitisch noch mak Wählergruppen ist umso dringlicher ge roökonomisch für gewinnbringend halten. worden, als mit der Partei Alternative für Das elektorale Gewicht der Insider (der Deutschland (AfD) ein weiter Konkurrent klassischen Arbeiterscha) wird aufgrund um unzufriedene Wählergruppen aufge des wirtschalichen und sozialen Wandels taucht ist. Die gute Nachricht ist, dass der weiter abnehmen, während die Bedeutung gestiegene Wettbewerb um ihre Stimmen der Mittelklasse als Wählergruppe steigt. auch Wählergruppen an die Urne bringt, die Diese Wählergruppe befürwortet jedoch ei bisher dem politischen Prozess fernblieben. Mit der richtigen sozialpolitischen Strategie 2 Der amtliche Begriff der administrativen Einheit, gibt es keinen Grund, weshalb es der SPD auf welche sich die Daten beziehen, lautet „Land- kreise und kreisfreie Städte“. Im Folgenden wird nicht gelingen sollte, auch diese Gruppen von Kreisen gesprochen. für sich zu gewinnen.

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Die Wahleffekte sozialstaatlicher litischen Koniktlinien verläu (Pierson Reformen 1998, 2001a, 2001b). Die Literatur über die Dualisierung des Dieser Aufsatz spricht drei unterschiedli Arbeitsmarktes führt einen weiteren Grund che Stränge der bestehenden Literatur an: für die möglicherweise abnehmenden par Er leistet erstens einen Beitrag zur Debatte teipolitischen Dierenzen in Hinblick auf über die Politik der Dualisierung des Ar die Sozial und Arbeitsmarktpolitik an. Die beitsmarktes, indem er die Folgen einer Re ser ist in den wahltaktischen Überlegungen form analysiert, welche die Privilegien von der Parteien verankert: So argumentiert Da Insidern reduziert (vgl. Palier/elen 2010a; vid Rueda, dass die Sozialdemokratie mit elen 2014). Zweitens knüp dieser Aufsatz gegenläugen Interessen von Arbeitsmarkt an die Debatte über die Auswirkungen von Insidern und –Outsidern konfrontiert ist. Sozialstaatsreformen auf Wahlergebnisse an Der zunehmende Wettbewerbsdruck, die (für einen Literaturüberblick siehe Häuser DeIndustrialisierung und eine „selektive mann et al. 2012). Drittens schließlich geht Flexibilisierung“ des Arbeitsmarktes (Regi der Aufsatz auf die Literatur über den Par ni 2000) führen zu einer Spaltung der Ar teienwettbewerb und Sozialstaatsreformen beiterscha: Die Insider gehen einer stabilen ein. Hier steht die Frage im Fokus, inwiefern und regelmäßigen Beschäigung nach und sich der Parteienwettbewerb auf die Reform sind vor Fluktuationen des Arbeitsmarktes bereitscha von Regierungen auswirkt. Wir geschützt. Die Outsider hingegen tri die untersuchen die komplementäre Frage nach volle Wucht wirtschalicher Anpassungen. den Auswirkungen von Sozialstaatsreformen Sie sind eher atypisch beschäigt oder ar auf den Parteienwettbewerb. Auch in dieser beitslos (vgl. Emmenegger et al. 2012; Häu Hinsicht erscheint die Bundesrepublik als sermann/Schwander 2012). Rueda geht da besonders geeignetes Forschungsobjekt, da von aus, dass sozialdemokratische Parteien sie über eine spezielle Parteienkonstellation sich auf die Seite der Insider stellen, da sie verfügt: Vor der Einführung der Agenda gab besser organisiert sind und enge Kontakte es keine radikale linke Partei, die der SPD zu den sozialdemokratischen Partnern wie Wählerstimmen streitig machte. beispielsweise zu Gewerkschaen pegen Eine wachsende Anzahl von Veröentli (vgl. Rueda 2006, 2007). Im Gegenteil dazu chungen untersucht empirisch die Schnitt sind Outsider politisch inaktiv (vgl. Rueda stelle zwischen sozialstaatlichen Reformen 2007) oder neigen dazu, radikale Parteien und Wahlen (vgl. Armingeon/Giger 2008 zu wählen (vgl. King/Rueda 2008; Emmen und 2011; Giger/Nelson 2011; Giger 2012; egger et al. 2015). Dieser Argumentation Arndt 2013; Schumacher 2011; GreenPe folgend, hätte die Agenda niemals von So dersen 2001). Lange orientierte sich die Lite zialdemokraten eingeführt werden können. ratur dabei an Paul Piersons einussreicher Und in der Tat galt Deutschland in der Ein ese über die neue Politik des Wohlfahrt schätzung vieler lange als das Land mit den staates: Er ging davon aus, dass die Reform geringsten Chancen auf eine Modernisie bereitscha von Regierungen in Zeiten einer rung des Sozialstaats – sogar noch bis kurz „permanenten Austeritätspolitik“ und auf vor der Agenda (vgl. Kitschelt 2003). grund der Popularität des Wohlfahrtsstaats Hanna Schwander (2013) argumentiert nicht mehr entlang traditioneller parteipo hingegen, dass aufgrund der wachsenden

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Anzahl an Outsidern auch innerhalb der nur, wenn keine um dieselbe Wählerklientel Mittelschicht sowie der untragbaren öko rivalisierende Partei die Reformpläne der nomischen Kosten eines Interessenschutzes vorhandenen linken Partei angrei. von Insidern auch sozialdemokratische Par Die „strategische Konguration“ zwi teien einen Anreiz haben, die Privilegien von schen Parteien (Kitschelt 1999, 2001) ist also Insidern zu reduzieren. Eine solche Politik ein äußerst wichtiger Parameter in Hinblick ermögliche es ihnen, die Mittelschicht und auf die Auswirkungen von Sozialstaatsrefor Outsider für sich zu mobilisieren. Erschwe men auf Wahlen. Für den Wahlerfolg einer rend für eine solche Wählerkoalition wirkt reformfreudigen sozialdemokratischen Par sich jedoch aus, dass Wahlzugewinne in der tei ist entscheidend, ob ein radikal linker Mittelschicht o nur von kurzer Dauer sind Mitbewerber existiert, welcher unzufrie (vgl. Karreth et al. 2013). Zudem haben Out denen Wählern als Alternative dient (vgl. sider aufgrund der Komplexität der Instituti Watson 2008; Hopkin 2004). Dieses Argu onen und Reformen o Schwierigkeiten, die ment erklärt die Reformunwilligkeit der so für sie vorteilhaen Arbeitsmarktreformen zialdemokratischen Parteien in Frankreich zu erkennen und beteiligen sich politisch und Italien: Ein sozialdemokratischer Flirt kaum. Das macht sie zu einer vergleichswei mit Sozialstaatsreformen hätte sofort einen se unattraktiven Wählergruppe. Stimmenzugewinn bei den kommunisti Nicht zuletzt wird argumentiert, dass So schen Parteien zur Folge gehabt, was eine zialstaatsreformen nicht zwangsläug nach Orientierung sozialdemokratischer Parteien teilig für linke Parteien sein müssen. Fiona hin zur politischen Mitte verhinderte (vgl. Ross identiziert bei Sozialstaatsreformen Manow 2013, 2015). eine „NixongehtnachChinaLogik“. Bei der politischen Linken als Gründerin und Bewahrerin des Sozialstaats geht die Wäh Der Wohlfahrstaat als Mittel zur lerscha davon aus, dass sie nicht aus ideolo Wählermobilisierung gischen Gründen den Sozialstaat abschaen will, sondern dass es rationale Gründe für In Deutschland trat erst aufgrund der un einen solchen Umbau geben muss. Folglich beliebten Sozialstaatsreformen ein radika hat die politische Linke weniger Widerstand ler linker Wettbewerber auf die politische bei der Umsetzung unvermeidbarer Kür Bühne. Aber trotz einiger großer Protestde zungen zu erwarten (vgl. Ross 2000; Kit monstrationen war anfangs die öentliche schelt 2001; GreenPedersen 2002). Linke Meinung gegenüber den Reformen nicht Regierungen können Kürzungen im Sozial derart ablehnend, wie man es heute anneh staat rechtfertigen, indem sie die Reformen men könnte. Viele erkannten die Reformen als Mittel verkaufen, um existierende Dys als notwendig an. Insgesamt genoss das Re funktionalitäten im System zu überwinden formprojekt durchaus eine breite Unterstüt (vgl. GreenPedersen 2002). Dadurch würde zung: Beinahe 50 Prozent der westdeutschen das Fortbestehen des Sozialstaats als eine und 40 Prozent der ostdeutschen Bevölke staatliche Institution der Solidarität und der rung hießen die Reformen willkommen. sozialen Gerechtigkeit sichergestellt. Die Ni Innerhalb der SPDWähler/innen waren die xongehtnachChina Logik und die Strate Befürworter/innen sogar noch zahlreicher gie der Rechtfertigung funktionieren jedoch als in der gesamten Bevölkerung. Zumin

Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2016 Schwander, Manow | Modernisieren und Sterben? 179 dest in Westdeutschland neigten im Jahr Insider schützten. Aus diesem Blickwinkel 2005 62,1 Prozent dazu, die Reform eher heraus hätte die Agenda niemals verabschie zu unterstützen. Zudem wiesen Kernwäh det werden können. Sie reduzierte den In lerschaen der SPD wie Gewerkschasmit teressenschutz von qualizierten Insidern, glieder, qualizierte Arbeiternehmer/innen ihren Gewerkschaen und der Arbeitgeber oder Arbeitslose relativ hohe Zustimmungs (vgl. Hassel/Schiller 2010). Stattdessen legte werte auf. 3 die Agenda einen Schwerpunkt auf die Ab senkung der Arbeitslosenquote und auf die Erhöhung der Beschäigungsquote. Wäh Verlierer und Gewinner der rend frühere Strategien darauf ausgerichtet Agenda 2010 waren, Vollbeschäigung für qualizierte, männliche Alleinverdiener zu erreichen, Unsere ese lautet, dass die SPD in den bezieht die neue Beschäigungsstrategie Regionen die höchsten Wahlverluste zu explizit frühere OutsiderGruppen mit ein: verzeichnen hatte, in denen es überdurch Frauen, ältere Arbeitnehmer und Langzeit schnittlich viele „AgendaVerlierer“ gibt. arbeitslose (vgl. Schmidt 2006). Folglich Doch wer genau sind diese Reformverlierer? sehen wir qualizierte Industriearbeiter als Die verteilungspolitischen Auswirkungen die Verlierer der Reform an (für ein gegen der Reformen sind sowohl in Hinblick auf teiliges Argument siehe elen 2014; Palier/ Insider als auch auf Outsider komplex. elen 2010b). Wir identizieren fünf spezische Grup Auch so genannte OutsiderGruppen pen, die direkt von den Sozialstaatsreformen waren von den Reformen unmittelbar be betroen sind: zwei InsiderGruppen und troen. Das reduzierte Arbeitslosengeld drei OutsiderGruppen. sowie eine verschäre Sanktionierung tra Die erste InsiderGruppe umfasst die fen gerade Regionen mit hohen Arbeitslo qualizierten Industriearbeiter, denen ein senquoten als eine erste OutsiderGruppe. großer Teil ihrer traditionellen Privilegien Dementsprechend war der Widerstand durch die Reformen genommen wurde. Die gegenüber der Agenda besonders in Ost Reform repräsentiert eine klare Abkehr vom deutschland, Hamburg und im Ruhrgebiet traditionellen Modell des deutschen Wohl sowie im Saarland stark ausgeprägt (vgl. fahrtsstaates, das auf dem Statusschutz von Hassel/Schiller 2010). Zwar führte die Agen Insidern basierte, hin zu einem aktivieren da zu einem wirtschalichen Aufschwung den Sozialstaat mit einer deutlichen Flexibi mit einer geringeren Arbeitslosenquote, aber lisierung des Arbeitsmarktes. Eine großzü Arbeitslose erhielten fortan weniger Arbeits gige Arbeitslosenversicherung war einer der losenleistungen und mussten härtere Sankti Eckpfeiler zur Absicherung der Löhne – und onen fürchten. damit auch des sozialen Status – von Fachar Als zweite OutsiderGruppe sind Lang beitern (vgl. Streeck/elen 2005; Estévez zeitarbeitslose (im Durchschnitt) zwar we Abe et al. 2001). Zugleich waren es gerade niger von der Reduzierung der großzügigen die Sozialdemokraten, die ihre Interessen als Arbeitslosenleistungen betroen, da viele bereits vorher auf die gering angesetzte So 3 Quelle: Eigene Untersuchungen basierend auf zialhilfe angewiesen waren. Seit der Agenda Daten der Politbarometer 2002 und 2005. unterliegen sie jedoch stärkeren Kontrollen

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und Sanktionen und müssen EinEuroJobs Anke Hassel und Christof Schiller (2010: akzeptieren. Parallel dazu führte die Agen 47), das Reformprojekt sei am erfolgreichs da neue Maßnahmen zur Aktivierung ein, ten bei der Reduzierung von „versteckter“ die von Teilnehmern positiv bewertet wur Armut und Langzeitarbeitslosigkeit. Von den (vgl. Obermaier et al. 2013). Allerdings beidem protieren am stärksten geringqua brachten sie wenige Menschen wieder eek lizierte Arbeitnehmer/innen. Anderseits tiv in Erwerbsarbeit. Folglich sehen wir Ar führte die Agenda zur Entstehung eines beitslose und Langzeitarbeitslose als Verlie Niedriglohnsektors (vgl. Rhein 2013). Ge rer der Agenda an. ringqualizierte fühlen sich von dieser Ent Die Reformen hatten auch negative Ef wicklung bedroht, da sie fürchten, von der fekte für ältere Arbeitslose, die zweite Insi NiedriglohnKonkurrenz verdrängt zu wer derGruppe. Vor den Reformen wurde von den. Arbeitslosen über 58 Jahren keine Rückkehr Zusammengefasst gehen wir davon aus, auf den Arbeitsmarkt erwartet. Vielmehr dass Sozialdemokrat/innen in den Kreisen wurde das Arbeitslosengeld als Mittel der die stärksten Verluste erleiden, die negativ Frühverrentung benutzt (vgl. Manow/Seils von den Eekten der Reform betroen sind – 2000). Indem die Agenda die Bezugsdau also in Kreisen mit einem hohen Anteil an Ar er der Arbeitslosenversicherung verkürzte, beitslosen, Langzeitarbeitslosen und älteren verschloss sie diese Ausstiegsoption aus dem Arbeitslosen sowie mit einem hohen Anteil an Arbeitsmarkt. Sie formulierte explizit das industriellen und geringqualizierten regulär Ziel, die Beschäigungsquote von Älteren Beschäigten. zu erhöhen. Es gibt jedoch sowohl in der gesamten Geringqualizierte Arbeitnehmer/innen Bevölkerung als auch innerhalb der sozi sind eine weitere OutsiderGruppe, die ne aldemokratischen Wählerscha Agenda gativ von der Agenda betroen ist. Traditi Gewinner. Beispielsweise haben ehemalige onellerweise werden sie von sozialdemokra Sozialhilfeempfänger/innen seitdem einen tischen Parteien unterstützt. Infolgedessen besseren Zugang zu Beratungs und Dienst sollte die SPD in Bezirken mit vielen Ge leistungsangeboten. Die größte Gewinnerin ringqualizierten Stimmen gewinnen. Die der Reform ist jedoch die Mittelschicht mit Eekte der Agenda auf die Geringquali höherem Einkommen, was insbesondere zierten sind nicht eindeutig. Susanne Koch für Beschäigte im Dienstleistungssektor et al. (2009: 24950) argumentieren, dass zutri. Die Reformen erlaubten eine subs Haushalte mit einem Einkommen unter tanzielle Reduzierung der Beiträge zur Ar dem Grundsicherungsniveau und jene, die beitslosenversicherung von 6,5 Prozent in Grundsicherung beziehen, zu den Reform 2005 auf 2,8 Prozent in 2009. Dadurch stieg Gewinnern gehören. Dieses Argument wird nicht nur der Nettolohn für die Beschäf mit Blick auf die frühere Sozialhilfe ange tigten an, sondern es konnten Stellen mit führt. Aufgrund der Agenda wurden neue geringen Arbeitskosten geschaen werden Regelungen zur Anrechnung von Einkom (siehe Scharpf 1997 ). Personen mit einem men und Vermögen vorgenommen. hohen Einkommen und einem geringen Die Gruppe der mittleren Einkommen Risiko, arbeitslos zu werden, protieren be zählt dagegen zu den Hauptverlierern (vgl. sonders von diesem Beitragsrückgang und Trampusch 2005). Ähnlich argumentieren sind zudem nicht von den negativen Eek

Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2016 Schwander, Manow | Modernisieren und Sterben? 181 ten der Reform betroen. Sie zählen zu den abhängige Variable ist der Eekt der Agenda AgendaGewinnern. auf die Anzahl der Stimmenenthaltungen . Dementsprechend erwarten wir, dass die Für enttäuschte AgendaVerlierer ist die SPD eine höhere Unterstützung in Kreisen mit Stimmenenthaltung eine Option, die insbe einem hohen Anteil an AgendaGewinnern sondere von sozial marginalisierten Grup erzielt. Sollte unser Argument zutreen, dass pen mit einem geringen politischen Wissen das Auseinanderdrien der AgendaVerlierer gewählt wird (vgl. Brady et al. 1995; Schäfer und der SPD der Partei Die Linke zum Wahl et al. 2016). durchbruch verholfen hat, sollten wir zudem Es ist wichtig, die Wahlbeteiligung zu beobachten können, dass AgendaVerlierer berücksichtigen, da sozialstaatliche Ein sich nun der Partei Die Linke zuwenden. schnitte zu einer weiteren Entfremdung bestimmter Gruppen vom demokratischen Prozess führen können (vgl. Mahler 2008; Empirische Analyse für Deutschland siehe Schäfer 2011). Zu dem ist die Wahlbeteiligung auch aus ei Vor dem Hintergrund der schwierigen Da ner strategischen, parteipolitischen Sicht tenlage greifen wir auf zwei verschiedene wichtig: Wenn jene der Wahl fern bleiben, Datenquellen zurück: Erstens liefern uns Da die negativ von der Agenda betroen sind, ten der Verwaltung 4 eine einmalige Auswahl fallen die Folgen für die SPD an der Wahl an sozioökonomischen Indikatoren auf Ebe urne weniger dramatisch aus und ein sozi ne der Kreise. Diese Daten verknüpfen wir alpolitischer Kurswechsel erscheint weniger mit den oziellen Wahlergebnissen. 5 Wir geboten. verfügen über Daten aus 406 Kreisen und Unsere unabhängigen Variablen bilden der letzten vier Bundestagswahlen (1998, der Anteil der Arbeitslosen im Kreis, Lang 2002, 2005, 2009). Das entspricht 1636 Be zeitarbeitslose und ältere Arbeitslose sowie obachtungen. der Anteil der Beschäigten in der Industrie Wir interessieren uns dafür, ob die SPD sowie geringqualizierte regulär Beschäig überdurchschnittlich viel Stimmen in Krei te. Sie alle kumulieren wir mittels einer Fak sen verliert, die einen hohen Anteil an Agen toranalyse zu einem Index von „Agenda daVerlierern aufweisen. Deshalb ist unsere Verlierern“. erste abhängige Variable der Stimmenanteil AgendaGewinner messen wir, indem der SPD auf Ebene der Kreise . Zur Untersu wir den Anteil der hochqualizierten Be chung unserer ese, der Wahldurchbruch schäigten am gesamten Beschäigungsni der Linken sei eine direkte Folge der Agen veau auf Kreisebene betrachten. Es ist ele da und damit verbunden sei eine Abwande mentar, sich auf das typische Wahlverhalten rung von AgendaVerlierern zu beobachten, der identizierten Gruppen zu konzentrie führen wir die gleiche Analyse für den Stim ren und es vom allgemeinen Wahlverhalten menanteil der Partei Die Linke durch – un zu unterscheiden (vgl. King et al. 2008). Aus sere zweite abhängige Variable. Die dritte diesem Grund kontrollieren wir das allge meine sozialdemokratische Wahlergebnis 4 Indikatoren und Karten zur Raumentwicklung: durch den Einbezug des Stimmenanteils http://www.bbsr.bund.de [24.04.2016]. 5 Wahlbezirksstatistik des Bundeswahlleiters: der SPD auf Länderebene. Wir kontrollieren http://www.bundeswahlleiter.de [24.04.2016]. zudem das Durchschnittseinkommen auf

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Kreisebene, da Einkommen und Wohlstand Kreisen in Modell 1. Modelle 2 und 3 zeigen das Wahlverhalten stark beeinussen. die Korrelation zwischen VerliererKreisen Widmen wir uns der empirischen Ana und dem Wahlergebnis der Linken bezie lyse der SPDWahlergebnisse. Tabelle 1 zeigt hungsweise den Stimmenenthaltungen. Dies die Schätzwerte für den relativen Wahlerfolg erlaubt es, unsere ese über den Parteien der SPD als abhängige Variable in Verlierer wettbewerb genauer zu untersuchen. Wir

Tabelle 1: Die Wahlentscheidungen der Agenda-Verlierer von 1998 bis 2009

SPD Die Linke Stimmenthaltung Modell 1 Modell 2 Modell 3

Agenda Verlierer -0.489* -0.479** -0.221 (0.21) (0.15) (0.16) 1998 [Referenzkat.]

2002 -0.648*** 0.078 0.322 (0.18) (0.12) (0.17) 2005 -1.055*** 1.100*** 0.520* (0.32) (0.24) (0.26) 2009 -2.434*** 2.086*** 1.169** (0.59) (0.38) (0.44) 1998*Verlierer [Referenzkat.]

2002*Verlierer 0.427** -0.033 0.336** (0.13) (0.08) (0.10) 2005*Verlierer 0.154 0.411*** 0.227* (0.12) (0.10) (0.09) 2009*Verlierer -0.380* 0.780*** 0.252 (0.15) (0.13) (0.13) Durchschnittl. Haushaltseinkommen 0.004** -0.002* -0.001 (0.00) (0.00) (0.00) SPD Ergebnis auf Länderebene 0.940*** (0.03) Linke Ergebnis auf Länderebene 0.827*** (0.04) Stimmenthaltung auf Länderebene 0.942*** (0.03) Konstante -2.100 2.940** 2.247 (1.88) (1.03) (1.45)

Gesamtes R2 0.752 0.960 0.769 R2 0.976 0.948 0.966 Beobachtungen 1608 1608 1608 Kreise 406 406 406

Werte in Klammern geben die Standardfehler an, Regressionen sind mit robusten Standardfehlern ge- rechnet; * = signifikant auf dem 0.1 Level, ** = signifikant auf dem 0.05 Level, *** = signifikant auf dem 0.01 Level.

Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2016 Schwander, Manow | Modernisieren und Sterben? 183 mutmaßen, dass die Entfremdung zwischen müsste Die Linke dort Erfolg haben, wo die der SPD und den AgendaVerlierern der SPD einen schweren Stand hat. Partei Die Linke einen Wähleraufschwung Die Datenanalyse zeigt genau das: Die beschert – also eine direkte Folge der Agen radikale linke Mitbewerberin der Sozialde da ist. Tri dies zu, sollte das Wahlergebnis mokraten gewann 2009 und 2005 deutlich der Linken spiegelverkehrt zu dem der SPD mehr Stimmen in VerliererKreisen, als das sein. noch 2002 der Fall war. Die Stimmenenthal Die Auswertung zeigt, dass die SPD erst tung ist eine weitere Reaktion enttäuschter ab 2009 die Stimmen der AgendaVerlierer Wähler auf die Agenda, was Modell 3 in Ta einzubüßen begann. Wir erklären dies da belle 1 zeigt. In 2002 und 2005 war die Stim mit, dass die Verlier zu diesem Zeitpunkt menenthaltung in den VerliererKommunen realisierten, dass die insgesamt positiven Ef eine attraktive Option, bis sich Die Linke fekte der Reform auf die Beschäigung ihre 2009 als eine alternative Partei präsentieren individuelle Situation nicht veränderte. konnte. Während eine geringe Wahlbeteili 1998 gewann die SPD weniger Stimmen gung besonders unter benachteiligten Grup in den Kreisen der späteren AgendaVerlie pen aus einem demokratischen Blickwinkel rer. Im Jahre 2002 jedoch war das zentrale heraus besorgniserregend ist, reduzierte die Versprechen der SPD im Wahlkampf, die Ar Stimmenthaltung in den VerliererKreisen beitslosenquote zu reduzieren. Viele spätere den politischen Schaden für die SPD. Solan AgendaVerlierer wählten die SPD in der ge enttäuschte Wähler der Wahl fernbleiben, Honung, am wirtschalichen Aufschwung waren die Folgen für die SPD beschränkt. teilzuhaben. Dieser Eekt auf die Wahler Das Wahldebakel von 2009 setzte erst ein, gebnisse der SPD war besonders stark un als sich enttäuschte Wähler der Linken zu ter Arbeitslosen und Langzeitarbeitslosen, wandten. während industriell und geringqualizier In unserer dritten ese gehen wir da te Beschäigte ihr Wahlergebnis im Jahre von aus, dass die Agenda zu einem Stim 2002 negativ beeinussten. Es scheint, als mengewinn der SPD bei den Reformgewin ob Arbeiter/innen im industriellen Sektor nern führte. Unsere Analyse zeigt, dass der und Geringqualizierte – beides Gruppen positive Eekt im Stimmenanteil der SPD in einem Beschäigungsverhältnis, die sich mit Blick auf die einkommensstarke Mittel nicht von Versprechungen einer reduzierten schicht über die Zeit angestiegen ist. Auch Arbeitslosigkeit angezogen fühlten – die Re hier gilt, dass das Wahlergebnis spiegelver formpläne der SPD skeptischer sahen. 2005 kehrt für Die Linke ist: Über die Zeit nimmt war die Euphorie in den VerliererKreisen der Wahlerfolg der Linken bei der einkom beinahe verschwunden. Insgesamt bestäti mensstarken Mittelschicht ab. Es überrascht gen die Resultate unsere erste ese, dass die nicht, dass in dieser Gruppe kaum Stim Agenda zu einer Entfremdung zwischen der menenthaltungen verbreitet sind (siehe Mo SPD und ihrer Kernwählerscha führte . dell 3). Das bringt uns direkt zur zweiten ese, Die Ergebnisse belegen, dass der Wäh dass der bundespolitische Wahldurchbruch lerschwund der SPD nicht aus einer profa der Partei Die Linke eine direkte Folge der nen Entfremdung der Arbeiterklasse von Entfremdung zwischen der SPD und den sozialdemokratischen Parteien folgte, son AgendaVerlierern ist. Sollte dies zutreen, dern dass diese Entfremdung vor allem bei

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AgendaVerlierern deutlich hervortrat. Sie 1998 die SPD unterstützten, stimmten 2002 ist also eine direkte Folge der Reformen. Nur erneut für sie, wie die Untersuchung der bei den AgendaGewinnern konnte die SPD Wählermobilität in Tabelle 2 zeigt. Nur 38 an Zustimmung gewinnen. Prozent der SPDWähler von 2005 stimm Die insgesamt geringer werdende Unter ten jedoch auch 2009 für die SPD. Dennoch stützung für die SPD lässt vermuten, dass haben die Sozialdemokraten in absoluten sie sich immer weniger auf loyale Kernwäh Zahlen den größten Teil ihrer Wählerscha ler verlassen kann. Dieses Problem bereitet nicht an Die Linke verloren, sondern an die anderen Parteien weit weniger Kopfzerbre große Partei der NichtWähler sowie an die chen. Knapp 60 Prozent der Wähler, die CDU/CSU. Der Anteil an SPDWählern,

Tabelle 2: Ökologische Inferenz der Wählermobilität 1998-2009, Prozent aller Wähler.

Nicht-Wähler SPD CDU/CSU Grüne 2002 FDP 2002 Andere Total 1998/2002 2002 2002 2002 2002

Nicht-Wähler 1998 36.3 23.5 30.2 3.3 0.9 5.8 100 SPD 1998 18.4 58.6 10.0 4.1 4.1 4.9 100 CDU/CSU 1998 20.1 9.4 60.0 2.5 5.5 2.6 100 Grüne 1998 6.0 20.0 7.8 55.4 6.2 4.8 100 FDP 1998 5.2 23.2 15.4 13.9 39.5 2.8 100 Die Linke 1998 31.3 29.3 8.3 4.1 2.8 24.3 100 Andere 1998 11.7 7.7 57.6 4.4 4.5 14.0 100 Durchschnittlicher 21.0 30.4 30.5 12.5 9.1 8.4 100 Wahlerfolg

Nicht-Wähler SPD CDU/CSU Grüne FDP 2005 Linke Andere Total 2002/2005 2005 2005 2005 2005 2005 2005

Nicht-Wähler 2002 32.3 27.1 26.7 3.7 2.9 5.5 1.9 100 SPD 2002 22.0 45.8 11.6 5.8 4.6 9.3 1.0 100 CDU/CSU 2002 22.0 8.5 50.1 3.7 8.8 0.7 6.1 100 Grüne 2002 13.9 22.0 14.0 27.9 17.0 4.5 0.8 100 FDP 2002 8.9 24.1 30.9 4.7 26.7 2.5 2.2 100 Andere 2002 14.4 29.0 5.7 10.1 4.2 31.5 5.2 100 Durchschnittlicher 22.4 26.6 27.6 6.4 7.7 6.3 3.1 100 Wahlerfolg

2005/2009 Nicht-Wähler SPD CDU/CSU Grüne 2009 FDP 2009 Linke Andere Total 2009 2009 2009 2009 2009

Nicht-Wähler 2005 55.3 14.4 12.3 4.2 3.6 6.7 3.5 100 SPD 2005 32.4 38.0 7.3 6.3 5.1 8.5 2.4 100 CDU/CSU 2005 17.4 3.1 59.1 1.9 12.8 0.6 5.3 100 Gründe 2005 10.4 11.9 3.7 54.6 9.4 6.9 3.1 100 FDP 2005 7.9 6.3 24.7 9.9 48.9 0.8 1.5 100 Die Linke 2005 21.9 13.9 2.4 3.3 1.0 54.2 3.4 100 Andere 2005 23.8 4.3 24.1 3.2 9.8 5.6 29.1 100 Durchschnittlicher 29.2 16.4 24.0 7.7 10.4 8.0 4.3 100 Wahlerfolg

Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2016 Schwander, Manow | Modernisieren und Sterben? 185 die nicht an Wahlen teilnahmen, stieg von staat mit einer deutlichen Flexibilisierung 18 Prozent in 2002 auf 32 Prozent in 2009 des Arbeitsmarktes orientierte. Diese Refor an. Der Wählerstrom weg von der SPD und men trafen auf einen heigen Widerstand hin zur Union kann mit der höheren wirt der Öentlichkeit. Die SPD als verantwort schaspolitischen Glaubwürdigkeit der liche Partei musste nicht nur mit ansehen, Union zusammenhängen. wie ihre Zustimmungswerte abstürzten und Das Wählerglück der SPD unter Agen die Unterstützung der Wähler wegbrach, daGewinnern weist darauf hin, dass die sondern auch, wie sich ein neuer linker Mit SPD einen Stimmenzugewinn bei der Mit bewerber dauerha etablierte. telschicht in 2005 und in geringerem Maße In diesem Beitrag untersuchten wir die auch in 2009 verzeichnen konnte. Trotzdem wahlpolitischen Konsequenzen der Agenda waren die Stimmenzugewinne in der Mittel 2010 auf das traditionelle sozialdemokrati schicht nicht ausreichend, um das Wahlde sche Klientel. Dabei identizierten wir drei bakel von 2009 zu verhindern. Die 10 Pro OutsiderGruppen (Geringqualizierte, Ar zent ehemaliger SPDWähler, die sich 2005 beitslose und Langzeitarbeitslose) und zwei der Partei Die Linke zuwendeten (knapp 7 InsiderGruppen (Arbeiter in der Industrie Prozent in WestDeutschland) reichten aus, und ältere Arbeitslose) als Hauptverlierer um der Partei zum bundesweiten Wahl des Reformprojekts. durchbruch zu verhelfen. Nichtsdestotrotz Im Ergebnis trug die Agenda 2010 ers ist die wohl bedeutendste Folge die gestiege tens dazu bei, dass sich die SPD und ihre ne Anzahl an ehemaligen SPDWählern, die Kernwählerscha entfremdeten. Davon nicht mehr an Wahlen teilnehmen. Das ist konnte Die Linke protieren. Zudem ho eine bisher unterschätzte Entwicklung, die norierten Wähler aus der Mittelschicht die auch die politische Legitimität des gesamten Reformanstrengungen der SPD – im Durch politischen Systems untergraben könnte. schnitt mehr als andere. Neben den direkten wahlpolitischen Ef fekten der Reform hatte die Agenda auch Schlussfolgerungen indirekte Folgen für die Wahlaussichten der SPD. Sie veränderte grundlegend die Partei Im letzten Jahrzehnt überraschte Deutsch enlandscha. Die ostdeutsche und ehemals land mit seinen tiefgreifenden Sozial kommunistischen PDS konnte sich fest im staats und Arbeitsmarktreformen. Wurde deutschen Parteiensystem etablieren und Deutschland noch zuvor als ein paradig ist nach dem Zusammenschluss mit der matischer Fall für Reformblockaden und westdeutschen „Wahlalternative – Arbeit institutionelle Trägheit betrachtet (vgl. Kit und Gerechtigkeit“ eine Alternative für ent schelt 2003; Kitschelt/Streeck 2004), rüttelte täuschte SPDWähler/innen. die Agenda an den Fundamenten deutscher Darüber hinaus ist die CDU eine Al Sozialpolitik und der Architektur des Ar ternative für enttäuschte Insider. Als die beitsmarktes. Die Reform repräsentiert eine Christdemokraten sich nach 2009 von ih klare Abkehr vom traditionellen Modell des rem neoliberalen Kurs verabschiedeten und deutschen Wohlfahrtsstaates, das auf dem sich in die politische Mitte bewegten, fand Statusschutz von Insidern basierte und sich sich die SPD eingeengt zwischen einer so nun mehr an einem aktivierenden Sozial zialstaatsfreundlichen CDU und einem or

Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2016 186 Aus der Theorie

Green-Pedersen, C. 2001: Welfare-state retrench- thodoxen linken Mitbewerber wieder. Das ment in Denmark and the Netherlands, 1982- führte zum Wahldesaster. 1998 – The role of party competition and party Der spektakuläre Absturz der Sozialde consensus. Comparative Political Studies, 34, mokraten im Jahr 2009 entstand also auf 963-985. Green-Pedersen, C. 2002: Politics of Justification. grund einer komplizierten Gemengelage als Party Competition and Welfare-State Retrench- verspätete Folge der Agenda 2010. Verglei ment in Denmark and the Netherlands from 1982 chende Studien haben diese verzögerte Wir to 1998. Amsterdam. kung bislang nicht berücksichtigt und ka Häusermann, S./Picot, G./Geering, D. 2012: Rethin- king Party Politics and the Welfare State – Recent men daher zu problematischen Ergebnissen. Advances in the Literature. British Journal of Poli- tical Science. Aus dem Englischen von Fabian Heppe und Marius Häusermann, S./Schwander, H. 2012: Varieties of Mühlhausen Dualization? Labor Market Segmentation and In- sider-Outsider Divides across Regimes. In: Em- Literatur menegger, P./Häusermann, S./Palier, B./Seeleib- Armingeon, K./Giger, N. 2008: Conditional Punish- Kaiser, M. (Hrsg.): The Age of Dualization. The ment. A comparative analysis of the electoral con- Changing Face of Inequality in Deindustrializing sequences of welfare state retrenchment in OECD Societies. Oxford/New York. nations, 1980-2003. In: West European Politics, Hopkin, J. 2004: Hard Choices, Mixed Incentives: Glo- 31, 558-80. balization, Structural Reform, and the Double Di- Arndt, C. 2013: The electoral consequences of third lemma of European Socialist Parties. London. way welfare state reforms: ’s Karreth, J./Polk, J. T./Allen, C. S. 2013: Catchall or transformation and its political costs. Amster- Catch and Release? The Electoral Consequences dam. of Social Democratic Parties’ March to the Middle Brady, H. E./Verba, S./Schlozman, K. L. 1995: Beyond in Western Europe. In: Comparative Political Stu- Ses: A Resource Model of Political Participation. dies, 46, 791-822. In: The American Political Science Review, 89, King, D./Rueda, D. 2008: Cheap Labor: The New Poli- 271-294. tics of “Bread and Roses” in Industrial Democra- Emmenegger, P./Häusermann, S./Palier, B./Seeleib- cies. In: Perspectives on Politics, 6, 279-297. Kaiser, M. 2012: The Age of Dualization. The King, G./Rosen, O./Tanner, M./Wagner, A. F. 2008: Changing Face of Inequality in Deindustrializing Ordinary Economic Voting Behavior in the Extraor- Societies. New York/Oxford. dinary Election of Adolf Hitler. In: The Journal of Emmenegger, P./Marx, P./Schraff, D. 2015: Labour Economic History, 68, 951-996. market disadvantage, political orientations and Kitschelt, H. 1999: European Social Democracy bet- voting: how adverse labour market experiences ween Political Economy and Electoral Competi- translate into electoral behaviour. In: Socio-Eco- tion. In: Kitschelt, H./Lange, P./Marks, G./Ste- nomic Review, 13, 189-213. phens, J. (Hrsg.): Continuity and change in con- Estévez-Abe, M./Iversen, T./Soskice, D. 2001: Social temporary capitalism. New York. Protection and the Formation of Skills: A Reinter- Kitschelt, H. 2001: Partisan Competition and Welfare pretation of the Welfare State. In: Hall, P. A./Sos- State Retrenchment. When Do Politicians Choose kice, D. (Hrsg.): Varieties of Capitalism: The Insti- Unpopular Policies? The New Politics of the Wel- tutional Foundations of Comparative Advantage. fare State . Oxford. Oxford. Kitschelt, H. 2003: Political-economic context and Giger, N. 2012: Is Social Policy Retrenchment Unpo- partisan strategies in the German federal elec- pular? How Welfare Reforms Affect Government tions, 1990–2002. In: West European Politics , Popularity. In: European Sociological Review, 28, 26, 125-152. 691-700. Kitschelt, H./Streeck, W. 2004: : Beyond the Giger, N./Nelson, M. 2011: The Electoral Consequen- Stable State. London. ces of Welfare State Reform. Blame Avoidance or Koch, S./Kupka, P./Steinke, J. 2009: Aktivierung, Er- Credit Claiming in the Era of Permanent Austerity? werbstätigkeit und Teilhabe. Vier Jahre Grundsi- In: European Journal of Political Research, 50, cherung für Arbeitssuchende. Bielefeld. 1-23.

Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2016 Schwander, Manow | Modernisieren und Sterben? 187

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