TUP Heft 3 2016 Schwander Manow

TUP Heft 3 2016 Schwander Manow

175 Modernisieren und Sterben? Die Auswirkungen der Agenda 2010 auf die Wahlergebnisse der deutschen Sozialdemokratie Hanna Schwander und Philip Manow Es ist eine Binsenweisheit, dass man aus der der Kernpunkt sozialdemokratischer Mobi- Vergangenheit lernen soll. Mit Blick auf die lisierungsstrategien. Reformen der Agenda 2010 1 ist sie aber für Doch seit Reformen, Modernisierun- die bevorstehende Bundestagswahl im Jahr gen und Haushaltskürzungen die Politik 2017 für die Sozialdemokratische Partei prägen, steht die Sozialdemokratie vor be- Deutschland (SPD) umso entscheidender. sonderen Herausforderungen: Soll sie den Denn die Agenda – eine der tiefgreifendsten Sozialstaat den Anforderungen einer post Sozialstaatsreformen seit der Wiederverei- industriellen, wissensbasierten Wirtscha nigung – hat in einer bislang beispiellosen anpassen und damit die Unterstützung ihrer Weise die Optionen für neue Wählergrup- Stammwähler/innen riskieren? Der dauer- pen verschoben. Erstaunlich ist, dass bisher hae Schutz der Interessen der traditionel- die Reaktionen der Wähler/innen auf Sozial- len Wählerscha würde gleichzeitig eine staatsreformen kaum empirisch untersucht Bindung von Wähler/innen aus der Mittel- wurden. Insbesondere direkt betroene schicht an sozialdemokratische Parteien er- Wählergruppen sind bisher nicht untersucht schweren. Die Rolle einer ewigen Oppositi- worden (siehe u. a. Arndt 2013). An dieser onspartei wäre die Folge (vgl. Hopkin 2004; Lücke setzt der folgende Beitrag an. Er un- Karreth et al. 2013). Darüber hinaus ist die tersucht die Auswirkungen auf den Wahler- Sozialdemokratie mit divergierenden Inter- folg der SPD bei denjenigen Gruppen, die essen innerhalb der Arbeiterscha konfron- direkt von der Agenda betroen sind. tiert. Die Dualisierung der Arbeiterscha in Die Agenda wird o als Grundstein für sogenannte Insider und Outsider verändert den aktuellen wirtschalichen Erfolg des die möglichen Strategien der Sozialdemo Landes angeführt. Gleichzeitig steht sie je- kraten. Sie muss sich zwischen dem Schutz doch für eine komplette und unerwartete der InsiderInteressen und der Modernisie- Abkehr vom traditionellen sozialpolitischen rung des Sozialstaates entscheiden. Modell (vgl. Kemmerling/Bruttel 2006; Fle Um die Folgen der Agenda zu erfassen, ckenstein 2008; Hassel/Schiller 2010). Für muss auf die bislang unzureichende Da- die SPD ist dies problematisch, läu sie tenlage reagiert werden. So enthalten Mei- doch Gefahr, durch den Umbau des Sozial- nungsumfragen selten detaillierte Informa- staates ihre Kernwählerscha zu verlieren. tionen über den sozioökonomischen Status Schließlich war der Sozialstaat lange Zeit und über das Wahlverhalten der Befragten. Zudem sind sie meist wenig verlässlich, 1 Im Folgenden wird von „Agenda“ gesprochen, gerade wenn es um marginale Arbeits- wenn die „Agenda 2010“ gemeint ist. marktgruppen geht. Hierfür setzen wir de- Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2016 176 Aus der Theorie taillierte Daten über die sozioökonomische nen „modernen“ Wohlfahrtsstaat, der einer Situation der Wähler/innen aus über 400 postmodernen Gesellscha und Wirtscha Landkreisen und kreisfreien Städten 2 mit entspricht. Beispielsweise ist die Verlage- den oziellen Wahlergebnissen in diesen rung von Sozialausgaben weg von Arbeits- Bezirken miteinander in Bezug. Die Daten losenentschädigungen hin zur Absicherung wurden über einen Zeitraum von mehre- von postindustriellen Risiken – wie zum ren Wahlen erhoben. Dieses Vorgehen er- Beispiel der Vereinbarkeit von Beruf und laubt, die komplexen Verteilungseekte Familie durch Elternzeit und Kinderbetreu- von Sozialstaatsreformen auf die verschie- ungssysteme – eher dazu angelegt, die Gunst denen gesellschalichen Schichten zu ent- dieser Wählerscha zu gewinnen. Dass die echten. deutlichen Verbesserungen in diesem Be- Unsere Untersuchung zeigt, dass die reich im letzten Jahrzehnt der Reformlogik Agenda tatsächlich zu einer Entfremdung der Agenda entsprechen und von der SPD zwischen der SPD und ihrer Kernwähler- maßgeblich gestaltet wurden, sollte jedoch scha geführt hat – allerdings nicht unmit- deutlicher kommuniziert werden. Gleich- telbar nach der Einführung der Reformen, zeitig wirkten sich die Reformen positiv auf sondern erst, als sich mit der Partei Die die deutsche Wirtscha und den Arbeits- Linke eine Alternative zur SPD etablier- markt aus. Eine Umkehr der Reformen, te hatte. Zu diesem Zeitpunkt entschieden die zum Beispiel in einer tieferen Beschäf- sich enttäusche SPDWähler nicht mehr, tigungsquote resultieren würde, würde dies der Urne fernzubleiben, sondern gaben ihre gefährden. Stimme der Linken. Gleichzeitig waren die Daher empfehlen wir der SPD, eindeutig Stimmengewinne bei der Mittelklasse – eine zum Reformprojekt Agenda zu stehen und bekanntermaßen volatile Wählergruppe – einerseits die positiven Eekte der Agenda nicht stark genug, um die Stimmenverluste auf Wirtscha und Arbeitsmarkt hervor- bei den Stammwählern auszugleichen. Es zuheben und anderseits zu betonen, dass stellt sich die Frage, wie die SPD mit diesem notwendige Anpassungen getätigt wurden Dilemma umgehen soll. Die Versuchung ist und weiter getätigt werden. Der Mindest- groß, vom Reformkurs abzuweichen, um die lohn ist hierfür ein gelungenes Beispiel, mit verlorenen Stimmen zurückzugewinnen. dem sich auch niedrigqualizierte Outsider Wir warnen jedoch vor solch einer Strategie, gewinnen lassen. Die Bemühung um diese da wir sie weder parteipolitisch noch mak- Wählergruppen ist umso dringlicher ge- roökonomisch für gewinnbringend halten. worden, als mit der Partei Alternative für Das elektorale Gewicht der Insider (der Deutschland (AfD) ein weiter Konkurrent klassischen Arbeiterscha) wird aufgrund um unzufriedene Wählergruppen aufge- des wirtschalichen und sozialen Wandels taucht ist. Die gute Nachricht ist, dass der weiter abnehmen, während die Bedeutung gestiegene Wettbewerb um ihre Stimmen der Mittelklasse als Wählergruppe steigt. auch Wählergruppen an die Urne bringt, die Diese Wählergruppe befürwortet jedoch ei- bisher dem politischen Prozess fernblieben. Mit der richtigen sozialpolitischen Strategie 2 Der amtliche Begriff der administrativen Einheit, gibt es keinen Grund, weshalb es der SPD auf welche sich die Daten beziehen, lautet „Land- kreise und kreisfreie Städte“. Im Folgenden wird nicht gelingen sollte, auch diese Gruppen von Kreisen gesprochen. für sich zu gewinnen. Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2016 Schwander, Manow | Modernisieren und Sterben? 177 Die Wahleffekte sozialstaatlicher litischen Koniktlinien verläu (Pierson Reformen 1998, 2001a, 2001b). Die Literatur über die Dualisierung des Dieser Aufsatz spricht drei unterschiedli- Arbeitsmarktes führt einen weiteren Grund che Stränge der bestehenden Literatur an: für die möglicherweise abnehmenden par- Er leistet erstens einen Beitrag zur Debatte teipolitischen Dierenzen in Hinblick auf über die Politik der Dualisierung des Ar- die Sozial und Arbeitsmarktpolitik an. Die- beitsmarktes, indem er die Folgen einer Re- ser ist in den wahltaktischen Überlegungen form analysiert, welche die Privilegien von der Parteien verankert: So argumentiert Da- Insidern reduziert (vgl. Palier/elen 2010a; vid Rueda, dass die Sozialdemokratie mit elen 2014). Zweitens knüp dieser Aufsatz gegenläugen Interessen von Arbeitsmarkt an die Debatte über die Auswirkungen von Insidern und –Outsidern konfrontiert ist. Sozialstaatsreformen auf Wahlergebnisse an Der zunehmende Wettbewerbsdruck, die (für einen Literaturüberblick siehe Häuser- DeIndustrialisierung und eine „selektive mann et al. 2012). Drittens schließlich geht Flexibilisierung“ des Arbeitsmarktes (Regi- der Aufsatz auf die Literatur über den Par- ni 2000) führen zu einer Spaltung der Ar- teienwettbewerb und Sozialstaatsreformen beiterscha: Die Insider gehen einer stabilen ein. Hier steht die Frage im Fokus, inwiefern und regelmäßigen Beschäigung nach und sich der Parteienwettbewerb auf die Reform- sind vor Fluktuationen des Arbeitsmarktes bereitscha von Regierungen auswirkt. Wir geschützt. Die Outsider hingegen tri die untersuchen die komplementäre Frage nach volle Wucht wirtschalicher Anpassungen. den Auswirkungen von Sozialstaatsreformen Sie sind eher atypisch beschäigt oder ar- auf den Parteienwettbewerb. Auch in dieser beitslos (vgl. Emmenegger et al. 2012; Häu- Hinsicht erscheint die Bundesrepublik als sermann/Schwander 2012). Rueda geht da- besonders geeignetes Forschungsobjekt, da von aus, dass sozialdemokratische Parteien sie über eine spezielle Parteienkonstellation sich auf die Seite der Insider stellen, da sie verfügt: Vor der Einführung der Agenda gab besser organisiert sind und enge Kontakte es keine radikale linke Partei, die der SPD zu den sozialdemokratischen Partnern wie Wählerstimmen streitig machte. beispielsweise zu Gewerkschaen pegen Eine wachsende Anzahl von Veröentli- (vgl. Rueda 2006, 2007). Im Gegenteil dazu chungen untersucht empirisch die Schnitt- sind Outsider politisch inaktiv (vgl. Rueda stelle zwischen sozialstaatlichen Reformen 2007) oder neigen dazu, radikale Parteien und Wahlen (vgl. Armingeon/Giger 2008 zu wählen (vgl. King/Rueda 2008; Emmen- und 2011; Giger/Nelson 2011; Giger 2012; egger et al. 2015). Dieser Argumentation Arndt 2013; Schumacher 2011; GreenPe- folgend, hätte die Agenda niemals von So- dersen 2001). Lange orientierte sich die Lite- zialdemokraten eingeführt werden können. ratur dabei an Paul Piersons einussreicher Und in der Tat galt Deutschland in der Ein- ese über die neue Politik des

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