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Analysen

Parteien und Demokratie Gerhard Schröders zehn Jahre unsoziale Politik

Christoph Butterwegge Inhalt

Gerhard Schröders Agenda 2010 2

Hintergrund und Entstehungszusammenhang der Agenda 2010 4

Aussagen und Argumentationslinien der Agenda-Rede 6

Die rot-grüne Arbeitsmarktreform als Kern der Agenda 2010 8

Auf dem Weg zum Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat 12

Gesundheits-, Renten- und Steuerreformen 13

Die verheerenden Folgen der Reformagenda 16 2 Gerhard Schröders Agenda 2010

Rund um das 10. Agenda-2010-Jubi- schaft, um sich dafür selbst zu loben und läum ist eine richtige Schlacht um die ihre angeblichen Erfolge im Rahmen des Deutungshoheit im Hinblick darauf ent- Agenda-2010-Jubiläums noch einmal brannt, ob die Agenda-Politik ein Segen gemeinsam mit den mächtigsten und für Deutschland und seinen Arbeitsmarkt feinsten Kreisen der Gesellschaft, die von oder ein umfassendes Regierungspro- ihren Reformen teilweise in barer Münze gramm zur Pauperisierung, Prekarisie- profitiert haben, zu feiern. Um die Agen- rung und sozialen Polarisierung war. Die da 2010 fundierter als ihre unkritischen sozialdemokratischen Hauptrepräsen- Gratulanten beurteilen zu können, muss tanten der Agenda 2010, etwa Gerhard man ihre Entstehungsgeschichte, ihre Schröder, von manchen als «Gazprom- zentralen Inhalte und ihre Auswirkun- Gerd» verhöhnt, und , gen daraufhin untersuchen, welche Zie- mittlerweile zum FDP-Wahlkämpfer he- le damit verfolgt und wessen Interessen rabgesunken, tourten quer durch die bedient wurden, was im Folgenden ge- Bundesrepublik und deren Medienland- schehen soll.

Hintergrund und Entstehungszusammenhang der Agenda 2010

Nachdem die SPD und Bündnis 90/Die entieren, die seine Wiederwahl – im Un- Grünen ihre parlamentarische Mehrheit terschied zu den Kapitalverbänden – un- bei der Bundestagswahl am 22. Septem- terstützt hatten, wurde jedoch bitter ber 2002 mit großer Mühe verteidigt hat- enttäuscht. In seiner Regierungserklä- ten, schien es zumindest für einen Mo- rung vom 29. Oktober 2002 plädierte ment, als wollten sie eine wirtschafts-, Schröder ohne Umschweife für Leis - steuer- und sozialpolitische Kurskor- tungskürzungen: «Zu Reform und Erneu- rektur vornehmen. Diskutiert wurde in erung gehört auch, manche Ansprüche, den Regierungsparteien damals bei- Regelungen und Zuwendungen des deut- spielsweise über eine Wiedereinfüh- schen Wohlfahrtsstaates zur Disposition rung der Vermögens- sowie eine kräfti- zu stellen. Manches, was auf die Anfän- ge Erhöhung der Erbschaftssteuer, die ge des Sozialstaates in der Bismarck-Zeit Abschaffung des steuerlichen Ehegat- zurückgeht und noch vor 30, 40 oder 50 tensplittings zwecks Verbesserung der Jahren berechtigt gewesen sein mag, hat Kinderförderung sowie eine drastische heute seine Dringlichkeit und damit auch Anhebung der Beitragsbemessungs- seine Begründung verloren.»1 und Versicherungspflichtgrenze in der Bei der Kabinetts(um)bildung entstan- Krankenversicherung. den zwei neue «Superministerien», die Wer gehofft hatte, Bundeskanzler Schrö- der werde sich nunmehr an solchen 1 Schröder, Gerhard: Wer nur seine Ansprüche pflegt, der hat noch nicht ver st anden. Aus der Regierungserklärung, in: Forderungen der Gewerkschaften ori- Frank fur ter Rundschau v. 30.10.2002. mit Ulla Schmidt und Wolfgang Clement geblich beeinflusste. Es basierte auf der 3 sozialdemokratische Politiker übernah- sogenannten Lissabon-Strategie: Auf men. Gerhard Schröder spaltete – ein dem dortigen EU-Sondergipfel am 23./24. historisches Novum – den Sektor der März 2000 war für das laufende Jahrzehnt Arbeitersozial(versicherungs)politik or- als «strategisches Ziel» festgelegt wor- ganisatorisch auf. Inhaltlich bedeutete den, «die Union zum wettbewerbsfähigs- die Verwaltungsreform, dass Arbeits- ten und dynamischsten wissensbasierten marktpolitik und Arbeitsrecht – traditio­ Wirtschaftsraum der Welt zu machen – neller Kern der Sozialpolitik – der nach einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein neoklassischen Modellvorstellungen be- dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit triebenen Wirtschaftspolitik untergeord- mehr und besseren Arbeitsplätzen und ei- net und in das dafür zuständige Ressort nem größeren sozialen Zusammenhalt zu eingegliedert wurden, wo sie denn auch erzielen».2 Die umfassende «Modernisie- nur noch eine Nebenrolle spielten. Cle- rung» und Anpassung der Sozialstaaten ment, als nordrhein-westfälischer Minis- in den Mitgliedsländern an Markterforder- terpräsident nicht eben sehr erfolgreich, nisse und Wirtschaftsinteressen verstand ging nach , wo er zum Bundesmi- man als Instrument, das der Verwirkli - nister für Wirtschaft und Arbeit ernannt chung des Lissabon-Ziels diene. wurde; Schmidt, die während ihrer kur- Einleitend war im Thesenpapier des Bun- zen Amtszeit gegenüber Krankenkassen, deskanzleramtes vermerkt, die «an sich Ärztelobby und Pharmaindustrie keine hervorragenden Systeme der sozialen Zeichen gesetzt hatte, erhielt die restli- Sicherung» in Deutschland müssten aus chen Sozialbereiche hinzu und firmierte mehreren Gründen tief greifend refor- fortan als Bundesministerin für Gesund- miert werden: «Erstens lastet auf den heit und Soziale Sicherung. Systemen, dass die Wiedervereinigung Für die rot-grüne Bundesregierung ver- neben Verschuldung in erster Linie über lief der Start in die neue Legislaturperio- die Belastung des Faktors Arbeit finan- de katastrophal: Während sich die kon- ziert wurde. Zweitens müssen unsere junkturellen Aussichten, die Lage auf dem Systeme zukunftsfest für die von der Glo- Arbeitsmarkt und die Haushaltssituation balisierung ausgehenden Veränderungen beinahe von Tag zu Tag verschlechterten, gemacht werden. Drittens haben sich in eskalierten die Konflikte über die Grund- den vergangenen Jahrzehnten Verkrus- richtung der Regierungspolitik. Kurz vor tungen und Vermachtungen gebildet, der Jahreswende 2002/03 formulierten die zu hohen Effizienzverlusten führen.»3 MitarbeiterInnen der von Heiko Geue – Weiter hieß es, dass die Rente mit einem heute Wahlkampfmanager des SPD- Drittel den größten Ausgabenblock im Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück – ge- Bundeshaushalt bilde, den über die Ein- leiteten Planungsabteilung des damals nahmeseite zu konsolidieren problema- vom heutigen SPD-Fraktionsvorsitzenden

Frank-Walter Steinmeier geführten Kanz- 2 Vgl. Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsit - leramtes ein Thesenpapier mit dem Titel zes. Europäischer Rat (Lissabon), 23. und 24. März 2000, http://www.europarl.europa.eu/summits/lis1_de.htm «Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Be- (24.1.2013). 3 Chef BK, Arbeitsbereich Planung (Dr. Geue): schäftigung und Gerechtigkeit», das die Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Ge- rechtigkeit. Thesenpapier für die Planungsklausur, Berlin, De- Politik der Bundesregierung fortan maß- zember 2002 (hektografiert), S. 2. 4 tisch sei, weil BürgerInnen und Unter- systeme nach Ansicht des Bundeskanz- nehmerInnen dann noch stärker belastet leramtes überall auf der Welt vor große würden: «Sowohl unter wirtschaftspoliti- Probleme. Zwar gebe es keinen grund- schen Gesichtspunkten (hohe Sparquo- sätzlichen Gegensatz zwischen interna- te, geringe Konsumquote) als auch unter tionaler Wettbewerbsfähigkeit und So- Aspekten der Gerechtigkeit wird man der zialpolitik, wie häufig behauptet werde. Diskussion über eine weitere Beteiligung «Die Globalisierung führt nicht zwangs- auch der Rentner an der Rückführung der läufig zu einer Erosion der sozialen Siche- konsumtiven Ausgaben nicht auswei- rungssysteme, sie verändert allerdings chen können. Es ist zu prüfen, wie durch die Bedingungen für ihren Erfolg.»6 Für eine von der Rürup-Kommission neu zu die weiter zunehmende Arbeitslosigkeit entwickelnde Rentenformel der Ausga- wurde in erster Linie die Entwicklung der benblock Rente in den nächsten Jahren Personalzusatzkosten verantwortlich ge- relativ verringert werden kann.»4 macht: «Wie schädlich steigende Lohn- In einer Senkung der Steuer- und Ab- nebenkosten sind, zeigt die Entwicklung gabenbelastung sah das Bundeskanz- seit der Wiedervereinigung: 1990 betru- leramt einen «Königsweg», um mehr gen die Beitragssätze zur Sozialversi - Beschäftigung und Vertrauen bei den cherung noch 35,5 %. Bis 1998 waren BürgerInnen zu schaffen. «Es entwickelt sie auf den historischen Höchstwert von sich eine dreifach positive Wirkung auf 42 % gestiegen. Im gleichen Zeitraum ist die Investitionen: Unternehmer erwar- die Arbeitslosigkeit von 2,6 Mio. auf 4,28 ten, dass die Menschen mehr konsu- Mio. Arbeitslose im Jahresdurchschnitt mieren; niedrigere Steuern verbessern gestiegen.»7 So berechtigt es zu sein die Möglichkeit der Gewinnerzielung; schien, zwischen den Zahlen der beiden niedrigere Abgaben verbilligen die mit genannten Zeitreihen einen Zusammen- einem Beschäftigungsaufbau verbunde- hang herzustellen, so unrichtig war es, nen Investitionen.»5 Da mehr Arbeitsplät- die Massenarbeitslosigkeit auf gestiege- ze wiederum den Konsum stärkten und ne Personalzusatzkosten zurückzuführen. die sozialen Sicherungssysteme entlas- Ursache und Wirkung wurden miteinan- teten, erhalte die positive Wirkung der der verwechselt: «Die hohe Erwerbslosig- ursprünglichen Steuer- und Abgaben- keit ist die Ursache für die hohen Lohnne- entlastung «Nahrung aus sich selbst», benkosten und nicht umgekehrt.»8 sodass sich der Kreislauf spiralförmig Die fehlerhafte Analyse des Kanzleramtes nach oben gerichtet fortsetzen könne. führte zu einer falschen Strategie, die das Hier wird deutlich, dass die Planer ihr oben genannte Thesenpapier so umriss: Hauptaugenmerk auf das Kapital und sei- «Deswegen und vor dem Hintergrund ne Möglichkeiten der Profitmaximierung des demographischen Wandels (immer richteten, weil sie dessen Interessen mit weniger Junge müssen in Zukunft im - dem Allgemeinwohl gleichsetzten und

spekulative Erwartungen im Hinblick auf 4 Ebd., S. 10 (Hervorh. im Original). 5 Ebd., S. 12 (Hervorh. die arbeitsplatzschaffende Wirkung von im Original). 6 Ebd., S. 14. 7 Ebd., S. 15 (Hervorh. im Ori- ginal). 8 Buntenbach, Annelie: Abbauarbeiten am Sozial - Unternehmensgewinnen hegten. staat. Praktische Beiträge der Bundesregierung zur Massen- Folgen der hohen Arbeitslosigkeit und der erwerbslosigkeit, in: dies./Kellershohn, Helmut/Kretschmer, Dirk (Hrsg.): Ruck-wärts in die Zukunft. Zur Ideologie des kollektiven Alterung stellten die Sozial­ Neokonservatismus, 1998, S. 163. mer mehr Alte unterstützen) ist eine der laufenen Haushaltsjahr die Drei-Prozent- 5 Kernstrategien der Bundesregierung die Grenze des Stabilitäts- und Wachstum- auf eine Absenkung der Lohnnebenkos- spakts überschritten hatte, und dass die ten abzielende Modernisierung der sozi- SPD bei den Landtagswahlen in Hessen alen Sicherungssysteme.»9 Erwerbslosig- und Niedersachsen am 2. Februar 2003 keit und Unternehmensgewinne hatten herbe Verluste erlitt, die dort der CDU schon während der «Kohl-Ära» gleicher- die Regierungsübernahme ermöglich- maßen Rekordhöhen erreicht, weshalb es ten, wodurch im Vermittlungsausschuss völlig abwegig war anzunehmen, die Sen- von und Bundesrat ein Patt kung der (gesetzlichen) «Lohnnebenkos- entstand, das bei umfassenderen Geset- ten» werde einen Beschäftigungsboom zesvorhaben wie der Gesundheitsreform auslösen. Vielmehr erwies sich der Glau- zu einer Kooperation mit der Opposition be, die Umstellung des Sozialsystems zwang.11 von Beitrags- auf Steuerfinanzierung und Nachdem die Leitmedien der Bundes- die einseitige, nicht mehr paritätisch, republik wochenlang darüber spekuliert sondern privat finanzierte Versicherung hatten, wie die in demoskopischen Um- von Lebensrisiken schafften zusätzliche fragen ermittelten Ansehensverluste von Arbeitsplätze, wirtschaftliche Stabilität Gerhard Schröder und seiner Regierung und mehr soziale Gerechtigkeit, als Illu­ in der Öffentlichkeit durch möglichst sion – genauso wie die durchschimmern- «einschneidende» oder «schmerzhafte» de Hoffnung, das Kapitaldeckungsprinzip Reformen behoben werden könnten, löse die Probleme der Alterssicherung gab dieser am 14. März 2003 vor dem einer schrumpfenden Erwerbsbevölke- Bundestag eine Regierungserklärung rung (zumindest besser als das Umlage- ab. Sie trug den hochtrabenden Namen verfahren der gesetzlichen Rentenversi- «Agenda 2010», der angeblich einem cherung). Denn in beiden Fällen handelt Vorschlag seiner Frau Doris Schröder- es sich um eine bloße Problemverschie- Köpf zu verdanken ist.12 Mit seiner kurz bung, die nichts an den Ursachen des vor der Bombardierung Bagdads durch Kostenanstiegs ändert. Überzeugend die USA und ihre «Koalition der Willigen» argumentiert hingegen Diether Döring, sowie dem Beginn des Zweiten Irakkrie- dass die Ausdehnung der Sozialversiche- ges gehaltenen Rede suchte der Bundes- rungspflicht (auf ihr bislang nicht unter- kanzler unter dem Doppelmotto «Mut liegende Gruppen) einer hoch individua- zum Frieden und Mut zur Veränderung» lisierten Leistungsgesellschaft, die sich nach deprimierenden Diskussionen über dem Globalisierungsprozess stellt, ent- neue Rekordzahlen bei der Arbeitslosig- spreche und dort auch große Akzeptanz keit und negativen Reaktionen hierauf finde.10 wieder in die Offensive zu gelangen. Erleichtert wurde den «Modernisierern» die Verschärfung des Regierungskurses 9 Chef BK , A rbeitsbereich Planung (Dr. Geue): Auf dem Weg, S. 15. 10 Vgl. Döring, Diether: Sozialstaat in unübersichtli- zur Umstrukturierung der Sozialsysteme chem Gelände. Erkundung seiner Reformbedarfe unter sich dadurch, dass die EU-Kommission am verändernden Rahmenbedingungen, in: ders. (Hrsg.): Sozi - alstaat in der Globalisierung, Frankfurt a. M. 1999, S. 25 f. 21. Januar 2003 ein Defizitverfahren ge- 11 Vgl. Schmucker, Rolf: Klassenmedizin, in: Blätter für gen die Bundesrepublik einleitete, weil deutsche und internationale Politik 4/2003, S. 408. 12 Vgl. Schröder, Gerhard: Entscheidungen. Mein Leben in der Po- sie bei der Neuverschuldung im abge- litik, Hamburg 2006, S. 393. 6 Entworfen hatte die Agenda 2010 ein Innovation und Wettbewerb auf dem kleiner Zirkel von Schröder-Vertrauten Arbeitsmarkt und in den sozialen Sys- im Kanzleramt. Indirekt war auch die temen zu überwinden.»13 Zwar blieb die Stiftung, welche die Re- Bertelsmann Stiftung im Hintergrund, ih- gierungspolitik der Bundesrepublik seit re Experten hatten jedoch wesentlichen Schröders Amsübernahme 1998 stär- Anteil daran, dass sich neoliberales Ge- ker beeinflusste, an den Vorarbeiten be- dankengut um die Jahrtausendwende teiligt. «Das Grundkonzept der Agenda auf den höchsten Regierungs- und Ver- 2010 hat eine neoliberale Tendenz und waltungsebenen durchsetzte. Das gilt für stammt aus den angelsächsischen Län- die Agenda-Rede ebenso wie für die als dern. Es zielt darauf ab, die Wachstums- «Hartz IV» bekannt gewordene Arbeits- schwäche der Wirtschaft durch mehr marktreform.14

Aussagen und Argumentationslinien der Agenda-Rede

Deutschland kämpfe mit einer Wachs- ab 2004 mehrere «Nullrunden» über tumsschwäche, die nicht zuletzt struktu- sich ergehen lassen, die in Wirklichkeit rell bedingt sei, sagte Schröder in seiner Minusrunden waren, weil ihre Einkom- Regierungserklärung: «Die Lohnneben- men stagnierten, während die Verbrau- kosten haben eine Höhe erreicht, die für cherpreise sowie ihre Beiträge zur Kran- die Arbeitnehmer zu einer kaum mehr ken- und Pflegeversicherung stiegen. Im tragbaren Belastung geworden ist und selben Jahr wurde nach der sogenann- die auf der Arbeitgeberseite als Hinder- ten Riester-Treppe ein weiterer «Dämp- nis wirkt, mehr Beschäftigung zu schaf- fungs-», genauer: Kürzungsfaktor in die fen.»15 In dieser Situation müsse seine Rentenanpassungsformel eingefügt, der Regierung entschlossen handeln, um die mit dafür sorgen wird, das Rentenniveau Rahmenbedingungen für mehr Wachs- vor Steuern bis zum Jahr 2030 um 20 tum und Beschäftigung zu verbessern: bis 25 Prozent zu senken. Unternehme- «Wir werden Leistungen des Staates kür- rInnen und FreiberuflerInnen wurde da- zen, Eigenverantwortung fördern und gegen überhaupt kein finanzielles Opfer mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abverlangt. Sie profitierten vielmehr von abfordern müssen. Alle Kräfte der Gesell- Steuersenkungen, die hauptsächlich Ka- schaft werden ihren Beitrag leisten müs- pitaleigentümerInnen und Spitzenverdie- sen: Unternehmer und Arbeitnehmer, nerInnen entlasten. freiberuflich Tätige und auch Rentner.»16 Hier zeigt sich die ganze Demagogie 13 Böckelmann, Frank/Fischler, Hersch: Bertelsmann. Hinter der Fassade des Medienimperiums, Frankfurt a. M. der Schröder’schen Agenda 2010. Ent- 2004, S. 227. 14 Vgl. Schuler, Thomas: Bertelsmannrepub- gegen den Behauptungen in seiner Re- lik Deutschland. Eine Stiftung macht Politik, Frankfurt a. M./ New York 2010, S. 112 ff. 15 Presse- und Informationsamt gierungserklärung wurden die Kosten der Bundesregierung (Hrsg.): Agenda 2010. Mut zu Frieden der Reformpolitik nämlich sehr ungleich und Mut zur Veränderung, Regierungserklärung von Bun - deskanzler Gerhard Schröder, 14. März 2003, Berlin 2003, verteilt. So mussten die RentnerInnen S. 7. 16 Ebd., S. 8. Schröder sprach von einer «gewaltigen Wählerstimmen zu gewinnen sein wür- 7 gemeinsamen Anstrengung», die nö- den. tig sei, aber letztlich auch zum Ziel füh- Schröder führte mehrere Beispiele an, ren werde. Man müsse, meinte der Bun- wie die rot-grüne Koalition den angeb- deskanzler, zum Wandel im Innern bereit lich notwendigen Reformprozess be- sein und genügend Mut zur Veränderung reits vorangetrieben habe, darunter die aufbringen, zumal nur zwei Möglichkei- Schaffung der kapitalgedeckten pri- ten bestünden: «Entweder wir moderni- vaten Altersvorsorge, die mehrstufige sieren, und zwar als soziale Marktwirt- Einkommensteuerreform, die «Moder- schaft, oder wir werden modernisiert, nisierung der Gesellschaft» im Famili- und zwar von den ungebremsten Kräf- enbereich, beim Staatsangehörigkeits- ten des Marktes, die das Soziale beisei- recht und bei der Zuwanderung sowie te drängen würden.»17 Auf diese Weise die Verbesserung der Bedingungen für rechtfertigte Schröder alle von ihm unter- schulische und vorschulische Bildung. nommenen Schritte als «kleineres Übel», Zu den weitreichenden Strukturrefor- auch wenn sie in die Richtung einer neo- men, die Deutschland bei Wohlstand liberalen Modernisierung wiesen und po- und Arbeit wieder an die Spitze bringen litisch den Weg für noch marktradikalere sollten, gehörten Schröder zufolge die Lösungen ebneten. Lockerung des Kündigungsschutzes in Da die Struktur der Sozialsysteme seit Kleinbetrieben (Ankündigung, befristet einem halben Jahrhundert praktisch un- Beschäftigte sowie Leih- bzw. Zeitarbei- verändert geblieben sei und Instrumen- terInnen nicht mehr auf die geltenden te der sozialen Sicherheit heute sogar Obergrenzen anzurechnen), eine Um- zu mehr Ungerechtigkeit führten – hier gestaltung der Regeln für die Sozialaus- nannte Schröder die Belastung des «Fak- wahl, eine Vereinfachung des Steuer- tors Arbeit» (gemeint: der Arbeitgeber) rechts für Kleinbetriebe, die Verringerung und den Anstieg der «Lohnnebenkosten» der Höchstbezugszeit des Arbeitslosen- während der Kohl-Regierung –, komme geldes auf 12 und für alle über 55 auf 18 man an durchgreifenden Veränderun- Monate, eine «Nachjustierung» bei der gen nicht vorbei: «Der Umbau des Sozi- Rentenversicherung, eine Revision des alstaates und seine Erneuerung sind un- Leistungskatalogs der gesetzlichen Kran- abweisbar geworden. Dabei geht es nicht kenkassen und eine private Versicherung darum, ihm den Todesstoß zu geben, für das Krankengeld. sondern ausschließlich darum, die Sub­ Obwohl es den Agenda-KritikerInnen in stanz des Sozialstaates zu erhalten.»18 Mit der SPD nicht gelang, die für ein Mitglie- derselben Argumentation, die im Grun- derbegehren dagegen nötige Anzahl von de einen Blankoscheck für Leistungsein- UnterstützerInnen zu gewinnen, sah sich schränkungen und Kürzungsmaßnah- die sozialdemokratische Führung genö- men darstellt, hatten bisher noch fast alle tigt, einen Sonderparteitag am 1. Juni Politiker seit Heinrich Brüning eine reak- 2003 nach Berlin einzuberufen. Dort er- tionäre, restriktive und regressive Sozial- hielten zwar RednerInnen, die scharfe politik gerechtfertigt,19 weil sie wussten, dass durch eine offene Kampfansage 17 Ebd., S. 12. 18 Ebd. 19 Vgl. hierzu Butterwegge, Chris- toph: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 4. Aufl., Wiesba- gegenüber dem Wohlfahrtsstaat kaum den 2012, S. 54 f f. 8 Kritik an der Agenda 2010 übten, großen nem Sonderparteitag von Bündnis 90/Die Beifall; Gerhard Schröder, der mehrfach Grünen in Cottbus gab es am 14./15. Juni mit seinem Rücktritt als Parteivorsitzen- 2003 ebenfalls klare Voten für die Kanzler- der und Bundeskanzler gedroht hatte, Agenda. Deren legislative Umsetzung er- bekam aber die Unterstützung von un- wies sich jedoch als schwierig und lang- gefähr zwei Dritteln der Delegierten für wierig, weil die von CDU/CSU und FDP seinen Kurs, nachdem einige Punkte der regierten Länder im Bundesrat über eine Agenda 2010 in einem Leitantrag abge- klare Mehrheit verfügten. Das führte zu schwächt und prinzipiellere Fragen auf einer Radikalisierung der (Arbeitsmarkt-) einen Programmparteitag im November Reformen, die im Konsens aller etablier- 2003 verschoben worden waren. Auf ei- ten Parteien verwirklicht wurden.

Die rot-grüne Arbeitsmarktreform als Kern der Agenda 2010

Gerhard Schröders Agenda flankierte das Schicksal zu, sondern bestätigte auch die für die rot-grüne Regierungspolitik zen­ Stammtischweisheit, wonach man nur trale Gesetzgebungsverfahren zur Re- die Arbeitslosenunterstützung auf das form des Arbeitsmarktes. «Hartz IV» ist soziokulturelle Existenzminimum senken die berühmt-berüchtigte Chiffre für den muss, um die Betroffenen zur Annahme bis heute mit Abstand tiefsten Einschnitt einer Stelle zu zwingen. in das deutsche Sozialmodell. Bundes- Gleichzeitig brach Schröder das Wahl- kanzler Schröder legte sich am 14. März versprechen der SPD, die Arbeitslosen- 2003 hinsichtlich der Höhe des geplan- unterstützung nicht auf die Höhe der ten Arbeitslosengeldes (Alg) II, welche Fürsorgeleistung herabzudrücken: «Wir die nach dem damaligen VW-Manager bekennen uns zur besonderen Verant- Peter Hartz benannte Kommission in ih- wortung gegenüber den Schwächeren in rem Abschlussbericht offen gelassen unserer Gesellschaft. Deswegen wollen hatte, erstmals fest. Er sagte in seiner wir im Rahmen der Reform der Arbeits­ Agenda-Rede, man müsse die Zustän- losen- und Sozialhilfe keine Absenkung digkeiten und Leistungen für Erwerbslo- der zukünftigen Leistungen auf Sozial- se in einer Hand vereinigen, um die Chan- hilfeniveau.»21 Die von Schröder in seiner cen derjenigen zu erhöhen, die nicht nur Agenda-­Rede hoffähig gemachte Sprach- arbeiten könnten, sondern auch wirklich regelung, bei Hartz IV handle es sich um wollten: «Das ist der Grund, warum wir eine «Zusammenlegung» von Arbeitslo- die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusam- sen- und Sozialhilfe, war verharmlosend, menlegen werden, und zwar einheitlich beschönigend und beschwichtigend. Mit auf einer Höhe – auch das gilt es auszu- sprechen –, die in der Regel dem Niveau 20 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Agenda 2010, S. 22. 21 Vorstand der SPD (Hrsg.): 20 der Sozialhilfe entsprechen wird.» Hier- Erneuerung und Zusammenhalt – Wir in Deutschland. Regie- mit schob der Bundeskanzler nicht bloß rungsprogramm 2002–2006, Berlin o. J., S. 26 (ht tp://w w w. documentarchiv.de/brd/2002/wahlprogramm_spd_2002. den Erwerbslosen die Schuld an ihrem html#4; 24.2.2013). der Arbeitslosenhilfe (Alh) wurde nämlich schaft» entlehnt, welches es ermöglich- 9 zum ersten Mal nach dem Zweiten Welt- te, Einkommen und Vermögen von Per- krieg in Deutschland eine für Millionen sonen, die mit dem Antragsteller weder Menschen existenziell wichtige Sozial­ verwandt noch ihm gegenüber zum Un- leistung abgeschafft. terhalt verpflichtet sind, aber mit ihm zu- Matthias Knuth, Forschungsdirektor am sammen in einer Wohnung leben, bei der Institut Arbeit und Qualifikation der Uni- Bedürftigkeitsprüfung anzurechnen. versität Duisburg-Essen, begreift Hartz In den Hochglanzbroschüren, die der Be- IV als eine sich ständig selbst widerle- völkerung Hartz IV näherbringen sollten, gende Reform, die deshalb für die poli- wurde besonders hervorgehoben, dass tische Landschaft der Bundesrepublik erwerbsfähige SozialhilfeempfängerIn- Deutschland so folgenreich ist, weil sie nen nunmehr Alg II (Grundsicherung für den Wechsel vom Versicherungs- zum Arbeitsuchende) erhalten, renten-, kran- Fürsorgeregime vorantrieb. Durch die ken- und pflegeversichert werden sowie Abschaffung der Arbeitslosenhilfe sei- in den Genuss der arbeitsmarktpoliti- en die Erwerbslosen mehrheitlich ihres schen Maßnahmen der Bundesagentur «Arbeitsbürger-Status» beraubt worden: für Arbeit kommen.23 Verschwiegen wur- «Die Einführung der Grundsicherung für de, dass man Letzteres auch einfacher Erwerbsfähige ohne gleichzeitige ge- hätte bewirken können, ohne die Arbeits- setzliche Mindestlohnregelung leistet losenhilfe als eine auf höherem Niveau einer Abwärtsspirale Vorschub, bei der angesiedelte Leistungsart abzuschaffen. Entlohnungsbedingungen immer mehr Durch die «Zusammenlegung» von Ar- nach unten ausfransen und ergänzen- beitslosen- und Sozialhilfe geriet Letz- de staatliche Unterstützung erforderlich tere unter stärkeren Druck. Folgerichtig machen, während die Beitrags- und Be- trat gleichfalls zum 1. Januar 2005 eine steuerungsbasis erodiert.»22 Sozialhilfereform in Kraft, die das Bun- Das als Ersatz eingeführte Alg II orientiert dessozialhilfegesetz (BSHG) in das So- sich nicht mehr am früheren Nettover- zialgesetzbuch (SGB) XII überführte und dienst eines Langzeitarbeitslosen, lässt das Niveau des letzten Sicherungsnet- vielmehr selbst Angehörige der Mittel- zes der Bundesrepublik besonders durch schicht wie FacharbeiterInnen und In- Perpetuierung des bisher Jahr um Jahr genieurInnen, wenn sie nicht bald wie- verlängerten Anpassungsmoratoriums der eine neue Stelle finden, nach einer und eine relativ niedrige Pauschalierung kurzen Schonfrist auf das (Sozialhilfe-) der sogenannten wiederkehrenden Ein- Niveau von Personen abstürzen, die nie malleistungen absenkte – für Rainer Roth erwerbstätig waren. Man hätte das «Ar- das eigentliche Ziel.24 Wie Helga Spind- beitslosengeld II» ehrlicher «Sozialhilfe II» ler zeigt, wurde mit der neuen Regelsatz- taufen sollen, weil sein Regelsatz nur Für- verordnung, die der Bundesrat am 14. sorgeniveau erreicht und weil nicht bloß Mai 2004 billigte, eine weitere Runde zur Arbeitslose, sondern auch «AufstockerIn- nen» genannte GeringverdienerInnen die 22 Knuth, Matthias: «Hartz IV» – die unbegriffene Reform, in: Sozialer Fortschritt 7/2006, S. 165. 23 Vgl. z. B. SPD- neue Transferleistung beziehen. Von der Bundestagsfraktion (Hrsg.): Hartz IV: Menschen in Ar- Sozialhilfe wurde auch das für Hartz IV beit bringen – Deutschland erneuern, Berlin, September 2004. 24 Vgl. Roth, Rainer: Nebensache Mensch. Arbeits- typische Konstrukt der «Bedarfsgemein- losigkeit in Deutschland, Frank fur t a. M. 2003, S. 394. 10 Senkung des soziokulturellen Existenz- Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und minimums eingeläutet.25 Vor allem der die Abschiebung der Langzeitarbeitslo- schlecht kompensierte Wegfall «wieder- sen in die Fürsorge den stark defizitären kehrender einmaliger Leistungen», etwa Staatshaushalt entlasten, andererseits zur Beschaffung von Winterkleidung, zur wollte man durch materiellen Druck und Reparatur einer Waschmaschine oder Einschüchterung der Betroffenen mehr zum Kauf von Schulbüchern für Kinder und stärkere «Beschäftigungsanreize» und Jugendliche, hat negative Auswir- schaffen. Die teils drastischen Leistungs- kungen auf SozialhilfeempfängerInnen, kürzungen sowie erneut verschärfte die früher entsprechende Anträge ge- Zumutbarkeitsklauseln zwingen Lang- stellt und bewilligt bekommen hatten. zeitarbeitslose, ihre Arbeitskraft zu Dum- Hartz IV brach mit dem Prinzip der Le - pingpreisen zu verkaufen. bensstandardsicherung, das den deut- Was linke «Abweichler» innerhalb der schen Sozial(versicherungs)staat bis da- SPD-Fraktion wie Ottmar Schreiner aus hin ausgezeichnet hatte. «Im Ergebnis dem Regierungsentwurf durch ihre Dro- verliert die untere Mittelschicht, die bisher hung, das Gesetz abzulehnen, heraus- von einer eher ‹statusorientierten› Sozial- bekommen hatten, brachten CDU/CSU politik profitiert hat und sich nun stärker und FDP in den Sitzungen des Vermitt- in Richtung kulturelles Existenzminimum lungsausschusses von Bundestag und bewegt.»26 Barbara Stolterfoht hob zwei Bundesrat, der sich am 19. Dezember Effekte hervor: «Hartz IV erhöht die so- 2003 auf eine Fülle an Regelungen ei - ziale Fallhöhe massiv und weitet gleich- nigte, wieder hinein: Langzeitarbeitslose zeitig den Kreis der potentiell von Armut müssen auch Stellen annehmen, die we- betroffenen Menschen erheblich aus.»27 der tarifgerecht noch ortsüblich entlohnt Trifft die «Zusammenlegung» von Arbeits- werden. Hartz IV verschärfte die Zumut- losen- und Sozialhilfe besonders Ältere, barkeitsregelungen für Langzeitarbeits- die bis zur Rente Arbeitslosenhilfe bezie- lose ein weiteres Mal. Nicht nur der Be- hen wollten, sind Familien, Kinder und rufs- und Qualifikationsschutz, sondern Jugendliche die Hauptleidtragenden der auch die Würde der Betroffenen blieben relativ niedrigen Pauschalierung früher zu- dabei auf der Strecke. sätzlich gewährter und nunmehr in einem Seit dem Inkrafttreten von Hartz IV müs- höheren Regelsatz aufgegangener Beihil- sen Langzeitarbeitslose – wie früher fen: «Während dadurch alleinstehende schon BezieherInnen von Hilfe zum Le- Erwerbslose und Menschen, die die Ein- bensunterhalt (HLU) – gegen eine mini- zelantragstellung scheuten, nicht wesent- male «Mehraufwandsentschädigung» lich verlieren oder zum Teil sogar zu den von ein oder zwei Euro pro Stunde im Gewinnern der Reform zählen, gehören öffentlichen Interesse liegende und zu- Familien mit Kindern zu den Verlierern der Reform. Ihr besonderer Mehrbedarf wird 25 Vgl. Spindler, Helga: Die neue Regelsatzverordnung – Das Existenzminimum stirbt in Prozentschritten, in: info also in den pauschalierten Regelsätzen nicht 4/2004, S. 147. 26 Koch, Susanne/Walwei, Ulrich: Hartz IV: genügend berücksichtigt.»28 neue Perspektiven für Langzeitarbeitslose?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 16/2005, S. 11. 27 Stolterfoht, Barbara: Mit der Agenda-Politik und Hartz IV ver- Abkehr vom Sozialversicherungsstaat? Sozial- und armuts- folgte die rot-grüne Bundesregierung ei- politische Schlussfolgerungen aus Anlass von Hartz IV, in: spw – Zeitschrif t für Sozialistische Politik und W ir tschaf t 14 0 ne Doppelstrategie: Einerseits sollten die (2004), S. 42. 28 Ebd. sätzliche (nicht mehr unbedingt gemein- konzepts ist jedoch wenig geeignet, 11 nützige) Arbeit leisten, wollen sie ihren eine nachhaltige Eingliederung in das Be- Anspruch auf Unterstützung nicht zu 30 schäftigungssystem zu erreichen.»31 Prozent (und später ganz) einbüßen. Bei Neu war, dass auch früher mittels ei- den Arbeitslosen unter 25 Jahren ent- ner Lohnersatzleistung vor Armut und fällt diese sofort. Auf dem Arbeitsmarkt sozialer Ausgrenzung weitgehend Ge- führen die sogenannten Ein-Euro-Jobs schützte zum Kreis der Entrechteten ge- zu einem schärferen Verdrängungs- hörten. Denn die rot-grüne Regierungs- wettbewerb von oben nach unten. Vor politik führte zu einer Rutsche in die allem Niedrigqualifizierte in Normalar- Armut: Nach der im «Gesetz zu Refor- beitsverhältnissen müssen gewärtigen, men am Arbeitsmarkt» vom 24. Dezem- durch Alg-II-BezieherInnen ersetzt zu ber 2003 auf maximal 12 bzw. 18 Monate werden, was Auswirkungen auf das ge- (früher: 32 Monate) für alle über 55 Jah- samte Lohngefüge hat. Daraus resultier- re alte Personen verkürzten Bezugszeit te eine «Spirale nach unten», wie Hans- des Arbeitslosengeldes I, die ab 1. Feb- Jürgen Urban diesen Teufelskreis nennt: ruar 2006 generell galt, mussten Hartz- «Der Hartz-IV-Regelsatz entfaltet Druck IV-Betroffene praktisch jede Beschäf- auf Einkommen und Arbeitsverhältnis- tigungsmöglichkeit ergreifen, selbst se, umgekehrt drücken Niedriglöhne den dann, wenn sie bloß einen Hungerlohn Hartz-IV-Regelsatz.»29 einbringt. Schließlich wurde der Kündi- Die mittels der Agenda 2010 durchge- gungsschutz für Ältere ausgehebelt und setzten Reformen tragen Züge einer so- den Betroffenen wichtige, anderen Ar- zialpolitischen Zeitenwende, wie es sie beitnehmerInnen zumindest noch zuge- zuletzt am Ende der Weimarer Republik standene Rechtsansprüche geraubt. Die gab. Bei den Ein-Euro-Jobs etwa drän- sogenannten Hartz-Gesetze brachten un- gen sich Parallelen zum Freiwilligen Ar- sägliches Leid über davon Betroffene und beitsdienst auf. «Die neue Workfare be- ihre Familien und machten die Bundes- schreibt […] eine Tendenz zu breiten, republik zu einem «kalten Land», wie der verpflichtenden, neuen Arbeitsdiensten Titel eines Buches darüber lautet.32 Letzt- mit Leistungszwang.»30 Arbeitsförde- lich wurde das soziale Klima der Bundes- rung, die Erwerbslosen mehrere Wahl- republik vergiftet, ihre politische Kultur und Entwicklungsmöglichkeiten zu belastet sowie die Spaltung des Landes eröffnen suchte, wird heute unter Andro- in Arm und Reich vertieft.33 hung und/oder Anwendung von Sanktio- 29 Urban, Hans - Jürgen: Har t z IV: Lohndumping mit System, nen betrieben. Walter Hanesch und Im- in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2011, S. ke Jung-Kroh hoben den Strafcharakter 20. 30 Allex, Anne: Politische Tendenzen der Agenda 2010, in: Kindler, Holger/Regelmann, Ada-Charlotte/Tullney, Marco der «Aktivierung» nach dem SGB II her- (Hrsg.): Die Folgen der Agenda 2010. Alte und neue Zwänge vor und betonten darüber hinaus, «dass des Sozialstaats, Hamburg 2004, S. 27. 31 Hanesch, Walter/ Jung-Kroh, Imke: Anspruch und Wirklichkeit der «Aktivie- künftig eine Eingliederung um jeden Preis rung» im Kontext der «Sozialen Stadt», in: Hanesch, Walter/ Krüger-Conrad, Kirsten (Hrsg.): Lokale Beschäftigung und erzwungen werden soll, unabhängig da- Ökonomie. Herausforderung für die «Soziale Stadt», Wies- von, ob dadurch eine reale Verbesserung baden 2004, S. 233. 32 Vgl. Bauer, Rudolph/Platta, Holdger (Hrsg.): Kaltes Land. Gegen die Verrohung der Bundesrepu- der materiellen Lage für die Betroffenen blik. Für eine humane Demokratie, Hamburg 2012. 33 Vgl. erreicht werden kann. Die restriktiv-pu- hierzu Butterwegge, Christoph: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 3. nitive Ausrichtung dieses Aktivierungs- Aufl., Frank fur t a. M./New York 2012, S. 168 f f. 12 Auf dem Weg zum Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat

Hartz IV führte zur Verschärfung der so- renden Transferleistungen indes einen zialen Schieflage im Land, zur Auswei- Doppeleffekt: Hartz IV machte zumindest tung der (Kinder-)Armut bis in die Mitte einen Teil der vorher verdeckten Armut der Gesellschaft hinein und zur Verbreite- sichtbar, erzeugte aber zugleich weite- rung des Niedriglohnbereichs. Letzteres re Armut. Einerseits nehmen auch viele war kein Zufall, sondern gewollt, wie die Menschen, darunter vor allem Geringver- Tatsache zeigt, dass Gerhard Schröder dienerInnen, FreiberuflerInnen und (So- es auf dem Weltwirtschaftsforum in Da- lo-)Selbstständige, das Arbeitslosengeld vos am 28. Januar 2005 als großen Erfolg II in Anspruch, die aus Scham nicht zum seiner Politik als Bundeskanzler feierte, Sozialamt gegangen wären, um «Stüt- «einen der besten Niedriglohnsektoren» ze» zu beantragen, andererseits erhalten in Europa geschaffen zu haben: «Wir ha- Millionen Langzeitarbeitslose, die früher ben einen funktionierenden Niedriglohn- EmpfängerInnen von Arbeitslosenhilfe sektor aufgebaut, und wir haben bei der gewesen wären, seither weniger oder so- Unterstützungszahlung Anreize dafür, gar überhaupt kein Geld mehr, weil das Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Partnereinkommen (z. B. gut verdienen- Vordergrund gestellt.»34 der Ehemänner und Lebenspartner) bei Ein staatlich geförderter Niedriglohn- Hartz IV sehr viel strikter auf den Leis- sektor, wie ihn die Agenda 2010 und tungsanspruch der AntragstellerInnen die Hartz-Gesetze errichten halfen, ver- (überwiegend Frauen) angerechnet wird. hindert weder Arbeitslosigkeit noch Ar- Insgesamt zeitigte das Gesetzespaket mut, sondern vermehrt Letztere eher. negative Verteilungseffekte, wie Irene Als ergänzende Sozialleistung zu einem Becker und Richard Hauser per Simu- sehr niedrigen Lohn konzipiert, bildet lationsanalyse nachwiesen: «Die Erset- das Arbeitslosengeld II für Lohndum- zung der Alh durch das Alg II hat für ei- ping betreibende UnternehmerInnen ei- nen Teil der Betroffenen zwar durchaus ne willkommene Subvention, deren Ge- positive Effekte, da verdeckte Armut von samtbetrag sich mittlerweile auf etwa 70 früheren Alh-Empfängern vermutlich ef- Milliarden Euro beläuft, die sogenannten fektiv abgebaut wird. Dies geht aber zu AufstockerInnen seit dem 1. Januar 2005 Lasten derjenigen, die bisher mit der Alh erhalten haben. Umso dringlicher wäre knapp oberhalb des Existenzminimums die gesetzliche Garantie eines flächende- gelebt haben. Die Reform führt also zu ckend gültigen und existenzsichernden einer Umverteilung innerhalb des un- Mindestlohns, wie ihn die weitaus meis- tersten Segments der Einkommensver- ten EU-Mitgliedsländer haben. teilung – wobei die Zahl der Verlierer do- Anke Hassel und Christof Schiller be- miniert – mit entsprechend fragwürdigen haupten, «dass mit der Reform die Ar- mut nicht erhöht, sondern verdeckte Ar- 34 Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem World Economic Forum in Davos, 28.1.2005, http://archiv. 35 mut aufgedeckt und bekämpft wurde». bundesregierung.de/bpaexport/rede/91/780791/multi.htm; Armutspolitisch hatten die als «Grund- 15.10.2010. 35 Vgl. Hassel, Anke/Schiller, Christof: Der Fall Har t z IV. W ie es zur Agenda 2010 kam und wie es weitergeht, sicherung für Arbeitsuchende» firmie- Frank fur t a. M./New York 2010, S. 53. Ergebnissen insbesondere für arbeitslo- tik nicht umsteuert – immer mehr Men- 13 se Frauen und in den neuen Ländern.»36 schen auf die Grundsicherung im Alter Armut, in der Bundesrepublik lange Zeit angewiesen sein werden.»37 Da die De- eher ein Rand(gruppen)phänomen, wur- regulierung des Arbeitsmarktes mit einer de durch die Hartz-Gesetze selbst für Demontage des Sozialstaates im Allge- Teile der Mittelschicht zur Normalität. meinen und der gesetzlichen Rentenver- «Hartz IV droht zum Lebensalltag für im- sicherung im Besonderen einherging, die mer mehr Menschen zu werden. Ein ge- Prekarisierung der Beschäftigungsver- fährlicher Trend, der sich – zumindest hältnisse und die (Teil-)Privatisierung der mit Blick auf die Zukunft – im Alter ver- Altersvorsorge mehr oder weniger Hand festigen könnte, weil auf Lohnarmut und in Hand gingen, war zunehmende Alters- Langzeitarbeitslosigkeit unweigerlich armut durch die Agenda-Politik vorpro- Altersarmut folgt und – wenn die Poli- grammiert.38

Gesundheits-, Renten- und Steuerreformen

Zwar bildete Hartz IV das Herzstück der Verbands-, Heil- und Hilfsmitteln sowie Agenda 2010 und wird daher häufig im durch die Einführung der Praxisgebühr in selben Atemzug genannt. Man unter- Höhe von zehn Euro pro Quartal gestärkt schätzt ihre gesellschaftspolitische Trag- werden sollte. Letztere wurde übrigens weite jedoch, wenn die Funktion von zum 1. Januar 2013 per einstimmig ge- Schröders Regierungserklärung auf die fassten Parlamentsbeschluss wieder ab- Legitimation seiner Arbeitsmarktreform geschafft. Wie realitätsfern und falsch reduziert wird. Denn schließlich waren Gerhard Schröders Einschätzungen die ersten beiden Hartz-Gesetze am 14. manchmal waren, zeigt die Bemerkung März 2003 bereits in Kraft, und es ging in seinen 2006 erschienenen Memoi- bei der Agenda 2010 nicht bloß um Ver- ren, dass die Praxisgebühr längst «eine änderungen auf dem Arbeitsmarkt. Die Selbstverständlichkeit» und ein gesund- damit verfolgten Pläne waren vielmehr heitspolitisches Instrument mit den «er- erheblich ambitionierter: Neben ge- hofften Steuerungswirkungen» sei.39 sundheits- und rentenpolitischen Maß- Typisch für die Brüche und Widersprü- nahmen nahm die Regierung Schröder/ che der Sozialpolitik von SPD und Bünd- Fischer auch wichtige steuerpolitische nisgrünen war folgende Konzession ge- Weichenstellungen vor, die der (Export-) genüber den Unionsparteien: Hatte man Wirtschaft eine größere Dynamik verlei- die Reprivatisierung dieses Gesundheits- hen sollten. Am 1. Januar 2004 trat das Gesundheits- 36 Becker, Irene/Hauser, Richard: Verteilungseffekte der Hartz-IV-Reform. Ergebnisse von Simulationsanalysen, modernisierungsgesetz (GMG) in Kraft, Berlin 2006, S. 102. 37 Buntenbach, Annelie: Sozialpolitik mit dem die gesetzliche Krankenversi- am Wendepunkt: Vom Sozialstaat zum Sozialhilfestaat?, in: Soziale Sicherheit 4/2010, S. 126. 38 Vgl. hier zu But ter weg- cherung (GKV) finanziell entlastet und die ge, Christoph/Bosbach, Gerd/Birkwald, Matthias W. (Hrsg.): «Eigenverantwortung» der Versicherten Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Si- cherung, Frankfurt a. M./New York 2012 39 Vgl. Schröder: durch höhere Zuzahlungen bei Arznei-, Entscheidungen, S. 414. 14 risikos für nach 1978 Geborene durch Am 1. Juli 2005 traten gesetzlich ver- CDU/CSU und FDP sofort nach dem Re- ordnete Beitragssenkungen in Kraft, die gierungswechsel im Herbst 1998 rück- ausschließlich den Arbeitgebern, nicht gängig gemacht, strich man den Zahner- jedoch den Versicherten zugutekamen, satz während der Verhandlungen im Juli weil diese den Zahnersatz und das Kran- 2003 ganz aus dem Leistungskatalog der kengeld nunmehr mit ihrem «Sonder- gesetzlichen Krankenkassen. Ab dem 1. beitrag» in Höhe von 0,9 Prozent des Januar 2005 sollten deren Mitglieder ihn Bruttolohns bzw. -gehalts ganz allein fi- (dort oder bei einer Privatassekuranz) zu- nanzieren. Durch die Ausgliederung des sätzlich versichern. Als sich während des Zahnersatzes aus der solidarischen GKV- Jahres 2004 herausstellte, dass die Er- Finanzierung und die Regelung, wonach hebung des zusätzlichen Beitrages von die gesetzlichen Krankenkassen ab dem Arbeitslosen und RentnerInnen einen 1. Januar 2005 «befundbezogene Fest- sehr hohen bürokratischen Aufwand er- zuschüsse» für Kronen, Brücken und fordern würde, suchte die Bundesregie- Prothesen zahlen, wurden nicht nur die rung zunächst gemeinsam mit der Uni- Versicherten zusätzlich be- und die Arbeit- on, welche diese vom Einkommen der geber entlastet, sondern auch Zahnärz- versicherten Person unabhängige Rege- tInnen und Dentallabors, welche die Ge- lung offenbar als Vorläuferin einer «Ge- sundheitsreform durchgängig begrüßten, sundheitsprämie» begriff und an ihr fest- zusätzliche Einnahmequellen eröffnet. hielt, nach einer Ersatzlösung. Am 26. Verteilungspolitisch bewirkte die Ge- November 2004 setzte die rot-grüne Ko- sundheitsreform 2004 daher eine weitere alition mittels ihrer Kanzlermehrheit ge- Lastenverschiebung zugunsten der Kapi- gen CDU/CSU und FDP im Bundestag talseite, während sie ArbeitnehmerInnen durch, dass Mitglieder der gesetzlichen und PatientInnen zusätzlich belastete. Krankenkassen den Zahnersatz dort mit Seit dem 1. Januar 2004 müssen Rentne- einem «Sonderbeitrag» in Höhe von 0,4 rInnen auch Krankenkassenbeiträge auf Prozent ihres Bruttomonatseinkommens Betriebsrenten und seit dem 1. April 2004 versichern müssen. Zwar trat diese Re- den vollen Beitragssatz in der Pflegever- gelung nunmehr mit einer sechsmo- sicherung entrichten. Noch härter als die natigen Verzögerung am 1. Juli 2005 in genannten Bevölkerungsgruppen traf es Kraft, dafür wurde aber der erst zum 1. (Senioren- bzw. Pflege-)Heimbewohne- Januar 2006 geplante Aufschlag in Hö- rInnen, Arbeitslosen- und Sozialhilfehil- he von 0,5 Prozent für die separate Ver- feempfängerInnen sowie Obdachlose, sicherung des Krankengeldes durch die die bislang von jeder Zuzahlungspflicht ArbeitnehmerInnen (und paradoxerwei- befreit gewesen waren. Hatten sie vor- se auch RentnerInnen) um gleichfalls ein her (ebenso wie Kinder und Jugendliche halbes Jahr auf dasselbe Datum vorgezo- bis zum vollendeten 18. Lebensjahr) bei gen. Hierdurch wurden die Versicherten Arznei-, Verbands-, Heil- und Hilfsmit- per saldo noch mehr als nach der vorher teln, aber auch bei stationären Vorsorge- geplanten Neuregelung belastet, die Ar- und Rehabilitationskuren bzw. Kranken- beitgeber hingegen noch ein wenig stär- hausaufenthalten einen Anspruch auf ker entlastet, als ursprünglich im GMG die volle Kostenübernahme durch ihre festgelegt. Kasse oder das Sozialamt, mussten sie nunmehr Rechnungen zunächst selbst tenniveaus, eine Verlängerung der Le- 15 bezahlen, die Quittungen sammeln und bensarbeitszeit (schrittweise Anhebung sich das Geld bei Überschreiten von zwei des gesetzlichen Rentenalters von 65 bzw. ein Prozent (ChronikerInnen) des auf 67 Jahre) und die Ergänzung der Bruttoeinkommens später erstatten las- Renten(anpassungs)formel um einen sen. «Nachhaltigkeitsfaktor» vor. Dieser soll Die am 12. November 2002 von Ulla (vornehmlich aus kollektiven Alterungs- Schmidt berufene, unter dem Namen prozessen und Beschäftigungskrisen ihres Vorsitzenden Bert Rürup bekannt erwachsende) Verschiebungen im Ver- gewordene «Kommission für die Nach- hältnis von RentnerInnen zu Beitrags- haltigkeit in der Finanzierung der Sozi- zahlerInnen berücksichtigen. «Damit alen Sicherungssysteme» sollte unter wird ein automatischer Stabilisator in das Gewährleistung von «Generationenge- Rentensystem eingebaut, der dessen Im- rechtigkeit» neue Finanzierungsgrund- munität gegen Veränderungen der de- lagen im Bereich der sozialen Sicherung mografischen und ökonomischen Rah- (gesetzliche Kranken-, Pflege- und Ren- menbedingungen deutlich erhöht.»41 tenversicherung) entwickeln. Am 28. Au- Völlig klar war der Rürup-Kommission, gust 2003 legte die Rürup-Kommission dass durch den «Nachhaltigkeitsfaktor» ihren Abschlussbericht vor. Zutreffend künftige Generationen im Ergebnis ent-, wird festgestellt, dass «Arbeitnehmer- RentnerInnen hingegen stärker belastet versicherungen» mit auf das Einkommen werden dürften, was sie als eine «Stär- bezogenen Beiträgen den Kern des deut- kung der intergenerativen Gerechtigkeit» schen Sozialsystems bilden. Aus dieser bezeichnete und als ergänzendes Ziel ne- Finanzierungsweise folgert man, dass es ben die «Entlastung des Faktors Arbeit» künftig verstärkt unter Druck gerät, weil stellte: «Da ein Kostenanstieg als Folge «steigende Altenquotienten und sinken- der Bevölkerungsalterung unvermeid- de Wachstumsraten» sich negativ auf bar ist, muss es das Ziel sein, diese Kos- die Sozialversicherungsbeiträge auswir- ten nicht nur möglichst beschäftigungs- ken müssten. Priorität für die Kommissi- freundlich, sondern auch gleichmäßiger on hatte deswegen – wie hätte es auch zwischen den Generationen zu verteilen. anders sein können – eine Senkung der Eine am Ziel der generativen Gleichbe- «Lohnnebenkosten»: «Die positiven be- handlung ausgerichtete Nachhaltigkeits- schäftigungspolitischen Konsequenzen politik wird die demografischen Ver- einer Senkung der Sozialversicherungs- schiebungen nur durch intergenerative beiträge sind belegt, und innerhalb der Umverteilung, d.h. eine Umverteilung Kommission besteht Konsens darüber, zu Gunsten der Jüngeren und noch nicht dass mithilfe einer Senkung der Lohnzu- Geborenen, bewältigen können.»42 satzkosten positive Beschäftigungsim- 2004 trat Rürups «Nachhaltigkeitsfak- pulse gesetzt werden können.»40 tor» an die Stelle des ihm nicht unähnli- Da sie die Bedeutung des demografi- chen «demografischen Faktors», den die schen Wandels für Wohlstandsentwick- lung und Sozialpolitik überbewertete, 40 Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Siche - schlug die Kommission mit Blick dar- rung (Hrsg.): Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Bericht der Kommission, Berlin, August auf eine weitere Absenkung des Ren- 2003, S. 46. 41 Ebd., S. 81 f. 42 Ebd., S. 47. 16 schwarz-gelbe Regierung ins Rentenrecht tInnen materielle Einbußen hinnehmen eingeführt, die rot-grüne Koalition aber mussten, gehörten SpitzenverdienerIn- sofort nach ihrem Amtsantritt und vor sei- nen und KapitaleigentümerInnen zu den nem Wirksamwerden suspendiert hatte, HauptnutznießerInnen von Schröders was Bundeskanzler Schröder später je- Reformagenda. In seiner Rede am 14. doch als einen politischen Fehler bezeich- März 2003 bekräftigte der Bundeskanz- nete. Parallel dazu wurde die Möglichkeit ler seine Absicht, eine umfangreiche einer rentensteigernden Anrechnung von Steuerreform zu realisieren, die eine wei- Zeiten der schulischen und universitären tere Spreizung der Einkommen mit sich Ausbildung abgeschafft, was besonders brachte sowie die Spaltung der Gesell- AkademikerInnen (mit einer lückenhaf- schaft in Arm und Reich vorantrieb: Wer ten Erwerbsbiografie) trifft. Zusammen den Eingangssteuersatz um 10,9 Punkte mit der «Riester-Treppe» trägt das «Gesetz (von 25,9 auf 15 Prozent) und den Spit- zur Sicherung der nachhaltigen Finanzie- zensteuersatz sogar um 11 Punkte (von rungsgrundlagen der Gesetzlichen Ren- 53 auf 42 Prozent) senkt, reduziert damit tenversicherung» (RV-Nachhaltigkeits- nicht bloß den finanziellen Handlungs- gesetz) im Rahmen des Übergangs zur spielraum des Staates, sondern weiß ge- nachgelagerten Besteuerung nach dem nau, dass die steuerliche Entlastung der Alterseinkünftegesetz zu einer drasti- höchsten Einkommensgruppen in abso- schen Reduktion des Rentenniveaus bei. luten Geldbeträgen hierdurch sehr viel Betrug dieses um die Jahrtausendwen- stärker ausfällt als die der weniger gut de noch 53 Prozent des Durchschnitts- Betuchten, und forciert die soziale Po- einkommens vor Steuern, darf es bis zum larisierung. Die zur Gegenfinanzierung Jahr 2030 auf 43 Prozent – also um ein der Steuersenkungen vereinbarte Priva- Fünftel – sinken, ohne dass der Gesetzge- tisierung von Bundeseigentum erschloss ber korrigierend eingreifen muss. neue Gewinnquellen für AnlegerInnen, Während die Mehrheit der Arbeitneh- verringerte den Handlungsspielraum des merInnen, RentnerInnen und Patien- Staates aber weiter.

Die verheerenden Folgen der Reformagenda

Auf den ersten Blick scheint es so, als In sozialer Hinsicht wirkte die Agenda- sei Schröders Agenda-Politik eine wah- Politik verheerend, weil sie zu einer bis re Erfolgsgeschichte. Schaut man ge- dahin unvorstellbar krassen Verteilungs- nauer hin, ergibt sich ein anderes Bild: schieflage bei den Einkommen und Ver- Ökonomisch hat sie den «Standort D» mögen führte, von der perspektivisch weiter gestärkt, was die wirtschaftliche Gefahren für den inneren Frieden und Unwucht zwischen der Bundesrepub- die Demokratie ausgehen. Parteipolitisch lik und Ländern der südlichen EU-Peri- war die Agenda 2010 ein totales Fiasko: pherie (Griechenland, Spanien und Por- 1998, als SPD und Bündnis 90/Die Grü- tugal) verschärfte und entscheidend zur nen eine CDU/CSU/FDP-Koalition ablös- dortigen «Staatsschuldenkrise» beitrug. ten, regierten die Sozialdemokraten fast alle EU-Staaten. Als Gerhard Schröder nelte einer Scheinblüte. Vergleicht man 17 2005 abtrat, hatte sich Europas politische nicht Daten konjunktureller Tiefpunkte Landschaft grundlegend verändert: Von und Daten aus späteren Aufschwung- selbsternannten «Modernisierern» in kür- phasen miteinander, vielmehr phasen- zester Zeit zugrunde gerichtet, hatten die synchrone Daten und bereinigt sie im sozialdemokratischen Parteien stark an Hinblick auf demografische und ande- Zustimmung der WählerInnen und poli- re Sondereffekte, zeigt sich Folgendes: tischem Gewicht verloren. Mit der Agen- Zwar ist die Zahl der Erwerbstätigen seit da 2010 war nicht bloß der Abschied vom Wirksamwerden der Agenda-Reformen tradierten kontinentaleuropäischen So- gestiegen und die Zahl der Arbeitslosen zialmodell verbunden, das auf Konsens, zurückgegangen. Das ist allerdings teil- Sozialpartnerschaft und Solidarität ba- weise demografisch bedingt und liegt siert, vielmehr auch von uralten Parteitra- nicht zuletzt an der höheren Frauener- ditionen, was die SPD die Kanzlerschaft, werbsquote sowie an erhöhter Zuwan- sechs Ministerpräsidentenposten, ein derung. Gleichzeitig sind die Reallöhne Drittel ihrer Mitglieder und die Hälfte ih- jedoch besonders im unteren Einkom- rer Wählerstimmen kostete. Nie war die mensbereich gesunken. Unter dem an- Krise der Sozialdemokratie umfassender, haltenden Trend zur Prekarisierung von der personelle Aderlass dramatischer und Arbeits- und Lebensbedingungen leidet die Entfremdung zwischen Parteispitze die Qualität der Beschäftigungsverhält- und -basis größer. Heute sucht die SPD nisse: Millionen Menschen haben kein als Oppositionspartei den Eindruck zu er- sozialversicherungspflichtiges Arbeits- wecken, die soziale Situation von traditio- verhältnis, das ihnen Schutz vor elemen- nell Beschäftigten verbessern zu wollen, taren Lebensrisiken bieten würde. Wenn ohne dabei vom Agenda-Kurs abzuwei- dieser halbwegs gegeben ist, leisten sie chen.43 vielfach Leiharbeit oder (Zwangs-)Teil- Gerhard Schröder reklamiert den Wirt- zeit. Dass die Gesamtzahl der Transfer- schaftsaufschwung und den damit ver- leistungsempfängerInnen zuletzt ebenso bundenen Rückgang der (offiziell regist- abgenommen hat wie die relative Hö- rierten) Arbeitslosigkeit nach 2005 heute he der Zahlbeträge, liegt nicht etwa am als Erfolg seiner Agenda-Politik.44 Dieser Rückgang der Armut oder der materiel- hielt sich jedoch in Grenzen. Ernst Nie- len Bedürftigkeit, sondern primär an den meier zeigt, dass nicht etwa die «Akti- durch die Agenda-Reformen drastisch vierung» der Langzeitarbeitslosen durch verschärften Anspruchsvoraussetzun- Hartz IV für den Anstieg der Beschäfti- gen, Kontrollmechanismen und Repres- gung seit Inkrafttreten dieses Gesetzes- 43 Vgl. Hegelich, Simon/Knollmann, David/Kuhlmann, pakets verantwortlich war, sondern die Johanna: Agenda 2010. Strategien – Entscheidungen – konjunkturell bedingte Zunahme der Ar- Konsequenzen, Wiesbaden 2011, S. 241 f. 44 «Die heuti- ge Regierung hat mit dem Aufschwung nicht viel zu tun», beitsplatzangebote durch den bereits BILD-Interview mit Altkanzler Gerhard Schröder, in: Bild v. 26.10.2010: «Die Agenda hat einen erheblichen Anteil am kurz nach dem Regierungswechsel im Aufschwung! Dazu kam eine vernünf tige Lohnpolitik der Ge- Herbst 2005 spürbaren Wirtschaftsauf- werkschaften und eine Position der mittelständisch orien - tierten deutschen Wirtschaft, die sehr frühzeitig weltmarkt- 45 schwung. fähig geworden ist – weil sie auf Innovation, Forschung und Der durch die Arbeitsmarktreformen mit Entwicklung gesetzt haben.» 45 Vgl. Niemeier, Ernst: Hat der Arbeitsmarkt wirklich von Hartz IV profitiert?, in: WSI- induzierte «Beschäftigungsboom» äh- Mit teilungen 6/2010, S. 322. 18 salien der für die Leistungsgewährung P.S.: Gerade vor diesem Hintergrund er- zuständigen Jobcenter und Sozial- und scheint die Frage aufschlussreich, was Grundsicherungsämter. aus den führenden Agenda-Akteuren – si- Selbst wenn die größere Krisenresistenz cher nicht zufällig nur Männer – gewor- der deutschen Volkswirtschaft auf die den ist: Dr. Heiko Geue, geistiger Zieh- Agenda-Politik zurückgehen sollte, ist vater der Agenda 2010, leitet heute die der Preis, den unterprivilegierte Bevöl- Wahlkampagne und ist ein Vertrauter von kerungsteile dafür auch in konjunkturell SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück; guten Zeiten zahlen müssen, zu hoch. Dr. Frank-Walter Steinmeier, ihr verant- Das rigidere Arbeitsmarktregime erhöh- wortlicher Architekt und früher Geues te den Druck auf die Erwerbslosen, aber Vorgesetzter, ist heute Fraktionsvorsit- auch auf die Belegschaften, Betriebsräte zender seiner Partei im Bundestag und und Gewerkschaften, niedrigere Löhne hat Chancen, im Herbst 2013 wieder Au- und schlechtere Arbeitsbedingungen zu ßenminister und Vizekanzler einer Gro- akzeptieren.46 Auf diese Weise wurde es ßen Koalition zu werden; Wolfgang Cle- zu einem Haupteinfallstor für Erwerbs- ment, damals als einziger Fachminister und ihr zwangsläufig folgende Altersar- im Kabinett Schröder/Fischer sowohl an mut. Entstehung wie an Umsetzung der Refor- Die folgenschwerste Wirkung der Agen- magenda beteiligt, übernahm den Vorsitz da 2010 besteht in einer durch sie ver- einer Denkfabrik der weltgrößten Leihar- stärkten Polarisierung von Einkommen beitsfirma Adecco und ist Aufsichtsrats- und Vermögen. Selbst die CDU/CSU/ mitglied der RWE Power AG, der Invest- FDP-Koalition kam nicht umhin, dessen mentgesellschaft Lahnstein, Middelhoff steigende Ungleichverteilung im 4. Ar- & Partners LLP und des russischen Be- muts- und Reichtumsbericht zu doku- ratungsunternehmens Energy Consul- mentieren: Verfügten die reichsten 10 ting; Peter Hartz war bis Juli 2005 Vor- Prozent der Bevölkerung danach im Jahr standsmitglied der Volkswagen AG und 1998 über 45 Prozent des Nettovermö- wurde am 25. Januar 2007 vom Landge- gens, waren es im Jahr 2003 bereits 49 richt Braunschweig wegen Untreue zu ei- Prozent und im Jahr 2008 sogar fast 53 ner Haftstrafe auf Bewährung verurteilt; Prozent. Dagegen musste sich die ärme- Prof. Dr. Bert Rürup vermarktete eben- re Hälfte der Bevölkerung in den Jahren so wie seine Kenntnisse 1998 und 2003 mit drei Prozent und im in jenem Wirtschaftszweig, dem er ein Jahr 2008 mit ein Prozent begnügen. 47 neues Geschäftsfeld eröffnet hatte, und Die sozialen Probleme, soziale Ungleich- gründete zusammen mit dem früheren heit und soziale Ungerechtigkeit haben AWD-Eigentümer Carsten Maschmeyer seither deutlich zu-, das soziale Verant- ein Finanzdienstleistungsunternehmen; wortungsbewusstsein und der sozia- Gerhard Schröder ist heute Aufsichtsrats- le Zusammenhalt im selben Maß ab - vorsitzender von TNK-BP, einem russisch- genommen. Aus diesem Grund sind «Agenda 2010» und «Hartz IV» auch Chif- 46 Vgl. dazu Dörre, K laus: Das neue Elend: Zehn Jahre Har t z- Reformen, in: Blätter für deutsche und internationale Po- fren für den Trend zur Ökonomisierung, litik 3/2013, S. 105. 47 Vgl. Bundesministerium für Arbeit Kommerzialisierung und Entsolidarisie- und Soziales (Hrsg.): Lebenslagen in Deutschland. Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Be- rung unserer Gesellschaft. richt, Bonn, März 2013, S. 465. britischen Energieunternehmen, und des Prof. Dr. lehrt Politik- 19 Pipeline-Konsortiums Nordstream AG so- wissenschaft an der Universität zu Köln. Zu- wie Mitglied im Europa-Beirat der Roth- letzt sind seine Bücher «Armut in einem reichen schild-Investmentbank und Berater des Land», «Krise und Zukunft des Sozialstaates» Ringier-Verlages (Schweiz). und «Armut im Alter» erschienen. Impressum

ANALYSEN wird herausge­geben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Sabine Nuss Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, www.rosalux.de ISSN 2194-2951 Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Gedruckt auf: Circleoffset Premium White, 100 % Recycling Berlin, April 2013 «Hartz IV führte zur Verschär- fung der sozialen Schieflage im Land, zur Ausweitung der (Kinder-)Armut bis in die Mitte der Gesellschaft hinein und zur Verbreiterung des Niedriglohn- bereichs. Letzteres war kein Zufall, sondern gewollt.»

Christoph Butterwegge

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