analySen Parteien und demokratie Gerhard SchröderS Agenda 2010 zehn Jahre unsoziale politik Christoph Butterwegge Inhalt Gerhard Schröders Agenda 2010 2 Hintergrund und Entstehungszusammenhang der Agenda 2010 4 Aussagen und Argumentationslinien der Agenda-Rede 6 Die rot-grüne Arbeitsmarktreform als Kern der Agenda 2010 8 Auf dem Weg zum Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat 12 Gesundheits-, Renten- und Steuerreformen 13 Die verheerenden Folgen der Reformagenda 16 2 Gerhard SchröderS Agenda 2010 Rund um das 10. Agenda-2010-Jubi- schaft, um sich dafür selbst zu loben und läum ist eine richtige Schlacht um die ihre angeblichen Erfolge im Rahmen des Deutungshoheit im Hinblick darauf ent- Agenda-2010-Jubiläums noch einmal brannt, ob die Agenda-Politik ein Segen gemeinsam mit den mächtigsten und für Deutschland und seinen Arbeitsmarkt feinsten Kreisen der Gesellschaft, die von oder ein umfassendes Regierungspro- ihren Reformen teilweise in barer Münze gramm zur Pauperisierung, Prekarisie- profitiert haben, zu feiern. Um die Agen- rung und sozialen Polarisierung war. Die da 2010 fundierter als ihre unkritischen sozialdemokratischen Hauptrepräsen- Gratulanten beurteilen zu können, muss tanten der Agenda 2010, etwa Gerhard man ihre Entstehungsgeschichte, ihre Schröder, von manchen als «Gazprom- zentralen Inhalte und ihre Auswirkun- Gerd» verhöhnt, und Wolfgang Clement, gen daraufhin untersuchen, welche Zie- mittlerweile zum FDP-Wahlkämpfer he- le damit verfolgt und wessen Interessen rabgesunken, tourten quer durch die bedient wurden, was im Folgenden ge- Bundesrepublik und deren Medienland- schehen soll. hInterGrund und entStehunGSzuSammenhanG der Agenda 2010 Nachdem die SPD und Bündnis 90/Die entieren, die seine Wiederwahl – im Un- Grünen ihre parlamentarische Mehrheit terschied zu den Kapitalverbänden – un- bei der Bundestagswahl am 22. Septem- terstützt hatten, wurde jedoch bitter ber 2002 mit großer Mühe verteidigt hat- enttäuscht. In seiner Regierungserklä- ten, schien es zumindest für einen Mo- rung vom 29. Oktober 2002 plädierte ment, als wollten sie eine wirtschafts-, Schröder ohne Umschweife für Leis - steuer- und sozialpolitische Kurskor- tungskürzungen: «Zu Reform und Erneu- rektur vornehmen. Diskutiert wurde in erung gehört auch, manche Ansprüche, den Regierungsparteien damals bei- Regelungen und Zuwendungen des deut- spielsweise über eine Wiedereinfüh- schen Wohlfahrtsstaates zur Disposition rung der Vermögens- sowie eine kräfti- zu stellen. Manches, was auf die Anfän- ge Erhöhung der Erbschaftssteuer, die ge des Sozialstaates in der Bismarck-Zeit Abschaffung des steuerlichen Ehegat- zurückgeht und noch vor 30, 40 oder 50 tensplittings zwecks Verbesserung der Jahren berechtigt gewesen sein mag, hat Kinderförderung sowie eine drastische heute seine Dringlichkeit und damit auch Anhebung der Beitragsbemessungs- seine Begründung verloren.»1 und Versicherungspflichtgrenze in der Bei der Kabinetts(um)bildung entstan- Krankenversicherung. den zwei neue «Superministerien», die Wer gehofft hatte, Bundeskanzler Schrö- der werde sich nunmehr an solchen 1 Schröder, Gerhard: Wer nur seine Ansprüche pflegt, der hat noch nicht ver st anden. Aus der Regierungserklärung, in: Forderungen der Gewerkschaften ori- Frank fur ter Rundschau v. 30.10.2002. mit Ulla Schmidt und Wolfgang Clement geblich beeinflusste. Es basierte auf der 3 sozialdemokratische Politiker übernah- sogenannten Lissabon-Strategie: Auf men. Gerhard Schröder spaltete – ein dem dortigen EU-Sondergipfel am 23./24. historisches Novum – den Sektor der März 2000 war für das laufende Jahrzehnt Arbeitersozial(versicherungs)politik or- als «strategisches Ziel» festgelegt wor- ganisatorisch auf. Inhaltlich bedeutete den, «die Union zum wettbewerbsfähigs- die Verwaltungsreform, dass Arbeits- ten und dynamischsten wissensbasierten marktpolitik und Arbeitsrecht – traditio- Wirtschaftsraum der Welt zu machen – neller Kern der Sozialpolitik – der nach einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein neoklassischen Modellvorstellungen be- dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit triebenen Wirtschaftspolitik untergeord- mehr und besseren Arbeitsplätzen und ei- net und in das dafür zuständige Ressort nem größeren sozialen Zusammenhalt zu eingegliedert wurden, wo sie denn auch erzielen».2 Die umfassende «Modernisie- nur noch eine Nebenrolle spielten. Cle- rung» und Anpassung der Sozialstaaten ment, als nordrhein-westfälischer Minis- in den Mitgliedsländern an Markterforder- terpräsident nicht eben sehr erfolgreich, nisse und Wirtschaftsinteressen verstand ging nach Berlin, wo er zum Bundesmi- man als Instrument, das der Verwirkli - nister für Wirtschaft und Arbeit ernannt chung des Lissabon-Ziels diene. wurde; Schmidt, die während ihrer kur- Einleitend war im Thesenpapier des Bun- zen Amtszeit gegenüber Krankenkassen, deskanzleramtes vermerkt, die «an sich Ärztelobby und Pharmaindustrie keine hervorragenden Systeme der sozialen Zeichen gesetzt hatte, erhielt die restli- Sicherung» in Deutschland müssten aus chen Sozialbereiche hinzu und firmierte mehreren Gründen tief greifend refor- fortan als Bundesministerin für Gesund- miert werden: «Erstens lastet auf den heit und Soziale Sicherung. Systemen, dass die Wiedervereinigung Für die rot-grüne Bundesregierung ver- neben Verschuldung in erster Linie über lief der Start in die neue Legislaturperio- die Belastung des Faktors Arbeit finan- de katastrophal: Während sich die kon- ziert wurde. Zweitens müssen unsere junkturellen Aussichten, die Lage auf dem Systeme zukunftsfest für die von der Glo- Arbeitsmarkt und die Haushaltssituation balisierung ausgehenden Veränderungen beinahe von Tag zu Tag verschlechterten, gemacht werden. Drittens haben sich in eskalierten die Konflikte über die Grund- den vergangenen Jahrzehnten Verkrus- richtung der Regierungspolitik. Kurz vor tungen und Vermachtungen gebildet, der Jahreswende 2002/03 formulierten die zu hohen Effizienzverlusten führen.»3 MitarbeiterInnen der von Heiko Geue – Weiter hieß es, dass die Rente mit einem heute Wahlkampfmanager des SPD- Drittel den größten Ausgabenblock im Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück – ge- Bundeshaushalt bilde, den über die Ein- leiteten Planungsabteilung des damals nahmeseite zu konsolidieren problema- vom heutigen SPD-Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier geführten Kanz- 2 Vgl. Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsit - leramtes ein Thesenpapier mit dem Titel zes. Europäischer Rat (Lissabon), 23. und 24. März 2000, http://www.europarl.europa.eu/summits/lis1_de.htm «Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Be- (24.1.2013). 3 Chef BK, Arbeitsbereich Planung (Dr. Geue): schäftigung und Gerechtigkeit», das die Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Ge- rechtigkeit. Thesenpapier für die Planungsklausur, Berlin, De- Politik der Bundesregierung fortan maß- zember 2002 (hektografiert), S. 2. 4 tisch sei, weil BürgerInnen und Unter- systeme nach Ansicht des Bundeskanz- nehmerInnen dann noch stärker belastet leramtes überall auf der Welt vor große würden: «Sowohl unter wirtschaftspoliti- Probleme. Zwar gebe es keinen grund- schen Gesichtspunkten (hohe Sparquo- sätzlichen Gegensatz zwischen interna- te, geringe Konsumquote) als auch unter tionaler Wettbewerbsfähigkeit und So- Aspekten der Gerechtigkeit wird man der zialpolitik, wie häufig behauptet werde. Diskussion über eine weitere Beteiligung «Die Globalisierung führt nicht zwangs- auch der Rentner an der Rückführung der läufig zu einer Erosion der sozialen Siche- konsumtiven Ausgaben nicht auswei- rungssysteme, sie verändert allerdings chen können. Es ist zu prüfen, wie durch die Bedingungen für ihren Erfolg.»6 Für eine von der Rürup-Kommission neu zu die weiter zunehmende Arbeitslosigkeit entwickelnde Rentenformel der Ausga- wurde in erster Linie die Entwicklung der benblock Rente in den nächsten Jahren Personalzusatzkosten verantwortlich ge- relativ verringert werden kann.»4 macht: «Wie schädlich steigende Lohn- In einer Senkung der Steuer- und Ab- nebenkosten sind, zeigt die Entwicklung gabenbelastung sah das Bundeskanz- seit der Wiedervereinigung: 1990 betru- leramt einen «Königsweg», um mehr gen die Beitragssätze zur Sozialversi - Beschäftigung und Vertrauen bei den cherung noch 35,5 %. Bis 1998 waren BürgerInnen zu schaffen. «Es entwickelt sie auf den historischen Höchstwert von sich eine dreifach positive Wirkung auf 42 % gestiegen. Im gleichen Zeitraum ist die Investitionen: Unternehmer erwar- die Arbeitslosigkeit von 2,6 Mio. auf 4,28 ten, dass die Menschen mehr konsu- Mio. Arbeitslose im Jahresdurchschnitt mieren; niedrigere Steuern verbessern gestiegen.»7 So berechtigt es zu sein die Möglichkeit der Gewinnerzielung; schien, zwischen den Zahlen der beiden niedrigere Abgaben verbilligen die mit genannten Zeitreihen einen Zusammen- einem Beschäftigungsaufbau verbunde- hang herzustellen, so unrichtig war es, nen Investitionen.»5 Da mehr Arbeitsplät- die Massenarbeitslosigkeit auf gestiege- ze wiederum den Konsum stärkten und ne Personalzusatzkosten zurückzuführen. die sozialen Sicherungssysteme entlas- Ursache und Wirkung wurden miteinan- teten, erhalte die positive Wirkung der der verwechselt: «Die hohe Erwerbslosig- ursprünglichen Steuer- und Abgaben- keit ist die Ursache für die hohen Lohnne- entlastung «Nahrung aus sich selbst», benkosten und nicht umgekehrt.»8 sodass sich der Kreislauf spiralförmig Die fehlerhafte Analyse des Kanzleramtes nach oben gerichtet fortsetzen könne. führte zu einer falschen Strategie, die das Hier wird deutlich, dass die Planer ihr oben genannte Thesenpapier so umriss: Hauptaugenmerk
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