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Gerhard Botz / Peter Dusek / Martina Lajczak (Hg.)

"Opfer"-/"Täter"-Familiengeschichten

Erkundungen zu Nationalsozialismus, Verfolgung, Krieg und Nachkrieg in Österreich und seinem europäischen Umfeld

Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft LBIHS-Arbeitspapiere, Nr. 20, Wien 2014

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Gerhard Botz / Peter Dusek / Martina Lajczak (Hg.)

"Opfer"-/"Täter"-Familiengeschichten

Erkundungen zu Nationalsozialismus, Verfolgung, Krieg und Nachkrieg in Österreich und seinem europäischen Umfeld

Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft LBIHS-Arbeitspapiere, Nr. 20, Wien 2014 4 5

Inhalt

Vorwort 7

Botz Gerhard 9 Einleitung: Eine neue Generation von familiengeschichtlichen Erkundungen zu Nationalsozialismus, Verfolgung, Krieg und Nachkrieg?

Dusek Peter 15 Über die Ambivalenz der Gefühle NS-Aufarbeitung am Beispiel meines Stiefgroßvaters Leo Stein

Domes Nikolaus 17 Zwischen Ideologie und Opportunismus Eine bürgerliche Familie inmitten gesellschaftlicher Umbrüche in Spanien und Österreich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre

Liszt Peter 45 Heimatlos im Heimatland: eine Burgenländische Familiengeschichte Rekonstruktion der Kriegserlebnisse meines Großvaters – Stefan Liszt

Bystricky Peter 71 Verflochtene und flexible nationale Identitäten Meine tschechischen Verwandten im Wien vor, während und nach der NS-Zeit

Schmatz-Rieger Lucinda 107 Haus Kellermanngasse 8 Vom Verschwinden der BewohnerInnen

Rosenkranz Cornelia 145 Die jüdische Seite Entwurzelung und Vertreibung meiner Familie – Eine Fallstudie

Pöcksteiner David 179 Zwischen Mitgliedschaft und Ablehnung Kindheitserinnerungen meiner Großeltern an den Nationalsozialismus 6

Kreutzer Kristina 215 Zwischen Wahrnehmung und Wahrheit Kindheitserinnerungen meiner Loosdorfer Familie aus dem Jahr 1945

Turmalin Stephan 245 Die Oma im Stollen

Lampl Andreas 273 Vom „Täter“ zum „Helden“ und zurück Die Ambivalenz eines Menschenbildes in der Familienerinnerung

Pirker Bettina 307 Zwischen Opfermythos, Heroisierung und Verharmlosung Eine Murauer Familie und der Nationalsozialismus

Siegmund Veronika 367 Der lange Schatten der Napola Nachwirkungen der „nationalpolitischen Erziehung“ auf das Leben meines Großvaters

Autorinnen und Autoren 405 7

Vorwort

Im Wintersemester 2012/13 haben Emerit. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Botz und Honorar- prof. Dr. Peter Dusek das Seminar zum Thema "Opfer"-/"Täter"-Familiengeschichten" abgehalten. In dieser Lehrveranstaltung wurden schriftliche Arbeiten erarbeitet und diskutiert, von denen die meisten auch als Bachelorarbeiten am Institut für Zeitge- schichte der Universität Wien eingereicht wurden. Unterstützt vom Ludwig Boltzmann- Institut für Historische Sozialwissenschaft (LBIHS) des Clusters Geschichte der LBG, Wien (Leiter: Gerhard Botz) können nach einer längeren Bearbeitungs- und Nachbear- beitungszeit elf dieser Texte, zum Teil geringfügig gekürzt, hier einer kleinen Öffent- lichkeit übergeben werden. Dabei wurden die Lehrveranstaltungsleiter von Martina La- jczak (Bakk. phil.), die auch das Korrektorat und die Formatierung besorgte, tatkräftig unterstützt. Wir danken den Verfasserinnen und Verfassern der Beiträge dieses Bandes für die Fer- tigstellung ihrer Texte, vereinzelt nach einiger Wartezeit, Familienangehörigen unserer Studierenden, den hilfreichen Mitarbeitern der konsultierten Amtsstellen, Bibliotheken und Archiven, vor allem der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte der Universität Wien und des Österreichischen Staatsarchivs, und - last but not least - den Mitarbei- tern des LBIHS Mag. Heinrich Berger und Dr. Richard Germann für ihre Hilfe und Ex- pertise.

Wien, Juni 2014

Gerhard Botz, Peter Dusek, Martina Lajczak 8 9

Gerhard Botz

Einleitung: Eine neue Generation von familiengeschichtlichen Erkundungen zu Nationalsozialismus, Verfolgung, Krieg und Nachkrieg?

Die Beiträge dieses Sammelbandes wurden von Österreicherinnen und Österreichern, die im Studienjahr 2012/13 an der Universität Wien studierten, verfasst. Der größte Teil davon stammt von Autorinnen und Autoren, die zu "Generationen"1 gehören, die überwiegend in den 1980er Jahren geboren wurden. Ihre Aufgabe war es, durch Oral History-Interviews2 mit Familienangehörigen und unter Heranziehung auch von ande- ren Quellen (persönlichen Dokumenten, Mitgliedschaftsregistern, amtlichen Akten, Fo- tos etc.) zu recherchieren und zu beschrieben, wie Großeltern und andere ältere Ange- hörige ihrer eigenen Familie das NS-Regime, die Kriegshandlungen und die unmittel- bare Nachkriegszeit erlebt hatten, wie sie davon erzählten oder nicht erzählten und in welchen generationenübergreifende Familiengeschichten3 sie eingebunden waren. Dies bedeutete, dass die Forschenden als "teilnehmende Beobachter"4 in die innerfamiliären Diskurse selbst eingriffen, sie auf mancherlei Weise beeinflussten und (manchmal) ihr eigenes Verständnis vom Verhalten ihrer Vor-Generationen und der bisher tradierten Familiengeschichte verändert haben. Somit werden auch generationenmäßige Schich- tungen5 und Überlagerungen der Geschichtsbilder sichtbar.6 Als Enkel und Enkelinnen waren für sie die alten Menschen, die schon ein Geschehen, das über ein halbes Jahrhundert entfernt war, erlebt hatten, bewunderte Großväter oder geliebte Omas.7 Zugleich wollten sie aber auch kritisch deren Vergangenheit und individuelles Verhalten erkunden. (In einzelnen Fällen reichten die Familienerzählun-

1 Zum aussagekräftigen, aber auch problematischen Begriff von "Generation" siehe allg.: Karl Mannheim, Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. v. Kurt H. Wolff, 2. Aufl. Neuwied am Rhein 1970, S. 509-565 und Ulrike Jureit / Michael Wildt, Generationen, in: dieselben (Hg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, 2005, vor allem S. 7-14; sowie hier die Einzelbeiträge von M. Rainer Lepsius (Kritische Anmerkungen zur Generationenforschung, S. 45-52) und Christina Benninghaus (Das Geschlecht der Generationenfolge. Zum Zusammenhang von Generationalität und Männlichkeit, S. 127-158); allg.: Beate Fietze, Historische Generationen. Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität, Bielefeld 2009, vor allem S. 61-82; Hartmut Berghoff / Uffa Jensen / Christina Lubinski / Bernd Weisrod (Hg.), History by generations. Generational dynamics in modern history, Göttingen 2012, S. 7-13 (Introduction). 2 Zur Methode siehe vor allem: Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt a. Main 1995 und konkret: Alexander von Plato, Oral History nach politischen Systembrüchen, in: Julia Obertreis / Anke Stephan (Hg.), Erinnerungen nach der Wende. Oral history und (post)sozialistische Gesellschaften, Essen 2009, S. 63-81. 3 Meinrad Ziegler, Das soziale Erbe. Eine soziologische Fallstudie über drei Generationen einer Familie, Wien 2000, Kap. 3, S. 85-229. 4 Siehe etwa: Roland Girtler, Methoden der Feldforschung. Böhlau, Wien 2002. In Hinkunft verwende ich der Einfachheit halber die männliche Form auch für Gesamtheiten, die sowohl Männer wie Frauen umfassen. 5 Vgl. Margit Reiter, Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck 2006, S. 29-52, 466-468. 6 Ziegler, Erbe, S. 231-250. 7 Harald Welzer / Sabine Moller / Karoline Tschuggnall (Hg.), "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002, S. 44-80 und 81-87. 10 gen, die hier wiedergegeben bzw. konstruiert werden, weiter zurück, bis in die Urgroßelterngeneration, die (damals etwa 15-jährig) noch direkt in National- sozialismus und Kriegsgeschehen verstrickt gewesen sein konnte, jedoch nicht mehr am Leben war.) In den lebensgeschichtlichen Interviews die bestehenden Familienge- schichten distanziert und doch rücksichtsvoll in Frage zu stellen, war eine der schwie- rigsten Aufgaben, die die Seminarteilnehmer lösen mussten und die manche zum vor- zeitigen Ausscheiden aus dem Projekt veranlasst haben. Denn ihre Forschungs- und Darstellungsanstrengungen bewegten sich oft auf einem "gefährlichen" Untergrund und ließen leicht innerhalb der Familien, aber auch in den Selbstverständnissen der "Generation" unserer Studierenden selbst manche schmerzhaften Gegensätze aufbre- chen, wie wir vermuten können. Einige Jahre früher wäre das in Österreich wohl so nicht möglich geworden, ja ich hatte manchmal den Eindruck, man sollte dem morali- sierenden vergangenheitspolitischen Impetus und der Suche nach täterschaftlichem Verhalten bei den eigenen Vorfahren mehr Distanzierung empfehlen.8 Gelegentlich scheinen dabei als vermittelnde oder unterstützende Instanzen auch die schon in der Nachkriegs- und "Wirtschaftswunderzeit" aufgewachsenen und vom ge- sellschaftlichen Klima der sozial-liberalen und von Nach-68er-Reformen beeinflussten Eltern9 der Studierenden einbezogen gewesen zu sein. Wir liegen wohl nicht ganz falsch mit der Annahme, dass in diesem Seminar so etwas wie ein "kollektiver" Lern- und Umdenkprozess abgelaufen ist, der in heutigen universitären und bildungsbegüns- tigten Milieus eine kritische Sicht10 auf die mit dem Nationalsozialismus verflochtene eigene wie österreichische Vergangenheit erkennen lässt. Als Lehrende, (wiederum) begleitende Beobachter und (manchmal) Intervenierende im Entstehen dieser Arbeiten, haben wir in einem solchen (heute unter den gegebenen universitären Rahmenbedingungen schwieriger gewordenen) Experiment einer for- schenden Lehre selbst wertvolle Eindrücke gewonnen; doch wollen wir diese keines- wegs als breit empirisch belegte Thesen, aber auch nicht als bloß subjektive Spekula- tionen gewertet sehen. An die zu bearbeiteten Themen sind die meisten der hier vertretenen Autorinnen und Autoren mit einer kritischer Haltung zum Nationalsozialismus und zu ihren Großeltern als sogenannte "Täter" oder "Mittäter" bzw. "Mitwisser" bzw. auch als "untätige" oder

8 Ich spreche hier auch etwas aus eigener Erfahrung, siehe: Gerhard Botz, Nazi, Opportunist, "Bandenbekämpfer", Kriegsopfer. Dokumentarische Evidenz und Erinnerungssplitter zu meinem Vater, in: Gerhard Botz (Hg.), Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2005, S. 135-159; vgl. auch: Walter Manoschek, Die Generation Waldheim, in: Barbara Tóth / Hubertus Czernin (Hg.) 1986. Das Jahr, das Österreich veränderte, Wien 2006, S. 142-131; Ernst Hanisch, Was ein Landpfarrer über die Jahre 1938 bis 1945 in seine Chronik schrieb: Versuch einer 'dichten Beschreibung', in: Heinrich Berger u.a. (Hg.) Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen, Wien 2011, S. 265- 286. 9 Nicht ganz zutreffend für Österreich, siehe jedoch: Heinz Bude, Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938 bis 1948, Frankfurt am Main 1995, S. 95-102. 10 Cornelius Lehnguth, Waldheim und die Folgen. Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich, Frankfurt a. M. 2013, S. 457 f. 11 schweigende "Opfer"11 herangegangen. Wissensmäßig durch Schule, Massenmedien, besonders Fernsehen und Universität "geprägt" scheint auf sie das nach der "Wald- heim-Affäre" von 1986/9012 neuerliche Aufbrechen der verdrängten österreichischen NS-Vergangenheit während der "Schwarz-blauen" Regierung und des Aufstiegs Jörg Haiders großen Eindruck gemacht zu haben; so waren die noch bis vor wenigen Jahren in politischen Deklarationen und im "kulturellen Gedächtnis"13 wirksam gewesenen "Opfer"-Erzählungen schon um 2012/13 weitgehend erodiert14 und unter unseren Stu- dierenden praktisch verschwunden. Allerdings waren viele der Großeltern-Generation noch durch eigene Erinnerungen an ihre Väter und Mütter und deren Erzählungen von der für diese noch "heißen Ge- schichte" von Nationalsozialismus und Weltkrieg – verständlicherweise – emotionell anders gepolt, woraus heftige innere und innerfamiliäre Konflikte entstehen konnten. Daraus ergab sich manchmal bei unseren Studenten der aus sozialpsychologischen und erinnerungsgeschichtlichen Studien bekannte Zweispalt einerseits von Wissen und Ablehnung des Nationalsozialismus und seiner ärgsten Verbrechen und andererseits die Übernahme von verschiedenen Entschuldigungs- und Deckstrategien für die eige- nen Familienangehörigen dieser Zeit;15 diese seien oft zu jung (in HJ, BdM oder Flak- ),16 "nur" Parteigenossen, Mitleid unterdrücken müssende Zuschauer (bei Zwangsarbeit in KZ-Nebenlagern) gewesen. Denselben Entlastungsmechanismus gab es auch, selbst wenn es sich um Denunziationen von NS-Gegnern und Verfolgungsak- tionen wie die sog. "Mühlviertler Hasenjagd" gehandelt hatte. Die dabei zu Tage tre- tenden Entschuldigungsdiskurse innerhalb der eigenen Familien entsprachen durchaus der jahrzehntelangen öffentlichen Verdrängung und Verharmlosung solcher Involvie- rungen, die mit den reinigenden Konflikten um Waldheim und die "Pflichterfüllung" ös- terreichischer Wehrmachtssoldaten zum ersten Mal in Österreich offenkundig gewor- den waren. Die Art der Involvierung in die Gewalt- und Diktaturgeschichte war allerdings unter- schiedlich. In einer Minderheit der Familiengeschichten wurden Österreicher und Ös- terreicherinnen beschreiben, die als Juden gekennzeichnet, ausgegrenzt und verfolgt

11 Generell zu dieser jedoch schwer vermeidbaren Begrifflichkeit siehe: Gerhard Botz, Opfer/Täter-Diskurse. Zur Problematik des „Opfer“-Begriffs, in: Gertraud Diendorfer / Gerhard Jagschitz / Oliver Rathkolb (Hg.), Zeitgeschichte im Wandel. 3. Österreichische Zeitgeschichtetage 1997, Innsbruck 1998, S. 223-236. 12 Michael Gehler, „.. eine grotesk überzogene Dämonisierung eines Mannes“, in: derselbe / Hubert Sickinger (Hg.), Politische Affären und Skandale in Österreich. Thaur 1995, S. 614-665; dagegen: Gerhard Botz, Die „Waldheim-Affäre“ als Widerstreit kollektiver Erinnerungen, in: Tóth / Czernin, 1986, S. 72-88. 13 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S.; dieselbe, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 19-27. 14 Heidemarie Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese. Die Transformationen des österreichischen Gedächtnisses, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 2, Berlin 2005, S. 481-508. 15 Reiter, Generation, S. 47-53, sowie S. 107-185 (Vaterbilder) und 186-236 (Mutterbilder). 16 Immerhin wurden viele von ihnen im Laufe der Jahrzehnte nach 1945 zu Wählern und Funktionären der Nachkriegsdemokratien in Deutschland und Österreich, vgl. Malte Herwig, Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden, München 2013. Vgl. auch Johanna Gehmacher, Jugend ohne Zukunft. Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel in Österreich vor 1938, Wien 1994. 12 wurden. Ein Beitrag machte – als Kontrapunkt zu den Oral History-Lebensgeschichten – das Schicksal von Juden und Jüdinnen sogar zum Thema, selbst als diese aus einem Wiener Wohnhaus vertrieben oder deportiert und ermordet worden waren. Der größere, nichtjüdische Teil der Österreicher und Österreicherinnen der Großeltern- generation stand allerdings auf der Verfolgerseite. Sie lebten teils in ländlichen Milieus, die traditionale Familienformen und konservativ-nationalistische Orientierungen auf- wiesen, die sie in unterschiedlichem Maße auch für Nationalsozialismus anfällig ge- macht hatten. Dabei zeigte sich auch in diesen Familiengeschichten ein überraschend hohes Maß an räumlicher Mobilität, die zum Teil mit dem Krieg zusammen hing, zum Teil aber auch schon zuvor nach Ungarn und sogar nach Spanien ausgegriffen hatte. 1945 befanden sich viele, ob sie auf der Regimeseite gestanden waren oder nicht, in einer radikal geänderten Situation, insofern sie Straf- und Entnazifizierungsaktionen oder Schikanen der Befreiungsbesatzer, deren Gewalt oder Vergewaltigungen ausge- setzt waren. Sie machten damit ebenfalls bedrohliche und demütigende Erfahrungen, die sie zuvor, wenn es um Juden, "Zigeuner" und andere "Gemeinschaftsfremde"17 ging, nicht hatten sehen wollen. Auch lange nach dem Ende der NS-Herrschaft wurde hier nur selten ein historischer Zusammenhang mit der viel ärgeren Gewalt des Regi- mes, das sie zuvor unterstützt oder hingenommen hatten, hergestellt; wie nicht an- ders zu erwarten war, wurde das zum Anlass für Schuldaufrechnung oder Opfer-Täter- Umkehr.18 Politisch aktiver Widerstand gegen das NS-Regime kam bei den Großeltern unserer Studenten wohl ebenso selten vor wie in der österreichischen Gesamtbevölkerung. Al- lerdings kamen auch Fälle von achtenswerter Regimedistanz und NS-oppositionellen Verhaltens im Nationalsozialismus zum Vorschein. Das war vor allem bei solchen Fami- lien zu beobachten, die ganz oder teilweise tschechischer Herkunft waren. Hier traten auch innerfamiliäre Gegensätze manchmal von beachtlicher Heftigkeit auf, die Schlüs- se auf das Weiterwirken von sozial, religiös-kulturell oder national unterlegten Gegen- sätzen, die auch durch Heirat und Kinder nicht überwunden wurden, zulässt. All dies lässt erkennen, welche soziale und psychische Anstrengungen den einzelnen Personen, die auf der Täter- oder/und Opferseite gestanden waren, abverlangt wurden, um sich (einigermaßen kohärente) Identitäten zu erarbeiten. Unsere Studierenden waren Teil davon. Eine große historiografische und politisch-wertungsmäßige Schwierigkeit lag darin, dass die Familiengeschichten über (mindestens) einen Regimebruch hinaus reichten

17 Grundlegend immer noch: Detlev J. K. Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982. 18 Siehe Ruth Wodak u.a. (Hg.), "Wir sind alle unschuldige Täter!" Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus, Frankfurt am Main 1990. 13 und dadurch die von den Selbstverständnissen und der objektivierenden historischen Sicht vorgegebene "Opfer"/"Täter"-Dichotomie nicht mehr griff. Einerseits gab es eine von liberal-demokratischen Positionen aus distanziert zu sehende diktatorische Ver- gangenheit und andererseits die Befreiung von NS-Diktatur und die (von den Besat- zungsmächten implementierte) Re-Demokratisierung, die von den Großeltern oft ne- gativ erlebt (und erzählt) worden war und in vielen österreichischen Familiengedächt- nissen lange Zeit mit Gefühlen der Ambivalenz verbunden blieb. Solche im großen his- torischen wie im familiären Zusammenhang mit Augenmaß zu beurteilen und nicht ei- ner "Opfer"-Aufrechnung zu verfallen, war Herausforderung, die unsere Studierenden zu lösen hatten. So ergeben die vorgelegten unterschiedlichen und faszinierenden ego- und familien- historischen Erhellungs- und Selbstfindungsversuche ein vielfältiges Mosaik von all- tags-, kultur- und politikgeschichtlichen Studien, die neues Licht auf eine in ihren Nachwirkungen noch nicht (ganz) vergangenen "Umbruchs"-Zeit19 werfen können.

19 Vgl. auch Alexander von Plato, Familien in Systembrüchen. Fragen zum Vergleich von 1945 und 1989 in Deutschland 297-316, in: Christian von Zimmermann / Nina von Zimmermann (Hg.), Familiengeschichten. Biographie und familiärer Kontext seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008, S. 297-316. 14 15

Peter Dusek

Über die Ambivalenz der Gefühle NS-Aufarbeitung am Beispiel meines Stiefgroßvaters Leo Stein

Er hat mein Leben geprägt – in vielerlei Hinsicht. Leo Stein (geboren am 1. 10. 1895) war der 2. Ehemann meiner Großmutter. Er war schon Nazi-Parteimitglied seit den frü- hen 30er Jahren. Als Offizier der Waffen-SS verschlug es ihn nach Griechenland, nach dem Krieg geriet er in russische Kriegsgefangenschaft, später wurde er Frühpensionist und Geigenschnitzer. Als Kind war er mein Idol: er malte und spielte auf von ihm er- zeugten Geigen Beethoven. Sein Wissen über Oper war enorm, via Schallplatten spiel- te er mir Leo Slezak und „Tom der Reimer“ vor. Er studierte Leonardo da Vinci und Goethe – ein Humanist vom Scheitel zur Sohle. Während meiner Pubertät bekam das Denkmal Sprünge. Abends trank er – mitunter einen „Doppler“. Dann verwandelte sich der Schiller-Fan zum glühenden Nazi. Vom Ur- laub bis zum Volkswagen, vom Radio bis zur Volksgesundheit – alles gehe auf die Na- tionalsozialisten zurück, die einen großen Fehler begangen hätten – sie hätten nicht den Mut zum „Holocaust“ gehabt. Dafür würde diese Geschichte heute von den US-Ju- den erfunden, die sie mit gefälschten Fotos beweisen versuchen. Wenn ich ihn dann fragte, wie er sich die Fälschung von Millionen Dokumenten vorstelle, antwortete er: “Ich hätte mich über den Holocaust viel zu sehr gefreut, als dass er von mir un- bemerkt stattgefunden hätte“.

Mein Stief-Großvater war dann plötzlich Dr. Jekyll und nicht Hyde… und meine Gefühl- sambivalenz war groß! Jedenfalls hat das Ringen um diese Ambivalenz mein Leben stark verändert. Ich be- gann schon eine Arbeit aus den Beständen des DÖW im Jahr 1972 – also mit 27 Jah- ren. Die Edition „Alltagsfaschismus“20

1) kam dann 6 Jahre später heraus. Von dieser Dokumentation bis zum Medienkoffer-Programm des Unterrichtsministeriums21 2) dauerte es wieder nur 2 Jahre. Und 1982 startete Hugo Portisch sein Mammutprogramm „Österreich II“22, 3) an dem ich zentral beteiligt war.

20 Peter Dusek, Alltagsfaschismus in Österreich, Ton-Text-Edition, Nö-Pressehaus, St. Pölten 1979. 21 Herausgeber bei „Medienkoffer zu Zeitgeschichte“, I-IV, 1980-1985. 22 Österreich II, die Geschichte der Zweiten Republik, 25-teilige ORF-Serie, die zwischen 1982 und 1988 lief. 16

Übrigens meine Eltern? Die waren echte „Mitläufer“ – mein Vater koordinierte die Mä- dels vom Roten Kreuz (eine davon war meine Mutter). Sie tanzte im März 1938 mit den deutschen Soldaten auf der Ringstraße. Zu meiner Geburt im Mai 1945 übersie- delte sie zur Familie meines Stief-Großvaters nach Waidhofen an der Thaya. Leo Stein hat mein Leben wahrlich beeinflusst. 17

Nikolaus Domes

Zwischen Ideologie und Opportunismus

Eine bürgerliche Familie inmitten gesellschaftlicher Umbrüche in Spanien und Österreich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre 18

Inhalt

1 Einleitung 19 2 Vom Leibarzt des Fürsten Schwarzenberg 20 3 Eine behütete Kindheit 26 4 Der Erste Weltkrieg als Wendepunkt 28 5 Schicksalsschläge 32 5.1 Das Ende des bürgerlichen Zeitalters 32 5.2 Krieg in Spanien 37 6 Der „Fall“ meiner Großmutter: 39 Hinwendung eines verunsicherten Bürgertums zum Faschismus 7 Quellen 43 8 Abbildungen 43 19

1 Einleitung

Als meine Großmutter mütterlicherseits Alice Maria Blanca Domes genannt Blanca (*29. 10. 1913) in der Nacht auf den 21. 8. 2007 in einem Zimmer der Unfallchirurgie des Wiener AKH verstarb, war ich der letzte, der noch bei ihr zu Besuch war und auch derjenige, den der Anruf über ihr Ableben um zwei Uhr in der Früh erreichte. Sie war für mich wie eine zweite Mutter, die sich rührend um mich gekümmert hatte. Ich wuchs bei ihr auf, in einer Dienstwohnung der Tabak im 18. in Wien. Es war eine große Wohnung, beheizt mit einem Holz- und einem Ölofen. In meinem Zim- mer befand sich der Brikettofen, der für ein kleines Kind wie mich besonders faszinie- rend war. Bis auf die zwei Zimmer mit den Öfen blieb die restliche Wohnung im Winter sehr kalt. Dringend hätte die Wohnung renoviert werden müssen, doch meine Groß- mutter sträubte sich dagegen. „Das zahlt sich doch gar nicht mehr aus“, kam dann meistens, einen Satz den sie vermutlich schon vor zwanzig Jahren von sich geben hat- te. Ähnliches auch in Hinblick auf den Kauf von Töpfen und Pfannen, obwohl schon zum x-ten Mal angebrannt, war sie der Meinung, der Erwerb neuen Geschirrs würde sich einfach nicht mehr lohnen. Dies war nicht der Ausdruck von Geiz sondern die Ei- genschaft eines Menschen, der sich selbst wenig gönnte. Auf die Frage, wie sie denn einmal beerdigt werden möchte, antwortete sie: „das, was am billigsten ist“. Dass ich in dieser Arbeit ausschließlich von der Familie meiner Großmutter spreche, obgleich es auch meine eigene Familie ist, liegt daran, dass ich selbst keine Verbin- dung zu dem Familienzweig meiner Großmutter habe. Da im Grunde sämtliche Ver- wandte dieses Zweiges, die auch als Protagonisten dieser Arbeit in Erscheinung treten, inzwischen verstorben sind, gibt mir dies das Gefühl mehr von Blancas Familie zu schreiben als von meiner eigenen. Zum anderen stellt es auch einen kleinen Tribut an die illusorische Vorstellung einer objektiven Erzählung dar. Der zeitliche Rahmen umfasst die mehr oder weniger greifbaren Anfänge der Familien- chronik und reicht bis zur Zeit des Nationalsozialismus. Der Fokus liegt dabei auf der Zwischenkriegszeit, auf der einen Seite bedingt durch die Quellenlage, bietet sich auf der anderen Seite dadurch die Möglichkeit, einen Blick auf die Vorgeschichte zum Na- tionalsozialismus zu werfen. Ziel der Arbeit ist es, die Entwicklung der Familie von ihrem Aufstieg zu einer bürgerli- chen Familie bis zu ihrem Ruin am Beginn des „kurzen 20. Jahrhunderts“ zu beschrei- ben. Im Mittelpunkt steht die mentalitätsgeschichtliche Aufarbeitung der inhärenten Ängste, politischen Ansichten und Ideologien der Familie, im Speziellen meiner Groß- mutter und deren Mutter, in jener Zeit des Umbruchs. Darüber hinaus wird auch ein Blick auf das Alltagsleben und die prägenden sozioökonomischen Faktoren geworfen. 20

Diese Arbeit soll ein Versuch sein, die Wege und Entscheidungen sowie die politischen Ansichten vor dem Hintergrund der damaligen einschneidenden Ereignisse nachzu- zeichnen. Dabei steht nicht nur der Mikrokosmos Familie im Zentrum der Darstellung, sondern auch jene makrogeschichtlichen Einflüsse, welche das Leben der Protagonis- ten dieser Geschichte geprägt haben. Auf der Suche nach den Elementen, die das Weltbild meiner Großmutter beeinflusst haben, widme ich mich der Geschichte ihrer Vorfahren, der in ihren Augen glücklichen und sorgenfreien Kindheit in Spanien, ihrer Jugend, die wiederum von wirtschaftlichen Krisen und persönlichen Schicksalsschlägen geprägt war sowie schließlich der Zeit des Nationalsozialismus. Die Rekonstruktion der Geschichte der Familie meiner Großmutter ist freilich an das Vorhandensein und die Qualität von Quellen gebunden, die, und dies gilt es zu berück- sichtigen, keine gleichmäßige Dichte an Informationen geben können. So wird auf ge- wisse Lebens- und Zeitabschnitte mehr Gewicht gelegt, als dies für andere möglich ist. Die Zeit bis zum Jahr 1932 ist durch Quellen wie die Familienchronik, das Tagebuch von Blancas Mutter Bertha oder die niedergeschriebenen Kindheitserinnerungen mei- ner Großmutter relativ gut dokumentiert. Die Zeit danach ist hingegen aufgrund des Mangels an Ego-Dokumenten weit schwerer nachzuvollziehen. Manche Fragen werden offenbleiben, sei es, weil deren Bearbeitung den Rahmen die- ser Arbeit sprengen würde oder weil es die Quellenlage nicht zulässt.

2 Vom Leibarzt des Fürsten Schwarzenberg

Die „gute alte Zeit“ war für meine Großmutter ihre Kindheit, die sie in Spanien ver- bracht hat, geprägt von Erinnerungen an eine elitäre, noble Gesellschaft. Zusammen mit der Erfahrung dieser behüteten Kindheit, formte die Geschichte ihrer Vorfahren, die sie als Kind immer wieder erzählt bekommen hatte, die Vorstellung einer heilen Welt, die ausschließlich aus feinen, ehrenhaften Menschen bestand und ähnlich den „Sissi“-Filmen, ein romantisiertes Bild der Vergangenheit beschwor. Ein Eindruck den auch die Erinnerung ihrer Tochter Ingrid bestätigt: „Sie hat viel über ihre Vergangenheit [gesprochen], sie lebte in ihrer Vergan- genheit und die wurde immer ein bisschen schöner dargestellt als sie wirklich war. In ihrer Vergangenheit waren die Leute immer nobel und elegant und im- mer mit besten Umgangsformen […] Sie hat sich zurückgezogen in diese Welt, ein bisschen auch mit Angélique unterstützt, denn sie hat ja nur Angélique-Ro- mane gelesen, da war diese großbürgerliche Welt beschrieben, darum hat sie diese Bücher so gern gehabt.“23

Das Wissen um die Geschichte ihrer Vorfahren oder vielmehr das Bild, das sie davon

23 Interview mit Ingrid Hauptmann, 29. 1. 2013, Wien, Audiodatei und Transkription im Besitz von Nikolaus Domes, 4f. 21 hatte, bildete also einen nicht unwesentlichen Einfluss auf das sich entwickelnde Welt- bild meiner Großmutter. Welche Bedeutung es für sie hatte, zeigt sich allein darin, dass sie ihre Familiengeschichte nicht nur mündlich in zahlreichen Erzählungen weiter- gegeben hat, sondern sich auch die Mühe machte, diese in schriftlicher Form festzu- halten. Es war sicher auch der Stolz auf ihre Vorfahren, der sie dazu bewogen hat, die Geschichte ihrer Familie für die Nachwelt aufzuzeichnen. Die von ihr während ihres Be- suchs in Rosenau im Waldviertel, vermutlich in den 1970er Jahren, verfasste mehrsei- tige Familienchronik erzählt die Geschichte ihrer mütterlichen und väterlichen Vorfah- ren. Die Chronik beginnt mit dem väterlichen Zweig, der Familie Riehl. Ein Vorfahre der aus dem rheinischen Raum kommenden Riehls war, so heißt es, Baumeister am Kölner Dom24, weshalb auch das Familienwappen Spaten und Kelle zeigt. Ob es sich bei dem genannten Vorfahren um Gerhard von Rile handeln soll, den ersten Dombaumeister des Kölner Wahrzeichens, der 1247 den Auftrag zum Entwurf einer neuen prachtvollen Kathedrale erhielt25, ist nicht erwähnt und freilich nur Spekulation. Immerhin trägt ein Stadtteil des Kölner Bezirks Nippes den Namen Riehl. Konkreter wird es erst mit Adam Riehl, Blancas Großvater, einem Nadlermeister und Goldschmied aus Stein an der Donau, der 1805 ein Haus in Krems ersteigerte, wo ihm das Privileg zur Errichtung einer „Nürnberger Warenfabrik“ erteilt wurde. Adams Sohn Leopold übernahm nach dessen Tod den Betrieb. Er war zweimal verheiratet, aus der ersten Ehe mit Katherina Heneis stammten drei Kinder, darunter Anton Riehl (*1820, †1886), von dem in der Familienchronik lediglich erwähnt wird, dass er als Jurist eine gutgehende Kanzlei in Wr. Neustadt hatte.26 Da Anton Riehl kein direkter Vorfahre meiner Großmutter war, ging sie vermutlich nicht näher auf ihn und diesen Zweig der Familie Riehl ein. Es lohnt dennoch einen kurzen Blick auf jenen Teil der Familie zu werfen, um die in der Familienchronik meiner Großmutter vorhandene Lücke zu schließen. Anton Riehl absolvierte sein Studium der Rechtswissenschaft in Wien und kämpfte im 1848er Jahr mit der Akademischen Legion gegen die kaiserlichen Truppen27, vom 18. 5. 1848 bis zum 5. 4. 1849 war er Abgeord- neter in der Frankfurter Nationalversammlung, wo er als Mitglied der gemäßigt links- gerichteten Westendhall Fraktion gegen die Wahl Friedrich Wilhelms IV. zum Kaiser der Deutschen stimmte. 1861 wurde er Abgeordneter im niederösterreichischen Landtag und im selben Jahr in den österreichischen Reichsrat entsandt. Aufgrund verschie- denster Verdienste wurde er 1866 zum Ehrenbürger von Wr. Neustadt ernannt. 28

24 Blanca Domes, Familienchronik (Privatbesitz Fam. Domes), 1. 25 Leonhard Ennen, Gerhard v. Kettwig, in: Allgemeine deutsche Biographie, 1878, 765. 26 Domes, Familienchronik, 1. 27 Rudolf Brandstötter, Dr. Walter Riehl und die Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung in Österreich. phil. Diss., Wien 1969, 3. 28 Heinrich Best/Wilhelm Weege, Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 8), Düsseldorf 1996, 280. 22

Anton Riehl ist der Vater des bekannten Dermatologen Gustav Riehl, der ab 1902 Nachfolger Moriz Kaposis als ordentlicher Professor der Dermatologie und Syphiliologie an der Universität Wien und 1921/22 Rektor der Universität war.29 Anton Riehl ist auch der Großvater des Politikers und Rechtsanwalts Walter Riehl (*1881, †1855), der von 1919 bis 1923 Vorsitzender der Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (DNS- AP) in Österreich war. Nach der Spaltung der DNSAP gründete er im Juni 1924 den Deutschsozialen Verein. Im Jahr 1930 trat Riehl der NSDAP bei.30 Aus der zweiten Ehe von Leopold Riehl mit einer gewissen Rosalia, deren Mädchenna- me nicht bekannt ist, ging als einziges Kind Alois Riehl (*1827, †1886) hervor, der Großvater von Blanca Domes. Als Medizinstudent schloss sich Alois Riehl 1848 den freiheitlichen Studenten an und wurde einer ihrer Führer. Als der Kampf zusammen- brach, gelang ihm die Flucht und er trat als Laienbruder im Wiener Schottenstift den Benediktinern bei. Dort spielte er bei den Messen die Orgel, „die er wie berichtet, sehr gut beherrschte“31. Der Abt des Klosters war befreundet mit dem Fürsten Schwarzen- berg, der sich für den jungen Orgelspieler interessierte und sich vom Abt dessen Ge- schichte erzählen ließ. Aus der Familienchronik geht nicht hervor, welcher Fürst zu Schwarzenberg gemeint ist, aufgrund der Lebensdaten und der Vita, dürfte es sich sehr wahrscheinlich um Edmund Fürst zu Schwarzenberg (*1803, †1873) handeln.32 Schwarzenberg fand offensichtlich Gefallen an dem Laienbruder Riehl und so nahm er ihn, nachdem sich die Lage beruhigt und Alois fertig studiert hatte, als seinen Leibarzt zu sich. So begleitete Blancas Großvater den Fürsten auf seinen langen Reisen sowie später zu seinen Kuraufenthalten.33 Edmund Fürst zu Schwarzenberg, der als Offizier in der k.k. Armee sowohl 1848 als auch 1859 in Italien kämpfte, wurde 1867 anlässlich der Enthüllung des Denkmals sei- nes Vaters Karl Philipp zu Schwarzenberg, der als Sieger der Völkerschlacht bei Leipzig in die Geschichte einging, zum Feldmarschall ernannt. Schon 1860 wurde Edmund zu Schwarzenberg auf seine eigene Bitte hin aus Gesundheitsgründen vom Dienst entho- ben.34 Sein offensichtlich schlechter Gesundheitszustand würde die zahlreichen Kurauf- enthalte, die er laut der Familienchronik meiner Großmutter mit Alois Riehl unter- nahm, erklären. Eine dieser Reisen führte sie nach Karlsbad, wo Riehl seine spätere Frau Maria Knoll kennenlernte und auch heiratete. Fürst Schwarzenberg war dabei der Brautführer.35 Bis zum Tod Edmund zu Schwarzenbergs lebte die Familie in Wien. Von 1865 bis 1874 wird Alois Riehl in Lehmanns Adressbuch auch als Leibarzt des Fürsten

29 H. Morgenstern, Riehl, in: Österreichisches biographisches Lexikon 1815-1950, Wien 1985, 155. 30 Zur Biografie Walter Riehls, siehe: Brandstötter, Walter Riehl. 31 Domes, Familienchronik, 1. 32 Adolf Schnitzl, Schwarzenberg, in: Allgemeine deutsche Biografie, Leipzig 1891, 262-266. 33 Domes, Familienchronik, 2. 34 Schnitzl, Schwarzenberg, 266. 35 Domes, Familienchronik, 2. 23

Schwarzenberg angeführt.36 Nach dem Tod des Fürsten Schwarzenberg zog Riehl mit seiner Frau und den gemeinsamen sechs Kindern nach Karlsbad in das Haus Strauss, welches Maria Knoll von einer Tante geerbt hatte. Jenes Haus an der Alten Wiese, der vielleicht schönsten Straße in Karlsbad, am linken Ufer der Tepl, steht unmittelbar unter dem Hirschensprungfelsen, einer bekannten Sehenswürdigkeit in Karlsbad. In diesen Felsen, an den sich das Haus Strauss lehnt, war ein Stollen gesprengt, an dessen Ende sich ein tiefer Brunnen befand. Alois Riehl führte in dem Haus seine Praxis als Kurarzt, später wurde es von den Tanten meiner Großmutter als „Kurhaus“ geführt.37 Als Riehl mit 56 Jahren an Herzschlag starb, verfügte die Familie über keine größeren Ersparnisse, da sie gut bzw. eventuell auch etwas über ihren Verhältnissen gelebt hat- te, wodurch Ernst Riehl (*1872, †1935), der Vater von Blanca, sein Medizinstudium aufgeben musste. Über einige Umwege (unter anderem London, wo er einen führen- den Posten bei einem bekannten Kunstverlag annahm) kam er, durch eine Zeitungsan- zeige, in der ein Deutscher einen Teilhaber für sein Holz- und Sägewerk (sowie Salinen und Ölpressen) in Spanien suchte, auf die Iberische Halbinsel. Meine Großmutter be- schreibt ihren Vater als tüchtig und erfolgreich, den häufigen Berufswechsel führt sie darauf zurück, dass er das „unruhige Blut seines Vaters geerbt“ hatte. Ob dieses von ihr positiv gezeichnete Bild tatsächlich zutrifft oder ob andere Gründe hinter dem et- was unsteten Berufsleben Ernst Riehls stecken, kann nicht entschieden werden. Cha- rakteristisch ist in jedem Fall der Versuch, persönliche Schwächen zu beschönigen und zu verharmlosen. „Unruhiges Blut“ oder eine „künstlerische Veranlagung“ werden als legitime Entschuldigung für den Mangel an Geschäftssinn oder Erfolg angeführt, die Vaterfigur selbst wird dabei nie angegriffen. Spätestens in Spanien dürfte Blancas Vater aber einen gewissen wirtschaftlichen Erfolg gehabt haben, er übernahm die Firma, bei der er zuvor ein Jahr Teilhaber gewesen war, und führte ein Leben als „beliebter Junggeselle“. In Huelva lernte der damals 27 jährige Ernst Riehl bei einer Musikveranstaltung, die er aufführte, seine spätere Ehe- frau kennen. Bertha Rödiger (*1886, †1937) war erst 13 Jahre alt und hatte den Part des Kuckuck bei dieser Aufführung. Drei Jahre später verliebte er sich in sie und hielt weitere drei Jahre später das erste Mal um ihre Hand an. Da er aber den Ruf hatte ein „Damenfreund“ zu sein, wies ihn Berthas Vater zurück. Eineinhalb Jahre später gab sie ihm doch noch ihr Ja-Wort. Die Hochzeit fand schließlich in Zürich, im Grand Hotel Dol- der statt. Die Geschichte des mütterlichen Zweigs der Vorfahren meiner Grußmutter wird von ihr selbst als die interessantere beschrieben, auch ein Hinweis auf die weit

36 Adolph Lehmann (Hg.), Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Handels- und Gewerbe-Adressbuch für die k.k. Reichs-haupt-und Residenzstadt Wien und Umgebung, Wien 1865-1874. 37 Hierzu, sowie die nachfolgenden drei Absätze: Domes, Familienchronik, 2-3. 24 engere Beziehung, die sie zu ihrer Mutter hatte. Die Rödigers waren Hugenotten, die von Frankreich nach Deutschland geflohen waren und sich in Hanau, Hessen, niederließen. In der Familienchronik beschreibt meine Großmutter die Situation der Familie ihres Urgroßvaters Achilles Rödiger (*1812, † 1868), einem patriotischen Hessen, der sich bei den Preußen, die nach dem Ende des Deutschen Krieges 1866 Hessen-Kassel annektiert hatten, unbeliebt gemacht hatte und aus Hessen flüchten musste. Die Geschichte der Flucht wurde ihr sehr oft erzählt: „Als englischer Lord verkleidet, begleitet von einem Studenten als Diener, be- kleidet mit hellgrauen Hosen, dunkelblauem Frack mit Goldknöpfen und hell- grauem Zylinder, in der Hand einen Spazierstock mit silbernem Kauf, verließ er mit einer Extrapost bei Nacht und Nebel mit falschen Papieren das Land Hessen. Er gelangte nach Genf, wo er mit finanzieller Hilfe von Gleichgesinnten eine Schule eröffnete.“38

Bei der in Genf gegründeten Schule, die den Namen „Chatlaine“ trug, soll es sich um einen imposanten Bau gehandelt haben. Es kamen Schüler aus aller Welt. Nach dem Tod von Achilles Rödiger übernahm der Philologe und evangelische Theologe Georg Thudichum die Leitung der Schule. Mit dem ersten Weltkrieg verlor die Anstalt ihre Schüler und schloss schließlich im Jahre 1920 die Pforten. Bertha Rödiger (II), die zweite Tochter von Achilles, heiratete „nach einigem Wider- stand der Familie“, den Schriftsteller und Politiker Moritz Hartmann (*1821, †1872), der, wie auch Anton Riehl, Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 war, wo er als Mitglied der Donnersberg Fraktion zur äußersten Linken zähl- te.39 Moritz Hartmann stammte aus einer jüdischen Familie, trat aber 1838 zum katho- lischen Glauben über. Gründe für den Widerstand der Familie gegen die Hochzeit sind nicht erwähnt, so stehen sowohl religiöse, als auch politische Motive im Raum. Die Re- ligionszugehörigkeit Hartmanns könnte gleich zweifach für eine ablehnende Haltung seitens der Familie Rödiger gesorgt haben. Waren es antisemitische Gründe oder war es die katholische Konfession, zu der sich Hartmann seit seinem siebzehnten Lebens- jahr bekannte, die der evangelischen Familie Rödiger missfiel? Auch bei der Hochzeit zwischen Ernst Riehl und Bertha Rödiger in Spanien sorgten die unterschiedlichen Konfessionen für Probleme, da keiner der beiden bereit war, zur jeweils anderen Glau- bensrichtung zu konvertieren. Aber auch Hartmanns weit nach links außen gerichtete politische Einstellung könnten bei der bürgerlich geprägten Familie für Missfallen ge- sorgt haben. Fragen, die Raum für Spekulationen bieten, aber nicht eindeutig zu be- antworten sind. Ludo Moritz Hartmann, der Sohn von Moritz und Bertha (II), machte sich als Historiker und sozialdemokratischer Politiker einen Namen. Er wurde von Vik- tor Adler zum Archivbevollmächtigten für Österreich ernannt und war von 1818 bis

38 Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Absätze: Domes, Familienchronik, 4-5. 39 Best/Weege, Frankfurter Nationalversammlung, 168f. 25

1920 der erste österreichische Gesandte in Berlin, wo er großen Anteil an den deutsch-österreichischen Verhandlungen zum Anschlussprotokoll vom 2. 3. 1919 hat- te. Als Historiker befasste sich Ludo Hartmann vor allem mit der Geschichte Italiens, sein Hauptaugenmerk lag hierbei auf der Zeit des Übergangs von der Antike zum Mit- telalter.40 Blancas Großvater mütterlicherseits, Wilhelm Rödiger (*1844, †1922), war Ingenieur, der zunächst in England bei einer Eisenbahnbaufirma arbeitete, später nach Spanien kam, wo er in Andalusien die Leitung des Bahnbaus für die Huelva/Zafrabahn innehat- te. Bei einem Ritt durch die Landschaft der Sierra Morena stieß er eines Tages auf einen alten Stolleneingang. Er holte sich Arbeiter und begann diesen zu bearbeiten. Später tat er dies auch unter Einsatz von Maschinen, wodurch er in etwa 30 Metern Tiefe ein großes Lager mit phönizischen Vasen sowie phönizischen und römischen Münzen freilegte. Beim weiteren Vordringen stieß man überdies auf eine reiche Kup- ferader. Wilhelm machte sich daraufhin selbstständig und lebte von den Erträgen der Mine Sultana, zu der später noch eine zweite Grube (San Rafael) hinzukam. 41 Die et- was abenteuerliche Geschichte der Entdeckung dieser Mine erscheint aufgrund der Tatsache, dass zahlreiche Erzlagerstätten in Huelva seit der Römerzeit unberührt ge- blieben waren42, zumindest plausibel. Der Kupferabbau in Südspanien hat eine lange Tradition. Im Altertum waren es die Phönizier, welche die Kunst des Bergbaus vom Osten des Mittelmeeres in den Westen brachten und von ihren Kolonien auf Spanien und Zypern Kupfer in den gesamten Mit- telmeerraum exportierten. Nach dem Spanischen Krieg im 2. Jh. v. Chr. übernahmen die Römer die Herrschaft und somit auch den Kupferabbau in Südspanien. Phönizische und römische Münzfunde in diesem Gebiet wie jener von Wilhelm Rödiger belegen, dass die südspanischen Minen bereits im Altertum von Bedeutung waren.43 Die Indus- trialisierung Spaniens im 19. Jahrhundert wurde wesentlich durch Auslandskapital vor- angetrieben und wäre ohne die ausländischen Investitionen im Bergbau und Eisen- bahnwesen undenkbar gewesen. So wurde etwa die bedeutende Rio Tinto Mine 1873 vom Staat an die englische Rio Tinto verkauft.44 Wilhelm lieferte das Kupfer an ebendiese Rio Tinto Gesellschaft, die in Andalusien, in der Provinz Huelva, zur da- maligen Zeit vorwiegend Pyrit sowie Kupfer abbaute und verarbeitete.45 Das Aufkom- men von ausländischen Firmen und Investoren in Spanien im Zuge der Industrialisie-

40 Hans Jürgen Rieckenberg, Hartmann, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 7, Berlin 1966, 737. 41 Domes, Familienchronik, 5. 42 Friedrich Wolff, Ein Beitrag zur Geschichte des Kupferbergbaues in Rio Tinto und Tharsis in der spanischen Provinz Huelva, phil. Diss., Bonn 1904, 58. 43 Ebd., 19f. 44 Dieter Nohlen, Andreas Hildenbrand, Spanien. Wirtschaft-Gesellschaft-Politik, Wiesbaden 2005, 117. 45 Zur Geschichte der Rio Tinto Company siehe: Charles E. Harvey, The Rio Tinto Company. An Economic History of a Leading International Mining Concern 1873-1954, Cornwall 1981. 26 rung begründete folglich die Bildung einer multinationalen großbürgerlichen Gesell- schaftsschicht. Die Chronik der Familie meiner Großmutter, geprägt durch erfolgreiche Ärzte und Ad- vokaten, entspricht fast archetypisch dem bürgerlichen Familientypus des 18. und 19. Jahrhundert in Europa. In jener Zeit „entstand aus städtischen Kaufleuten, Bankiers, ersten industriellen Unternehmern, selbstständigen Akademikern (Ärzten, Apothekern, Notaren, Advokaten), Professoren und höheren Beamten ein männerdominiertes Bür- gertum und mit ihm ein bürgerlicher Familientypus“46. Von einer Familienhistorie, die dem Stadt- und Bildungsbürgertum zuzurechnen ist, entwickelten sich die Familien- stämme, Riehl und Rödiger, im ausgehenden 19. Jahrhundert hin zum Wirtschaftsbür- gertum.47 Standen in der Familienchronik bisher im Grunde ausschließlich die männli- chen Familienmitglieder im Zentrum der Erzählungen, änderte sich im Folgenden der Fokus auf eine von Frauen dominierte Familiengeschichte. Begründet wird dies zum einen durch die Quellen, die in diesem Fall nun einmal von Frauen produziert wurden und zum anderen allerdings auch, und das ist vielleicht entscheidender, durch die ver- änderte Schwerpunktsetzung, die nach dem Ende des bürgerlich-konservativen Europa und dem sukzessiven Ausklingen des Historismus in den Geschichtswissenschaften, eben auch Frauen und ihre Rolle in der Familie ins Blickfeld nimmt.

3 Eine behütete Kindheit

Am Nachmittag des 29. 10. 1913 kam meine Großmutter als Kind dieser bürgerlichen deutsch-schweiz-österreichisch-englischen Familie in Huelva zur Welt. In ihren nieder- geschriebenen Erinnerungen an die Zeit ihrer Kindheit, die vermutlich, so wie auch die Familienchronik, in den 1970er Jahren verfasst wurden, beschreibt sie, getragen von einer deutlich spürbaren Nostalgie, die frühen Jahre in Spanien bis zu ihrer Auswande- rung nach Deutschland. Blanca Riehl war das dritte von vier Kindern. Das Erste starb bereits mit zwei Jahren, Alfred war das zweite Kind und als älterer Bruder für meine Großmutter so etwas wie ein Beschützer, obwohl sie nur knapp ein Jahr trennte. Das Bild einer sorgenfreien, un- beschwerten und glücklichen Kindheit wird in ihrer Schilderung deutlich: „Wir beide hatten eine Kindheit von der man heute nur träumen kann. Das schöne Haus, das auf einem Hügel lag, war von einem großen eingeebneten, bekiesten Platz umgeben. Die Rückfront war von einem kleinen ansteigenden Mischwald begrenzt, die eine Seite war durch drei große Eukalyptu[sbäume] ge-

46 Reinhard Sieder, Haus, Ehe, Familie und Verwandtschaft, in: Marcus Cerman (Hg.) u. a., Wirtschaft und Gesellschaft Europa 1000-2000, Wien u. a. 2011, 322-345, hier: 336. 47 Ernst Hanisch, Provinzbürgertum und die Kunst der Moderne, in: Ernst Bruckmüller u. a., Bürgertum in der Habsburger-Monarchie, Wien-Köln 1990, 127-139, hier: 127f. 27

schützt. […] Vor dem Haus war eine Fahnenstange auf die wir Kinder besonders stolz waren, an denen [sic] an Feiertagen die österreichisch/ungarische Fahne aufgezogen wurde“.48

Die Familie hatte sich einen gewissen Wohlstand aufgebaut. In den Sommermonaten zog man von Huelva in das nur wenige Kilometer südlich gelegene kleine Fischerdorf Punta Umbria, wo Ernst Riehl auf Pontons, direkt am „kilometerweiten, menschenlee- ren Strand“ ein Sommerhaus gebaut hatte. Den Herbst verbrachte man dann in Cala, einem Dorf in der Sierra Morena, wo Blancas Großvater Wilhelm Rödiger, der Alito ge- nannt wurde, die Kupfermine Sultana-Rafael betrieb. Ebenso verfügte die Familie über Personal, darunter ein Kinderfräulein und eine Gouvernante, die Blanca und ihren Bru- der in Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtete und die beiden spanisch sprechen- den Kindern auch Deutsch lehrte. Ihre Mutter brachte ihnen Geographie und Geschich- te bei. Ein Foto (siehe Abbildung 1), aufgenommen um das Jahr 1905, zeigt Blancas Großvater Alito in einem Auto, ein Luxusgegenstand in jener Zeit, sowie Beleg für den vorhandenen Wohlstand, der auch gerne zur Schau stellte wurde.

Abbildung 1: Wilhelm Rödiger (zweiter v. li.) in seinem Auto, um 1905.

Quelle: In Privatbesitz der Fam. Domes.

Der Beginn des ersten Weltkrieges führte zu großen familiären Spannungen. Wilhelms Ehefrau, Lilly Blanche Mc Donough (*1860, †1915) war Engländerin. Während der Va- ter, ebenso wie sein ältester Sohn und auch dessen Tochter Bertha (Blancas Mutter), die schon allein aufgrund der Herkunft ihres Mannes, der österreichisch-ungarischer

48 Hierzu, sowie nachfolgender Absatz: Blanca Domes, Kindheitserinnerungen (Privatbesitz Fam. Domes) 1-2. 28

Honorarkonsul war, für die deutsche Seite eintraten, waren die beiden jüngeren Söhne begeisterte Engländer, wodurch diese zur Familie ihrer Mutter hielten. Dieser Bruch der Familie führte schließlich auch dazu, dass versucht wurde, die Kupfergruben nach dem Tod Wilhelm Rödigers 1922 zu verkaufen.49 Spanien blieb in diesem Krieg neutral, von den Auswirkungen des Krieges blieb die Fa- milie dennoch nicht verschont. Über diesen Zeitabschnitt des Krieges berichtet Blancas Mutter in ihrem Tagebuch, das in Deutsch verfasst war, jedoch durch verstreute Wör- ter und Phrasen auf Spanisch bzw. Englisch den multinationalen Charakter der Familie deutlich macht. Im Sommer des Jahres 1914, dem Beginn des Tagebuchs von Bertha Riehl, scheint noch nichts die Idylle in dem kleinen spanischen Dorf Punta Umbria zu trüben. Die Kinder spielen im Sand und sind der ganze Stolz ihrer Mutter: „Bubi [Alfred] mit 2 Jahren ist ein sehr entwickeltes Kind in jeder Beziehung. Er ist außergewöhnlich groß und breitschultrig und fest, hat alle seine Zähne.“50 Blanca dagegen nimmt den Platz des zierlichen Mädchens ein, das jedermanns Liebling ist. Der überwiegende Teil dieser ersten Seiten widmet sich der Entwicklung der Kinder, ihren ersten Zähnchen und dem Alltag im heißen Andalusien. Die letzten Zeilen des Jahres 1914 berichten schließlich vom Aufbruch zu einer Reise, die Bertha mit ihrem Ernst und den zwei Kindern, am 24. 7. nach Genf unternahm.51 Vier Tage später erfolgte die Kriegserklärung Öster- reich-Ungarns an Serbien und der Erste Weltkrieg begann.

4 Der Erste Weltkrieg als Wendepunkt

Der nächste Eintrag im Tagebuch von Bertha Riehl stammt aus dem Juli 1916 und be- zieht sich retrospektiv auf die Geschehnisse der vergangenen zwei Jahre. Nicht mehr das unbeschwerte Leben der Kinder steht im Mittelpunkt dieser Seiten, sondern der Krieg, der die Familie entzweien sollte. Am 24. 7. 1914 verabschiedete sich Bertha von ihrer kranken Mutter am Bahnhof Huelva, von wo die Familie, noch vor Ausbruch des Krieges, ihre Reise über Marseille nach Genf antrat: „Der Zug fuhr fort und sie stand alleine da und winkte – das war das letzte Mal, dass ich mein Mamali auf sah.“52 „Das nächste Wiedersehen war furchtbar.“53

Der ausbrechende Krieg schnitt die Familie von ihrer Heimat Spanien ab und machte die Reise zu einer Odyssee:

49 Domes, Familienchronik, 5-6. 50 Bertha Riehl, Tagebuch (Transkription, Privatbesitz Fam. Domes) 1. 51 Ebd., 2f. 52 Anm: gemeint ist „auf", im Sinne von, nicht im Bett liegend. 53 Riehl, Tagebuch, 4. 29

„wir [fuhren] nach Genua und erlebten nun die furchtbare Enttäuschung als wir, schon mit unseren Billetten auf unseren Koffern sitzend, in der größten Hitze stundenlang am Pier auf unsere Einschiffung gewartet hatten, dass man uns als Österreicher nicht aufnahm […] Abgeschnitten von unserem Heim, blieb uns nichts übrig, als zu den Schwestern54 nach Karlsbad zu fahren. Das war eine Odyssee von einer ganzen Woche in überfüllten Zügen, Tag und Nacht zusam- mengepfercht und die kleinen Kinder dabei. Blanqui wurde wieder krank infolge der Hitze und in allen Coupes hinterließen wir Höschen und Windeln von ihr.“55

Im Haus Strauss, in Karlsbad, wurden sie wenig freudig empfangen: „mir war als be- käme ich einen Kübel Wasser über den Kopf, […]“. So fasste man im November den Entschluss nach München zu fahren, wo man in einer Pension, fernab der abweisenden Verwandtschaft, sein eigener Herr sein konnte. Dort beobachtete Bertha den Abzug deutscher Soldaten zur Westfront: „Unvergesslich bleibt mir ein langer Zug, der an die französische Front fuhr, lau- ter prachtvolle begeisterte junge Männer. Zwei Gesichter sind mir wie eingemei- ßelt geblieben: das eine, leuchtende begeisterte blaue Augen eines großen schönen jungen Mannes, wohl Student oder so ähnlich und neben ihm am Bo- den des Waggons sitzend, mit den Füßen auf dem Trittbrett, ein unsäglich trau- riger, dunkelhaariger junger Mensch, der so verzweifelt hoffnungslos vor sich hinstarrte.“

In München erhielt Bertha am 25. 12. 1914 einen Brief von ihrem Bruder, in dem er ihr von dem hoffnungslosen Gesundheitszustand ihrer Mutter berichtete und sie bat, so schnell wie möglich nach Huelva zu kommen. Mit den beiden Kindern, Blanca und Alfred, beide gerade erst etwas über ein bzw. zwei Jahre alt, reiste sie zusammen mit einer Amme zurück nach Spanien, während ihr Mann, in der Hoffnung auf eine kurze Trennung, zurückbleiben musste.56 Diese Trennung dauerte im Endeffekt über vier Jahre, eine Zeit die auch die Kinder ohne ihren Vater verbringen mussten. Nichtsde- stotrotz zählten jene Jahre zu den unbeschwerten und glücklichen Jahren, an die sich meine Großmutter später so gerne erinnerte. Die lange Abwesenheit des Vaters in die- sen ersten Jahren der Kindheit führte auch zu der starken Bindung Blancas an ihre Mutter. Hingegen dürfte die Beziehung zu ihrem Vater, den sie auch in ihren Erzählun- gen im Grunde nie erwähnte, nicht besonders innig gewesen sein. Eine retrospektive Distanz, die sich im Wesentlichen auch dadurch erklärt, dass sie ihm eine gewisse Mit- schuld an dem kommenden Abstieg der Familie gegeben hat bzw. angesichts der Tat- schen geben musste, auch wenn sie es nie direkt aussprach. Wieder in Spanien musste Bertha zusehen, wie ihre Mutter unter „gräßlichen Schmer- zen“57 mit dem Tode rang und nach zwei Monaten schließlich starb. Die Gedanken an

54 Anm: die beiden Schwestern von Ernst, Mitzi und Luise Riehl. 55 Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Zitate: Riehl, Tagebuch, 4-5. 56 Anm: weshalb Ernst Riehl, im Gegensatz zu seiner Frau, nicht zurück nach Spanien konnte, geht aus den Quellen nicht hervor. 57 Hierzu, sowie die nachfolgenden drei Zitate: Riehl, Tagebuch, 6, 8, 9, 13. 30 die Abwesenheit ihres Mannes und den Tod ihrer Mutter, begleiteten sie über die nächsten Jahre auch in ihrem Tagebuch. So schrieb sie im Februar 1918: „Drei Jahre sind es heute, dass mein süsses, armes Mamili endlich ausgelitten hatte. Wie klar steht noch alles vor mir. Wie entsetzlich war ihr langsames, stückweises, kann man sagen, sterben! […] Nur mit dem einen Auge konnte sie noch sehen, das einzige was noch Leben und Bewegung in ihrem armen, lieben Körper hatte. Es war zu grausam, zu furchtbar.“

Mit einer gewissen Melancholie schreibt sie im selben Eintrag von der bitterlichen Tren- nung von ihrem Ehemann: „Drei Jahre Einsamkeit nach einem solch furchtbaren Schmerz, ohne Deine Lie- be und Sorgfalt, die mich sonst auf Schritt und Tritt umgab, mein Ernst, viel- leicht hat es meinen Charakter gereift, aber bring uns endlich zusammen, lieber Gott. Das Leben ist so kurz, so furchtbar kurz und grausam“.

Auch wenn der Krieg in Spanien keine Opfer forderte, so machte eine andere Gefahr nicht vor den Grenzen des Landes halt. Im Herbst 1918 notierte Bertha in ihr Tage- buch: „Die Epidemie ist ganz entsetzlich, von Frankreich durch die Portugiesen einge- schleppt. In den ersten Tagen vom Nov. hat die Sterblichkeit hier den Höhe- punkt erreicht – 34 am Tag!“

Durch die Spanische Grippe fanden neueren Schätzungen zu Folge, bis zu 50 Million Menschen weltweit den Tod.58 Das Ende des Ersten Weltkrieges bedeutete für Bertha Riehl auch das Ende der langen Trennung von ihrem Ehemann. Die Freude und Erleichterung darüber wurde allerdings von den sich überschlagenden Ereignissen in Deutschland überschattet. Ein Eintrag am Abend des ereignisträchtigen 9. 11. 1918 zeigt, dass man auch im fernen Spanien, die Geschehnisse in Deutschland genau verfolgte und offenbart zugleich die politische Ideologie Berthas: „10. Uhr abends. Jetzt ist in Deutschland die Entscheidung schon gefallen. Die furchtbare Bedeutung dieser Schicksalsstunde läßt mich in atemloser Aufre- gung. Zu was für Bedingungen hat sich mein armes heldenmütiges Deutschland beugen müssen? Hat es sich überhaupt gebeugt? Gestern war ich noch sicher es würde unwürdige Bedingungen zurückweisen, aber heute nach den Nachrichten über die bolschewikische Bewegung in Hamburg, Kiel, Lübeck, in Bayern, was kann man da viel erwarten!“59

Mit der „Entscheidung“ ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung über die Waf- fenstillstandsbedingungen zwischen dem Deutschen Reich und den Westmächten ge- meint. So berichtet unter anderem die „Vossiche Zeitung“ aus Berlin am 9. 11. „daß die deutschen Bevollmächtigten Freitag morgen im großem Hauptquartier der Alliierten die Bedingungen für den Waffenstillstand mit der dringenden Auf-

58 Niall P. A. S. Johnson, Juergen D. Mueller, Updating the Accounts: Global Mortality of the 1918-1920 „Spanish“ Influenza Pandemic. In: Bulletin of the History of Medicine, Bd. 76, Nr. 1, 2002, 105–111, hier: 105. 59 Riehl, Tagebuch, 13. 31

forderung erhielten, sie binnen 72 Stunden […] ablaufen, anzunehmen oder abzulehnen.“60

Deutschland beugte sich daraufhin, und als Folge der Ereignisse der Novemberrevolu- tion bedeutete die Ausrufung der Republik am 9. 11. durch Philipp Scheidemann von der Mehrheitssozialistischen Partei Deutschlands (MSPD), auch faktisch das Ende der Monarchie. Ausgangspunkt der Revolution in Deutschland war Ende Oktober ein Auf- stand der Matrosen in Kiel gewesen, die den Befehl zu einem Himmelfahrtskommando verweigert hatten. Die Nachricht dieses Aufstandes verbreitete sich wie ein Lauffeuer, Arbeiter- und Soldatenräte bildeten sich, bis die Revolution schließlich nicht mehr auf- zuhalten war, und Anfang November Berlin erreichte.61 Dass die Veränderungen in Deutschland mit dem Bolschewismus im Hintergrund auch international zu tiefer Be- sorgnis führten, zeigen etwa die Reaktionen amerikanischer Politiker. Als mit dem 7. 11. die Nachricht des Kieler Matrosenaufstandes nach Washington gedrungen war, schrieb Breckinridge Long, ein Parteifreund Präsident Wilsons: „Das ist eine der schlimmsten Nachrichten seit vielen Monaten. Wenn das stimmt, dann bedeutet das, dass der Bolschewismus in Deutschland an die Macht kommt.“62

Robert Lansing, Außenminister der USA, nannte den Bolschewismus gar „die Gewalt- herrschaft einer Mörderbande von Kriminellen und geistig Anormalen“.63 Mit dem Untergang der Monarchien in Österreich-Ungarn und im Deutschen Reich so- wie mit dem damit verbundenen Aufstieg des Sozialismus und der drohenden Gefahr einer bolschewikischen Revolution, wie im Jahr zuvor in Russland, brach für die bür- gerlich-konservative und dem Deutschtum sich zugehörig fühlende Bertha Riehl eine Welt zusammen: „Hier hört man nur immer über die Socis: wo sind die Conservativen, wo die Mi- litaristas, sie sind doch der überwiegend größte Teil in Deutschland, hoffe ich; das Volk ist doch viel zu gebildet, als dass der Bolschewismus dort Fuß fasst.“64

Bertha Riehls Geisteshaltung war charakteristisch für weite Teile des deutschen und österreichischen Bürgertums, das nach 1918 von Trauer, Verunsicherung und Resigna- tion erfasst wurde. Die massive Orientierungslosigkeit führte zur Suche nach neuen Möglichkeiten der Identifikation und hatte zur Folge, dass sich einige Teile jenes Bür- gertums für anti-demokratische Ideologien begeistern konnten. „Das ‚Bürgertum‘ brachte seine Werte dem insgeheim als proletarisch verachteten Faschismus zum Op- fer, weil es ihm zutraute, die ‚bürgerlichen‘ Grundwerte von ‚Ordnung‘ und ‚Sauberkeit‘

60 Die Waffenstillstands-Verhandlungen, in: Vossische Zeitung, Nr. 574, 9. 11. 1918, 1. 61 Edgar Wolfrum, Cord Arendes, Globale Geschichte des 20. Jahrhunderts, Grundkurs Geschichte, Stuttgart 2007, 44. 62 Klaus Schwabe, Deutsche Revolution und Wilson-Friede. Die amerikanische und deutsche Friedensstrategie zwischen Ideologie und Machtpolitik 1918/19, Düsseldorf 1971, 227. 63 Ebd., 230. 64 Riehl, Tagebuch, 13. 32 gegen die behauptete ‚Larmoyanz‘ und den ‚Klassenneid‘ der inferioren Gruppen durchzusetzen.“65 Dass eine deutschnationale Ideologie in Bertha Riehl bereits inhä- rent war zeigt auch folgende Bemerkung: „So wünsche ich mir noch viele Söhne, die einmal helfen sollen Deutschland zu rächen.“ Um einige Zeilen später, nicht ohne einen gewissen Widerspruch, zu flehen: „Lieber Gott im Himmel, gib dass es Frieden wird, aber ein Frieden nicht ein verhaltener Hass, der sobald er kann wieder losbricht um sich zu rächen.“66

Ihre Befürchtungen sollten sich bewahrheiten. Das bürgerliche Europa gehörte mit dem Ende der Monarchien in Deutschland und Ös- terreich der Vergangenheit an. Nichts war nach 1918 noch so, wie es in den letzten Jahrzehnten vor 1914 gewesen war. Die bürgerlichen Schichten waren erfüllt von Nostalgie und den Erinnerungen an „die gute alte Zeit“ unter dem Kaiser.67 Die Erlebnisse von Bertha Riehl aus jenen Jahren kontrastieren mit den Erzählungen meiner Großmutter, für die, aus der subjektiven Sicht eines Kindes und dem später nostalgisch gefärbten Rückblick, jene Zeit, als die glücklichste ihres Lebens in Erinne- rung blieb, während das Tagebuch ihrer Mutter einen weniger verklärten Blick auf jene Zeit wirft, die durch zahlreiche, auch persönliche, Krisen gekennzeichnet war. Die Schicksalsschläge, die direkt das Leben meiner Großmutter geprägt haben, sollten al- lerdings erst folgen.

5 Schicksalsschläge

5.1 Das Ende des bürgerlichen Zeitalters

Dem Wiedersehen nach der langen Zeit der Trennung zwischen Bertha Riehl und ihrem Mann im Sommer des Jahres 1919 folgte bald die Geburt der zweiten Tochter, Lilli Riehl (*1920, †1937). Der Alltag der folgenden Monate war von den immer älter wer- denden Kindern und den kleinen Erfolgserlebnissen geprägt, die diese Phase des Er- wachsenwerdens begleiteten. Diese wurden liebevoll von ihrer Mutter festgehalten. Besonders die noch kein Jahr alte Lilli stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sowie vor allem ihre gesundheitliche Entwicklung. Denn die Kinder- bzw. Säuglingssterblich- keit, die in Europa noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in fast allen Ländern durch- schnittlich zwischen 10% und 20% betrug68, stellte nach wie vor eine reelle Gefahr dar, wie Bertha Riehl selbst, durch den Tod ihres erstgeborenen Kindes Hans (*1908,

65 Ulrike Döcker, Bürgerlichkeit und Kultur. Eine Einführung, in: Ernst Bruckmüller (Hg.) u. a., Bürgertum in der Habsburger-Monarchie, Wien-Köln 1990, 95-104, hier: 101f. 66 Riehl, Tagebuch, 13-14. 67 Wolgang J. Mommsen, Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt am Main 2004, 8. 68 Kindersterblichkeit, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 11, Leipzig-Wien 1905, 16-18, hier 16. 33

†1910), der im Alter von zwei Jahren an einer Kinderkrankheit verstarb, schmerzlich erfahren musste. Ebenso bestimmten der besorgniserregende Gesundheitszustand von Berthas Vater und die schlechte finanzielle Lage das Leben der Familie in jener Nach- kriegszeit. Die Mine, die im Jahr 1918 anscheinend noch guten Ertrag gebracht hat- te69, wollte man verkaufen. Der Kupferpreis sank nach dem Ende des Krieges stark ab. Hatte sich der Preis für 100 Pfund Kupfer im Jahr 1916 noch auf knapp 1,8 Unzen Gold belaufen, so fiel er bis zum Jahr 1921 auf 0,6 Unzen.70 Auch ein Blick auf den von der Rio Tinto Company erwirtschafteten Gewinn bestätigt diese Entwicklung. So sank der Gewinn (in Pfund Sterling) pro Tonne von 82£ im Jahr 1916 auf 12£ im Jahr 1921.71 Der sinkende Kupferpreis könnte die Gruben unrentabel gemacht haben; allerdings stand der Kupferpreis auch vor dem Krieg auf keinem wesentlich höheren Niveau. Wei- tere Faktoren wie eine gesunkene Förderkapazität oder Misswirtschaft könnten zusätz- lich für die schwierige wirtschaftliche Lage der Familie verantwortlich gewesen sein. In jedem Fall versuchte man vergeblich, einen Käufer für die im Nordwesten Andalusiens gelegenen Kupfergruben zu finden. Auch die Geschäfte von Blancas Vater liefen zu je- ner Zeit nicht gut. Durch den Krieg hatte das Unternehmen seine englischen Kunden verloren, zudem sollen betrügerische Angestellte, die während der Zeit der Abwesen- heit Ernst Riehls die Geschäfte führten, Schuld an dem Niedergang der Firma gewesen sein. Eine Portion Naivität mag den Rest dazu beigetragen haben, dass Blancas Vater den Entschluss gefasst hatte, alles zu verkaufen und in Deutschland einen Neuanfang zu wagen. Über die kaufmännischen Fähigkeiten ihres Vaters schreib Blanca: „er war ein wundervoller künstlerisch veranlagter Mensch, aber kein guter Geschäftsmann“ 72. Hinter diesem Satz dringt im Hinblick auf die folgenden Ereignisse, auch wenn sie es so direkt nie gesagt und schon gar nicht zu Papier gebracht hätte, ein Vorwurf der Un- fähigkeit an ihren Vater durch. Am 16. 9. 1922 verließen Bertha und Ernst mit den drei Kindern, Blanca war zu dem Zeitpunkt kurz vor ihrem neunten Geburtstag, ihre Heimat Spanien. Über diesen Mo- ment des Abschieds schrieb Bertha fünf Jahre später: „Am Bahnhof am 16.9 um 4 Uhr waren alle unsere Leute und viele Bekannte – es war eine Qual bis der Zug endlich davon fuhr und unser liebes Haus dort oben, umrahmt von Bäumen, so lieb und traurig zum letzten Mal uns grüsste bis der Zug um eine Biegung fuhr und alles verschwand.“73

Bis zum Sommer im Jahr 1925 lebt die Familie in München. Diese ersten Jahre, fern der Heimat, bedeuteten in der Erinnerung meiner Großmutter noch keine wesentliche

69 Riehl, Tagebuch, 9. 70 BearishBull, Copper Price In Terms of Ounces of Gold per 100 pounds of Copper, in: Copper Prices Return to Earth, URL: http://www.bearishbull.com/?p=44#content (abgerufen am 11. 5. 2013). 71 Harvey, Rio Tinto, 355. 72 Domes, Kindheitserinnerungen, 2. 73 Riehl, Tagebuch, 20. 34

Änderung des Lebensstils.74 Aus den Augen eines Kindes mag diese Zeit den Anschein von geordneten Verhältnissen gehabt haben, da die Familie von ihren Ersparnissen und der Hoffnung auf baldigen geschäftlichen Erfolg lebte. Blancas Vater war jedoch kein Erfolg beschieden und die finanziellen Ressourcen gingen bald zur Neige, während der Verkauf der Mine ebenfalls auf sich warten ließ. Im Jahr 1927, als Bertha ihr Tagebuch nach sechs Jahren der Unterbrechung wieder weiterführt, wird die angespannte Lage deutlich. In den folgenden Monaten und Jah- ren sah sich die Familie mit einem ständigen finanziellen und nicht zuletzt auch gesell- schaftlichen Abstieg konfrontiert. Von München war man 1925 in eine Villa nach Kleingmain im Süden Salzburgs gezogen, die im August 1927 wieder verlassen werden musste, um vorübergehend in in der Steingasse Nr. 69 eine Zweizimmerwoh- nung zu beziehen.75 Die Familie nahm Schulden auf, immer in der Hoffnung, der Verkauf der Mine würde bald das ersehnte Geld bringen. Die Verhandlungen wurden jedoch abgebrochen und die finanzielle Lage immer verheerender. Ob und in welchem Ausmaß die Kupfermine in Spanien Gewinn erwirtschaftete und was von diesem Geld zur Familie nach Öster- reich kam ist unklar, in jedem Fall kann es sich, auch angesichts des niedrigen Kupfer- preises, nicht um viel gehandelt haben. Es war vor allem die finanzielle Unterstützung durch Verwandte, welche die Familie über Wasser hielt. Der gesellschaftliche Abstieg, gezeichnet durch die immer unstandesgemäßere Wohn- situation, das Aufnehmen von Schulden, die nicht zurückgezahlt werden konnten, die Abhängigkeit von der Unterstützung anderer, all dies bedeutete, neben den Problemen im Alltag, einen erheblichen psychischen Druck, und vor allem eine tief empfundene Demütigung, wie es Bertha auch in ihrem Tagebuch zum Ausdruck bringt: „[…] die Enttäuschungen und Demütigungen die sollten, so Gott will, in diesem alten Jahr zurück bleiben und das Jahr 1928 ein gesegnetes und glückliches werden“, „Ich habe Vertrauen und Hoffnung, dass es jetzt endlich anders wird“.76

Doch auch das folgende Jahr sollte keine Besserung mit sich bringen. Das Vertrauen auf Gott verbunden mit einem scheinbar unerbittlichen Optimismus zeichnet die Le- benseinstellung Bertha Riehls in dieser schwierigen Zeit aus. Im Sommer 1927 zog Ernst nach Wien, um sich dort eine Stellung zu suchen, wäh- rend Bertha mit den Kindern in Salzburg zurückblieb. Dem unermüdlichen Zweckopti- mismus von Blancas Mutter stand ein scheinbar resignierender Vater gegenüber: „Was mag der liebe Ernst inzwischen in Wien ausgerichtet haben. Heute ist er 4

74 Domes, Kindheitserinnerung, 2. 75 Riehl, Tagebuch, 20f. 76 Ebd., 22. 35

Tage dort und schrieb nur: er sei verzweifelt. Gott helfe uns!“77

Es ist bezeichnend, dass die zurückgelassene Mutter und Ehefrau, obwohl wieder allei- ne die Verantwortung für die Kinder tragend, ihrem Mann keine direkten Vorwürfe machte, so wie auch Blanca ihrem Vater nicht. Eine Mentalität, die der Vorstellung ei- ner funktionierenden Bürgerehe des 19. Jahrhunderts entsprach, dem Ideal des „leistungsbereiten und risikofreudigen Mannes und der duldsam-vertrauensvol- len Frau, die allzeit bereit war, ihrem Ehemann den Rücken zu stärken und frei- zuhalten, willfähig seine Entscheidungen zu akzeptieren und mitzutragen“78.

Nicht nur für Bertha und Ernst Riehl, sondern auch für die Kinder bedeutete der Ab- stieg der Familie einen Einschnitt in ihr Leben. Blanca, das in behüteten Verhältnissen aufgewachsene Mädchen, war nun mit einer Erfahrung konfrontiert, die ihr völlig un- bekannt war: Armut. „Ich musste mit jungen Jahren lernen, wie bitter es ist aus den guten unbeküm- merten Jahren in die harte Wirklichkeit zu fallen.“79

Noch versuchte die Familie den Anschein eines einigermaßen standesgemäßen Leben zu wahren, vor allem für die Kinder. So leistete man sich trotz der angespannten Lage Tanzstunden für Blanca.80 Gleichzeit versuchte man für sich selbst so wenig Geld wie möglich auszugeben: „Am liebsten wären Ernst und ich allein und nährten uns von Brot und Eiern und brauchten nicht noch den anderen ein frohes Gesicht zu zeigen.“

Die finanzielle Lage stellte sich mal mehr, mal weniger schlecht dar, abhängig vom Profit der Mine, der Unterstützung von Verwandten und ob bzw. wie viel Geld Ernst verdienen konnte. Über die Art der Arbeit schweigt Bertha in ihrem Tagebuch, es ist anzunehmen, dass es sich um eine entsprechend niedrige und verhältnismäßig schlecht bezahlte Tätigkeit handelte. Im Sommer 1930 verschlimmerte sich die Situa- tion zusehends. Die Familie musste ein weiteres Mal umziehen, diesmal nach Mödling, das Dienstmädchen, das man sich bis zuletzt geleistet hatte, war fortgegangen und in- zwischen wurde sogar das Geld für das Essen knapp. Über die dramatische Lage schreibt Bertha: „Ich mache alles alleine, nehme mir lieber die Müdigkeit in Kauf, als dass ich mir beständig von einem fremden Wesen kritisch in die Speiskammer schauen las- se. Wir haben ja oft kaum zu essen – wissen nicht wo es am nächsten Tag her- kommen soll. Es ist furchtbar. […] Wir haben gar keine Ressourcen mehr, haben in diesem 4 jährigen Kampf alles versucht, alles verkauft und versetzt“.

Zunehmend zehrte das Schicksal auch an den Kräften des Ehepaares.

77 Riehl, Tagebuch, 21. 78 Gunilla-Friederike Budde, Bürgerinnen in der Bürgergesellschaft, in: Peter Lundgreen (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums, Göttingen 2000, 249-271, hier: 249. 79 Domes, Familienchronik, 6. 80 Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Zitate: Riehl, Tagebuch, 25, 26. 36

„Ich danke Gott für die Gnade uns wenigstens die Gesundheit zu erhalten. Es ist ja ein Wunder, dass Ernst noch nicht niedergerbrochen ist. Er ist aber auch ma- ger und abgehärmt und ich schau aus.“81

Die scheinbar aussichtslose Lage machte es notwendig, dass auch die inzwischen er- wachsen gewordenen Kinder (Blanca feierte im Oktober 1932 ihren 19. Geburtstag) ihren Beitrag leisten mussten, um die Familie über Wasser zu halten. Blanca arbeitete in Salzburg in einem Hotel, womit ein Familienmitglied weniger ernährt werden muss- te, zudem konnte sie ihren Eltern auch mit einem Teil ihres Gehalts aushelfen. Ihr Bru- der Alfred arbeitete zumindest zwischenzeitlich als Volontär in einer Radiowerkstatt, bereitete den Eltern jedoch mit seinen schulischen Leistungen und dem offensichtlich fehlenden Ehrgeiz Sorge. Darunter litt das Verhältnis zu seinem Vater stark: „[…] der ganze Ton zwischen ihm und Ernst ist in letzter Zeit so unnatürlich, so entfremdet, dass es mein heißester Wunsch ist, dass er für eine Zeit aus dem Haus kommt, auf sich selbst angewiesen“.

Der Bruch mit seinem Vater fiel wohl nicht zufällig in jene Zeit, als sich Alfred ent- schloss der NSDAP beizutreten, nach eigenen Angaben bereits 1932, als die Partei noch nicht verboten war.82 Die Mitgliedschaft Alfreds in der NSDAP, auch später als Il- legaler, wurde weder im Tagebuch seiner Mutter, das mit dem Jahr 1932 endet, noch in den schriftlichen Erinnerungen meiner Großmutter erwähnt. „Verbittert und vom Leben enttäuscht“ starb Ernst Riehl 1935. Der Ehemann und Vater zweier Kinder war daran gescheitert, die ökonomische Sicherheit und gesellschaftliche Reputation der Familie wiederherzustellen. Bertha verblieb nach seinem Tod mittellos und entschloss sich im Jahr 1937 „schweren Herzens“83, mit der 17 Jahre alten Lilli zu ihren Brüdern nach Spanien zurückzukehren, während Alfred und Blanca, die eine Ar- beit hatten, in Österreich blieben. Das Schicksal der Familie, personifiziert durch die Hilfs- und Hoffnungslosigkeit Ernst Riehls, kann exemplarisch für den Zerfall des Bürgertums und im Speziellen des Wirt- schaftsbürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesehen werden. Der sozioökono- mische Strukturwandel und die ökonomischen Krisen zwischen 1914 und 1933 trafen diese Gesellschaftsschicht mit unerwarteter Härte. Auch wenn sich zahlreiche Wirt- schaftsbürger behaupten konnten, so bedeuteten Weltkrieg, Inflation und schließlich die Weltwirtschaftskrise für einen Großteil das Ende ihrer bürgerlichen Existenz. Neben den wirtschaftlichen Faktoren trugen auch die politischen Umbrüche mit dem Ende der Monarchie in Deutschland und Österreich, wie sie auch von Bertha Riehl in ihrem Ta- gebuch besorgt registriert wurden, zur Auflösung des Bürgertums, in seiner bisherigen

81 Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Riehl, Tagebuch, 27, 30. 82 WStLA, Landesgericht für Strafsachen Wien, A11 – Vr-Strafakten: 81/1937, 34. 83 Domes, Familienchronik, 6. 37

Form, bei. Die gesellschaftliche Stellung des Bürgertums wurde zunehmend von rech- ter sowie von linker Seite angegriffen. Für den Abstieg der Familie meiner Großmutter spielte im besonderen die weit verbreitete Vorstellung des bürgerlichen Lagers, die richtige Herkunft würde automatisch eine attraktive Karriere ermöglichen, eine ent- scheidende Rolle. War diese Vorstellung schon vor 1914 naiv, wurde diese im Zuge der ökonomischen Rationalisierung in den 20er Jahren völlig unrealistisch.84

5.2 Krieg in Spanien

Am 17. 7. 1936 bildete ein Militäraufstand in Spanisch-Marokko den Ausgangspunkt des Spanischen Bürgerkriegs. Schon jahrelang war Spanien von politischen und sozia- len Spannungen geprägt, deren zentrale Konfliktbereiche die Agrarfrage, das Verhält- nis zwischen Militär und Politik, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche sowie die Be- ziehung zwischen der Madrider Zentrale und den Regionen der Peripherie darstellten. Vor allem die Rückständigkeit des archaischen Agrarsektors hätte Reformen dringend notwendig gemacht, um einen Klassenkrieg zu verhindern.85 So standen sich am Vor- tag des Bürgerkriegs zwei Blöcke gegenüber, die Volksfront, zu der Sozialisten, Kom- munisten, die republikanische Linke und die Anarchisten zählten und die Nationale Front, auf deren Seite Großgrundbesitzer, katholische Konservative, Monarchisten und Rechtsrepublikaner standen. Die Nationalitätenfrage hatte noch während des Ersten Weltkrieges zum Streit zwi- schen Bertha und zwei ihrer Brüder, und weiterführend zu einem Bruch in der Familie geführt. Mit dem Ende des Krieges hieß der Feind nicht mehr England bzw. Deutsch- land. Stattdessen bildeten nun auch in Spanien der Sozialismus und der Kommunis- mus gemeinsame Antipoden, auch wenn in Spanien keine akute Gefahr einer kommu- nistischen Machtübernahme bestand.86 Möglicherweise trug diese Vorstellung einer kommunistischen Bedrohung Spaniens wieder zu einer Annäherung der Familie bei. So steht es angesichts der bisher dargestellten Mentalität und ideologischen Ausrichtung Bertha Riehls außer Frage, dass sie und sehr wahrscheinlich auch der Rest der Familie den Nationalisten unter Franco nahe standen. Als Bertha im Sommer 1937 in ihre Hei- mat zurückkehrte, war der Großteil Andalusiens, inklusive der Provinzen Sevilla und Huelva bereits von den Franquisten kontrolliert (siehe Abbildung 2), der Konflikt war längst ein internationaler geworden.

84 Werner Plumpe, Einleitende Überlegungen. Strukturwandel oder Zerfall: das Wirtschaftsbürgertum 1870 bis 1930, in: Werner Plumpe, Jörg Lesczenski (Hg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mainz 2009, 8-13, hier: 10. 85 Walther L. Bernecker, Krieg in Spanien 1936-1939, Darmstadt 1997, 6-8. 86 Bernecker, Krieg in Spanien, 51. 38

Abbildung 2: Spanien, März 1937.

Quelle: Walther L. Bernecker, Krieg in Spanien 1936-1939 (Darmstadt 1997), 31.

Im Juli 1936 hatten sich Deutschland und Italien, im Abstand von wenigen Tagen, zur Intervention in Spanien entschlossen, sowohl auf diplomatischem als auch militäri- schem Weg. Auch das Portugal Salazars unterstützte die Nationalisten, er agierte qua- si als Francos Außenminister im Völkerbund. Die diplomatische Unterstützung hatte vor allem das Ziel, eine Einmischung Frankreichs oder Englands zu verhindern. 87 Frankreich und England griffen offiziell nicht in den Konflikt ein, unterstützten aber dennoch indirekt die Republikaner. So tolerierte die französische Regierung etwa die Bildung der Internationalen Brigaden. Für die republikanische Seite trat neben Mexiko nur die Sowjetunion ein. So umfassten die russischen Waffenlieferungen neben Ge- wehren und Panzern auch über 400 Flugzeuge.88 Am 1. 7. 1937, Bertha und Lilli waren seit sechs Wochen in Spanien und wohnten in Sevilla, wurden zwei Bomben über der Stadt abgeworfen, eine traf den Flugplatz, die zweite das Haus in dem Bertha und die siebzehnjährige Schwester meiner Großmutter noch im Bett lagen.89 Beide kamen bei diesem Angriff ums Leben. Am darauf folgen- den Tag erhielt Blanca ein Telegramm von Conrad, dem ältesten Bruder ihrer Mutter:

87 Ebd., 78. 88 Ebd., 105. 89 Blanca, Familienchronik, 6. 39

„MAMA LEIDER VERWUNDET BRIEF FOLGT“90. Es ist anzunehmen, dass beide sofort tot waren. Ihr Onkel, sofern er zu dem Zeitpunkt nicht selbst andere Informationen hatte, wollte der 24 jährigen Blanca den Tod ihrer Mutter und Schwester nicht in wenigen Worten per Telegramm mitteilen. Es war die sowjetische „rote“ , die die Bomben auf die Stadt geworfen hatte. Die spanische Zeitung „El avisador numantino“ berichtete zwei Tage später über das „Criminal bombardeo de la aviación roja sobre Sevilla“ („Kriminelles Bombardement auf Sevilla durch die rote Luftwaffe“), bei dem nach Angabe der Zeitung vier Tote zu beklagen waren, darunter „dońa Berta Roenge [sic], de cincuenta y uno y una hija de esta llamada Lille Riel [sic], de diecisiete ańos.“ („Frau Berta Roenge [Rödiger], 51 Jahre alt und ihre Tochter Lille Rieln [Riehl] 17 Jahre alt“).91

6 Der „Fall“ meiner Großmutter: Hinwendung eines verunsicherten Bürgertums zum Faschismus

Nach dem Tod ihrer Eltern standen Alfred und Blanca alleine vor einer Zeit des politi- schen Umbruchs. In Hinblick auf das Verhältnis meiner Großmutter zum Nationalsozia- lismus lassen sich diverse Einflussfaktoren ausmachen. Auf der einen Seite die erleb- ten Krisen sowie die Prägung durch die bügerlich-konservative antikommunistische Ideologie der Mutter. Auf der anderen Seite, die mit Sicherheit vorhandene Schuldzu- weisung am Ableben ihrer Mutter sowie Schwester an die „Roten“, die ohnehin ver- hassten Kommunisten. Hierdurch erscheint der Schluss nahe, dass das Verhältnis mei- ner Großmutter zum Nationalsozialismus, der mit dem 1938 auch in Öster- reich offiziell „salonfähig“ wurde, weniger durch Opportunismus als durch ein gewisses Kokettieren und durchaus wohlwollende Sympathie geprägt war. Der Nationalsozialis- mus schien der bürgerlichen Welt eine Hoffnung auf Ordnung in dieser, von politischer Instabilität gekennzeichneten Zeit zu geben. Trotz des gesellschaftlichen Abstiegs sah sich Blanca wohl noch als Teil dieser „weitgehend zerbröselten“92 Klasse. Die Heirat mit Herbert Franz Domes (*1897, †1964) am 10. 5. 1940 gab dem Leben meiner Großmutter schließlich auch wieder eine familiäre Ordnung, vor allem auch da bereits am 17. 7. desselben Jahres ihre erste Tochter, Ingrid, zur Welt kam. Die auffal- lend kurze zeitliche Differenz zwischen der Geburt und der Hochzeit spricht für eine Zweckehe. Sowohl für Herbert Franz Domes, der als höherer Beamter bei der Austria Tabak angestellt war und 1942 zum Oberregierungsrat befördert wurde 93, als auch für die bürgerlich-konservativ erzogene Blanca hätte ein uneheliches Kind nicht in das Fa-

90 Telegramm vom 2. 7. 1937 an Blanca Riehl (Privatbesitz Fam. Domes). 91 Criminal bombardeo de la aviación roja sobre Sevilla, in: El Avisador numantino, Nr. 5468, 3. 7. 1937, 2. 92 Plumpe, Bürgertum, 10. 93 Urkunde zur Ernennung von Herbert Franz Domes zum Oberregierungsrat vom 21. 12. 1942 (Privatbesitz Fam. Domes). 40 milienbild gepasst. Bis zum Ende des Krieges wurden zwei weitere Kinder geboren, das vierte Kind, meine Mutter, kam kurz danach, im Juli 1945, zur Welt. Wie auch ihre Mutter, hatte sich Blanca alleine um den Haushalt und die Kinder zu kümmern, wäh- rend ihr Mann für den Lebensunterhalt der Familie sorgte. Durch die lange Abwesen- heit ihres Mannes, der ab 1942 im Generalgouvernement Polen tätig war, war Blanca größtenteils auf sich alleine gestellt. Das klassisch bürgerliche Familienideal, welches eine Aufteilung in eine dem Mann vorbehaltene Arbeitssphäre und eine Familiensphä- re, die der Frau zugewiesen ist, vorsah, hat meine Großmutter wohl nie hinterfragt. Das Festhalten am bürgerlichen Wertehimmel, der in Wahrheit oft mehr Mythos als Realität war und sich durch Selbstinszenierung kennzeichnete, die den Zweck hatte, dass zumindest die Außenwelt den Schein der repräsentierten gesellschaftlichen Klas- se wahrnahm, prägte ihr Denken und blieb ihr, zumindest in Fragmenten, viele Jahre erhalten. Dies auch, obwohl das Bürgertum den Rang der herrschenden Klasse mit dem Ende der Monarchie längst verloren hatte. Das aus dem 19. Jahrhundert stammende bürgerliche Familienideal, welches, wie er- wähnt, in der Realität wohl nie so existiert hatte, war dennoch in den Köpfen der Men- schen inhärent, entsprungen aus den zahlreichen Bildern, Gedichten oder Romanen jener Zeit94, die durch diese erzeugten Vorstellungen eines harmonischen Familienle- bens das kollektive Gedächtnis der bürgerlichen Gesellschaft prägten. Dass auch mei- ne Großmutter seit ihrer Kindheit von dieser Illusion begleitet wurde, habe ich im Lau- fe dieser Arbeit versucht darzustellen. Es waren die Erzählungen über ihre Vorfahren, die Bilder der idyllischen Gesellschaft in Spanien, die ihr vorgelebte Rollenverteilung, die sie selbst mit auffallender Analogie übernahm. Viele Jahre später waren es etwa die erwähnten Angélique-Romane die den Mythos, die bürgerlichen Ideale und Vorstellungen, zumindest auf kleiner Flamme, am Leben erhielten. Die Zeit des Natio- nalsozialismus bot ihr, nicht zuletzt auch aufgrund der Heirat mit einem Mann, der ihr diesen Lebensstil finanzieren konnte, den Rahmen für das Ausleben des bürgerlichen Familienideals. Das Foto (siehe Abbildung 3) zeigt Blanca mit ihrer Tochter Ingrid in Wien auf der Ma- riahilfer Straße, Anfang der 1940er Jahre. Bei aller Vorsicht, die es bei der Interpreta- tion einer solchen Quelle zu betonen gilt, erscheint einem das Bild einer durchaus selbstbewussten Frau. Man flaniert nicht, man schreitet zielstrebig und entschlossenen Schrittes, ganz dem Geist der Zeit entsprechend, die bekannte Wiener Einkaufmeile entlang. Auf dem Kopf ein Hut, schräg sitzend mit breiter Krempe, so wie sie ihn viel-

94 Bärbel Kuhn, Die Familie in Norm, Ideal und Wirklichkeit. Der Wandel von Geschlechterrollen und Geschlechterbeziehungen im Spiegel von Leben, Werk und Rezeption Wilhelm Heinrich Riehls, in: Werner Plumpe, Jörg Lesczenski (Hg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mainz 2009, 71-79, hier: 71. 41 leicht auch im heißen Süden Andalusiens tragen würde. Das Selbstbewusstsein, das aus diesem Bild spricht, hätte man noch ein paar Jahre früher wohl nicht erwartet.

Abbildung 3: Blanca Domes mit Tochter Ingrid, Wien ca. 1943.

Quelle: In Privatbesitz der Fam. Domes.

Die Familie profitierte vom Nationalsozialismus und so arrangierte man sich gerne mit dem Regime. Herbert Franz Domes, der Mitglied der NSDAP war, wenn auch nicht von tiefer ideologischer Überzeugung getrieben, was das Datum der Beantragung auf Mit- gliedschaft mit 16. 11. 1943 nahelegt, machte Karriere und Blanca konnte die Zeit der Armut, die vor allem auch eine Zeit der Erniedrigung war, hinter sich lassen. Über Poli- tik und das was sich außerhalb ihres Mikrokosmos abspielte, machte sie sich keine großen Gedanken, geredet wurde darüber schon gar nicht.95 Selbst in meiner Erinne- rung war diese Zeit nie ein Thema, über das gesprochen wurde, dabei war meine Großmutter ein höchst redseliger Mensch. Um sich ihre heile Welt nicht zu zerstören, wurde Unangenehmes ignoriert, man wollte nicht wahrhaben, was nicht wahr sein durfte. „Sie war ein Kaiser im Verdrängen von Dingen die ihr unangenehm waren“, be- merkte ihre Tochter Ingrid. Das Festhalten an bürgerlichen Werten, die Rudimente ei- ner nicht mehr existenten bürgerlichen Gesellschaft, die im Laufe des 20. Jahrhun- derts in einem weltumspannenden, sämtliche Klassen umfassenden Kleinbürgertum aufgegangen war96, löste sich bei meiner Großmutter erst allmählich mit dem Tod ihres Mannes im Jahr 1964. Dieser Zeitpunkt markierte den Beginn eines sukzessiven Wan-

95 Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Interview mit Ingrid Hauptmann, 4-5. 96 Heinz Bude, Bürgertumsgenerationen in der Bundesrepublik, in: Manfred Hettling, Bernd Ulrich (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, 111-132, hier 111. 42 dels in ihrem Denken, weg von jener konservativ-bürgerlichen Ideologie. So war zu der Zeit, als ich sie kannte, nicht mehr viel von einem bürgerlich idealisierten Weltbild übrig. Am Ende wählte sie sogar die Sozialisten. 43

7 Quellen

• Adolph Lehmann (Hg.), Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Handels- und Gewerbe-Adressbuch für die k.k. Reichs-haupt- und Residenzstadt Wien und Umgebung, Wien 1865-1874. • Bertha Riehl, Tagebuch (Privatbesitz Fam. Domes). • Blanca Domes, Familienchronik (Privatbesitz Fam. Domes). • Blanca Domes, Niederschrift der Kindheitserinnerungen (Privatbesitz Fam. Domes). • Die Waffenstillstands-Verhandlungen, in: Vossische Zeitung, Nr. 574, 9. 11. 1918, 1. • Criminal bombardeo de la aviación roja sobre Sevilla, in: El Avisador numantino, Nr. 5468, 3. 7. 1937, 2. • Telegramm vom 2. 7. 1937 an Blanca Riehl (Privatbesitz Fam. Domes). • Urkunde zur Ernennung von Herbert Franz Domes zum Oberregierungsrat vom 21. 12. 1942 (Privatbesitz Fam. Domes). • WStLA, Landesgericht für Strafsachen Wien, A11 - Vr-Strafakten: 81/1937, 34.

Interviews: • Interview mit Ingrid Hauptmann, 29. Jänner 2013, Wien, Audiodatei und Transkription in Besitz von Nikolaus Domes.

8 Abbildungen

• Abbildung 1: Wilhelm Rödiger (zweiter v. li.) in seinem Auto, um 1905. Quelle: In Privatbesitz der Fam. Domes. • Abbildung 2: Spanien, März 1937. Quelle: Walther L. Bernecker, Krieg in Spanien 1936-1939 (Darmstadt 1997), 31. • Abbildung 3: Blanca Domes mit Tochter Ingrid, Wien ca. 1943. Quelle: In Privatbesitz der Fam. Domes. 44 45

Peter Liszt

Heimatlos im Heimatland: eine Burgenländische Familiengeschichte

Rekonstruktion der Kriegserlebnisse meines Großvaters – Stefan Liszt 46

Inhalt

1 Einleitung 47 2 „Krieg und Frieden“ – die Jugend Stefan Liszts 48 3 „Ohne Szombathely können wir nicht Leben!“ 52 – Westungarn wird 4 „Der ungarische Edelmann“ – Ein Neubeginn in Albertirsa 55 5 „Mein Heimatvolk, mein Heimatland“ 57 – Der Anschluss Österreichs und seine Folgen 6 „Ich bin Soldat“ – Kriegseinsatz im besetzten Norwegen 60 7 „Es steht ein Soldat“ – Kriegstagebuch 63 8 „Nie wieder Krieg!“ – Kriegsgefangenschaft 65 9 „Ruinen dieser Stadt“ – Heimkehr 66 10 Nachwort 68 11 Quellen 70 12 Abbildungen 70 47

1 Einleitung

Am 23. 1. 2001 starb mein Großvater väterlicher Seite, Stefan Liszt in Unterwart im Burgenland, ich war zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt. Ich besitze nur wenige Erin- nerungen an ihn, die hauptsächlich von seiner Krankheit gezeichnet sind. Ich erinnere mich an kein Gespräch und keine Zärtlichkeiten wie Umarmungen oder ähnliche Ges- ten. Das einzige Anzeichen einer Beziehung zwischen meinem Großvater und mir fand ich auf einem Foto. Die Aufnahme zeigt ihn als alten Mann wie er mich als Baby stolz auf seinem Schoss hält. Es muss kurz bevor er, als Pflegefall ans Bett gefesselt wurde, aufgenommen worden sein. Seit dem Jahr 1993 verschlimmerte sich seine Parkinson- und Demenzerkrankung rapide und bald darauf konnte er sich nicht mehr selbst er- nähren und war des Sprechens nicht mehr mächtig. Obwohl meinen Großvater zwölf Jahre lang zwar körperlich wahrgenommen habe, entsinne ich mich nicht, seine Stim- me jemals gehört zu haben. Mit dem Tod meines Großvaters einhergehend zeigten sich bei meiner Großmutter ebenfalls erste Anzeichen einer Demenzerkrankung. Zum heutigen Tag ist die Krank- heit so weit vorangeschritten, dass sie sich nur selten an mich erinnern kann. In mei- nen Erinnerungen war sie die liebende Frau, die ihren Mann jahrelang fürsorglich ge- pflegt hat, mit mir „Mensch ärgere Dich nicht“ gespielt hat und den besten Apfelku- chen der Welt gebacken hat. Dennoch war die Beziehung zu meinen Großeltern väter- licherseits seit je her kühler als zu den Großeltern der mütterlichen Seite. Dies ist nicht nur durch die geographische Nähe, meine Großeltern mütterlicherseits wohnen in einer Nebenstraße meines Elternhauses, sondern auch durch den Altersunterschied bedingt. Meine Großeltern mütterlicher Seite sind beide in den späten 1930er Jahren geboren, meine Großmutter väterlicherseits 1929 und mein Großvater 1909. Aus diesem Grund rekonstruiere ich in der folgenden Arbeit die Erlebnisse meines Großvaters auf der vä- terlichen Seite, Stefan Liszt. Ich betrachte seine Lebensgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeit des Nationalsozialismus, wie der Historiker Dr. Mag. Adi Lang passend über die Beteiligten den folgenden Satz schrieb: „Die NS-Zeit begann mit dem „Umbruch“ und endete mit dem Zusammenbruch. Dazwischen lag ein Meer an Drangsal, Verfolgung, Willkür und Leid. Was hoff- nungsvoll begonnen hatte, endete in einer Katastrophe, und wer sich am Beginn als stolzer Mitgestalter fühlen durfte, wünschte am Ende, nur Betroffener zu sein.“97

Wie mein Großvater in diesen historischen Prozess involviert war, werde ich auf den folgenden Seiten aufzeigen. Um eine möglichst realitätsnahe Rekonstruktion zu er-

97 Adi Lang, NS-Regime, Kriegsende und russische Besatzungszeit im Südburgenland, Oberwart 2011, 40. 48 möglichen, sind Quellen in den diversen Formen nötig. Im Nachlass meines Großvaters finden sich nur wenige schriftliche Dokumente. Vieles wurde offensichtlich nie auf- geschrieben oder durch ihn selbst aus Angst vor den „Russen“98 während seiner Alz- heimer-Erkrankung in den 1990er Jahren zerstört. Ein von ihm geschriebener Gedicht- und Erzählband aus seiner Wehrmachtszeit in Norwegen blieb jedoch verschont. Die- ses Dokument ermöglicht erst eine Rekonstruktion seiner Kriegserlebnisse und ist für meine Arbeit von unschätzbarem Wert. Auffallend in dem erwähnten Band ist die Wahl der Sprache, größtenteils ist das Buch in Ungarisch verfasst, nur selten verwendet er Deutsch. Eine genauere Betrachtung der Sprachwahl findet sich in einem späteren Teil dieser Arbeit. Dies führt mich jedoch zu einer der wichtigsten Fragen, die ich mir bei der Betrachtung seiner Biografie gestellt habe: Identifiziert sich mein Großvater mehr mit Ungarn oder mit Österreich? Nach der biografischen Rekonstruktion der Gescheh- nisse rund um das Leben meines Großvaters werde ich mich dieser Frage widmen. Aus den Zeitzeugeninterviews mit meinem Vater und meiner Tante ging hervor, dass mein Großvater ihnen ständig seine Geschichte erzählte und somit in den Erinnerun- gen seiner Kinder unzählige Anekdoten hinterlassen hat. Ein großes Problem bei den Nachforschungen stellte jedoch der ungarische Sprachgebrauch dar, denn leider bin ich der Muttersprache meines Vaters und Großvaters nicht mächtig. Deshalb danke ich an dieser Stelle meinem Vater, Franz Liszt, für seinen unermüdlichen Einsatz, sein Zeitzeugeninterview und seine Übersetzungen. Ohne ihn wären Teile dieser Arbeit nicht möglich gewesen. Genauso wichtig ist es mir hier meiner Mutter zu danken für ihre Unterstützung und ihrem Zuspruch. Danke! Meiner Tante Klara Steinberger sowie Béla Németh danke ich ebenfalls für die Zeitzeu- gengespräche. Zu Dank verpflichtet bin ich auch dem ungarischen Historiker Oberst- leutnant Péter Jagadics für seine genealogischen Forschungen über meine Familie. Diese Arbeit ist meinen Eltern gewidmet, die mir dieses Studium ermöglichen.

2 „Krieg und Frieden“99 – die Jugend Stefan Liszts

Mein Großvater, Stefan Liszt, wurde am 1. 8. 1909 als Sohn der Landwirte Josef und Maria Liszt, geborene Györög, in Unterwart im Burgenland geboren. Er war das zweite Kind des Ehepaares und mit seinen vier Schwestern lebte er gemeinsam am Hof der Familie. Beide Familien, Liszt und Györög, lebten zu diesem Zeitpunkt bereits seit Jahrzehnten in der damals westungarischen Ortschaft. In der sogenannten Oberen Wart, eine historische Bezeichnung für den Raum rund um die Stadt Oberwart, gibt es

98 Gemeint sind die sowjetischen Soldaten, die oft fälschlicherweise, auch von meinem Großvater, nur als Russen bezeichnet wurden. 99 Tolstoi, Krieg. 49 vier ehemalige ungarische Grenzwächtersiedlungen. Diese sind Oberwart, Siget in der Wart, Jabing und Unterwart. Zu ersten Ansiedlungen magyarischer Bevölkerung in die- sem Gebiet kam es mit der Landnahme100 Ungarns, welche von mehreren magyari- schen Stämmen durchgeführt wurde. Kurz danach, durch den Tod des Fürsten Kurszán Gyula begünstigt, strebte Árpád Kende die Alleinherrschaft über die ungarischen Stämme an. Dies führte zu Veränderungen der Organisation der Stämme, die nun ihr eigenes Interesse über das Gemeinschaftswohl stellten. Streifzüge wurden nun von den einzelnen Stämmen unternommen und nicht mehr in großer Gemeinschaft. Die damit verbundene Niederlage 955 bei der Schlacht auf dem Lechfeld stellt nach der gängigen Historiografie eine Zäsur in der ungarischen Geschichte dar. Die in der deutschsprachigen Geschichte als Ungarneinfälle bekannten Raubzüge der ungarischen Stämme waren gestoppt. Durch die geographische Lage Ungarns sah man sich von al- len Seiten mit natürlichen Grenzen umgeben, nur im westlichen Gebiet, dem heutigen Burgenland, nicht. Dies führt zur Etablierung des Gyepű101, ein Grenzschutzsystem der Ungarn im Mittelalter, welches mit hintereinandergeschalteten Grenzschutzlinien in Form von Erdburgen und Grenzwächtersiedlungen, Ungarn zu verteidigen versuchte. In dieser Zeit wurde auch in Unterwart eine Grenzwächtersiedlung geschaffen. Das System hielt bis in das 13. Jahrhundert und wurde von befestigten Steinburgen abge- löst.102 Die vormaligen Grenzwächtersiedlungen konnten sich jedoch über Jahrhunderte halten und deren Bewohner und Bewohnerinnen genossen bis 1848 königliche Privilegien. Spuren aus dieser Zeit finden sich etwa in den Wappen der Gemeinden Oberwart und Unterwart, welche bis heute Grenzwächter darstellen. Ein weiteres Zeugnis der Grenzwächtersiedlungen ist der ungarische Sprachgebrauch. Westungarn, im Speziellen die Gebiete des heutigen Burgenlands, war Ende des 19. Jahrhunderts größtenteils deutschsprachig besiedelt, abgesehen davon wiesen unter anderem die vier genannten Siedlungen, die mehrheitlich ungarisch sprechende Bevölkerung auf. Bis in die Gegenwart benutzt die Mehrheit der Bevölkerung Unterwarts Ungarisch als Umgangssprache. Bei der Volkszählung 2001103 gaben in Unterwart 54,0 % Ungarisch und 37,7 % Deutsch als Umgangssprache an.104 Bis heute finden die meisten Veranstaltungen in Unterwart in ungarischer Sprache statt, unter anderem Gottesdienste, Theaterstücke und Präsentationen.

100 Die Landnahme (ung. Honfoglalás): Nach der Auflösung der finnisch-ugrischen Gemeinschaft vor ca. 4.000 Jahren zog der ungarische Teil aus seinem Siedlungsgebiet in Westsibirien aus. Es folgten Jahrzehnte der Wanderung, die ihr Ende in der Landnahme fand. Mit dem Begriff wird die Phase bezeichnet, in der die Magyaren sich im heutigen Ungarn niedergelassen haben. 101 Das Wort Gyepű stammt vom türkischen Wort yapı, welches für das deutsche Wort Palisade steht. 102 Christoph Augustynowicz, Geschichte Ostmitteleuropas. Ein Abriss, Wien 2010, 35f. Ladislaus Triber (Hg.), Die Obere Wart. Festschrift zum Gedenken an die Wiedererrichtung der Oberen Wart im Jahre 1327, Oberwart 1977, 101f. Karl Seper, Unterwarter Heimatbuch. Geschichte, Kultur und Wirtschaft einer südburgenländischen Gemeinde, Unterwart 1976, 14f. 103 Ein Blick auf die Gemeinde. 10925 Unterwart, Bundesanstalt Statistik Österreich, URL: http://www.statistik.at/blickgem/gemDetail.do?gemnr=10925 (abgerufen am 19. 2. 2013). 104 Seper, Unterwarter Heimatbuch, 14f. 50

Erste Spuren direkter Vorfahren der Familie Stefan Liszt, meiner Familie, in Unterwart finden sich in den Unterwarter Kirchenmatrikeln im Jahr 1814 mit der Geburt Michael Lists, der Urgroßvater Stefan Liszts. Die meisten Vorfahren Stefans Liszts waren in der Landwirtschaft tätig, so wie auch sein Vater und seine Mutter. Auffallend bei der genealogischen Betrachtung der Familie Liszt ist, dass Michael List sich anfänglich ohne „z“ schrieb, der zusätzliche Buchstabe im Namen Liszt kam erst durch die Magyarisierungspolitik-Bestrebungen der ungarischen Regierung dazu. Nach- dem im Jahr 1780 nur 29 Prozent der Bevölkerung Ungarns sich als Ungarn verstan- den, versuchte die ungarische Führung diesen Anteil durch politische Maßnahmen zu erhöhen – dies gelang: im Jahr 1910 sahen sich bereits 54 Prozent der Bevölkerung als Ungarn. Die Magyarisierung im engeren Sinne, ohne natürliche Assimilation, be- gann etwa 1790, erste Gesetze folgten 1791 und 1792. Die Maßnahmen wurden bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges fortgeführt, mit kurzer Ausnahme während der ungarischen Revolution von 1848/1849.105 Die nicht ungarische Bevölkerung sollte die ungarische Sprache und Nationalität annehmen. Sogar, Dezső Bánffy, ungarischer Mi- nisterpräsident von 1895 bis 1899, schrieb dies in seinem Regierungsprogramm: „Der Nationalstaat sollte unter anderem durch Magyarisierung von Ortsnamen, Familiennamen und durch intensiven Sprachunterricht verwirklicht werden.“106

Michael List veränderte seinen Namen auf Liszt ca. 1850, die Aussprache blieb gleich, da „sz“ im ungarischen wie „s“ ausgesprochen wird. Im Fall der Familie Liszt waren es wahrscheinlich nicht nur die Bestrebungen der ungarischen Regierung und ihrer Magyarisierungs-Politik, die ausschlaggebend für die Namensänderung waren, sondern auch die bereits vorhandene Identifikation mit Ungarn. Nachdem die Familie Liszt auch namentlich assimiliert war, änderte sich nicht viel für meine Vorfahren, denn auch in den folgenden Jahren war die Familie stets in der Landwirtschaft tätig. Kurz vor dem fünften Geburtstag Stefan Liszts erschütterte ein Ereignis Ungarn und die Welt, wel- ches auch Auswirkungen auf sein Leben haben sollte. Am 28. 6. 1914 werden der Thronfolger Österreichs-Ungarns Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este und seine Gemahlin Sophie Chotek von Chotkowa bei einem Besuch in Sarajevo ermordet. Die Auswirkungen dieses Attentates waren wohl nur Wenigen bewusst und am 28. 7. 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Stefan Liszts Vater, Josef Liszt wurde bald darauf zur kaiserlich-königlichen Armee einberufen. Mein Großvater blieb mit seinen Schwestern und der Mutter am heimatlichen Hof. In den folgenden Jahren kämpfte Josef Liszt (siehe Abbildung 1), mein Urgroßvater, an der russischen Front.

105 Augustynowicz, Geschichte Ostmitteleuropas, 54f. Peter Münzenrieder, Ein langer Weg. Der Anschluss des Burgenlandes an Österreich, Dipl. Arb., Wien 2001, 8f. 106 Ákos Moravánszky, Die Architektur der Jahrhundertwende in Ungarn und ihre Beziehungen zu der Wiener Architektur der Zeit, Wien 1983, 48. 51

Das Erlebte verändert meinen Urgroßvater, er wird von meinem Vater, Franz Liszt, und von meiner Tante, Klara Steinberger, als herrschsüchtiger und brutaler Mann beschrie- ben.107 Josef Liszt geriet am 23. 9. 1916 in russische Kriegsgefangenschaft, nach seiner Freilassung kehrte er nach Unterwart zurück.108 Aus Unterwart fielen im Ersten Weltkrieg insgesamt 46 Männer, wovon sieben vermisst werden. Des Weiteren brach im Jahr 1918 in Unterwart eine Grippeepidemie aus, der weitere 76 Personen zum Opfer fielen.109

Abbildung 1: Josef Liszt, mein Urgroßvater, in Uniform. Die Aufnahme entstand ca. zwischen 1914-1918.

Quelle: Foto in Besitz des Autors bzw. der Familienmitglieder.

Als der Krieg vorbei war, hielten die Wirren weiterhin an. Um den Krieg offiziell been- den zu können, sollten die Pariser Vorortsverträge unterzeichnet werden. Für die ös- terreichische Reichshälfte war es der Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye, für die Ungarische der Friedensvertrag von Trianon. Bevor jedoch die ungarische Delegati- on unter Protest den Vertrag unterzeichnen konnte, überschlugen sich die Ereignisse in der ungarischen Reichshälfte.110

107 Interview mit Franz Liszt und Klara Steinberger, geführt am 23. 2. 2013, Bänder beim Autor. 108 Entlassungsdokument aus der Kriegsgefangenschaft, im Familienbesitz des Autors. 109 Seper, Unterwarter Heimatbuch, 57. 110 Augustynowicz, Geschichte Ostmitteleuropas, 74f. Johann Temmel, „Ohne Szombathely können wir nicht Leben!“. Der Anschluss des Burgenlandes an Österreich mit besonderer Berücksichtigung der Grenzziehung im unteren Pinkeln, Dipl. Arb., Wien 1993, 17f. 52

In der Nacht vom 31. 10. 1918, durch die Asternrevolution111 (ung. Őszirózsás forra- dalom) hervorgerufen, kam es zur Ernennung Mihály Károlyis zum Ministerpräsident Ungarns, der am 16. 11. 1918 die Republik Ungarn ausrief. Dieser demokratische Gehversuch Ungarns wurde jedoch nach kurzer Zeit, am 21. 3. 1919, von einer Räte- republik abgelöst. Der Kommunist Béla Kun leitete die Geschäfte der Ungarischen Rä- terepublik (ung. Magyarországi Tanácsköztársaság); Verstaatlichungen und der soge- nannte „Rote Terror“ standen an der Tagesordnung. Der deutschsprachigen Bevölke- rung in Westungarn wollte man jedoch Gleichberechtigung und Selbstverwaltung zu- gestehen.112 Am 1. 8. 1919 wurde die ungarische Räterepublik von einer sozialistischen Koalitions- regierung abgelöst, diese bestand nur für einige Tage und wurde von einem konserva- tiven Regime unter Stephan Friedrich ersetzt. Nachdem die sozialistische Koalitionsre- gierung und auch das Regime Stephan Friedrich zu Ende gingen, etablierte Miklos Hor- thy 1919 ein autoritäres Regierungssystem und den „Weißen Terror“, dessen Auswir- kungen den „Roten“ bei weitem übertrafen. Im Rahmen des „Weißen Terrors“ wurden nicht nur Anhänger und Anhängerinnen Béla Kuns verfolgt, sondern auch Sozialdemo- kraten und Sozialdemokratinnen sowie Bürger und Bürgerinnen, die sich für eine An- gliederung Westungarns an Österreich ausgesprochen hatten. In Miklos Horthys Amts- zeit am 4. 6. 1920, unterschrieb die ungarische Delegation schließlich unter Wider- spruch den Vertrag von Trianon, der bis heute von großen Teilen der ungarischen Be- völkerung als unrecht angesehen wird. Das Schicksal der Gebiete des heutigen Bur- genlandes wurde somit besiegelt.113 Drei Tage bevor der Krieg formal mit dem Vertrag von Trianon beendet wurde, am 1. 6. 1920, wurde Stefan Liszt in der Gemeindekirche in Unterwart gefirmt. In den Jahren davor besuchte mein Großvater die Volksschule in Unterwart, nach sechs Jahren verließ er die Schule.

3 „Ohne Szombathely können wir nicht Leben!“114 – Westungarn wird Burgenland

Vertraglich durch die Pariser Vorortsverträge von Saint-Germain-en-Laye und Trianon gesichert, wurden die Gebiete des heutigen Burgenlands Teil der neuen Republik Ös- terreich. Die Siegesmächte bejahten den Anspruch Österreichs auf Deutsch-Westun-

111 Da sich die Soldaten anstelle des Emblems der k.u.k.-Armee Astern an ihre Mützen hefteten, wurde diese zum Symbol und namengebend für die Revolution. Träger der Revolution waren Soldaten sowie Bürgerinnen und Bürger, die durch Demonstrationen, Streiks und Unruhen im Zeitraum vom 28. bis 31. 10. 1918 hervorgerufen wurden. 112 Edgar Hösch, Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 2008, 235. Augustynowicz, Geschichte Ostmitteleuropas, 77f. Temmel, Ohne Szombathely, 15. 113 Augustynowicz, Geschichte Ostmitteleuropas, 77f. Temmel, Ohne Szombathely, 15f. 114 Denkschrift, Burgenländisches Landesarchiv, Faszikel 29 1922/191. 53 garn. Zahlreiche Versuche von Befürwortern und Befürworterinnen sowie Gegnern und Gegnerinnen des Anschlusses an Österreich wurden in den Jahren 1918 bis 1921 unternommen, unter anderem in Form von Ausrufung von Staaten. Zu erwähnen sei an dieser Stelle das Lajtabánság, aufgrund seines geographischen Zentrums Oberwart und der damit verbundenen Nähe zu Unterwart. Verbände der österreichischen Gendarmerie versuchten im August 1921 nach langem Zögern das Burgenland zu be- setzen. Die regulären ungarischen Truppen der Königlich-Ungarischen Armee (ung. Magyar Királyi Honvédség), die nach wie vor im Burgenland stationiert waren, sowie Freischärler Verbände vereitelten dies. Daraufhin stellte die Triple Entente Ungarn ein Ultimatum bis zum 3. 10. ihre Truppen abzuziehen; die Führung Ungarns zog darauf- hin alle regulären Truppen ab. Die Freischärler bleiben und riefen mit dem „Mut der Verzweiflung“115 einen neuen „Staat“ aus, das Lajtabánság (dt. Leitha-Banat). „Staats- oberhaupt“ wurde Pál Prónay, er stand einem sechsköpfigen Staatsrat vor.116 Die Ober- warther [sic!] Sonntags-Zeitung schrieb über die Bedeutung dieses historischen Ereig- nisses angeblich Folgendes: „Oberwarth steht im Mittelpunkt der Ereignisse. Erst vor kurzer Zeit war es der Schauplatz mächtiger Demonstrationen gegen den Anschluss an Österreich und gegenwärtig spielen sich Ereignisse welthistorischer Bedeutung ab. Am 4. Okto- ber 1921 um 12 Uhr Mittag wurde in Oberwarth die Selbstständigkeit Westun- garns proklamiert.“117

Betrachtet man die Definition eines Staates von Max Weber, ist es in Frage zu stellen ob es sich hier wirklich um einen Staat handelte. „Der Staat ist, ebenso wie die ihm geschichtlich vorausgehenden politischen Verbände, ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen. Damit er bestehe, müssen sich also die beherrschten Menschen der bean- spruchten Autorität der jeweils herrschenden fügen. Wann und warum sie das tun, läßt sich nur verstehen, wenn man die inneren Rechtfertigungsgründe und die äußeren Mittel kennt, auf welche sich eine Herrschaft stützt.“118

Nach zwei Monaten, unter anderem aufgrund des Venediger Protokolls vom 13. 10. 1921, in dem endgültig fixiert wurde, dass Österreich das Burgenland erhalten soll, verschwand der Staatsratsvorsitzende Pal Prónay mit den Resten des Lajtabánság in Richtung Budapest. Ungarn, das seit jeher diesen Staat abgelehnt hatte, drohte mit dem Einmarsch regulärer Truppen. Dies führte zur Aufgabe Pal Prónays, ab diesem Zeitpunkt wehten in Oberwart und Unterwart rot-weiß-rote Fahnen.119

115 Seper, Unterwarter Heimatbuch, 58. 116 Gerald Schlag, „Aus Trümmern geboren ...“, Wissenschaftliche Arbeit aus dem Burgenland (WAB) Band 106, Eisenstadt 2001, 432. Erich Körner-Lakatos, Ada Kaleh, Tannu-Tuwa, Acre. Fünfzig Historische Nischen, Münster 2010, 166f. 117 Proklamierung der Selbständigkeit Westungarns, Oberwarther Sonntags-Zeitung, 9. 10. 1921, 1. 118 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980, 822. 119 Triber (Hg.), Die Obere Wart, 268f. 54

Stefan Liszt, der gerade 12 Jahre alt wurde, lebte weiterhin am elterlichen Hof. Wie sehr die historischen Ereignisse sein Leben veränderten bzw. beeinflussten ist unge- wiss. Nachdem er als ungarischer Reichsbürger im Habsburgerreich geboren wurde, die Gehversuche der ersten Demokratie Ungarns erlebte, in der zweiten Räterepublik der Welt aufwuchs, im erneuten Königreich Ungarns weiterlebte, um kurze Zeit später Bürger des Lajtabánság zu werden, wurde er am 4. 12. 1921 zum Österreicher. Mit zwölf Jahren hatte er über sechs verschiedene „Systeme“ erlebt, jedoch sollte es nicht dabei bleiben. Das neue Bundesland in dem er jetzt lebte hatte noch keinen Namen und die Namensfindung erwies sich als äußerst schwierig. Nachdem der ursprüngliche Gedanke von einem „Hiezenland“ verworfen wurde, ging die Suche nach einem Namen für das neue Bundesland weiter. Anfang 1919 beanspruchte Österreich auch Teile des ehemaligen Komitates Pressburg, daraufhin tauchte im Juni desselben Jahres der Name „Vierburgenland“ auf. Vierburgenland, wegen der ehemaligen ungarischen Komi- tate, Moson, Sopron, Vas und Pozsony, auf Deutsch Wieselburg, Ödenburg, Eisenburg und Pressburg. Als im August 1919 jedoch klar wurde, dass Pressburg bei der neuen Tschechoslowakischen Republik bleibt, empfahl der Staatskanzler Dr. Karl Renner den Namen auf Dreiburgenland zu ändern. Am 6. 9. 1919 als eine deutsch-westungarische Delegation bei Karl Renner vorsprach, weckte angeblich ein Zwischenruf, des gebürti- gen Frauenkirchners Gregor Meidlinger mit dem Inhalt „Burgenland“ das Interesse des Kanzlers.120 Karl Renner soll daraufhin gesagt haben: „Also sagen wir Burgenland“.121 Im September 1919 erschien ein Dokument mit dem Titel „Verzeichnis der Gemeinden des Burgenlandes“ und in dem am 8. 10. 1919 verfassten Schreiben der österreichi- schen Bundesregierung an den Heiligen Stuhl in Rom wird ebenfalls der Begriff „Bur- genland“ verwendet. Wer der Urheber oder die Urheberin des Landesnamens wirklich ist, konnte nie geklärt werden.122 Das jüngste Bundesland Österreichs stand allerdings vor wirtschaftlich katastrophalen Bedingungen und als in den Jahren 1928 bis 1930 die Weltwirtschaftskrise eintrat, verschlechterte sich die Lage ins Unermessliche. Aufgrund der ärmlichen Verhältnisse am Land suchten viele Menschen nach Auswegen und entschieden sich dafür, die länd- liche Region des Burgenlandes zu verlassen. Viele Burgenländer und Burgenländerin- nen sahen in der Auswanderung den einzigen Ausweg; allein in den Jahren 1922 bis 1924 wanderten 13.552 Personen nach Übersee aus, mindestens genauso viele ver- suchten in den umliegenden Bundesländern und Ländern einen Neuanfang, so auch mein Großvater.123

120 Schlag, Aus Trümmern geboren, 165. Münzenrieder, Ein langer Weg, 42. 121 Münzenrieder, Ein langer Weg, 42. 122 Schlag, Aus Trümmern geboren, 165. 123 Roland Widder (Hg.), Burgenland: vom Grenzland im Osten zum Tor in den Westen, Wien 2000, 529f. 55

4 „Der ungarische Edelmann“124 - Ein Neubeginn in Albertirsa

Eine Auswanderung nach Chicago, wo bereits mehrere Freunde meines Großvater leb- ten und arbeiteten, unter anderem auch Franz Heritz, lehnte mein Großvater ab. Sein Freund Franz Heritz schrieb ihm zahlreiche Briefe, in denen er meinem Großvater Ar- beit in Chicago versprach und ihn von einem Neuanfang in den Vereinigten Staaten überzeugen wollte. Eines Tages endete dieser Briefverkehr ohne absehbaren Grund und die Option nach Übersee auszuwandern verfiel. Die Erkenntnis folgte kurze Zeit später, sein Freund war umgebracht worden. Von der Weltwirtschaftskrise schwer getroffen folgte Stefan Liszt dann den vielverspre- chenden Anwerbungsversuchen aus Ungarn. Geworben wurde mit Sprüchen wie „Das Geld wächst hier auf den Bäumen“125. Mein Großvater machte sich ohne viel Besitz, je- doch mit seinem bereits monetär erhaltenen Teil des Erbes seiner Eltern nach Albertir- sa auf, um einen Neubeginn zu wagen. Albertirsa ist ein Dorf in der großen Ungari- schen Tiefebene, ca. 50 Kilometer südöstlich von Budapest. Gemeinsam mit ihm wag- ten auch einige Verwandte und Freunde im Jahr 1933 den Schritt in die „alte“ Heimat. Darunter Georg Haselbacher, Joszef Gyáky, István Németh, Mathilda Németh, sowie die Kinder der Familie Németh Béla und Pista. In Albertirsa angekommen pachtete mein Großvater mit seinen ganzen finanziellen Mitteln ein Grundstück von einem gewissen Herrn Kiss von ca. 500-600 Joch126 bzw. ca. 250 Hektar Fläche. Die Pacht, die er jährlich an den Besitzer, Herrn Kiss, abliefern musste, betrug 10 Prozent des Ertrages. Für die vormaligen kleinen und ärmlichen landwirtschaftlichen Verhältnisse, welche im Burgenland vorherrschten, war der unga- rische Hof riesig und forderte die Beschäftigung von mehreren Hilfsarbeiten. Betrach- tet man die Anzahl der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe im Bezirk Oberwart im Jahr 1939, ergibt sich folgendes prozentuales Bild: Zwerg- und Kleinbetriebe Mittelbetriebe Groß- und Gutsbetriebe (0,5 - 5,0 ha) (5,0 - 20,0 ha) (ab 20,0 ha) 51,0 % 46,7 % 2,3 % 127

Der Hof in Ungarn war mit seinen 250 Hektar, im Vergleich zu den landwirtschaftlichen Verhältnissen, die im Burgenland vorherrschten, von immenser Größe. Béla Nemeth schildert in einem Interview die Ausmaße: „Wohin du mit deinen Augen auch geblickt

124 Pertöfi, Edelmann. 125 Interview, Franz Liszt. 126 Joch ist ein traditionelles Flächenmaß, welches anhand der Fläche die ein Ochsengespann an einem Tag pflügen kann, bemessen wird. Von den regionalen Bodengegebenheiten abhängig unterscheidet sich der Wert, in Ungarn misst ein Joch ca. 43,16 Ar. und in Österreich ca. 57,55 Ar. 127 Lang, NS-Regime, 58. 56 hast, bis zum Horizont, gehörte alles ihm.“128 Gemeinsam mit seinen Angestellten bau- te er Weizen, Gerste, Roggen, Hafer und Mais an, im eigenen Backofen wurde daraus unter anderem Brot gebacken. In einer ein Kilometer langen Allee von der Ortschaft bis zu seinem Gutshof in der „Puszta“129, standen zahlreiche Apfel-, Birnen-, Zwetsch- ken- und Marillenbäume. Am Hof selbst wurden Pferde, Kühe, Hühner, Rebhühner, En- ten und Gänse gehalten. Einmal in der Woche wurden die erwirtschafteten Produkte nach Cegléd, von Albertirsá ca. 20 Kilometer entfernt, auf den Markt gebracht und verkauft. Stefan Liszt beschrieb die Straßenverhältnisse teilweise als so schlecht, dass er sich gezwungen sah, die Waren ohne Pferdewagen, am Rücken der Pferde zu trans- portieren. Von dem Verkauf der Waren leistete er sich ein wohlhabendes Leben. Fast täglich wurde am Gutshof gefeiert, neben Gebratenem, und allerlei fleischlicher Deli- katessen wurden Wein und Schnaps gereicht. Für musikalische Unterhaltung sorgte eine „Zigeunerband“ die regelmäßig am Gutshof vorbei kam und aufspielte. Aus einem Zeitzeugenbericht geht hervor, dass auch sehr viele ärmere Menschen diesen Festen beiwohnten und von Stefan Liszt geduldet wurden, solange sie sich „ordentlich“ be- nahmen.130 In seiner Zeit in Albertirsa wurde Stefan Liszt wohlhabend und Teil der dortigen Gesell- schaft, sodass ihn auch eine gewisse Gräfin Irsa zu ihren Bällen einlud. Daraus resul- tierte eine enge Beziehung zu der Tochter der Gräfin. Über die genaue Tiefe der Bezie- hung kann nur spekuliert werden. Eine Beziehung verband Stefan Liszt auch mit der Schneiderin der Ortschaft, Margit Molnar, auch hier kann über die Ausmaße der Bezie- hung nur spekuliert werden. Eine dritte Frau mit der er sich in Albertirsa verbunden fühlte, ist die Kindergärtnerin Erszébet Nagy, ihr widmete er zu einem späteren Zeit- punkt in seinem Leben sein „Kriegstagebuch“.131 In Albertirsa machte Stefan Liszt nicht nur Bekanntschaft mit Frauen, sondern auch mit dem ungarischen Antisemitismus. Nach dem Krieg erzählte er in Gesprächen mit meinem Vater, Franz Liszt, von dem ungarischen Ausruf: „Éljen a Szálasi132 és Hitler, üssék a zsidókat bikacséppel!“; auf Deutsch: „Es lebe Szálasi und Hitler, schlagt die Juden mit der Stierpeitsche!“. Dass er selbst antisemitische Ansichten hatte oder den Ausruf jemals selbst verwendet hat ist unwahrscheinlich. Gegenüber seinen Kindern äußerte er sich nie antisemitisch oder rassistisch.133 Eine mögliche Mitgliedschaft in den ungarischen Vorläuferparteien der „Pfeilkreuzlerpartei – Hungaristische Bewegung“ halte ich für unwahrscheinlich; es

128 Interview mit Béla Németh, geführt am 19. 1. 2013, Bänder beim Autor. 129 Puszta heißt sinngemäß etwa „Einöde“ und „Weideland“. 130 Interview, Németh. Interview, Liszt/Steinberger. 131 Interview, Liszt/Steinberger. 132 Ferenc Szálasi war ein ungarischer nationalsozialistischer Politiker und Gallionsfigur. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wird er zum Diktator Ungarns. 133 Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Absätze: Interview, Liszt/Steinberger. 57 gibt keine Anzeichen bzw. Nachweise für diese. In Ungarn kam es bereits 1920 zu ers- ten antisemitischen Gesetzen, diese wurden 1938 und 1939 verschärft. Einige ungari- sche Juden entschieden sich zu diesem Zeitpunkt bereits, das Land zu verlassen, ein- zelne Juden kamen auch zu Stefan Liszt. Sie baten ihn um Hilfe, als Gegenleistung versprachen sie ihm Gold, Schmuck und andere Wertsachen. Vermutlich aus Angst vor Sanktionen lehnte Stefan Liszt jede Hilfeleistung ab – bis auf eine Ausnahme. Kurz vor seiner Heimreise nach Unterwart 1941 bat ihn ein Jude aus Albertirsa um Hilfe. Er ver- steckte den ungarischen Juden auf seinem Leiterwagen, der voll mit Heu beladen war, und brachte ihn aus der Ortschaft, kurz danach musste er ihn aber seinem Schicksal überlassen. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte er die Möglichkeit, die ungarische Staats- bürgerschaft anzunehmen, tat dies aber nicht. Aufgrund der Einberufung musste Ste- fan Liszt in das Deutsche Reich, nach Unterwart zurückkehren. Ob zu dem Zeitpunkt seiner Rückkehr noch die Möglichkeit bestand, die ungarische Staatsbürgerschaft an- zunehmen und somit der Einberufung zur deutschen zu entgehen, konnte ich nicht eruieren. Er versuchte sein Hab und Gut, neue Wirtschaftsgebäude und La- gerbestände in Ungarn zu verkaufen, was die Behörden jedoch verweigerten. Für sei- ne Heimreise durfte er sich nur drei Pferde behalten, mit diesen kehrte er in einer Dreitagesreise über Rechnitz nach Unterwart zurück.

5 „Mein Heimatvolk, mein Heimatland“134 – Der Anschluss Österreichs und seine Folgen

Am 12. 3. 1938 marschierten deutsche -, SS- und Polizeieinheiten in Ös- terreich ein. Eine De-facto-Annexion folgte am nächsten Tag mit der Gesetzesverab- schiedung „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“, die Diktatur des Austrofaschismus bzw. des Ständestaates wurde von der der Natio- nalsozialisten abgelöst. Der Staat Österreich hörte damit offiziell zu existieren auf. Am 15. 10. 1938 folgte weiters die Auflösung des Burgenlandes, das in Folge auf die Reichsgaue Niederdonau und Steiermark aufgeteilt wurde. Das Südburgenland, in dem auch Unterwart liegt, wurde in den Steiermark eingegliedert. Nach dem „An- schluss“ übernahm Tobias Portschy den Posten des Landeshauptmannes des Burgen- landes bis zur Auflösung dessen, danach wurde er stellvertretender der Stei- ermark.135

134 Görlich, Mein Heimatvolk. 135 Widerstand und Verfolgung im Burgenland 1934-1945, hg. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 1983, 244f. Herbert Brettl, Nationalsozialismus im Burgenland. Oper . Täter . Gegner, Innsbruck 2012, 65f. 58

Zuvor kam es am 10. 4. 1938 jedoch zu der gleich nach dem Einmarsch angekündig- ten, „Volksabstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“. Das Resultat im Burgenland, ähnelte dem der anderen Bundesländer; von ins- gesamt 171.654 Stimmberechtigten votierten 168.576 mit Ja, 60 Personen mit Nein und 52 mit ungültiger Stimme.136 Die Zeitung „Ostland“ verkündete bereits vier Tage später am 16. 4. 1938 stolz den Ausgang der Abstimmung bei den burgenländischen Kroaten und Ungarn. „ ... daß die Kroaten ausnahmslos mit „Ja“ stimmten. Nur vier der 8.000 Ange- hörigen der magyarischen Minderheit stimmten mit „Nein“.“137

Wie das Ergebnis in Unterwart ausgefallen ist konnte ich nicht eruieren, denn in der Chronik von Unterwart findet sich in der Zeit von 1938 bis 1945 kein Eintrag, lediglich eine Liste über die gefallenen und vermissten Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Dies verwundert nicht, da der Autor der Unterwarter Chronik bis zu seinem Lebensende ein überzeugter Nationalsozialist war. Während der Naziherrschaft war er nicht als Funk- tionär in Erscheinung getreten, jedoch verwunderte viele Ortsbewohner seine rasche juristische Dissertation. Zu dieser Zeit wurde auch mein Urgroßvater, Josef Liszt, erst- mals auffällig, als er die Nationalsozialisten im Dorf beschimpfte. Die Konsequenz da- von war ein Verfahren, welches durch die Intervention des Bürgermeisters eingestellt wurde.138 Mein Großvater überquerte also, im Jahr 1941, die nun neue Grenze bei Rechnitz, und kehrte in seine Heimat zurück, die nun Teil des Deutschen Reiches war. In Unterwart angekommen, fand er sich bei seinen Eltern am Hof ein. Aus einem Zeitzeugengespräch über die Kindheitserinnerungen eines Unterwarter Roms über die Nachkriegszeit wird die wohl damals vorhandene politische Einstellung vieler Unterwarterinnen und Unterwarter ersichtlich. „In der Schule wurden mir sowieso benachteiligt bei den Lehrern. Der lebt noch immer, unser Direktor, der Alte. Da hat es geheißen, Zigeiner ihr werd's vergast, der Hitler soll wieder kommen'. Er war auch damals dabei, wie sie die Zigeuner geholt haben. (...) In Unterwart waren zu diesen Zeiten drei Viertel der Ort- schaft Nazis, und man hat sich durchsetzen müssen, und wenn du das nicht ge- tan hast, warst du tot (...) Wir waren so an die 17 Kinder, ein Jahr älter oder jünger wie ich, und die haben oft Schlag bekommen beim Schulheimgehen. Aber nicht von den anderen Nichtromakindern, sondern von den Erwachsenen. Sie haben dich aufgelauert beim Heimgehen und dann durchgehaut. Sie dach- ten wahrscheinlich, es ist noch immer Hitlerzeit.“139

Obwohl das Resultat des Burgenlandes bei der Volksabstimmung vom 10. 4. 1938 im

136 Lang, NS-Regime, 28. 137 Maria Zeitler, Das Burgenland im Jahr 1938. Die politischen Ereignisse und deren Auswirkungen auf das Land, seine Institutionen und seine Minderheiten., Dipl. Arb., Wien 1989, 40. 138 Interview, Liszt/Steinberger. 139 Michael Teichmann, Es fehlte halt bei dem Zigeuner an allem, was – sagen wir – einen normalen Österreicher ausmacht. Zur gesellschaftspolitischen Situation der Burgenland-Roma nach 1945, Gedenkdienst, URL: www.gedenkdienst.at/fileadmin/zeitung/gd1998-4.pdf (abgerufen am 15. 1. 2013) 59

Vergleich zu den anderen Bundesländern nicht überrascht, sind es die Parteimitglied- schaften, die einen wesentlichen Unterschied zeigen. „Im bald in umbenannten Österreich hat die NSDAP großen Zulauf. 1943 erreichte die Mitgliederzahl ihren Höhepunkt, fast 700.000 Österreicher und somit rund acht Prozent der Bevölkerung gehörten ihr an. Die Verteilung war regional höchst unterschiedlich: im katholischen Tirol wurde ein Spitzenwert von 15 Prozent erreicht, im wirtschaftlich armen Burgenland waren es nur 6 Prozent.“140

In der Mitgliedschaftskartei der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei findet sich heute keine Person mit dem Nachnamen Liszt. Eine Mitgliedschaft meines Großva- ters oder anderer Verwandten in der NSDAP mit gleichem Namen kann ich daher mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ausschließen.141 Ob es ihm und der Bevölkerung Öster- reichs im Frühjahr 1938 bewusst war, dass es bald zu kriegerischen Auseinanderset- zungen kommen wird, ist schwer zu beantworten. Der österreichische Spanien-Kämp- fer und langjährige Mitarbeiter des Dokumentationsarchiv des österreichischen Wider- standes, Hans Landauer antwortet auf die Frage wie folgt. „Was haben wir in den 1930er Jahren erwartet? Dass es zum Krieg kommt, wenn der Faschismus nicht bezwungen wird, dass er aus diesem Grund geschla- gen werden muss. Hitler bedeutete Krieg. Nachtsüber haben Leute in ganz Eu- ropa, mit Farbe ausstaffiert und Pinsel in der Hand, Plakate an öffentlichen Plät- zen mit der Losung überzeichnet: „Hitler bedeutet Krieg.“ Man konnte das häu- fig lesen. Aber keiner hat es geglaubt. Heute wissen wir, dass wir mit der Über- zeugung, es kommt unter Hitler zum Krieg, Recht behalten sollten.“142

Das Zitat zeigt, dass linke Gruppierungen, Sozialistinnen und Sozialisten sowie Kom- munistinnen und Kommunisten sich der Gefahr eines Krieges im Falle der Machtergrei- fung Hitlers bewusst waren. Des Weiteren zeigt es, dass die Mahnung dieser linken Gruppierungen in der Bevölkerung nicht ernst genommen bzw. nicht daran geglaubt wurde. Am 1. 9. 1939 geschah, wovor sich viele, nicht nur Widerstandskämpfer fürchteten: Das Deutsche Reich überfiel Polen und löste damit den Zweiten Weltkrieg aus. Da Ste- fan Liszt deutscher Reichsbürger war, erhielt er kurz vor Pfingsten 1941 die Einberu- fung zur Wehrmacht.

140 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, 370. 141 Mitgliedschaftskartei der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei, Institut für Zeitgeschichte Universität Wien, Mikrofilm. 142 Peter Liszt, Aaron Sterniczky (Hg.), Herrn Max und einen Milchkaffee, bitte!. Erinnerung an den Spanischen Bürgerkrieg, Oberwart 2013, 51. 60

6 „Ich bin Soldat“143 – Kriegseinsatz im besetzten Norwegen

Am 9. 4. 1940 überfielen deutsche Truppen, unter dem Decknamen „Unternehmen Weserübung“ oder „Fall Weserübung“, die neutralen Staaten Dänemark und Norwe- gen. Dänemark kapitulierte bereits wenige Stunden nach Beginn der Kampfhandlun- gen, Norwegen erst am 10. 6. 1940, nachdem ein deutscher Sieg an der Westfront ab- sehbar war.144 Als Stefan Liszt einrücken musste, zu Pfingsten 1941, befand sich Norwegen bereits unter deutscher Besatzung. Er kam nach Hannover zur Ausbildung bei der deutschen Luftwaffe und wurde von dort zum weiteren Einsatz nach Norwegen verlegt. Seine Aufgabe war die Bedienung des Suchscheinwerfers für eine 2cm Fliegerabwehr- kanone sowie die Handhabung dieser. Seine Einsatzorte in Norwegen waren Steinkjer, eine Stadt in der Provinz Nord-Trøndelag, ca. 460 km nördlich von Oslo, und Stavan- ger, die viertgrößte Stadt Norwegens, ca. 300 km südwestlich der Hauptstadt Norwe- gens, sowie der dortige Flughafen „Forus“. In Stavanger starteten die deutschen Streitkräfte im Jahr 1940 mit dem Bau eines weiteren Flughafens, neun Kilometer Luftlinie entfernt von dem 1937 erst eröffneten Flughafen von Stavanger. Die Wehrmachtsführung sah einen strategischen Vorteil in der Errichtung eines zweiten Flughafens in unmittelbarer Nähe. Die Fertigstellung er- folgte größtenteils bereits ein Jahr später. Aufgrund der schwierigen Wetterbedingun- gen, die am Flughafen herrschten, wurde dieser nicht operativ verwendet, sondern vorwiegend für militärische Testflüge und die Aufrechterhaltung der Versorgung einge- setzt. Kurz vor Kriegsende im Jahr 1944 wurde das fünfte Jagdgeschwader in Forus stationiert, ein Jahr später gefolgt von einer Staffel Arado Ar 234. Insgesamt waren 200.000 Männer und Frauen Teil der ständigen Besatzungstruppen in Norwegen.145 In dem „Kriegstagebuch“ meines Großvaters finden sich nur vereinzelt Einträge über seine Aufgaben oder seine Erlebnisse in Norwegen. Diese jedoch waren für ihn von so besonderer Bedeutung, dass er diese niederschrieb. In den folgenden Ausführungen werde ich auf zwei Einträge genauer eingehen. Der erste Eintrag vom 20. 9. 1943 schildert den Beginn seines Heimaturlaubes, das Übersetzen mit dem Schiff von Norwegen nach Dänemark. Neben romantischen Dar- stellungen über geographische Gegebenheiten finden sich folgende Zeilen: „Das Schiff schwimmt auf offener See, neben uns Schlachtschiffe und U-Boote, über uns Aufklärungsflugzeuge, die den Luftraum sichern.“146

143 Ich bin Soldat, Volksliederarchiv. 144 Dirk Levsen, Krieg im Norden. Die Kämpfe in Norwegen 1940, Berlin-Bonn 2000, 9f. 145 Stavanger Airport. Forus, Wikipedia, URL: http://en.wikipedia.org/wiki/Stavanger_Airport,_Forus (abgerufen am 15. 2. 2013). 146 Kriegstagebuch von Stefan Liszt, Dokument im Familienarchiv des Autors. 61

Das große Aufgebot von Marine und Luftwaffen Einheiten lässt auf die Stärke der briti- schen Marine in diesem Gebiet rückschließen sowie vor der Angst einer alliierten Lan- dung in Norwegen. „Sie (Anm. Die Sonne) beruhigt sich nicht früher bis das Schiff mit 3000 Hei- maturlaubern den dänischen Hafen erreicht hat!“147

Dass er bei seinem Heimaturlaub nur den Teil der Überfahrt beschrieb, deutet auf die Wichtigkeit dieses Ereignisses. Warum er diese Reise festhält, ist unklar, jedoch findet sich keine einzige andere Erwähnung einer Truppenüberstellung in seinem Tagebuch. Vielleicht ist dieses Geschehen durch die erwähnte vorhandene Bedrohung oder durch die Freude auf sein Heimatland, für ihn Wert zur Erinnerung gewesen. Den zweiten für die Rekonstruktion seiner Kriegserlebnisse interessanten Eintrag, schrieb er am 20. 11. 1943 aufgrund der Einzigartigkeit nieder, der Titel des Beitrages lautet „Eine schmerzvolle Erinnerung“ und schildert die Vorgänge rund um seine Kriegsverletzung. „Zeitlich in der Früh, starker Nebel, die Augen voller Schießpulver, man sieht nur einige Meter. ‚ALARM' Feindliche Flugzeuge, sie werfen schon die Bomben. Ein paar Sekunden später zerreißt es eine Zwillingsflack in Stücke. Volltreffer durch eine Bombe. ... Siehst du den nicht, der Himmel ist voll mit Fallschirmspringern. ... ‚Ah, mein Bein!' Mitten im Sprung hat mich etwas getroffen, ich spüre nichts, ich darf jetzt nichts spüren. ... Mein Stiefel ist voll Blut, ich spüre meinen Fuß nicht, ich kann nicht mehr aufstehen, es ist aus, ich werde bewusstlos. Lieber Gott, gib mir Kraft, dass ich nicht falle. ... Meine Beine haben mir den Dienst versagt. In meinen Händen habe ich keine Kraft, ich liege hilflos hier. In meinem Kopf zieht die Vergangenheit vorbei. In meiner Qual kaue ich Gras und nur eine Stimme lässt mich davon ab, ERZSÈBET. [sic]“148

Neben der ausgeschmückten Erzählung finden sich hier auch Zugeständnisse an Erz- sébet Nagy, die besagte Frau aus Albertirsa, der er dieses Tagebuch widmete. Er be- schrieb das Erlebte wie folgt weiter. „Eine Granate explodiert vor mir und streut Erde über mich. ... Ich drücke den Abzug meiner Maschinenpistole, die Kugeln werden hinausgestreut, nachladen, vorwärts. ... Die Lage wird gefährlich und ich kann meinen Fuß nicht gebrau- chen. Nicht einmal mehr 20m ist der Feind entfernt, ich habe keine Munition mehr. Die Waffe ist unbrauchbar, meine Kräfte lassen nach, die Augen werden schwerer und ich sehe wie sie in meine Richtung rennen und ich liege hilflos da. Eine Granate halte ich noch in meiner Hand. Ich bekomme schon Krämpfe, es fällt mir schon alles so schwer. Eine letzte Anstrengung, ich werfe die Granate, eine Explosion und dann spüre ich nichts mehr. Das ist mein Ende! Freundliches Erwachen! Ich blicke auf aber meine Augen fallen wieder zu. In meinem Kopf kreisen tausende Gedanken, ich erkenne mich gar nicht. Was ist los mit mir? Wo bin ich? ERSZÈBET gib mir Wasser … Alles ist weiß, mein Kopf liegt auf einem weißen Polster! Viele Fremde liegen neben mir. Eine Stimme stört meine Gedanken, eine be- kannte Stimme, eine freundschaftliche Stimme. ‚Stefan werde munter!' ... Was

147 Kriegstagebuch, Familienarchiv. 148 Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Kriegstagebuch, Familienarchiv. 62

ist mit meinem Bein? ‚Nicht gefährlich, nur der Blutverlust hat sie geschwächt. In ein paar Tagen ist alles wieder in Ordnung!' Die Tage vergingen, nach einer Woche stehe ich erneut auf und beginne langsam zu gehen. ... Ich sitze jetzt hier am Fuße des Berges, in einem kleinen Spital auf der Terrasse, versteckt in einem Birkenwald.“

In keiner mir bekannten wissenschaftlichen Publikation fand ich genaueres über Kampfhandlungen mit Einsatz von Fallschirmspringern zwischen Alliierten und dem Deutschen Reich im Jahr 1943 in Norwegen. Robert Bohn dokumentiert jedoch in sei- nem Werk, dass es des Öfteren zu „Raids“149, durch die Alliierten Mächte in Norwegen kam. In welchen Ausmaßen die Überfälle stattfanden und ob Fallschirmspringer einge- setzt wurden, konnte ich nicht eruieren.150 Ob das Beschriebene auch Erlebtes war, kann ich hier nicht bestätigen. Jedoch ein An- zeichen dafür war die Narbe einer Verletzung meines Großvaters, die er meinem Vater gezeigt hatte.151 Im „Kriegstagebuch“ finden sich auch keine Einträge über die folgenden Geschehnisse, jedoch beherrschten sie die späteren Erzählungen der Kriegserlebnisse meines Groß- vaters gegenüber seinen Kindern und sind deshalb erwähnenswert. In Stavanger lernte Stefan Liszt eine Norwegerin kennen, die er zukünftig nur mehr als „Mutti“ bezeichnete, trotz intensiver Bemühungen war es mir nicht möglich, ihren Namen zu recherchieren. „Mutti“ versorgte meinen Großvater mit allen möglichen Utensilien, vom Kochgeschirr bis hin zu Verpflegung, nicht selten wurde er auch von ihr zum Essen und zum Ausgehen eingeladen. Nach der Kapitulation kam es zu Ge- genüberstellungen deutscher Soldaten und Kollaborateuren, so auch bei meinem Großvater und „Mutti“. Da beide Seiten die Frage nach einer möglichen Kollaboration verneinten, musste die norwegische Frau keine Sanktionen ihrer Landsleute befürch- ten. Jahre nach dem Kriegsende besuchte „Mutti“ meinen Großvater in Unterwart, nach diesem Treffen brach der Kontakt jedoch für immer ab. Seinen Kindern gegenüber schilderte er auch folgende zwei Begebenheiten, wie sehr sie der Wahrheit entsprechen, war mir nicht möglich zu recherchieren. Während eines Wacheinsatzes meines Großvaters kam es zu einer unangekündigten Übung, ein Offi- zier versuchte in das von meinem Großvater zu bewachende Objekt einzudringen. Mein Großvater stellte sich mit aller Vehemenz gegen den Eindringling. Der Offizier war so begeistert von der Abwehr meines Großvaters, dass er ihm empfahl, sich zur SS zu melden. Stefan Liszt jedoch hatte kein Interesse daran. Die zweite Erzählung handelte von seiner Tätigkeit als Sanitäter. Als er mit gefangenen sowjetischen Solda- 149 „Raid ist eine englische Bezeichnung, wörtlich übersetzt bedeutet es soviel wie Überfall oder Raubzug, für eine Militäraktion in der der Feind blitzartig auf seinem Territorium angegriffen wird. Danach folgt der sofortige Rückzug der Truppen. Ziel ist es den Feind zu destabilisieren. 150 Robert Bohn, Norwegen. „Nationalsozialistische Neuordnung“ und Kriegswirtschaft, München 2000, 371f. 151 Hierzu, sowie die nachfolgenden drei Absätze: Interview, Liszt/Steinberger. 63 ten zusammentraf und ihren fürchterlichen Gesundheitszustand sah, begann er sie zu verarzten und mit Lebensmitteln zu versorgen. Dies blieb nicht unentdeckt und Stefan Liszt wurde angezeigt, dies endet beinahe vor einem Kriegsgericht, doch halfen ihm seine Vorgesetzten. Während seines Kriegseinsatzes erhielt er das Eiserne Kreuz 2. Klasse sowie das Bron- zene Ehrenschild mit der Nr. 8386 für Verdienste in Norwegen. Am 8. 5. 1945 endete die Besetzung Norwegens, damit verbunden auch der Einsatz meines Großvaters mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht.

7 „Es steht ein Soldat“152 – Kriegstagebuch

Unter den wenigen schriftlichen Dokumenten im Nachlass meines Großvaters findet sich ein kleines blaues Buch mit der Aufschrift „Minnebok“. Dies ist eine norwegische Wortzusammensetzung aus den zwei Wörtern „minne“, dies bedeutet Erinnerung, Ge- dächtnis oder Speicher, und dem norwegischen Wort für Buch, bok. Allein die norwegi- sche Aufschrift lässt drauf zurückführen, dass er dieses Buch während seines Kriegs- einsatzes in Norwegen bekommen hat. Der Inhalt bestätigt diesen Gedanken und durch die gewissenhafte Angabe des Datums nach den meisten Einträgen lassen sich diese chronologisch einordnen. Inhaltlich finden sich neben Gedichten auch Erzählun- gen über seine Kriegserlebnisse. Insgesamt finden sich abgesehen von den Titelseiten ca. 35 Einträge, wovon nur zwei in deutscher Sprache geschrieben sind. Alle Einträge sind in schwarzer, blauer oder roter Tinte geschrieben, teilweise ohne chronologische Ordnung, da er wohl aus Platzmangel spätere Einträge auf leere freie Seiten schrieb. Auf der ersten Seite ist ein großes Bild von ihm in Wehrmachtsuniform zu sehen, auf der danebenliegenden Seite steht geschrieben: „Erinnerungsbuch! – Für Erszébet Nagy – Norwegen, 1942“. Warum er Erszébet Nagy das Buch widmet erfahren wir an einer späteren Stelle in diesem Buch, die Angabe der Jahreszahl 1941 zeigt den Be- ginn seiner Ausführungen, er kam zu Pfingsten des selben Jahres nach Norwegen. Auf der nächsten beschriebenen Seite findet sich erneut ein Foto von meinem Großvater in Wehrmachtsuniform, dieses Mal jedoch ohne Kopfbedeckung und über einem Sechstel des Fotos hat er ein Band befestigt in den Farben der ungarischen Fahne rot-weiß-grün (siehe Abbildung 2). Der Text unter dem Foto bestätigt erneut seine Absicht, dieses Buch zu schreiben „ ... – Für Erszébet Nagy – Norwegen, 1942 – Pista“. Um die anfängliche Frage der Identi- tät kurz aufzugreifen: Er unterschrieb in diesem Erinnerungsband fast jeden Eintrag stets mit „Pista“, Pista ist eine Koseform des Vornamens István. Er selbst benutzt in

152 Jenbach, Reichert, Lehár, Wolgaliedes. 64 diesem Buch stets die ungarische Form seines Namens.

Abbildung 2: Passbild von Stefan Liszt in Wehrmachtsuniform. Darüber befestigte er ein Band in den Farben der ungarischen Fahne rot-weiß-grün.

Quelle: Kriegstagebuch, in Besitz des Autors bzw. der Familienmitglieder.

In den folgenden Ausführungen werde ich einige Stellen – alle zu untersuchen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen – betrachten unter besonderer Berücksichtigung der Einträge, welche sich auf seine Gedanken und seine Identifikation zurückführen lassen. Beginnend mit den zwei deutschen Einträgen stellt sich bei beiden Einträgen, mit den Titeln „Es steht ein Soldat.“ und „Komm zurück“, heraus, dass dies zwei populäre Lie- der der damaligen Zeit waren. „Es steht ein Soldat“ ist die zweite Strophe des Wolga- liedes aus der Operette „Der Zarewitsch“153. Er übernahm die gesamte Strophe. Der zweite Eintrag ist eine Wiedergabe des Liedes „Komm zurück“, welches ursprünglich vom italienischen Komponisten Dino Olivieri mit dem Titel „Tornerai“ geschrieben wur- de. Das Lied wurde auf Platten in mehreren Sprachen, unter anderem in Französisch, Schwedisch, Tschechisch, Polnisch und Deutsch am Ende der 1930er Anfang der 1940er Jahren aufgenommen und gelang zu großer Bekanntheit. Bei beiden Einträgen dieser musikalischen Darbietungen unterschreibt Stefan Liszt nicht, auch eine Da- tumsangabe fehlt.154 Bei den Einträgen in ungarischer Sprache, die auch zum größten Teil von ihm unterzeichnet sind, findet man unter anderem eine erneute Widmung

153 Der Zarewitsch ist eine deutsche Operette in drei Akten von Bela Jenbach und Heinz Reichert, die Musik wurde von Franz Lehár komponiert. 154 Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Zitate: Kriegstagebuch, Familienarchiv. 65 während seines Lazarettaufenthalts am 20. 11. 1943 für Erzsébet Nagy. „Dieses Buch schreibe ich für ERZSÈBET, denn sollte es mir beim nächsten Mal nicht gelingen munter zu werden, dass du von mir ein Andenken hast und es mit ins Graben nehmen kannst.“

Als hoch interessanten Eintrag ist jedoch der folgende vom 10.2.1944 zu bewerten. „Irgendwo in der Mitte, weit in Europa, gibt es ein schönes Land. Wo alles an- ders ist, wie wo anders. Wo alles schöner und alles besser ist. Wo es nichts an- deres gibt als Lächeln. Wo es nichts anderes gibt als Liebe. Wo die Akazie, der Mohn und der Rittersporn blühen. Wo der Herbst noch schöner ist als anderswo. Wo der Herbst noch eine wertvolle Erinnerung sein kann. Herbst war es vor lan- ger Zeit und die Blätter fielen bei sternklarer Nacht von den Bäumen. Ein kran- kes Mädchen lag auf einem Liegestuhl und ein kranker Bursch stellte sich zu ihr. Händehaltend haben sie sich gegenseitig angeschaut. Wie die Zeit vergeht. Der Mond steigt immer höher, wie wenn er neugierig wäre, was da unten passiert. Die zwei Kranken nähern sich, die Lippen treffen sich, der Mond versteckt sich hinter den Wolken.“

In diesem Beitrag erinnert er an ein Land in der Mitte Europas, es zeigt wahrscheinlich seine Sehnsucht nach Ungarn, da Akazien, Mohn und Rittersporn vermehrt in der Ve- getation Ungarns, als in der österreichischen Landschaft, zu finden sind.

8 „Nie wieder Krieg!“155 – Kriegsgefangenschaft

Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht geriet mein Großva- ter in britische Kriegsgefangenschaft. Von dort oder in deren Rahmen kam er nach Ka- prun und arbeitete am Staudamm für einige Monate mit. In Kaprun, einer Gemeinde im Bundesland Salzburg, wurde am 16. 5. 1938 von den Nationalsozialisten mit dem Bau eines Wasserkraftwerkes, erst Entwicklungspläne ent- standen bereits 1928 in Berlin, begonnen. Die Alpenelektrowerke AG (AEW) gründeten die Tauernkraftwerke unter der Leitung zahlreicher NS-Funktionäre wurden mehrere Lager für ca. 2.000 Arbeiterinnen und Arbeiter errichtet. Diese waren zuerst Freiwillige und später aufgrund des Arbeitskräftemangels wurde auf Kriegsgefangene zurückge- griffen. 1943 befanden sich ca. 4.000 Kriegsgefangene im Einsatz in Kaprun. Aufgrund der schlecht ausgerüsteten Arbeiterinnen und Arbeiter und dem Mangel an Maschinen kam das Vorhaben nur schleppend voran. Dies führte zu einer praktischen Einstellung der Arbeiten im Winter 1942/43, denn der damalige Rüstungsminister Albert Speer setzte neue Prioritäten. Mit Ende des Deutschen Reichs waren die Arbeiten am soge- nannten Tauernkraftwerk nicht weit vorangeschritten, der gesamte Aufwand der bis zu diesem Zeitpunkt betrieben wurde, wird mit höchsten fünf Prozent des Gesamt- bauumfanges beziffert. Bevor die US Army Kaprun unter öffentliche Verwaltung stellte

155 Kollwitz, Nie wieder Krieg. 66 und der Bau zum Mythos der Nachkriegszeit hochstilisiert wurde – dies war nur durch den großen finanziellen Aufwand des Marshallplans möglich – setzten ehemalige Zwangsarbeiter, heimgekehrte Soldaten, Nationalsozialisten, Kriminelle und jüdische Überlebende die Arbeiten fort.156 „Im Jahr 1945 herrschte laut Geschäftsbericht bei den Bauarbeiten nahezu Still- stand: ‚Beim Bau des Kraftwerks Kaprun, welches im Berichtsjahr unter ameri- kanischer Militärverwaltung stand, konnten nur Sicherungsarbeiten durchgeführt werden, so daß dieses Jahr als verloren angesehen werden muß.’ Bereits im Herbst 1945 erfolgte die Ausschreibung eines Kostenangebotes für den Bau ... “157

Meinem Vater gegenüber schilderte mein Großvater in Gesprächen seine Erlebnisse von der Baustelle in Kaprun: „Er erzählte immer von den zahlreichen Arbeitern, die während des Betonierens in den flüssigen Beton gefallen sind. Ich als kleiner Bube, habe ihn immer ge- fragt, warum sie die nicht wieder rausgezogen haben. Und mein Vater antworte- te, das ging so schnell alles, dass es nicht möglich war.“158

Ob das oben erwähnte Zitat nur ein Gerücht ist oder nicht kann ich an dieser Stelle nicht feststellen. Nachdem im Herbst 1945 die Ausschreibung für den Weiterbau begonnen hatte, ende- te für Stefan Liszt mit hoher Wahrscheinlichkeit die Kriegsgefangenschaft bzw. das Dienstverhältnis, er wurde entlassen und kehrte nach Unterwart zurück.

9 „Ruinen dieser Stadt“159 – Heimkehr

Nach seiner Rückkehr stand er vor dem Nichts, sein bereits erhaltenes Erbe ist in Al- bertirsa zurückgeblieben. Nach Albertirsa und zu Erszébet Nagy zurückzukehren war für ihn unmöglich, er hatte die dafür erforderlichen finanziellen Mittel nicht. So blieb ihm nur die Möglichkeit nach Unterwart heimzukehren doch war sein Elternhaus im Besitz seiner Großeltern und viel zu klein für ein weiteres Familienmitglied. In das so- wjetisch besetzte Ungarn zu gehen stellte keine Option für ihn dar, da er keinen Besitz hatte. Nach dem Krieg lernte Stefan in Unterwart eine Frau kennen, die in Wien arbei- tete und über gewisse finanzielle Mittel verfügte. Da sich eine Beziehung abzeichnete, gab sie meinem Großvater Geld. Mit diesem konnte er sich einen Garten in Unterwart kaufen, wo er eine Holzhütte baute, welche in den nächsten paar Jahren seine Unter- kunft darstellte. Diese verfügte weder über Wasser noch einen Stromanschluss.160

156 Susanne Rolinek, Gerald Lehner, Christian Strasser, Im Schatten der Mozartkugel. Reiseführer durch die braune Topografie von Salzburg, Czernin Verlag, URL: http://www.imschatten.org/45.html (zugegriffen am 20. 2. 2013). 157 Margit Reiter, Das Tauernkraftwerk Kaprun, in: Oliver Rathkolb, Florian Freund (Hg.), NS-Zwangsarbeit in der Elektrizitätswirtschaft der „Ostmark“ 1938–1945, Wien-Köln-Weimar 2002, 127-198. 158 Interview, Liszt/Steinberger. 159 Van Dyk/Heppner, Wir sind wir. 160 Interview, Franz Liszt. 67

In den Nachkriegswirren begann er langsam eine neue Existenz in Unterwart aufzu- bauen und versuchte, sich schnell in der Nachkriegsgesellschaft zu einem angesehe- nen Mann zu entwickeln. Bei einer Theateraufführung des Oberpullendorfer Theater- vereins in Unterwart lernte mein Großvater meine Großmutter kennen und lieben. Am 4. 7. 1950 heiratete er meine Großmutter im Wiener Stephansdom, die standesamtli- che Vermählung vollzogen sie bereits einige Tage zuvor in Oberpullendorf. Die Hoch- zeit im Stephansdom wurde von einer in Wien lebenden Schwester meines Großvaters organisiert, meine Großmutter erhielt ein geborgtes Brautkleid und meinen Großeltern ihnen unbekannte Beistände. Die Entscheidung in Wien zu heiraten war wirtschaftlich begründet. Beide verfügten über wenig Geld und da sie in Unterwart gezwungen ge- wesen wären ein Fest auszurichten, heirateten sie in Wien. Durch die erhaltene Mitgift konnten meine Großeltern ihren Besitz in Unterwart erweitern. Die Frau, die ihm das erwähnte Geld geborgt hatte, war enttäuscht, da er sich für meine Großmutter ent- schieden hatte und er musste in den nächsten Jahren das geborgte Geld zurückzah- len.161 Ein anderer Zuverdienst meines Großvaters war der Schwarzhandel in Wien. Er schil- derte seinen Kindern oft, wie er sich mit einem Rucksack voll mit Lebensmitteln auf den Weg nach Wien machte. Er verließ das sowjetisch besetzte Burgenland bei Fried- berg über die grüne Grenze und stieg in Friedberg in den Zug nach Wien. Vor dem Eintreffen des Zuges in der Hauptstadt sprangen die vom Land kommenden Schmugg- ler ab, da am Bahnhof erneut Kontrollen auf die Ankommenden warteten. In Wien an- gekommen verkaufte bzw. tauschte mein Großvater Schmalz und Fleisch aus der eige- nen Produktion gegen Geld, Schmuck und Stoffe. Mit dem erhaltenen Geld und Schmuck kaufte er Land in Unterwart, mit den Stoffen nähte seine Mutter neue Klei- der, die sie wiederum an die Bevölkerung verkaufte. Ein neues Standbein schaffte sich Stefan Liszt auch mit der Errichtung eines Heurigen und Weingarten. Das ganze Dorf kam zu ihm um zu feiern und nicht nur Fleisch und Wein sondern auch Honig und Schnaps aus eigener Produktion wurden angeboten. Er kam in der Ortschaft rasch zu entsprechendem Ansehen und übernahm in Unter- wart viele Funktionen bzw. trat in Vereine ein, so war er Mitglied des Radvereines, des Männergesangsvereines, der Feuerwehr und des Roten Kreuzes.162 Bei der Österreichischen Volkspartei engagierte er sich ebenfalls von Anfang an, da er in dieser seine christlich konservativen Werte widergespiegelt sah. Seine Kinder erzäh- len auch, dass er von Anfang an ein „Zeit im Bild“ Fan war und dass bei den Worten von Hugo Portisch in Österreich I. und II. alle anderen schweigen mussten. Das Rote

161 Hierzu, sowie nachfolgender Absatz: Interview, Liszt/Steinberger. 162 Seper, Unterwarter Heimatbuch. 68

Kreuz ist jedoch mindestens genauso wichtig für ihn wie die ÖVP gewesen. Er machte sich im Dorf mit seinen medizinischen Fertigkeiten beliebt und bevor die Bewohner einen Arzt in den umliegenden Dörfern aufsuchten, besuchten sie meinen Großvater, der eine Erstversorgung durchführte. Seine Kinder beschreiben ihn als umtriebig, ehrgeizig und hilfsbereit, gelegentlich auch sehr aufbrausend. Er lebt in der Mitte der Gesellschaft, ließ keinen Ball oder fei- erlichen Anlass in der Gemeinde aus – meine Großmutter hasste dieses extrovertierte Leben. In der Erziehung seiner Kinder kam es oft zu unerträglichem Jähzorn. Wenn die männlichen Nachfahren etwas „anstellten“, wurden sie mit körperlicher Gewalt163 ge- maßregelt, in diesem Punkt waren sich meine Großeltern einig, in der restlichen Ehe aber kaum, meine Tante erzählt von unzähligen verbalen Kämpfen zwischen ihnen und beschreibt die Ehe als alles andere als eine Liebesbeziehung, sondern vielmehr als eine Vernunftehe. Eine Zeitlang flüchtete sich mein Großvater auch in die Arbeit als Nachtwächter, er arbeitete 6 Jahre für einen Supermarkt namens „Halko“, wo er mit seiner Pistole und seinem Gewehr sowie einem Hund täglich die Nacht durchwachte.164 Sein landwirtschaftlicher Besitz nach dem Krieg war mit ca. 12 – 15 Hektar überschau- bar, die Arbeit gestaltete das Leben meines Großvaters und das seiner Kinder. Ge- meinsam bekamen meine Großeltern fünf Kinder. Im Alter von 92 Jahren starb mein Großvater nach langer Krankheit am 23. 1. 2001.

10 Nachwort

Die Rolle meines Großvaters während des Zweiten Weltkrieges war mir lange unklar, ob er Opfer, Mitläufer oder sogar Täter war, kann ich heute jedoch immer noch nicht beantworten. Wenn ich die Rekonstruktion seiner Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg be- trachte, kann ich diese Frage wohl nur mit der Antwort „Soldat“ beantworten. Als Sol- dat war er wahrscheinlich an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt und als Soldat verpflegte er sowjetische Kriegsgefangene. Mit der Ideologie der Nationalsozia- listen konnte er wohl nicht wirklich viel anfangen und als „Deutscher“ sah er sich wahrscheinlich nie. Da die Wehrmacht aber in meinen Augen eine Stütze des Regimes war, war er es auch. Die anfänglich aufgeworfene Frage, mit welchem Land mein Großvater sich wohl am ehesten identifizierte, ist schwer zu beantworten. Der Autor Michael Floiger glaubt zum Beispiel nicht an eine burgenländische Landesidentität, vielmehr glaubt er an Gruppenidentitäten der burgenländischen Bevölkerung, die mehr oder weniger stark ausgeprägt sind.165

163 Die Fantasie meines Großvaters kannte hier keine Grenzen. 164 Interview, Liszt/Steinberger. 165 Michael Floiger, Gibt es ein burgenländisches Landesbewußtsein?, in: Gerhard Baumgartner/Eva Müller/Rainer Münz 69

Der Historiker Gerhard Baumgartner schreibt über die Bewohnerinnen und Bewohner in der Zwischenkriegszeit in den ehemals kleinadeligen ungarischen Gemeinden des Burgenlandes, unter anderen Unterwart, folgendes: „In den genannten Orten hatte sich zum Teil ein tradiertes, ständisch geprägtes nationales Bewußtsein erhalten. Als Kleinadeliger hielt man sich für etwas Bes- seres. Die Kirchensprache war Ungarisch, und auch die Volksschulen waren kon- fessionelle ungarischsprachige Volksschulen. Auch auf allen Ebenen der lokalen Verwaltung wurde die ungarische Sprache verwendet. Die Orte waren einspra- chig, und die Verwendung der ungarischen Sprache in der Form des lokalen Dia- lektes war fester Bestandteil der lokalen Identität, der dörflichen Bräuche und Traditionen.“166

Zu einen gemeinsamen Zusammengehörigkeitsbewusstsein der ungarischen Minder- heit im Südburgenland kam es jedoch nicht, trotz direkter Nachbarschaft der Dörfer, aufgrund der diversen religiösen Bekenntnisse. In Siget in der Wart und in Jabing war die Mehrheit der Bevölkerung lutherischen, in Oberwart calvinistischen und in Unter- wart katholischen Glaubens. Vielleicht ist es am einfachsten, mit seinen eigenen Worten die Frage der Identität zu beantworten zu versuchen. In seinem Kriegstagebuch finden sich zwei Einträge, die eindeutig Auskunft geben können. An der einen Stelle schreibt er: „Es war schön, jemals ein ungarischer Bauer gewesen zu sein. ... Liebe die Mohnblume, weil ich sie auch liebe. Ich liebe sie, weil sie einzig und allein ein treuer Ungar ist.“ An einer anderen Stelle schreibt er: „Wenn er nichts Schöne- res sehen würde als seine wahre ungarische Heimat und die ungarische Ebe- ne.“167

Beide Auszüge sowie seine späteren Aussagen gegenüber seiner Kinder zeugen von ei- ner deutlichen Identifikation sowie von seiner starken Verbundenheit mit Ungarn. Es ist stets seine Muttersprache Ungarisch und die Flora und Fauna Ungarns, die ihn ins Schwärmen bringen und für ihn Heimat bedeuten. Das Burgenland ist jedoch die größ- te Zeit seines Lebens seine Heimat. Vielleicht erging es ihm so, wie diesem Bauern in der folgenden Erzählung: „Als sich ein durchreisendes ungarisches Reporterteam Anfang der 80er Jahre bei einem auf dem Feld pflügenden Bauern der Oberen Wart nach dem Weg er- kundigte, erteilte dieser die Auskunft auf Ungarisch. Die nun auf Ungarisch gestellte Frage, ob er Ungar sein, verneinte er, ebenso wie die Frage, ob er Deutscher sei. Ja, was er denn nun sei, wollte der verdutzte Reporter wissen. Er sei ein ‚Idevalósi’, sagte der Bauer, ‚einer, der hierher gehört’.“168

Heimatlos im Heimatland.

(Hg.), Identität und Lebenswelt. Ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt im Burgenland (Burgenländischer Forschungstag 1988, Tagungsband der Burgenländischen Forschungsgesellschaft), Eisenstadt 1989, 16-26, 18. 166 Gerhard Baumgartner, „Idevalo´si vagyok“ – „Einer, der hierher gehört“. Zur Identität der ungarischen Sprachgruppe des Burgenlandes, in: Gerhard Baumgartner/Eva Müller/Rainer Münz (Hg.), Identität und Lebenswelt. Ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt im Burgenland (Burgenländischer Forschungstag 1988, Tagungsband der Burgenländischen Forschungsgesellschaft), Eisenstadt 1989, 69-86, 72f. 167 Kriegstagebuch, Familienarchiv. 168 Baumgartner, Baumgartner/Müller/Münz (Hg.), Identität, 69-86, 84. 70

11 Quellen

• Denkschrift der Gemeinde Oberbildein an den Völkerbund, Burgenländisches Landesarchiv, Anschlußarchiv, Faszikel 29 1922/191. • Entlassungsdokument aus der Kriegsgefangenschaft, im Familienbesitz des Autors. • Interview mit Béla Németh, geführt am 19. 1. 2013, Bänder beim Autor. • Interview mit Franz Liszt und Klara Steinberger, geführt am 23. 2. 2013, Bänder beim Autor. • Käthe Kollwitz, Nie wieder Krieg!, Lithographie, 93,5 x 71 cm, 1924. DHM, Berlin, P 62/23 1924. • Kriegstagebuch von Stefan Liszt, Dokument im Familienarchiv des Autors. • Mitgliedschaftskartei der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei, Institut für Zeitgeschichte Universität Wien, Mikrofilm.

12 Abbildungen

• Abbildung 1: Josef Liszt, mein Urgroßvater, in Uniform. Die Aufnahme entstand ca. zwischen 1914-1918. • Abbildung 2: Passbild von Stefan Liszt in Wehrmachtsuniform. Darüber befestigte er ein Band in den Farben der ungarischen Fahne rot-weiß-grün.

Quelle: Alle Abbildungen befinden sich in Besitz des Autors bzw. der Familienmitglieder. 71

Peter Bystricky

Verflochtene und flexible nationale Identitäten

Meine tschechischen Verwandten im Wien vor, während und nach der NS-Zeit 72

Inhalt

1 Einleitung 73 2 Sozialer Hintergrund und Herkunft der Familien Bystricky und Trachtulec 75 2.1 Sozialer Hintergrund und Herkunft der Familie Trachtulec 76 2.2 Sozialer Hintergrund und Herkunft der Familie Bystricky 78 3 Biographie Maria Katharina Trachtulec/Schagginger/Bonifazi 1912-1998: 81 Wienerin – Tschechin – Österreicherin – Deutsche – Österreicherin 3.1 Jugendzeit bis zur 1. Eheschließung 81 3.2 Der Anschluss Österreichs und die NSDAP – Mitgliederreise 82 3.3 Wehrdienst / Grundausbildung 84 bei der Fliegerabwehr in Baden bei Wien 3.4 Der Zweite Weltkrieg 87 3.5 Verbindungen in die Tschechoslowakei 89 3.6 Wehrmachtshelferin 89 3.7 Kriegsende und Nachkriegszeit 90 4 Biographie Jaroslav Bystricky 1913-1998: 91 Wiener – Tscheche – Österreicher 4.1 Kindheit und Jugend 91 4.2 Der „Anschluss“ 92 4.3 Keine Arbeit mehr bei Juden 93 4.4 Der erste Urlaub 93 4.5 Die Schließung des kleinen Obstgeschäfts 93 4.6 Keine Einberufung zur Wehrmacht 94 aber Arbeitszwangsverpflichtung 4.7 Kommando „Julius“/KZ-Außenlager Floridsdorf 95 4.8 Die Bombenangriffe auf Floridsdorf 96 4.9 Das Kriegsende und die frühe Besatzungszeit 97 4.10 Die neuen Zeiten 98 5 Resümee zu den zentralen Fragen 100 5.1 Staatsbürgerschaft und nationale Identität 100 5.2 Reflexionen über die NS-Zeit 103 5.3 Öffentliche Anpassung und private Identität 104 5.4 Schlussbemerkungen 105 6 Quellen 106 7 Abbildungen 106 73

1 Einleitung

Die NS-Zeit war in meiner Familie immer ein Thema, weil wir sie vom Blickwinkel des Außenstehenden, des Unschuldigen bzw. des Opfers betrachteten. Ich möchte in meiner Seminararbeit auf die unterschiedlichen Beziehungen zweier tschechischer Familien zum NS-Staat eingehen. Eine noch diffuse Idee dazu hatte ich bereits im Jahr 1998. In diesem Jahr starben innerhalb weniger Monate die Tante mei- ner Großmutter, Maria Bonifazi/Schagginger/Trachtulec (1912-1998) und mein Groß- vater Jaroslav Bystricky (1913- 1998). Bei der Sichtung des Nachlasses von Maria Bo- nifazi in Wien und Niederösterreich fand ich einen reichen Nachlass an Urkunden, Brie- fen und Bildern mit einem Hauptbezug auf die 1930er und 1940er Jahre. Neben diesen Quellen fanden sich auch verschiedenste gegenständliche Zeugnisse für diese Zeit. Von Ostmarkporzellan über Garnspulen aus Niederdonau bis hin zu NS-Geld und Elek- troschaltungen mit Hakenkreuz. Vollkommen anders sah es mit der Quellenlage bei meinem Großvater aus. Aus seiner gesamten Lebenszeit vor 1945 liegen nur wenige schriftliche und bildliche Quellen vor, dafür aber viele mündliche Überlieferungen aus der Familiengeschichte, hauptsächlich aus der NS-Zeit. Durch oftmalige Wiederholung haben sich diese Erzählungen in der kollektiven Erinnerung meiner Familie festgesetzt. Auch habe ich in den Jahren 1994 und 1995, anlässlich des 50. Jahrestages des Kriegsendes, mit meinem Großvater über seine Erlebnisse in der Kriegszeit mehrere Gespräche geführt und davon Aufzeichnungen für ein dann nicht verwirklichtes Schul- projekt angefertigt. Bei diesen Aufzeichnungen handelt es sich selbstverständlich um kein professionelles Interview, auch hatte ich keine Ahnung, dass dieses Material 17 Jahre später doch noch Verwendung finden würde. Als zentralen Punkt meiner Untersuchungen sehe ich die sehr differenten Lebenswege von Maria Trachtulec und Jaroslav Bystricky in den 1930er und 1940er Jahren. Beson- deren Bezug nehme ich dabei auf die Zeit des Nationalsozialismus. Beide hatten be- züglich ihrer Herkunft und ihres sozialen Umfeldes ähnliche Voraussetzungen, jedoch gab es einige Aspekte, die zu völlig verschiedenen Beziehungen zum NS-System führ- ten. Wie schon im ersten Absatz beschrieben war allein schon die Art der Nachlässe sehr unterschiedlich. Ein wichtiger Aspekt, besonders bezogen auf den Nachlass von Maria Trachtulec, ist die Frage, welche Dokumente nicht gefunden wurden. Als ich den Nachlass vor fünfzehn Jahren gesichtet habe, war ich der Ansicht, dass es sich um einen sehr vollständigen Nachlass gehandelt hat, doch muss diese Ansicht vom heuti- gen Standpunkt aus revidiert werden, da ich keinerlei Dokumente über die NSDAP- Mitgliedschaft von Maria Trachtulec ersten Ehemann gefunden habe. Seine Mitglied- schaft wurde aber auch nicht absichtlich verborgen, da Briefe und Fotos, die auf seine 74

NSDAP-Mitgliedschaft hindeuten, aufgefunden wurden. Der Nachlass meines Großva- ters bestand hingegen hauptsächlich aus seinen mündlichen Überlieferungen über die NS-Zeit. Einige Erzählungen waren unüberprüfbar, da nur die anwesenden Personen darüber Zeugnis ablegen konnten und diese bereits verstorben sind. Für die wichtigen Punkte seiner Erzählungen habe ich aber Belege gefunden und auch die nicht belegba- ren Überlieferungen scheinen im Kontext schlüssig zu sein. Ein Aspekt bezüglich der Nachlässe ist noch anzuführen und zwar, dass beide Nachlässe von mir direkt in Ver- tretung meiner Eltern bearbeitet wurden. Es besteht daher nicht die Möglichkeit, dass irgend jemand aus unbekannten Gründen Teile des Nachlasses nach dem Tod der bei- den verändert hat. Zwei weitere Punkte möchte ich noch anführen, bevor ich zu meinen zentralen Fragen komme und zwar, dass diese Arbeit den Blickwinkel auf zwei mir vertraute Personen verändert hat. Bei meinem Großvater war die Veränderung des Blickwinkels nicht so groß wie bei Maria Trachtulec, da seine Erzählungen nachvollziehbar waren und mir auch durch oftmalige Wiederholung wohlbekannt. Bei Maria Trachtulec war die Verän- derung größer, da wir über die NS-Zeit kaum gesprochen haben und wenn nur vom Unfall ihres ersten Ehemanns Emil Schagginger. Besonders bei ihr muss ich eigentlich sagen, dass ich sie vor dieser Arbeit nicht richtig gekannt habe. Ich meine dies aber nicht im negativen Sinne, sondern bezogen auf die Bewusstmachung eines unbekann- ten Vorlebens. In diesem Zusammenhang möchte ich bezogen auf beide von einem Wahrnehmungsdefekt sprechen. Obwohl ich teilweise alte Fotos von meinem Großva- ter kannte (von Maria Trachtulec eher nicht) existierten beide für mich in meinem Be- wusstsein als Menschen, die schon alt waren, als ich geboren wurde. Mir fehlte voll- ständig die Vorstellung, dass sie auch jung gewesen waren. Durch die Arbeit und Be- schäftigung mit ihnen wurden sie mir erst als ganzheitliche Menschen bewusst. Ein zweiter Punkt, der noch anzuführen ist, ist der, dass ich zu Maria Trachtulec nicht die enge räumliche Beziehung hatte wie zu meinem Großvater, mit dem ich achtzehn Jah- re im selben Haus gelebt habe. Mit Maria Trachtulec hatte ich teilweise nur sehr spora- dischen Kontakt und erst in ihren letzten Lebensjahren wurde dieser enger, da sie wie- der das gesamte Jahr über in Wien und Klosterneuburg lebte. Daher ist auch das Defi- zit an mündlichen Überlieferungen bei Maria Trachtulec nicht auf Verschweigen und Verdrängen zurückzuführen, sondern auf die nicht so enge Beziehung zu ihr. Ein letz- ter Aspekt, der noch anzusprechen wäre ist der, dass beide Familien erst nach dem zweiten Weltkrieg, durch die Familie Bonifazi, in weitschichtige verwandtschaftliche Beziehung traten und daher die ähnlichen Grundvoraussetzungen, bezüglich sozialem Hintergrund und Herkunft nicht durch ursprüngliche Verwandtschaft bestanden. Wahr- scheinlich würde man viele tschechische Familien finden, die ebenfalls ähnliche Famili- 75 engeschichten aufzuweisen haben und vor ähnlichen Entscheidungen standen.

Im Folgenden möchte ich meine Grundfragen näher erläutern:

• Die erste Frage beschäftigt sich mit den Faktoren, die für die sehr unterschiedlichen Beziehungen der beiden und ihrer Familien zum NS-Staat, bei ähnlichen sozialen Grundlagen, verantwortlich sind. • Eine weitere Frage ist die Frage der Reflexion der beiden über die NS-Zeit und eventuelle Erinnerungsungenauigkeiten. • Ziel ist es am Ende zu einem großen Fragenkomplex zu kommen, der sich mit dem Faktor der tschechischen Herkunft, des tschechischen Bewusstseins und den damit verbundenen Ambivalenzen beschäftigt.

Bevor ich aber auf diese Fragen eingehe, rekonstruiere ich die Lebenswege von Maria Trachtulec und Jaroslav Bystricky. Ich stütze mich dabei auf diverse schriftliche Doku- mente und bei meinem Großvater auch auf eine Art oral history. Ich versuche die Le- benswege zu kontextualisieren und teilweise werden sich Antworten auf meine zentra- len Fragen schon durch die Rekonstruktion der Lebenswege zeigen. Im letzten Kapitel werde ich mich mit den Fragen detailliert beschäftigen und versuchen, ein Resümee zu ziehen. Bevor ich aber die beiden Biographien darstelle, widme ich ein Kapitel den bei- den Familien und den ähnlichen Grundvoraussetzungen, bezüglich ihrer familiären Herkunft, zeige aber dabei auch schon die Gegensätzlichkeit auf.

2 Sozialer Hintergrund und Herkunft der Familien Bystricky und Trachtulec

Ich habe mich dafür entschieden, der Beschreibung des sozialen Hintergrundes und der Herkunft der beiden Familien ein eigenes Kapitel zu widmen und erst danach auf die beiden Hauptpersonen meiner Seminararbeit einzugehen, da ich erst die doch sehr ähnlichen Grundvoraussetzungen für meinen Großvater und meine Großtante schildern möchte und erst danach die gegensätzlichen Lebenswege der beiden zeichne. Lebens- wege, die doch sehr verschieden, bezüglich des tschechischen Bewusstseins und der Lebenswirklichkeiten scheinen, aber dann doch nicht so ganz unterschiedlich waren. 76

2.1 Sozialer Hintergrund und Herkunft der Familie Trachtulec

Johann Trachtulec, der Vater von Maria Trachtulec, wurde am 26. 12. 1883 in Mäh- risch-Pisek Nr. 114 geboren. Am 28. 12. 1883 wurde er in Bisenz in der Pfarrkirche St. Johann Baptist nach katholischem Ritus getauft. Sein Vater Andreas Trachtulec und seine Mutter Barbara Trachtulec geb. Lovecký entstammten Kleinhäuslerfamilien169. Die Gattin von Johann Trachtulec, Apollonia Trachtulec geb. Bém, wurde am 22. Sep- tember 1891 in Nivnitz Nr. 305 in Mähren geboren, auch sie war römisch-katholisch getauft. Wie die Eltern von Johann Trachtulec so entstammen auch die Eltern seiner Ehefrau, Johann Bém und Marianna Bém geb. Jankuj, aus Kleinhäusler bzw. Viertler- Familien.170 Wann und ob die beiden schon gemeinsam oder getrennt nach Wien gekommen sind, ist nicht zu belegen. Bei Appollonia Trachtulec wäre die Möglichkeit gegeben, dass sie mit ihren Eltern nach Wien übersiedelte, da ihre Mutter Marianna, geb. Jankuj auch in Wien gelebt hat und hier am 22. 4. 1944 im 83. Lebensjahr verstorben ist. Auch die Mutter von Appollonia Trachtulec hatte im 20. Wiener Gemeindebezirk ihren Lebens- mittelpunkt. Am 1. 8. 1914 wurden Johann und Appollonia Trachtulec in der Pfarre Al- lerheiligen in Wien getraut. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie bereits zwei Töchter. Die am 21. 4. 1912 geborene Maria Katharina Trachtulec und die am 26. 3. 1914 geborene Emilie Trachtulec. Beide Töchter werden in späteren Urkunden als ehelich geführt, ob- wohl sie schon vor der Eheschließung geboren worden waren. Vom Beruf war Johann Trachtulec Hilfsarbeiter, über seine beruflichen Tätigkeiten lie- gen keine weiteren Dokumente vor. Im 1. Weltkrieg war er Soldat und zumindest zeit- weise bei der Geniedirektion171 in stationiert. Einige Fotos deuten darauf hin, dass er im Versorgungsbereich tätig war. Nach dem Krieg blieb er mit seiner Familie in Wien und suchte im Jahre 1921 um die österreichische Staatsbürgerschaft an. Diese wurde ihm mit dem Hinweis auf den Staatsvertrag von St. Germain en Laye vom 10. 9. 1919 verwehrt. Das Innenministe- rium entschied, dass er nicht den Nachweis erbringen konnte, nach „Rasse“ und Spra- che zur deutschen Mehrheit der österreichischen Bevölkerung zu gehören.172 Johann Trachtulec versuchte also zu beweisen, dass er zur deutschen Mehrheitsbevölkerung Österreichs gehörte und nicht zur tschechischen Mehrheitsbevölkerung der Tschecho-

169 Gleichzusetzen mit Keusche, welche ein ärmliches, ländliches Haus mit sehr wenig Grundbesitz bezeichnet. Die Keuschler bzw. Kleinhäusler mussten neben der Landwirtschaft auch anderen Berufen, meist als Tagelöhner oder im Handwerk, nachgehen. Nur so konnten diese Familien überleben. 170 Viertler sind Besitzer eines kleinen Bauernhofs, der nur etwa über ein Viertel der Größe, die für den Erhalt einer Familie notwendig war verfügte. Die Grundgröße eines Viertlerhofes betrug zwischen 2,5 und 6ha, ebenso bedurfte es eines Nebenerwerbes. 171 Genietruppen: veralteter Ausdruck für Pioniertruppen. 172 Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 77 slowakischen Republik. Im Artikel bzw. Paragraph 80 des Vertrages von Saint Germain en Laye173 ist nämlich geregelt, dass er beweisen hätte müssen, kein Tscheche nach „Rasse“ und Sprache zu sein um Österreicher zu werden. Dieses Ansuchen zeigt auf jeden Fall den Willen des Familienoberhauptes, in Österreich zu bleiben und sich an die Mehrheitsbevölkerung anzupassen. Im Grunde ist hier die Bereitschaft zu sehen sich zu assimilieren und das Tschechentum abzulegen. Ob die Anpassung aus innerlicher Überzeugung erfolgte oder eher wirtschaftliche Gründe hatte, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen, es sind aber wirtschaftliche Gründe anzunehmen. Den Lebensmittelpunkt für die Familie bildete der 20. Wiener Gemeindebezirk. Die Adresse Salzachstraße 17 kann von den frühen 1920er Jahren bis Ende 1944 bzw. An- fang 1945 als Wohnadresse nachgewiesen werden. Im Lehmanns Adressverzeichnis findet sich die Adresse zwar erst ab 1931, jedoch ist sie durch diverse amtliche Urkun- den und Schriftstücke seit 1921 belegt. Wahrscheinlich waren sie vor 1931 nur Unter- mieter und sind deshalb nicht verzeichnet. Hier besuchte auch die ältere Tochter, Maria Katharina Trachtulec, die Privatbürgerschule des Komenskyschulvereins174 in der Pöchlarnstraße Nr. 12. Im Jahre 1931 wurden Johann Trachtulec, seiner Frau und den beiden minderjährigen Töchtern, Maria Katharina und Emilie, dann doch die Wiener Landesbürgerschaft und damit auch die österreichische Bundesbürgerschaft zugesichert.175 Es ist ihnen gelungen, binnen Jahresfrist die Entlassung aus der tschechischen Staats- bürgerschaft zu erwirken, da im Jahr 1932 Wiener Heimatschein und österreichische Pässe für die Familie ausgestellt wurden. Die Erteilung der Staatsbürgerschaft über die Wiener Landesbürgerschaft korrespondiert auch mit einer allgemeinen positiven Ein- stellung des „Roten Wien“ gegenüber den Wiener Tschechen. Im Jahr 1938 gibt es Indizien, die darauf hinweisen, dass die Familie mittels Fragebo- gen und Urkunden ihre „Abstammung“ nachweisen musste. Es liegt ein Merkblatt für das Ausfüllen solcher Fragebögen vor und es wurden 1938 Geburts-Tauf- und Trau- ungsscheine aus der Tschechoslowakischen Republik als Duplikate erstellt. Diese dienten sehr wahrscheinlich zum Nachweis der Abstammung. Im Jahr 1944 wurden Johann Trachtulec und seine Frau durch Bombenangriffe geschä- digt. Sie wurden als deutsche Volksangehörige und Staatsbürger des Deutschen Reichs von den Behörden geführt und erhielten Entschädigungen bzw. Hilfsleistungen. Im Dezember 1944 mussten sie nach weiteren Bombenangriffen ihre Wohnung verlas- sen und konnten bei Bekannten in der Reinprechtsdorferstraße im 5. Bezirk als Unter-

173 Der Vertrag von St. Germain, Wien 1919, Artikel 80. 174 Margita Jonas, Geschichte des Schulvereines Komensky, in: Regina Wonisch (Hg.), Tschechen in Wien. Zwischen nationaler Selbstbehauptung und Assimilation, Wien 2010, 61-92. 175 Hierzu, sowie die nächsten fünf Absätze: Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 78 mieter unterkommen. Handschriftlich ist am Meldezettel vermerkt: „total ausgebomt“. Einige Wochen vor der Befreiung Wiens mieteten die Eheleute, am 1. 3. 1945 (geneh- migt vom Wohnungsamt 3. 3. 1945), eine Zimmer und Küche Wohnung in der Passet- tistraße 25 im 20. Wiener Gemeindebezirk. Die Wohnung in der Passettistraße 25/17 wurde bis zum Tod des Johann Trachtulec am 20. 11. 1970 von den beiden bewohnt. Seine Ehefrau Appollonia Trachtulec überlebte ihren Mann um 15 Jahre und starb 1985 im 94. Lebensjahr.

2.2 Sozialer Hintergrund und Herkunft der Familie Bystricky

Alois Bystricky, der Vater meines Großvaters, wurde am 14. 8. 1864 in Pilsen geboren und römisch-katholisch getauft. Seine Ehefrau, Franziska Bystricky geborene Jehlicka, ebenfalls römisch-katholisch, wurde am 15. 5. 1876 in Trhov Kamenitz geboren. Wann die beiden nach Wien gekommen sind, ist wie bei der Familie Trachtulec nicht zu bele- gen. Geheiratet haben sie am 24. 1. 1904 in Wien, alle sechs Kinder wurden in Wien geboren, ein siebentes verstarb im Säuglingsalter. Alois Bystricky war vom Beruf La- ckierer und meist im Eisenbahnbau bei der Floridsdorfer Lokomotivfabrik tätig, jedoch fehlen die entsprechenden Unterlagen. Über den sozialen Hintergrund der Elterngene- ration der Eheleute Alois und Franziska Bystricky liegen keine Belege vor, es dürfte sich aber um einen ähnlichen Hintergrund wie bei der Familie Trachtulec gehandelt ha- ben. Auch bezüglich der Motive für die Übersiedlung nach Wien dürften ähnliche Grün- de ausschlaggebend gewesen sein. Beide Familien wanderten wie ca. 500.000 Tsche- chen ein, welche in der Zeit von 1880 bis 1914 als Arbeitsmigranten nach Wien ka- men176. In der prosperierenden Metropole der Habsburgermonarchie war der Bedarf an billigen Arbeitskräften sehr groß. Viele tschechische Arbeiter wurden ausgebeutet und lebten, man würde heute sagen, in Elendsvierteln am Stadtrand. Ein immer wieder an- geführtes Beispiel für die Ausbeutung der Tschechen bieten die Ziegelwerke am Wie- nerberg, welche die Arbeiter zeitweise nicht einmal mit richtigem Geld, sondern mit Wertmarken bezahlten.177 Sprichwörtlich wurde der „Ziegelböhm“. Noch schlimmer war die Lage der tschechischen Dienstmädchen, die praktisch rechtlos ihren Dienstgebern ausgeliefert waren. Zur Zeit der Geburt meines Großvaters, Jaroslav Bystricky, am 4. 8. 1913, war die Fa- milie in der Klosterneuburgerstraße 91 im 20. Wiener Gemeindebezirk wohnhaft. Mein Großvater erzählte von vielen Wohnungswechseln in seinem ersten Lebensjahrzehnt,

176 Michael John, Der lange Atem der Migration. Die tschechische Zuwanderung nach Wien im 19. und 20. Jahrhundert. in: Regina Wonisch (Hg.), Tschechen in Wien .Zwischen nationaler Selbstbehauptung und Assimilation, Wien 2010, 31- 60. 177 Victor Adler, Die Lage der Ziegelarbeiter. in: Friedrich G. Kürbisch (Hg.), Der Arbeitsmann, er stirbt, verdirbt, wann steht er auf? Sozialreportagen 1880 bis 1918, Berlin-Bonn 1982, 45-49. 79 da Familien mit 6 Kindern nicht gerne als Mieter gesehen wurden und sofort nach dem Einzug wieder die Kündigung erfolgte. Nach dem 1. Weltkrieg kann man bezogen auf die Wohnungswechsel eine Änderung feststellen, da eine dauerhafte Wohnung im 21. Wiener Gemeindebezirk gefunden wurde. Im Jahr 1921 ist die Familie in der Schen- kendorfgasse 28/3 im 21. Wiener Gemeindebezirk nachzuweisen. Wahrscheinlich wa- ren die beiden älteren Kinder zu dieser Zeit nicht mehr bei den Eltern wohnhaft. Diese Wohnung wurde über den Tod von Alois und Franziska Bystricky hinaus bis nach dem 2. Weltkrieg von meinem Großvater bewohnt. Hier im 21. Bezirk besuchte mein Großvater auch eine Privatbürgerschule des Schulvereins Komensky in der Deubler- gasse Nr. 19 und beendete dort 1927 die Schulpflicht. Im Jahr 1921 wurde wie bei der Familie Trachtulec die Frage der Staatsbürgerschaft für die Familie relevant. Alois Bystricky wurde zwar als österreichischer Staatsangehö- riger geführt, hätte diese aber verloren und optierte nach Artikel bzw. Paragraph 78 des Vertrages von St. Germain en Laye für die tschechoslowakische Staatsbürger- schaft.178 Somit wurden im Jahr 1921 Alois Bystricky, seine Frau Franziska und die vier minderjährigen Kinder, unter ihnen auch mein Großvater, Jaroslav Bystricky geb. 1913, tschechische Staatsbürger mit dem Heimatrecht in der Gemeinde Stahlavy im Bezirk Pilsen.179 Die beiden älteren Kinder wurden wahrscheinlich durch gesonderte Verfahren tschechische Staatsbürger, doch gibt es hierfür keine schriftlichen Belege. Mit der Option für die Tschechische Republik hätte die Familie eigentlich binnen Jah- resfrist in die Tschechoslowakei umsiedeln müssen. So ist es an sich im Vertrag von Saint Germain für Optanten verfügt.180 Faktisch blieben aber alle Familienmitglieder in Wien. Alois Bystricky wollte zwar laut der Erzählung meines Großvaters nach Tschechi- en zurück, da er es als seine Heimat betrachtete. Er dürfte in der Spätphase der k. u. k. Monarchie ein tschechisches Nationalbewusstsein entwickelt haben, worauf auch die Erzählungen meines Großvaters hindeuteten. Zu einer Rückwanderung nach Tschechi- en kam es aber nie und er starb am 27. 7. 1943 in Wien ebenso wie seine Frau Fran- ziska, welche am 10. 1. 1944 gestorben ist, beide sind auch hier begraben.181 Keines der Kinder zog in die Tschechoslowakische Republik, alle blieben und starben in Wien. Auch wurden alle spätestens nach dem 2. Weltkrieg österreichische Staatsbürger. Und es war auch besser, nicht in die Tschechoslowakei zurückzukehren, da die, die es nach dem 2. Weltkrieg getan haben, meist enttäuscht wurden, da die besseren Arbeitsplät- ze mit den Einheimischen (Tschechen) besetzt waren. Beide Familien haben einige Ähnlichkeiten, bezüglich ihrer Geschichte bzw. ihrer Her-

178 Der Vertrag von St. Germain, Wien 1919, Artikel 78. 179 Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky. 180 Der Vertrag von St. Germain, Wien 1919, 52-56. 181 Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky. 80 kunft, aufzuweisen. Beide Familien kamen aus wirtschaftlichen Gründen nach Wien, sie stammten aus dem böhmisch-mährischen Raum, waren der tschechischen Volksgruppe zugehörig und gehörten den ärmeren Schichten der Bevölkerung an. Die Familienväter waren einfache Arbeiter bzw. Hilfsarbeiter, beide Familien hatten ihren ersten Lebensmittelpunkt im 20. Bezirk und die Kinder besuchten in den 1920er Jah- ren die tschechischen Komenskyschulen. Aber in einem zentralen Punkt unterschieden sich die Familien bzw. die Familienväter (siehe Abbildung 1 und 2): nämlich im Be- kenntnis zu Österreich bei Johann Trachtulec und im Bekenntnis zur Tschechischen Re- publik bei Alois Bystricky. Wie schon vorher angesprochen ist bei Johann Trachtulec nicht mehr zu ergründen, warum er sich so früh zu Österreich bekennen wollte, bei Alois Bystricky ist seine tschechische Überzeugung überliefert.

Abbildung 1: Johann Trachtulec als Abbildung 2: Alois Bystricky um Soldat im Ersten Weltkrieg. 1930.

Quelle: Aus dem Nachlass von Maria Bonifazi (geb. Trachtulec). Quelle: Aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky.

Obwohl auch innerhalb der Familie Bystricky seine Überzeugung für den tschechischen Staat nicht unbedingt geteilt wurde. Ein nicht zu vernachlässigender Punkt ist die Fa- miliengröße. Die Familie Trachtulec bestand aus vier Personen, die Familie Bystricky aus acht Personen, es war daher für die Familie Bystricky ungleich schwerer, das Über- leben zu sichern, besonders in der Frühphase, wo noch sechs Kinder zu versorgen wa- ren. 81

3 Biographie Maria Katharina Trachtulec/Schagginger/Bonifazi 1912- 1998: Wienerin – Tschechin – Österreicherin – Deutsche – Österreicherin

3.1 Jugendzeit bis zur 1. Eheschließung

Maria Katharina Trachtulec wurde am 21. 4. 1912 im 20. Wiener Gemeindebezirk, Mel- demannstraße 15 geboren. Am 23. 4. 1912 wurde sie in der Pfarre Allerheiligen eben- falls im 20. Bezirk römisch-katholisch getauft. (Bezüglich ihrer Eltern siehe Kapitel 2.0 Herkunft der Familie Trachtulec.) Die Schulpflicht beendete sie ihm Jahre 1926 mit der dritten Klasse der Privatbürgerschule des Schulvereins Komensky in der Pöchlarnstra- ße 12 im 20. Bezirk. Am 7. 4. 1927 wurde sie als Küchengehilfin im Wiener Rathaus- keller (Otto Kaserer Gastronomiebetriebe) eingestellt. Beruflich gesehen verblieb sie dort bis zum 17. 8. 1952 und stieg zur Köchin auf. Gleichzeitig mit ihrem Dienstantritt trat sie auch in die Gewerkschaft ein. Sie blieb nominell über fünfzig Jahre Gewerk- schaftsmitglied und im Jahr 1977 wurde ihr die Verleihung der Medaille für die 50jähri- ge Mitgliedschaft angekündigt. Im Jahr 1932 bekam auch sie als minderjährige „eheli- che“ Tochter des Johann Trachtulec die österreichische Staatsbürgerschaft. Sie nutzte den damit verbundenen Reisepass zu einer Reise in die Tschechoslowakische Republik im Juli 1932. Auch später sind zumindest briefliche Kontakte mit Bekannten bzw. Ver- wandten in der Tschechoslowakei belegt. In der Zeit zwischen 1934 und 1936 muss sie auch ihren ersten Ehemann, Emil Schagginger, kennengelernt haben, wahrscheinlich dadurch, dass auch dieser zwi- schen 1933 und 1934 für die Otto Kaserer Gastronomiebetriebe gearbeitet hat. Bei seinem Tod im Mai 1939 war er wieder Mitarbeiter bei Otto Kaserer. Im Juni 1936 ist jedenfalls ein erster gemeinsamer Urlaub in Lunz am See belegt. Am 10. 7. 1937 erfolgte die Trauung von Emil Schagginger und Maria Katharina Trach- tulec in der Pfarre „Zu allen Heiligen“ Zwischenbrücken, Allerheiligenplatz 5 Wien 20. Bezirk. Bis zu ihrer Vermählung lebte Maria Trachtulec, jetzt Maria Schagginger, bei ih- ren Eltern in der Salzachstraße 17/32 auch ihr Ehemann hat bis zu seiner Eheschlie- ßung bei seiner Mutter im 21. Bezirk gelebt. Emil Schagginger, welcher am 3. 5. 1912 in Wien geboren wurde, war gelernter Fleischhauer und für die frühen 1930er Jahre sind schnell wechselnde Arbeitsstellen in der Gastronomie nachweisbar. Wann und aus welchen Gründen er eine nationalsozialistische Gesinnung entwickelte, ist nicht mehr zu klären. Auf jeden Fall war er schon vor dem „Anschluss“ Österreichs ein illegaler Nationalsozialist und erhielt nach dem Anschluss die Mitgliedsnummer 6.133.778. Die- se Nummer lag in dem Bereich der für illegale Nationalsozialisten aus Österreich re- 82 serviert worden war.182 Er war also schon vor dem Anschluss Mitglied der NSDAP und während der Zeit der Illegalität nicht abtrünnig geworden. Er erhielt wie alle anderen illegalen Nazis das Eintrittsdatum 1. 5. 1938 rückwirkend, da die NS-Verwaltung 1938 mit der Flut an Mitgliedschaftsanträgen überlastet war. Dieses Eintrittsdatum erhielten alle illegalen Nazis aus Österreich pauschal, egal, wann sie den Antrag gestellt hat- ten.183 Auf die alte Mitgliederkartei der früheren NSDAP in Österreich konnte man sich nicht stützen, da durch die Zeit der Illegalität der Hauptteil verloren gegangen war. Emil Schagginger war also überzeugter Nationalsozialist, der nicht durch Opportunis- mus sondern aus Überzeugung Mitglied geworden war. Laut den erhaltenen Briefen hat es sich bei seiner Heirat mit Maria K. Trachtulec um eine Liebesheirat gehandelt und auch die nationalsozialistische Gesinnung Emil Schag- gingers dürfte in der Ehe keine Rolle gespielt haben bzw. von seiner Frau akzeptiert worden sein. Inwieweit seine Gesinnung durch seine Frau mitgetragen wurde, ist nicht mehr mit Sicherheit festzustellen. Ich gehe aber nicht davon aus, dass sie mit dem NS-System aus Eigenantrieb sympa- thisierte. Im persönlichen Umgang mit ihr war nie das geringste Anzeichen von Antise- mitismus oder als Folgeerscheinung von Ausländerfeindlichkeit zu erkennen. Eher im Gegenteil: Sie kümmerte sich sogar um Arbeitsimmigranten aus Polen. Ich war selbst sehr überrascht von der NSDAP – Mitgliedschaft ihres ersten Mannes, da in ihren Er- zählungen, noch über fünfzig Jahre nach dem Tod Emil Schaggingers, eine gewisse Verklärung seiner Person erfolgte, kann dies aber, so glaube ich, durch die erste große Liebe und den frühen Tod ihres Mannes erklären. Durch seinen Unfalltod wurde auch ihre Lebensplanung zerstört und ihr gesamtes Leben wäre wahrscheinlich anders ver- laufen, jedoch hätte Emil Schagginger den gesamten 2. Weltkrieg als Soldat durchma- chen müssen. Nach der Eheschließung bezogen sie eine Wohnung im 8. Bezirk, Koch- gasse 6/5. Am Tag der Eheschließung traten sie eine neuntägige Hochzeitsreise in das Königreich Jugoslawien an.

3.2 Der Anschluss Österreichs und die NSDAP-Mitgliederreise

Kurz nach dem Anschluss Österreichs 1938 nahm Emil Schagginger an einer Propa- gandareise der NSDAP ins Deutsche Reich teil. Von dieser Reise liegen vier Postkarten und ein längerer Brief vor.184 Ich gebe diese Schriftstücke hier vollständig und unge-

182 Gerhard Botz, Expansion und Entwicklungskrisen der NSDAP Mitgliedschaft. Von der sozialen Dynamik zur bürokratischen Selbststeuerung? (1933-1945), in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Beruf(ung) Archivar, Festschrift für Lorenz Mikoletzky, Teil II, Bd. 55, 2011, 1161 – 1186. 183 Karteikarte der Mitgliederkartei der NSDAP, Mikrofiche am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Rolle: A3340 – MFOK TO 14. 184 Aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 83 kürzt wieder, da sie einen direkten Einblick in Emil Schaggingers Gedankenwelt eröffnen und auf Motive für seine Begeisterung für den Nationalsozialismus schließen lassen. Die Gründe für sein Engagement bei der NSDAP dürften vorwiegend wirt- schaftlicher Natur gewesen sein und weniger ideologisch motiviert. Die Ideologie dürf- te für ihn zwar nicht das Hauptmotiv gewesen sein, wurde aber vollständig mitgetra- gen. Die Beschreibung seiner Reise spricht von Begeisterung, aber auch von einer ge- wissen Naivität und zeigt auch, dass es eine wohlwollende Akzeptanz seines Engage- ments durch seine Frau gegeben hat. Den Begriff Naivität meine ich aber nicht in dem Sinne, dass er die Tragweite des Nationalsozialismus nicht verstehen konnte, da ich nämlich etliche Anhaltspunkte habe, die auf einen aufgeweckten, intelligenten, aber unsteten und unzufriedenen Charakter hindeuten. Charakterisieren würde ich ihn fast als unzufriedenen Sozialdemokraten, der sich nach der Niederlage der Sozialdemokra- tie in Österreich 1934 der NSDAP zugewendet hat. Belege dafür gibt es zwar keine, aber irgendwie erwecken seine Briefe diesen Eindruck. Auf seiner Deutschlandreise nahm er auch an einer Führerkundgebung teil. war zu dieser Zeit auf einer Wahlkampfreise durch das Deutsche Reich und Österreich, um für die Abstimmung über den Anschluss Österreichs zu werben 185. Am 10. April 1938 wurden in Österreich und dem Deutschen Reich Volksabstimmungen über den Anschluss bzw. über die Aufnahme und Vereinigung von Österreich mit dem Deut- schen Reich abgehalten186. Sowohl in Österreich als auch im Deutschen Reich wurde eine Zustimmung von über 99% erreicht.

Postkarte 24. 3. 1938187 „Emil Schagginger an Maria Schagginger aus Plauen im Vogtland. Die herzlichs- ten Grüße von der herrlichen Stadt Plauen wo uns von der Bevölkerung ein ju- belnder Empfang bereitet wurde, grüßt dich herzlichst Dein Emil.“

Postkarte 26. 3. 1938188 „Emil Schagginger an Maria Schagginger aus Leipzig. Viele Herzliche Grüße und Küsse aus dem wunderschönen Leipzig sendet Dir Dein Emil. Die Leute hier sind die wundervollsten Gastgeber die man sich denken kann, man kommt sich vor wie im Märchenland. Gruß und Kuss Emil.“

Postkarte 27. 3. 1938189 „Emil Schagginger an Maria Schagginger aus Dresden. Meine herzlichsten Grüße und Küsse aus Dresden sendet Dir Dein Emil. Wir machen jetzt eine Dampfer-

185 Ian Kerschaw, Hitler 1889-1945, Deutsche Ausgabe 2008, 449. 186 Irene Brandhauer-Schöffmann, 1938. Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und NS-Herrschaft. in: Martin Scheutz, Arno Strohmeiyer (Hg.), Von Lier nach Brüssel: Schlüsseljahre österreichischer Geschichte (1496-1995), Wien 2010, 273-303. 187 Postkarte 24. 3. 1938, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 188 Postkarte 26. 3. 1938, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 189 Postkarte 27. 3. 1938, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 84

fahrt auf der Elbe.“

Brief 28. 3. 1938190 „Emil Schagginger an Maria Schagginger aus Leipzig. Liebes Mitzerl! Nun komm ich doch einmal dazu Dir ein bisschen ausführlicher zu schreiben, wir kommen gerade von einer Fabriksbesichtigung, dass war etwas was man sich gar nicht vorstellen kann da gibt’s zum Beispiel eine Küche einen Speiseraum für 2000 Arbeiter, Bäder, Garderoben, Unfallstation, Sportanlagen aller Art, Musikkapellen alles nur erdenkliche für einen Arbeiter. Am Sonntag waren wir in Dresden ha- ben auch eine Dampferfahrt auf der Elbe gemacht, es war ein wundervoller Tag, ewig Schade das Du da nicht dabei sein konntest. Samstag haben wir endlich geschlafen bis Mittag sogar. Nachmittag und abends war große Führerkundge- bung, abends sprach der Führer in der Ausstellungshalle vor 25.000 Zuhörern. Am Freitag haben wir einen Österreicher getroffen aus Neunkirchen der hat uns am Nachmittag mit seinem Auto herum geführt und uns fürstlich bewirtet. Am Donnerstag sind wir in Leipzig angekommen haben beim Nachtmahl die Be- kanntschaft von hohen Funktionären der Stadt gemacht die uns natürlich alles gezeigt haben, die haben uns natürlich ebenso bewirtet wie alle anderen. Und heute liebe Mitzi haben wir hier eine Abschiedsfeier und morgen geht es weiter nach Hamburg, wann wir dann nach Hause kommen weiß ich jetzt noch nicht aber ich schreibe Dir schon noch. Nun meine herzlichsten Grüße und Küsse von Deinen Dich ewig liebenden Emil.“

Postkarte 30. 3. 1938191 „Emil Schagginger an Maria Schagginger aus Hamburg. Herzlichste Gruße sen- det Dir Dein Emil“

Für den Zeitraum von April 1938 bis zum Februar 1939 liegen kaum Belege vor. Beide haben in dieser Zeit für die Otto Kaserer Gastronomiebetriebe gearbeitet. Eine Rech- nung zeigt, dass sie Material für die Adaptierung ihrer Küche gekauft haben. Wie es in dieser Zeit um das politische Engagement von Emil Schagginger bestellt war, ist nicht überliefert. Auch nicht wie seine Einstellung zu den Novemberpogromen 1938 war, oder ob er daran in irgendeiner Form beteiligt gewesen ist und sich schuldig gemacht hat. Ich gehe zwar nicht von einer Beteiligung aus, kann sie aber auch nicht ausschlie- ßen.

3.3 Wehrdienst / Grundausbildung bei der Fliegerabwehr in Baden bei Wien

Ende Jänner bzw. Anfang Februar 1939 wurde Emil Schagginger zur Grundausbildung bei der Wehrmacht (siehe Abbildung 3) eingezogen, auch davon existieren einige Brie- fe an seine Ehefrau.192 Der hauptsächliche Inhalt besteht aus alltäglicher Kommunika- tion zwischen Eheleuten bezüglich Trennungsschmerz, Ausgang aus der Kaserne und

190 Brief 28. 3. 1938, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 191 Postkarte 28. 3. 1938, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 192 Dokumente, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 85 dem allgemeinen Dienstbetrieb. Im Gegensatz zu seiner nationalsozialistischen Gesinnung ist Emil Schagginger nicht gerade begeistert vom Dienst bei der Wehrmacht und er schreibt, „dass ihm der Verein zum Hals raus hängt und dass er froh ist wenn Schluss mit dem Verein ist und er seinen Wehrdienst beendet hat“.193

Abbildung 3: Emil Schagginger bei der Wehrmacht (Schachspieler, rechts).

Quelle: Aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.

Während der Beseitigung der „Resttschechoslowakei“ und der Errichtung des Protekto- rates Böhmen-Mähren im März 1939 wurde Emil Schaggingers Einheit von Baden nach Wien-Kagran als Reserve verlegt auch; hiervon existieren zwei schriftliche Zeugnisse, die ich hier ungekürzt wiedergebe.

15. 3. 1939 Postkarte aus Wien – Kagran Emil Schagginger an Maria Schagginger:194 „Liebe Mitzi! Habe keine Sorge um mich, bin hier in Kagran nur als Reserve, es ist gar nicht so schlimm, glaube nicht an andere was Sie Dir erzählen, glaube das ich höchstwahrscheinlich Sonntag wieder bei Dir bin. Bis dahin sei mir recht herzlich gegrüßt und geküsst von Deinem Emil“

17. 3. 1939 Brief aus Wien – Kagran Emil Schagginger an Maria Schagginger:195 „Liebes Mitzerl! Liebe Mitzi sei mir herzlichst gegrüßt und geküsst. Hast Du die Karte die ich Dir geschrieben habe erhalten. Liebe Mitzi mir geht es sehr gut,

193 Brief 7. 2. 1939, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 194 Postkarte 15. 3. 1939, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 195 Brief 17. 3. 1939, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 86

wir sind alle hier in Kagran in Bereitschaft, brauchen natürlich keinen Dienst machen, sitzen den ganzen Tag in einen sehr gut geheizten Zimmer bei Radio Musik und vertreiben uns die Zeit mit allerlei Allotrio, hinaus in die Kälte gehen wir nur wenn wir auf das Klosett gehen oder Waschen oder Mittagessen gehen, das Abendessen bekommen wir aufs Zimmer dabei sei beruhigt, dass für reichli- che Verpflegung vorgesorgt ist also wir in keiner Weise Schaden nehmen kön- nen. Liebe Mitzi lasse Dir von niemanden etwas erzählen über irgend etwas kriegeri- sches was in Zusammenhang mit der Tschechei sein könnte, das sind lauter Ge- rüchte und kein Wort wahr daran lasse Dich nicht durch unnötiges Zeug beunru- higen, du kannst wieder ruhig schlafen, ich bin höchstwahrscheinlich Samstag wieder bei Dir. Liebe Mitzi sollte ich wieder erwarten nicht kommen so sei nicht bange es hängt nämlich ganz davon ab ob die Abteilung zurück kommt nach Kagran. Weist Du das ist so, die hier ständig in der Kaserne waren in Kagran die sind irgendwohin gekommen und wir müssen nun auf die Kaserne aufpassen um sie vor feindli- chen Angriffen zu schützen, soeben erhalten wir die Nachricht das wir alles zu- sammen packen sollen und uns zur Abfahrt bereit machen sollen weil die Stammtruppe zurück kommt also ist alles in bester Ordnung wir fahren wieder nach Baden und ich bin Samstag wieder bei Dir. Der („Krieg“) ist beendet der Friede sei mit uns Liebe Mitzi ich Grüße und Küsse Dich viel Tausendmal und bliebe immer Dein Dich Ewig liebender Emil.“

Diese beiden Schriftstücke sind in soweit interessant, als sie zeigen, dass Maria Schagginger sich offenbar Sorgen machte, dass es einen Krieg mit Tschechien geben könnte. Da ihre Familie noch immer enge Beziehungen zu Verwandten in der früheren Heimat hatte, ist dies nur zu verständlich. Auch die Sorge um ihren Mann wird mitge- spielt haben, da er wahrscheinlich auch bald zum Einsatz gekommen wäre. Seine Be- schwichtigungsversuche, alle Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg seien Unsinn und andererseits die Aussage sie wären dazu eingeteilt, die Kaserne vor feindlichen Angriffen zu schützen, ist etwas befremdlich. Denn wenn man mit keinem Krieg rech- nete, warum sollte man dann die Kaserne von Reserveeinheiten vor feindlichen Angrif- fen schützen und die Stammtruppe wahrscheinlich zur Grenze ausrücken lassen. Heu- te wissen wir natürlich wie die Sache ausgegangen ist, der Rest Tschechiens wurde zum Protektorat Böhmen-Mähren, die tschechische Armee hat keinen Wiederstand ge- leistet und die Westmächte haben Adolf Hitler ein letztes Mal gewähren lassen. 196 Man kann auch davon ausgehen, dass durch dieses Nichteingreifen der Westmächte bei der NS-Führung die Überzeugung entstanden ist, dass es einige Monate später bei Polen ebenso sein würde. Jedoch stellte sich diese Annahme als Irrtum heraus. Für Emil Schagginger endete jedenfalls sein Grundwehrdienst Ende April 1939 und er musste nicht mehr zur Wehrmacht einrücken, da er am 10. 5. 1939 bei einem tragischen Un- fall ums Leben kam.197 Er war zusammen mit seiner Frau mit dem Motorrad unterwegs

196 Jörg K. Hoensch, Geschichte Böhmens. Von der slawischen Landnahme bis zur Gegenwart, 3. Auflage, München 1997, 433. 197 Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 87 und es kam zu einer Kollision mit einem Lastkraftwagen. Er wurde dabei so unglück- lich vom Motorrad geschleudert, dass sein Kopf vom Reifen des Lastkraftwagens zer- malmt wurde. Seine mitfahrende Frau blieb unverletzt und erlitt einen schweren Schock. Der schuldi- ge LKW-Fahrer flüchtete und wurde am Abend erhängt in seiner Garage aufgefun- den.198 Am 19. 5. 1939 wurde der Parteigenosse Emil Schagginger, Küchenfleischhauer in der O.K.-Gaststätte, am Stammersdorfer Zentralfriedhof in Wien/Floridsdorf beer- digt.199 Maria Schagginger war somit mit 27 Jahren Witwe geworden. Sie gab die Ehewohnung in der Kochgasse auf und zog in die Nähe ihrer Eltern in die Salzachstraße 17/30a, wahrscheinlich bezog sie nur ein Kabinett.200 Sie erhielt von der Versicherungsgesell- schaft des Unfallverursachers 2.200.- Reichsmark Entschädigung, auch wurden die Kosten für die Motorradbergung von 168.- Reichsmark übernommen. 201 Ein Möbelkauf vom Möbelhaus Ostmark im Juli 1940 wir damit im Zusammenhang stehen. Teilweise existieren die Möbel heute noch und befinden sich in ihrem ehemaligen Haus in Klos- terneuburg. Auch investierte sie 858.- Reichsmark in die Grabausstattung. Das Grab besteht bis heute und ist mit einer gebückten Frauenfigur versehen. Das nur leicht be- schädigte Motorrad verkaufte sie 1940 für 185.- Reichsmark an die Gauwerke Nieder- donau. Sie dürfte aufgrund des Schocks und der Trauer um ihren Mann einige Zeit ar- beitsunfähig gewesen sein und ihren sonstigen Verpflichtungen nur eingeschränkt nachgekommen sein. Beruflich gesehen arbeitete sie nach ihrer Genesung bzw. ihres Krankenurlaubes weiterhin im Wiener Rathauskeller.

3.4 Der Zweite Weltkrieg

Für die Zeit des Zweiten Weltkrieges liegen einige Briefe und Postkarten vor. Teilweise erhält sie noch im Herbst 1939 Kondolenzbriefe zum Tod ihres Mannes. Danach waren die meisten Briefe von ihrer Freundin, Viktoria S. (vollständiger Name dem Verfasser bekannt), welche in Wien eine Wohnung hatte und verheiratet war, sich aber offenbar hauptsächlich bei ihrem Bruder, der eine Landwirtschaft in Schiltern bei Seebenstein betrieb, aufhielt. Der erste Brief ist vom 18. 6. 1940.202 Sie schreibt über den Gesund- heitszustand der Kinder, die schweren Hagelunwetter und die Pferde, die bei der Mus- terung durchgefallen sind. Sie schreibt auch, dass sie eine Verständigung vom Ar- beitsamt bekommen hat und wieder arbeiten muss, aber nicht in die Pulverfabrik ge-

198 Zeitungsausschnitt, Illustrierte Kronen Zeitung, Donnerstag 11. 5. 1939, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 199 Parteizettel, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 200 Brief 18. 6. 1940, aus dem Nachlass von Maria Bonifaz. 201 Vollständige Korrespondenz mit Rechtsanwalt, sowie Rechnungen, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 202 Brief 18. 6. 1940, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 88 hen möchte. In einem Absatz beschwert sie sich über einen Zwangsarbeiter aus Polen. Viktoria S. schrieb da: „Der Loisl hat jetzt auch recht viel Arbeit und dabei nur einen Pollaken zur Hilfe der hat aber überhaupt keinen Willen zur Arbeit gehabt der hat im Anfang mit dem Essen und mit der Arbeit gestreikt aber jetzt geht’s schon wenigstens ein bisschen.“

Die Einstellung gegenüber dem polnischen Zwangsarbeiter ist eigenartig, denn offen- bar fand sie nichts Befremdliches daran, dass jemand zwangsweise bei ihrem Bruder arbeiten musste. Es bestand nur Eigeninteresse und kein Einfühlungsvermögen für fremde Personen. Ein Grund dafür wird wahrscheinlich die nationalsozialistische Propa- ganda gegenüber Polen gewesen sein. Auch die Differenzierung zwischen Polen und Tschechen ist interessant, da die gebürtige Tschechin Maria Schagginger ihre beste Freundin war, andererseits Polen abwertend betrachtet wurden. Zwischen diesem ers- ten Brief von Viktoria S. und den anderen erhaltenen Briefen lagen vier Jahre die an- deren beiden sind aus dem Sommer 1944. Der Obergefreite Felix Dworschak hat sich höchstwahrscheinlich an der Ostfront be- funden, leider ist der Ort auf der Feldpostkarte nicht zu entziffern. Maria Schagginger dürfte mit ihm bzw. seiner Familie näher bekannt gewesen sein. Eine Familie Dwor- schak aus Bisamberg, damals 21. Wiener Gemeindebezirk, heute Niederösterreich kondoliert 1939 zum Tod von Maria Schaggingers Ehemann. Im Nachlass existiert auch das Foto eines Obergefreiten, ob es sich dabei um Felix Dworschak gehandelt hat, ist nicht zur belegen, aber sehr wahrscheinlich. Weitere Nachrichten von ihm sind nicht vorhanden, auch am Kriegerdenkmal in der Gemeinde Bisamberg ist er nicht zu finden. Feldpostkarte vom Obergefreiten Felix Dworschak 5. 3. 1942 an Maria Schagginger:203 „Der Obergefreite Dworschak bedankt sich bei Maria Schagginger für die Grüße die sie ihm durch seine Mutter übermittelte. Er schreibt weiters, dass er noch am selben Ort ist und während der Einsatzzeit viel erlebt hat. Doch darüber will er ihr lieber erst im Urlaub erzählen, auch erwähnt er, dass es noch minus 25 Grad Kälte hat und der Vorfrühling noch auf sich warten lässt. Im vorigen Monat hat der das Eiserne Kreuz 2. Klasse bekommen und er hofft, dass das nächste Kreuz nicht aus Holz sondern wieder aus Eisen sein wird.“

Es ist nicht zu belegen, was aus dem Obergefreiten geworden ist, und ob er die drei folgenden Kriegsjahre überlebt hat, ist nicht zu ermitteln, da auch keine persönlichen Daten für seine Person vorliegen. Wenn man sich seinen Nachnamen anschaut, so hat auch er wohl tschechische Wurzeln gehabt. Aber wahrscheinlich hatte er nicht die Wahl, ob er in den Krieg ziehen wollte oder nicht, da die Tschechen mit ehemals öster- reichischer Staatsbürgerschaft zur Wehrmacht einrücken mussten.204 Mein Großvater

203 Feldpostkarte 5. März 1942, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 204 Vgl. Karl Brousek, Die falschen Behm – Vom Widerstand der Wiener Tschechen. in: Regina Wonisch (Hg.), 89 und seine Brüder hatten hingegen das Glück, wählen zu können, da sie tschechische Staatsbürger geworden waren. Viele andere Wiener Tschechen haben sich aber auch freiwillig nach dem Anschluss für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden und viele von ihnen sind schon im Polen- und Frankreichfeldzug gefallen.205

3.5 Verbindungen in die Tschechoslowakei

Maria Schagginger hatte auch zur Zeit des 2. Weltkrieges noch immer Kontakt zu Ver- wandten in Tschechien. Zu Weihnachten 1942 erhielt sie eine Postkarte206 mit Weih- nachtsgrüßen aus Bisenz in Mähren. Bisenz in Mähren war der Sitz der für die Ort- schaft Pisek in Mähren zuständigen Pfarre. Ihr Vater wurde dort getauft. Man sieht also, dass die Verbindung in die ehemalige Heimat nicht abgerissen ist. Die Karte ist in tschechischer Sprache, der Schreiber wusste also, dass die tschechische Sprache in der Familie Trachtulec noch immer verstanden wurde. Auch späterhin ist in der Familie noch Tschechisch gesprochen worden. Auch gibt es aus der Nachkriegszeit einige Schriftstücke in tschechischer Sprache und es erfolgten einige Reisen in die Tschechoslowakei. Die Beziehungen blieben zumindest bis in die 1970er Jahre bestehen.

3.6 Wehrmachtshelferin

Anscheinend war Maria Schagginger kurzfristig als Wehrmachtshelferin eingesetzt, je- doch existieren als Belege dafür nur zwei Fotos in Wehrmachtsuniform mit ihrer Mutter und ihrer Schwester (siehe Abbildung 4).207 Ich gehe davon aus, dass sie nur sehr kurzfristig als Wehrmachtshelferin tätig war bzw. nur zur Grundausbildung einberufen wurde, da durch Arbeitspapiere und Briefe ihr Aufenthalt für die gesamte Kriegszeit in Wien bei ihrer Arbeitsstelle im Rathauskeller belegt ist. Anfragen bezüglich ihrer Tätig- keit als Wehrmachtshelferin blieben ergebnislos. Da ihr Aufenthalt in Wien und die Ar- beit als Köchin während der Kriegszeit belegt ist, ist es auch nicht so wichtig, wo und wie lange sie für diesen Dienst verpflichtet war. Vielmehr ist das Foto als Dokument für die Beziehung zum NS-System interessant. Es dürfte also von ihr und auch von ihrer Mutter und Schwester durchaus ein gewisses wohlwollen für den NS-Staat bestanden haben.

Tschechen in Wien. Zwischen nationaler Selbstbehauptung und Assimilation, Wien 2010, 129-154. 205 ebd. 206 Postkarte 23. Dezember 1942, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 207 Undatiertes Foto, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 90

Abbildung 4: Maria Schagginger geb. Trachtulec in Wehrmachtsuniform mit ihrer Schwester Emilie.

Quelle: Aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.

Briefe vom 14. 6. und 22. 8. 1944 von Viktoria S. aus Schiltern: 208 In den beiden Brie- fen berichtet sie von einem Kurzurlaub ihres Mannes, der als Soldat bei der Wehr- macht war. Weiters macht sie sich Sorgen um Maria Schaggingers Gesundheit und be- schwert sich über die Probleme mit dem Posttransport per Bahn. In dem Brief vom Au- gust macht sie sich Sorgen wegen der Großangriffe der alliierten Bombergeschwader auf Wien und um ihre Wohnung beim Matzleinsdorfer Frachtenbahnhof. Sie hofft auch, dass die Angriffe für Maria Schagginger gut vorüber gegangen sind. In der Tat wurde auch das Haus Salzachstraße 17 im August 1944 schwer von Bomben getroffen. Maria Schagginger und ihre Eltern waren davon betroffen. Nach weiteren Angriffen mussten sie das Haus in der Salzachstraße 17 verlassen und fanden Obdach als Untermieter in der Wohnung von Viktoria S. in der Reinprechtsdorferstraße im 5. Bezirk.209

3.7 Kriegsende und Nachkriegszeit

Ob Maria Schagginger mit ihren Eltern in die Reinprechtsdorferstraße gezogen ist, kann nicht belegt werden. Kurz nach Kriegsende wurde ihr eine Wohnung in der Simon Denkgasse 2 im 9. Wiener Gemeindebezirk vom Quartiermeisteramt zugewiesen. Sie blieb von 1945 bis 1998 Mieterin dieser Wohnung. Das Kriegsende brachte für sie zu- erst keine Phase des Aufbruchs. Sie blieb bei ihrer alten Arbeitsstelle bis 1952 und ar-

208 Briefe 14. 6. und 22. 8. 1944, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 209 Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 91 beitete danach nach einem kurzen Zwischenspiel im Restaurant Falstaff bis zu ihrer Pensionierung im Jahre 1967. Anfang der 1950er Jahre lernte sie ihren zweiten Ehe- mann, den Bundesbahnassistenten Karl Bonifazi, kennen. Dieser Karl Bonifazi war der Onkel meiner Großmutter Marianne Bystricky geb. Bonifazi. Erst da kam es zu einer weitschichtigen familiären Verbindung. Maria Schagginger, jetzt Bonifazi, begann mit ihrem Ehemann in den 1950er Jahren ein Haus zu bauen. Nach dem Tod ihres 2. Ehe- mannes 1972 lebte sie als Pensionistin in Wien, Nieder- und Oberösterreich. Haupt- sächlich beschäftigte sie sich mit ihrem Haus und Garten in Klosterneuburg und unter- nahm auch einige Reisen in die Tschechoslowakei. Auch durch ihre Mutter, die bis 1985 lebte, war dieser Bezug zur Tschechoslowakei weiter gegeben, da diese noch Verwand- te bzw. Bekannte in der Tschechoslowakei hatte. Sie selbst starb im Oktober 1998. 210 Ihre zwei Jahre jüngere Schwester Emilie Windisch geb. Trachtulec starb im Juli 2010. Da beide Schwestern kinderlos blieben, ist die Familie Trachtulec erloschen.

4 Biographie Jaroslav Bystricky 1913-1998: Wiener – Tscheche – Österreicher

4.1 Kindheit und Jugend

Mein Großvater, Jaroslav Bystricky, wurde am 4. 8. 1913 in der Klosterneuburgerstra- ße 91 im 20. Wiener Gemeindebezirk geboren. (Bezüglich familiären Hintergrund siehe Kapitel 1.0, Herkunft und sozialer Hintergrund der Familie Bystricky.) Für seine Jugend und die Zeit bis zum 2. Weltkrieg sind die Quellen für das Leben meines Großvaters spärlich. Ein Zeugnis der privaten Komenskyschule Wien 21 Deublergasse 19 zeigt, dass er wie Maria Trachtulec eine tschechische Schule besucht hat und 1927 die Schul- pflicht beendete. Im Gegensatz zu Maria Trachtulec wurde er 1921 tschechischer Staatsbürger.211 In die 1920er Jahre fällt auch der einzige Besuch meines Großvaters in der Tschechoslowakischen Republik. Dies war im Zuge einer Art Kinderlandverschi- ckung. Es wurde für ihn eine negative Erfahrung, da er von den Leuten herablassend behandelt wurde. Als den Kindern ein gutherziger Mann ein Paar Kronen gegeben hat- te, wurden sie von den Gastleuten wie Diebe behandelt. Dies bedeutete natürlich eine herbe Kränkung und so hatte er nie ein Interesse in die Tschechoslowakische Republik zurück zu gehen. Für ihn gab es auch kein Zurückgehen, da er ja auch nicht wegge- gangen war. In den Jahren zwischen 1927 und 1938 war er nach einer kurzzeitigen Lehre als Kunsttischler bei der Firma Conrad Sild als kaufmännischer Angestellter tä-

210 Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 211 Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky. 92 tig. Noch heute gibt es im Floridsdorfer Bezirkszentrum das Conrad Sild-Haus neben dem Floridsdorfer Amtshaus. Auch die Firma besteht in abgewandelter Form noch heute. Über die 1930er Jahre erzählte er hauptsächlich von der großen Arbeitslosigkeit und den Zeitungsberichten über Menschen, die aus Verzweiflung Selbstmord begangen haben. Auch über die Februarkämpfe 1934 berichtete er. Er erzählte über das strate- gisch nicht sehr kluge Verhalten der Feuerwehr, die unter ihrem Kommandanten, Ge- org Weissel, gegen die Polizei des „Ständestaates“ kämpfte. Die Feuerwehr fuhr mit Blaulicht Waffen holen, da aber die Polizei im Kommissariat um die Ecke war und keine Brandmeldung bekam, war sie alarmiert. Auch über die Maschinengewehre in der Tor- einfahrt des Kommissariats erzählte er. Und über die Kämpfe in der Floridsdorfer Stra- ßenbahnremise.

4.2 Der „Anschluss“

Am 15. 3. 1938 kam Adolf Hitler nach Wien und wurde von den Massen am Helden- platz gefeiert. Mein Großvater war zwar überhaupt nicht begeistert sondern skeptisch, trotzdem aber neugierig und so mischte er sich mit seinem älteren Bruder Adalbert unter die Menschenmenge und hörte die Ansprache des Führers. Er hielt von der Rede und den Absichten Hitlers nichts und drückte dies auch gegenüber seinem Bruder aus. Da aber auch einige begeisterte alte Frauen dies hörten, musste er mit seinem Bruder schnell in der Menschenmenge verschwinden, da sie ihn als vermeintlichen Gegner an- sahen und Anstalten machten, jemand von den Sicherungsleuten zu holen. Ein anderer wichtiger Punkt ist die Bruchlinie unter den sechs Geschwistern. Mein Großvater und sein Bruder Adalbert waren tschechische Staatsbürger und so wie auch der älteste Bruder, Karl, am Nachnamen als tschechisch stämmig erkennbar. Da aber zwei ihrer Schwestern mit Österreichern zusammen bzw. verheiratet waren, sahen sie sich als den Deutschen zugehörig und waren begeistert vom Nationalsozialismus. Im Nachlass einer Schwester fand sich noch in den 1960er Jahren eine Jubiläumsausgabe von Mein Kampf. Da aber mein Großvater und der älteste Bruder Karl Witze über diese Begeisterung machten, meinte eine Schwester wörtlich: „Warts nur es Behm, nach den Juden seids es dran“. So abwegig war dieser Ausspruch nicht, da ursprünglich daran gedacht war Teile der Tschechen zu germanisieren und die übrigen zu vernich- ten.212

212 Hoensch, Geschichte Böhmens, 434. 93

4.3 Keine Arbeit mehr bei Juden

Meine spätere Großmutter, Marianne Bystricky damals noch Marianne Bonifazi, war als Angehörige einer alteingesessenen Holzhändlerfamilie aus Purkersdorf bei Wien öster- reichische Staatsangehörige. Da die Firma ihrer Eltern wirtschaftliche Probleme hatte, musste sie nach 1936 als Hausmädchen arbeiten. Sie arbeitete bei einer jüdischen Fa- milie und musste nach dem Anschluss die Anstellung aufgeben, da ihr dann als deut- scher Staatsangehörigen nicht mehr erlaubt war, bei Juden zu arbeiten. Später sahen sie und mein Großvater ihre früheren Arbeitgeber die Straße waschen.

4.4 Der erste Urlaub

Ein interessanter Aspekt ist die Tatsache, dass mein Großvater mit meiner zukünftigen Großmutter die Möglichkeit hatte, in der Anfangsphase des 2. Weltkrieges Urlaub in Salzburg zu machen. Außer der Erzählung davon existiert nur ein Bild vom Salzburger Mirabellgarten. Da auf diesem Foto213 deutsche Soldaten und verwundete Offiziere zu sehen sind, ist es sehr wahrscheinlich erst nach dem „Polenfeldzug“ entstanden. Dies war für meinen Großvater die erste Urlaubsreise, vorher war er nur einmal als Ferien- kind in der Tschechoslowakischen Republik, da die Familie zu arm für Urlaubsreisen oder ähnliches war. Er berichtete auch, dass die deutschen Offiziere und Soldaten sehr freundlich waren und auch die Kontrollen im Zug korrekt abgelaufen sind.

4.5 Die Schließung des kleinen Obstgeschäfts

Die Mutter meines Großvaters, Franziska Bystricky, eröffnete im Jahr 1937 ein kleines Obstgeschäft in der Brünnerstraße 16 in Floridsdorf. Sie wollte damit eine Existenz- grundlage für meinen Großvater schaffen, da die wirtschaftlichen Verhältnisse sehr schwierig waren. Mein Großvater arbeitete dort als Verkäufer. Besonders begeistert war er darüber nicht, da sich das Geschäft auf Grund der Nähe zum neugestalteten Schlingermarkt nicht rentierte. Das Geschäft ist zwar im Lehmanns Adressverzeich- nis214 letztmalig 1941 verzeichnet, doch ist eine Schließung spätestens 1940 anzuneh- men. Mein Großvater wurde in das Floridsdorfer Amtshaus gerufen und es wurde ihm der Beschluss über die Schließung mitgeteilt. Nach seiner Erzählung versuchten ihm die Frauen von höheren NS-Amtsträgern zu helfen, da er aber tschechischer Staats- bürger war, wie seine Mutter als Inhaberin auch, musste das Geschäft geschlossen

213 Undatiertes Foto, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky. 214 Lehmanns Adressverzeichnis, 1941, Band 2, 1235. 94 werden. Es wurde ihm zwar angeboten, dass er das Geschäft behalten könne, wenn er deutscher Staatsbürger werden würde. Er lehnte dies aber ab, da er sonst zur Wehrmacht hätte einrücken müssen. Ich nehme an, dass man ihn dadurch locken wollte und das Geschäft trotzdem geschlossen worden wäre. Wenn er sich für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden hätte, wäre er wie die anderen Wiener Tschechen, die sich für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden hatten, prompt zur Wehrmacht eingezogen worden.215 Viele von ihnen sind schon am Anfang des Krieges im „Polen“- und „Frankreichfeldzug“ gefallen. Da Wehrmacht und Krieg zur Zeit der Vorsprache schon ein so wichtiges Thema waren, ist die Zeit dieser Begebenheit nach dem Überfall auf Polen und damit nach dem Beginn des 2. Weltkrieges festzumachen. Dies korrespondiert auch mit der letztmaligen Eintragung im Adressverzeichnis 1941. Ursprünglich hatte ich die Schließung schon mit 1938 angenommen, da aber die NS-Verwaltung zuerst mit den jüdischen Geschäften beschäftigt war ist ein späterer Zeitpunkt treffender. Ein weiterer Punkt ist die Sichtweise meines Großvaters bezüglich der Schließung des Geschäfts, er war nämlich froh darüber, da es nur wenig Kundschaft gab, wie schon erwähnt auf Grund der Nähe zum Schlingermarkt. Ein weiterer interessanter Aspekt ist Tatsache, dass an der Adresse Brünnerstraße 16 vier kleine Ladengeschäfte bzw. Kioske angesiedelt waren. Alle Inhaber, die noch 1936 verzeichnet sind, sind 1938 nicht mehr verzeichnet.216 Sie müssen also 1937 noch vor dem Anschluss an die 1938 verzeichneten neuen Mieter übergegangen worden sein. Im letzten Lehmanns Adressverzeichnis ist unter der Adresse nur mehr ein Geschäft, eine Fleischerei, verzeichnet. Ich gehe daher davon aus, dass das Geschäft so oder so geschlossen worden wäre vor allem im Zuge des von den Nazis betriebenen allgemeinen Strukturwandels im Einzelhandel.217 Neben und mit den Arisierungen wurde auch eine Strukturbereinigung im Einzelhandel durch- geführt bzw. Österreich entkrämert.

4.6 Keine Einberufung zur Wehrmacht aber Arbeitszwangsverpflichtung

Mein Großvater wurde als Wiener Tscheche nicht zur Wehrmacht eingezogen, da es für Tschechen die Möglichkeit gab, sich vom Dienst in der Wehrmacht freistellen zu las- sen. Dazu war ein Bekenntnis zum tschechischen Volkstum notwendig, auch der Be- such einer Komenkyschule wurde als Indiz für Tschechentum anerkannt. In einigen Re- den hatte Adolf Hitler bekräftigt, dass Tschechen nicht zur Deutschen Wehrmacht ein-

215 Karl Brousek, Die falschen Behm. Vom Widerstand der Wiener Tschechen, in: Regina Wonisch, Tschechen in Wien. Zwischen nationaler Selbstbehauptung und Assimilation, Wien 2010, 137. 216 Lehmanns Adressverzeichnis 1938, Band 2, 1285. 217 Peter Eigner, Handel und Konsum in Österreich im 20. Jahrhundert. Die Geschichte einer Wechselbeziehung. in: Susanne Breuss und Franz X. Eder (Hg.), Konsumieren in Österreich. 19. und 20. Jahrhundert, Querschnitte Band 21, Wien 2006, 53. 95 zurücken brauchten. Dies wurde durch den Erlass des OKW Az 12b WFA/L IIa Nr.2380/38 vom 7. 10. 1938 konkretisiert.218 Da er also nicht zur Wehrmacht eingezogen wurde galt für ihn, nach der Schließung des Obstgeschäfts, Arbeitspflicht bzw. Arbeitszwang. Im Dezember 1938 war zur Kon- trolle der Arbeiterschaft das Arbeitsbuch wieder eingeführt worden. Im nationalsozia- listischen System herrschte rigoroser Arbeitszwang. Es gab keine Freiheit der Berufs- und Arbeitsplatzwahl und man konnte durch die Arbeitsämter auch fern vom Wohnort vermittelt werden. Menschen, die sich diesem System widersetzten, drohte die Einlie- ferung in ein Arbeitserziehungslager oder in ein Konzentrationslager, da sie als arbeits- scheu angesehen wurden.219 Daher wurde auch meinem Großvater eine Arbeitsstelle in der Brotfabrik Peller zuge- wiesen.220 Diese Firma befand sich in der Angererstraße 18 in Wien-Floridsdorf, also nur ein paar Häuser entfernt vom ehemaligen Ladengeschäft der Familie. Zuerst wollte er diese Stelle nicht annehmen, aber ein Beamter – es ist heute nicht mehr nachvoll- ziehbar ob von der Bezirksverwaltung oder vom Arbeitsamt – überzeugte ihn, da er sonst wahrscheinlich in ein Arbeitserziehungslager oder Konzentrationslager gekom- men wäre. So nahm er zwangsweise die Arbeitsstelle an und arbeitete zuerst im Büro und im Verlauf des Krieges als Kutscher. Laut seinen Aussagen erfolgte der Wechsel von der Büroarbeit zum Kutscherdienst auch durch Drohungen mit dem Konzentrati- onslager. Andererseits hatte er durch die Tätigkeit bei einer Brotfabrik eine bessere Er- nährungsmöglichkeit, da er Zugang zu Brot und Mehl hatte.

4.7 Kommando „Julius“/KZ-Außenlager Floridsdorf

Den Krieg über arbeitete er bei der Firma Peller Brot. Zuerst arbeitete er im Büro, da aber im Verlauf des Krieges immer mehr Mitarbeiter der Firma zur Wehrmacht einge- zogen wurden, musste er als Pferdekutscher arbeiten. Er musste mit dem Transport- wagen Mehlsäcke holen und Gebäck ausliefern, sowie die Pferde versorgen. Bei diesen Lieferfahrten kam er auch immer wieder am Kommando „Julius“ vorbei. Natürlich wusste er nicht, dass dort das Kommando „Julius“ untergebracht war. Er beschrieb die Anlage als Konzentrationslager, es handelte sich dabei um jenen Teil des KZ-Außenla- gers Floridsdorf, der sich in den Jedleseer Brauereikellern in der Hopfengasse befand. Hier, ganz nahe der Pragerstraße, einer der beiden Hauptverkehrsachsen Floridsdorfs, wurde nach der Bombardierung und Verlegung des gesamten Lagers Wien-Schwechat ein KZ-Außenlager errichtet. Am 13. 6. 1944 zog das gesamte Lager Schwechat mit

218 Brousek, Die falschen Behm. Vom Widerstand der Wiener Tschechen, 137. 219 Brandhauer-Schöffmann, 1938. Anschluss Österreichs, 282-283. 220 Dokumente, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky. 96

1993 Häftlingen in das neue Barackenlager Hopfengasse 8.221 Auch die Lagerleitung unter SS-Untersturmführer Anton Streitwieser übersiedelte ebenfalls nach Floridsdorf. Es gab insgesamt fünf Kommanden, auf die die Häftlinge aufgeteilt waren, teilweise kam es auch zu Verlagerungen bzw. wurden einige hundert Häftlinge nach Mauthau- sen zurückgeschickt. Am Standort Jedlesee waren Anfang April 1945 454 Häftlinge mit der Herstellung von Teilen für die Heinkelwerke beschäftigt. Bei einer Vorbeifahrt am Standort Jedlesee sprang eines Tages ein Soldat bzw. SS-Mann aus Bayern auf seinen Wagen und er musste ihn stadteinwärts mitnehmen. Dieser erzählte ihm, wie furchtbar die Zustände im Lager waren, er sprach dann später nur von mit Blut getränkter Erde. Im März 1945 hatte das Lager Floridsdorf mit 2750 Häftlingen seinen Höchststand erreicht, die- se waren auf die einzelnen Kommandos verteilt. Insgesamt dürfte es etwa 80 Todes- fälle bis April 1945 gegeben haben. Am 1. 4. 1945 wurde das Lager vor der heranna- henden Roten Armee evakuiert und die Häftlinge wurden auf Märsche nach Mauthau- sen geschickt, dabei kamen hunderte Häftlinge ums Leben.222 Nach dem Krieg befand sich in den Brauereikellern eine Pilzzucht. Mein Großvater war mit meinem Vater dort und sie haben sich die großen Keller angesehen. Jetzt befinden sich am Gelände des ehemaligen Außenlagers neue Wohnanlagen und Kleingärten. Auch der FAC (=Floridsdorfer Athletik Club) Platz, wo das Barackenlager war, existiert noch. Vor einigen Jahren wurde vor dem Bezirksmuseum in der Pragerstraße relativ weit weg von der Hopfengasse ein Mahnmal errichtet. Eine slowakische Studienkolle- gin, die gleich gegenüber dem Komplex Hopfengasse/Pragerstraße eine Wohnung be- zogen hatte, war ziemlich erschüttert, als ich ihr erzählte, wie nahe sie bei einem ehe- maligen Außenlager von Mauthausen lebt.

4.8 Die Bombenangriffe auf Floridsdorf

Ab August 1943 wurden auch Ziele in Österreich von alliierten Bombergeschwadern angegriffen. Auf Wien gab es 52 Angriffe. In Floridsdorf zeugt heute noch der Bunker hinter dem Bezirksgericht von dieser Zeit. In den letzten Monaten musste auch zwei- mal die Brünnerstraße gesperrt werden, da drei Fliegerbomben beim Aushub des neu- en Krankenhauses Nord gefunden wurden. Auch mein Großvater hat die Bombenan- griffe erlebt und einmal mit Glück überlebt. Gegen Ende des Krieges ist er mit Glück bei einem Bombenangriff dem Tod entgangen. Sonst war er mit meiner späteren

221 Bertrand Perz u.a., Das KZ-Mauthausen und seine Nebenlager. in: Wolfgang Benz/Barbara Distel, Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 4, Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück, München 2006, 448 – 455. 222 Bertrand Perz u.a., Das KZ-Mauthausen und seine Nebenlager. in: Wolfgang Benz/Barbara Distel, Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 4, Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück, München 2006, 448 – 455. 97

Großmutter immer in der Nähe des Ausganges im Bombenkeller; einmal gingen sie weiter nach hinten. Da schlug eine Fliegerbombe ein und die Menschen, die in der Nähe des Ausgangs waren, wurden getötet. Einmal sah er, wie ein Bomber getroffen wurde und aus der Formation ausscherte und abstürzte und sich einige Fallschirme geöffnet haben. Eines Tages hörte er, dass ein Bomber auf dem Gebiet des heutigen Marchfeldkanals (Schwarzlackenau) abgestürzt war. Da er neugierig war und der Absturzort nicht weit vom Schrebergarten der Fami- lie lag, beschloss er, sich den Bomber anzusehen. Die Bevölkerung hatte schon so ziemlich alles Brauchbare abmontiert und den toten US-Soldaten sogar die Uniformen gestohlen. Anscheinend haben einige den Absturz überlebt, da er gehört hat, dass die Überleben- den in der Siedlung herumgelaufen sind. Ob das aber wirklich bei diesem Absturz war oder nicht, ist nicht sicher.

4.9 Das Kriegsende und die frühe Besatzungszeit

In den letzten Tagen vor der Befreiung fuhr er nochmals zu seinem künftigen Schwie- gervater nach Purkersdorf. Er sagte zu ihm: „Schlachte deine Schweine, bald kommen die Russen“ Sein zukünftiger Schwiegervater, Josef Bonifazi, sah ihn nur ungläubig an, er konnte gar nicht glauben, dass die Russen kommen werden. Er befolgte den Rat meines Großvaters nicht und schlachtete die Schweine nicht. Da Schweine aber nicht ruhig zu halten sind, fanden die Russen die Schweine. Ein Soldat erschoss die Schwei- ne und der alte Mann musste sie auf seinen Wagen laden. In den fünfziger Jahren er- hielt die Familie von der Republik Österreich eine Entschädigung für Wagen, Pferde und sonstiges Vieh.223 Bei der Rückfahrt sah er, wie sich die Wehrmachts- und SS-Sol- daten bei den Donaubrücken auf die Schlacht um Wien vorbereiteten. Geschütze wur- den in Stellung gebracht und die letzten Vorbereitungen getroffen. Die Stimmung un- ter den Soldaten war nervös und gereizt, da ihnen klar war, was auf sie zukommen würde. Zurück in Floridsdorf hörte er einige Tage später, dass man am Floridsdorfer Spitz drei Männer gehängt hatte. Er radelte von der Schenkendorfgasse zum Spitz und drehte mit dem Rad eine Runde um das Amtshaus. Da sah er nun die drei Offiziere, Karl Biedermann, Hauptmann Alfred Huth und Oberleutnant Rudolf Raschke, die dort am 8. 4. 1945 gehängt worden waren. Die drei Offiziere wollten in Verbindung mit Major Karl Szokoll den Aufstand wagen und Wien kampflos übergeben.224

223 Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky. 224 Walter Kleindel, Chronik Österreichs, Wien 1978, 369 – 372. 98

Dieser Plan wurde verraten und die Offiziere nach Standgericht von SS-Verbänden ge- hängt. Mein Großvater sah in den Hauseingängen die SS-Verbände und später hat er gemeint, es war nicht sehr klug, dort hin zufahren, da bei einer Kontrolle und der ner- vösen Stimmung vielleicht auch für ihn der letzte Tag gewesen wäre. Das Foto von den drei Gehängten ist noch heute in fast jedem österreichischen Schulbuch zu finden. Vor kurzem habe ich es auch in einer Dokumentation gesehen; dort wurde es aber in einem falschen Zusammenhang verwendet. Heute findet man im Eingangsbereich des Floridsdorfer Amtshauses eine Plakette, die an die drei Offiziere erinnert, Auch eine Kaserne des Österreichischen Bundesheeres ist bzw. war nach ihnen benannt. Inter- essant ist auch der Aspekt, dass aus dem Heimwehrkommandanten225 des Februars 1934, Karl Biedermann, einer der bekanntesten Widerstandskämpfer wurde. Am 10. 4. 1945 wurden die Donaubrücken gesprengt und die SS-Verbände zogen sich über Floridsdorf zurück. Am 13. 4. war die Schlacht um Wien beendet, doch dauerten die Kampfhandlungen in Floridsdorf noch bis zum 22. 4. 1945. 226 In dieser Zeit der Kämpfe und des Umbruchs ist mein Großvater auch seine zwangsverpflichtete Arbeit bei der Firma Peller Brot losgeworden, da die Firma durch Bombentreffer ihren Foura- gebetrieb zum größten Teil stillgelegt hatte. Am 7. 4. ist er dort ausgetreten, im Juli aber erst wurde der Entlassungsschein ausgestellt. Schon zwei Tage nach dem Ende der Kämpfe in Floridsdorf wurde er als Dolmetscher bei der russischen Kommandantur in Floridsdorf beschäftigt.227 Er erzählte mir von ei- nem Fall, als er mit einem sowjetischen Offizier die Gräber von zwei sowjetischen Sol- daten ausfindig machen sollte. Diese sollten dann exhumiert werden. Die beiden Sol- daten hatten eine Frau vergewaltigt und ermordet. Dafür waren sie von ihrem vorge- setzten Offizier erschossen worden. Der Vorfall muss sich irgendwo im Bereich von Stammersdorf Umgebung zugetragen haben. Meiner Großmutter bleib ein ähnliches Schicksal erspart, da mein Großvater durch seine Sprachkenntnisse Übergriffe verhin- dern konnte. Im Juni quittierte er den Dolmetscherdienst, da er die Russen nicht beim Requirieren unterstützen wollte.

4.10 Die neuen Zeiten

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges begann für meinen Großvater eine Zeit des Wan- dels bzw. des Neuanfangs. Nach dem Dienst bei der russischen Kommandantur war er kurzfristig als Büroangestellter beschäftigt, kurz darauf trat er bei der Firma Vakuum

225 Karl Biedermann war im Februar 1934 als Kompanieführer der Heimwehr an der Erstürmung des Karl-Marx Hofes in Wien beteiligt. 226 Kleindel, Chronik Österreichs, 369-372. 227 Dokumente, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky. 99 ein. Diese Firma, ein Vorläufer der heutigen OMV, wurde von den Sowjets kontrolliert, daher musste er in die Kommunistische Partei eintreten. Er hatte kein Interesse am Kommunismus und es war eher opportunistisch der KP beizutreten, was aber im Kon- text der Zeit und des Überlebens zu sehen ist. Nach dem Abzug der Sowjets 1955 ist er wieder ausgetreten, beim Nachfolgebetrieb der Vakuum, der heutigen OMV, ist er aber bis zu seiner Pensionierung 1973 geblieben.228 In der Anfangsphase verrichtete er seinen Dienst beim Werkschutz der Vakuum in der Lobau. Sie mussten dort das Gelände des Öllagers bewachen. Dafür bekamen sie eini- ge Maschinengewehre und alte deutsche Karabiner. Es hat zwar keine Überfälle oder ähnliches gegeben, nur einen tragischen Fall eines unverbesserlichen Nazis. Dieser Mann war auch beim Werkschutz tätig, lehnte jedoch die Kommunisten ab. Daher ma- nipulierte er die Manometer der Pumpanlagen. Er dürfte keinen großen Schaden ange- richtet haben, doch begannen die Sowjets zu ermitteln. In der Nacht hat er sich dann mit seiner Dienstwaffe erschossen. Er hat meinem Großvater leid getan, da er zwei Kinder hatte und die Manipulation eigentlich lächerlich und dilettantisch war. Doch wenn ihn die Sowjets erwischt hätten, wäre er wahrscheinlich hingerichtet worden oder in ein Lager gekommen mit geringen Überlebenschancen. Die Zeit nach dem Krieg war in mehrfacher Hinsicht nicht nur beruflich eine Zeit des Wandels, da er im Juli 1945 heiratete, und gleichzeitig mit seinem Bruder Adalbert By- stricky Doppelhochzeit feierte.229 Im August 1945 kaufte er 10.500 Ziegelsteine für 577,50 Reichsmark bei der Firma Adolf Illner-Bau.230

Abbildung 5: Jaroslav Bystricky mit seinem LKW in den 1950er Jahren in Purkersdorf.

Quelle: Aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky.

228 Ebd. 229 Heiratsurkunde, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky. 230 Rechnung, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky. 100

Er übernahm das Grundstück seiner verstorbenen Eltern in Pacht vom Stift Kloster- neuburg und mietete eine teilweise zerstörte Wohnung in der Herrmann Bahr- Gasse/Ecke Brünnerstraße an.231 Bis zum Umzug in die Herrmann Bahr-Gasse hatte er noch in der Wohnung seiner verstorbenen Eltern in der Schenkendorfgasse 28 ge- wohnt. Die angekauften Ziegelsteine waren angeblich vom durch Bombentreffer zer- störten Trakt des sogenannten Mauthnerschlössls in Floridsdorf. Im noch bestehenden Haupttrakt und rechten Seitentrakt ist heute das Bezirksmuseum, wo sich auch das Mahnmal für das KZ-Außenlager Floridsdorf befindet. 1946 machte er den Führer- schein für Lastkraftwagen und machte zeitweise in seiner Freizeit mit einem alten Glöcknerlastkraftwagen (siehe Abbildung 5) Bier-und Holztransporte. 1947 bekam er die österreichische Staatsbürgerschaft; 1948 kam mein Vater zur Welt und Ende der 1950er Jahre wurde die Wohnung im neu gebauten Haus bezogen. Mein Großvater blieb über 25 Jahre bei der OMV als Fahrer, Ölarbeiter und Magazineur. In seiner Pensi- on beschäftigte er sich mit dem weiteren Ausbau seines Hauses und mit der Pflanzen- zucht. Nach der politischen Wende in der Tschechoslowakei besuchten wir gemeinsam des Öfteren das Land. Eine Art von innerer Verbindung zur Tschechoslowakei muss die Jahrzehnte überdauert haben – trotz der negativen Erfahrungen beim Besuch in der Kindheit.

5 Resümee zu den zentralen Fragen

Nach der Rekonstruktion der beiden Biographien soll abschließend versucht werden, die in der Einleitung angesprochenen zentralen Fragen zu beantworten.

5.1 Staatsbürgerschaft und nationale Identität

Zuerst möchte ich auf die Frage nach den Faktoren für die sehr unterschiedlichen Be- ziehungen zum NS-Staat bei ähnlichen sozialen Grundlagen eingehen. Wie schon im Kapitel 1 angesprochen, sehe ich als zentralen Punkt für die unterschiedlichen Bezie- hungen zum NS-System die Staatsbürgerschaft. Die nationale Identität spielte bei meinem Großvater, wie auch bei Maria Trachtulec keine große Rolle. Sie hatten eher eine lokale Bindung an ihre Heimatstadt Wien und nach dem 2. Weltkrieg auch an Ös- terreich, aber nicht im Sinne von nationaler Identität. Am ehesten noch bei Alois By- stricky, dem Vater meines Großvaters, war die nationale Identität ein bestimmender Faktor, da er ja eisern am Tschechentum festhielt. Wenn mein Großvater 1921 die ös-

231 Pachturkunde, Mietvertrag, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky. 101 terreichische Staatsbürgerschaft bekommen hätte und nicht die tschechische Staatsbürgerschaft, wäre er wie die anderen Wiener Tschechen, die österreichische Staatsbürger waren, zur Wehrmacht eingezogen worden. Er selbst war grundsätzlich von der tschechischen Staatsbürgerschaft nicht begeistert und war eher für die Inte- gration in den österreichischen Staat. Er wollte in dem Staat, in dem er geboren und aufgewachsen war, kein Außenseiter bzw. Ausländer sein. Daher hat er das Eintreten seines Vaters für die Tschechische Republik als Spinnerei gesehen, da er keine wirt- schaftliche Zukunft in der Tschechoslowakei sah. Andererseits hat ihm und seinen Brü- dern diese Spinnerei sehr wahrscheinlich das Leben gerettet. In der NS-Zeit wurde er durch seine tschechische Staatsbürgerschaft und seine familiäre Herkunft als zur sla- wischen Bevölkerungsgruppe gehörig angesehen und somit als verschieden von den Deutschen. Potenziell hätte er zu den Verfolgten gehört, wenn die ursprünglichen Ab- sichten gegenüber den Tschechen umgesetzt worden wären. Es war nämlich geplant, Teile der tschechischen Bevölkerung zu germanisieren und den restlichen Teil, der von der NS-Verwaltung als minderwertig angesehenen wurde, zu versklaven bzw. zu ver- nichten.232 Es wurde dann aber mit den Tschechen wesentlich milder umgegangen als mit den Polen. Ein interessanter Aspekt ist die Tatsache, dass mein Großvater sofort deutscher Staatsbürger hätte werden können, ihm wurde dies von der NS-Verwaltung angeboten. Da er aber klug genug war zu erkennen, dass er dann zur Wehrmacht hät- te einrücken müssen, hat er dies abgelehnt. Dies zeigt, dass er die Möglichkeit zur In- tegration ins NS-System hatte, diese aber verweigerte. Durch diese Haltung blieb er Außenseiter in der NS-Gesellschaft. Zwei seiner Schwestern hingegen integrierten sich in das System. Beide hatten österreichische/deutsche Männer und fühlten sich daher als Deutsche. Eine wurde glühende Anhängerin des Nationalsozialismus und be- schimpfte ihren Bruder als Böhm und meinte „Warts nur es Bem nach den Juden seids es dran“. Die Verblendung war anscheinend so groß, dass die eigenen Brüder als „ras- sisch“ verschieden angesehen wurden. An dieser Stelle möchte ich noch auf einen anderen Faktor eingehen und zwar den des Geschlechts. Die Integration für Frauen war leichter, da sie durch die Heirat mit einem Deutschen/Österreicher ihren tschechischen Nachnamen verloren und von ihrer Um- welt als Deutsche/Österreicher wahrgenommen wurden, wie dies auch bei Maria Trachtulec/Schagginger der Fall war. Auch bei Maria Trachtulec war, wie bei meinem Großvater, die Staatsbürgerschaft ein zentraler Punkt. Ihr Vater Johann Trachtulec be- warb sich schon 1921 um die österreichische Staatsbürgerschaft. Den Hauptgrund da- für sehe ich in den wirtschaftlichen Verhältnissen. Er hatte seine Heimat verlassen, um seine Lebenssituation zu verbessern und wollte daher nicht zurück. Durch die Verlei-

232 Hoensch, Geschichte Böhmens, 434. 102 hung der österreichischen Staatsbürgerschaft an ihn und seine Familie wurde die Integration bzw. Assimilation forciert. So wie übrigens bei der Mehrheit der tschechischen Volksgruppe, die zum größten Teil als tschechische Volksgruppe verschwunden ist, aber als Österreicher weiter existiert. Abgesehen natürlich von der Rückwanderung nach dem 1. und 2. Weltkrieg.233 Die Angehörigen der Familie Trachtulec wurden durch die österreichische Staatsbür- gerschaft nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich dessen Angehörige und Jo- hann Trachtulec wurde in amtlichen Unterlagen als zugehörig zur deutschen Volks- gruppe geführt. So wurde also aus einem Familienvater, dem das Innenministerium 1921 die österreichische Staatsbürgerschaft aus „rassischen“ und sprachlichen Grün- den verweigerte, ein Angehöriger der deutschen Volksgruppe. Bei seiner Tochter Maria Trachtulec wurde die Assimilation noch verstärkt durch ihre Heirat mit Emil Schaggin- ger. Emil Schagginger war nicht nur österreichischer dann deutscher Staatsangehöri- ger, sondern auch Mitglied der illegalen NSDAP in Österreich. Dadurch wurde z.B. der „Anschluss“ Österreichs nicht negativ gesehen sondern positiv. Auf die Gründe für die Zuwendung zur NSDAP bin ich schon im vorigen Kapitel eingegangen. Aber durch die Faktoren Staatsbürgerschaft und die Heirat mit Emil Schagginger war die Beziehung und die Stellung im NS-System von Maria Trachtulec/Schagginger eine ganz andere als bei meinem Großvater. Mein Großvater wurde arbeitszwangsverpflichtet und muss- te durch seinen Ausländerstatus ständig aufpassen, wohingegen Maria Trachtulec/Schagginger als „vollkommene“ deutsche Staatsangehörige gesehen und akzeptiert wurde. Sie war anscheinend für eine kurze Zeit als Wehrmachtshelferin tä- tig und präsentierte sich auf Fotos in deutscher Uniform. Mein Großvater hingegen sah sich teilweise sogar fast als eine Art Zwangsarbeiter und er wurde auch von der NS- Verwaltung zur Annahme der Arbeit bei der Firma Peller-Brot durch Druck genötigt, da man ihn sonst in ein Arbeitserziehungslager oder Konzentrationslager eingewiesen hätte. Wie aber schon in seiner Biographie angesprochen, war sein Verhältnis zum NS- System auch nicht so eindeutig, da er andererseits zum ersten Mal in dieser Zeit eine Urlaubsreise nach Salzburg unternehmen konnte. Auch konnte er sich, abgesehen von der Arbeitsverpflichtung, frei bewegen und hatte durch seine Arbeit Zugang zu Brot und Gebäck. Er überstand die Kriegszeit verglichen mit den vielen anderen ziemlich gut, obwohl er dies selbst nicht so sah und sich wohl irgendwie als eine Art Zwangsar- beiter fühlte.

233 John, Der lange Atem der Migration, 45. 103

5.2 Reflexionen über die NS-Zeit

Meine zweite Frage war die nach den Reflexionen der beiden über die NS-Zeit und den Aspekt der ungenauen Erinnerung. Bei meinem Großvater, Jaroslav Bystricky, war die NS-Zeit noch über vierzig Jahre später ein wichtiges Thema. Über die NS-Zeit wurde offen gesprochen, wohl aus dem Grund, da sich mein Großvater als Außenstehender und Unbeteiligter tendenziell eher als Opfer sah. Hauptsächlich war er an seinem eige- nen Schicksal und seinen persönlichen Erlebnissen interessiert. Die allgemeine Ge- schichte der Zeit interessierte ihn überhaupt nicht. Er hat aber sehr wohl den NS-Staat als Unrechtssystem wahrgenommen und auch über die Schikanen für Juden und Zwangsarbeiter im KZ-Floridsdorf reflektiert. Ob und in wie weit es bei ihm eine unge- naue Erinnerung gibt, kann ich eigentlich nicht beantworten. Einen gewissen Erinne- rungsdefekt muss man wohl einkalkulieren, alleine schon durch den großen Zeitab- stand. Ich konnte jedoch feststellen, dass seine Überlieferungen dort, wo sie überprüf- bar waren, durch Dokumente und Literatur belegbar sind. Bei Maria Trachtulec hingegen gab es kaum Reflexionen über die NS-Zeit. Mit Ausnah- me der Erzählungen über ihren ersten Mann gab es keine Erzählungen über die NS- Zeit. Dies beruht aber nicht auf Verdrängung, sondern auf der Tatsache, dass wir nicht so ein enges Verhältnis hatten und der Zeitabstand zu groß war. Wenn sie die NS-Zeit verdrängen hätte wollen, so hätte sie nicht die vielen Dokumente aufgehoben. Eine ungenaue Erinnerung kann man aber bei ihr sehr deutlich feststellen und zwar bezo- gen auf ihren ersten Ehemann, Emil Schagginger. Noch über fünfzig Jahre später wur- de dieser verklärt und ich war sehr erstaunt, dass er sich für den Nationalsozialismus engagiert hatte und NSDAP-Mitglied gewesen war. Bezüglich ihres Mannes mag es auch eine Verdrängung gegeben haben. Ein Beispiel hierfür ist ein Foto von ihm mit NSDAP-Parteiabzeichen. Dieses Foto existiert in zwei Formen, einmal mit übermaltem Parteiabzeichen im offiziellen Familienalbum und einmal mit nicht übermaltem Partei- abzeichen in einer Fotoschachtel.234 Ein zweiter Aspekt ist die Nicht-Auffindung von Dokumenten über Emil Schaggingers NSDAP-Mitgliedschaft im Nachlass. Man kann aber davon ausgehen, dass diese wahrscheinlich vor dem Einmarsch der Roten Armee oder in der Nachkriegszeit vernichtet wurden. Seine Briefe, das angesprochene Foto und seine Parte geben deutliche Hinweise auf seine NSDAP-Mitgliedschaft und außer- dem gibt es seine Karteikarte in der NSDAP-Mitgliederkartei. Der Erinnerungsdefekt bezüglich Emil Schagginger ist für mich nur zu verständlich, da es sich um die große Liebe ihres Lebens handelte und mit seinem schrecklichen Unfalltod ihr Leben bis zu einem gewissen Grad zerstört wurde.

234 Undatierte Fotos 1938/39, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. 104

5.3 Öffentliche Anpassung und private Identität

Als letzte Frage bzw. letzten Fragenkomplex steht der Faktor der tschechischen Her- kunft in der Beziehung zum NS-Staat – aber nicht nur bezogen auf die NS-Zeit son- dern auch ganz allgemein auf die tschechische Identität bzw. das tschechische Be- wusstsein. Hier ist auch die Differenz zwischen öffentlicher Anpassung und privatem Bereich ein wichtiger Punkt und es sind die Ambivalenzen an sich. Es gibt in diesem Bereich keine Eindeutigkeiten, sondern ein vielschichtiges Konstrukt, aus dem sich die Identität der beiden formte und im Laufe des Lebens veränderte. Als Ausgangspunkt nehme ich wieder die sehr ähnlichen Grundvoraussetzungen. Beide entstammten tschechischen Arbeitsmigrantenfamilien, die der tschechischen Volksgruppe angehör- ten. Sie waren fast gleich alt, waren in Wien geboren worden und besuchten beide Ko- menskyschulen. Wie ich schon vorher beschrieben habe, sehe ich die Staatsbürger- schaft als Haupttrennungspunkt bei der Entwicklung der Beziehung zum NS-System. Und genau hier möchte ich nochmals auf die Bedeutung von öffentlicher Anpassung und privater Identität eingehen. Aus den amtlichen Dokumenten könnte man heraus- lesen, einerseits hier der tschechische Weg, andererseits dort der österreichische und in Folge der deutsche Weg. Diese Eindeutigkeit besteht aber keineswegs. Mein Groß- vater war zwar tschechischer Staatsbürger, aber er war davon nicht sonderlich begeis- tert und sah seinen Vater als Spinner, der von einer nicht vorhandenen Heimat träum- te. Auch wäre er bereit gewesen sich anzupassen und entfernte vom Familiennamen die tschechischen Betonungszeichen. Ebenso wenig war er über seinen tschechischen Vornamen erfreut, später wurde er auch von allen Bekannten nur, Pepi abgeleitet von Josef, genannt. Auch war er von der Tschechoslowakei enttäuscht, da er als Kind bei einer Kinderlandverschickung gekränkt worden war. Er hatte keinerlei verwandtschaft- liche oder sonstige persönliche Beziehungen in die Tschechoslowakei; auch wurde schon von seinen Eltern meist Deutsch als Umgangssprache verwendet. Er hatte kei- nen einen Akzent und sprach auch mit niemanden nach dem Krieg Tschechisch. Und trotzdem hatte er ein die Zeit überdauerndes tschechisches Bewusstsein und nach der Wende im Ostblock war sein erster Weg nach Tschechien. Er hatte irgendwie eine Be- ziehung zu diesem Land, welches er nur einmal in der Kindheit besucht hatte und in dem er enttäuscht worden war. Trotzdem hatte er ein Zugehörigkeitsgefühl zu Men- schen und Land und freute sich, mit den Menschen Tschechisch sprechen zu können. Es sind vielschichtige Gründe für seine Identität und seine Selbstsicht gewesen, die man nicht restlos ergründen kann, wenn man nicht in einer ähnlichen Situation aufge- wachsen ist. Bei Maria Trachtulec scheint der österreichische bzw. der deutsche Weg eindeutig und ist es doch wieder nicht. Abgesehen davon, dass in der Familie Trachtu- 105 lec bis in die 1970er Jahre Tschechisch gesprochen und korrespondiert wurde, hat auch Johann Trachtulec nie seinen tschechischen Akzent verloren. Die amtlichen Dokumente würden eindeutig auf Ablegung der tschechischen Identität hinweisen. Jo- hann Trachtulec versuchte ja schon 1921 zu beweisen, dass er zur deutschen Mehr- heitsbevölkerung Österreichs gehörte. Aber hier dürfte es sich nur um die öffentliche Anpassung gehandelt haben, im privaten Bereich dürfte die tschechische Identität wei- ter Bedeutung gehabt haben sonst hätte er seine Tochter auch nicht in die tschechi- sche Komenskyschule geschickt. Die Familie, die anscheinend früh bereit war sich an- zupassen, hatte wesentlich engere Beziehungen zur Tschechoslowakei als die Familie meines Großvaters. Neben der Weiterverwendung der Sprache sind auch Reisen und weitere Kontakte in die Tschechoslowakei belegt. Es gibt hier also bei beiden im Bezug auf die tschechische Identität bzw. Identifikation keine Eindeutigkeit, sondern eine vielschichtige Identität, die durch ebenso vielschichtige Erfahrungen, Gefühle und Wechselbeziehungen geprägt worden war.

5.4 Schlussbemerkungen

Zum Abschluss meiner Arbeit möchte ich noch anmerken, dass ich meinen Großvater ebenso wie auch meine Urgroßtante sehr schätzte, trotzdem aber versucht habe, die persönliche Beziehung zurückzunehmen und mich einer (nicht verwirklichbaren) Ob- jektivität anzunähern. Ich hoffe, die Rekonstruktion von zwei besonders durch den Vergleich interessanten Lebensläufe ist gelungen, und ich zeigen konnte, wieviele Faktoren auf Familien in der Zeit der vielen Brüche in der ersten Hälfte des 20. Jahr- hunderts einwirkten und wie ähnliche Grundvoraussetzungen in sehr unterschiedliche Lebensläufe mündeten, die sich dann aber doch in der Rückbetrachtung bezogen auf die Nachkriegszeit wieder anglichen. Beide wurden nach dem Krieg österreichische Staatsbürger, beide heirateten nach dem Krieg und begannen mit dem Hausbau. Beide wendeten sich dem Sozialismus zu und hatten langfristige Arbeitsverhältnisse bis zur Pensionierung. Als Pensionisten beschäftigten sich beide weiter mit Haus und Garten und unternahmen auch einige Reisen. Die Ähnlichkeiten der frühen Jahre wurden nach der Zeit der Brüche und Umbrüche wieder zu ähnlichen Lebenswegen. Wahrscheinlich würde man viele ähnliche Fälle fin- den, wo es idente Strukturen gab, aber mit jeder Vernichtung und Verschleuderung von Nachlässen gehen viele Lebensbeschreibungen verloren. 106

6 Quellen

• Nachlass: Jaroslav Bystricky. • Nachlass: Maria (Katharina) Bonifazi, geb. Trachtulec, in 1. Ehe verheiratet mit Emil Schagginger. • Der Staatsvertrag von St. Germain samt Begleitnote vom 2. September 1919 und einem alphabetischen Nachschlagverzeichnis, Wien 1919. • NSDAP-Mitgliederkartei. Mikrofiche am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. A 3340-MFOK TO 14.

7 Abbildungen

• Abbildung 1: Johann Trachtulec als Soldat im Ersten Weltkrieg. Quelle: Aus dem Nachlass von Maria Bonifazi (geb. Trachtulec). • Abbildung 2: Alois Bystricky um 1930. Quelle: Aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky. Abbildung 3: Emil Schagginger bei der Wehrmacht (Schachspieler, rechts). Quelle: Aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. • Abbildung 4: Maria Schagginger in Wehrmachtsuniform mit ihrer Schwester Emilie. Quelle: Aus dem Nachlass von Maria Bonifazi. • Abbildung 5: Jaroslav Bystricky mit seinem LKW in den 1950er Jahren in Purkersdorf. Quelle: Aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky. 107

Lucinda Schmatz-Rieger

Haus Kellermanngasse 8

Vom Verschwinden der BewohnerInnen 108

Inhalt

1 Einleitung 109 2 Zur Geschichte und der Umgebung des Hauses Kellermanngasse 8 110 3 Zur Wohnsituation in Wien um 1938 115 4 „Arisierungen“ 115 5 Übersicht über die BewohnerInnen im Haus von 1936-1940 118 6 „Verschwundene“ BewohnerInnen bis 1939 120 6.1 Familie Berta und Isidor Kurtz 120 6.1.1 Wilhelm (Willi) Kurtz 122 6.1.1 Helene (Lilly) Kurtz 127 6.2 Familie Frenkel 127 6.2.1 Aurelia Frenkel 128 6.3 Therese Linzer 129 6.4 Familie Dr. Aurel Jalcowitz 130 6.5 Valerie (Walli) Taubner 131 6.6 Ida Ettl 132 6.7 Barbara Mussil 132 6.8 Dr. Oscar Raffelsberger 132 6.9 Melanie Mückler 133 7 BewohnerInnen vor 1938 bis nach 1945 133 7.1 Anna Esel 133 7.2 Anna Müller 134 7.3 Die Familien Kofler, Welzl, Menzl und Trautmann 135 8 BewohnerInnen nach 1939 136 8.1 Leopoldine Angelides 137 8.2 Wilhelmine Rieger geborene Fally 137 8.3 Leopoldine Hübner 139 8.4 Familie Franz Jandak 140 8.5 Familie Richard Pribil 140 8.6 Familie Karl Rieder 140 8.7 Familie Franz Weindl 141 9 Schlussbetrachtung 142 10 Abbildungen 144 109

1 Einleitung

Vielleicht erscheint es ungewöhnlich, dass ein Haus im Mittelpunkt einer historischen Untersuchung steht und es sich dabei aber um keine kunstgeschichtliche handelt. Es geht vielmehr um die Menschen, die in diesem Haus lebten und aus diesem „ver- schwunden“ sind. Verschwunden deshalb, weil es eine Zeit gab, in der es ihnen nicht mehr möglich war, dort zu leben und zu bleiben, wo sie sich eingerichtet hatten, zu Hause und in Sicherheit fühlten, Geborgenheit und die Zugehörigkeit zu einer Hausge- meinschaft hatten. Ich habe in diesem Haus meine Kindheit verlebt. So wie viele jungen Menschen bin ich als Studentin ausgezogen und habe, nachdem meine Eltern umgezogen sind, nach vierzehn Jahren die Wohnung übernommen, in der ich seither lebe. Bei meinem Einzug lebten nur mehr zwei alte Damen im Haus, die ich von früher kannte, die übrigen Be- wohner waren neu hinzugekommen und sind mir fremd. Solange ich dort wohnte, kannte ich alle Familien, ihre Namen, ihre Berufe, Leben- sumstände, sogar ihre Religionsbekenntnisse. Mir waren ihre Wohnungen vertraut, ich bin in jeder gewesen, bei manchen nur im Vorzimmer, wenn etwas geborgt oder ge- bracht, ausgerichtet oder kassiert wurde. Wenn meine Eltern noch nicht zu Hause wa- ren, wartete ich bei den Nachbarn auf sie, die Kinder des Hauses spielten gemeinsam in unterschiedlichen Wohnungen und gingen in die gleichen Schulen im Bezirk. Es schien so, als lebten die Erwachsenen immer schon hier und für mich stellte sich nie die Frage, welche Menschen vorher in diesen Wohnungen gelebt haben. Als ich wissen wollte, wer vor uns in der Wohnung gelebt hat und wer Besitzer dieses Hauses war, hörte ich, dass es sich um Juden gehandelt hätte, die nach Amerika aus- gewandert seien. Ich habe es damals gehört und nicht mehr weiter darüber nachge- dacht. Nun, nachdem Jahrzehnte vergangen sind, habe ich mich an das in meiner Kindheit Gehörte erinnert und es hat mich so beschäftigt, dass ich dieses Ungewisse über die damaligen Bewohner aufklären wollte und mit meinen Recherchen begann. Ich will wissen, wer in diesem Haus beim „Anschluss“ Österreichs gewohnt hat und habe festgestellt, nachdem ich im Wiener Adressverzeichnis, „Lehmann“235 von 1936 bis 1942 gesucht habe, dass mit Ausnahme zweier Parteien, die übrigen Bewohner des Hauses „verschwunden“ sind. Die folgende Arbeit soll die Chronologie vom „Verschwinden dieser Bewohner“ aus dem Haus in der Kellermanngasse 8, nach dem „Anschluss“ Österreichs am 12. 3. 1938 zeigen.

235 Wiener Adressverzeichnis, „Lehmann“, Wien 1936-1942, Teil I: Namensverzeichnis. Einwohner und Geschäftsbetriebe. Teil II: Alphabetisches Straßenverzeichnis. Lehmann Online, URL: http://www.digital.wienbibliothek.at, (abgerufen am 22. 3. 2013). 110

2 Zur Geschichte und der Umgebung des Hauses Kellermanngasse 8

Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts begann man das Schottenfeld, im heutigen 7. Bezirk Neubau die Umgebung der Schottenfeldkirche zu parzellieren und zu bebauen. Die von Josef II. aus Süddeutschland geholten Einwanderer betrieben die Erzeugung von Samt und Seide, sodass es um 1800 in der Gegend schon mehr als 300 Seiden- webereien mit über 30.000 Arbeitern gab. Der damit verbundene Aufschwung und Wohlstand der dort ansässigen Fabrikanten trug dazu bei, der Gegend den Namen „Brillantengrund“ zu geben. An diese Seidenmanufakturen erinnert noch heute die „Seidengasse“.236 Das markante Zeichen am Anfang der Kellermanngasse ist das „Augustinplatzl“, in dessen Mitte sich ein gleichnamiger Brunnen befindet. Bei der großen Pestepidemie 1679/80 warfen die „Pestknechte“ den rauschigen Bänkelsänger Marx Augustin (1643- 1685) in eine der dort schnell ausgehobenen Pestgrube bei St. Ulrich. Am nächsten Morgen machte dieser mit seinem Dudelsack auf sich aufmerksam und wurde aus der Grube gerettet. 1908 wurde für ihn ein Denkmal, der sogenannte „Augustinbrunnen“, aufgestellt. Dieser wurde vom Bildhauer Hans Scherpe geschaffen und am 4. 9. 1908 vom Wiener Bürgermeister Karl Lueger enthüllt. Während des Zweiten Weltkriegs wur- de die aus Bronze gefertigte Skulptur eingeschmolzen, ein Schicksal, das sie mit ande- ren Denkmälern aus Bronze und sogar mit Kirchenglocken teilen musste. Ein mutiger Unbekannter schrieb damals auf den leeren Sockel des Denkmals: „Der schwarzen Pest bin ich entronnen, die braune hat mich mitgenommen“.237 Ich erinnere mich, dass wir 1952 anlässlich der Enthüllung einer Augustinfigur aus Sandstein, die wesentlich kleiner war als die ursprüngliche, mit unserer Volksschule dort waren und das Lied „Oh, Du lieber Augustin, alles ist hin ...“ und alle anderen Strophen des Liedes, besonders jene, „alles weg, Augustin liegt im Dreck“, voll Be- geisterung sangen.238 An einer Ecke des Augustinplatzes am Anfang der Kellermanngasse, befindet sich an einem Haus eine Tafel und eine kleine Statuette, die den Wesir Kara Mustafa zeigt und an die Zweite Türkenbelagerung1683 erinnert. Angeblich soll sich hier dessen Zelt be- funden haben, was heute allerdings von Historikern bezweifelt wird. 1788 entstand im heutigen 7. Bezirk Neubau, dem ehemaligen Brillantengrund, als Durchgang vom Augustinplatz durch den Schottenhof den Berg hinauf zur Lerchenfel- derstraße eine zirka 50 m lange Gasse, die im Volksmund „das Schottenbergl“ genannt wurde, offiziell aber Schottenhofgasse hieß. Sie führte zum alten Uferhang des Otta-

236 URL: http://wienwiki.wienerzeitung.at/WIENWIKI/Brillantengrund (abgerufen am 4. 5. 2012). 237 URL: http://www.bezirksmuseum.at/default/index.php?id=104 (abgerufen am 4. 5. 2013). 238 Arbeiterzeitung vom 10. 10. 1952, Nr. 245, 4. 111 kringerbaches hinauf und ist deshalb ziemlich steil. Den Bach hört man nachts, wenn es still ist, rauschen, wenn das Wetter umschlägt, stinkt er und bei starken Re- genfällen tritt er noch „über die Ufer“. Das Wasser wird dann aus dem Kanal emporge- drückt und überschwemmt die Lerchenfelderstraße, wie das im Mai 2010 der Fall war. Noch heute mühen sich im Winter der Bus 13A und die Autofahrer bei Schnee und Glätte die Kellermanngasse hinauf. Wir Kinder nützten die Gehsteige im Winter zum Rodeln. 1850 wurden die ehemaligen Vorstädte Neubau, Neustift, Spittelberg, Schottenfeld so- wie Teile der Vorstädte St. Ulrich, Alt-Lerchenfeld, Laimgrube und Mariahilf zu einem neuen Wiener Gemeindebezirk zusammengefasst. Bei seiner Eingemeindung erhielt der Bezirk die Nummer 6, 1860 wurde er auf Wien 7 „Neubau“ umnummeriert. 239 Seit seiner Gründung war der 7. Bezirk Neubau dicht besiedelt. Die im Jahre 1869 ermittel- te Einwohnerzahl betrug 80.043 Einwohner und war die höchste jemals in diesem Be- zirk ermittelte. Die Grundherrschaft über diesen Vorstadtgrund hatte das Stift Schotten240. Die Schot- tenhofgasse wurde 1910 in Kellermanngasse nach dem Lederhändler Georg Keller- mann (1820-1895) benannt. Er stiftete testamentarisch einen Betrag von 600.000 Kronen zur Errichtung des Georg Kellermann'schen Kinderspitals, aus dem die Kinder- abteilung des Wilhelminenspitals hervorging.241 Die Kellermanngasse gab es damals noch nicht, sie hieß Schottenhofgasse und hatte nur die Häusernummern 3, 4, 6. Jedoch wird in einem Haus in der Lerchenfelderstraße 27 = Haus Schottenhofgasse 8 unter der Konskriptionsnummer 5/Neubau/Zins 3021 ein Karl Bäcker als Besitzer dieses Hauses mit 134 m² verbauter Fläche, einem Stock- werk und sechs Wohnungen angeführt.242 An dieser Stelle steht das später errichtete Haus in der Kellermanngasse 8. Es wurde 1890 im späthistoristischen Stil mit Ecker- kern, über denen sich am Dach ein Turm erhebt, erbaut. Es handelt sich um ein Eck- haus, der Eingang befindet sich in der Kellermanngasse 8, das Haus entspricht der Lerchenfelderstraße Nr. 27. Im Foyer befinden sich figürliche Stuckreliefs (Putten), es besitzt drei Stockwerke und wie damals üblich ein Mezzanin.243 Im Untergeschoss be- findet sich eine Wohnung für die Hausmeisterin, im Hochparterre dazugehörig zwei Zimmer. Beide Räumlichkeiten werden jetzt von dem im Haus befindlichen Geschäft, der Wiener Messing-Werkstätte als Lagerräume benützt. Ursprünglich waren beide von

239 URL: http://www.orte-in-oesterreich.de/78446-stadtbezirk-wien-neubau.html (abgerufen am 4. 5. 2013). 240 Karl Pauschab, Darstellung der bei den Häusern in der Stadt und in den sämmtlichen Vorstädten Wiens einschreitenden Grundherrlichkeiten, Wien 1829, 65. 241 6 Agenda Wien 7, Geschichten mit Geschichte, Augustinplatz, 2006, From grey to green, URL: http://grey2green.wordpress.com/w/geschichten-einzelner-gassen-hauser-und-platze-von-st-ulrich/ (abgerufen am 20. 2. 2013). 242 Josef Schlessinger (Hg.), Der Cataster. Handbuch über sämmtliche Häuser, Wien 1875, 204. 243 Dehio-Handbuch. Die Kunstdenkmäler Österreichs. Topographisches Denkmälerinventar Wien II. bis IX. und XX. Bezirk, (Hg.), Bundesdenkmalamt, Wien 1993, 301. 112 der Hausmeisterin bewohnt und trugen die Nr. 1 bzw. 2. Das einzige Geschäft im Haus hatte die Nr. 3. Im Haus selbst gibt es im Mezzanin und ersten Stock, der Belle Étage, jeweils zwei, im dritten und vierten Stock jeweils drei Wohnungen im Altbaustil, mit einer Raumhöhe von 3,58 m, großen Flügeltüren und Parkettböden. Die Außenfassade des Hauses mit den Simsen und Stukkaturen über den Fenstern ist ebenso erhalten geblieben wie die Fenster selbst, diese mussten im ursprünglichen Zustand als in Holz gerahmte Doppel- flügel aufgrund der Verordnung des Denkmalschutzes verbleiben. Nur der Dachkuppel wurde ein neues Kupferdach verpasst. Der erste Hausbesitzer war Emil Ritter von Aschbach, geboren 21. 8. 1852 in Bonn, Dr. jur. und k.k. Bezirksgerichtsadjunkt in Wolkersdorf, der Sohn des gleichnamigen, als o. Prof. an der Universität Wien lehren- den Historikers.244 1891 kaufte Julius Meinl II – um die Ecke der Kellermanngasse, das Haus Neustiftgas- se Nr. 28 mit zwei Hoftrakten und baute es zu einer Großrösterei mit einer Lehrlings- schule und einem Internat aus. In einem Gassenlokal befand sich eine Filiale, in der Kolonialwaren wie Kaffee, Tee, Spirituosen und Süßwaren verkauft wurden. Der Ge- ruch der Rösterei zog sich manchmal durch die nähere Umgebung. Dort trafen sich die Dienstmädchen, wenn sie entsprechende Spezereien für ihre begüterten „Herrschaf- ten“ und HausbesitzerInnen einkauften, wie es z. B. die Familien Kurtz und Frenkel aus der Kellermanngasse 8 waren. Noch in den 1950er-Jahren, wenn meine Mutter einen Krankenhausbesuch vorhatte, musste ich „beim Meinl“ Kaffee kaufen, den sie dann den Krankenschwestern im Spital mitbrachte, wohl in der Meinung, dass diese die von ihr besuchten Patienten dann besser behandelten. Kaffee „beim Meinl“ zu kau- fen und ihn täglich auch zu trinken, war Privileg wohlhabenderer Bewohner der Umge- bung. Auch eine Bonbonniere von Meinl hatte noch den Anstrich des Luxuriösen. Bei ärmeren Familien wurde der Kaffeesatz des am Sonntag üblichen Bohnenkaffees, in der folgenden Woche mit Malzkaffee, neuerlich aufgekocht. Gegenüber vom Meinl in der Neustiftgasse bei der „Frau Rosi“, einer „Greißlerin“, konnte man anschreiben las- sen und erst am Freitag, wenn Zahltag war, die Rechnung begleichen. Das Haus in der Kellermanngasse 8 bot den BewohnerInnen, die vor dem Zweiten Weltkrieg dort lebten, große Annehmlichkeiten. Im Inneren befanden sich großzügige, hohe und helle Räumlichkeiten, die Nahversorgung war bestens gesichert und auch Burg-, Volks- und Josefstadttheater förmlich „um die Ecke“, die Staatsoper zu Fuß in 20 Minuten zu erreichen, ebenso wie die Parkanlagen des Burg- und Volksgartens. Im Bezirk entstand in der Neubaugasse und Umgebung mit Beginn des Stummfilms in

244 Josef Lenobel, (Hg.), Das Buch der Häuser und Hausbesitzer Wiens, Wien/Leipzig 1908, 31. Hessische Biografie, Datensatz 716, URL: http://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/bio/id/716 (abgerufen am 4. 2. 2013). 113 den 1920er- Jahren ein „Filmviertel“. Um die Ecke der Kellermanngasse, zwei Häuser weiter in der Lerchenfelderstraße, befanden sich die Phönix-Lichtspiele. Während des Zweiten Weltkriegs wurde in den „Wochenschauen“ die hineinströmende Bevölkerung mit nationalsozialistischer „Volksaufklärung“, Propaganda, Durchhalteparolen und Be- richten über ihre heldenhaft und siegreich kämpfenden Soldaten beruhigt, um ihnen die Alltagsrealität zu vernebeln. Da der 7. Bezirk Neubau durch den Krieg wenig Bombenschäden erlitten hatte, blieb auch der ehemalige dörfliche Charakter der Umgebung in der Kellermanngasse erhal- ten und hat sich trotz Neugestaltung des Augustinplatzes im Jahr 2008 bis heute be- wahrt. 1938 befanden sich in der Kellermanngasse noch drei kleine einstöckige Bie- dermeierhäuser. Die Wohnungen in diesen Häusern waren mit Wasser und Klo am Gang und standen im Straßenverlauf vorgebaut, im Gegensatz zu den neu errichteten Häusern der um 1900 gebauten Nr. 1-3, Nr. 5 und Nr. 8, die sowohl von außen als auch von innen repräsentativ den Reichtum der Besitzer demonstrierten. Zwei der kleinen Häuser stehen noch heute, vorgerückt und die Kellermanngasse verschmä- lernd. Auch die beiden damals neu erbauten historistischen Häuser Nr. 5 und Nr. 8 ha- ben bis heute ihre eindrucksvollen großen Kuppeln bewahrt, die gegen Ende des Kriegs vor Bombenschäden verschont geblieben sind, ebenso wie die übrigen Häuser in der Kellermanngasse. In der Kellermanngasse 8 lebten vor 1938 durchwegs gut situierte BürgerInnen, wie ein Arzt, Geschäftsinhaber, Hofrat, Direktionsrat, Obermagistratsrat, Antiquitätenhänd- ler und später deren Witwen. Nachdem sie „verschwanden“ waren zogen Menschen aus einer anderen sozialen Schicht aus offensichtlich weniger komfortablen Unterkünf- ten in die neuen Wohnungen ein. Es handelte sich durchwegs um Kleinbürger, Hand- werker bzw. Arbeiter, die in den Genuss von gepflegten Wohnungen kamen, die sie sich sonst hätten kaum leisten können. Im letzten sehr kalten Kriegswinter 1944/45 konnten die neuen BewohnerInnen ihre Großwohnungen nicht heizen. In den Küchen stellten sie dann sogenannte „Sparöfen“ auf, die als Wärmequellen dienten, worauf gekocht und Wasser erhitzt wurde. Beschäftigt mit dem Überleben und neuer Orientie- rung nach dem für sie „verlorenen Krieg“, war ihr Denken auf die Zukunft gerichtet. Inwieweit sie sich mit dem Vergangenen auseinandergesetzt haben kann ich schwer beurteilen. Die Ideen des Nationalsozialismus schienen, als sie überfallsartig die Men- schen erfasst und begeistert hatten, kein Thema mehr. Verborgen, unbesprochen und schamvoll verschwiegen haben sich viele dieser Ideen jedoch in ihren Köpfen gehal- ten. Ob sich ihre damalige Gesinnung wirklich verändert hat, konnte ich weder in mei- ner Familie noch in der meiner im gleichen Haus lebenden Schulkollegin aufgrund feh- lender diesbezüglicher Gespräche feststellen. 114

Die BewohnerInnen des Hauses in der Kellermanngasse 8 erschienen mir in ihren Hal- tungen und gegenseitigen Verbundenheit wie eine verschworene Gemeinschaft. Muss- ten sich doch die meisten gewahr sein, ihre Wohnungen Verfolgten, Vertriebenen oder Ermordeten „zu danken“. Nach dem Krieg haben sich die Bevölkerungszusammensetzung und die sozialen Ver- hältnisse im 7. Bezirk Neubau verändert. Lebten dort um die Jahrhundertwende noch 72.550 Einwohner, hatte sich die Zahl 1939 schon auf 51.441 verringert und ging kon- tinuierlich zurück, was eine Ursache in gestiegenen Ansprüchen an Wohnraum und Wohnqualität verbunden mit Wohnungszusammen-legungen hatte. Weitere Gründe sind im strukturellen Wandel der „Wirtschaftswunderjahre“ zu sehen. Viele kleinge- werbliche und handwerkliche Betriebe mussten zusperren und Supermärkten weichen. In der nahe gelegenen Mariahilfer Straße fanden die Menschen in den Warenhäusern eine große Auswahl all der Dinge, die vor Jahren noch Mangelware waren. Heute leben nur noch 28.823 Menschen im 7. Bezirk. Seit der Spittelberg revitalisiert, im Jahr 2001 ein grüner Bezirksvorsteher gewählt und im gleichen Jahr das Museums- quartier eröffnet wurde, hat sich auch die Bevölkerungszusammensetzung im Bezirk verändert. Kulturelle Events, neu angelegte Radwege und Lokale haben junge Wirt- schaftstreibende, Kreative und Studenten bewogen, sich im Bezirk niederzulassen. Die Verdrängung der ehemaligen Bewohner durch jüngere, besser ausgebildete und in der Regel mit höherem Einkommen ausgestattete, führte zu einer Gentrifizierung im 7. Bezirk.245 Im Jahr 1990-2000 ließ der damalige Hausbesitzer, nach dem Abtreten der Rechte für die Benutzung des Dachbodens zum Wäschetrocknen durch die HausbewohnerInnen, diesen zu einer großen Dachterrassenwohnung umbauen, die auch der jetzige Hausbe- sitzer bewohnt. Ebenso wurden vom ihm die drei Wohnungen im dritten Stock für sei- ne privaten Zwecke zu zwei zusammengelegt. In den großzügigen schneckenförmigen Raum der Stiegenaufgänge wurde ein Lift eingebaut. Der ursprünglich mit gemuster- ten Kacheln ausgelegte Boden wurde durch rosa und roten Marmor ersetzt. Die Wohn- und Geschäftsgrößen sind, mit Ausnahme des ausgebauten Dachbodens und der zusammengelegten Wohnungen (Mezzanin und 3. Stock), die gleichen, wie zur Zeit der Errichtung des Hauses: Geschäft: 190,77m² Mezzanin: Tür 4+5: 200,29m² 1. Stock: Tür 6: 108,53m² Tür 7: 98,17m² 2. Stock: Tür 8: 55,24m² Tür 9: 67,18m² Tür 10: 84,81m² 3. Stock: Tür 11+12: 120,78m² Tür 12a: 84,82m² (seit 1990: Dachgeschoss 166,86m²)

245 URL: http://www.orte-in-oesterreich.de/78446-stadtbezirk-wien-neubau.html (abgerufen am 4. 5. 2013). 115

3 Zur Wohnsituation in Wien um 1938

Bei Untersuchungen des Miet- und Wohnungswesen nach dem „Anschluss“ stellten die Nationalsozialisten fest, dass in Wien Wohnungsnot herrscht. Die bestehenden 75 % Kleinwohnungen waren durch UntermieterInnen und BettgeherInnen überbelegt und befanden sich in einem katastrophalen Zustand. Die vorgefundenen hygienischen und baupolizeilichen Mängel verlangten Sanierungsmaßnahmen, da die Wohnungen sonst unbewohnbar geworden wären, was zu einem weiteren Anstieg der Obdachlosigkeit geführt hätte. Die Mieten stellten für die unteren sozialen Schichten eine ungeheure Belastung ihres Haushaltsbudgets dar und Gemeindewohnungen waren aufgrund des Baustopps seit 1934 nicht mehr zu bekommen. Zu diesem Wohnungsmangel kam, dass die vor dem „Anschluss“ politisch verfolgten ÖsterreicherInnen zurück nach Wien kamen und dazu noch deutsches Militär,. Zur Durchführung und Verwaltung der in Ös- terreich eingeführten „Reichsgrundgesetze“ benötigten die nach Wien entsandten Be- amtInnen und Polizeikräfte Büro- und Wohnräume. Daher ist es nicht verwunderlich, dass es schon in den Tagen nach dem Einmarsch in Österreich zu illegalen Beraubun- gen in Wohnungen jüdischer MitbürgerInnen kam und sie aus diesen vertrieben wur- den, und die Enteignungen der wohlhabenden jüdischen Bevölkerung den Wohnungs- suchenden als gerechtfertigt erschienen.246

4 „Arisierungen“

Der Terminus „Arisierung“ bedeutet die Enteignung der gesamten jüdischen Bevölke- rung aufgrund des 1933 erlassenen Arierparagraphen, einem Vorläufer der am 15. 11. 1935 in einer Sondersitzung des Nürnberger Reichsparteitags beschlossenen Rassen- gesetze „zum Schutz des Deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Diese „Nürnber- ger Rassengesetze“ wurden nach dem „Anschluss“ Österreichs am 28. 5. 1938 einge- führt. Juden und Jüdinnen mussten bald nicht nur eine Kennkarte mit sich führen, sie mussten an ihre Namen Israel und Sara anhängen, in ihre Reisepässe war ein rotes „J“ gestempelt und jüdischen Geschäfte mussten hebräische Aufschriften tragen. Gleich nach dem „Anschluss“ kam es in Österreich durch SA und Angehörige der NSD- AP und deren Mitläufer zu gewaltsamen „wilden Arisierungen“ und Plünderungen von Geschäften und Wohnungen. Jüdische Mieter und Mieterinnen wurden aber auch von Privatpersonen, Nachbarn und Wohnungssuchenden aufgefordert, die Wohnung binnen einer Frist zu verlassen, manche wurden sofort aus ihren Wohnungen vertrieben und

246 Gerhard Botz, Wohungspolitik und Judendeportation in Wien 1939-1945. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien-Salzburg 1975, 291. 116 mussten ihre Wohnungsschlüssel abgeben. Die Vugesta (Verwertungsstelle der Gesta- po für jüdisches Umzugsgut) sorgte für die Räumung der Wohnungen und die Verwer- tung der noch vorhandenen Wertgegenstände.247 Durch Denunziationen jüdischer Mit- bewohnerInnen wollten manche „Arier“ in den Genuss deren Wohnung kommen. Man wollte auch mit keinen „Nichtariern“ im gleichen Haus wohnen. Obwohl der gesetzliche Mieterschutz für jüdische MieterInnen nach wie vor Gültigkeit hatte, wurden sie in den meisten Häusern durch die HauseigentümerInnen gekündigt. Waren diese selbst Juden oder Jüdinnen, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihre Häuser verlassen mussten und diese enteignet und arisiert wurden. In sogenannten Sammelwohnungen, beson- ders im 2. Bezirk Leopoldstadt, in denen allerdings meist mehrere Familien zusam- mengepfercht gelebt haben, verbrachten sie nach „Umsiedlungsaktionen“ die Zeit bis zu ihrer Deportation.248 Im Nachhinein wurden die „wilden Arisierungen" legalisiert und die Vermögensverkehrsstelle (VVSt) bestellte kommissarische Verwalter. Walter Ra- felsberger war ab April 1938 Staatskommissar für Privatwirtschaft und Leiter dieser Vermögensverkehrsstelle249, die bis 1939 rund 26.000 jüdische Klein- und Mittelbetrie- be auflöste oder „arisierte“. Im Oktober 1938 unterbreitete er „Vorschläge für die wir- kungsvolle Durchführung der Entjudung“, in denen er die Errichtung von drei „Juden- sammellagern“ für jeweils 10.000 Personen empfahl.250 1939 wurden für jüdische Unternehmen, sogenannte „Treuhänder“ eingesetzt, die die Arisierungen vorbereiteten oder die Auflösung des Betriebes veranlassten.251 Nachdem der jüdischen Bevölkerung auch die Gewerbekonzessionen entzogen wurden, konnten die arisierten Besitzungen an die „Volksgenossen“ zu einem günstigen Preis verkauft werden. Die wiederum mussten an den Staat als Prämie eine „Arisierungsauflage“ be- zahlen. Konnten sie die Summe nicht aufbringen, wurde ihnen vom „Arisierungsfonds“, der seine Gelder aus der Differenz von Sach- und Verkaufswert enteigneter jüdischer Vermögen speiste, ein Kredit gewährt. Da die jüdischen Besitzer über den Verkauf ihres Eigentums nicht verhandeln konnten, weil es sich um Notver- käufe handelte, kam es zu Übernahmen von Geschäften, Häusern, Wohnungen, Mobili- ar, Kunstgegenständen durch die neuen arischen BesitzerInnen, die sich solche Wert- anlagen vorher nie hätten leisten können. Durch diese neu gewonnenen Werte erga-

247 Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat. Frankfurt/M. 2000, 293. 248 Rabinovic, Instanzen der Ohnmacht, 226. 17 Sammellager waren in der Kleinen Sperlgasse 2a (vormals und heute wieder eine Schule), Malzgasse 16, danach Malzgasse 7, Miesbachgasse 8 (lt. Bericht der IKG 1942). Ebenso existierte ein Sammellager in einem alten Schulgebäude in der Castellezgasse 35. 249 Die VVSt wurde am 18. 5. 1938 im österreichischen „Ministerium für Arbeit und Wirtschaft“ gegründet. Zu ihren Aufgaben gehörte die Bestellung von Treuhändern, Kommissaren und Abwicklern für Unternehmen, sowie die Koordination der gesamtwirtschaftlichen Planung. Sie kontrollierte Kaufverträge, setzte den Kaufpreis für zur „Arisierung“ bestimmte Unternehmen fest und verordnete die Liquidation von Betrieben. Vermögensverkehrsstelle, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Verm%C3%B6gensverkehrsstelle (abgerufen am 20. 3. 2013). 250 Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Band 2, Deutsches Reich 1938, August 1939, München 2009, 39. 251 Wieder gut machen? Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution, (hg.) vom Forum Politischer Bildung, Wien 1999, 175. 117 ben sich für die neuen BesitzerInnen finanzielle und soziale Aufstiegschancen. Die Ei- geninteressen der neuen NutzerInnen waren damit mit dem Interesse an dem Sieg des Nationalsozialismus verbunden.252 Das Wohnungsamt der Stadt Wien konnte sich vor Ansuchen um die Zuteilung von Wohnungen kaum retten. Schon „Ende 1938 wa- ren 44.000 Judenwohnungen von bezogen worden,“ bevorzugt von Gesinn- ungsgenossInnen und Parteimitgliedern, in den folgenden Jahren erhöhte sich die An- zahl arisierter Wohnungen um weitere 26.000.253 „Die Verknüpfung der antisemitischen Verfolgungsmaßnahmen mit materiellen Interessen […] ist eines der kräftigsten Motive.“

Der jüdische Bevölkerungsanteil war „wirtschaftliches Zielpotential“. Nach der Zeit des „Anschlusses“ lebten nach Einschätzung und Vorstellung der Nationalsozialisten etwa 220.000 bis 300.000 religiöse und „rassische“ Juden in Wien, die im Verhältnis zur Wiener Bevölkerung stärker in mittelständischen und großkapitalistischen Berufszwei- gen vertreten waren.254 Seit Jahren schon hatten die Nationalsozialisten Proskriptionslisten erstellt, auf denen die in Frage kommenden jüdischen Unternehmen registriert waren. Dabei handelte es sich um ein Viertel der Wiener Betriebe, die entweder arisiert oder von kommissari- schen Verwaltern, meist Nationalsozialisten, geführt wurden. Eine eigene Betriebsor- ganisation, die sogenannten NSBO-Geschäfte wurden von arischen Angestellten wei- tergeführt.255 Da mit Beginn des Zweiten Weltkriegs Lebensmittel über Karten rationiert wurden, er- reichte die antijüdische Propaganda, dass sich viele „Volksgenossen“ ein Verschwinden der Juden aus ihrer Umgebung wünschten. Auch Hitler lag daran, besonders „die Ost- mark von Juden zu säubern“ und in die neu eroberten polnischen Gebiete zu deportie- ren. Dort, fern von ihren ursprünglichen Nachbarn, konnte, für diese unbemerkt, die Vernichtung beginnen. Mit dem Beginn der Krieges gegen die Sowjetunion kann man aufgrund der Abnahme der Lebensmittelkarten für Juden in Wien von 40.221 im Jahr 1941 auf 6.589 im Jahr 1942 die Massendeportationen in die Konzentrations- und Ver- nichtungslager erkennen.256 Die Reichsfluchtsteuer für Juden, die ausreisen wollten, ging über die jüdische Ge- meinde in Wien. Es war der Betrag, den Juden und Jüdinnen für die Genehmigung zur Ausreise zahlen mussten. Die Reichsfluchtsteuer wurde von der NS-Finanzverwaltung von den jüdischen Sperrkonten abgezogen. Auf diesen Sperrkonten der EigentümerIn- nen lag der Erlös aus dem arisierten Vermögen, der/die BesitzerIn hatte jedoch keinen

252 Dieter Stiefel (Hg.), Die politische Ökonomie des Holocaust, München 2001, 15. 253 Botz, Wohnungspolitik, 299. 254 Botz, Wohnungspolitik, 286-87, 291. 255 Botz, Wohnungspolitik, 294. 256 Botz, Wohnungspolitik, 301, Ordner 235 (2315/7), Rk. AVA. 118

Zugriff auf dieses Geld. Von diesen Sperrkonten entnahm die NS-Finanzverwaltung Abgaben, wie die Reichsfluchtsteuer und Sühneleistung (RGBL 1938 S 1579 vom 14. 11. 1938) und die „Judenvermögensabgabe“. Im April 1938 wurde eine „Vermö- gensanmeldung für Juden und Jüdinnen“ bei Vermögenswerten über RM 5.000 gefor- dert, davon mussten 20 % an den NS-Staat gezahlt werden.

5 Übersicht über die BewohnerInnen im Haus von 1936-1940

Folgende Übersicht (siehe Tabelle 1) zeigt die verschwundenen und vertriebenen Mie- terInnen bzw. jene, die nicht mehr im Historischen Meldeamt257 oder im Lehmann auf- scheinen und jene, die in frei gewordene Wohnungen Zugezogenen oder solche, die schon vor dem „Anschluss“ und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in dem Haus wohnten und bis nach dem Ende des Kriegs und darüber hinaus Bewohne- rInnen blieben. Bei diesen Angaben ist zu beachten, dass die Eintragungen der gemeldeten und der abgemeldeten MieterInnen fast immer um ein Jahr später im Lehmann zu finden sind, da sich diese Verzögerungen aus der Drucklegung zu Beginn eines Kalenderjahres er- gaben. Genauere Angaben habe ich, so vorhanden, vom Historischen Meldeamt erhal- ten und nur das berücksichtigt, was auf den damals abgegebenen Meldezetteln stand. Hat sich ein(e) BewohnerIn nicht oder später ab- oder angemeldet, muss man sich auf die angegebenen Daten verlassen. Als einzige Bewohnerin, über die ich in der vorliegenden Arbeit keine Angaben machen kann und auch keine Auskünfte erhielt, ist die im Lehmann 1939, allerdings dort nur für dieses Jahr eingetragene, Maria Schwarz. Auch das Historische Meldeamt konnte mir dabei nicht weiterhelfen, da der Name Maria Schwarz tausende Male vorkommt und kein Geburtsdatum u. Ä. bekannt ist. Auch bei DÖW und IKG findet sich keine Personen gleichen Namens, die in der Kellermanngasse 8 gewohnt hat.

257 MA 8, Wiener Stadt- und Landesarchiv, Historische Meldeunterlagen, (1904-1975), Guglgasse 14, 1100 Wien, Gasometer D. 119

Tabelle 1: Übersicht über die BewohnerInnen im Haus von 1936-1940

1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 Kurtz Isidor Eigentümer Esel und Mitbesitzer (Helene Kurtz) Anna Mitbesitzerin Müller Anna Hausbesorgerin Angelides Leopoldine Private Fally Wilhelmine Krankenschw ester Ettl Ida Private Frenkel David Geschäftsinh. Hübner Leopoldine Private Jandak Franz Geschäftsinh. Jalcowitz Aurel Dr. Kofler Otto Privater Linzer Therese Ob. Mag. Ratsw. Menzl Therese Pensionistin Mückler Melanie Modistin Mussil Barbara Raffelsberger Oscar Hofrat i. R Przibil Richard Baumeister Rieder Karl Lebensmittelh dlg. Schwarz Maria Private Taubner Valerie Wäschewaren Trautmann Friedrich Dir. Rat Weindl Franz Trafikant Welzl Emilie Pensionistin 120

6 „Verschwundene“ BewohnerInnen bis 1939

6.1 Familie Berta und Isidor Kurtz

Aufgrund des Kaufvertrags vom 24. 1. 1921 ist Berta Kurtz, geb. Herzl, bis zu ihrem Tod am 18. 7. 1934 in Bad Ischl, alleinige Besitzerin des Hauses Kellermanngasse 8. 258 Nach ihrem Tod ging der Besitz des Hauses zur Hälfte auf ihren Mann Isidor Kurtz, die andere Hälfte auf ihre Tochter Helene Guyot geb. Kurtz über.259 Die Geschichte der Familie Kurtz beginnt mit dem aus dem slowakischen Egbell ausge- wanderten Leopold Kurtz, der als Dorfgeher (Hausierer) nach der Revolution 1848 nach kam und sich dort mit Elisabeth (Betti) Katz verheiratete. Mit elf anderen jü- dischen Familien zählte die Familie Kurtz zu den Gründungsmitgliedern der Linzer Is- realitischen Kultusgemeinde.260 Bereits 1860 findet sich am Franz-Joseph-Platz 3 unter dem Namen „Leopold Kurtz, Hosen, Hemden und Jakette“ ein Kleiderhandel, in wel- chem Leopold Kurtz aus Gradel Kleidung herstellte und verkaufte. Diese robuste Klei- dung fand bei der arbeitenden Linzer Bevölkerung so guten Absatz, dass er sein Ge- schäft mit einer Kleider- und Wäscherzeugung erweitern konnte und in Linz mehreren Filialen gründete, in denen er 40 Arbeiter beschäftigte. Weiter expandierte das Kurtz'- sche Unternehmen mit Hilfe seiner Söhne, sodass die Familie Geschäfte in Bregenz, Linz, Leoben, Salzburg und Steyr besaß und ihre Produkte bis Italien, Rumänien und Bulgarien ausführte.261 Von seinen sieben Kindern, Isidor, Johanna, Juliana, Josef, Karoline, Heinrich und Theodor, war Isidor der älteste und Theodor der jüngste. Seine Söhne Isidor, Josef und Heinrich erwarben 1896 in Salzburg, Linzer Gasse 28 das „Büchsenmacherhaus“.262 Theodor, der die Konzessionen für das Schneidergewerbe und den Handel mit Wäsche, Kleidern, Damen- und Herrenmoden besaß, übernahm dieses 1902 und nannte es Kaufhaus „Zum Touristen“263. Sein ältester Bruder „Isidor erhob sich – erhob sich im wahrsten Sinne des Wortes, denn er stellte eine ungeheure Masse an Körperbestandteilen, hauptsächlich Muskeln dar.“264

258 Kaufvertrag vom 24. 1. 1921. Das Eigentumsrecht einverleibt für Berta Kurtz allein. Auszug aus dem Grundbuch Josefstadt, B 156, Stand vom 15. 6. 1927, Anteil 1. 259 Auszug aus dem Grundbuch Josefstadt, 19. 9. 1935, 16764. Auf Grund der Einantwortungsurkunde des Bez. Ger. Innere Stadt vom 6/7. 1935, 3 et 255/34 wird das Eigentumsrecht einverleibt für a) Isidor Kurtz zur Hälfte b) Helene Guyot [Anm.d.A. durchgestrichen, mit Bleistift Kurtz darüber geschrieben] zur Hälfte, Anteile ½ ½. 260 Benedikt Schwager, Die Jüdische Kultusgemeinde in Linz und ihre Tempel, Linz 1927, 40. 261 Moshe Yaakow Ben-Gavriel, Die Flucht nach Tarschisch, Hamburg 1963, 68. 262 Zum Gedenken an Theodor Kurtz wurde am 7. 7. 2011 in Salzburg, Linzer Gasse 28 ein Stolperstein verlegt. URL: http://www.salzburg.com/wiki/index.php/Theodor_Kurtz 263 Theodor KURTZ, der zuletzt in Wien-Leopoldstadt, Große Mohrengasse 16/15, wohnte, wurde am 22. 11. 1942 verhaftet und am 10. 2. 1943 vom Landesgericht Wien wegen »Vergehens gegen die Kriegswirtschaftsverordnung« zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Er starb am 24. 8. 1943 im Zuchthaus Stein mit nur 26 kg Körpergewicht. Wagner,

Jüdisches Leben in Linz, 1273-1287. 264 Ben-Gavriel, Die Flucht nach Tarschisch, 69. 121

Er ging nach Wien und heiratete die wohlhabende Juwelierstochter Berta Herzl, deren Eltern das Geschäft im 1. Bezirk Innere Stadt, in der Spiegelgasse 23 besaßen, ein großes Antiquitätengeschäft und eine luxuriöse Wohnung. Das junge Ehepaar wohnte ebenfalls im 1. Bezirk in einem repräsentativen Haus in der Weihburggasse 4 Tür 25.265 Dem Ehepaar Kurtz wurde am 20. 8. 1897 ein Sohn Wilhelm (Willi) und am 3. 8. 1898 eine Tochter Helene (Lilly) geboren. Nach Auskunft der Israelitischen Kultusgemeinde ist die gesamte Familie Kurtz im Jahre 1922 aus dem Judentum ausgetreten.266 Ein Mal jährlich gab es ein Familientreffen der Familien Kurtz und Töpfer in Bad Ischl, wo auch die durch Heirat mit den Kurtztöchtern verwandte jüdische Familie Töpfer da- bei war. Ebenfalls durch Heirat einer Kurtztochter (Karoline) mit Dr. Höflich Gabor er- gab sich eine große Verwandt-schaft, wobei alle Mitglieder der Linzer Kultusgemeinde waren, angesehene und wohlhabende Großfamilien, die sich durch karitative Tätigkei- ten und eine großzügige Stiftung für wohltätige Zwecke auszeichneten.267 Anfang Jänner 1930 war an gleicher Adresse, Weihburggasse 4, das Dienstmädchen der Familie Kurtz, Anna Esel, gemeldet.268 Seit 4. 11. 1939 war sie dann ebenso wie der inzwischen verwitwete Isidor Kurtz (er verstarb 6. 12. 1940), im 2. Bezirk Leo- poldstadt in der Glockengasse 18/3-4 bis 2. 2. 1945 mit gemeldet. Das bedeutet, dass beide aus der Wohnung in der Weihburggasse vertrieben wurden. Im Haus in der Glo- ckengasse 18 wohnten außer Isidor Kurtz auch noch drei andere jüdische Bewohner, was anhand ihrer aufgezwungenen Zweitnamen „Israel“ zu erkennen ist. Isidor Kurtz war zu diesem Zeitpunkt bereits ein alter Mann von 79 Jahren und Anna Esel hat sich nach dem Tod seiner Frau Berta am 18. 7. 1934 vermutlich um ihn und den Haushalt gekümmert. Das könnte ein Grund sein, dass ihr dann aus Dankbarkeit und aufgrund eines Beschlusses vom 26. 9. 1942 die Hälfte des Hauses Kellermanngasse 8 als Ei- gentümerin vermacht wurde.269 Interessant ist, dass sie aber laut Meldezettel noch bis zum 2. 2. 1945 in der Glockengasse gemeldet blieb, aber ebenso schon 1942 als Ei- gentümerin in der Kellermanngasse aufscheint.270 Ein anderer Grund kann sich aus dem Schicksal des Sohnes von Isidor Kurtz, Willi, der eine Wohnung in der Kellermanngasse 8 Tür 9 hatte, ergeben haben (siehe Seite 12). Mit 3. 7. 1938 findet sich im Staatsarchiv ein „Verzeichnis über das Vermögen von Ju- den nach dem Stand vom 27. 4. 1938“, in welchem Isidor Kurtz sein gesamtes Vermö-

265 Wagner, Jüdisches Leben in Linz, 1284. Chaia Grenadier (ihr Vor-und Mädchennname in Österreich war Ottilie Töpfer), telefonisches Interview, 15. 8. 2003. 266 Wolf-Erich Eckstein, Matrikenamt I, Archiv der Israelistische Kultusgemeinde (IKG), 1010 Wien, Seitenstettengasse 4, vom 19. 12. 2012. 267 Verena Wagner, Jüdisches Leben in Linz, 1273-1286. 268 MA8-B-MEW-7674/2012 vom 7. 12. 2012. 269 1. 10. 1942, 8353, 21 A 1502/40. Auszug aus der Eintragung in Grundbuch Josefstadt. Auf die Hälfte des Isidor Kurtz o.z. 2a wird aufgrund der Einantwortungs vom 5. Februar 1942, 21 a 1502/40/10 und des Beschlusses vom 26. September 1942 das Eigentumsrecht einverleibt für Anna Esel. ½. 270 Lehmann 1940, Bd. II, 920. 122 gen offenlegen musste, worin unter anderem sein Wohnhaus in der Kellermanngasse angeführt wird. Nach dem Novemberpogrom hatte sich der Druck auf die jüdischen EigentümerInnen durch die geforderte Judenvermögensabgabe erhöht. Dement- sprechend findet sich in seiner Veränderungsanzeige vom 12. 12. 1938, dass sich sein Vermögen auf nur mehr 5.270,- RM verringert hat. Er hatte für Bestreiten seines Le- bensunterhalts bereits das vom 27. 3. 1938 angegebene Guthaben verbraucht und teilweise vom Verkauf von Einrichtungsgegenständen gelebt. Er gibt an, dass das auch der Grund sei, warum er zwei kleine Waldmüllerportraits und eine Silberkassette aus seinem Besitz veräußern musste.271

6.1.1 Wilhelm (Willi) Kurtz

Das Schicksal des einzigen Sohnes von Isidor und Berta Kurtz ist ein tragisches. Er ist einer von Millionen, die durch das nationalsozialistische Regime ermordet wurden. Der im Jahre 1938 41-jährige Willi Kurtz war, so wie sein Vater Isidor, eine imposante Er- scheinung, fast zwei Meter groß und sportlich aktiv beim jüdischen Sportverein Hakoa. Als Kommerzialrat und gerichtlich beeideter Experte und Schätzmeister hatte er ein großes Kunst- und Antiquitätengeschäft in der Weihburggasse 12 (der heutigen Ärzte- zentrale) und eine Wohnung im Haus seines Vaters in der Kellermanngasse 8, Tür Nr. 9. Aus dieser Wohnung ist er vertrieben worden. Auch er musste, wie alle anderen Ju- den, die ein Vermögen von über 5.000,- RM besaßen, dieses deklarieren. Sowohl sein Geschäft in der Weihburggasse 12, sein Wochenendhaus im Strandbad Klosterneuburg als auch der gesamte Wohnungsinhalt wurden geschätzt. Nachdem der jüdischen Be- völkerung die Gewerbekonzessionen entzogen wurden, konnten die arisierten Besit- zungen an die Volksgenossen zu einem günstigen Preis verkauft werden.272 Am 25. 5. 1939 wurde Franz Haberknapp eine Verfügung der Vermögensverkehrsstelle zugestellt, dass er einen Wertausgleich von 975 RM für die am 9. 12. genehmigte Übernahme des Antiquitätengeschäftes des Willi Kurtz in der Weihburggase 12 zu ent- richten habe. Das wertvolle Inventar der Kurtz'schen Wohnung wurde am 20. 5. 1938 beschrieben und bewertet. Mit Bleistift geschrieben, findet sich darauf eine Notiz „10 Kisten Königstein [„verladen“? in Kurzschrift, Anm. d. A.] nach Dorotheum“ (siehe Ab- bildung 1 und 2). Als größtes Pfand- und Versteigerungshaus des „Dritten Reiches“ verfügte es über die nötige Infrastruktur, um die geraubten Güter zu Geld zu machen. „Das Dorotheum arbeitete intensiv mit den NS-Behörden (, Zoll- und Fi-

271 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Finanzen, Bestände: VVSt/VA 1879, Vermögensanmeldung vom 3. 7. 1938. 272 ÖSTA, VVSt/VA 45246, 1. 8. 1938. 123

nanzbehörden, Gemeinde Wien) zusammen. Diese brachten Raubgut aus jüdi- schem Besitz – von der Küchenkredenz bis zum Kunstwerk – im Dorotheum zur Versteigerung ein.“273

Vor dem Haupthaus im 1. Bezirk in der Dorotheergasse bildeten sich über Wochen lan- ge Menschenschlangen. Tonnen von Edelmetall wurden den jüdischen Eigentümern ab- genommen, eingeschmolzen und ins „Altreich“ geschickt. Auf Seite vier der Vermö- gensanmeldung hat ein kommissarischer Verwalter, ein sogenannter „Treuhänder“, für Willi Kurtz das Vermögensverzeichnis unterschrieben, weil „Herr W. Kurtz befindet sich seit 4 Monaten in Dachau. Ich der Komm. Verwalter habe obenstehende Angaben [Schätzung der Wohnung] nach bestem Wissen und Gewissen gemacht.“274

Auf einer Abschrift der Geheimen Staatspolizei Wien, 1. Österreichertransport nach Dachau (Prominente) am 1. 4. 1938 findet sich Willi Kurtz [als Willi Kurz] mit Nr. 69 auf der Liste der Deportierten.275 Wie lange er dort festgehalten wurde, ist nicht mehr nachvollziehbar, es gibt jedoch seine eigenhändige Unterschrift auf einer Seite im Akt, mit dem Stempel des Finanzamtes Neubau, Wien 7, Seidengasse 20, vom 20. 12. 1938276 (siehe Abbildung 3). Das spricht dafür, dass Willi Kurtz möglicherweise wieder nach Wien entlassen worden war. Diese Vermutung findet eine Bestätigung, da es eine telefonische Information von Chaia Grenadier277 gibt, d. i. (seine Kusine Ottilie Töp- fer), in der sie berichtet, dass er in der Pogromnacht am 10. 11. 1938 von den Nazis fast erschlagen wurde, sich seine Schwester Helene (Lilli) Kurtz-Guyot gerade noch nach Frankreich retten konnte. Warum sich Willi Kurtz nicht eben- falls retten konnte, ist unklar.278 Willis Vater Isidor, dem das Haus Kellermann- gasse gehörte, war bereits 1940 verstorben, seine Schwester geflüchtet, Willis Wohnung arisiert. Da wurde im September 1942 das ehemalige Dienstmädchen der Familie Kurtz, Anna Esel, die neue Besitzerin des Hauses, also einen Monat, bevor Willi Kurtz am 16. 10. 1942 von Buchenwald mit der Häftlingsnummer 68539279 nach Auschwitz deportiert wurde, das er nicht überlebte. Sein Todes-

273 http://oe1.orf.at/artikel/204136, (abgerufen am 8. 3. 2013). 274 ÖSTA, VVSt/VA 45246, 1. 8. 1938, 3. 275 Die österreichischen Nationalsozialisten, vor allem jene im Justiz- und Sicherheitsapparat, hatten schon vor dem "Anschluss" Listen mit Gegnern des NS-Regimes erstellt. Der Häftlingstransport am 1. 4. 1938 setzte sich vor allem aus Funktionären des Regimes 1933-1938 sowie prominenten Sozialdemokraten und Juden zusammen. URL: http://www.doew.at/erkennen/ausstellung/gedenkstaette-salztorgasse/die-etablierung-der-gestapo-leitstelle- wien (abgerufen am 20. 3. 2013). 276 ÖSTA, VVSt/VA 45246, 1. 8. 1938, 9. 277 Chaia Grenadier, (ihr Vor-und Mädchenname in Österreich war Ottilie Töpfer) telefonisches Interview, 15. 8. 2003, in: Verena Wagner, Jüdisches Leben in Linz 1849-1943, Bd. II Familien, Linz 2008, 1285. 278 Nach dem Novemberpogrom wurden viele freigelassen, wenn sie bereit waren, unter Hinterlassung ihres Vermögens, zu emigrieren. 279 Nur im Konzentrationslager Auschwitz wurden Häftlinge auch tätowiert. Einerseits um Verwechslungen von entkleideten Leichen auszuschließen und andererseits um geflohene Häftlinge leichter zu identifizieren. Normalerweise wurde die Häftlingsnummer auf den linken Unterarm tätowiert. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Kennzeichnung_der_H%C3%A4ftlinge_in_den_Konzentrationslagern (abgerufen am 27. 3. 2013 124 datum ist mit 9. 12. 1942 angegeben.280

Abbildung 1: Liste des beschlagnahmten Inventars der Wohnung von Willi Kurtz.

280 DÖW, URL: http://www.doew.at/result (abgerufen am 20. 10. 2012). 125

Abbildung 2: Liste des beschlagnahmten Inventars der Wohnung von Willi Kurtz.

126

Abbildung 3: Seite 4 im Vermögensverzeichnis mit dem Hinweis auf den Aufenthalt von Willi Kurtz in Dachau. 127

6.1.1 Helene (Lilly) Kurtz

Nach dem Krieg gibt es am 21. 9. 1957 eine Eintragung im Grundbuch das Haus Kel- lermanngasse 8 betreffend: „Aufgrund der Staatsbürgerschaftsbestätigung vom 13. 10. 1954 und desTauf- scheines vom 10. 9. 1957 wird angemerkt, daß der Helene Guyot o. z. 2 B der Name „Kurtz“ zukommt.“281

Die Tochter Helene (Lilly) Kurtz, verehelichte Guyot, hatte in Wien in zweiter Ehe, Richard Ernst Alberti nach evangelischem Ritus geehelicht. Auf dem Wiener Zentral- friedhof, Krematorium, befindet sich ein Urnengrab282 (Abt. 1/3/3/122) aller Mitglieder der Familie Kurtz und Alberti, welches, wie ich bei meinem Besuch feststellen konnte, aufgrund des vorhandenen Blumenschmucks, offensichtlich betreut wird.

6.2 Familie Frenkel

Nach Angaben des Historischen Meldeamtes war David Frenkel, geb. 6. 4. 1887 in Buczacz in Polen, mosaischer Konfession, seit 24. 3. 1938283 in der Kellermanngasse 8, Tür Nr. 6, in einer 108,53 m² großen Drei-Zimmer Wohnung mit seiner Familie ge- meldet. Die Familie bestand aus fünf Personen, dem Ehepaar David und Ester Frenkel, geb. 1. 4. 1884 Adamovka in Polen, geborene Reiss284 und deren drei Kinder, Emilie, Aurelia und Otto. Interessant ist, dass Familie Frenkel zwölf Tage nach dem „An- schluss“ aus ihrer Wohnung im 7. Bezirk Neubau in der Mechitaristengasse 5, in der sie viele Jahre wohnten, auszog, um nur ca. 100 Meter weiter, in die Kellermanngasse 8, Tür Nr. 6 zu ziehen. Diese hatte Therese Linzer kurz vorher, nach siebenjährigem Aufenthalt, verlassen. Herr Frenkel war Geschäftsbesitzer einer Autozubehörhandlung in der Neustiftgasse 36. Das Geschäft befand sich an der Ecke zur Kellermanngasse. Es ist daher möglich, dass er Hinweise bekam, dass im Haus Kellermanngasse 8 eine Wohnung frei wurde. Da es sich beim Hausbesitzer Isidor Kurtz und dessen Sohn ebenfalls um Juden han- delte, ist es möglich, dass sie sich schon bedingt durch die Nähe der beiden Häuser kannten und Isidor Kurtz Herrn Frenkel die freie Wohnung angeboten hat. In der Kel- lermanngasse 3 befand sich eine Tabaktrafik, deren Besitzer, Familie Weindl, 1938 ebenfalls in eine leere Wohnung in der Kellermanngasse 8 gezogen sind. Diese Trafik kann ein Kommunikationszentrum für die acht Häuser der in der Kellermanngasse le-

281 Eintragung 7161, Grundbuch Josefstadt vom 21. 9. 1957. 282 Das Geburtsdatum von Willi Kurtz ist auf dem Grabstein falsch angegeben, er wurde am 20. 8. 1897 geboren. Das Wort Auschwitz ist falsch geschrieben [Anm. d. A.] 283 MA 8 – B-MEW-6859/2012, vom 9. 11. 2012. 284 In Dokumenten wird der Name auch Ernestine und Estera geschrieben. 128 benden Bewohner gewesen sein. Hier kann Herr Frenkel, der um die Ecke sein Ge- schäft hatte, über die freie Wohnung informiert worden sein. Warum die Familie Fren- kel aus der Wohnung in der Mechitaristengasse 5 ausgezogen ist, kann nicht festge- stellt werden. Möglicherweise wurde ihre Wohnung arisiert. Herr und Frau Frenkel mussten als Juden ihre Vermögen deklarieren, dazu gehörte, abgesehen von Herrn Frenkels Autozubehörgeschäft, auch das Warenlager und ein Wohnhaus in der Schönbrunnerstraße 19 im 5. Bezirk Margareten, das den Eheleuten zu jeweils der Hälfte gehörte285 und ein Kraftfahrzeug mit dem Kennzeichen A11673 der Wanderer Werke AG.286 Die Familie hatte die Absicht, das Land zu verlassen, was sich anhand des Schreibens vom 4. Januar 1939 eines gesetzlichen Vertreters feststel- len lässt: „Betrifft: David Frenkel, VII. Neustiftg. 36 Auf Grund meiner Vorsprache v. 30. v. M. haben Sie bei H. Görlich tel. veran- laßt, ob die Kontribution v. Hausverwalter H./bur (?) Goda zu entrichten ist. Selber behauptet, bislang keinen verb. Auftrag erhalten zu haben. Ich erbitte daher – wegen Beschleunigung der Paßausgabe – eheste endgültige Erledigung. Mit bestem Dank Ob(?) RM: 857.67“287

Unter dem Datum 16. 1. 1939 findet sich im Staatsarchiv von der „Auswanderungsab- teilung der Israelitischen Kultusgemeinde, Gebührenbemessungsangelegenheiten“ ein „Vermögens-bekenntnis“. Offiziell war die Israelitische Kultusgemeinde von den Natio- nalsozialisten im März 1938 geschlossen und im Mai 1938 unter dem Namen „Jüdische Gemeinde Wien“ wieder eröffnet worden. Der Leiter der „Auswanderungsabteilung der Kultusgemeinde“, Benjamin Murmelstein, der für die Emigration der Wiener Juden und Jüdinnen zuständig war, hat durch seinen Einsatz vielen jüdischen MitbürgerInnen das Leben gerettet.288 So auch dem Ehepaar Frenkel, das mit 1. 6. 1939“ im Historischen Meldeamt als nach „Milano abgemeldet“ aufscheint.

6.2.1 Aurelia Frenkel

Eine Tochter der Familie, Aurelia, geb. 25. 11. 1915 in Wien, studierte an der Wiener Universität Pharmazie, musste diese aber als Jüdin 1937 verlassen.289 Sie flüchtete 1938 nach Großbritannien und konnte ihr Studium im schottischen Glasgow abschlie- ßen, wo sie auch ihren späteren Ehemann, Charles Fund, kennenlernte, mit dem sie in

285 VVSt/VA 36289 und 36290, 9. 12. 1938. 286 URL: http://www.technischesmuseum.at/datenbanken-zu-kraftfahrzeugen-in-oesterreich-in-den-1930er-und- 1940er-jahren. 287 VVSt/VA 36289, Brief vom 4. 1. 1939. 288 URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Zentralstelle_für_jüdische_Auswanderung_in_Wien (abgerufen am 21.1.2013). 289 URL: http://gedenkbuch.univie.ac.at/ (abgerufen am 16.2.2013). 129 die USA auswanderte. Ihre 1949 geborene Tochter Claire Fund gab am 26. 10. 2005 Karen Tannenbaum ein Interview, in welchem sie von der Ausreise ihrer Großeltern David und Ester Fren- kel, der abenteuerlichen Flucht ihrer Mutter Aurelia in die Schweiz und der geglückten Ausreise ihrer Tante Emily und ihrem Onkel Otto berichtete. Aurelia Frenkel starb am 16. 9. 2009 im Alter von 93 Jahren in Brookline, Norfolk County (Massachusetts).290 Nach der 1939 erfolgten Ausreise der Familie Frenkel aus Wien findet sich im Staatsar- chiv von der Geheimen Staatspolizei eine mit 25. 4. 1941 datierte „Beschlagnahme- verfügung“, in der das gesamte Vermögen der Familie „aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung mit dem Ziele der späteren Einziehung zu Gunsten des Deut- schen Reiches beschlagnahmt“ wurde und ein „Rechtsmittel gegen diese Beschlagnah- meverfügung“ nicht zulässig war. Mit gleichem Datum wurde ein Vermögensverwalter bestellt, der das „Ausbürgerungsverfahren“ und die „Aberkennung der Staatsangehö- rigkeit“ eingeleitet hat. „Er ist zur Geheimhaltung verpflichtet.“ Mit 10. 6. 1941 erfolg- te in einem Schreiben an die „Arbeitsgruppe 3, Betriebsentjudung“ und „Arbeitsgruppe 4, Liegenschaften“ die endgültige Verfügung über den Verfall des Vermögens der Familie Frenkel „zu Gunsten des ,Deutschen Reichesʻ.“ Am 5. 1. 1942 erging eine Verfügung der „Abwicklungsstelle der Vermögensverkehrs- stelle“ an die Firma Eugen Preyß im 7. Bezirk Neubau, Neustiftgasse 36, betreffend „David Isr. Frenkel, Handel mit Kraftfahrzeugzubehör.“ Sie schrieb als Wertausgleich für die „Entjudungsauflage“, den Erwerb und die Übernahme einen Betrag von RM 7.344,- vor, womit die Firma Frenkel arisiert worden war.291

6.3 Therese Linzer

Therese Linzer, geb. 7. 4. 1865 in Wien, geborene Pflieger, Obermagistratsratswitwe, war seit dem 21. 4. 1934 in der Kellermanngasse 8, Tür Nr. 6, bis zum 1. 3. 1938 ge- meldet.292 Dann verließ sie die Wohnung, in welche die Familie Frenkel einzog. Da sie alleine in der großen Wohnung gemeldet war, ist es möglich, dass sie ausziehen muss- te, um der fünfköpfigen Familie Frenkel Platz zu machen. Es kann allerdings auch sein, dass sie aus dem Haus ausziehen wollte, weil es einen jüdischen Eigentümer hatte. Sie war eine 73jährige Frau, wobei ihre Wohnungswechsel während der folgenden drei Jahre umso erstaunlicher erscheinen: 17. 11. 1937 - 28. 8. 1938 – 19, Heiligenstädterstraße 165/1

290 Karen Tannenbaum, Interviewer in the College of Charleston Liberies, Jewisch Heritage Collection Oral History, October 26, 2005. Claire Fund recounts how her Jewish parents survived World War II. Her father [...] born in Yeremsha, Poland, in the early 1900s […] trained as an engineer in France, joined a branch of the French Army, and ended up in Glasgow, Scotland. There he met his wife, Aurelia Frenkel of , who had escaped Austria on foot. 291 ÖSTA, VVSt/VA 36289 und 36290. 292 MA 8-B-MEW-6849/2012 vom 9. 11. 2012. 130

2. 9. 1938 - 30. 4. 1939 – 6, Esterhazygasse 1/3/17 4. 5. 1939 - 10. 6. 1939 – 17, Neuwaldeggerstraße 23 (Pension Neuwaldegg) 19. 8. 1939 - 3. 10. 1939 – 19, Neustift am Walde 24/1 9. 10. 1939 - 31.1. 1940 – 8, Auersperggasse 21/3/4 1. 2. 1940 - 29. 7. 1941 – 8, Blindengasse 44/5b (Elisabeth Frauenheim)

Da sie als Witwe eines Obermagistratsrates nicht arm gewesen sein wird, könnte sie ihre Aufenthaltsorte deshalb so oft gewechselt haben, weil sie, wie z. B. in der Pension Neuwaldegg oder im Elisabeth Frauenheim, Pflege erhielt und dort oder bei anderen Personen oder Verwandten untergebracht war. Da sie überall gemeldet war, wollte oder musste sie offensichtlich auch nicht „untertauchen“. Die Pension Neuwaldegg im Bauhaus-Stil erbaut, in der Frau Linzer einen Monat verbrachte, war ein elegantes Ho- tel am Rande des Wienerwalds, wie ein Gemälde aus dem Jahre 1929 beweist, das ge- genüber der Rezeption des jetzigen Hotels Neuwaldegg hängt. Das Elisabeth-Heim, gegründet am 28. 6. 1919 als „Verein zur Schaffung von Heim- stätten für den Mittelstand", wurde ab Oktober 1940 auf Grund des Reichsleistungsge- setzes für bessarabische (ostrumänische) Umsiedler in Anspruch genommen. Danach, ab 1. 4. 1941, vom Amt für Volkswohlfahrt der NSDAP, für die erweiterte Kinderland- verschickung und die Unterbringung von Müttern und Kindern aus luftgefährdeten Ge- bieten. Der Verein wird mit fünf anderen Wiener Wohlfahrtsvereinen zum einzigen Wiener Wohlfahrts- Heimstättenverein zwangsfusioniert und besaß neben anderen Heimen das „Kaiserin Elisabeth Frauenheim“ im 8. Bezirk Josefstadt, Blindenheimgas- se 44, in dem Therese Linzer ihre letzten fünf Lebensmonate verbrachte.293 Da es sich bei diesem Haus um eines einer nationalsozialistischen Organisation handelte, kann davon ausgegangen werden, dass Frau Linzer keine Jüdin war.

6.4 Familie Dr. Aurel Jalcowitz

Auf Tür Nr. 4 im Haus Kellermanngasse wurde eine 116 m² große Wohnung von Dr. Aurel Jalcowitz, geb. 17. 6. 1898, in Bukarest, römisch- kath. und Gattin Erna geb. 3. 11. 1909, geborene Marsch, in Wien, seit 3. 8. 1935 bewohnt. Dr. Jalcowitz, der als Neurologe an der Wiener Poliklinik tätig war, publizierte in verschiedenen in- und aus- ländischen medizinischen Fachzeitschriften.294 Nach Angaben des Historischen Meldeamtes wurde er mit 8. 5. 1938 nach „Buenos Ai- res, Amerika“ abgemeldet, seine Frau Erna „bleibt in Wien“. Als Religionsbekenntnis wird römisch katholisch angegeben, er war aber Jude und „rassisch“ verfolgt. Seine 30-jährige Frau Erna, die in Wien blieb, war ab 30. 7. 1938 im 5. Bezirk Margareten in

293 URL: http://www.elisabethheim.at/inhalt3-1.php (abgerufen am 20. 3. 2013). 294 http://webapp.uibk.ac.at/alo_cat/searchresult.jsp (abgerufen am 18. 3. 2013). 131 der Einsiedlergasse 58/5 gemeldet, mit 11. 10. 1938 jedoch wieder abgemeldet. Ver- mutlich ist sie dann aus Wien Richtung Buenos Aires ihrem Mann nachgereist.295 Bei meiner Recherche fand sich eine Jalcowitz Ernestine, geb. 1872 in Bacu, und ein Jalcowitz Hermann, geb. 1856 in Iassi, Rumänien, beide von Beruf Ingenieur, die nach Wien gekommen sein müssen, weil sie im Verzeichnis der IKG 1905/204 und 1905/206 als „aus dem mosaischen Glauben ausgetreten“ vermerkt sind.296 Da deren Alter als Eltern zu dem des Dr. Aurel Jalcowitz passt und auch er in Rumäni- en geboren wurde, kann mit Sicherheit angenommen werden, dass es sich bei ihm um ihren Sohn gehandelt hat.

6.5 Valerie (Walli) Taubner

Nach dem „Anschluss“ Österreichs ist Frau Valerie Taubner, geb. 1891 in Wien, gebo- rene Schnee, laut IKG am 25. 3. 1938 aus dem Judentum ausgetreten. 297 Sie war eine 47-jährige Witwe nach Bela Taubner, der am 3. 4. 1937 verstarb. Beide waren seit 1919 im 5. Bezirk Margareten in der Schönbrunnerstraße 55/6 gemeldet. Beim histori- schen Meldeamt liegt im Akt ein Zettel, auf dem steht, „Für den Zeitraum 10. 11. 1939 bis zum 8. 12. 1947, 7, Kellermanngasse 8 (keine Türnummer vermerkt), Valerie TAUBNER, Herren- und Damenwäsche, 7, Lerchenfelderstraße 27, Unternehmer: Walli Taubner, 6 Hofmühlgasse 6, verwit- wet“.298

Ab 27. 5. 1939 wohnte Frau Taubner im 6. Bezirk in der Hofmühlgasse. Sie hatte ein Herren- und Damenwäschegeschäft im Haus Kellermanngasse 8 = Lerchenfelderstraße 27, es kann aber kein Straßenlokal gewesen sein, da das einzige Geschäft des Hauses schon seit 1936 das Lebens-mittelgeschäft der Familie Rieder war. Mit ziemlicher Si- cherheit hat Frau Taubner die frei gewordene Wohnung des Herrn Dr. Jalcowitz über- nommen und dort ihr Wäschegeschäft geführt. Bei dem späteren Besitzer dieser Woh- nung, Herrn Jandak, der ebenfalls Wäsche- und Blusen-erzeuger war, ist es zu einer Übernahme des Wäschegeschäftes der jüdischen Frau Taubner gekommen. Auf der Meldekarte der MA 8 ist von ihr keine Abmeldung verzeichnet, weder von der Hof- mühlgasse noch vom Geschäft Kellermanngasse, im Lehmann scheint sie jedoch ab 1941 nicht mehr auf. Frau Taubner hat als Jüdin aber die Zeit des Nationalsozialismus

295 MA 8– B-MEW-6860/2012, vom 9. 11. 2012. 296 Anna Staudacher, ...meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben, Frankfurt/M. 2009, 275. Die im Jahre 1868 in Kraft getretenen interkonfessionellen Gesetze waren die Grundlage dafür, dass nur der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft ermöglicht wurde (bisher erfolgte dieser ausschließlich automatisch bei Annahme der Taufe). Der Austritt erfolgte nunmehr vor dem Wiener Magistrat, ab 1892 vor dem Magistratischen Bezirksamt des Wohnortes. Ab sofort genügte eine formlose schriftliche Erklärung, Staudacher, Austritt aus dem mosaischen Glauben, 9. 297 Wolf-Erich Eckstein, IKG, vom 19. 12. 2012. 298 MA 8– B-MEW-6861/2012, vom 3. 12. 2012. 132

überlebt. Ihr Grab Nr. 99, Gruppe J1, befindet sich am Baumgartner Friedhof, auf dem sie am 30. 3. 1976 beerdigt wurde.

6.6 Ida Ettl

Seit 25. 11. 1935 ist Frau Ettl, geb. 23. 4. 1891 in Wien, geborene Hatzinger, Musike- rin, in der Kellermanngasse gemeldet. Das Meldeamt299 gibt als Wohnung Nr. 1 an, was nicht stimmen kann, da in dieser Wohnung die Hausbesorgerin, Frau Anna Müller, schon seit 1933 wohnte. Vielleicht bedeutet die Angabe 8/1 Hausnummer 8 und 1. Stock. Manchmal sind die Angaben des Meldeamtes nicht sehr genau bzw. falsch, da die mir übermittelten Eintragungen der MieterInnen für die BeamtInnen manchmal schwer lesbar waren. Frau Ettl ist mit 3. 1. 1940 in die Lerchenfelderstraße 33/26 ge- zogen, das sind genau zwei Häuser weiter. Auch hier kann vermutet werden, dass sie über eine frei gewordene Wohnung informiert war oder sie dorthin als ledige Hatzinger zog und den Namen Ettl erst durch ihre Heirat mit Johann Ettl erhielt. Es könnte sich bei diesem allerdings auch um ihren Vater oder Bruder handeln, der dort gemeldet war und auch 1942 dort noch aufscheint. Die Ursache für das frühe Ableben der Ida Ettl, am 17. 8. 1941 in Wien, als erst 47-jährige, ist nicht bekannt.300

6.7 Barbara Mussil

Geb. am 31. 7. 1872 in Guntersdorf, N.Ö., römisch- kath., geborene Peyfuss, verwit- wet nach Gatte Franz, geb. 11. 12. 1858 in Mödlau, verstorben 20. 4. 1918 in Wien, war seit 18. 5. 1937 in der Kellermanngasse Tür Nr. 12 gemeldet und ist bis zum Ende 1947 bei der MA 8 nicht abgemeldet. Sie ist aufgrund der Eintragung im Lehmann in der Kellermanngasse nur bis 1941 wohnhaft. Da sie bereits 65 Jahre alt war, kann sie verstorben sein. Allerdings gibt es von ihr keine Sterbedaten.301

6.8 Dr. Oscar Raffelsberger

Ein Hofrat im Ruhestand, geb. 27. 5. 1867 in Wien, k.k. Landesgerichtsrat, ledig und römisch-kath., bewohnte seit 16. 5. 1912 die 85 m² große Wohnung Tür Nr. 10 in der Kellermanngasse. Am 26. 11. 1938 ist er von dort abgemeldet und im 1. Bezirk Innere Stadt in der Stubenbastei 1/3/9 mit 2. 12. 1938 neu gemeldet. Er hat also 26 Jahre in der Kellermanngasse gewohnt und es stellt sich die Frage, warum er nach so vielen

299 MA 8 – B-MEW-6857/2012 vom 9. 11. 2012. 300 MA 8 – 6857/2012 vom 9. 11. 2012. 301 MA 8 – B-MEW-6861/2012 vom 9. 11. 2012. 133

Jahren diese Wohnung aufgegeben hat. Er kann gekündigt worden sein oder selbst ge- kündigt haben, um nicht in einem Haus mit einem jüdischen Besitzer zu wohnen. Es kann ihm aber auch der Aufstieg in den dritten Stock zu seiner Wohnung, er war be- reits 71 Jahre alt, zu mühsam geworden sein. Beides Vermutungen. Nicht auszuschlie- ßen ist jedoch, dass er es sich hat „verbessern“ können und in eine „arisierte“ Woh- nung in bester Lage gezogen ist. Er starb am 12. 9. 1944 als 77-Jähriger und ist am Wiener Zentralfriedhof Gruppe 71C Reihe 8 Nr. 21 begraben.302

6.9 Melanie Mückler

Frau Mückler war Modistin und hatte ihre Wohnung im 6. Bezirk Mariahilf in der Girar- digasse 9, ihr Geschäft allerdings in der Kellermanngasse 8. Dieses kann sich aber nur in einer Wohnung oder den unteren Räumlichkeiten (zwei Räume im Hochparterre, die später von der Hausmeisterin Frau Müller bezogen wurden) befunden haben, da das einzige Geschäft des Hauses bereits das Lebensmittelgeschäft des Herrn Rieder war. 303 Nähere Angaben über sie waren nicht zu erfahren.

7 BewohnerInnen vor 1938 bis nach 1945

7.1 Anna Esel

Wie und warum Frau Esel zur neuen Besitzerin der Hälfte des Hauses wurde, kann heute nur mehr Spekulationen überlassen werden. Sie wurde am 3. 1. 1893 in Höflein bei Bruck a/d. Leitha geboren, war ledig, römisch-katholisch und „arischer“ Abstam- mung, sonst hätte sie dieses Haus nicht erhalten. Vielleicht wollte sie dieses Haus für ihre ehemaligen Dienstgeber bewahren, vielleicht für die nach Frankreich geflüchtete Tochter der Familie, der die andere Haushälfte gehörte. Es kann aber genauso gut sein, dass sie aus Dankbarkeit in den Genuss des Objektes kam, weil sie viele Jahre mit der Familie zusammengelebt hatte oder als „Arierin“ in den Besitz der Haushälfte kam. Solange ich im Haus in der Kellermanngasse wohnte, war sie für die Bewohner „die Hausfrau“, und Berichte, dass sie die Geliebte von Isidor Kurtz gewesen sei, kann ich nicht beurteilen. Dass sie „nur das Dienstmädchen“ war und plötzlich Hausbesitzerin wurde, kann die Phantasie der HausbewohnerInnen in dieser Hinsicht beflügelt haben. Frau Esel war

302 MA 8 – B-MEW-6846/2012 vom 9. 11. 2012. 303 Die Eintragung des Geschäftes der Frau Mückler scheint erst 1942 im Lehmann auf, d.h. dass sie es 1941 gemeldet hatte. 134 schon 45 Jahre und um vier Jahre älter als der ebenfalls ledige Willi Kurtz. Dessen Va- ter, Isidor Kurtz, mit dem sie im 2. Bezirk Leopoldstadt in der Glockengasse 18 gemel- det war, war immerhin schon ein Mann von 79 Jahren. Ich habe Frau Esel während der 20 Jahre, die ich im Haus lebte, kaum zu Gesicht be- kommen. Sie war eine „einfache Person“304, schien ein einsames Leben zu führen und hatte selten Besuch. Wenn wir Kinder im Haus laut waren, wurden wir angehalten, „wegen der Hausfrau“ ruhig zu sein. Ich hatte den Eindruck, dass sowohl die Bewoh- nerInnen nach dem Krieg als auch sie keinen besonderen Kontakt anstrebten. Da sie im vierten Stock, damals noch ohne Lift, wohnte, verließ sie ihre Wohnung nicht häu- fig. Ihren ursprünglichen Namen Esel schrieb sie damals schon mit einem doppelten „s“.305 Sie hatte neben ihrer Wohnungstür einen kleinen Block mit Bleistift für Mittei- lungen aufgehängt. Ich erinnere mich, als Kind auf diesen Zettel einmal „Esel“ ge- schrieben zu haben, worauf mich meine Mutter deswegen zur Rede stellte. Offensicht- lich hatte sich die Hausfrau darüber bei den Hausparteien beklagt. Sie verstarb am 20. 7. 1971 in Wien Penzing, zu diesem Zeitpunkt war ich bereits aus der Kellermanngas- se ausgezogen.306

7.2 Anna Müller

Frau Müller war die Hausbesorgerin des Hauses, sie war aus dem Banat.307 Sie wäre wohl die gewesen, die am meisten über die Geschehnisse und die Menschen des Hau- ses hätte Auskunft geben können. Da sie für die Sauberkeit, das Versperren des Hau- stors um 21 Uhr und das Öffnen bei vergessenem Schlüssel bei Nacht verantwortlich war, hat sie die Zeit und Lebensformen vor, während und nach dem Nationalsozialis- mus und die Fluktuation der MieterInnen miterlebt. Ihren jüdischen Hausherrn genau- so, wie später dessen Dienstmädchen als neue Hausfrau, die jungen Frauen, wie u. a. meine Mutter, die nach den „verschwundenen MieterInnen“ einzogen, und die jungen Männer, die als Soldaten auf Heimaturlaub kamen. In der Feldpostkorrespondenz mei- ner Eltern finden sich auch immer „Grüße von der und an die Frau Müller“, und auch die Erwähnung, dass mein Vater an die Front von ihr Postkarten bekommen hatte. Sie war es auch, die das verpflichtende Beflaggen des Hauses mit der Hakenkreuzfahne vom Dachboden aus vorgenommen hat. Ich erinnere mich, dort oben in einem Eck, eine zusammengerollte Fahne gefunden zu haben, in deren Mitte über einem Loch, ein

304 Telefonat der Autorin vom 12. 11. 2012 mit meiner ehemaligen Schulfreundin Mag. Angela Stein, geb. Angelides, die mit mir im gleichen Haus in der Kellermanngasse 8, Tür 6 wohnte. 305 Auf den Zinsvorschreibungen der MieterInnen. Der Pfarrer von Höflein teilte mit, dass sich Frau Anna Esel später mit einem doppelten „s“ geschrieben hat, also Anna Essel. Telefongespräch der Autorin vom 11. 3. 2013 mit der Pfarre Höflein bei Bruck/Leitha. 306 MA 8 – B-MEW-7674/2012 vom 7. 12. 2012. 307 Telefonat vom 12. 11. 2012 mit Mag. Stein. 135 rot-weiß-roter Fleck dort eingenäht worden war, wo sich früher das Hakenkreuz be- fand. Frau Müller bewohnte eine Wohnung im Souterrain, halb unter der Erdoberfläche mit zwei vergitterten Fenstern zur Straßenseite, was ihrer Gesundheit nicht zuträglich war. Im Halbgeschoss darüber, dem Hochparterre, befanden sich ebenfalls zwei kleine Räu- me, die ihr als Schlafzimmer dienten. Heute sind es Lagerräume der Wiener Messing- Werkstätte. Gegenüber der Eingangstür zu diesen Räumen befand sich damals ein Wasserhahn am Gang, da es innerhalb ihrer Räume kein Wasser gab. Vom Histori- schen Meldeamt gibt es zu ihr keine Meldeunterlagen, da der Name Anna Müller so häufig ist, dass ohne Geburtsdaten keine Angaben über ihr Ableben bzw. Abmeldung möglich sind. Nur im Lehmann scheint sie auf. Sie muss aber alt geworden sein, denn sie hat mich durch meine Jugendjahre insofern „begleitet“, dass ich sie oft nachts, wenn ich meinen Schlüssel vergessen hatte, heraus läutete, damit sie mir das Haustor aufsperrt.

7.3 Die Familien Kofler, Welzl, Menzl und Trautmann

Diese vier Parteien, auf Tür Nr. 5, 7, 11 und 12 a haben diese Wohnungen schon Jahre vor dem „Anschluss“ bewohnt und sind auch bis zu ihrem Tod in diesen geblieben. Fa- milie Kofler auf Tür Nr. 5 bestand aus dem alten Herrn Kofler und dem jungen Ehepaar Otto Kofler, das gegen Kriegsende eine Tochter bekam. Die beiden anderen Mieterin- nen waren während der „NS-Zeit“ bereits Witwen. Emilie Welzl geb. 13. 4. 1884 in Krakau, römisch- kath. wohnte seit 3. 9. 1929 auf Tür Nr. 7 und starb am 22. 7. 1947. Frau Therese Menzl wohnte auf Tür Nr. 11, sie war bereits Pensionistin und Witwe, leb- te aber mit einem Herrn zusammen, der optisch Mahatma Gandhi ähnlich sah, runde Brille, kahler Kopf, vergeistigtes Aussehen und ihm auch mit seiner puristischen Klei- dung nahe kam. So trug er im Sommer kurze Leinenhosen und Ledersandalen ohne Socken, er ging barhäuptig, was in einer Zeit, wo die meisten älteren Männer Hüte trugen, ungewöhnlich war. In der kälteren Jahreszeit hatte er einen Lodenumhang, was ihm dann ein ländliches Aussehen verlieh. Ich erwähne diesen Herrn, den wir „Opa Fürst“ nannten, weil er mich als Kind durch seine Erscheinung und seine ange- nehme Art beeindruckte. Auch pflegte er zu meinen Eltern einen freundlichen, sich in einem gewissen Einverständnis beiderseits zeigenden Kontakt. Heute vermute ich, dass sie ihre ehemalige nationalsozialistische Gesinnung stillschweigend verband. Auf Tür Nr. 12 a wohnte Friedrich Trautmann, geb. 2. 9. 1874 in Wien, Rechnungs - Revident der Wiener Stadtbuchhaltung und römisch- kath. Er war in der Kellermann- gasse seit 12. 2. 1912 mit seiner Gattin Clara, geb. 10. 10. 1877 und ihrem Sohn 136

Kurt, geb. am 8. 3. 1905, gestorben am 19. 7. 1920, gemeldet. Die Familie ist somit die am längsten in diesem Haus bis zum „Anschluss“ lebender Mieter. Friedrich Traut- mann ist am 26. 5. 1941 in Wien gestorben, seine Wohnung Tür Nr. 12 a wurde die der neuen Hausbesitzerin Anna Esel.308

8 BewohnerInnen nach 1939

Im Jahr 1939 finden sich im Lehmann fünf neue Mieter im Haus in der Kellermanngas- se. Sie sind in leer gewordene Wohnungen der ermordeten, vertriebenen, verstorbe- nen oder ausgezogenen Mieter eingezogen. Diese neuen Mieter sind mir alle bekannt, weil ich mit ihnen bis zu meinem Auszug aus der Kellermanngasse im gleichen Haus wohnte. Alle haben die „Nazizeit“ und den Krieg überlebt, manche waren überzeugte Nationalsozialisten, ob sie es nachher auch noch waren, weiß ich nicht. Alle haben da- von profitiert, eine frei gewordene Wohnung in einem gutbürgerlichen Haus zu erhal- ten. Welche Verbindungen sie hatten, um in den Genuss dieser Wohnungen über das Wohnungsamt zu kommen, ist nicht mehr nachvollziehbar, es können aber eine gewis- se Nähe, Mitgliedschaft oder Beziehungen zu einer der Organisationen der NSDAP nicht ausgeschlossen werden. Während der letzten Kriegstage, erzählte meine Mutter, sind die BewohnerInnen ge- meinsam im Luftschutzkeller des Hauses gesessen, die Männer waren alle eingerückt und der einzig ältere Mann, Herr Jandak hat nach der Eroberung Wiens durch die Rus- sen, den ängstlichen jungen Frauen und Müttern im Haus geholfen, mit einem Baum- stamm das schwere Haustor gegen die Treppen so abzustützen, dass man es von au- ßen nicht aufmachen konnte. Meine Schulkollegin309 berichtete, dass ihr ihre Mutter erzählte, wie es im Luftschutz- keller auch manchmal „recht lustig zugegangen“ sei, da die Tochter von Frau Weindl, Herma, „kein Kind von Traurigkeit“ war. In Erinnerung ist mir das vertraute und höfliche Verhältnis der BewohnerInnen des Hauses zueinander. Sie hatten seit 1939 in dem Haus gemeinsam den Krieg er- und überlebt, und das schien für die damals noch jungen Soldaten und Frauen das Verbin- dende gewesen zu sein, auch später das Schweigen darüber. Auf Nachfrage wurde mir erklärt, durch die „Auswanderung der Juden nach Amerika“ sei man zu den Wohnun- gen gekommen. Erklärungen, die im Fall der Familie Frenkel und Jalcowitz nicht un- richtig waren, aber über Willi Kurtz und die anderen war nichts zu hören. Schon mög- lich, dass die neuen Mieter gar nicht wussten, wer vorher in den Wohnungen gelebt

308 MA 8 – B-MEW-279800/2013 vom 11. 4. 2013. 309 Angela Stein, Telefonat vom 12. 11. 2012. 137 hatte, dass es aber arisierte sein mussten, wird ihnen wohl nicht verborgen geblieben sein. Dass sie das Verschwinden von Juden und Jüdinnen mitbekommen haben müs- sen, ist auch klar. Und dass sie nicht alle nach Amerika oder Palästina ausgewandert sind, konnte man sich aus den Schilderungen der Soldaten, die von der Front auf Hei- maturlaub kamen, zusammenreimen. Auch ließen die Rundfunkreden der NS-Füh- rungsspitze keinen Zweifel darüber, was man mit der jüdischen Bevölkerung vorhatte, nämlich sie auszurotten. Außer meiner Schulkollegin, die auch im Hause wohnte, lebt niemand mehr, der mir Auskunft über diese Zeit geben könnte. Wir beide haben aber noch Erinnerungen, über die ich im Folgenden, zu den jeweiligen Mietern, kurz berich- ten will:

8.1 Leopoldine Angelides

Frau Angelides zog am 11. 5. 1939 mit zwei Söhnen, die beide eingerückt waren, in die frei gewordene Wohnung der Familie Frenkel ein. Diese ist mit 1. 5. 1939 nach „Milano“ abgemeldet. Die Enkelin von Frau Angelides, Mag.a Angela Stein, war meine Schulkollegin. In einem Telefonat teilte sie mir mit, dass in der Wohnung ihrer Groß- mutter nach dem Krieg zwei ausgebombte Familien, ihre Eltern und Onkel mit Frau und Kindern lebten. Ihr Vater Rudolf wurde nach ihren Angaben von den Amerikanern abgeholt und ging in Schärding in Gefangenschaft, weil der Lebensmittelhändler im Haus, Herr Karl Rieder (nach ihren Angaben) ein „verschlagener Typ“ gewesen sei, der ihren Vater „vernadert“ hätte. Die Familie Angelides waren, soweit ich von meinen El- tern weiß, wie fast alle im Haus, „feste Nazis“.

8.2 Wilhelmine Rieger geborene Fally

Bei Frau Fally handelt es sich um meine Mutter, die am 15. 8. 1907 in Wien geboren wurde und in der Wohnung Nr. 8 in der Kellermanngasse mit 5. 11. 1938 als gemeldet aufscheint.310 Vorher hat sie im Schwesternheim des Allgemeinen Krankenhauses ge- wohnt. Sie hat die Wohnung in der Kellermanngasse 8, Tür Nr. 8 vermutlich wie alle anderen über das Wohnungsamt erhalten. Sie war von Beruf Krankenschwester und 1938 noch ledig. Ab Juli 1938 finden sich in einem ihrer Taschenkalender, u. a. Notizen zu Ausgaben, folgende Eintragungen: „Juli N.S.F (Nationalsozialistischer Frauenverein 2,50 RM Deutscher S.V. (Deutscher Schwesternverein) RM 1,- August-Dezember monatlich N.S.V. (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) RM 1,50, N.S.F. RM 0,50“

310 MA 8-B-MEW-7673/2012 vom 7. 12. 2012 mit einem Vermerk getraut 1942 mit Otto Rieger. 138

Am 28. 9. 1938 wurden die gesetzlichen Vorschriften für die Krankenpflege geregelt und durch das Gesetz zur Ordnung der Krankenpflege reichsweit vereinheitlicht. In Ös- terreich trat diese Neuordnung ab dem 2. 12. 1938 in Kraft.311 Nach der Machtüber- nahme der Nationalsozialisten 1938 wurden der österreichische Berufsverband und die Katholische Schwesternschaft Österreichs aufgelöst. Die weltlichen Schwestern muss- ten sich in die drei im Reich bestehenden Schwesternorganisationen eingliedern.312 Es dürften aber bald nach dem Anschluss Krankenschwestern in diese Vereine aufgenom- men worden sein. Das ist daran ersichtlich, dass meine Mutter diese Beträge im Juli 1938 das erste Mal einzahlte. Ihre Mitgliedschaft bei einer dieser Organisationen könn- te Ausschlag dafür gewesen sein, dass sie, obwohl sie alleinstehend war in Zeiten von Wohnungsnot, diese Wohnung erhalten hat. Im November findet sich ein Eintrag über RM 70,80 für drei Monatsmieten, die sie bei ihrem Einzug im Voraus bezahlen musste. Eingetragen ist auch die möglicherweise il- legale Ablöse von 550,- RM, die sie für die Wohnung an eine Frau Cermak, vermutlich die Hausverwalterin, bezahlte und die sie sich am 29. 10. 1938 von einem befreunde- ten Geschäftsmann ausgeliehen hatte. Dabei handelte es sich um eine beträchtliche Summe, wenn man bedenkt, dass dies damals mehr als drei Monatsgehälter waren. 1942 lebte meine Mutter noch immer allein in der Wohnung und das Wohnungsamt hat ihr vermutlich mit dem Entzug der Wohnung gedroht, weil für sie als Einzelperson kein entsprechender Wohnbedarf vorlag. Sie hat dem Referenten wohl erzählt, dass sie und mein Vater, den sie 1938 kennen und lieben gelernt hatte, zu heiraten gedäch- ten, da er aber an der Front in Russland unabkömmlich sei, sich die Heirat verzögere. Diese Umstände sind durch eine Passage in einem Feldpostbrief meines Vaters belegt, der als Obergefreiter aus Russland schreibt: „Nun ein ernstes Wort zu der Wohnungsfrage. Es ist schön und gut was Dir der Referent erklärt hat, doch hat er gewiß noch keine Kugel pfeifen gehört und ist noch nie um sein Leben gelaufen, viel weniger weiß er was Soldat sein heißt und was in einem solchen Herzen vorgeht, ferner daß ein Wort welches gespro- chen ist auch gehalten wird, wenigstens bei mir. Das Wohnungsamt kann dar- über nicht bestimmen und Dir einfach die Wohnung kündigen, wo sie bereits eingerichtet ist, ferner habe ich da auch noch ein Wort mitzureden und wenn es den Herren auf dem Amt zu gut geht und nicht im Guten zu verhandeln ist, dann eben im Schlechten und da will ich sehen, ob man mir mehr glaubt oder dem Herrn im Frack […].“313

Der Referent am Wohnungsamt schien offenbar an den Heiratsplänen seine Zweifel gehabt zu haben, daher auch die Äußerung meines Vaters über ein Eheversprechen „daß ein Wort welches gesprochen ist auch gehalten wird“. Im August 1942 bekam er dann Heiratsurlaub, sodass sich das Wohnungsamt nicht mehr einschaltete und die

311 Krankenpflege im Nationalsozialismus, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Krankenpflege_im_Nationalsozialismus/ 312 Karin Jirku, Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der österreichischen Krankenpflege, Dipl. Arb., Wien 2010, 12. 313 ObGf .Otto Rieger, Feldpostbrief, Russland 4. 3. 1942. 139

Wohnung im Besitz meiner Mutter blieb. Als sie im Herbst 1938 in diese Wohnung ge- zogen war, war diese offensichtlich leer, da es in der Feldpostkorrespondenz zwischen ihr und meinem Vater immer wieder zu einem Informationsaustausch darüber kommt, welche Einrichtungsgegenstände fehlten und welche sie beabsichtigt zu kaufen. So gibt er ihr in einem seiner Briefe den Rat, zu schauen, eine Schlafzimmereinrichtung zu bekommen, weil es sein kann, dass es vielleicht bald keine mehr geben wird. Über- haupt waren für ihn die neuen Einrichtungsgegenstände, sogar Vasen und Bilder, von großem Interesse, da er sie um Fotos bat, die ihm die entsprechenden Veränderungen in der Wohnung zeigen sollten. Damit wollte er immer am Laufenden sein und an der Front in seiner Vorstellung dort, wo sich meine Mutter aufhielt. Während seiner Heimaturlaube kann davon ausgegangen werden, dass er mit fast al- len BewohnerInnen im Haus Kontakt hatte, schon weil er ihnen im Stiegenhaus begeg- nete und diese von meiner Mutter in Vorfreude über sein Kommen informiert waren. Sie werden sich dann auch über den Kriegsverlauf und ihre Ehemänner und Söhne an der Front unterhalten und seine Beförderungen und Auszeichnungen bewundert ha- ben. Da sie noch unverheiratet waren und wegen des „Getuschels“ und der herr- schenden Moralvorstellungen der übrigen HausbewohnerInnen, erteilten sie ihrer Be- ziehung als künftige Brautleute einen offiziellen Status. Mein Vater als „Reichsdeut- scher“ schien für die BewohnerInnen etwas Besonderes gewesen zu sein, denn sie lie- ßen ihm durch die Briefe meiner Mutter Grüße schicken, ja sogar die Hausbesorgerin schrieb ihm Karten an die Front. Auch nach dem Ende des Kriegs, als mein Vater „als Deutscher“ im Herbst 1945 aus der Gefangenschaft zurück in die Kellermanngasse kam, wurde er in der Hausgemeinschaft geschätzt, ein Verhalten, das ihm von vielen anderen Wienern aufgrund seines deutschen Akzents nicht entgegengebracht wurde.

8.3 Leopoldine Hübner

Leopoldine Hübner, Private, findet sich als Mieterin im Haus schon seit 1933 im Leh- mann. Sie war auch weiterhin Mieterin einer Wohnung bis nach dem Krieg. Im Nach- lass meiner Mutter fand ich von Frau Hübner einen Brief, datiert mit 15. 8. 1945, in welchem sie meiner Mutter für die „Wege, die sie für mich gemacht haben“ dankt. Bei diesen Wegen handelte es sich um ihre Pension, bei der es ihr darum ging, „daß sie nicht verfällt oder verloren geht. Dasselbe hoffe ich auch von meiner Wohnung und ich bitte sie vielmals mich sofort zu verständigen oder zu mir zu kommen, wenn Gefahr droht, daß ich sie verlieren sollte.“

Vermutlich stand ihre Wohnung zu diesem Zeitpunkt leer und Frau Hübner wohnte an einer anderen Adresse in Niederösterreich, da sie meiner Mutter anbot, zu ihr zu kom- 140 men: „Wenn Sie Erdäpfel brauchen, kommen Sie und holen Sie sich welche. Steigen Sie in Jedlersdorf od. Floridsdorf ein, da ist die Kontrolle nicht zu streng“.

Im gleichen Brief schreibt sie auch, dass bei einem Transport von Kartoffeln nach Wien diese beschlagnahmt wurden. Eine Kontrolle der „gehamsterten Waren“ begann durch die Russen bei der Reichsbrücke. Frau Hübner wohnte dort mit ihrer Mutter, da sie von dieser im Brief auch Grüße bestellte. Leider ist nicht nachvollziehbar, welche Wohnung sie in der Kellermanngasse meinte, und auch das Historische Meldeamt konnte dar- über keine Angaben machen.

8.4 Familie Franz Jandak

Luise und Franz Jandak hatten bereits eine Wäscheerzeugung im 16. Bezirk Ottakring, Gaulackergasse 17, bevor sie am 3. 1. 1939 von Valerie Taubner die Wohnung Tür Nr. 4 übernahmen (siehe 6.5 Valerie Taubner). Herr Jandak, seine Frau und zwei Töchter, Edith und Lisi, nach deren beiden Anfangsbuchstaben er seiner Firma den Namen „EDLI“314 gab, schneiderten in der großen Wohnung in erster Linie Blusen. Als einziger Mann im Haus bei Kriegsende vermittelte er den jungen Frauen Sicherheit, er verbarri- kadierte das Haustor und half ihnen bei den Schwierigkeiten, die durch die Bomben- schäden in der Stadt die Versorgung mit Wasser und Strom zeitweilig unmöglich machten.

8.5 Familie Richard Pribil

Bei der Familie Richard Pribil handelte es sich um drei Personen, ein Ehepaar und ein kleines Mädchen, das während des Kriegs geboren wurde. Bereits am 3. 5. 1939 zog die Familie in die arisierte Wohnung Nr. 9 des Willi Kurtz ein. Dieser war zu dieser Zeit, bevor er 1942 von Buchenau nach Auschwitz deportiert wurde, im Konzentrationslager Dachau.

8.6 Familie Karl Rieder

Herr Rieder war der Inhaber eines Lebensmittelgeschäftes im Hause. Das Geschäft hatte den Eingang genau an der Ecke des Hauses zur Lerchenfelderstraße, seine Woh- nung befand sich vier Häuser weiter in der Lerchenfelderstraße 19. Es war mir unklar, warum die Mieter des Hauses nicht bei ihm einkauften, wo sich das Lebensmittelge-

314 Angela Stein, Telefonat vom 12. 11. 2012. 141 schäft doch im Haus befand. Dass Herr Rieder während des Kriegs aufgrund der Le- bensmittelrationierungen den Müttern für ihre Säuglinge nicht mehr Milch und andere Nahrungsmittel verkaufte, kann ein Grund dafür sein, warum die Hausbewohner nach dem Krieg nicht bei ihm einkaufen wollten. Es kann aber auch sehr gut möglich sein, dass es den BewohnerInnen nach dem Krieg peinlich war, als ehemalige Nationalsozia- listen bei dem Mann und seiner Frau, die mit ihm das Geschäft führte, und die ihren Sohn im Krieg verloren hatten, einzukaufen. Viele Jahre nach dem Krieg, in den 50-er Jahren, hat mich meine Mutter dann doch „schnell zum Herrn Rieder“ einkaufen geschickt, wenn plötzlich etwas beim Kochen fehlte. Ich konnte dann, wenn die anderen Lebensmittelgeschäfte schon geschlossen waren, hinten beim Lieferanteneingang klopfen und das Gewünschte kaufen. Herr Rie- der war immer freundlich und zuvorkommend zu mir, ich fühlte mich aber, weil er und ich wussten, dass wir sonst in einem anderen Geschäft einkauften, immer peinlich be- schämt.

8.7 Familie Franz Weindl

Dabei handelte es sich um das Ehepaar Franz und Maria mit ihrer Tochter Herma, eine ledige und offenbar lebenslustige junge Frau. „Im Luftschutzkeller ging es mit ihr lus- tig zu“, wurde Frau Stein von ihrer Mutter berichtet. Das erzählte auch der, gegenüber in der Kellermanngasse 6 befindliche Friseur, Herr Strangfeld, der ebenfalls bei Gefahr, so wie andere Bewohner der Umgebung, in diesen Luftschutzkeller kam. Das Ehepaar Weindl führte eine Tabaktrafik, die sich in der Kellermanngasse 3, also schräg gegen- über vom Haus Nr. 8 befand und die sicher ein Kommunikationszentrum der einkau- fenden BewohnerInnen in der kurzen Gasse darstellte. Am Wochenende wurden Zei- tungen, Kreuzworträtsel, Romanhefte und Zigaretten gekauft. Damals durfte noch in den Trafiken geraucht werden und so hielt man sich dort auch länger auf. Mit Sicher- heit wurde über Politik gesprochen, über arisierte Wohnungen und Geschäfte, Haus- meisterInnen und auch Blockwarte werden dort verkehrt sein. So wird auch die Fami- lie Weindl, so wie andere der Zugezogenen aus der Umgebung, über die freie Woh- nung in der Kellermanngasse informiert gewesen sein. Sie zogen am 24. 11. 1938 von ihrer vorherigen Wohnung im 6. Bezirk in der Bürgerspitalgasse 17 aus und in die Kellermanngassenwohnung Nr. 10, die Herr Raffelsberger verlassen hatte, ein. 142

9 Schlussbetrachtung

Bei den Nachforschungen zu den aus dem Haus Kellermanngasse 8 verschwundenen BewohnerInnen bin ich auf für mich überraschende Ergebnisse gestoßen. So kenne ich zwar das Haus, aber niemanden, der einst im Haus wohnte. Schon allein die Suche nach deren Namen und den dazugehörigen Wohnungen war, trotz der Hilfe des Histori- schen Meldeamts, ein mühsames Unterfangen. Aber so tragisch die Geschichten man- cher dieser Wiedergefundenen sind, so wichtig ist es, sie aus dem Vergessen geholt zu haben. Dass es sich bei der Anzahl nur um wenige MieterInnen des Hauses handelte, war ein Vorteil bei meiner Recherche. Drei Generationen, die ich nachverfolgte, haben in den Wohnungen des um die Jahr- hundertwende gebauten dreistöckigen Hauses mit nur zehn Wohnungen und einem Straßengeschäft gelebt. Die meisten der ersten Generation waren um 1900 geboren und in einem gutbürgerlichen Milieu aufgewachsen. Sie waren, mit Ausnahme der Hausbesorgerin, von Beruf höhere Beamte oder Akademiker, ein jüdischer Arzt, jüdi- sche Geschäftsleute wie die Familie Frenkel und der jüdische Hausbesitzer und reiche Antiquitätenhändler Willi Kurtz. Kurz nach dem „Anschluss Österreichs“ 1938 konnte der im Haus wohnende jüdische Arzt Dr. Jalcowitz noch rechtzeitig ins Ausland flüch- ten, ebenso wie das Ehepaar Frenkel unter Hinterlassung seines gesamten Vermö- gens. Deren drei Kinder, konnten sich jedes auf abenteuerliche Weise vor den Natio- nalsozialisten retten. Helene, die Tochter des Hauseigentümers Isidor Kurtz, floh noch rechtzeitig in der Pogromnacht nach Frankreich, ihrem Bruder Willi gelang die Flucht nicht mehr. Er wurde schon beim ersten „Prominententransport“ nach Dachau über- stellt und von dort weiter nach Auschwitz, wo er 1942 ermordet wurde. Nur das Dienstmädchen der Familie Kurtz überlebte und übernahm als neue Besitzerin das Haus in der Kellermanngasse 8. Die folgende Generation, die 1938-1939 nach Vermitt- lung des Wohnungsamts in die von den Nationalsozialisten arisierten Wohnungen zog, waren „arische“ MitbürgerInnen, wie auch meine Mutter und ihr späterer Ehemann, mein Vater, ein „Reichsdeutscher“, der sich während der Kriegsjahre an der Front be- fand. Die neuen BewohnerInnen waren aus einem anderen Milieu als die „verschwun- denen“. Es waren Handwerker, Arbeiter, kleine Geschäftsleute und Witwen. Sie waren durch die Nationalsozialisten in den Genuss von Wohnungen gekommen, was eine Ver- besserung ihrer Wohnsituation darstellte und ohne ihre Nähe oder Vermittlung durch eine nationalsozialistische Organisation nicht möglich gewesen wäre. Der Zusammen- halt dieser Hausbewohner festigte sich im Krieg und hatte zweifellos auch mit ihrer gemeinsamen nationalsozialistischen Gesinnung zu tun. Nach Ende desselben waren sie mit den Nachkriegsproblemen so beschäftigt, dass ihre Gedanken sich um ihr tägli- 143 ches Überleben und später den Wiederaufbau drehten. Dass sie den Krieg ablehnten, war wohl allen gemeinsam. Was das Aufarbeiten der Ursachen desselben betraf, hatten ich und die Kriegs- und Nachkriegskinder im Haus als dritte Generation, nicht den Eindruck, dass sie ihre Gesinnung verändert und sich schonungslos ihrer Vergan- genheit gestellt hätten. So, wie sie über ihre Vergangenheit nicht oder wenig gespro- chen haben, so haben wir auch nicht gefragt, ein Versäumnis, das ich jetzt, wo ich mich mit der Geschichte des Hauses und seiner BewohnerInnen beschäftigt habe, be- daure. Jetzt, wo die ehemaligen BewohnerInnen, die angeblich nichts von oder über ihre vertriebenen oder ermordeten VorgängerInnen wussten, bereits verstorben sind, bin ich die Einzige, die noch in diesem Haus wohnt und die MieterInnen, die nach 1945 dort lebten, kannte. Deshalb habe ich auch über sie berichtet, da es für mich einen kausalen Zusammenhang zwischen den BewohnerInnen vor 1938 und denen danach gibt und der die Vorgangsweise eines Systems zeigt, von dem bis heute Menschen profitiert haben. Im Haus Kellermanngasse 8 hängt eine Hausordnung aus dem Jahre 1920. Hinter Glas und durch ein Schloss gesichert, lesen wir nicht ohne Amüsement die ehemaligen Vorschriften für das Verhalten von MieterInnen. Tausende Male sind BewohnerInnen an dieser Tafel vorbeigegangen, ohne dieselbe überhaupt und die Un- terschrift darauf wahrzunehmen und, wenn es doch der Fall gewesen sein sollte, sagte ihnen der Name Willi Kurtz nichts mehr. Mit dieser Arbeit will ich seinen Namen und der anderen „verschwundenen BewohnerInnen“ aus der Vergessenheit in die Gegen- wart holen. 144

10 Abbildungen

• Abbildung 1: Liste des beschlagnahmten Inventars der Wohnung von Willi Kurtz. • Abbildung 2: Liste des beschlagnahmten Inventars der Wohnung von Willi Kurtz. • Abbildung 3: Seite 4 im Vermögensverzeichnis mit dem Hinweis auf den Aufenthalt von Willi Kurtz in Dachau. 145

Cornelia Rosenkranz

Die jüdische Seite

Entwurzelung und Vertreibung meiner Familie – Eine Fallstudie 146

Urheberrechts- und Personenschutzbestimmungen:

Diese Arbeit ist als geistige und selbständige Schöpfung zu bezeichnen und damit durch das Urheberrechtsgesetz geschützt. Die Arbeit oder Teile davon dürfen nicht vervielfältigt, zitiert, für andere (auch wissenschaftliche!) Arbeiten verwendet oder ohne Zustimmung der Autorin an Dritte weitergegeben oder übersetzt werden. Da es sich bei verarbeiteten Daten um persönliche und private Details zum Teil noch lebender Personen handelt, ist auch eine mündliche Weitergabe von Informationen nicht gestattet – aus Respekt vor der Geschichte und dem Willen der behandelten Per- sonen. Daher möchte ich an die Leser und Leserinnen dieser Arbeit appellieren, die Details und Informationen der erwähnten Personen unter Verschluss zu halten und diese auch nicht verbal weiterzugeben. Nicht nur meiner bereits verstorbenen Vorfahren wegen, sondern da auch meine noch lebenden Verwandten mit zu entscheiden haben, ob dies an die Öffentlichkeit gelangen soll oder nicht. Da ich diese bei der Entscheidung nicht übergehen möchte, soll die Arbeit so privat wie möglich bleiben. Ich habe mich gegen eine Verschlüsselung und Anonymisierung der Namen entschie- den, da die Arbeit als wissenschaftlich bezeichnet werden soll und dies daher nur hin- derlich, sowohl beim Schreiben, als auch beim Lesen und Nachvollziehen der Quellen wäre. Sollte es je um eine Veröffentlichung dieses Werkes gehen, werden die Namen und der Hintergrund der Geschichte aber anonymisiert werden. Die Dokumente, welche aus Privat- und Familienbesitz zitiert werden, befinden sich größtenteils im Besitz von meiner Großtante Emilie Friedberg, die mich bei der Quel- lenfindung sehr unterstützt hat. Auch mein Vater Peter Riesenfeld-Zernhof hat mir vie- le wichtige Quellen zukommen lassen, ohne die ich diese Arbeit nicht so ausführlich und vollständig hätte schreiben können. In diesem Sinne auch vielen Dank dafür! 147

Inhalt

1 Einleitung 148 2 Hintergrund der Familiengeschichte 148 2.1 Ort und Zeit 148 2.2 Geschichtlicher Hintergrund 149 2.3 Quellen und Methoden als Grundlage der Arbeit 151 2.4 Vorstellung der Familienmitglieder 152 3 Meine Eltern 153 4 Die jüdische Seite – Die Familie meines Vaters 154 4.1 Die Vorfahren meiner Großeltern 154 und deren Ausgangssituation Anfang der 1930er 4.2 August und Mirjam Berendt 154 4.3 Franz, Hannah und Joseph Mandelbaum 160 4.4 Geschichte meiner Großmutter Margarethe 161 und Urgroßmutter Rosa 4.4.1 Vorkriegszeit 162 4.4.2 Auswanderung nach England (Kriegszeit) 163 4.4.3 Nachkriegszeit 165 4.4.4 Rosa und Johann Friedberg 166 4.5 Sara und Emanuel Riesenfeld 168 4.6 Geschichte meines Großvaters Hermann 169 4.6.1 Vorkriegszeit 170 4.6.2 Auswanderung nach England 170 4.6.3 Nachkriegszeit 172 5 Kurzer Exkurs: Die Familie meiner Mutter – Mitläufer und Gleichgültige? 172 6 Umgang mit dem Holocaust in der Familie und meine Rolle 174 7 Schlussthese und Ergebnis der Forschungen 176 8 Abbildungen 178 148

1 Einleitung

Die Geschichte meiner Familie beinhaltet zwei sehr kontroverse Ursprünge, auf der einen Seite meine jüdischen Vorfahren, und auf der anderen Seite die sogenannten „Mitläufer“ die ihre Augen vor dem Antisemitismus und der Realität des NS-Regime verschlossen. In Rahmen dieser Arbeit möchte ich mit Hilfe von eingehender Recherche versuchen meine Familiengeschichte zu entschlüsseln sowie die einzelnen Stationen einiger mei- ner Vorfahren nachvollziehen zu können. Anhand des Beispiels meiner Familie möchte ich außerdem zeigen, wie ganze Stammbäume und über Jahrhunderte verwurzelte Fa- milien binnen kürzester Zeit verängstigt, entmündigt, denunziert, ihrer Habe beraubt und schließlich verjagt (wenn nicht davor sogar deportiert und ermordet) wurden. All diese Vorgänge sind in der Geschichte meiner Vorfahren und meiner Verwandt- schaft wiederzufinden, da viele, die nicht wie meine Großeltern nach England flüchte- ten, im Zuge des Holocaust – sei es durch die Flucht nach Polen, die Deportierung in Konzentrationslager oder Suizid – umkamen. Die Individualität einer Familie oder bestimmter Personen so herauszuheben ist ange- sichts der Massen, die dieses judenfeindliche System durchlaufen mussten, für mich unzureichend, beinahe fehl am Platz. Nichtsdestotrotz lässt sich so das Schicksal einer Familie auf einer kollektiven Ebene kontextualisieren, da eine erschreckend große Zahl an Menschen einen Weg ähnlich dem meiner Familie gehen mussten – allerdings oft ohne positivem Ende.

2 Hintergrund der Familiengeschichte

2.1 Ort und Zeit

Was den Ort der Geschehnisse anbetrifft wird Wien im Mittelpunkt stehen, da die ge- samte Familie dort ihren Ursprung und ihr Leben hatte. Ab 1938/39 wird auch England ein starker Bezugspunkt sein, da alle überlebenden Familienmitglieder dorthin aus- wanderten. Als zeitliche Eingrenzung und Hintergrund der hier dokumentierten Ge- schichte sollen die Jahre zwischen 1938, ab dem Anschluss Österreichs, bis 1945, also dem Ende des Zweiten Weltkrieges, behandelt werden. Zu diesen Jahren gibt es die meisten Unterlagen, wodurch sich ein gutes Bild der Ereignisse rekonstruieren lässt. Dennoch muss man für eine umfassende Darstellung einige weitere Jahre einbeziehen, was eine Erweiterung des zeitlichen Rahmens zur Folge hat. 149

2.2 Geschichtlicher Hintergrund

Die Geschichte meiner Familie ist stark von den historischen Ereignissen um sie ge- prägt. Der Antisemitismus war schon vor 1900 in Europa deutlich zu spüren, in den am stärksten industrialisierten und urbanisierten Ländern Mittel- und Westeuropas wurde der bereits seit Jahrhunderten existierende Antisemitismus deutlich verstärkt, in Wien trug beispielsweise vor allem Karl Lueger zu diesem Umstand bei. Besonders nach dem Ersten Weltkrieg machte sich die Judenfeindlichkeit verstärkt be- merkbar, den Juden wurde ein Boykott gegen den Krieg vorgeworfen und sie wurden als Wehrdienst- und Frontverweigerer dargestellt. „[…] die deutsche Niederlage, das wirtschaftliche Chaos nach dem 1. Weltkrieg bildeten einen fruchtbaren Boden, auf dem antisemitische Konzeptionen wach- sen und immer radikaler werden konnten. Sie mündeten schließlich in eine au- ßergewöhnlich brutale Variante – den Antisemitismus des NS-Regimes Deutsch- lands [und Österreichs].“315

So wanderten schon allein während des Ersten Weltkrieges bis zu eine Million Juden aus Europa auf andere Kontinente aus. Schon in den 1930er Jahren gab es Verfolgun- gen, und obwohl hinsichtlich der Gesetzeslage noch offiziell gleichberechtigt, hatten die Juden unter der zunehmenden Verschlechterung der Umstände und Lebensbedin- gungen zu leiden. Speziell der Anschluss und besonders die Pogrome (russisch für Ge- witter316) nach dem 10. November 1938, sowie die sogenannte Reichskristallnacht, in der hunderte Synagogen geplündert, Geschäfte in Brand gesetzt und Juden verhaftet bzw. sogar ermordet wurden317, änderten die Lebensbedingungen der jüdischen Bevöl- kerung in Wien grundlegend. In Deutschland wurden die Juden bereits seit 1933 aus dem wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen, sie wurden entlassen, verhaftet und ihr Eigentum arisiert, ohne dass ihnen jegliche rechtliche Ansprüche gewährt wurden. In Österreich dauerte dieser Pro- zess kaum ein Jahr, wodurch die antisemitischen Gesetze und Regelungen sowie Ver- bote im Vergleich zu Deutschland für die österreichischen Juden viel plötzlicher eintra- ten. Da man in Deutschland schon Erfahrung damit gemacht hatte, wie man eine Volksgruppe aus dem wirtschaftlichen und sozialen Leben schnell und effektiv aus- grenzen kann, wurde dies in Österreich erheblich schneller und konsequenter durchge- führt. Damit blieb den Juden nur eine Chance: Die Flucht. Dazu sagte Adolf Eichmann, wenige Stunden vor seiner Hinrichtung, auf die Frage: „Was hätten die Juden tun sollen? Wie hätten sie sich nach Ihrer Meinung weh- ren können?

315 Frank Stern (Hg.), Universalgeschichte der Juden. Von den Ursprüngen bis zu Gegenwart. Ein historischer Atlas, Wien 1992, 186. 316 Ebd., 190. 317 Ebd., 226. 150

Eichmann: Verschwinden, verschwinden. Unsere empfindlichste Stelle war, daß sie verschwinden, ehe sie erfaßt und konzentriert waren […].“318

So gut sie es konnten, versuchten auch meine Großeltern und deren Vorfahren zu flüchten. Vor allem junge oder relativ wohlhabende Juden suchten um Auswande- rungspapiere und Visa für diverseste Ländern an. Dies gestaltete sich meist jedoch nicht allzu einfach und wurde oftmals auch noch erschwert. Selbst wenn man genug Geld hatte, musste man zuerst eine ganze Reihe an Steuern zahlen, bevor man einen Reisepass erhielt.319 Überdies musste man ein gültiges Visum nachweisen können. Je- doch reichte dies in vielen Fällen immer noch nicht aus, tausenden Juden, die in Kon- zentrationslagern eingesperrt waren, durften trotz der gültigen Auswanderungspapiere erst dann ausreisen bzw. entlassen werden, nachdem sie erhebliche Geldsummen, Au- tos und andere Besitztümer als „freiwillige Sprende“ an Parteiortsgruppen sowie einze- lene Nazi-Funktionäre hinterlassen hatten.320 Damit war die Auswanderung vorwiegend mühsam, aber auch sehr teuer. Eine allgemeine Auswanderungsstelle gab es in diesem Sinne nicht, vielmehr waren es einige Organisationen, die gemeinsam den Juden bei der Emigration halfen. Die Aus- wanderung aus Wien wurde von der Zentralstelle für jüdische Auswanderung forciert, die von Eichmann ins Leben gerufen wurde und viel daran setzte, die Juden schnell außer Landes zu bringen. Auch die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Wien half vielen Flüchtlingen, ihre Papiere zusammenzutragen. Die Gildemeester- Auswanderungshilfs- aktion, die Wiener Zentrale der Quäker und die Gesellschaft der Freunde halfen eben- so; vor allem getauften Juden aber auch Christen, die keinen Ariernachweis erbringen konnten.321 In England waren die größten Hilfsorganisationen einerseits das Jewish Refugees Com- mittee sowie der Council for German Jewry, andererseits für Christen das International Christian Comittee und das Church of England Committee for „Non-Aryan“ Chris- tians.322 Wie viele Österreicher tatsächlich nach England emigrierten, ist aufgrund der vielen verschiedenen Organisationen schwer zu sagen. Britische Behörden gaben etwa 15.000 Menschen an, während die IKG und die Jüdische Historische Kommission von ca. 30.850 Österreichern sprachen (für den Zeitraum zwischen dem 13. 3. 1938 und November 1941).323 318 Götz Aly/Karl Heinz Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus, Berlin 1984, 90. 319 Wolfgang Benz/Claudia Curio/Andrea Hammel, Die Kindertransporte 1938/39. Rettung und Integration, Frankfurt am Main 2003, 11. 320 Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933- 1943, Frankfurt am Main 1988, 152. 321 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes/Wolfgang Muchitsch, Österreicher im Exil. Großbritannien 1938-1945, Wien 1992, 9. 322 Muchitsch, Österreicher im Exil, 9. 323 Ebd., 8. 151

Ab Kriegsbeginn am 1. 8. 1939 kam erschwerend hinzu, dass alle Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich als „enemy aliens“ eingestuft wurden, und daher in Inter- nierungslager kamen, um zu prüfen, ob sie eventuell Spione der Nationalsozialisten wären und diese bei einer Invasion unterstützen würden. Dafür wurden eigens „alien tribunals“ errichtet, die diese Tatsache genau überprüfen sollten.324 Diese klassifizier- ten 90 Prozent der Flüchtigen als Kategorie C, die als entlastend galt.325

2.3 Quellen und Methoden als Grundlage der Arbeit

Bei den Quellen stütze ich mich zum Teil auf die Methode der Oral History, also auf Zeitzeugengespräche mit meinen Eltern und Großeltern, sowie deren Geschwistern. Die Grundlage für meine Arbeit bilden zum größten Teil allerdings Dokumente, die sich im Nachlass meiner Urgroßmutter befanden, bzw. von meinem Vater aufgehoben wur- den. Auch im Österreichischen Staatsarchiv, sowie im Wiener Stadt- und Landesarchiv fan- den sich einige Urkunden, wie z.B. diverse Vermögensanmeldungen (VA). Bei diesen Dokumenten handelt es sich neben Geburts-, Tauf-, und Sterbeurkunden, den erwähn- ten VA auch um Briefwechsel zwischen Österreich und England, sowie um verschiede- ne Anfragen, z.B. auf Erlass von Steuern oder Ansuchen um ein Visum für die Verei- nigten Staaten. Aufgrund dieser Quellen war es möglich, ein großer Teil der Geschichte meiner Familie nachzuvollziehen, die durch die eine oder andere Erzählung erweitert werden konnte.

324 Muchitsch, Österreicher im Exil, 53. 325 Gesellschaft für Exilforschung/Societey for Exile Studies, Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Band 19, Jüdische Emigration zwischen Assimilation und Verfolgung, Akkulturation und jüdische Identität, München 2001, 107. 152

2.4 Vorstellung der Familienmitglieder

Abbildung 1: Stammbaum meines Vaters Peter Riesenfeld.

Quelle: Cornelia Rosenkranz. 153

Der hier abgebildete Stammbaum (siehe Abbildung 1) stellt nur die Vorfahren meines Vaters (Peter Riesenfeld) dar. Leider fehlen zu einigen Personen Geburts- und Sterbe- daten, die ich im Zuge meiner Recherche nicht ausfindig machen konnte. Die Namen in Klammer sind die Mädchennamen der weiblichen Verwandten. Darauf nicht zu fin- den ist die Schwester meines Vaters (Martina Rudolfs, geborene Riesenfeld) und die Schwester meiner Großmutter (Emilie Fuchs, geboren als Friedberg 1947). Auch Jo- seph Mandelbaum hatte laut Vermögensanmeldung seiner Mutter einen Bruder na- mens Leo, geboren 1902. Auf die Eltern von Emanuel und Sara, sowie von August Berendt werde ich nicht weiter eingehen, da mir keinerlei Informationen vorliegen. Der Vollständigkeit halber werden sie jedoch im Stammbaum angeführt. Leider ist es mir nicht möglich, alle Mitglieder der Familie einzubeziehen, da mir zwar immer von etwaigen Cousins und Cousinen meiner Großeltern erzählt wurde, ich aber weder Namen noch Geburtsdaten ausfindig machen konnte. Daher bleiben mir zu die- sen Personen der Familie nur kurze Kommentare, die ich nicht belegen kann. Den Stammbaum meiner mütterlichen Seite werde ich gegebenenfalls in Kapitel 5 (Kurzer Exkurs: die Familie meiner Mutter: Mitläufer und Gleichgültige) darstellen.

3 Meine Eltern

Durch die Heirat meiner Eltern wurden zwei Familien miteinander verbunden, die in der Geschichte ihrer Vorfahren wohl sonst eher nicht zueinander gefunden hätten. Doch waren besonders meine Eltern dabei eher unbeteiligt, auch für meine Großeltern dürfte die Judenvertreibung und -vernichtung nie eine große Diskussion gewesen sein. Aber auch hier hat die Zeit eine große Rolle gespielt, die Heirat meiner Eltern Peter und Gabi fand 1984 statt, als in meiner Familie schon länger keine Debatten über die Auswirkungen der judenfeindlichen Aktionen mehr geführt wurden. Abgesehen davon war die mütterliche Seite nie aktiv am Nationalsozialismus oder den Denunziationen beteiligt, hatte nicht von den Arisierungen profitiert, war aber auch nicht im Wider- stand tätig gewesen. Allerdings sei hier anzumerken dass meine Großeltern 1938 ge- rade mal elf bzw. vierzehn Jahre alt gewesen sind. Mein Vater Peter hatte immer wieder Nachforschungen angestellt, bei denen er durch- aus einiges herausfand. Mein Großvater Hermann erzählte immer gerne von den Er- eignissen damals, und hatte auch noch genug Dokumente zur Unterstützung seiner Erzählungen. Seine Frau, meine Großmutter Margarethe dagegen erzählte zwar immer wieder Ausschnitte, reagierte auf Nachfragen aber sensibel – das hat sich bis heute nicht geändert. 154

Auch meine Mutter Gabriele versuchte immer wieder mit ihren Eltern über den Krieg zu sprechen. Doch die beiden gingen nie ausführlich darauf ein, und antworteten meist ausweichend. So weiß man nur in etwa, was während des Krieges passierte und dafür viel mehr über die Nachkriegszeit – da war man gleich um einiges gesprächiger. So bleibt mir nur, die Ergebnisse meiner Eltern auszuwerten, weiterzuverwenden und wei- terzuführen, wie es hier in dieser Arbeit geschehen soll.

4 Die jüdische Seite – Die Familie meines Vaters

4.1 Die Vorfahren meiner Großeltern und deren Ausgangssituation Anfang der 1930er

Zur Zeit des Anschlusses und einige Jahre davor lebten drei Generationen meiner Fa- milie in Wien, meine Großmutter Margarethe Rosenkranz (geb. 1932), ihre Mutter Rosa Mandelbaum (geb. 1905), und deren Eltern Mirjam und August Berendt (geb. 1877/1874). Vermutlich war Rosa Mandelbaum noch mit Joseph Mandelbaum, dem leiblichen Vater von Margarethe verheiratet, allerdings weiß man nichts darüber, wann und wo sich dieser zu jenem Zeitpunkt befand. Auch von den Eltern des eben erwähnten Joseph ist bekannt, dass sie damals noch in Wien waren: Franz und Hannah Mandelbaum (in Bezug auf Franz fand ich keine Doku- mente, Hannah wurde 1859 geboren). Auch mein Großvater Hermann Riesenfeld (geb. 1919) und seine Eltern Sara (geb. 1986) und Emanuel (geb. 1890) lebten zumindest bis Anfang 1939 in Wien.

4.2 August und Mirjam Berendt

Zu August und Mirjam sind verhältnismäßig viele Quellen vorhanden, da im Nachlass deren Tochter Rosa Berendt noch viele Dokumente und Briefe zu finden waren, den- noch ist kein vollständige Rekonstrukion ihres Lebens möglich. Trotzdem kann man anhand der vorhandenen Dokumente auf einige wichtige Stationen und Ereignisse ih- res Lebens schließen und sich an einer Nachkonstruktion versuchen. August wurde als Sohn von Scheie Berendt und Resi, geb. Pler, im Juli 1874 in Wien geboren, und lebte dort auch bis zu seinem Tod am 17. Mai 1939. Mirjam Berendt wurde als Mirjam Zernhof am im Mai 1877 geboren, an welchem Ort ist unbekannt. Zu beiden Personen liegt ein Heimatschein vor, der bestätigt, dass Au- gust seit 1903 das Heimatrecht in Wien besaß.326 In Mirjams Fall besagt er, dass sie

326 Heimatschein von August Berendt, 1903. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 155

1902 das Heimatrecht in der Gemeinde Eibenschitz (Politischer Bezirk Brünn) in Mäh- ren inne hatte.327 Was Mirjam dazu bewegte, ihren Lebensmittelpunkt nach Wien zu verlegen, ist unge- wiss. Möglicherweise war sie schon seit einiger Zeit mit August liiert, und entschloss sich deswegen dazu. Auch wirtschaftliche Probleme könnten dazu geführt haben. Auch wenn keine Heiratsurkunde der beiden vorliegt, gibt es eine kurze Notiz vom oder für das Rabbinat der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, welche die Heirat von Mirjam und August im Jahre 1904 bestätigt.328 Das scheint besonders aufgrund des Umstan- des plausibel, dass deren Tochter Rosa Berendt im Jahre 1905 in Wien geboren wurde. Was sich vor ihrer Heirat und danach bis 1938 ereignete ist nicht mehr nachzuvollzie- hen, da keinerlei Unterlagen über diese Jahre vorliegen. Obwohl auf unterschiedlichen Dokumenten abweichende Adressen angegeben sind, dürften August und Mirjam die Jahre vor 1938 in der Obkirchergasse 11 im 19. Bezirk gewohnt haben. Dies ist auch in Lehmann’s Allgemeinem Wohnungsanzeiger verzeichnet.329 Im Zuge der restlosen Erfassung der Juden ab 1938 in Österreich begann auch für meine Familie die Vermögensanmeldung (VA), Enteignung und Arisierung. Somit wur- de die von der Verkehrsvermögensstelle (VVSt) durchgeführten Vermögensanmeldun- gen für August nach dem Stand vom 27. 4. 1938 gültig. Götz Aly schreibt zu den VA: „Sie zwang die Juden, ihr gesamtes Vermögen detailliert gegenüber den Finan- zämtern zu deklarieren, sofern es 5000 Reichsmark überschritt. […] Von nun an war anzuzeigen, wenn das Vermögen sich veränderte oder umgeschichtet wur- de.“330

So ist im Staats- und Landesarchiv Wien noch Augusts Anmeldung einzusehen. August führt auf allen Dokumenten den Titel Ingenieur an, was das genau heißt, wird in der VA erkenntlich; dort führt er unter Beruf oder Gewerbe „Oberbaurat der Bundesbah- nen i.R.“ an.331 Er gibt an, eine Pension der Bundesbahnen zu beziehen, dies seit Sep- tember 1923 und auf Lebensdauer. Seit wann er aber bereits in Pension war, ist nicht angegeben. Sehr wahrscheinlich ist, dass er im Zuge der Massenentlassungen der Bundesbahnen wegen der Sanierung des Staatshaushaltes pensioniert wurde. Weiters schreibt er, in der Canevagasse 5 eine Handelsagentur besessen zu haben, deren Nichtvertrieb am 1. 7. 1938 angemeldet wurde. Mehr Informationen zu diesem Unter- nehmen gibt es nicht, aber es ist möglich, dass diese Agentur seiner Gattin Mirjam ge- hört hatte, aber auf ihn angemeldet war, oder er sich nach der Zwangspensionierung nach weiteren Einkünften umschauen musste, und so die Agentur gründete.

327 Heimatschein von Mirjam Berendt, 1902. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 328 Urkunde vom Rabbinat der Israelit. Kultusgemeinde Wien. Notiz, 1904. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 329 Obkirchergasse 11, 1938. URL: http://www.digital.wienbibliothek.at/periodical/pageview/271224 (abgerufen am 13. 1. 13 um 17:37). 330 Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2006, 56. 331 Hierzu, sowie die nachfolgenden drei Absätze: ÖStA., Vermögensanmeldung zu August Berendt, 12. 7. 1938, 1-4. 156

Aus den Unterlagen ist auch zu entnehmen, dass er bei einer Gesellschaft oder Person in Bradford, England, seit Ende 1937 Schulden hatte, und zwar wegen „englischer Stoffe“. Überdies hatte er eine Lebensversicherung zu 19.169 RM bzw. 22.464 Goldschillingen bei der Versicherungsgesellschaft „Victoria zu Berlin“. Unter Luxusgegenständen führt er 4 Teppiche zu ca. 200 RM an, sowie einen Ring, eine goldene Uhr und ein Armband. Unter Wertpapieren schreibt er von einer 6%igen Schuldverschreibung der Stadt Wien um 4000 Schilling, von denen 2000 S. seiner Gattin Mirjam gehören sollen, und einer Trefferanleihe zu 500 S. Bei den Bemerkungen erwähnt er extra, dass neben der Tref- feranleihe auch die Lebensversicherung an Mirjam gehen sollte. Neben der VA liegt noch ein Bescheid für die Vermögensverkehrsstelle vom Dezember 1938, die die 20%ige Kontribution für Juden betrifft. Darin bittet August, diese Kontri- bution nicht auf seine Pension, die RM 228,- beträgt, anzuwenden. Dazu bemerkt er, dass er die oben erwähnte 6%ige Schuldverschreibung der Stadt Wien bei der österr. Creditanstalt verkauft hat, weil er den Erlös für die Führung des Haushalts brauchte. Die NS-Maßnahmen gegen Juden, sowie diverse Abgaben und Schikanen hatten die totale Verarmung jener zur Folge. Dieses Dokument zeigt besonders deutlich die bürokratische Erfassung der Juden und ihres Vermögens, das bis ins kleinste Detail aufgenommen und später meist enteignet wurde. Als letztes Dokument zu August liegt noch seine Sterbeurkunde vor, die bereits ein Jahr nach der VA ausgestellt wurde. Demnach starb er am 16. 5. 1939 um 20 Uhr „vor dem Hause Wien, IX., Währingerstraße 16“332. Als Todesursache wird Herzlähmung an- gegeben. Diese Umstände seines Todes finde ich äußerst kurios und verdächtig. Um 20 Uhr Abends hatten Juden bereits Ausgangssperre333, außerdem war er erst in seinem 66. Lebensjahr. Es deutete soweit nichts auf eine schwere Erkrankung oder schlechten Ge- sundheitszustand hin, was mich zu dem Schluss führt, dass dies möglicherweise kein natürlicher Tod war. Gewaltakte und Aktionen gegen Juden waren schon seit dem An- schluss sowie der Reichskristallnacht an der Tagesordnung. Diskriminierungen, De- nunziationen und auch Ausschreitungen waren nicht selten. Wie brutal diese waren, wird von Anthony Grenville geschildert: „Die Wiener Bevölkerung im Allgemeinen legte in ihrem Verhalten den jüdischen Bürgern gegenüber einen unerwarteten Hang zur Grausamkeit an den Tag, der oft einfach aus Habsucht und dem Wunsch nach Ausnutzung einer Gelegenheit zum eigenen materiellen Vorteil resultiert. Wie Ernst Flesch schilderte, trat da-

332 Sterbeurkunde von August Berendt, 1939. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 333 Horst Matzerath, Bürokratie und Judenverfolgung, in: Ursula Büttner, Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich, Frankfurt am Main 2003, 130-159, 143ff. 157

bei neben materiellen Motiven auch ein primitiver Sadismus auf: ‚Zuallererst zwangen sie die armen älteren Juden, das Trottoir zu schrubben. Sie wissen ja, sie machten sich über sie lustig, sie versetzten ihnen Fußtritte. Es gab in Wien sehr viel Sadismus, trotz des goldenen Herzens der Wiener […].“334

In Zuge dessen ist es gut vorstellbar, dass August einem dieser Angriffe zum Opfer gefallen ist. Aber dies bleibt nur eine Vermutung. Nach dem vermeintlich plötzlichen Tode Augusts war Mirjam mit ihrer Tochter Rosa auf sich allein gestellt. Von ihr sind ei- nige Akten zu diversen Anträgen erhalten, beispielsweise auf die Löschung eines Kon- tos sowie die Bitte um Erlassung der 5. Juva-Rate sowie Nachweise der Verwendung von diversen Beträgen. Die sogenannte Juva, die Judenvermögensabgabe war eine am 21. 10. 1939 einge- führte Steuer, die quasi als Sühneleistung von den Juden an das Reich galt und von diesen bezahlt werden musste.335 Die Summe betrug für alle Juden im Deutschen Reich eine Milliarde RM – um diese einzutreiben, musste jeder Jude zuerst 20%, dann 25% seines Vermögens abgeben, weil man die Höhe des Betrages sonst nicht erreicht hätte.336 Für Juden, die aus dem Wirtschaftsleben bereits mittels der Arisierungen ent- eignet und gekündigt worden waren, waren 20% eine große Summe, viele konnten dies nicht finanzieren, was deren Ruin zu bedeuten hatte. Dieser Prozentsatz war spä- testens bis zum 15. 8. 1939 in vier Raten zu zahlen. Die bereits erwähnten zusätzli- chen 5%, die dann am 15. 11. 1939 fällig wurden, wurde auch die 5. Juva-Rate ge- nannt.337 Darauf bezieht sich Mirjam in ihrem zweiten Antrag mit der Bitte, die 5.Juva- Rate zu erlassen bzw. diese zurückzuerstatten. Der erste Teil der Judenvermögenss- teuer in der Höhe von 2.800 RM wurde bereits vor dem Tod von August bezahlt. 338 Die 5. Rate, welche im November desselben Jahres fällig wurde, konnte sie sich laut ihrer Bitte nicht mehr leisten. Vorerst bleibt unklar wieso sie kein Geld hatte, obwohl August in der Anmeldung sei- nes Vermögens doch eine recht hohe Lebensversicherung angegeben hatte. Ein Hin- weis darauf findet sich bei Götz Aly in seinem Werk Hitlers Volksstaat. Dieser schreibt im Kapitel „Arisierung für den Krieg“: „Mit Hilfe der Reichsfluchtsteuer und immer restriktiveren Ausfuhrvorschriften für Devisen, Aktien, Briefmarken, Schmuck, Gold, Edelsteine und Silber, Kunst- werke und Antiquitäten versuchte sich der deutsche Staat nach Kräften zu be- reichern. […] [Aber] Juden konnten noch über ihre Lebensversicherungen und

334 Anthony Grenville, Stimmen der Flucht. Österreichische Emigration nach Großbritannien ab 1938, Wien 2011, 96ff. 335 Grenville, Stimmen der Flucht, 144. 336 Deutsches Reichsgesetzblatt Teil I, Jahrgang 1939, Erstes Halbjahr, Nr. 207, 2059, Zweite Durchführungsverordnung über die Sühneleistung der Juden vom 19. 10. 1939, 21. 10. 1939. ALEX Historische Rechts- und Gesetzestexte Online, URL: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=dra&datum=1939&size=45&page=2290, (abgerufen am 17. 1. 2013). 337 Gabriele Anderl/Dirk Rupnow, Die Zentralstelle für Jüdische Auswanderung als Beraubungsinstitution, Band 1, Wien 2004, 246. 338 Judenvermögensabgabe, Bitte um Erlassung der 5. Juva-Rate, Mirjam Sara Berendt, 1940. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 158

Aktien verfügen, sie konnten sich aussuchen, wie sie ihr Vermögen anlegten.“339

Das heißt dass trotz der Arisierungen und der in Beschlagnahme der im Zitat erwähn- ten Gegenstände, müsste sie die Versicherung erhalten haben, da sie zumindest ge- setzlich offiziell nicht beschlagnahmt wurde. In diesem Antrag weißt sie außerdem darauf hin, dass sie nur mehr Untermieterin in einem kleinen Kabinett wäre und ihre Möbel, die ihr letzter Besitz sind, nur wenig wert sind (200-250 RM). Weiter führt sie an: „Am 3. 1. 1940 wurde gegen mich die Exekution durchgeführt und bei derselben die Einrichtungsgegenstände und ein Betrag von RM 300,-- gepfändet. Aus diesen Gründen stelle ich die Bitte: 1./ die 5. Juva-Rate zu erlassen und der Finanzkasse Währing den Auftrag zu erteilen, den Betrag von RM 300,-- an mich zurückzuerstatten, 2./ bis zur Erledigung dieses Gnadengesuches die Exekution aufzuschieben.“340

Offensichtlich konnte sie die Rate im November nicht zahlen und wurde deswegen ge- pfändet. Nicht klar ist, wieso sie bittet die Exekution aufzuschieben, wenn diese be- reits durchgeführt wurde. Möglicherweise bezieht sie sich aber auch auf eine weitere Exekution. Dem obigen Antrag dürfte nicht sofort stattgegeben worden sein, denn in ihrem nächsten Antrag vom 08. 1. 1940 (nur 4 Tage später) bittet sie um die Stundung der 5. Juva-Rate.341 In einem weiteren Schreiben an das Finanzamt Währing gibt Mirjam als Betreff die er- neute Erlassung des Betrages an, allerdings mit einem Nachweis von diversen anderen Beträgen, die sie zu zahlen hatte. Aus diesem Akt geht hervor, dass sie tatsächlich die Lebensversicherung von August geerbt haben dürfte und ihr Vermögen im November 1938 demnach 15.405 RM betrug. Allerdings führte sie im Anhang, wie es scheint nach einer Aufforderung, eine ganze Liste an Ausgaben an, die erklären was mit dem Geld passierte.342 Hier unter anderem angeführt: die Erhaltungskosten für ihre Tochter Rosa und deren Tochter Margarethe, da Rosas Ehemann sie verlassen hatte und sie kein Geld besaß. Weiters hat sie die Übersiedlungskosten ihrer Tochter, sowie die Anschaffungen der Fahrkarten nach England für Rosa und Margarethe und deren weitere Ausreisekosten bezahlt. Sie musste Brenn- und Heizmaterial anschaffen, ihre eigene Wohnung auflas- sen und übersiedeln, diverse Steuern und das Begräbnis von August bezahlen, sowie

339 Aly, Hitlers Volksstaat, 54. 340 Judenvermögensabgabe, Bitte um Erlassung der 5. Juva-Rate, Mirjam Sara Berendt, 1940. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 341 Judenvermögensabgabe, Stundungsgesuch, Mirjam Sara Berendt, 1940. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 342 Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Judenvermögensabgabe, Nachhang zu der Bitte um Erlassung der 5. Juva- Rate mit Nachweis der Verwendung von Beträgen, 1940. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 159 für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkommen. Mirjam machte außerdem die Angabe, dass ihr Gatte einem Betrüger zum Opfer gefal- len war, dem er 1.800 RM zahlte, um nach Paraguay emigrieren zu können. Dies konn- te ich nicht belegen, wäre aber aufgrund der zahlreichen Emigrationen von Juden nach Südamerika durchaus vorstellbar. Aus diesen Aufzeichnungen geht deutlich hervor, dass ihr vom Erbe ihres Gatten quasi nichts übrig blieb, sie schreibt erneut: „Aus diesem Grunde wiederhole ich die Bitte: die 5. Juva- Rate abzuschreiben und die bei der Pfändung abgenommenen RM 300,-- mir zurückzustellen.“

Ob diesem Antrag je stattgegeben wurde, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen. Das letzte Schreiben ist mit 19. 3. 1940 datiert, weitere Dokumente von ihr existieren nicht mehr. Einzig die Nachricht von ihrem Ableben ist noch erhalten, nämlich in einem Briefwech- sel ihrer Tochter Rosa mit einer gewissen Klara Rosenfeld, deren Identität und Bezie- hung zu meiner Familie ich nicht klären konnte. Der einzige Hinweis auf Klara, welchen ich finden konnte, ist die Ähnlichkeit ihrer Adresse in Wien, mit der von Hannah Man- delbaum (siehe Kapitel Franz, Hannah und Joseph Mandelbaum), der Schwiegermutter von Rosa. Beide wohnten in der Czernigasse im 2. Bezirk, nur drei Hausnummern von einander entfernt. Damit wäre vorstellbar, dass Klara und Hannah Nachbarn waren, Klara in Wien verblieb und Rosa Bericht über die Vorgänge in Wien erstattete. Dies sind aber nur sehr vage Vermutungen, die ich leider nicht belegen kann. Die Nachrichten zwischen den beiden wurden jedenfalls von der War Organisation of the British Red Cross and Order of St. John weitergeleitet und lauteten wie folgt: „LIEBSTE KLARA DANKE FUR ALLE LIEBE ANTEILNAHME BITTE SCHREIBT GE- NAUESTE TODESURSACHE OHNE VERHEIMLICHUNG. BEKAM MUTTI NOCH MEI- NE LETZTE NACHRICHT? WO SIND ALLE SCHWESTERN? ALLERHERZLICHST ROSA.“

Klaras Antwort: „Mein Liebes! Mutti bei grosser Hitze leblos auf Vaters Grab aufgefunden. Dein letzter Brief zu spät eingetroffen. Angehörige abgereist Schreibe. In Liebe Klara“343

Die erste Nachricht ist mit 14. 9. 1942 datiert, während die Antwort am 20. 10. des- selben Jahres erfolgte. Der kurze Nachrichtenwechsel stimmt überein mit den mündli- chen, bis jetzt nicht bewiesenen, Erzählungen meines Vaters und seiner Mutter Marga- rethe über den Tod von Mirjam. Sie habe 1942 den Bescheid für die Deportation in ein Vernichtungslager erhalten und wollte eher durch eigene Hand (durch die Einnahme

343 War Organisation of the British Red Cross and Order of St. John, Rosa Mandelbaum und Klara Rosenfeld, 1942, Privatarchiv von Emilie Fuchs. 160 von Gift) und an der Seite ihres Mannes sterben, als deportiert zu werden. Den Beweis für die anstehende Deportation und die tatsächliche Vergiftung konnte ich nicht finden, klar ist aber, dass Mirjam 1942 in Wien starb, im Alter von 65 Jahren und in den Jahren vor ihrem Tod gedemütigt, enteignet, denunziert und entwurzelt wurde. Ihr Mann starb schon vor Beginn des Krieges, und auch Ihre Tochter und Enkeltochter waren bereits 1938 nach England ausgewandert, damit hatte sie auch keine Familie mehr in Wien. Mirjam ist als Opfer des Holocaust auch in der Central Database of Shoah Victim’s Names angeführt.344

4.3 Franz, Hannah und Joseph Mandelbaum

Über diesen Teil der Familie ist wenig bekannt und nie viel gesprochen worden. Hier sollen sie deshalb nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Joseph hat Rosa Mandelbaum in der Zeit zwischen Margarethes Geburt und Kriegsbeginn verlassen, seitdem wollte niemand mehr über ihn sprechen. Auch sein Verbleiben und weiteres Leben sind weitgehend unbekannt. Eher durch Zufall fand ich im Staatsarchiv die Vermögensanmeldung zu Hannah Man- delbaum, die ich hier kurz analysieren möchte. Hannah wurde im Jänner 1859 als Hannah Neumann geboren. Wo ist unklar, da in Wien jedoch keine Geburtsurkunde zu finden war, ist anzunehmen, dass sie nicht aus der Bundeshauptstadt kam. Von ihr erhalten ist nur die oben erwähnte VA, aus welcher auch nicht allzu viel her- auszulesen ist, da Hannah kaum Angaben machte. Aus der VA geht nur hervor, dass sie die Witwenpension ihres Gatten erhielt (Franz war schon vor der VA im April 1930 verstorben, die Anmeldung stammt vom 14. 7. 1938), die sie seit 1. 5. 1930 bezogen hatte. Weit interessanter sind ihre Bemerkungen am Ende der VA: „Ich beziehe von der Reichsbahn nach meinem am 11. IV. 1930 verstorbenen Gatten Ing. Franz Mandelbaum eine Witwenpension von RM 220.18 monatlich. Ich bin am 2. I. 1859 geboren. […] Ich muß meinen arbeitslosen, weil arbeits- unfähigen, Sohn Leo Mandelbaum, geb. 22. I. 1902 erhalten und habe diese Unterhaltslast mit RM 75,- monatlich bewertet.“345

Dies ist deshalb interessant, weil ich dadurch nicht nur erfuhr wann Franz gestorben war, sondern auch, dass dieser bei der Reichsbahn gearbeitet hatte. Auch zu ihm sind sonst keinerlei Dokumente vorhanden, nur auf dem Geburtsschein von Joseph ist er als Ingenieur der Staatsbahnen vermerkt. Weiters bezieht sich Hannah auf ihren zweiten Sohn Leo, von dem mir sonst ebenfalls

344 The Central Database of Shoah Vicitms’ Names, URL: http://db.yadvashem.org/names/nameDetails.html? itemId=4959928&language=en (abgerufen am 17. 1. 2013). 345 ÖStA, Vermögensanmeldung zu Hannah Mandelbaum, 1938, 4. 161 nichts bekannt ist, außer dass er drei Jahre nach seinem Bruder Joseph geboren wur- de, und wohl im Alter von 36 Jahren arbeitsunfähig wurde. Vermögen hatte sie sonst keines angegeben, deswegen bleiben auch nach der Aus- wertung der VA noch viele Fragen offen. Das letzte Dokument, das mir zu diesem Zweig der Familie noch vorliegt, ist die Ge- burtsurkunde von Joseph Mandelbaum. Dieser wurde demnach am 9. 5. 1899 in St. Veit an der Glan geboren, wie es das Israelitische Matrikelamt für Steiermark, Kärnten und Krain bestätigt. Die Betonung liegt hier auf „Bestätigung“, da es sich um keine Geburtsurkunde handelt, sondern diese wohl erst auf Wunsch sechs Jahre später, am 6. 9. 1905, verfasst wurde.346 Besonders Joseph hätte mich als mein leiblicher Urgroßvater sehr interessiert, aber mehr ist mir zu seinem Leben leider nicht bekannt und auch meine Familie möchte nicht über ihn sprechen. Nur dass er im Jahr 1928 meine Urgroßmutter Rosa geheira- tet hat und mit ihr meine Großmutter zeugte, ist noch nach zu verfolgen. 347 Nachdem er die beiden verlassen hatte, hat in der Familie niemand etwas Neues erfahren bzw. jemals wieder von ihm gehört. Auch was mit Hannah geschah, bleibt unbekannt.

4.4 Geschichte meiner Großmutter Margarethe und Urgroßmutter Rosa

Die Erzählungen über Rosa und Margarethe sind aufgrund der Quellenlage und Oral History bereits wesentlich einfacher nachzuvollziehen. Die Nähe zu meiner Generation macht sie darüber hinaus auch spannender. Rosa kannte ich selbst noch persönlich, sie starb als ich zehn Jahre alt war. Meine Großmutter Margarethe lebt bis heute noch in Wien und aus Respekt ihr gegenüber möchte ich ihr hier auch weniger Beachtung zukommen lassen. Mit der Befürchtung, ich könnte etwas über sie und ihre Familie veröffentlichen, hatte sie mir bei ihren Erzählungen (welche sie häufig und detailreich tätigte) nie Daten und Namen verraten. Dies möchte ich auch hier berücksichtigen und sie nur am Rande erwähnen, anstatt sie in den Mittelpunkt zu stellen. Rosa Mandelbaum wurde 1905 in Wien geboren, wo sie auch aufwuchs. Ihre Eltern sind die bereits erwähnten August und Mirjam Berendt, sie blieb deren einziges Kind. Über ihre Jugend ist an dieser Stelle wenig zu sagen. Sie wuchs in einem judenfeindli- chen Wien auf, legte nichtsdestotrotz die Reifeprüfung ab und begann 1925 ein Phar- maziestudium, dem sie mindestens sieben Semester (bis 1928) nachging.348 1928 heiratete sie Joseph Mandelbaum, der sie in den Jahren zwischen 1930 und 1938

346 Geburtsschein von Joseph Mandelbaum, 1905. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 347 Heiratsurkunde Hermann und Margarethe Riesenfeld, 1953. Darauf sind auch die Eheschließungen der Eltern beider Partner vermerkt, Familienarchiv. 348 Meldungsbuch Rosa Berendt, Universität zu Wien, 1925. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 162 verließ (siehe Kapitel Franz, Hannah und Joseph Mandelbaum).

4.4.1 Vorkriegszeit

Alsbald Rosa die Situation ihrer Familie und ihre eigene erkannte, setzte sie alle Hebel in Bewegung um auswandern zu können. So dürfte sie gegen Ende des Jahres 1938 oder Anfang 1939 um ein Visum für England angesucht haben. Das früheste Doku- ment, dass sich dazu in ihrem Nachlass fand, ist vom 8. 5. 1939 vom British Passport Control Office: „Das Koenigliche Britische Passamt erlaubt sich, Ihnen mitzuteilen, dass fuer Sie die vorgenannte Einreisbewilligung eingegangen ist. Das Visum wird erteilt ge- gen Einsendung des gueltigen, nicht kurz befristeten Reisepasses, eines nur von einem der unten angegebenen Aerzte ausgestellten Gesundheitsattestes und des beiliegenden, genau ausgefuellten Fragebogens, falls derselbe nicht schon vorher eingereicht wurde.“349

Diese Bestätigung galt für Rosa und Trude Mandelbaum und war für sie die einzige Möglichkeit, der ihnen so feindlich gesinnten Umgebung, zu entkommen. In einem Formular an die Devisenstelle Wien, die für Auswanderungsverfahren und damit zusammenhängendem Vermögensverfall zuständig war, ergeben sich zwar keine neuen Informationen über Rosa und Margarethe, im Anhang jedoch findet sich eine Liste zu den nach England mitgenommenen Gegenständen. Darunter findet sich nichts besonderes, außer vielleicht einer Reiseschreibmaschine, sonst im Wesentlichen nur Kleidungsstücke. Das Dokument ist vom 15. 7. 1939, also waren sie zu dieser Zeit noch in Wien. Ein Brief selben Datums, an einen gewissen Mr. Cartoux, ist ebenfalls erhalten. Darin bittet sie um eine Anstellung in England oder Amerika als Pharmazeutin, in einem La- bor oder als Bürokraft. Zu diesem Brief gibt es kein Antwortschreiben, entweder bekam sie nie eines, oder es ist nicht mehr erhalten. Sicher ist, dass Rosa von dem Herrn keine Anstellung erhielt, da sie in späteren Briefwechseln immer noch eine Arbeitsstelle suchte. Rosas Tochter Margarethe kam am 16. 4. 1932 in Wien zur Welt und erlebte daher be- reits als Kind (ähnlich wie Emilie Klüger, die ihre Kindheit sehr eindrücklich be- schreibt350) die Grausamkeit, der Juden in diesem antisemitischen Umfeld. Einmal hat- te ich meine Großmutter dazu befragt, wie sie als kleines Mädchen das judenfeindliche Wien erlebt hätte. Sie meinte, sich an die Zeit nicht mehr genau erinnern zu können und wich der Frage aus. Dennoch gibt es viele Zeitzeugenberichte, die davon erzählen, wie es besonders für jüdische Kinder in Wien war. Allein die auferlegten Verbote waren

349 British Passport Control Office über Rosa und Margarethe Mandelbaum, 1939, Familienarchiv von Emilie Fuchs. 350 Emilie Klüger, Weiter Leben. Eine Jugend, Wien 2007. 163 speziell für diese schwer zu ertragen. Juden durften weder Spielplätze noch Parks be- nutzen, auch der Zutritt zu Kinos und Cafés war ihnen nicht gestattet. Emilie Klüger meint dazu: „[…] der jüdische Friedhof war unser Park und Spielplatz“.351 Trude besuchte noch in Wien die Schule, wurde jedoch durch die Emigration schnell aus ihrem gerade angewöhnten Umfeld gerissen und kam in eine neue Umgebung.

4.4.2 Auswanderung nach England (Kriegszeit)

Wann die tatsächliche Reise nach England erfolgte, ist nicht bekannt. Nur der nachfol- gende Brief deutet darauf hin, dass ihre Auswanderung kurz vor Beginn des Krieges erfolgt sein muss. Das Schreiben stammt vom 15. 9. 1939 vom Society of Friends/Germany Emergency Committee (SoF) von einer Rosita Gruenberg und stellt ein Antwortschreiben auf einen Brief Rosas dar. „I am afraid that you think that it is easy just now to get your visitor-permit changed into a domestic one. It is quite unlikely that the Home Office is doing anythink [sic] now. They are not dealing with this kind of work. Besides all, you are not allowed to leave your present address without police permission on both ends. […] I am sorry I cannot do more for you, for the moment, but if you have your do- mestic permit, then I might perhaps know of a job. […]“.352

Doch der Umstand, dass Rosa in ihren Briefen immer wieder ein Tribunal (siehe weiter unten) erwähnt, spricht für die Theorie, dass sie erst nach Kriegsbeginn auswander- ten. Diese Tribunale wurden für Österreicher und Deutsche erst im September 1939 eingeführt, um zu prüfen, ob diese Spione seien und damit eine Gefahr für Großbritan- nien darstellen (siehe Ende des Kapitels: Geschichtlicher Hintergrund). Oftmals durf- ten Frauen auch nur dann einreisen, wenn sie als Dienstmädchen arbeiteten, wie bei- spielsweise Traude Bollauf in ihrem Buch beschreibt.353 England hatte einen akuten Mangel an Dienstmädchen und versuchte durch diese Vorgaben für einreisende Frauen den Bedarf zu decken. Aus Rosas Brief geht hervor, dass ihr anfängliches Visum wohl nur einen zeitlich be- grenzten Besuch und keinen permanenten Aufenthalt gestattete. Ohne diesen „dome- stic permit“ bekam man auch keinen Job, der wichtig war, um sich selbst und die Fa- milie zu erhalten. All diese Gründe sprechen für die Ansuchung um ein permanentes Visum. Außerdem ist aus dem Zitat herauszulesen, wie die Umstände für Auswanderer nach England waren. Man konnte nicht ohne Weiteres den Wohnort ändern und sogar

351 Klüger, Weiter Leben, 74. 352 Briefwechsel zwischen Rosa Mandelbaum und Rosita Gruenberg vom Society of Friends/Germany Emergency Committee, 1939, Privatarchiv von Emilie Fuchs. 353 Trude Bollauf, Dienstmädchen-Emigration. Die Flucht jüdischer Frauen aus Österreich und Deutschland nach England 1938/39, Wien 2010. 164 für jeden Spaziergang brauchte man Genehmigungen. Bei ihrer Ankunft in Großbritan- nien sahen sich die österreichischen Flüchtlinge mit zahlreichen Problemen konfron- tiert: Arbeitsverbot, limitierte Aufenthaltsgenehmigungen, eingeengte Wohnverhältnis- se und spärliche materielle Unterstützung. „[…] Für die meisten war die Vertreibung mit dem Verlust ihrer materiellen Exis- tenz verbunden gewesen. […] Sie durften ohne Genehmigung des Home Office keine Stellung, weder bezahlte noch unbezahlte, annehmen und sich an keinen Geschäften beteiligen.“354

Tatsächlich hatte England mit einem gewaltigen Ansturm jüdischer Flüchtlinge umzu- gehen, was die bürokratischen und administrativen Strukturen vor gewaltige Heraus- forderungen stellte. Unterstützt wurden die jüdischen Einwanderer auch vorwiegend nur von englischen Glaubensgenossen, die mit Spenden notwendige Mittel aufbrach- ten.355 Der nächste Brief ist ebenso vom SoF und handelt von Margarethe: „I am very glad to hear from the Childrens’ [sic] Committee that they have now made arrangements for your little girl. […]“.356

Warum Margarethe von ihrer Mutter getrennt wurde ist nicht klar ersichtlich, allerdings sprach meine Großmutter immer viel davon, bei fremden Familien zu Gast und dar- über sehr unglücklich gewesen zu sein. Möglicherweise musste Rosa erst ein perma- nentes Visum nachweisen. Neben der Jobsuche schrieb Rosa in ihren Briefen immer vom Tribunal, in welchem über das weitere Visum und den Verbleib in England entschieden wurde. Sie suchte immer wieder um eine schnelle Bearbeitung desselben an, wahrscheinlich damit sie endlich Geld verdienen konnte, und sie und ihre Tochter sich nicht in verschiedenen Residenzen aufhalten mussten. Des Weiteren wurde ihr sehr davon abgeraten, sich vor dem Entschluss des Tribunals einen Job zu suchen. Eine Begründung dafür ist nicht angegeben. Erst ein Brief vom 21. 12. 1939 lässt darauf schließen, dass Rosa schließlich ihr Visum erhielt. Im Zuge eines erneuten Schriftverkehrs mit den SoF im Jänner 1940 werden ihr einige Stellen als Haushälterin vorgeschlagen. Es wirkt fast, als wolle sie diese gar nicht (gern) annehmen. Doch als studierte Pharmazeutin wollte man sie trotz ihrer ausgezeichneten Englischkenntnisse wohl als jüdische Einwanderin nicht für eine hö- here Position einstellen. Zwischen den Briefen mit dem Germany Emergency Committee finden sich immer wieder auch welche, die von August und Mirjam Berendt handeln. Ähnlich wie im Schriftstück an Herrn Cartoux bittet sie immer wieder um Zahlungen an ihre Mutter,

354 Muchitsch, Österreicher im Exil, 50. 355 Ebd., 10. 356 Briefwechsel zwischen Rosa Mandelbaum und Alice Nike vom Germany Emergency Committee, 1939. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 165 die von der Western Union geleistet werden sollten, bei der August gearbeitet hatte. Sie beanstandet, dass ihr Vater nach 1938 nur mehr 120 RM bekommen haben soll, statt wie zuvor 700 bzw. 800 RM – und bittet daher um eine Nachzahlung an Mirjam Berendt, damit diese in die Vereinigten Staaten auswandern könne.357 Sie schreibt dass ihr Vater 19 Jahre bei der Western Union Telegraph & Co gearbeitet hätte, und schreibt dabei an eine englische Adresse. Das wird interessant, wenn August in seiner VA doch als Oberbaurat der Bundesbahnen pensioniert wurde. Dies ist nur schwer in Zusammenhang zu bringen. Das chronologisch letzte Dokument aus der Kriegszeit ist mit „Information“ betitelt und fasst den gesamten Briefwechsel zwischen Rosa und der Western Union zusam- men: „After the outbreak of the war, Mrs. Mandelbaum repeated her request pointing out that her mother then has an opportunity of going to the United St. and she would like to know how much she could figure on receiving from the comp. be- cause she wanted her liflehood [sic] in U.S. to be assured at least for the begin. The comp. answered on the 11th of October 1939 that the highest amount they would consider granting would be £ 50 which would hardly be enough for Mrs. Berendt to emigration. Mrs Mandelbaum replied on 5th November that as her father dismissal was only due the Nazi anti Jew decrees and her father could have claimed damages equivalent to 12 month income (about RM. 8000,-- or / 3000), them comp. could really have paid her mother a lump sum large enough to allow her to emigrate. […] Mr. Smith promised to put the whole matter before the American head office to their decision.”

Die dürfte allerdings wohl nie geschehen sein. Mirjam hatte nie genannte Summe er- halten, da sie sonst nicht die zahlreiche Gesuche um Stundungen diverser Beträge eingereicht hätte. Sie emigrierte auch nicht in die Vereinigten Staaten. Möglicherweise kam der Krieg dazwischen, und sehr wahrscheinlich wollte sich die Western Union vor den Zahlungen drücken. Während der verbleibenden Zeit des Krieges blieb Rosa in England, sie konnte mit Hil- fe von einigen Freunden doch noch Arbeit finden. Margarethe ging dort zur Schule und wuchs bei verschiedenen Familien auf, bis sie schließlich doch mit ihrer Mutter zusam- menziehen konnte. Die damaligen englischen Unterstützer sind bis heute enge Freun- de der Familie, ihnen hatten und haben wir viel zu verdanken.

4.4.3 Nachkriegszeit

Nach dem Krieg heiratete Rosa in Hampstead 1946 ihren guten Freund Johann Fried- berg, mit dem sie 1947 schließlich wieder nach Wien zurückkam (siehe nachfolgendes Kapitel). Im selben Jahr wurde noch Margarethes Schwester, Emilie Friedberg, in Eng-

357 Hierzu sowie nachfolgendes Zitat: Briefwechsel zwischen Rosa Mandelbaum und unbekannt ( Manager Western Union), 1939-1940. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 166 land geboren. Als ich meine Großmutter zur Nachkriegszeit befragte, ob in Wien der Antisemitismus nach wie vor vorherrschte, antwortete sie nur vage und meinte, in England sei es ihnen doch immer viel besser gegangen. Dennoch schlug die Familie in Österreich wieder Wurzeln und fand Arbeit sowie neue Freunde. Im Jahre 1953 trat Rosa Mandelbaum (ab 1947 Friedberg) aus der Israelitischen Kul- tusgemeinde aus. Dieser Akt spricht nach all dem was sie durchmachen musste, durchaus für sich. Am 25. 5. 1965 erhielt Rosa einen Opferausweis, der ihr bescheinigte, dass für sie das Opferfürsorgegesetz zutrifft und sie demnach „als Opfer der politischen Verfolgung im Sinne dieses Bundesgesetzes zu behandeln ist“.358 Dies inkludierte Begünstigungen für Wohnungen und Kleingärten sowie Hilfe bei der Wiederaufrichtung bzw. Stütze der wirtschaftlichen Existenz. Man erhielt Nachlässe und Ermäßigungen für Studien- und Prüfungsgelder sowie für Steuer- und Gebührenpflichten. Das Opferfürsorgegesetzt trat mit Juli 1947 in Kraft, warum sich Rosa den Ausweis erst 18 Jahre später holte, ist ungewiss. Möglicherweise war es schwer für sie, sich wieder als Teil einer abgegrenz- ten Gruppe zu sehen, auch wenn es diesmal zu ihrem Gunsten gewesen war. Sie lebte beinahe den ganze Rest ihres Lebens in Wien, erst kurz vor ihrem Tod am 28. 9. 2001 kam sie mit ihrem Mann Johann in ein Pflegeheim nach Pressbaum.

4.4.4 Rosa und Johann Friedberg

Der Mann, den ich als meinen Urgroßvater „Opl“ kennenlernte, war Johann Friedberg – also nicht der leibliche Vater meiner Großmutter, sondern ihrer Schwester Emilie. Rosa und Johann heirateten noch in England 1946, und kamen dann gemeinsam wieder nach Österreich zurück. Damit trat Johann eigentlich erst nach dem Krieg in meine Fa- miliengeschichte ein, dennoch finde ich seinen Lebenslauf durchaus spannend, da er einen völlig anderen Weg als der Rest meiner Familie eingeschlagen hatte. Nachdem ich Johann immer als zur Familie gehörig betrachtete, kam es mir nie in den Sinn, dass er so gesehen nicht leiblich mit mir verwandt ist. Trotzdem möchte ich auch ihn und seine Geschichte hier miteinbeziehen. Von ihm liegt praktischerweise sogar ein eigens verfasster, detailreicher Lebenslauf vor, den er 1994 auf Anfrage an eine Zeitung geschickt hatte. Durch diesen habe ich viel von ihm erfahren, was ich sonst wohl nicht mehr hätte nachforschen können. Auch wenn die subjektive Anschauungs- weise seines Lebens, wie bei jeder Autobiographie, nicht immer ganz wörtlich genom- men werden darf, werde ich dennoch großteils seinen Aufsatz wiedergeben. Auch auf- grund dessen, da bis auf seine Geburtsurkunde im Wr. Stadt- und Landesarchiv keine

358 Opferausweis Rosa Friedberg, 1965. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 167

Dokumente hinsichtlich seines Lebens mehr erhalten bzw. mir zugänglich sind. Johann Georg Friedberg wurde 1901 geboren, und wuchs seinen Worten nach „in ei- nem relativ bürgerlichen Milieu auf.“359 Nach seiner Schulzeit arbeitete er in einer Fa- brik mit elektrischen Messgeräten und bewarb sich bald für eine Anstellung als auslän- discher Spezialist in der Sowjetunion. Er interessierte sich schon früh für den Sozialis- mus und war ein großer Anhänger von Karl Marx. So verließ Johann Österreich im Jahr 1931 und begrüßte die Sowjetunion als seine neue Heimat. Nach fünf Jahren reichte er den Antrag auf die sowjetische Staatsbürgerschaft ein und heiratete eine Russin. Im September 1938 wurde sein Aufenthaltsvisum nicht mehr verlängert und er muss- te innerhalb von drei Wochen die Sowjetunion verlassen. Er musste seine Frau zurück- lassen, da diese nicht ins Ausland gehen wollte und er so gesehen keine Heimat mehr hatte. Auf der Reise nach Österreich wurde er von der Gestapo aufgegriffen, durfte aber mit der Auflage das Land innerhalb von zwei Monaten verlassen zu müssen, wei- terreisen. So fuhr er bald zu einem Onkel nach London, wo er auch schnell Arbeit in der Rüstungsindustrie fand. Nach dem Krieg wollte er anfänglich wieder nach Russland, um dort wieder zu seiner Frau zurückzukehren. Diese wurde aber nach Sibirien verschleppt, hatte dort wieder geheiratet und ein Kind bekommen. Dadurch entschloss er eine „langjährige Freundin“ (Rosa) zu heiraten und wieder nach Wien zurückzukehren, nachdem ihn auch das rus- sisch besetzte Wien anzog. Danach verbrachte er den Rest seines Lebens in Wien und arbeitete als Kassier bei der KPÖ. Er starb kurz nach seiner Frau Rosa in Pressbaum in seinem 101. Lebensjahr. Bei Johann ist außergewöhnlich, dass er wie der Rest meiner Familie kein traditioneller „Patriot“ seines Herkunftslandes war, sondern dem Sozialismus und Russland zuge- wandt war. 1901 geboren, verbrachte er seine Jugend in einem Österreich, das von Krieg und instabiler Wirtschaft sowie Arbeitslosigkeit gebeutelt wurde, und besonders als junger Jude konnte man dies besonders zu spüren bekommen. Da ist es nur zu lo- gisch, sich einem System und einem Land zuzuwenden, dass für die Gleichheit aller stand und sich nach dem Feudalismus nicht dem kapitalistischen System zuwandte, sondern dieses gleich durch den Sozialismus ersetzte.360 Diese Wandlung finde ich prinzipiell nicht untypisch, und obwohl meine Familie poli- tisch kaum aktiv war, ging auch Hermann Riesenfeld (Schwiegersohn von Johann) denselben Weg und fand so zum Kommunismus. Da Johann erst 2001 starb, in mei- nem elften Lebensjahr, hatte ich die Ehre, ihn noch etwas kennenzulernen. Doch leider war ich noch zu jung, um ihn zu der Geschichte seines Lebens zu befragen.

359 Hierzu sowie die nachfolgenden Absätze: Mein kurzgefasster Lebenslauf von Johann Friedberg, 1994. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 360 Andreas Kappeler, Russische Geschichte, München 2008. 168

4.5 Sara und Emanuel Riesenfeld

Auch über die Eltern meines Großvaters, Hermann Riesenfeld, gibt es leider kaum mehr Quellen, sondern hauptsächlich Erzählungen. Als einzig erhaltenes Dokument gibt es nur noch ihre Heiratsurkunde, die uns zumindest einige Informationen geben kann. Emanuel Riesenfeld wurde im Mai 1890 in Stanislau, heutige Ostukraine, etwa 100km südlich von Lemberg, geboren. Seine Eltern waren Kamil Riesenfeld und Dwore Chaja Riesenfeld, geborene Szmir. Sara, geborene Rudolf, wurde am im April 1896 in Nadworna, etwas südlich von Sta- nislau, zur Welt gebracht. In der Heiratsurkunde steht sogar nur ein „angeblich“ vor Geburtstag und -ort, also ist auch dies ungewiss.361 Ihre Eltern waren der Urkunde nach Efroim Rudolf und Rachel Rudolf, geborene Meisels. Im Lebenslauf von Hermann Riesenfeld, erwähnt dieser auch kurz seine Eltern. 362 Dar- in schreibt er von deren Auswanderung nach dem Ersten Weltkrieg aus der heutigen Ukraine nach Wien, da sein Vater Emanuel ein russischer Kriegsgefangener gewesen war (laut Erzählungen war er außerdem bei den Freimaurern). Die beiden heirateten am 22. 12. 1918 in Wien, wie das Matrikelamt der Israelitischen Kultusgemeinde bestätigt hatte. Allerdings ist am Ende der Urkunde das Datum 11. 5. 1948 angegeben, was entweder ein Druckfehler sein könnte, oder die Urkunde wurde nachträglich erstellt. Das erscheint mir aber als nicht sehr plausibel, da der einzige weitere Verweis zu ihrem weiteren (Ab)leben im Dokumentationsarchiv des österrei- chischen Widerstandes (DÖW) verzeichnet ist, welches von der Deportation der beiden nach Stanislau/unbekanntes Lager schreibt, dies fand aber sicherlich zu einem frühe- ren Zeitpunkt statt.363 So ist heute weder der Zeitpunkt noch der Ort ihres Todes bekannt. In der mündlich weitergegebenen Familiengeschichte wurde mir bis jetzt immer erzählt, dass die bei- den nach Osten (wohin genau ist unbekannt) geflüchtet wären, und dort aufgegriffen und erschossen wurden. Diese Erzählungen könnten nah an der Wahrheit liegen, wirft man einen Blick auf die Geschichte und die Ereignisse in der kleinen Stadt südlich von Lemberg: Die Stadt Stanislau im ehemaligen Ostgalizien (heute unter dem Namen Iwano-Frankowsk bekannt, wie sie seit 1957 genannt wird364) wurde 1939 mit dem umliegenden Gebiet an die Sowjet-Union angegliedert. Nach dem Überfall Deutsch-

361 Trauungszeugnis Emanuel und Sara Riesenfeld. Privatarchiv von Emilie Fuchs. 362 Lebenslauf von Hermann Riesenfeld, 1952. Familienarchiv. 363 Datenbank des DÖW, Eintrag zu Sara Riesenfeld, URL: http://de.doew.braintrust.at/db_shoah_243025.html (abgerufen am 20. 1. 2013). 364 Elisabeth Freundlich, Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau. NS-Vernichtungspolitik in Polen 1939-1945, Wien 1986, 135. Anm.: Auf Wikipedia ist die Umbenennung der Stadt zu Iwano-Frankiwsk mit 1962 datiert, und zwar während einer 300-Jahres Feier der Stadt. Diese Jahreszahl ist auch auf der offiziellen Website der Stadt wiederzufinden, URL: http://www.sbedif.if.ua/city/src/city.en.html. Deswegen ist nicht sicher, wieso die Autorin Freundlich in ihrem Buch das Jahr 1957 angibt, möglicherweise war der Namenswechsel schon früher inoffiziell beschlossen worden. 169 lands im Jahr 1941 war diese zuerst von Ungarn besetzt und im August desselben Jahres schließlich ins Generalgouvernement eingegliedert worden. Obwohl es angeblich unter sowjetischer Herrschaft kaum Diskriminierungen gegen Juden gege- ben haben dürfte, änderte sich dieser Umstand spätestens nach dem Herrschafts- wechsel massiv.365 Sobald die Deutschen sich dort etabliert hatten, begannen die unzähligen Massaker an Juden, durch welche Stanislau traurige Berühmtheit erlangte. Man begann zuerst mit der jüdischen Elite, die unter falschen Vorwänden zusammenkommen musste und dann traktiert, gefoltert und schließlich ermordet wurde. Vor allem das Datum 12. 10. 1941 blieb in Erinnerung, da an diesem Tag unter dem Vorwand, das Ghetto in Stanis- lau umquartieren zu wollen, die Menschen zusammengetrieben wurden und angeblich an die 12 000 Juden erschossen wurden.366 Die jüdischen Anwohner, die nicht erschos- sen oder verhaftet und dann im späteren Verlauf getötet wurden, sind oftmals in das KZ Belzec deportiert worden. Im Falle meiner Urgroßeltern könnte es sich ähnlich zugetragen haben. Nachdem sie erfuhren, dass sie Wien dringend verlassen müssen, entschieden sie sich, in das noch zur Sowjetunion gehörige Gebiet, aus dem beide ursprünglich stammten, zurückzu- kehren. Dies erwies sich jedoch als Fehlentscheidung, da die Deutschen auch dort spä- testens seit dem Jahr 1941 Zugriff auf die Juden hatten, und diese mittels Erschießun- gen liquidierten. Für diese Theorie sprechen weiters Auszüge aus Hermanns Lebens- lauf: „Meine Eltern waren noch im August 1939 illegal nach Polen geflüchtet und hat- ten sich in Stanislau niedergelassen. Dieser Teil Polens kam später zur Sowjetu- nion und ich erhielt von dort bis Mai 1941 Post. Nach dem Überfall der Hitler- banditen auf die Sowjetunion fiel die Stadt [Stanislau] bald in deren Hände und seither fehlt jede Spur von meinen Eltern.“367

Dabei sollte es auch bleiben. Von den bei den Massakern ermordeten Opfern gab es keine Auflistungen, und da sie ohnehin illegal in Stanislau waren, waren sie auch sonst nirgends verzeichnet.

4.6 Geschichte meines Großvaters Hermann

Zu Hermann Riesenfeld gäbe es zwar noch viele Quellen und Dokumente, doch leider sind mir diese nicht zugänglich. Daher muss das Kapitel über ihn größtenteils auf Oral History und dem von ihm verfassten Lebenslauf basieren, welcher allerdings äußerst detailliert und umfangreich ist.

365 Ebd., 138ff. 366 Ebd., 163. 367 Lebenslauf von Hermann Riesenfeld, 1952. Familienarchiv. 170

Mein Großvater Hermann Riesenfeld wurde als Kind von Emanuel und Sara Riesenfeld 1919 in Wien geboren. Auch er wuchs in Wien auf und besuchte dort Volks- und Hauptschule. Danach arbeitete er ab 1934 in einer Textilfabrik als Praktikant, da er keine Lehrstelle fand. Da auch sein Vater keinen Beruf erlernt hatte, und sich nur mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten konnte, musste Hermann schon als junger Mann nicht nur seinen Beitrag zum Familieneinkommen beitragen, sondern diese so gut wie allein ernähren. Zur Zeit des Anschlusses war er gerade 18 Jahre alt, und wurde somit schon als voll- jährig behandelt, wodurch er auch nicht mehr mit einem der Jugendtransporte nach England mitfahren konnte. Hermann wurde gekündigt und verfolgt, weswegen er ver- suchte so schnell wie möglich ein Visum für die Auswanderung nach England zu be- kommen. Nachdem seine Eltern wahrscheinlich keine Aussicht mehr auf eine Emigrati- on sahen, und deshalb schon 1939 geflüchtet sind, erhielt er zu dieser Zeit auch keine Unterstützung mehr von ihnen. Weiters ist zu erwähnen dass ihm am 8. 1. 1924 eine Schwester namens Hanni gebo- ren wurde, die aber nach wenigen Monaten im Juni 1924 im Karolinenspital verstarb. Über die Umstände ihres Todes und die Todesursache ist nichts bekannt, allerdings gehe ich von keiner Gewalteinwirkung, sondern eher von einem natürlichen Tod, aus.

4.6.1 Vorkriegszeit

Wie bereits erwähnt suchte Hermann schon sehr bald um die Auswanderung nach England sowie in die Vereinigten Staaten an. Eine Bestätigung des Polizeipräsidiums Wien vom 7. 3. 1939 sagt aus, dass ihm das amerikanische Einreisevisum nicht aus- gestellt werden konnte.368 Im April erhielt er aber die steuerliche Unbedenklichkeitsbe- scheinigung, die er für die Ausreise benötigte, sowie einen ebenso essentiellen Frem- denpass, in dem er als „staatlos [sic]“369 verzeichnet wurde. Das Heimatrecht für Ju- den wurde am 30. 6. 1939 abgeschafft.370 Im Mai 1939 erhielt er schließlich doch noch die Einreisebewilligung für England.

4.6.2 Auswanderung nach England

Damit wanderte er 1939 nach England aus, obwohl er wohl lieber in die Vereinigten Staaten emigriert wäre. Er kam dort in ein „Auswanderungslager“, von welchem aus er mit 800 anderen, die ebenso wie er keine Weiterwanderungsmöglichkeiten hatten,

368 Zeugnis des Polizeipräsidenten Wien zu Hermann Riesenfeld, 1939. Familienarchiv. 369 Fremdenpass des Hermann Riesenfeld, Ausstellungsdatum unbekannt. Familienarchiv. 370 Auszug aus der Heimatrolle vom Magistrat Wien, 1948. Familienarchiv. 171 zuerst auf die Isle of Man371 in der Irischen See und anschließend, sechs Wochen nach Kriegsbeginn, nach Kanada verschifft wurde. Das scheint ziemlich extrem, schob Großbritannien seine Flüchtlinge doch eigentlich nicht ab, dazu schreib Muchitsch: „Getrieben von der Sorge, unter den Internierten könnten sich faschistische Sa- boteure befinden, die den Deutschen im Falle einer Invasion nützlich wären, lei- tete die britische Regierung parallel zur Internierungswelle Verhandlungen mit den Dominions Kanada und Australien ein, die sich nach längerem Zögern bereit erklärten, Zivilinternierte […] zu nehmen. Da sich nur wenige, meist junge und unverheiratete zur Verschickung nach Kanada und Australien meldeten, wurde der Großteil gezwungenermaßen ‚freiwillig’ auf die Reise geschickt […].“372

Im dortigen Internierungslager freundete er sich mit den Ideen von Marx und Lenin an, die er mit einigen anderen Internierten teilte. Er schreibt: „Ich war Feuer und Flamme. Endlich sah ich die Dinge klar. […] Ich wollte end- lich mein Schicksal selbst bestimmen […].373

Nach dem Eintritt der Sowjetunion in den Krieg, entschied Hermann sich dafür, wieder zurück nach England zu kehren, um dort wie er in seinem Lebenslauf schrieb „am Kriegseinsatz teilzunehmen“. Er machte einen Umschulungskurs zum Schlosser und wurde 1942 in einer Flugzeugfabrik in London angestellt. Er trat außerdem einer ille- galen Sympathisantengruppe des Kommunismus bei. „In England half ich nach besten Kräften und mit vollem Einsatz mit, die öster- reichische Emigrationsjugend für den Kriegseinsatz, für die Heimat und für den Fortschritt zu gewinnen und setzte mich so gut ich konnte auch selbst im Kriegsdienst ein.“374

Im Jahr 1943 meldete er sich freiwillig zum Dienst in der British Army, wurde aber erst 1944 aufgenommen. Er änderte seinen Namen zu Henry Robertson, da das den Um- gang mit den Menschen sowie den Alltag vereinfachte. Er absolvierte einige Ausbil- dungskurse und hoffte an die europäische Front geschickt zu werden, hatte er extra darum angesucht. Er wurde jedoch abgelehnt und hätte sich nur für Südostasien mel- den können. So wurde er vorerst in eine Kanonenfabrik versetzt, bis man ihn schließ- lich auf sein Ansuchen in ein Kriegsgefangenenlager überstellte, wo er als Dolmetscher zum Einsatz kam. Dort war er politisch hoch aktiv, er half bei der Organisation einer Bibliothek mit, betätigte sich als Autor und nahm an Diskussionsrunden teil.

371 Muchitsch, Österreicher im Exil, 59. 372 Ebd., 56. 373 Lebenslauf von Hermann Riesenfeld, 1952. Familienarchiv. 374 Lebenslauf von Hermann Riesenfeld, 1952. Familienarchiv. 172

4.6.3 Nachkriegszeit

Im November bekam er von seinem Militärkommandanten die Erlaubnis, zur Repatriie- rung wieder nach Österreich kehren zu dürfen. Dafür bekam er ein Certificate of Iden- tity, das als Pass gültig war. Dort wurde Hermann Mitglied in der Freien Österreichischen Jugend (FÖJ), die zuneh- mend kommunistisch geprägt war. Von 1947 bis 1948 legte er „nach kriegsbedingter Unterbrechung“ die Externistenreifeprüfung ab und hatte damit den Abschluss des Re- algymnasiums nach dem Krieg nachgeholt. Danach blieb er weiter bei der FÖJ tätig, wurde aber hauptberuflich Angestellter in einer Firma die für den Großhandel und Im- port von chemischen Produkten zuständig war. Auch er stellte den Antrag auf die Ausstellung eines Opferausweises im Jahr 1950, in- dem es heißt: „Nach den vorliegenden Beweismitteln wird als erwiesen erachtet, daß Sie durch Entlassung von Ihrem Posten und Emigration nach England im Jahre 1938 bis Mai 1942 als rassisch Verfolgter eine Minderung Ihres Einkommens um mehr als die Hälfte gegenüber dem Zeitpunkt vor der gesetzten Massnahme von mehr als 3 ½ Jahre erlitten haben.“375

Am 17. 10. 1953 heiratete Hermann Riesenfeld Margarethe Mandelbaum, die einige Jahre danach Peter und Martina, meinen Vater und dessen Schwester zur Welt brach- te. Der Altersunterschied zwischen meinen Großeltern betrug 13 Jahre, was aber wei- ter kein Problem dargestellt haben dürfte. 1971 erhielt er von der Britischen Botschaft einige Medaillen für seine Dienste, darunter den „1939-1945 Star, France & Germany Star, Defence Medal und War Medal“.376 Hermann lebte den Rest seines Lebens mit Margarethe in Wien, wo er sich an seinen Kindern und Enkelkindern erfreuen konnte. Er starb 2006 im 88. Lebensjahr, Margarethe lebt bis heute in Wien.

5 Kurzer Exkurs: Die Familie meiner Mutter – Mitläufer und Gleichgültige?

Der Weg der mütterlichen Seite meiner Familie ist dem der jüdischen Seite diametral entgegengesetzt. Sie waren den Standards entsprechend arischer Abstammung, und hatten daher keine Denunziationen oder Repressionen seitens des Staates zu befürch- ten. Meine Großeltern waren in den 30er Jahren noch sehr jung, Rosalia war 1938 erst vierzehn und Franz sogar nur elf Jahre alt. Daher waren beide kaum an Politik interes- siert, wie sehr deren Eltern politisch aktiv waren, ist heute nur mehr schwer zu sagen.

375 Bescheid des Magistrat der Stadt Wien für Hermann Riesenfeld, 1950. Familienarchiv. 376 Brief von der British Embassy an Hermann Riesenfeld, 1971. Familienarchiv. 173

Sicher ist, dass der Vater von Franz, Josef Jäger, in der Wehrmacht gedient hatte. Doch litt er an einer chronischen Bronchitis und einer Schwäche der Nieren, daher wurde er 1943 pensioniert und erhielt Wehrmachtsfürsorge. Sein Sohn Franz Jäger, im September 1927 geboren, hätte gegen Ende des Krieges ebenfalls einrücken müssen, hatte sich aber kurz davor das Bein gebrochen und muss- te daher nicht kämpfen. Allerdings blieb er der einzige in der Familie, der politisch ge- sehen eher mitte-rechts angesiedelt war und die FPÖ unterstützte. Dennoch glaube ich nicht, dass er den Juden gegenüber jemals feindlich gesinnt war, oder dem Antisemi- tismus zugehörig war. Da er erst vor kurzem, im Jänner 2013, verstarb, schrieb ein angeheirateter Jude unserer Familie anlässlich seines Todes: „Ich habe das Bedürfnis mich an eurer Trauer zu beteiligen. Berti war nicht ge- rade der beste Freund von Juden und trotzdem sah er an erster Stelle den Men- schen, ohne Unterschied von Religion und Rasse.“377

Deshalb gehe ich eher davon aus, dass Franz, sollte er tatsächlich nationalsozialisti- sches Gedankengut in sich getragen haben, dies eher nach dem Beispiel Karl Luegers („Wer Jud’ is, bestimme ich!“). Meine Großmutter Rosalia Jäger, geboren mit ihrer Zwillingsschwester Amalia als Haschberger im Jahr 1924 (siehe Abbildung 2), war, wie sie mir selbst in einem Zeit- zeugengespräch erzählte, nie wirklich an Politik interessiert. Als junges Mädchen hatte man andere Dinge im Sinn, als die „Anti-Juden-Politik“ der Erwachsenen. Auf meine Frage, ob sie denn das Verschwinden der Juden bemerkt hätte, antwortete sie mir, dass das schon auffällig war, hatte doch Baden bei Wien ziemlich viel jüdische Bewoh- ner vor 1938 vorzuweisen.378 Doch sie meinte weiterhin, dass sie das nicht wirklich in- teressiert hätte, hieß es doch, die Juden seien freiwillig ausgewandert.379 Dabei war Baden von den Repressionen gegen die Juden nicht weniger verschont ge- blieben als Wien. So mussten diese auch dort die Straßen reinigen und wurden als „kapitalistische Ausbeuter“ aus ihren Geschäften vertrieben.380 Rosalia ging während des Krieges zur Schule, verspürte außer einigen kleinen Entbeh- rungen jedoch keine starken Auswirkungen des Krieges auf ihr Leben. 1945 erfuhr ihre Familie von der Ankunft der Russen und deren gewaltsamen Racheakten, weshalb sie nach Tirol auf einen Bergbauerhof flüchtet, wo sie längere Zeit arbeitete. Vor allem meine Großmutter hegte nie antisemitische Tendenzen oder beteiligte sich politisch an jeglichen Aktionen gegen jüdische Mitmenschen, jedoch tolerierte bzw. ignorierte sie die Denunziationen derselbigen. Als ich das Zeitzeugengespräch mit ihr

377 Schriftwechsel zwischen Cornelia Rosenkranz und Jochay Goren, Lebenspartner von Susanna Jäger, Tochter aus erster Ehe von Franz. 378 Johann Meissner/Kornelius Fleischmann, Die Juden von Baden und ihr Friedhof, Baden 2002. 379 Zeitzeugengespräch mit Rosalia Jäger vom 21. 10. 2012. Familienarchiv von Cornelia Rosenkranz. 380 Meissner/Fleischmann, Die Juden von Baden und ihr Friedhof, 103. 174 führte, hatte ich das Gefühl, dass sie auch nach der Kriegszeit nicht daran interessiert war, was mit den Juden geschehen war. Von der Vernichtung und dem Holocaust sprach sie schon gar nicht. Deshalb bin ich mir gar nicht sicher, ob sie sich bis zum heutigen Tag jemals damit auseinandergesetzt hat. Dabei denke ich nicht, dass sie dies absichtlich tat, oder die Augen aus bestimmten Gründen verschloss, sondern nicht genug bemüht war, etwas über die Dinge zu erfahren und dem allgemeinen Strom des Nachkriegsschweigens folgte.

Abbildung 2: Rosalia und Amalia Haschberger.

Quelle: In Besitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder.

6 Umgang mit dem Holocaust in der Familie und meine Rolle

Nach dem Krieg kehrten von Seiten meiner jüdischen Familie nur die Eltern meines Vaters und die Mutter meiner Großmutter nach Österreich zurück. Der Rest meiner leiblichen Familie fiel dem Holocaust zum Opfer (bis auf ein paar wenige namenlose Cousinen meiner Groß- und Urgroßeltern, die es in die Vereinigten Staaten schafften oder in England blieben). Diese zurückgekehrten Familienmitglieder mussten mit den Folgen der Judenvernichtung und der Vertreibung leben, sie verarbeiten und hinter 175 sich lassen. Wie gut ihnen dies gelungen ist, kann ich nur zum Teil wiedergeben. Mit meinen Urgroßeltern sprach ich nie darüber, da ich noch zu jung war, um sie detailliert dazu befragen zu können. Auch mit meinem Großvater Hermann sprach ich nie über diese Zeit, wobei ich zugeben muss dass ich auch nie gezielt nachgefragte. Mit seinem Sohn Peter hatte er aber einige Gespräche darüber geführt und ihm vieles erzählt. Außerdem hatte er auch um Entschädigung beim Österreichischen National- und Ent- schädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus, genauso wie um den Opferaus- weis, recht bald angesucht. Auch dies zeigt, dass er sich durchaus als Opfer verstand, dem eine Wiedergutmachung zustand. Bei meiner Literaturrecherche zu dieser Arbeit stieß ich auf das Buch des DÖW „Öster- reicher im Exil. Großbritannien 1939-1945“. In diesem Band der Reihe scheint er als Hermann Riesenfeld aus Wien unter der Liste der Förderer auf. Das zeigt auch seine Unterstützung für die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschehnisse, die auch ihn direkt betrafen. Auch meine Großmutter Margarethe lies in ihren zahlreichen (aber daten- und namen- losen) Erzählungen immer wieder durchblicken, dass auch sie sich immer wieder mit der Vergangenheit beschäftigt hatte. Bis heute empfiehlt sie mir Literatur zu dem The- ma, wie beispielsweise das Tagebuch der Emilie Klüger oder das Totenbuch von There- sienstadt. Im Allgemeinen lässt die Rezeption und Reaktion auf Fragen meinerseits darauf schlie- ßen, dass sie die Geschehnisse nach einer gewissen Aufarbeitungszeit doch hinter sich gelassen haben, und keinen Groll (mehr) hegen. Auch der Kontakt zu den Freunden in England ist nach wie vor erhalten, ohne mit den vergangenen Ereignissen negativ be- legt zu sein. Dennoch denke ich, dass für meine Vorfahren das größte Problem die un- gerechtfertigte Zuordnung zu der Gruppe der Juden darstellte, waren sie doch seit Ge- nerationen bereits nicht mehr praktizierende Juden. Meine Rolle in diesem Gefüge kommt erst sehr spät hinzu, weil ich mich bis vor ca. drei Jahren noch recht wenig dafür interessierte. Seit dem Beginn meines Geschichte- studiums habe ich viel mehr nachgefragt und mich auch seitdem für eine Dokumenta- tion der Ereignisse interessiert. Als ich die Schwester meine Großmutter Emilie um Quellen zu der Zeit gebeten hatte, und mit ihr diese durchsprach, meinte sie, dass sie das alles schon aufwühlen würde, da sie die Geschichte ihrer Mutter und Schwester sehr berühre. Dennoch fände sie es sehr wichtig, dass ich mich dahintersetze um alles auszuwerten, und sie hält die Beschäftigung damit für sehr essentiell. Was mich bei meiner Arbeit erstaunte, war die Tatsache, dass es mir weit weniger nahe ging als erwartet, geht es doch um meine Familie und größtenteils um Men- schen, die mir nahestehen. Aber wie bereits ausgeführt, war das Schicksal meiner Fa- 176 milie nur eines von vielen, und in diesem Fall auch eines, das recht gut ausging, be- achtet man die Umstände. Dennoch halte auch ich als Nachfahre die Beschäftigung mit der Vergangenheit der Familie für sehr wichtig, seien es Opfer des Nationalsozialis- mus, Mitläufer oder Täter.

7 Schlussthese und Ergebnis der Forschungen

Somit bleibt am Ende meiner Arbeit nur das traurige Fazit zu ziehen: Meine Ururgroß- eltern Mirjam und August Berendt, möglicherweise mein Urgroßvater Joseph Mandel- baum und meine Urgroßeltern Sara und Emanuel Riesenfeld fielen dem Holocaust durch Schikanen, angedrohte und tatsächliche Deportation und Selbstmord, sowie Massakern zum Opfer. Der Rest meiner Familie, meine Großeltern Hermann und Margarethe Riesenfeld, de- ren Mutter Rosa Mandelbaum und Johann Friedberg verloren ihr gesamtes Hab und Gut, ihre wirtschaftliche Existenz und damit auch ihren Lebensgrundlage. Zum größten Teil unabhängig voneinander, wurden sie durch Repressionen und Entlassungen (ganz zu schweigen von den sozialen Denunziationen) dazu gezwungen, so schnell wie mög- lich Österreich zu verlassen, und im Fall meiner Familie erfolgreich nach England zu flüchten. Auch dort gelang ihnen der Aufbau einer Existenz, der Schulbesuch und das Etablieren von Freundschaften. Dennoch kehrten sie nach dem Krieg wieder zurück nach Wien und fanden sich auch dort wieder zurecht. Auch wenn die Rückkehr nachvollziehbar ist („ist es doch nir- gends so schön wie daheim“) ist es nicht ganz so selbstverständlich, sich wieder in ei- nem Land niederzulassen, indem man erst vor einigen Jahren von seinen Mitmenschen und vom Staat verstoßen und gedemütigt wurde. Die Juden wurden in einem beispiellosen Verfahren in eine enorme Vernichtungsma- schinerie gedrängt und mittels Propaganda denunziert, aus ihren Berufen, Betrieben und sozialen Leben vertrieben, bis ihnen schließlich 1941 auch die Auswanderung ver- boten wurde und damit meist nur der letzte Weg zur Deportation in eines der Konzen- trationslager aufgezwungen wurde. Bis auf einige ebenfalls namenlose Cousinen meiner Großmutter, die laut ihren Erzäh- lungen nach Theresienstadt deportierten wurden, blieb zumindest meiner Familie (als einer der wenigen) das Konzentrationslager und die Massenvernichtung erspart. Auch wenn die Ergebnisse meiner Forschung kein Gesamtbild des Lebens der einzel- nen Personen darstellen können, bekommt man durch die noch erhaltenen Dokumente doch eine Vorstellung der einzelnen „Stationen“ im Leben der Juden im System der Nationalsozialisten. Die Geschichte meiner Familie im Besonderen ist nur insofern au- 177

ßergewöhnlich, als ein Großteil von ihnen durch die Auswanderung nach England überlebte, und wieder nach Österreich zurückkehrte. Doch hatten sie auch viel Glück, wäre beispielsweise der Antrag für das Visum für England nicht genehmigt worden, würde ich heut als Enkelin wohl kaum über die Er- lebnisse der oben behandelten Personen forschen und schreiben können. Dahingehend kann meine Familie, trotz aller Verluste und mühsamen Prozeduren sowie auferlegten Hürden in ihrem oft noch jungen Leben, den Menschen dankbar sein, die ihnen in Eng- land und nach ihrer Rückkehr in Österreich tatkräftig halfen, und ihr Schicksal positiv beeinflussten. 178

8 Abbildungen

• Abbildung 1: Stammbaum meines Vaters Peter Riesenfeld. Quelle: Cornelia Rosenkranz. • Abbildung 2: Rosalia und Amalia Haschberger. Quelle: In Besitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder. 179

David Pöcksteiner

Zwischen Mitgliedschaft und Ablehnung

Kindheitserinnerungen meiner Großeltern an den Nationalsozialismus 180

Inhalt

1 Einleitung 181 2 Hauptteil 183 2.1 Familiärer Hintergrund 183 2.2 Kindheit in der NS-Zeit 191 2.3 Das Jahr 1945 197 2.4 Umgang mit dem Nationalsozialismus nach 1945 209 3 Schluss 211 4 Quellen 214 5 Abbildungen 214 181

1 Einleitung

Österreich ist das erste Opfer des Nationalsozialismus. Dieser Satz prägte lange Zeit das Verständnis der ÖsterreicherInnen hinsichtlich der sieben Jahre dauernden Herr- schaft des Nationalsozialismus. Trotz einer großen Zahl an Mitgliedschaften in der NSDAP und weit verbreiteter Begeisterung für den Anschluss an das Deutsche Reich hatte nach dem Krieg plötzlich niemand Verbrechen begangen oder gar von ihnen ge- wusst. Dieses Bild prägte auch das Selbstverständnis vieler österreichischer Familien. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft gab es scheinbar in keinen Fa- milien mehr Parteimitglieder. Es gab zwar die zahlreichen Soldaten, aber hatten diese nicht nur ihre Pflicht getan und das Vaterland verteidigt? Erst im Laufe der Zweiten Republik brach das Bild von Österreich als Opfer der Ag- gression Deutschlands langsam auf. Innerhalb von Familien wird aber oft bis zum heu- tigen Tag – vor allem in Hinblick auf Fragen der Schuld und Täterschaft – weiter ge- schwiegen.381 Auch in Teilen meiner Familie war der Nationalsozialismus lange ein Thema, über das nicht gesprochen wurde. Das lag einerseits an den Erfahrungen der Soldaten an der Front, die nie darüber sprechen wollten, andererseits aber auch an der Scham, an die- ses System geglaubt zu haben. Wie in so vielen Familien gäbe es auch in meinem Fall eine Reihe von Personen, so- wohl Soldaten und Parteimitglieder als auch GegnerInnen und MitläuferInnen, die Be- zug zu dieser Zeit haben und über die geforscht werden könnte. Im Rahmen dieser Seminararbeit habe ich mich entschlossen, mein Forschungsfeld auf meinen Großvater mütterlicherseits, Johann Eckel, geboren 1930, und meine Groß- mutter väterlicherseits, Maria Pöcksteiner, geboren 1929 als Maria Luger, zu konzen- trieren. Dies habe ich getan, weil mein Großvater väterlicherseits, Franz Pöcksteiner, geboren 1914, als ehemaliger Soldat zwar interessant für die Geschichte der Familie ist, dieser aber bereits verstorben ist. Meine Großmutter mütterlicherseits, Maria Eckel, wurde hingegen erst im Jahr 1939 geboren und hat daher nur wenige eigene Erinnerungen an die Zeit der NS-Herrschaft. Die Wahl der Familienmitglieder, Johann Eckel und Maria Pöcksteiner, erweist sich auch deshalb als interessant, da ich im Rahmen dieser Arbeit Vergleiche zwischen den bei- den Personen ausarbeiten kann. Sie kommen zwar aus verschiedenen sozialen Milieus und sind unterschiedlichen Geschlechts, sie sind aber beinahe gleich alt und stammen aus dem Mostviertel in Niederösterreich. Außerdem kommen sie beide aus einer Gene- ration, deren VertreterInnen großteils zu jung sind, um als TäterInnen der NS-Zeit be-

381 Margit Reiter, Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck-Wien 2006, 47. 182 zeichnet werden zu können, aber alt genug um diese Zeit selbst miterlebt zu haben. Sie stehen also gewissermaßen zwischen ihrer Eltern-Generation, deren VertreterIn- nen als TäterInnen in Frage kommen und der Generation ihrer Kinder, die nach der NS-Herrschaft geboren wurden und danach wissen wollten, wie dies alles möglich war. Ebenso wuchsen sie im nationalsozialitischen Erziehungssystem auf und haben Demo- kratie erst nach dem Krieg kennengelernt. In meiner Arbeit möchte ich zuerst auf den familiären Hintergrund meiner beiden Großeltern und danach kurz auf ihr Leben wäh- rend der NS-Herrschaft eingehen. Am ausführlichsten werde ich mich mit dem Jahr 1945 beschäftigen. Dabei werde ich mich mit den Erfahrungen des Krieges, der Juden- vernichtung und dem als Befreiung oder Besatzung empfundenen Einmarsch der So- wjetsoldaten sowie dem Leben nach Kriegsende beschäftigen. Ziel meiner Arbeit ist es, die Frage zu beantworten, wie sich der familiäre Hintergrund, die Erziehung und die letzten Monate im Jahr 1945 auf meine Großeltern ausgewirkt haben und wie ihre Erfahrungen und Eindrücke nach 1945 verarbeitet worden sind. Nun werde ich noch kurz die von mir verwendeten Quellen sowie die Literatur und die theoretischen Ansätze erläutern, auf denen meine Arbeit aufbaut. Grundbaustein meiner Arbeit waren Interviews mit meinen Großeltern Johann Eckel und Maria Pöcksteiner. Dabei habe ich teilstrukturierte narrative Interviews geführt. Diese sind in der Oral History und der Zeitgeschichtsforschung üblich. Sie beginnen mit einer relativ offenen Einstiegsfrage, die den Interviewten/die Interviewte zum Er- zählen auffordert. Anhand eines Interviewleitfadens soll der Interviewer/die Interviewerin nur dann eingreifen, wenn der Interviewpartner/die Interviewpartnerin nicht mehr zum Thema spricht oder wenn Verständnisfragen auftauchen.382 Dazu kom- men noch Interviews mit meinen Eltern Johann und Elisabeth Pöcksteiner, bei denen der Fokus auf dem Umgang ihrer Eltern mit dem Nationalsozialismus nach 1945 lag. Beim Erarbeiten und Auswerten der Quellen ist mir bewusst, dass Interviews nicht zwingend die Realität widerspiegeln, sondern dass sie eine selektive Auswahl von Er- eignissen wiedergeben, an die sich meine InterviewpartnerInnen erinnern oder zu er- innern glauben. Die Erinnerung an lange zurückliegende Ereignisse kann dabei sehr leicht Veränderungen unterliegen. Sie können bewusst falsch erzählt werden oder auch durch das Vergessen und die Aufnahme von Erinnerungen anderer Menschen be- einflusst worden sein.383 Ich versuchte daher in dieser Arbeit die Erzählungen durch schriftliche Quellen und Li- teratur zu unterstreichen oder zu korrigieren, was allerdings nicht immer möglich war. Schriftliche Quellen für diese Arbeit waren z. B. Briefe, NSDAP-Mitgliedskarten, Tage-

382 Reiter, Die Generation danach, 32f. 383 Reiter, Die Generation danach, 38f. 183 bucheinträge und Schulunterlagen. Vor allem bei meinem Großvater Johann Eckel gibt es eine Vielzahl von schriftlichen Quellen, im Falle meiner Großmutter Maria Pöck- steiner allerdings nicht. Bei ihrer Erzählung stütze ich mich auf die Interviewtranskrip- tion sowie Fotos und Literatur.

2 Hauptteil

2.1 Familiärer Hintergrund

Am Beginn meiner Arbeit werde ich nun genauer auf den familiären Hintergrund mei- ner beiden Großeltern eingehen, der für die Einstellungen und Erlebnisse mit dem Na- tionalsozialismus von großer Bedeutung war. Mein Großvater mütterlicherseits, Johann Eckel, wurde am 5. 12. 1930 im Dorf Klein- rust, nördlich von St. Pölten, geboren. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, lebte er in einem Haus mit nur zwei Zimmern und einem Hof mit seinen Großeltern Johann und Anna, seinen Eltern Johann und Rosa, beide 1908 geboren, sowie seinem um 2 Jahre jüngeren Bruder Walter. Wie sein Großvater war auch sein Vater Holzschuhma- cher. Dieser fand allerdings nur gelegentlich Beschäftigung und auch seine Mutter Rosa arbeitete nicht. Bei der Geburt war mein Großvater ein sehr schwächliches Kind, weshalb meiner Urgroßmutter Rosa gesagt wurde dass er die Kindheit wahrscheinlich nicht überleben werde. Diese ging daraufhin nach St. Pölten zu dem Arzt , dem späteren Gauleiter von Niederdonau, da über diesen erzählt wurde, dass er eine soziale Ader hätte und nur wenig Geld von armen Familien verlange. Danach wurde ein zweiter, jüdischer Arzt in der Nachbargemeinde Obritzberg konsultiert. Dieser wird später noch einmal erwähnt werden, weil er einer der wenigen Juden ist, die mein Großvater bis zum Kriegsende getroffen hatte. Trotz der prognostizierten geringen Überlebenschancen starb Johann Eckel nicht im Kleinkindalter.384 Die ersten Erfahrungen meines Großvaters mit dem Nationalsozialismus betreffen des- sen Vater Johann Eckel, der noch vor dem Anschluss 1938 der NSDAP beitrat und wö- chentlich zu Treffen in den nächstgelegenen größeren Ort Wölbling fuhr. Seine Mit- gliedskarte mit dem Namen Hans Eckl trägt die Nummer 6.184.883, das Datum seiner Aufnahme in die Partei ist der 1. 4. 1938.385 Dies sind beides Beweise für eine Mitgliedschaft bereits vor dem Anschluss, da die Nummern 6.100.000 bis 6.600.000 für Personen reserviert waren, die schon vor der Eingliederung Österreichs Parteimitglieder waren. Viele dieser illegalen Nationalsozia-

384 Interview mit Johann Eckel, geführt am 10. 11. 2012, Bänder beim Autor. 385 NSDAP Mitgliedskartei, Eckl Hans, Bibliothek für Zeitgeschichte Wien, Mikrofilmrolle: A3340 MFOK D064, siehe Anhang 1. 184 listInnen wurden dann gemeinsam am 1. 5. 1938 in die Partei aufgenommen, unabhängig davon, wann sie wirklich beigetreten waren bzw. wann sie den Antrag auf die Aufnahme gestellt hatten.386 Johann Eckel stellte den Antrag bereits vor dem Anschluss am 6. 1. 1938. Von den wöchentlichen Treffen blieb meinem Großvater dabei vor allem das Aussehen seines Vaters in Erinnerung, der immer frisch rasiert war und eine Uniform trug. Nach seinen eigenen Angaben wusste mein Großvater aber nicht, was bei diesen Treffen genau gemacht und besprochen wurde. Er betont heute, dass die Zugehörigkeit seines Vaters zur NSDAP vor allem durch dessen Armut und Arbeitslosigkeit bedingt war und nicht durch ideologische Überzeugung. Die National- sozialistInnen versprachen eine bessere Zeit und seien die einzigen gewesen, die ihm geholfen hätten; so beschreibt mein Großvater die Beziehung seines Vaters zu der NSDAP.387 Heute ist nur schwer nachzuvollziehen, ob mein Urgroßvater Johann über- zeugter Nationalsozialist war, oder ob er nur aus wirtschaftlichen Gründen der Partei beigetreten ist. Das Argument, dass einzig die Arbeitslosigkeit die Menschen zur Mit- gliedschaft bei der NSDAP getrieben hätte, ist ein sehr gängiges und wird häufig in Fa- milienerzählungen verwendet, wenn bekannt ist, dass ein Familienmitglied Nationalso- zialistIn war. Es wird dabei meist als Entschuldigungsgrund für die Mitgliedschaft ver- standen, als Abgrenzung zu den sogenannten wirklichen NationalsozialistInnen, die Verbrechen begangen hatten.388 Die Arbeiterschaft, zu der mein Urgroßvater gehörte, unterstützte in der Ersten Repu- blik vor allem die Sozialdemokratie, deren Hochburgen in erster Linie die großen Städ- te und Industriezentren waren. In vielen Landgemeinden war dies allerdings anders. Die Landarbeiter wählten sehr oft die Christlichsoziale Partei oder unterstützen die Na- tionalsozialistInnen. Sie bildeten die unterste soziale Stufe der Landbevölkerung, wa- ren weder gewerkschaftlich organisiert noch Teil der bäuerlichen Lebenswelt, und wa- ren dadurch anfällig für nationalsozialistisches Gedankengut.389 Meines Großvaters Mutter, Rosa Eckel, war laut eigenen Angaben unpolitisch. Auffällig ist allerdings ein Schreiben des Bürgermeisters von Kleinrust, Karl Bracher, vom 3. 8. 1942 an meinen Urgroßvater (siehe Abbildung 1), in dem er ihn aufforderte, seine Frau Rosa zum Arbeitseinsatz zu bewegen, da sie an keiner Versammlung der Frauen- schaft sowie der dort zu verrichtenden Arbeiten teilnehme. Es sei auch seine Pflicht als Parteigenosse, seine Frau daran zu erinnern, dass jeder Mensch seinen Beitrag zur Volksgemeinschaft zu leisten habe, um zu verhindern, dass sich ein Jahr 1918 wieder-

386 Gerhard Botz, Expansion und Entwicklungskrisen der NSDAP Mitgliedschaft. Von der sozialen Dynamik zur bürokratischen Selbststeuerung? 1933-1945, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Beruf(ung): Archivar Festschrift Lorenz Mikoletzky, Teil II, Bd. 55, Wien 2011, 1180. 387 Interview mit Johann Eckel. 388 Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschugnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002, 153. 389 Dirk Hänisch, Die österreichischen NSDAP-Wähler. Eine empirische Analyse ihrer politischen Herkunft und ihres Sozialprofils, Wien-Köln-Weimar 1998, 362-370. 185 hole. Sie könne ja z.B. bei Flickarbeiten helfen, da sie das Frauenkleidermachen ge- lernt habe. Vorangegangen ist ein Brief meines Urgroßvaters im Juli 1942, in dem dieser um die Aufhebung der Dienstverpflichtung seiner Frau bat. Dieses Schreiben ist allerdings nicht mehr erhalten.390 Dieser Brief ist ein Indiz dafür, dass Rosa Eckel wahrscheinlich keine überzeugte Nationalsozialistin war. Die Jahre der NS-Herrschaft verbrachte mein Großvater Johann großteils ohne seinen Vater. Dieser musste 1940 einrücken und kam, mit Ausnahme von Fronturlauben, erst nach Ende des Krieges zurück. Im Jahr 1941 soll mein Großvater schließlich einen Brief seines Vaters bekommen haben, in dem er schrieb: „mich können die Nazi […] mir können die Nazi gestohlen bleiben.“ 391 Bedingt durch die Erfahrungen an der Front soll mein Urgroßvater den Nationalsozia- listInnen den Rücken gekehrt haben. Mein Großvater betont, dass er diese Karte zwar noch hat, aber gleich nach dem er sie bekommen hatte, das Geschriebene aus Angst, dass jemand es lesen könnte, ausradiert hat.

390 Karl Bracher, Brief an den Soldaten Johann Eckel, Kleinrust 1942. 391 Hierzu, sowie nachfolgender Absatz: Interview mit Johann Eckel. 186

Abbildung 1: Brief an den Soldaten Johann Eckel, Kleinrust 1942.

Quelle: In Privatbesitz des Autors bzw. der Familienmitglieder. 187

Am Beginn des Krieges wurde mein Urgroßvater Johann Eckel in Bayern und in Däne- mark stationiert; wegen eines Spreizfußes wurde er zunächst nicht an die Front ge- schickt. Später musste er allerdings trotzdem an dem Russlandfeldzug teilnehmen, wurde bei Rschew verwundet und in ein Lazarett in Koblenz gebracht. Nachdem seine Verletzung geheilt war, wurde er Ende 1943 bzw. Anfang 1944 in Kreta stationiert und schließlich in Griechenland gefangen genommen. Der Krieg an der Ostfront gegen die Sowjetunion war von großer Grausamkeit und Kriegsverbrechen geprägt. Nicht nur die Einsatzgruppen, die hinter der Front nach Russland vordrangen, ermordeten hunderttausende Juden und angebliche kommunis- tische Funktionäre, sondern auch die Wehrmachtssoldaten selbst erschossen zahlrei- che Jüdinnen und Juden, PartisanInnen und kommunistische „Kommissare“.392 Es ist durchaus auch möglich, dass Johann Eckel an Verbrechen gegen Jüdinnen und Juden sowie der sowjetischen Zivilbevölkerung beteiligt war. Die Schlachten um die Stadt Rschew, an denen Johann Eckel teilgenommen hatte, dauerten ganze 15 Monate, von Jänner 1942 bis März 1943, und zählen zu den blutigsten des Zweiten Weltkrieges. Nach dem erstmaligen Rückzug aus den Stellungen vor Moskau und der Gegenoffensi- ve der Roten Armee konnte Rschew als Brückenkopf von der Deutschen Wehrmacht gehalten werden, der daraufhin hart umkämpft war. Nach der Niederlage bei Stalin- grad konnte die Wehrmacht ihre Stellung bei Rschew nicht mehr halten und musste sich nach Westen zurückziehen. Die Schlachten endeten mit dem Sieg der Roten Ar- mee, die in der Folge mit dem Vorstoß nach Westen begann.393 Kreta war am Beginn des Krieges für die Deutschen relativ unbedeutend, die Insel wurde gemeinsam mit Italien besetzt und zwischen den Verbündeten geteilt. Erst mit der Niederlage im Afrikafeldzug und dem Ausscheiden Italiens aus dem Krieg gewann diese an Bedeutung. Zuerst wurde der italienische Teil von der Wehrmacht besetzt und eine größere Anzahl von Truppen dort stationiert.394 Ob mein Urgroßvater Johann Eckel an dortigen Kriegsverbrechen beteiligt war, kann im Zuge dieser Seminararbeit nicht überprüft werden, weil nicht genau feststeht, wann er nach Kreta kam und welcher Einheit er angehörte. Im Herbst 1943 töteten z.B. deutsche Soldaten über 400 Zivilis- tInnen und brannten Dörfer nieder, nachdem Kameraden von Partisanen als Geiseln gefangen genommen worden waren.395 Im Jahr 1944, in dem Johann Eckel jedenfalls schon auf Kreta stationiert war, kam es aufgrund von verstärkten Partisanentätigkei- ten und eines befürchteten baldigen Angriffs auf die Insel durch die Alliierten zu einer Zunahme von Repressalien gegen die Zivilbevölkerung. In der letzten großen Aktion

392 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main 1990, 312-318. 393 Albert Seaton, Der russisch-deutsche Krieg 1941-1945, Frankfurt am Main 1973, 214-260. 394 Alexandra Marianne Stefan, Deutsche Kriegsverbrechen auf Kreta 1941-1945, Dipl. Arb., Wien 1999, 71f. 395 Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Absätze: ebd. 188 gegen die Partisanen, mit dem Codenamen „Rattenfänger“, wurden über 500 Men- schen erschossen und über 1.000 festgenommen. In britischen Berichten sind diese Zahlen sogar doppelt so hoch. Die im Jahr 1944 verbliebenen 341 Juden auf Kreta wurden im Mai von der Insel gebracht und das Schiff, wahrscheinlich von der Briti- schen Marine, versenkt. Im September 1944 wurde schließlich ein Teil der Deutschen Truppen auf das griechische Festland überführt und im nachfolgenden Jahr in Gefan- genschaft genommen; darunter wahrscheinlich auch mein Urgroßvater. Den Rückweg von Griechenland nach Österreich musste er schließlich zu Fuß zurücklegen. Nach seiner Rückkehr war er ein gebrochener Mann und ging eine Zeit lang nur aus dem Haus, um seiner Registrierungspflicht nachzukommen. Als illegaler Nationalsozia- list wurde er als Teil des harten Kernes der Partei in Österreich angesehen und dementsprechend behandelt. Zuerst sollten vor allem diejenigen, die bereits vor dem Anschluss 1938 illegal in der Partei engagiert waren, hart bestraft werden. Sie wurden am Beginn des Jahres 1945 als Hochverräter angesehen. In den Jahren 1945 bis 1947 mussten sich alle ehemaligen NationalsozialistInnen registrieren lassen und waren von Wahlen ausgeschlossen.396 Die Linie der österreichischen Regierung gegenüber den ehemaligen Nationalsozialis- tInnen änderte sich relativ rasch, nur noch die Parteimitglieder sollten bestraft wer- den, die ihre Position missbraucht hatten. Nach einigen Änderungswünschen der Alli- ierten wurde 1947 das Nationalsozialistengesetz beschlossen, dass eine Trennung in Belastete und Minderbelastete vorsah. Der Großteil wurde schließlich als Minderbelas- tete eingestuft, diese musste lediglich Geldbußen leisten bzw. waren vom Ausscheiden aus öffentlichen Ämtern oder Berufen betroffen. Zu diesen Minderbelasteten wurde auch Johann Eckel gezählt.397 Mein Großvater bezeichnet die Behandlung seines Vaters, trotz der geringen Auswir- kungen auf diesen, als unfair, da sich dieser nach seinen Angaben bereits während des Krieges von den NationalsozialistInnen abgewandt hatte, aber trotzdem wie ein Kriegsverbrecher und Täter des NS-Systems behandelt wurde. Nur die katholische Kir- che hätte sich meines Urgroßvaters angenommen und so geholfen, ihn wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Das Verhältnis meines Großvaters zu meinem Urgroßvater ist durchaus ambivalent. Ei- nerseits gibt er zu, dass dieser bereits vor dem Anschluss Mitglied der NSDAP gewe- sen ist. Andererseits soll dies keine ideologischen Gründe gehabt haben. Weiters spricht er von dem Brief seines Vaters, den er von der Front bekommen hat, erwähnt

396 Ulrike Riebenbauer, Entnazifizierung. Ein Kapitel österreichischer Nachkriegsgeschichte, Dipl. Arb., Wien 1988), 33- 36. 397 Winfried R. Garscha, Entnazifizierung und gerichtliche Ahndung von NS-Verbrechen, in: Emmerich Talos/ Ernst Hanisch/ Wolfgang Neugebauer/ Reinhard Sieder (Hg.), NS Herrschaft in Österreich, Wien 200, 858-861. 189 jedoch nicht die mögliche Teilnahme meines Urgroßvaters an Kriegsverbrechen. Auch die Behandlung meines Urgroßvaters Johann Eckel nach dem Krieg empfindet mein Großvater, wie bereits erwähnt, als ungerecht.398

Abbildung 2: Familie Luger im Frühling 1930.

Quelle: In Privatbesitz des Autors bzw. der Familienmitglieder.

Meine Großmutter väterlicherseits, Maria Pöcksteiner399, wurde am 9. 10. 1929 in Göttsbach in der Gemeinde Ybbs an der Donau als Maria Luger geboren und kommt aus gänzlich anderen familiären Verhältnissen als Johann Eckel. Ihre Mutter Maria Lu- ger, geboren als Nahringbauer 1896, und ihr Vater Karl Luger, geboren 1890, hatten noch fünf weitere Kinder (siehe Abbildung 2). Anna wurde 1924, Karl 1926, Alois 1927, ihr Zwillingsbruder Johann 1929 und Josef 1933 geboren. Mein Urgroßvater Karl Luger starb nur einen Monat nach der Geburt Josefs an einem Blutgerinnsel im Kopf. Maria Luger heiratete daraufhin am 30. 7. 1934 Franz Rosenberger, geboren 1886. So- wohl Maria und Karl Luger als auch Franz Rosenberger waren LandwirtInnen. Der Hof, auf dem meine Großmutter geboren wurde, war von ihren Großeltern mütter- licherseits, Alois und Maria Nahringbauer, gekauft worden, wobei diese Schulden auf- genommen hatten. Ursprünglich hätte der Hof wieder verkauft werden sollen, da die beiden einzigen Töchter durch Heirat auf andere Höfe kommen sollten. Als Maria dann Karl Luger heiratete, übernahmen sie den Hof und auch die Schulden. Dies war auch einer der Gründe, warum Maria Luger nach dem Tod ihres Mannes rasch wieder heira-

398 Interview mit Johann Eckel. 399 Um die Verständlichkeit zu erhöhen bezeichne ich meine Großmutter als Maria Pöcksteiner und meine Urgroßmutter, mit demselben Namen, als Maria Luger. 190 tete. Durch den frühen Tod Karl Lugers kannte meine Großmutter ihren leiblichen Vater kaum. Allerdings war ihr Stiefvater Franz Rosenberger gut zu meiner Großmutter und ihren Geschwistern und auch in der Verwandtschaft waren sie willkommen. Die ganze Familie war stark konservativ-katholisch geprägt und bestand ausschließlich aus Bäuerinnen und Bauern. Dies führte auch dazu, dass Maria Luger dem NS-Regime ne- gativ gegenüber stand, die die katholischen Lehren einzuschränken versuchte. „Die war ganz dagegen, nicht nur ein wenig, die war ganz dagegen“ 400, beschreibt meine Großmutter die Einstellung ihrer Mutter gegenüber der NS-Herrschaft. Als Maria Pöck- steiner und ihre Geschwister am Tag des Anschlusses Flugzettel einsammelten, die von deutschen Flugzeugen abgeworfen worden waren, und nach Hause brachten, soll die Mutter zu den Kindern gesagt haben: „… und rennt nicht mit dem Blödsinn her- um.“401 Dies ist auch das erste Erlebnis, an das sich meine Großmutter erinnert, wenn sie auf die NS-Zeit angesprochen wird. „Die Mutter war ja … ein wenig politisch ge- sinnt, nicht so ich, mir ist alles egal,…“ beschreibt Maria Pöcksteiner einmal mehr die katholisch geprägte, politische Einstellung meiner Urgroßmutter. Die Ablehnung des Nationalsozialismus war weit verbreitet, vor allem unter konservativ-katholisch ge- prägten Bäuerinnen und Bauern. Diese richtete sich unter anderem gegen die Moder- nisierungstendenzen der NationalsozialistInnen, die gegen das traditionelle, katho- lisch-bäuerliche Weltbild und die katholische Kirche gerichtet waren.402 Die ablehnende Haltung der Familie meiner Großmutter zeigte sich jedoch nicht in Akten des Wider- standes, mit wenigen Ausnahmen am Ende des Krieges. „Das bäuerlich-katholische Milieu, das sich durch ein stabiles, ortsgebundenes und klassenübergreifendes Reservoir an Deutungsmustern auszeichnete, wirke als eine Art „Schutzschild“ gegen den Versuch des NS-Regimes, die Massen zu mobilisieren.“403

So beschreibt der Historiker Ernst Langthaler die Einstellung vieler katholischer Bauern gegenüber dem neuen Herrschaftsapparat. Dabei war die Zugehörigkeit zum eigenen bäuerlichen Milieu wichtiger als das konforme Verhalten gegenüber dem Nationalsozia- lismus. Dies zeigte sich z.B. in der Einhaltung von abgeschafften bäuerlich-katholi- schen Feiertagen oder mit der Grußformel „Grüß Gott“ statt „Heil Hitler“. „Das NS-Regime konnte in diesen Dörfern, so scheint es, das bäuerlich-katholi- sche Milieu kaum aufbrechen.“

„Bei den Bauern gestaltete sich die politische Propaganda als schwieriger“404, schreibt Paul Keusch über die Bauernschaft in Ybbs an der Donau. Auch er sieht in den Angrif-

400 Interview mit Maria Pöcksteiner, geführt am 15.12.2012, Aufzeichnungen beim Autor. 401 Hierzu, sowie das nachfolgende Zitat: ebd. 402 Ernst Langthaler, Eigensinnige Kolonien. NS Agrarsystem und bäuerliche Lebenswelten 1938-1945, in: Emmerich Talos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS Herrschaft in Österreich, Wien, 370. 403 Langthaler, Eigensinnige Kolonien, 370. Sowie das nachfolgende Zitat. 404 Paul Keusch, Nationalsozialismus in Ybbs an der Donau. Versuch der Durchleuchtung einer betrüblichen Stadtgeschichte, Dipl. Arb., Wien 1990, 109. 191 fen gegen die Kirche durch die NationalsozialistInnen einen Grund für die ablehnende Haltung vieler LandwirtInnen gegenüber der NSDAP. Die Angriffe verstärkten bei vielen Bauern und Bäuerinnen die Religiosität, die zu vermehrten Kirchgängen und Teilnahmen an kirchlichen Feiern führte. Diese Handlungen wurden teilweise als passi- ve Akte des Widerstandes und der Ablehnung gewertet. In diesem ersten Kapitel zeigen sich bereits die unterschiedlichen Ausgangssituationen und sozialen Hintergründe meiner Großeltern. Vor allem die Erziehung, die soziale Stellung und die Meinung der Eltern gegenüber dem Nationalsozialismus prägten die Entwicklung und politische Einstellung meiner Großeltern, auf die ich im folgenden Kapitel genauer eingehen werde.

2.2 Kindheit in der NS-Zeit

Prägend für meinen Großvater Johann Eckel war, wie bereits erwähnt, vor allem die Abwesenheit seines Vaters über beinahe die gesamte Dauer des Krieges. Zum Zeit- punkt des Anschlusses ging er in Kleinrust in die Volksschule, die zwei Klassen hatte, und zählte zu einem der besten Schüler. Seine Lehrerin durfte ihre Arbeit, obwohl sie nicht Parteimitglied war, nach dem Anschluss behalten, musste allerdings unentgeltlich in der Gemeindekanzlei aushelfen. Nachdem mein Großvater bereits durch seinen Va- ter nationalsozialistisch geprägt war, setzte sich dies auch in der Schule fort. Selbst Diktate dienten zur Verfestigung der Ideologie, Überschriften in einem Diktatheft aus der vierten Klasse Volksschule lauteten z.B.: „Das Führerbild im Klassenzimmer“, „Die “, „Wie ich meinen Körper stähle“ oder „Was aus den Knochen gemacht wird“.405 Der Oberlehrer der Schule, der die andere Klasse unterrichtete, förderte mei- nen Großvater und meldete ihn, ohne Benachrichtigung seiner Mutter, im Gymnasium in St. Pölten an, für das er auch die Aufnahmeprüfung schaffte. Weiters organisierte der Lehrer ein Stipendium für meinen Großvater, wodurch dieser ab Herbst 1940 das Gymnasium in St.Pölten besuchen konnte. Ein Schuljahr lang lebte er dort in einem Schülerheim. Die Erfahrungen, insbesondere die Behandlung durch ältere Schüler, wa- ren für meinen Großvater jedoch so schlimm, dass er drohte sich umzubringen, wenn ihn seine Mutter nicht aus dem Internat nehme. „Ich hab das nicht mehr ausgehalten, – dieser, dieser unglaubliche Zynismus, der dort war und diese Härte, die dort war, man muss ja solche richtig erziehen“406, beschreibt er seine Erfahrungen im Heim.

Die von ihm geschilderte Härte begann bereits in der Früh beim Aufwachen, als ihn die älteren Schüler beispielsweise zwangen sein Bett mehrmals zu machen und er so das

405 Johann Eckel, Diktatheft der 4. Klasse Volksschule, Kleinrust 1940. 406 Interview mit Johann Eckel. 192

Frühstück verpasste. Nach einem Schuljahr erlaubte man ihm wieder zu Hause zu wohnen, von da an fuhr er jeden Tag mit dem Rad oder mit dem Bus von Kleinrust nach St. Pölten. Bis zum Kriegsende blieb er im Gymnasium.407 Abseits der Schule war Johann Eckel auch in nationalsozialistischen Jugendorganisationen tätig. Vom Beitritt im Jahr 1940 bis zum Alter von 14 Jahren war er Mitglied des Jungvolkes, 1944 wurde er schließlich Hitlerjunge. Er fand vor allem Gefallen an der Bewegung und der ge- meinsamen Zeit im Freien. „ …, weil ich eigentlich der Einzige war, der im Gymnasium war, war ich auch der, der also, der muss einmal wieder wohin und das machen und so“, be- schreibt er die Aufgaben die er in der Hitlerjugend in Kleinrust hatte.

Oftmals musste er mehrere Tage mit anderen Jungen in Zeltlagern verbringen, die ihm nach seinen Angaben manchmal sehr gut und manchmal gar nicht gefallen hätten. Die Bewegung in der Natur und die Kameradschaft mit den anderen Jungen haben ihm da- bei sehr viel Spaß gemacht, der militärische Drill in manchen der Lager jedoch nicht. Er erklärte mir, dass es manchmal schwierig gewesen sei, für die Schule zu lernen und gleichzeitig in der Hitlerjugend aktiv zu sein. Im Herbst 1944 wurden die Schüler seiner Klasse in St. Pölten Offizieren der Wehr- macht vorgeführt, die sie für verschiedene Einheiten des Heeres auswählten. Mein Großvater wurde als Panzerschütze eingeteilt. „Ich war klein natürlich, kann der schön in den Panzer drinnen sein und schie- ßen kann ich auch […]“.

Er sollte danach ausgebildet werden und verbrachte daher im Herbst 1944 einige Tage in einem Lager am Eibel bei Türnitz, wo er lernte zu schießen. Dort sah er auch wie ein deutsches Flugzeug abgeschossen wurde, aus dem ein deutscher Soldat abge- sprungen war. Dieser verkündete im Lager seine Überzeugung vom Sieg des Deut- schen Reiches. Mein Großvater bekam im Gegensatz zu anderen Schulkollegen und Hitlerjungen keinen Einberufungsbefehl zum . Männer wurden erst im Alter von 16 bis 60 eingezogen408, und mit seinen 14 Jahren war mein Großvater dafür noch zu jung. Ein weiteres dieser Lager, dass Johann Eckel im Jahr 1944 besuchte, war in Potten- brunn in der Nähe von St. Pölten, das ihm nach seinen Angaben gar nicht gefallen hat. Vor allem die Strenge und der Drill setzten ihm zu. Dort wurde den Jungen die Anmel- dung für die Napola diktiert, die sie danach zu unterschreiben hatten. Mein Großvater wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, was der Begriff Napola bedeutete und unterschrieb die diktierte Anmeldung ebenfalls.409 Diese nationalpolitischen Anstalten dienten der

407 Hierzu, sowie die nachfolgenden drei Absätze: ebd. 408 Manfred Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945, Wien 1984, 95. 409 Interview mit Johann Eckel. 193

Ausbildung und Erziehung der künftigen Elite des Deutschen Reiches. Dabei wurde großer Wert sowohl auf körperliche Gesundheit als auch geistige Fähigkeiten gelegt. 410 Dazu, dass Johann Eckel die Napola besuchte, kam es allerdings nicht mehr. Neben der Schule und der Mitgliedschaft in der Hitlerjugend war ebenfalls der beginnende Luftkrieg über Österreich für Johann Eckel von Bedeutung. Obwohl von England aus bereits ab dem Jahr 1943 Fliegerangriffe auf deutsche Städte, Betriebe und Infrastruk- tur durchgeführt wurden, blieb das heutige Österreich anfangs davon verschont. Erst mit der Eröffnung der zweiten Luftfront und der Schaffung der Alliierten Mittelmeer- Luftstreitkräfte konnten Ziele in Österreich vom Süden her angeflogen und bombar- diert werden. Am Beginn (ab dem Sommer 1943) wurden vor allem die Schlüsselin- dustriegebiete um Wien und Wiener Neustadt angegriffen, aber auch Innsbruck, Graz und Klagenfurt. Bis 1945 wurde der Luftkrieg auf ganz Österreich ausgedehnt und ne- ben den Industriezonen wurde auch Verkehrsknotenpunkte bombardiert.411 Am 26. 6. 1944 bombardierten kleinere Verbände erstmals auch St. Pölten, das über einige wichtige Industriebetriebe verfügte.412 In Moosbierbaum, zwischen Tulln und Krems, gab es eine große Flak Stellung die mehrmals bombardiert wurde, wodurch auch Kleinrust überflogen wurde.413 Ein weiteres Ziel war ein Munitionslager in der Nähe von Statzendorf, einer Nachbargemeinde von Kleinrust, sowie Eisenbahnlinien, die dann jedoch schon von tief fliegenden Jagdflugzeugen bombardiert wurden. Diese wurden eingesetzt, um Beschuss durch die Flak zu verhindern.414 Die Stadt St. Pölten selbst wurde in Folge selbst zehn Mal bombardiert; die Angriffe forderten 591 offizielle Todesopfer.415 Neben den abgeschossenen Flugzeugen und den Toten erinnert sich mein Großvater vor allem an das Verbot von Licht in der Nacht, um Geschwadern kein Ziel zu geben, und dem regelmäßig einsetzenden Fliegeralarm, der allerdings viel öfter ausgelöst wurde als es tatsächlich zu Angriffen kam.416 Von der Vernichtung der Jüdinnen und Juden gibt er an, nichts bemerkt zu haben. Auf die Frage, ob er etwas von der Vernichtung der Juden gewusst habe, antwortete er: „Nein, überhaupt nichts!“417 Er las allerdings regelmäßig die Hetzen im Stürmer gegen die Juden und gab im Laufe des Interviews zu, doch etwas vom Verschwinden der Ju- den gehört zu haben. Allerdings wusste er nach eigenen Angaben nur, dass sie wegge- gangen waren oder weggebracht worden waren, aber nichts von Konzentrationslagern oder den Erschießungen. Zwei Juden, die nach der Machtergreifung verschwunden

410 Christa Dorninger, Schulen in „Niederdonau“ von 1938-1945, Dipl. Arb., Wien 1993, 108. 411 Johann Ulrich, Der Luftkrieg über Österreich 1939-1945 (Militärhistorische Schriftenreihe 5/6), Wien 1994, 3. 412 Norbert Zand, Geschichte der Stadt St. Pölten von 1900-1950 im Wandel der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche, phil. Diss., Wien 1997, 898. 413 Leopold Banny, Dröhnender Himmel, Brennendes Land. Der Einsatz der Luftwaffenhelfer in Österreich 1943-1945, Wien 1988, 180. 414 Franz Küttner, 1848 bis 1945, in: Marktgemeinde Wölbling (Hg.), Wölbling einst und jetzt, Wölbling 2002, 300f. 415 Zand, Geschichte der Stadt St. Pölten, 898. 416 Interview mit Johann Eckel. 417 Hierzu, sowie der nachfolgende Absatz: ebd. 194 sind, waren ihm selbst bekannt. Einerseits handelte es sich um jenen Arzt aus Obritz- berg, der ihn als kleines Kind behandelt hatte, andererseits um einen Geldverleiher aus Herzogenburg. Dieser hatte seinem Vater im Jahr 1936 oder 1937 Geld geliehen, damit dieser weiter Holzschuhe anfertigen konnte. Nachdem dieser verschwunden war, freute sich sein Vater zuerst, dass er den Kredit nicht zurückzahlen müsse. Allerdings stellte sich heraus, dass er diesen dann in weiterer Folge an den Staat zu zahlen hat- te. Raul Hilberg erklärt, dass es oberstes Prinzip der deutschen Verwaltung war, dass allein diese aus der Vernichtung der Juden finanziell profitieren solle. Daher wurde eine Verordnung erlassen, die vorsah, dass alle deutschen Schuldner ihre Schulden, die sie bei Juden aufgenommen hatten, an den deutschen Staat zurückzuzahlen hät- ten.418 Zusammengefasst, sind die wichtigsten Erlebnisse aus der Kindheit meines Großvaters vor dem Jahr 1945: die Abwesenheit seines Vaters, der Besuch des Gymnasiums und des Schülerheimes sowie die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend. Diese haben ihn ge- prägt und zu einem überzeugten Nationalsozialisten gemacht. Anders verlief dagegen die Kindheit meiner Großmutter Maria Pöcksteiner. Bis zum Jahr 1943 waren alle Familienmitglieder am Hof in Göttsbach. Franz Rosenberger war zu alt, um zur Wehrmacht eingezogen zu werden, und ihre Geschwister zu Beginn des Krieges zu jung. Wobei ihr ältester Bruder (Karl) 1943 schließlich eingezogen wurde. Im Gegensatz zur Familie von Johann Eckel war auch die Versorgungslage mit Nah- rungsmitteln in der Familie Luger besser. Maria ging zum Zeitpunkt des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich in die Klosterschule in Ybbs, die von den Armen Schulschwestern geleitet wurde. Bis zum Schulschluss 1938 durften die Schwestern unterrichten, danach wurde ein kommissarischer Leiter bestimmt, das Parteimitglied Felix Schürrle, um die Schulangelegenheiten zu regeln. Im Schuljahr 1938/1939 wur- de die Schule geschlossen und die Mädchen in die Volks- und Hauptschule verlegt. Die unterrichtenden Ordensschwestern mussten aus dem Kloster ausziehen und durften nicht mehr unterrichten. Das Schulgebäude wurde allerdings weiter für den Schulun- terricht verwendet.419 Durch einen Erlass des Jury vom 17. 10. 1938 wurden alle Privatschulen im Gau Niederdonau aufgelöst. Als Grund wird die „Einwandfreie Er- ziehung der Jugend im Sinne der NS-Weltanschauung angeführt“.420 In der neuen Schule hatte Maria einen Lehrer, der ein überzeugter Nationalsozialist war und regel- mäßig über die Religion schimpfte, was meine Großmutter sehr störte. Sie selbst sagte aber, dass sie zu Hause nie etwas darüber erzählte, was sie in der Schule von ihrem Lehrer gehört hatte, um ihre Mutter nicht aufzuregen. Nichtsdestotrotz habe ihre Mut-

418 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 494. 419 Keusch, Nationalsozialismus in Ybbs an der Donau, 53. 420 Dorninger, Schulen in „Niederdonau“, 114. 195 ter von den Nachbarskindern erfahren, was in der Schule unterrichtet worden ist. Als daraufhin der Ybbser Bürgermeister Steinacker und seine Mutter anonyme Drohbriefe erhalten haben, wurde meine Urgroßmutter Maria Luger beschuldigt, diese ge- schrieben zu haben. Sie wurde sogar auf den Gendarmerieposten Ybbs zitiert, um von der Polizei befragt zu werden, allerdings durfte sie wieder nach Hause gehen und wur- de trotz Ankündigung nicht mehr einvernommen.421 Ein sehr einschneidendes Erlebnis für Maria Pöcksteiner war die zeitweise Abwesenheit ihrer Brüder ab dem Jahr 1943, da bis dato die gesamte Familie auf dem Hof zusam- menwohnt hatte. Der älteste Bruder Karl musste 1943 im Alter von 18 Jahren zur Wehrmacht einrücken. Danach wurde er zur Ausbildung nach Kremsier im heutigen Tschechien geschickt, bevor er in den Krieg nach Frankreich ziehen musste. Vor dem Transport der Truppen nach Frankreich hatten Maria Pöcksteiner und ihre Mutter noch ein paar Stunden Zeit, ihn in Wels zu besuchen. Karl starb am 8. 6. 1944 bei der Inva- sion der Amerikaner in der Normandie im Raum Bassecourt. Begraben wurde er in der Kriegsgräberstätte Orglandes/Manche in der Normandie.422 Der Tod von Karl Luger ver- stärkte die bereits bestehende Ablehnung der Familie gegenüber dem Nationalsozialis- mus umso mehr. Der zweitälteste Bruder Alois musste regelmäßig zu Wehrertüchti- gungen nach Schauboden bei Purgstall, ebenso Marias Zwillingsbruder Johann. Zu Kriegsende half Alois regelmäßig auf einem Bauernhof von Verwandten in Ennsbach mit, da in der dort ansässigen Familie auch ein Sohn im Krieg gefallen war. Ein paar Tage vor Kriegsende wurde Johann mit zwei anderen Schulkollegen, von Schauboden aus, von deutschen Soldaten nach Spital am Phyrrn mitgenommen und dann dort zu- rückgelassen. Von dort mussten sie teilweise zu Fuß, teilweise mit der Bahn nach Hau- se zurückfahren. Sehr eindrücklich und gerne schildert meine Großmutter Maria Pöck- steiner die Heimkehr von Johann mit den beiden anderen Jungen im Mai 1945, die von der Westbahnstrecke bei Neumarkt über die Felder in Richtung Göttsbach gingen. Die- ses Ereignis war umso bedeutender für die Familie, da Karl bereits gefallen war und die Ungewissheit über den Verbleib von Johann zu Ende des Krieges sehr belastend war.423 In Erinnerung geblieben ist meiner Großmutter auch die Einquartierung von „Volks- deutschen“ aus Bessarabien und der Dobrudscha in der ehemaligen Klosterschule in Ybbs.424 Diesen, wie mir meine Großmutter erzählte, war Land im Deutschen Reich versprochen worden. Sie ist der Meinung, dass Familien wie ihre eigene anschließend in die eroberten Ostgebiete ausgesiedelt werden sollten, weil sie es waren, die das

421 Interview mit Maria Pöcksteiner. 422 Karl Luger, Kriegsgräbersuche, Volksbund, URL: http://www.volksbund.de/index.php? id=1775&tx_igverlustsuche_pi2[gid]=2968c3071e4ef88e92f4a25fd068998f (abgerufen am 16.4.2013). 423 Interview mit Maria Pöcksteiner. 424 Keusch, Nationalsozialismus in Ybbs an der Donau, 68. 196

Land in Österreich bereits besaßen und bestellten, um so den neuen Siedlern Platz zu machen.425 Bei der angeblichen Aussiedelung österreichischer Familien in die Ostgebie- te liegt sie jedoch falsch, weil den deutschsprachigen Menschen aus Osteuropa zu großen Teilen Siedlungsgebiete in den eroberten Ostgebieten versprochen worden wa- ren, wie z.B. in Westpreußen, dem Warthegau oder dem Generalgouvernement, und keine österreichischen LandwirtInnen ausgesiedelt werden sollten.426 Die angebliche Aussiedelung der katholisch-bäuerlichen Bevölkerung aus Österreich in die Ostgebiete passt zum Bild der Familie Luger über den Nationalsozialismus, der die traditionelle bäuerliche Lebenswelt zu zerstören drohte. Diese Annahme erweist sich retrospektiv aber als falsch, nach dem Krieg waren die volksdeutschen Siedler wieder verschwun- den, wohin wusste Maria Pöcksteiner nicht. Die Deutschen aus Bessarabien und der Dobrudscha waren nach Verträgen mit der Sowjetunion und Rumänien im Herbst 1940 umgesiedelt worden. Deutschland verzichtete in dem geheimen Zusatzprotokoll zum Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion auf den Einfluss in Bessarabien, woraufhin Ru- mänien Bessarabien an die UdSSR abtreten musste und die ca. 93.000 Bessarabien- deutschen umgesiedelt wurden.427 Auch die ca. 16.500 Dobrudschadeutschen wurden 1940 umgesiedelt und kamen am Beginn ihres Aufenthaltes in Umsiedlungslager, wie z.B. in Ybbs an der Donau.428 Durch ihren bäuerlichen Hintergrund hatte Maria Pöcksteiner auch Erfahrungen mit Zwangsarbeitern aus Osteuropa gemacht. Sie berichtet, dass es immer wieder Dieb- stähle gab, die von Zwangsarbeitern begangen worden sind, welche dann meistens er- wischt wurden. Aus einem benachbarten Wirtshaus wurde beispielsweise Fleisch ge- stohlen, von Männern die wahrscheinlich aus der Sowjetunion kamen. Diese wurden erwischt und verhaftet. Was dann passiert ist, gibt meine Großmutter an nicht zu wis- sen. „Die haben ja Hunger gehabt […] dann haben sie halt eingebrochen, dass sie was zu essen haben, …“429

Anders als bei Johann Eckel war der Lebensmittelpunkt von Maria Pöcksteiner, der el- terlicher Hof, nicht nationalsozialistisch geprägt. Das wichtigste Ereignis für die Familie während dieser Zeit war der Tod von Karl 1944, der die ablehnende Haltung der Fami- lie gegenüber dem Nationalsozialismus noch verstärkte. Beim Vergleich der wichtigsten Ereignisse und Erlebnisse zeigt sich wiederum die un- terschiedliche Entwicklung und die konträren Einstellungen zum Nationalsozialismus. Während Johann Eckel trotz seiner sozialen Herkunft in das Gymnasium gehen durfte, 425 Interview mit Maria Pöcksteiner. 426 Ortfried Kotzian, Die Umsiedler. Die Deutschen aus West-Wolhynien, Galizien, der Bukowina, Bessarabien, der Dobrudscha und in der Karpatenukraine, München 2005, 24-26. 427 Ebd., 235-240. 428 Ebd., 269. 429 Interview mit Maria Pöcksteiner. 197 sowie aktives Mitglied in der Hitlerjugend war und daher viel Zeit außerhalb von Zu- hause verbrachte, besuchte Maria Pöcksteiner die Volks- und Hauptschule in Ybbs, während ihr Lebensmittelpunkt der elterliche Hof blieb.

2.3 Das Jahr 1945

Genauer möchte ich nun auf das Jahr 1945 eingehen und die Erlebnisse meiner Groß- eltern zum Kriegsende schildern, da ein Großteil ihrer Erzählungen diese Monate be- trifft. Am intensivsten und schmerzlichsten ist die Erzählung meines Großvaters über die letzten Kriegstage 1945, zu denen er seine Erlebnisse in einem Tagebuch aufgeschrie- ben hat (siehe Abbildung 3/4/5). Dies hat er aber erst rückwirkend nach Ende des Krieges getan. Der erste Eintrag ist der 14. 4. 1945. An diesem Tag zog er mit seiner Mutter, seinem Bruder und der Großmutter mütterlicherseits, sowie einigen Nachbarn in eine Sandgrube in die Nachbargemeinde Großrust, um sich dort vor den Kampf- handlungen zu verstecken, die Kleinrust in den nächsten Tagen erreichen sollten. 430 Die sowjetische Armee hatte an diesem Tag Herzogenburg, östlich von Kleinrust und nördlich von St. Pölten, eingenommen, verzichtete dann aber darauf, weiter nach Westen vorzustoßen.431 Am 15. 4. sahen die Flüchtlinge bereits die Front, die am Kölb- ling westlich von Herzogenburg stand, bevor diese am 16. 4. endgültig zu stehen kam. Die Sowjetsoldaten standen in St. Pölten und Kleinrust, die deutsche Wehrmacht in Obritzberg und Oberwölbling, den Nachbargemeinden von Kleinrust.432 „Kleinrust im Bezirk St. Pölten wurde nach etwa vierundzwanzigstündigen Infan- terie-, Artillerie- und Panzerkämpfen besetzt“, ist in der Chronik der letzten Kriegstage in Österreich zu lesen.

Der Stopp des Vormarsches der Roten Armee ermöglichte es der Wehrmacht, die Front zu festigen und die verschiedenen, verstreuten Truppenverbände in das Korps Schulz einzugliedern. Daraufhin konnte die Wehrmacht ein weiteres Vordringen der Roten Ar- mee verhindern und einige bereits verlorene Dörfer zurückerobern.433 Am 16. 4. ka- men die ersten russischen Soldaten zur Sandgrube, in der sich die Dorfbewohner aus Kleinrust versteckt hielten, verlangten Alkohol und zählten die Menschen. „Es sind freundliche Offiziere“434, schrieb mein Großvater. In der Nacht kamen abermals Rus- sen, die Frauen mit sich zerrten und sie vergewaltigten. In dieser Nacht lag Johanns Bruder Walter auf einer Decke und stellte sich schlafend. Unter dieser Decke versteck-

430 Johann Eckel, Tagebuch der letzten Kriegstage, Kleinrust 1945. 431 Theodor Rossiwall, Die letzten Tage. Die militärische Besetzung Österreichs 1945, Wien 1969, 183. 432 Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: ebd., 199. 433 Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945, 229f. 434 Johann Eckel, Tagebuch. 198 te sich Rosa Eckel, die in dieser Nacht nicht von den Rotarmisten gefunden und vergewaltigt wurde. Am darauffolgenden Tag zog die Familie Eckel wieder zurück nach Kleinrust, während sich noch immer Deutsche und Sowjetsoldaten von den Stellungen aus beschossen. Die Familie blieb im Bauernhaus der Familie Stelzhammer, mit der sie von der Sandgrube aus nach Hause gefahren war. Dort schien es ihnen sicherer gewesen zu sein als im Rest des Ortes, da dort auch die Kommandantur der Sowjets untergebracht war.435 „… und da ist es natürlich nicht so zugegangen, wie es draußen zugegangen ist, … “,436 beschreibt mein Großvater das große Bauernhaus und die Offiziere.

Seine Mutter versteckte sich dennoch mit drei anderen Frauen in einem Raum, in dem Getreidespeicher des Bauernhauses. Der Raum, der von außen nur durch eine Leiter zugänglich war, wurde laut den Erzählungen meines Großvaters von den Russen nicht gefunden. Aus diesem Grund sah er seine Mutter zu dieser Zeit nicht. Die Bäuerin des Hauses selbst war sehr alt und musste sich deshalb nicht verstecken. Mein Großvater schlief in einem Zimmer mit seinem Bruder, der Bauernfamilie und einer jungen Polin, die als Zwangsarbeiterin von den Deutschen nach Österreich gebracht worden war. Er beschreibt, dass jede Nacht einer der Offiziere diese junge Polin vergewaltigt hatte. „Dann war da noch ein kleines Bett, da hat diese junge Frau, diese Polin ge- schlafen. […], gekracht hat es sehr viel, wo die dort liegt und so, jeden Tag war jemand da bei ihr in der Nacht. Da hast du dann auch mitgekriegt was war, was ist denn da. Dann habe ich öfters ihr Stöhnen gehört.“

Johann selbst wurde nach dem Eintreffen im Bauernhaus der Stelzhammers zum eige- nen Haus geschickt, um zu erkunden, was dort passiert war. Auf dem Weg dorthin sah er zahlreiche tote Soldaten und die Schilderungen stocken ein bisschen, da es für ihn noch immer sehr schmerzliche Erinnerungen sind. Vor allem an einen toten Soldaten erinnert er sich sehr gut, über dessen Kopf wahrscheinlich ein Auto oder ein Panzer gefahren war, wodurch dieser nur noch flach wie eine Scheibe war. Im eigenen Haus hielten sich einige sowjetische Soldaten auf, die, wie meinem Großvater damals aufge- fallen war, sehr viel zu essen hatten. Worüber er sich jedoch mehr wunderte war, dass keine Autos im Dorf waren, sondern nur Pferde, die Wägen gezogen haben. Da er nicht sehr groß war, wurde er von den Russen für ein Kind gehalten und konnte sich relativ frei bewegen. „Aber die haben den Kindern haben sie, haben sie nichts getan, gerade dass sie ihnen nichts angeboten haben sogar“, beschreibt mein Großvater das Verhalten der russischen Soldaten gegenüber den Kindern.

Nachdem er ein weiteres Mal zum Haus zurückkehrt war, fand er dort seinen Großva-

435 Interview mit Johann Eckel. 436 Hierzu, sowie die nachfolgenden Absätze und Zitate: ebd. 199 ter, der zusammengeschlagen worden war und ihm erzählte dass die Großmutter tot sei. Dieser konnte allerdings kaum sprechen und ein paar Tage später wurder der Großvater wieder geschlagen und von Johann in der Küche des Hauses liegend aufge- funden. Er blutete aus der Nase, brachte keine richtigen Worte mehr hervor und auch Johann erkannte er nicht mehr. Mein Großvater brachte ihm jeden Tag etwas Suppe und fütterte ihn, um ihn am Leben zu erhalten.437 Die verstorbene Großmutter, die im Garten begraben worden war, wurde mehrmals ausgegraben, da man vermutete in der frischen Erde versteckte Wertsachen zu finden. „Holzschuhmacher Johann Eckl von Kleinrust starb an den Folgen durch Rußen empfangener Schläge. Sein Weib Anna wurde erwürgt. Warum unbekannt.“438

Dies ist in der Chronik der letzten Kriegstage aus Großrust zu lesen und erzählt von Johann Eckels Großeltern. Am 30. 4. wurden Johann und seine Familie vor einem be- vorstehenden Angriff der Sowjetsoldaten auf die deutschen Stellungen informiert und aufgefordert Kleinrust zu verlassen. Dieser Aufforderung folgten sie nicht sofort, da sie den im Sterben liegenden Großvater nicht zurücklassen wollten. Am 4. 5. mussten sie dies schließlich doch tun und verließen mit einem Nachbarn das Dorf sowie den Groß- vater, der zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr tot sein sollte. Über Herzogenburg fuhren sie nach Kiling, wo sie bei einem bekannten Bauern unterkommen konnten.439 Am 7. 5. notierte mein Großvater: „Es wurde gesagt, der Krieg sei aus.“440 Am 8. 5. kehrte mein Großvater schließlich nach Hause zurück. Schmerzlich erzählt er davon, sich eigentlich nie darum gekümmert zu haben, wo sich seine Mutter oder sein jüngerer Bruder, um den sich die andere Großmutter geküm- mert hat, zu der Zeit aufhielten. In seiner Erzählung betont er, dass es ihm in diesen Tagen vor allem darum ging, selbst zu überleben. Erst nach Ende des Krieges wurden die Leichen meiner Ururgroßeltern bestattet. Mein Großvater Johann erinnert sich vor allem noch an den Gestank der Leichen auf dem Weg zur Beerdigung in Obritzberg. Allerdings stand die Kirche dort nicht mehr, da sie von der SS in den letzten Kriegsta- gen gesprengt worden war, um Menschen, die sich unter der Kirche in Kellergängen versteckt hatten, zu töten.441

437 Johann Eckel, Tagebuch. 438 Chronik der letzten Kriegstage in Großrust, URL: http://www.grossrust.at/geschichte/ (abgerufen am 22. 1. 2013). 439 Johann Eckel, Tagebuch. 440 Ebd. 441 Interview mit Johann Eckel. 200

Abbildung 3: Johann Eckel, Tagebuch der letzten Kriegstage, Kleinrust 1945.

Quelle: In Privatbesitz des Autors bzw. der Familienmitglieder. 201

Abbildung 4: Johann Eckel, Tagebuch der letzten Kriegstage, Kleinrust 1945.

Quelle: In Privatbesitz des Autors bzw. der Familienmitglieder. 202

Abbildung 5: Johann Eckel, Tagebuch der letzten Kriegstage, Kleinrust 1945.

Quelle: In Privatbesitz des Autors bzw. der Familienmitglieder. 203

Bei der Erzählung über die sowjetischen Soldaten verwendet mein Großvater mehrere typische Bilder von Rotarmisten. Einerseits werden sie als Plünderer und Vergewaltiger dargestellt, was Johann Eckel selbst auch miterlebt hat, andererseits werden sie aber auch als sehr kinderfreundlich beschrieben. Für die Historikerin Stelzl-Marx lässt sich diese Kinderliebe zum einen durch die Unschuld der Kinder nach den Gräueln des Krie- ges, zum anderen durch propagandistische Zwecke der Sowjet-Kommandantur und -Verwaltung erklären.442 Da er so klein war, hätten ihm die Rotarmisten beinahe etwas angeboten, erzählte mir mein Großvater. Dies sei auch der Grund gewesen, warum er sich frei bewegen habe können. Klaus-Dieter Mulley bestätigt in einem Artikel die Erzählung meines Großvaters über den ersten Kontakt mit den Rotarmisten. Der vorderste Teil der Soldaten sei rasch nach Westen vorgestoßen und habe vor allem deutsche Soldaten gejagt, um sie zu tö- ten oder gefangen zu nehmen. Diese haben aber keine oder nur wenige Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen.443 Auch die ersten Soldaten, die das Versteck der Be- wohner von Kleinrust erreichten, sind in der Erzählung meines Großvaters freundliche Männer. Erst mit der zweiten Welle von Soldaten kam es zu einem Ausbruch der Ge- walt – teils Plünderungen, teils Vergewaltigungen, teils Ermordungen. „Neben sexuellen Übergriffen standen in der ersten Zeit der Besatzung schein- bar wahllose Tötungen von Ortsbewohnern an der Tagesordnung“444, beschreibt Mulley das Verhalten der zweiten Welle von Soldaten.

Die Vergewaltigungen von Frauen und die Ermordung der Großeltern, von denen Jo- hann Eckel erzählt, passen in dieses Bild. Die Führung der Roten Armee wurde ver- mutlich vom Ausmaß der Gewalt überrascht, wodurch es relativ lange dauerte, die ei- genen Soldaten wieder unter Kontrolle zu bringen und bei Verbrechen ebenfalls zu be- strafen. Zu lange hatte die sowjetische Propaganda auf die Soldaten eingewirkt, die alle Deut- schen zum Feindbild erklärt und den Soldaten Rache für die Verbrechen der Wehr- macht an der Ostfront versprochen hatte. Daran änderte auch die Linie der Führung der Sowjetarmee nichts, die den Soldaten auftrug, als Befreier aufzutreten. Die deut- schen Besatzer Österreichs seien mit voller Härte zu verfolgen und zu bestrafen, wäh- rend die österreichische Bevölkerung in Ruhe zu lassen sei, lautete der Befehl. In der Realität war eine unterschiedliche Behandlung von Deutschen und ÖsterreicherInnen nur sehr schwer zu erkennen und die Soldaten hielten sich nur sehr begrenzt an die

442 Barbara Stelzl-Marx, Freier und Befreier. Zum Beziehungsgeflecht zwischen sowjetischen Besatzungssoldaten und österreichischen Frauen, in: Stefan Karner/ Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetischen Besatzung 1945-1955, Graz-Wien-München 2005, 438-440. 443 Klaus-Dieter Mulley, Die Rote Armee in Niederösterreich 1945-1947. Ein ambivalentes Geschichtsbild, in: Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetischen Besatzung 1945-1955, Graz-Wien- München 2005, 471. 444 Hierzu, sowie nachfolgender Absatz: ebd, 470-472. 204

Verordnungen der Spitze der Roten Armee.445 Auffallend ist, dass der Aufenthaltsort seiner Mutter Rosa und deren eventuelle Be- handlung durch Rotarmisten in der Erzählung von Johann Eckel keine Rolle spielt. Er geht davon aus, dass sie nicht das Opfer von Vergewaltigungen wurde, weil sie sich in der ersten Zeit der russischen Besatzung versteckt hatte. Er gibt aber auch zu, sie in den letzten Kriegstagen nie gesehen zu haben und spricht die darauffolgenden ersten Friedensmonate auch nicht an, in denen es ebenfalls zu zahlreichen Vergewaltigungen kam. Wie auch im Fall meiner Großmutter Maria Pöcksteiner und ihrer Schwester, auf deren Schicksal ich noch näher eingehen werde, ist es nicht möglich festzustellen, ob Rosa Eckel das Opfer von Vergewaltigungen durch Rotarmisten wurde. Das Jahr 1945 stellte einen großen Einschnitt im Leben meines Großvaters dar. Er er- lebte das Ende des Krieges, die damit verbundenen Kampfhandlungen sowie den Tod seiner Großeltern direkt mit. Das politische System und die Ideologie, die ihn seit je- her begleitet haben, waren zu Ende. Neben der Tatsache, dass mein Großvater zu die- ser Zeit nichts über den Aufenthaltsort seines Vaters wusste, war eine der schmerz- lichsten Erfahrungen, das Ausmaß der Verbrechen des NS-Systems zu erfahren. Im Gegensatz zu Johann Eckel hat Maria Pöcksteiner nur wenige direkte Kriegserfah- rungen, da es keine Kampfhandlungen sowie kaum Fliegerangriffe in ihrem Heimatort gegeben hatte. Ybbs lag nicht in der Nähe von wirtschaftlich bedeutenden Standorten und wurde erst nach dem Ende der Kämpfe von der Roten Armee erreicht. Konkret kann sich Maria Pöcksteiner nur an einen Angriff von Jagdflugzeugen erinnern, welcher sich zu Ostern 1945 ereignete, als sie sich gerade auf dem Heimweg von der Schule befand. Um sich vor den Tieffliegern in Sicherheit zu bringen, warf sie sich in einen Straßengraben.446 In einem Buch des Militärhistorikers Rauchensteiner über den Krieg 1945 in Österreich wird von zwei Angriffen auf Ybbs berichtet. Einerseits griffen am 17. 2. 1945 Begleitjä- ger und Jagdbomber im Tiefflug unter anderem Ziele in Ybbs an. 447 Ein weiteres Mal beschoss ein Geschwader Anfang April 1945 die Donaubrücke in Ybbs, die dabei aber nur teilweise zerstört wurde.448 Im Jahr 1945 waren immer wieder auch deutsche Soldaten und Polizisten am Bauern- hof meiner Großmutter einquartiert. Sie kann sich beispielsweise an zehn Feldpolizis- ten erinnern, die am Heuboden geschlafen haben. Es waren großteils verheiratete Männer über dreißig, die in der Nacht immer viel weinten und nur noch zu ihren Fami- lien in das Rheinland zurück wollten. Sie hatten eine Feldküche dabei und saßen am

445 Barbara Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung, Wien-München 2012, 87-92. 446 Interview mit Maria Pöcksteiner. 447 Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945, 57. 448 Ebd., 71. 205

Abend immer in der Stube bei der Familie meiner Großmutter, wo sie unter anderem Mensch-ärgere-dich-nicht mit Maria und ihrer Schwester Anna spielten. Weiters waren auch zwei junge SS-Männer im Hof einquartiert, die die Feldküche betrieben. Einmal wurde ein Nachbar verhaftet, da er illegale Radiosender gehört hatte, und nach Stein gebracht, wo er versuchte Selbstmord zu begehen. Als er im Frühling 1945 zurück- kam, waren noch Soldaten auf dem Hof meiner Großmutter einquartiert, die sich nach der Erzählung meiner Großmutter ebenfalls sehr freuten, dass der Nachbar zurückge- kehrt war. Als Gegenstück zu den freundlichen Polizisten und Soldaten, die am Hof einquartiert waren, beschreibt meine Großmutter einen weiteren Soldaten, der erst später gekommen sei und nicht bei seinen Kameraden geschlafen habe, sondern in der Stube. „Und wenn der Russe erst im Vorhaus ist, ist er noch immer nicht in der Stube“449, soll er gesagt und im Gegensatz zu den anderen noch an den „Endsieg“ ge- glaubt haben. Eine der berührendsten Erzählungen meiner Großmutter über das Jahr 1945 trug sich im Frühling zu, als am Tor, das sich direkt neben der Straße befand, ein sehr dreckiger und hungrig wirkender Mann hereinkam und meine Urgroßmutter Maria Luger um Es- sen bat. Sie gab ihm übrig gebliebene Griesnockerl und, als immer mehr Menschen kamen und um Essen baten, gaben sie ihnen auch die Reste der SS-Feldküche und schließlich auch die Essensreste, die für die Schweine gedacht waren. Nachdem meine Großmutter gemeinsam mit ihrer Mutter das Essen ausgeteilt hatte, kam ein älterer Mann in Uniform herein und schrie die beiden an: „Wissen Sie wen sie da füttern?“. Meine Urgroßmutter soll geantwortet haben: „Ja das weiß ich schon – Hungrige.“ An- scheinend hatten die beiden jüdischen Gefangenen zu essen gegeben, die sich auf ei- nem Todesmarsch in Richtung Mauthausen befanden. Meine Großmutter erzählte mir daraufhin noch, dass sie glaubt, dass diese Gefangenen später bei St. Georgen am Ybbsfelde erschossen wurden.450 Bei dem Todesmarsch handelte es sich wahrscheinlich um ungarische Juden, die vom „Südostwall“ an der österreichisch-ungarischen Grenze in Richtung Mauthausen getrie- ben wurden. Die Evakuierung der Lager begann in der zweiten Märzhälfte 1945 und erfolgte teilweise zu Fuß, teilweise mit der Bahn. Die Routen nach Mauthausen verlie- fen entweder durch die Steiermark oder durch das südliche Niederösterreich. Immer wieder kam es dabei zu Massakern an den Jüdinnen und Juden, z.B. am Präbichl bei Eisenerz am 7. 4.451, in Persenbeug in der Nacht von 2. auf 3. 5., in Göstling am 13. 4. oder am 15. 4. in Randegg.452 „Häftlinge, die von Wien-Floridsdorf nach Persenbeug

449 Interview mit Maria Pöcksteiner. 450 Ebd. 451 Daniyel Blatman, Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmordes, Reinbek bei Hamburg 2011, 370f. 452 Eleonore Lappin-Eppel, Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Niederösterreich 1944/45. Arbeitseinsatz – Todesmärsche – Folgen, Wien-Münster 2010, 178-190. 206 marschierten, passierten […] und Ybbs.“453 In einer Auflistung von Massakern an Juden im heutigen Österreich der Israelischen Kultusgemeinde habe ich zwar einen Eintrag gefunden, dass Juden in St. Georgen am Ybbsfelde erschossen worden waren, aller- dings war es mir nicht möglich heraus zu finden ob es sich um den Todesmarsch ge- handelt hat, den meine Großmutter beschrieben hat.454 Es ist typisch für die Generationen, die das NS-System miterlebt haben, die wenigen Akte der Unterstützung für verfolgte Gruppen besonders hervorzuheben, wie im Fall meiner Großmutter. Vor allem in den letzten Wochen und Tagen des Krieges, wo das Ende der NS-Herrschaft bereits absehbar war, kam es verstärkt zu Hilfeleistungen an Jüdinnen und Juden, indem diesen z.B. Essen gegeben wurde, ein Großteil der Bevöl- kerung stand ihnen aber weiterhin feindselig gegenüber.455 In den letzten Kriegstagen wurden schließlich die restlichen Polizisten und Soldaten, die am Hof meiner Großmut- ter einquartiert worden waren, von Autos abgeholt und nach Westen gebracht, um diese vor den sowjetischen Soldaten und einer russischen Kriegsgefangenschaft zu be- wahren. Meine Großmutter erzählt, dass sie diesen netten Soldaten zum Abschied sogar noch Kuchen gebacken hätte. Am 7. 5. war ein Abkommen zwischen der Heeresgruppe Ostmark und der amerikani- schen Armee geschlossen worden, dass den Soldaten erlaubte, bis zum 9. 5. in die amerikanische Besatzungszone zu fliehen, was große Teile der deutschen und österrei- chischen Soldaten auch taten.456 Am 8. 5. um ca. 15 Uhr erreichten die Sowjetsoldaten Ybbs an der Donau. „Der Einzug vollzog sich in aller Ruhe und ohne jeglichen Widerstand“457, ist im Heimatbuch der Stadtgemeinde Ybbs zu lesen.

Allerdings wurden einige erwachsene Männer, unter ihnen Bürgermeister Heinrich Steinacker, verschleppt sowie zahlreiche Frauen vergewaltigt. Meine Großmutter ver- steckte sich mit ihrer Schwester Anna eine Zeit lang bei den Klosterschwestern, die vor dem Anschluss Österreichs die Schule in Ybbs geleitet hatten, aber auch zu Hause auf dem Heuboden im Schweinestall. Dort war ein kleiner Verschlag mit einem Fenster zur Straße hin, der nur sehr schwer zugänglich war. Weiters erzählt Maria Pöcksteiner, dass sie nie beim Tor hinausgegangen seien, wenn sie Russen hörten oder sahen, son- dern über den Misthaufen am hinteren Ende des Hofes geklettert waren. Während der Arbeit auf dem Feld, hätten sie sich jedes Mal auf den Boden geworfen, wenn sie so- wjetische Soldaten in der Nähe glaubten. Sie erzählt, dass es schon ein paar Frauen gegeben habe, die von Russen überfallen und auch vergewaltigt wurden. Sie selbst 453 Ebd., 170. 454 Tatorte, Israelitische Kultusgemeinde Wien, URL: http://www.ikg-wien.at/?page_id=1879 (abgerufen am 24. 2. 2013). 455 Lappin-Eppin, Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, 194. 456 Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945, 374. 457 Rudolf Grosser, Heimatbuch. Stadt Ybbs an der Donau, Ybbs an der Donau 1967, 62. 207 sagt aber: „Ja und da, wir sind halt durchgekommen …“458 Gewisse Stellen und Orte haben sie stets gemieden, da bekannt war, dass vor allem dort Russen anzutreffen waren. Diese Situation sei allerdings schnell wieder besser geworden. Barbara Stelzl-Marx stellt in einem Artikel zu Beziehungen zwischen Rotarmisten und österreichischen Frauen klar, dass es eine Vielzahl von Vergewaltigungen gegeben habe, die genaue Zahl aber nicht bekannt sei. So stieg die Zahl der Geschlechtskrank- heiten und unehelichen Schwangerschaften vor allem in der sowjetischen Besatzungs- zone stark an. Von 70.000 Neuzugängen von Gonorrhoe in Österreich 1945 entfielen 47.000 auf Niederösterreich.459 Bei den Zahlen der Vergewaltigungen greift sie auf die Studien und Bücher der Historikerin Marianne Baumgartner zurück. Diese geht davon aus, dass in Wien und Niederösterreich ca. 240.000 Vergewaltigungen und weitere 30.000 im Burgenland, im Mühlviertel und in der Steiermark stattfanden, bei einer Zahl von 400.000 stationierten Rotarmisten. Dabei wurden jedoch viele Frauen mehr- fach vergewaltigt, sowie auch viele Rotarmisten bei mehreren Frauen Vergewaltigun- gen begangen haben sollen.460 Für den Bezirk Melk, in dem Ybbs an der Donau liegt, errechnet Marianne Baumgartner aus der Anzahl der Geschlechtskrankheiten sowie den Korrespondenzen zwischen Gendarmerieposten und Krankenhäusern, dass ca. 1.300 Frauen zwischen Mai und Dezember 1945 vergewaltigt wurden. Dies ergibt einen Anteil von 5,8% der Frauen zwischen 15 und 60.461 Sie gibt weiters jedoch an, dass dies nur eine ungefähre Zahl der Opfer darstellen könne. Vergewaltigungen hat es aber auf Grund von mehrfachen Übergriffen auf einzelne Frauen bedeutend öfter gegeben. Dennoch hält Baumgartner die ebenfalls existierenden Erzählungen über Vergewaltigungen ganzer Dörfer für übertrieben und geht davon aus, dass diese Zah- len aus der Angst und Panik der Bevölkerung heraus entstanden seien.462 Da, wie be- reits erwähnt, keine genauen Zahlen und Studien zu diesen Themen vorliegen und die meisten Zeitzeuginnen und potentiellen Vergewaltigungsopfer bereits verstorben sind, ist es heute nicht mehr möglich, genau zu errechnen und festzustellen, wie groß die Anzahl der tatsächlich vergewaltigten Frauen in den Monaten nach dem Einmarsch der Roten Armee wirklich war. Ich bin jedoch der Meinung, dass die von den Autorinnen angegebenen Zahlen zu niedrig sein könnten, da sie lediglich die registrierten Fälle von Geschlechtskrankhei- ten als Quelle heranziehen. Möglicherweise gab es eine große Anzahl an Vergewalti- gungen, in denen es nicht zur Übertragung von Krankheiten kam. Erschwerend kommt hinzu, dass ein großer Teil der Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen wurden, dieses

458 Interview mit Maria Pöcksteiner. 459 Stelzl-Marx, Freier und Befreier, 424f. 460 Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich, 411f. 461 Marianne Baumgartner, „Jo, des waren halt schlechte Zeiten…“ Das Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit in den lebensgeschichtlichen Erzählungen von Frauen aus dem Mostviertel, Frankfurt am Main 1994, 96. 462 Ebd., 93-95. 208 nie zugegeben bzw. nicht über ihre Erlebnisse gesprochen haben. Stelzl-Marx und Baumgartner erörtern, dass stattdessen sogenannte „Davongekom- menengeschichten“ von der Mehrzahl der Frauen erzählt worden seien. Gerne wurde hierbei auch die eigene Kreativität hervorgehoben, sich alt zu machen um Begegnun- gen mit den russischen Soldaten zu verhindern, sowie den vergewaltigten Frauen gleichzeitig indirekt vorgeworfen wurde, zu passiv gewesen zu sein und so Mitschuld an den Taten selbst zu tragen. Es sei heute sehr schwierig zu beweisen und zu erken- nen, welche dieser Geschichten wahr sind und welche aus Scham, Tabuisierung und Verdrängung erfunden werden, beschreibt Baumgartner weiter.463 Ein weiteres gängi- ges Erzählmuster ist auch, dass die meisten Frauen berichten, sie hätten lediglich Ver- gewaltigungen anderer Frauen gesehen bzw. davon gehört, oder es seien Freundin- nen, Nachbarinnen oder Verwandte davon betroffen gewesen.464 Meine Großmutter Maria Pöcksteiner fällt ebenfalls in das Schema dieser „Davonge- kommenengeschichten“. Sie verwendet sogar den selben Wortlaut, wenn sie sagt, sie sei noch einmal davongekommen. Auch bei ihr kann man heute nicht mehr feststellen, ob sie in ihrer Erzählung die Unwahrheit sagt oder ob sie tatsächlich Glück hatte, nicht vergewaltigt worden zu sein. Aufgrund ihres Alters könnten sowohl meine Großmutter als auch ihre Schwester Anna potentielle Opfer der Vergewaltigungen gewesen sein. Für Maria Pöcksteiner stellte vor allem der Einmarsch der Roten Armee ein einschnei- dendes Erlebnis dar, da sie selbst bis zu diesem Zeitpunkt fast keine Erfahrungen mit Gewalt und Krieg gemacht hatte. Im Großen und Ganzen hatte sich die Lebensführung und Versorgungslage der Familie Luger, durch das Ende der Herrschaft der Nationalso- zialistInnen, verhältnismäßig wenig geändert. In Hinblick darauf stellte erst der Umzug nach Ferschnitz im Bezirk Amstetten, auf den Hof der kinderlosen Schwester ihres Stiefvaters, einen großen Umbruch im Leben von Maria Pöcksteiner dar. Sie zog dort- hin, um bei der Arbeit zu helfen, später hätte sie diesen Hof auch übernehmen sollen. Dies geschah schlussendlich doch nicht, da ihr Stiefonkel 1945 trotz Blindheit auf ei- nem Auge sowie eines Herzfehler einrücken musste. Er wurde in Parndorf zum Panzer- sperrenbau eingesetzt, konnte aufgrund seines Herzfehlers nicht fliehen, geriet in so- wjetische Kriegsgefangenschaft und verstarb schließlich in Bratislava. Daraufhin heira- tete ihre Tante noch einmal, einen Mann, der bereits Kinder hatte. Nichtsdestotrotz sollte sie auf diesem Hof ihren späteren Ehemann kennenlernen.465

463 Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich, 426. 464 Baumgartner, „Jo, des waren halt schlechte Zeiten…“, 131. 465 Interview mit Maria Pöcksteiner. 209

2.4 Umgang mit dem Nationalsozialismus nach 1945

Im abschließenden Kapitel möchte ich, nachdem ich die wichtigsten Ereignisse meiner beiden Großeltern während der NS-Zeit geschildert habe, nun etwas genauer auf ihre Erzählungen über die Zeit danach sowie über den Nationalsozialismus generell eingehen. Dabei möchte ich erarbeiten, wie Opfer und Täter beschrieben werden und ob bzw. wann meine Großeltern angefangen haben über ihre Erfahrungen aus der NS- Ära zu sprechen. Bei genauerer Betrachtung sind die Erzählungen meiner beider Großeltern durchaus ambivalent. Zuerst möchte ich wieder genauer auf die Schilderungen meines Großva- ters Johann Eckel eingehen. Dieser hatte nur wenig Kontakt zu deutschen Soldaten, er beschreibt sie großteils als nette, freundliche Männer. Einen Unteroffizier, den er in einem Lager der Hitlerjugend getroffen hat, beschreibt er z.B. so: „Den ich gehabt habe, das war ein Unteroffizier, der war aber muss ich sagen nicht. Andere waren dabei, die waren, ganz andere. Die haben wieder, die wa- ren ganz ahm, eigentlich. Der war auch nicht, ich glaub der war gar kein Nazi, vielleicht sogar.“466

Der Unteroffizier, der immer freundlich war, ist aus seiner Sicht vielleicht gar kein Nazi. Im Gegensatz dazu blieben ihm vor allem die Soldaten als negativ in Erinnerung, die bis zum Schluss an den „Endsieg“ des Deutschen Reiches geglaubt hatten. „Aber das macht nichts, der Krieg wird so weitergehen, bis wir siegen.“ So zitiert mein Großvater jenen Soldaten, der im anfangs angesprochenen Lager aus einem Flugzeug abge- sprungen war. Nationalsozialisten sind in seiner Erzählung vor allem die Menschen, die ihre Zustimmung zur NSDAP und zum Endsieg öffentlich ausgesprochen haben. Freundliche Männer, die dies nicht direkt getan haben, sind dagegen wahrscheinlich keine Nationalsozialisten gewesen. Interessant ist auch die Sicht von Johann Eckel auf seinen Vater. Einerseits betont er, dass dieser bereits vor dem Anschluss der NSDAP beigetreten ist, andererseits be- hauptet er, dies sei nur durch die Arbeitslosigkeit und die Perspektivenlosigkeit seines Vaters bedingt gewesen. Auch die Erzählung über den Brief von der Front, in dem mein Urgroßvater Johann Eckel geschrieben haben soll: „mich können die Nazi […] mir können die Nazi gestohlen bleiben“, hat diese Färbung. Er hat zwar als Soldat gedient, das Soldatenleben und den Krieg jedoch schnell verabscheut und dies in selbigem Brief zum Ausdruck gebracht. Ob dies wirklich stimmen kann oder dazu dient, die Mit- gliedschaft seines Vaters sowie seine mögliche Begeisterung für den Krieg zu relativie- ren, ist heute schwer überprüfbar. Überdies zeigt Johann Eckel Unverständnis für die

466 Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Zitate: Interview mit Johann Eckel. 210

Behandlung seines Vaters gleich nach Ende des Krieges, da dieser als Soldat und Par- teimitglied wie ein Kriegsverbrecher behandelt worden sei. Gleichzeitig stellt er jedoch nicht die Frage, ob mein Urgroßvater Johann Eckel nicht vielleicht tatsächlich an Kriegsverbrechen in der Ostfront oder in Griechenland beteiligt gewesen ist. Auch in der Erzählung meiner Großmutter lassen sich einige Ambivalenzen finden. Die- se vor allem in Hinblick auf die einquartierten deutschen Soldaten und Feldpolizisten. Wie auch Johann Eckel teilt Maria Pöcksteiner diese in zwei Gruppen: einerseits die freundlichen Polizisten und Soldaten, die nur noch nach Hause wollen und andererseits die, die bis zum Schluss an den Sieg des Deutschen Reiches geglaubt und einen nega- tiven Eindruck hinterlassen haben. Dabei stellt sie sich auch nicht die Frage nach den Aufgaben der Feldgendarmerie, dem polizeilichen Arm der Wehrmacht, die dafür zu- ständig war, Deserteure aufzuspüren und hinzurichten, Partisanen zu bekämpfen sowie Kriegsverbrecher zu bewachen, und eng mit der geheimen Feldpolizei zusammenarbei- tete. Dies tat die Feldgendarmerie in vielen Gebieten mit Hilfe der Gestapo und lokalen Polizeieinheiten oft noch bis zum Ende des Krieges. „Der Terror richtet sich gegen widerspenstige oder verdächtige Ausländer und Kriegsgefangene, gegen angegriffene Soldaten, die in den Verdacht der Deserti- on gerieten, Zivilisten, die für politisch unzuverlässig gehalten wurden oder ih- rem Zweifel am „Endkampf“ in Wort und Tat Ausdruck gaben, gegen Juden so- wie die Häftlinge in Gefängnissen und Lagern.“467

So beschreibt der Historiker Andreas Kunz die Aufgaben der Polizei und Feldgendarme- rieeinheiten zu Ende des Krieges. Beide Großeltern sind, trotz Ambivalenzen in den Erzählungen. heute überzeugte Anti- faschisten. Sie zeigen jedoch kein Verständnis dafür, dass freundliche Menschen denen sie in ihrer Kindheit begegnet sind und die nett zu ihnen waren, NationalsozialistInnen gewesen sein könnten und möglicherweise an schweren Verbrechen beteiligt waren. Abschließend bin ich der Frage nachgegangen, ob meine Großeltern damals bzw. wann sie begonnen haben von ihren Erlebnissen während der NS-Zeit zu sprechen. Johann Eckel hat sehr lange nicht über seine Erinnerungen an die NS-Zeit gesprochen. Auch sein Vater, der 1970 starb, berichtete nie über seine Erlebnisse aus dem Kriege oder seine frühere Begeisterung für die NationalsozialistInnen. Mein Großvater Johann begann erst vor ca. zehn Jahren regelmäßig über seine Erfahrungen mit dem National- sozialismus zu berichten. Heute spricht er sehr oft und ausgiebig darüber, in allen möglichen Situationen und zu den verschiedensten Anlässen.468 Dieses lange Schweigen über den Nationalsozialismus entspricht unter anderem der gesellschaftlichen Situation direkt nach dem Krieg, in der prinzipiell nicht über Schuld-

467 Andreas Kunz, Wehrmacht und Niederlage. Die bewaffnete Mach in der Endphase der nationalsozialistischen Herrschaft 1944 bis 1945, München 2005, 149. 468 Interview mit Elisabeth Pöcksteiner, geführt am 10. 2. 2013, Aufzeichnungen beim Autor. 211 und Täterfragen im nationalsozialistischen Österreich gesprochen wurde. Die öffentli- che Debatte um die Mitschuld von ÖsterreicherInnen an Verbrechen begann erst in den 1980er Jahren mit der Kandidatur Kurt Waldheims. Das öffentliche Eingeständnis erfolgte erst am 8. 7. 1991 vom damaligen Bundeskanzler Franz Vranitzky in einer Rede vor dem Nationalrat. Ein weiterer Grund, für das Ausklammern der Erfahrungen aus der NS Herrschaft, liegt meiner Meinung nach, im Falle meines Großvaters, auch an der Scham selbst an den nationalsozialistischen Staat geglaubt zu haben bzw. Sohn eines illegalen Nationalso- zialisten zu sein. Meine Mutter geht davon aus, dass die heutige Offenheit hinsichtlich dieses Themas, vor allem durch das Alter meines Großvaters bedingt ist, und ihm schließlich ermöglicht seine Erfahrungen zu verarbeiten und mitzuteilen.469 Maria Pöcksteiner, im Gegensatz zu Johann Eckel, hat immer über ihre Erlebnisse und Erfahrungen aus der NS-Zeit gesprochen. Dabei betont sie vor allem die Bedeutung von Religiosität für sie und ihre Mutter, die die Grundlage für die ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus war. Für meinen Vater wiederum waren die Ge- spräche über die NS-Zeit mit seiner Mutter ausschlaggebend für sein Interesse an Poli- tik.470 Anders als bei Johann Eckel gab es in ihrer Familie keine NationalsozialistInnen, wodurch es meiner Großmutter viel leichter fiel über die eigene Vergangenheit zu sprechen. Einzig über die Erfahrungen meines Großvaters Franz Pöcksteiner, dem Ehe- mann Maria Pöcksteiners, der als Soldat an der Ostfront und in Italien gekämpft hatte, wurde in der Familie meines Vaters nie gesprochen.

3 Schluss

Ausgehend vom familiären Hintergrund habe ich nicht nur gezeigt, wie sich meine Großeltern Maria und Johann im Verlauf der Herrschaft des Nationalsozialismus entwi- ckelt haben, sondern auch einen kurzen Blick auf deren Einstellung zum Nationalsozia- lismus nach 1945 gegeben. Beim Vergleich der beiden Großeltern lassen sich einige gravierende Unterschiede fest- stellen. Während die Familie von Johann Eckel nationalsozialistisch geprägt war stand die Familie Luger dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber. Dies ist einerseits durch die Religiosität, andererseits durch die soziale Stellung als Bäuerinnen und Bau- ern bzw. LandarbeiterInnen zu erklären. Obwohl die Familie Eckel eher wenig religiös war hat vor allen die unterstützende Haltung der Kirche gegenüber ehemaligen Natio- nalsozialistInnen, dazu geführt, dass auch Johann Eckel nach dem Ende der NSDAP zu

469 Interview mit Elisabeth Pöcksteiner. 470 Hierzu, sowie nachfolgender Absatz: Interview mit Johann Pöcksteiner, geführt am 17. 2. 2013, Aufzeichnungen beim Autor. 212 einem sehr religiösen Menschen wurde. Auch die familiäre Struktur unterscheidet sich in beiden Fällen sehr. Die Familie Eckel wurde gleich am Beginn des Krieges durch die Einberufung meines Urgroßvaters aus- einandergerissen. Demgegenüber blieb die Familie Luger lange vom Krieg verschont, hatte dann allerdings mit Karl ein Opfer zu beklagen, während Johann Eckel wieder aus dem Krieg zurückkehrte, wobei dessen Eltern von Rotarmisten ermordet wurden. Auch die prägendsten Ereignisse und Erlebnisse meiner beiden Großeltern unterschei- den sich sehr stark. Während Johann Eckel den Krieg, in Form von Kampfhandlungen und des Luftkrieges, direkt miterleben, war dies bei Maria Pöcksteiner, mit Ausnahme vereinzelter Luftangriffe, nicht der Fall. Lediglich bei den Erzählungen über die So- wjetsoldaten nähern sie sich an, vor allem hinsichtlich der Vergewaltigungsthematik. Beide geben an, von Vergewaltigungen gehört oder diese gesehen zu haben; Familien- mitglieder sollen aber nicht davon betroffen gewesen sein. Betrachtet man das Jahr 1945 und das Ende der NS-Herrschaft, so stellte jenes für Jo- hann Eckel einen viel größeren Einschnitt dar als für Maria Pöcksteiner. Für Johann war der Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes gleichbedeutend mit dem Untergang der Lebenswelt, in der er groß geworden war. Er wurde danach aber zu ei- nem überzeugten Antifaschisten und erkannte, dass die Weltanschauung und die Wer- te die er gelernt hatte, falsch waren. Für Maria Pöcksteiner war, auf einer persönlichen Ebene, der Wechsel auf den Hof ih- rer Tante das wichtigste Ereignis des Jahres 1945, da sie dort die nächsten Jahre ver- bringen sollte. Die Religiosität, die durch die Herrschaft der NationalsozialistInnen noch gestärkt worden war, prägt ihr Leben bis heute. Weiterführend haben ihe Erzäh- lungen über die NS-Zeit auch bei meinem Vater politisches Interesse geweckt und ihn dahingehend geprägt. Die Erzählungen meiner Großeltern nähern sich auch, in Hinblick auf die Kategorisie- rung der Personen aus ihrer Erinnerung, an. NationalsozialistInnen sind diejenigen, die bis zum Schluss an den Sieg des Deutschen Reiches geglaubt hatten. Demgegenüber stehen Personen, die ihnen freundlich gegenüber getreten sind, diese waren dadurch entweder keine NationalsozialistInnen oder im schlimmsten Fall MitläuferInnen. Diese Arbeit kann nur ein kleiner Teil der Aufarbeitung meiner Familiengeschichte sein, und ist weit davon entfernt vollständig zu sein. Beim Schreiben der Arbeit bin ich auf Themen gestoßen, die ich, in diesem Rahmen nicht beantworten bzw. mit denen ich mich nicht beschäftigen konnte. Das betrifft beispielsweise die Frage nach den Verge- waltigungen von Familienangehörigen, aber auch die Erlebnisse der Soldaten in meiner Familie. So konnte ich z.B. im Österreichischen Staatsarchiv keine Wehrstammbücher von Wehrmachtssoldaten meiner Familie finden. 213

Nichtsdestotrotz kann diese Arbeit den Beginn der Aufarbeitung meiner Familienge- schichte darstellen und helfen offener über diese Zeit zu sprechen. 214

4 Quellen

• Johann Eckel, Tagebuch der letzten Kriegstage, Kleinrust 1945. • Karl Bracher, Brief an den Soldaten Johann Eckel, Kleinrust 1942. • Johann Eckel, Diktatheft der 4. Klasse Volksschule, Kleinrust 1940. • Stammbaum der Familie Luger/ Lueger. • NSDAP Mitgliedskartei, Eckl Hans, Bibliothek für Zeitgeschichte Wien, Mikrofilmrolle: A3340 MFOK D064.

Interviews: • Interview mit Johann Eckel, geführt am 10. 11. 2012, Aufzeichnung beim Autor. • Interview mit Maria Pöcksteiner, geführt am 15. 12. 2012, Aufzeichnung beim Autor. • Interview mit Elisabeth Pöcksteiner, geführt am 10. 2. 2013, Aufzeichnungen beim Autor. • Interview mit Johann Pöcksteiner, geführt am 17. 2. 2013, Aufzeichnungen beim Autor.

5 Abbildungen

• Abbildung 1: Brief an den Soldaten Johann Eckel, Kleinrust 1942. • Abbildung 2: Foto/Familie Luger im Frühling 1930. • Abbildung 3-5: Johann Eckel, Tagebuch der letzten Kriegstage, Kleinrust 1945.

Quelle: alle Abbildungen befinden sich in Privatbesitz des Autors bzw. der Familienmitglieder. 215

Kristina Kreutzer

Zwischen Wahrnehmung und Wahrheit

Kindheitserinnerungen meiner Loosdorfer Familie aus dem Jahr 1945 216

Inhalt

1 Einleitung 217 2 Ein Überblick 218 2.1 Loosdorf 218 2.2 Meine Großeltern und ihre Familien 219 2.3 Der zeitliche Ablauf des Kriegsendes rund um Loosdorf 221 3 Die letzten Kriegsmonate in Loosdorf 223 3.1 Erinnerungen an die vermehrten Luftangriffe 223 3.2 Schule und Hitlerjugend in Loosdorf 224 3.3 Projekt Quarz – KZ Melk: 226 Ein Thema, das auch bei Kindern seine Spuren hinterließ 4 Einmarsch der Roten Armee in Loosdorf 228 4.1 „Die Russen kommen“ 228 4.2 Dorfklatsch rund um die Entnazifizierungen 232 unter russischer Besatzung 4.3 Bei den Russen hatte ich’s gut … 233 5 „Gehungert haben wir nicht“ - Das Thema Ernährung 1945 234 6 Die Konstruktion von Erinnerungen 237 am Beispiel der Erzählungen meines Großvaters 7 Resümee 241 8 Abbildungen 243 217

1 Einleitung

Jede Generation und jede Familie schreibt ihre eigenen Lebensgeschichten. Diese ste- hen häufig in Verbindung mit wichtigen historischen Ereignissen. Im Falle meiner Fa- milien spielen hierbei der Zweite Weltkrieg und die Lebensumstände, die sich daraus ergeben haben, eine große Rolle. Schon als Kind lauschte ich gerne den Erzählungen meiner Großeltern, sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits, und viele davon faszinieren mich bis heute. Schnell stand für mich fest: Die Erzählungen und Erlebnis- se meiner VorfahrInnen, die in gewisser Weise auch mein Leben geprägt haben, müs- sen bewahrt und in einen zeitlichen Kontext eingeordnet werden. Gleichzeitig musste ich aber auch erkennen, dass die Lebensgeschichten meiner Großeltern väterlicher- seits und jene ihrer Familien eigentlich schon verloren sind, da diese nur mehr zum Teil von der nachfolgenden Generation wiedergegeben werden können. So habe ich begonnen, mich verstärkt mit den Erlebnissen der Familie meiner Mutter auseinander zu setzen. Besonders ereignisreich für meine Großeltern mütterlicher- seits, Anton Brucker, geboren am 14. 8. 1931, und Josefa Brucker, geboren am 19. 9. 1936, waren sicherlich die letzten Kriegsmonate und der Einzug der russischen Besat- zung in ihren Heimatort Loosdorf. Die Geschichten meines Großvaters, damals ein Jugendlicher von 14 Jahren, handeln von seinen Abenteuern, die er im Jahr 1945, seinen Schilderungen zu Folge, trotz dro- hender Gefahr erlebt hat. Seine Familie tritt in seinen Darstellungen nur bedingt auf. Bei den Erzählungen meiner Großmutter hingegen stehen Personen, wie ihre Eltern oder ihr Bruder, vermehrt im Vordergrund. Obwohl sie zu dieser Zeit erst ein kleines Mädchen von neun Jahren war, erzählt sie das Erlebte überraschenderweise sehr ge- nau und detailliert. Sie versucht auch über allgemeine Ereignisse aus dem Ort zu er- zählen, schwenkt aber meistens in sehr persönliche Erlebnisse um. Je mehr ich im Zuge meiner Recherche auf die Erzählungen meiner Großeltern einging, verließ mich die oben genannte Faszination und ich begann die Erzählungen immer stärker zu re- flektieren. Ich musste erkennen, dass speziell bei meinem Großvater, die Erzählungen über den Zweiten Weltkrieg vielfach auch ein Konstrukt seiner selbst sind, die auch das weitere Leben und seinen eigenen Charakter stark widerspiegeln. Daher erscheint es für mich wichtig, den schmalen Grad zwischen der subjektiven Wahrnehmung und den tatsächlichen Geschehnissen zu finden und die kulturellen Prägungen der Erzäh- lungen, wie diverse gelesene Romane oder gesehene Filme, herauszufiltern. Die nachfolgenden Darstellungen gliedern sich deshalb in zwei Teile: In der ersten Hälfte werde ich versuchen, die Geschichten meiner Großeltern mög- lichst wertfrei wiederzugeben, diese miteinander zu vergleichen und in einen histori- 218 schen Kontext einzuordnen. Im zweiten Teil soll, am Beispiel der Erinnerungen meines Großvaters, die Art der Erzählungen, sowie deren Wandel durch sein nachfolgendes Leben beleuchtet werden. Doch bevor ich nun näher auf die Geschichten meiner Großeltern eingehe, erachte ich es als notwendig, einen kurzen Überblick über deren Hintergründe zu geben. Hierbei möchte ich einerseits auf die kleine Marktgemeinde Loosdorf und deren Rolle während des Zweiten Weltkrieges Bezug nehmen. Andererseits soll eine Auseinandersetzung mit den damaligen Lebensumständen der Familien meiner Großeltern mütterlicherseits erfolgen.

2 Ein Überblick

2.1 Loosdorf

Loosdorf ist eine mittelalterliche Marktgemeinde im Mostviertel in Niederösterreich. Der Ort liegt an der Westbahn, der heutigen Westautobahn zwischen Wien und Salz- burg, und der Wienerstraße (heute auch die Bundesstraße B1 genannt), der damaligen Reichstraße Richtung Wien. Loosdorf wurde, aufgrund seiner geographischen Lage, im Zweiten Weltkrieg aus verschiedenen Gründen Bedeutung zugeschrieben. Kurz nach dem Anschluss an das Deutsche Reich führte Adolf Hitlers Weg nach Wien ihn am 14. März 1938 auch durch Loosdorf, wo er mit großer Begeisterung empfangen wurde. 471 Später wurde dieser Gemeinde jedoch aus ganz anderem, noch triftigerem Beweg- grund Aufmerksamkeit geschenkt. In der benachbarten Ortschaft Roggendorf wurde im März 1944 unter dem Decknamen "Quarz" eine große Stollenanlage errichtet. Diese sollte der Steyr Daimler Puch AG als Kugellagerwerk dienen.472 Loosdorf war nach Melk der nächste Anschlusspunkt zum Arbeitsstollen in Roggendorf sowie zur Westbahn. Viele Güter, die man zum Bau und zur Arbeit im Stollen verwendete, wurden in Loos- dorf verladen und nach Roggendorf gebracht.473 Außerdem lag Loosdorf genau zwi- schen dem Stollen und dem damaligen Luftwaffenstützpunkt Markersdorf, im Zweiten Weltkrieg einer der größten Militärflughäfen Mitteleuropas.474

471 Gerhard Floßmann, Loosdorf an der Westbahn, Loosdorf 1984, 147. 472 Markus Schmitzberger, Was die US Army in der Alpenfestung wirklich suchte, Schleusingen 2001, 31. 473 Bertrand Pertz, Projekt Quarz. Steyer-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk, Wien 1991, 385. 474 Schmitzberger, Was die US Army in der Alpenfestung wirklich suchte, 116. 219

2.2 Meine Großeltern und ihre Familien

Mein Großvater, Anton Brucker, wurde als einziger Sohn von insgesamt vier Kindern am 14. August 1931 in Loosdorf geboren (siehe Abbildung 1). Sein Vater, Anton Bru- cker senior, mein Urgroßvater, war einer von vier Schmieden im Dorf. Den Aufgaben- bereich seines Vaters erklärt mein Großvater so: „Es hat nur Holzwägen im Krieg gegeben, und da haben wir die Räder drauf ma- chen müssen und einbinden, dass sie nicht auseinander gehen und viele Pferde hat es gegeben. Jeder hat Pferde gehabt [...] für die Ernte war das, die Trakto- ren sind erst nach dem Krieg gekommen.“475

Meine Urgroßmutter, Theresia Brucker, geborene Antzenberger, bewirtschaftete den Bereich um die Schmiede, den Acker und die Schweine, die die Familie besaß. Außer- dem war sie für die Erziehung der Kinder zuständig, die von klerikalen Werten geprägt und sehr autoritär war. Mein Großvater berichtet jedoch nur, was sie für eine begnade- te Bäckerin war: „Die Mutter hat gebacken, na was glaubst [...] zu Ostern, wenn die ‚Finni-Tant’ gekommen ist, na da ist aufgetischt worden [...] Nusstorte, Sachertorte, Strudel immer [...]“476

Die Familie Brucker genoss durch die Schmiede des Vaters und durch die kleine Wirt- schaft der Mutter anscheinend hohes Ansehen in ihrem Heimatort.

Abbildung 1: Familienbild/Brucker.

Quelle: In Privatbesitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder.

475 Interview mit Anton Brucker, geführt am 13.01.2013, Bänder bei der Autorin. 476 Ebd. 220

Meine Großmutter, Josefa Brucker, geborene Stöckl, wurde als jüngste Tochter von drei Kindern am 19. September 1936 in Hub nahe Schönbühel an der Donau geboren. Sie zog im Alter von fünf Jahren mit ihren Eltern und Geschwistern (siehe Abbildung 2), zu denen ein deutlicher Altersunterschied bestand, nach Loosdorf.

Abbildung 2: Familienbild/Stöckl.

Quelle: In Privatbesitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder.

Ihr Vater, Alois Stöckl senior, der bis zu diesem Zeitpunkt Bauer war, bekam während des Krieges zunächst eine Anstellung am Markersdorfer Flugplatz. Danach wurde er bei der Marktgemeinde selbst angestellt. Dieser Berufswechsel birgt eine berührende Geschichte in sich, die meine Großmutter wie folgt erzählt: „Mein Vater ist von Markersdorf vor Kriegsende noch nach Schärding eingezo- gen worden, weil der Flughafen von Markersdorf, ist dann nach Schärding ver- legt worden und da ist er auch hingekommen. Wir haben da überhaupt nicht mehr gewusst, wo er war und dann sind schon die Russen gekommen und sie hätten ihn ja nach Russland verschleppen wollen und da hat er in Pöchlarn oben einen Bekannten getroffen und der hat ihm irgendwie ermöglicht, dass er in einen Zug einsteigen konnte und heimfahren konnte. Das heißt, er ist mit ihm heimgefahren und meine Mutter und ich, wir sind grad unten in der Waschküche gestanden und auf einmal kommt mein Vater daher, war eh ganz ausgemergelt und schlecht ausgeschaut hat er. Ich sag’s dir, das kann man ja gar nicht be- schreiben, wir haben einige Monate nichts gehört von ihm, auch mein Bruder der Alois hat nichts erfahren können, [...] na auf jeden Fall hat er sich dann eine Zeit lang verstecken müssen, weil er keine Entlassungspapiere gehabt hat [...] und es hätte ihn nur wer verraten müssen und dann wäre er weg gewesen, der wäre sicher nicht mehr von Russland heimgekommen, der war ja so magen- krank und der hätte das nicht lange ausgehalten und durch das sind wir dann zur Gemeinde und der Fischer, der damalige Bürgermeister, der hat ihn gekannt und der hat ihm dann Papiere ausgestellt. Dann war der ganze Spuk vorbei, er 221

ist zur Gemeinde und hat dort gearbeitet.“477

Die Mutter, Maria Stöckl, geborene Grüner, kümmerte sich um den Haushalt, den Gar- ten und die Kindererziehung. Die älteste Tochter der Familie, Maria, war zu Kriegsende schon außer Haus. Der größere Bruder meiner Großmutter, Alois, war 1945 bereits 16 Jahre alt und daher auch kaum mehr zu Hause. Meine Großmutter war jedoch gegen Kriegsende noch sehr an ihre Mutter gebunden und hatte ein besonderes Verhältnis zu ihr, wahrscheinlich auch deshalb, weil meine Großmutter meistens mit ihrer Mutter al- leine war und sie viele Erlebnisse teilten. Sie erinnert sich an ein bestimmtes wieder- kehrendes Ereignis, das sie mit ihrer Mutter so erlebt hatte: „Wenn ich mit der Oma [ihre Mutter] zum Festa-Onkel sein Zimmer, welches er beim Bauern gehabt hat, gegangen bin – da haben wir oft gelüftet – da hat es oft sein können, dass wir mitten am Weg waren und dass wir halt dann zurück- gehen mussten, weil die Sirenen geheult haben und das war halt dann schon auch gefährlich, weil ja der Stollen dann schon in der Nähe war, sind wir aber nicht weiter nach Schrattenbruck, sondern zurück gerannt, und da sind Sträu- cher gewesen, bei denen haben wir uns dann versteckt und dann sind wir wie- der gerannt [...] aber in Richtung Heim.“

Zu erwähnen sein noch, dass die Familie Stöckl weit weniger als die Familie Brucker besaß, sowohl an Gütern als auch an Ansehen. Auf diesen sozialen Unterschied kom- me ich jedoch später noch zu sprechen.

2.3 Der zeitliche Ablauf des Kriegsendes rund um Loosdorf

Interessant im Hinblick auf das Kriegsende in Loosdorf erscheint mir ein Auszug aus dem protokollarischen Tagebuch eines Loosdorfers. Dieser soll dazu beitragen, eine Vorstellung von den Geschehnissen rund um Loosdorf zu bekommen. Außerdem soll er zum besseren Verständnis und zur zeitlichen Einreihung der Geschichten meiner Groß- eltern dienen, da sich diese Erinnerungen im Großen und Ganzen genau in den Mona- ten April und Mai 1945 wieder finden lassen. Auszug aus dem Tagebuch eines Loosdorfers478:

01. April 1945: Ostersonntag. Der Fliegerangriff auf Pöchlarn ist von Loosdorf aus gut zu sehen. Tieffliegerangriff auf die Melker Straße zwischen Loosdorf und Melk. 02. April: Große Flüchtlingskolonnen auf der Reichsstraße. 04. April: Eine Flüchtlingskolonne, darunter 7 Kamele, ziehen auf der Straße nach Schollach. Die Reichstraße ist fast unpassierbar. Auch aus Loosdorf flüchten Leute. 05. April: Die Straßen sind überfüllt mit Flüchtlingen und Militär. 06. April: Große Aufregung unter der Bevölkerung; alles richtet sich zum Flüchten; viele Nazis flüchten bereits; die „Quarz“ hat ihren Betrieb eingestellt.

477 Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Interview mit Josefa Brucker. 478 Floßmann, Loosdorf an der Westbahn, 150. 222

08. April: Jabo-Angriff auf St. Pölten, in Loosdorf hört man stark die Detonationen; Abends gehen die ersten Verstärkungen an die Front. 09. April: um ½ 2 Uhr nachts überraschender Bombenangriff auf Loosdorf; einige kleine Bomben werden geworfen, Sachenschaden gering. 11. April: Nachmittag schießt ein Mustang-Jäger auf Loosdorf. 12. April: ½ 2 Uhr nachts Angriff auf St. Pölten, von Loosdorf aus gut zu sehen. 13. April: die ganze Nacht und den Tag über ruhig. 14. April: zu Mittag fällt eine schwere Bombe in den Garten bei dem Haus Nr. 29, reißt einen großen Trichter in die Erde, man hört aber keine Explosion, sondern spürt nur die Luftdruckwelle. 15. April: Angriff mit Bordwaffen um 13 Uhr; nach 14 Uhr nochmals starker Tieffliegerangriff; abends geht das Gerücht: St. Pölten ist gefallen, SS verübt nachts ein großangelegte Plünderung im Haus Nr.206. Einem kriegsgefangenen Franzosen gelingt es, der Besitzerin wenigstens einen Koffer mit Sachen zu retten und Hilfe herbeizuholen. 16. April: die ganze Nacht hört man Schießen, Man hört in Sierning eine Bombe explodieren, viele Jabos. Die französischen Kriegsgefangene müssen weg, schmerzlicher Abschied von der Bevölkerung. 17. April: 16 Uhr Tieffliegerangriff, sonst den ganzen Tag ruhig. 18. April: Tieffliegerangriff. 19. April: Vormittag geht das Gerücht, ganz Loosdorf wird zwangsevakuiert, viele Tieffliegerangriffe, am Ostrand der Ortschaft viele Geschütze in Stellung gebracht. 20. April: ruhige Nacht, Vormittags ein Aufklärer mit Kondensstreifen; vermutlich Amerikaner, 10:15 schwere Detonationen in Richtung St. Pölten. Munition wird in Häusern eingelagert, die Mannschaft versucht sofort Hühner zu stehlen. 21. April: Zu Mittag kurzer Tieffliegerangriff, sonst ist es ruhig. 22. und 23. April: ruhig. 24. April: viele Einquartierungen, viele Panzer fahren an die Front 25. April: 2:15 nachts fallen 4 Bomben auf Loosdorf, hernach bis in den Vormittag hinein, starke Artillerietätigkeit. 26. April: In der Nacht starke Artillerietätigkeit. 10 Uhr vormittags Tieffliegerangriff. 28. April: „Soldaten“ des Jahrgangs 1929 rücken in Loosdorf ein. 29. April: in der Nacht kommen viele Panzer nach Loosdorf und verstecken sich in den Hausgärten. 30. April: ruhige Nacht. 02. Mai: die ganze Nacht starke Artillerietätigkeit; die Panzer fahren weg; mittags kurzer Tieffliegerangriff. 03. bis 05. Mai: Nichts Besonderes. 06. Mai: Viele Loosdorfer erhalten eine Einberufung für Dienstag, den 8 Mai, Verpflegung für zwei Tage ist mitzunehmen. 07. Mai: wiederholte Tieffliegerangriffe; um 4 Uhr erste Nachricht von der Kapitulation. 08. Mai: die ganze Nacht schwerste Detonationen von den verschiedenen Sprengungen; um 08 Uhr früh verlassen die letzten deutschen Truppen den Ort zum Teil unter künstlicher Vernebelung, die letzten Brücken werden gesprengt, ½ 10 kommen die ersten Russen, Infanterie. Die Panzer kommen erst einige Stunden später; noch im Verlaufe des Vormittags werden – unter Beteiligung eines Teils der Zivilbevölkerung – fast alle Geschäfte geplündert; ständige Hausdurchsuchungen. 09. Mai: Viele Frauen werden überfallen, furchtbare Nacht. 10. Mai: Viele Frauen haben sich künstlich alt gemacht. Falten geschminkt, das 223

Gesicht schmutzig gemacht, zerrissenes Gewand angezogen. 11. Mai: die Radioapparate müssen abgeliefert werden. 13. Mai: Sonntag. Nur wenige Leute besuchen die Kirche. Alles muss für die Russen arbeiten. Mehrere tausend Ungarn und andere Flüchtlinge ziehen durch Loosdorf. 14. Mai: eine Explosion in Roggendorf. 15. Mai: Abends große russische Siegesfeier.

3 Die letzten Kriegsmonate in Loosdorf

3.1 Erinnerungen an die vermehrten Luftangriffe

Wie in dem Tagebucheintrag erwähnt wird, gab es seit dem Jahr 1944 rund um Loos- dorf einige Tieffliegerangriffe. Der Sachschaden durch diese Art von Angriffen war je- doch eher gering. Aus der Ortschronik Loosdorfs, die großteils auf Ratsprotokollen ba- siert, geht hervor, dass in Loosdorf durch Luftangriffe nur ein Haus zerstört wurde. 479 Auch meine Großmutter kann dies bestätigen: „Eigentlich ist Loosdorf nicht direkt zerstört worden, rund herum auf die Äcker, da sind ein paar Bomben niedergegangen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass in Loosdorf ein Haus durch Bomben zerstört worden ist. [Pause] Aber auf das eine kann ich mich doch erinnern, und zwar war das eh bei uns, wo wir ge- wohnt haben, da ist ein kleines Mädchen durch so eine Splitterbombe ums Le- ben gekommen, das war irgendwie so eine verirrte Bombe, die ist grad da beim Schranken rein gegangen und die hat sie dann tödlich erwischt [...] nein, das noch irgendwelche Hauser zerstört wurden, das kann ich mich eigentlich nicht erinnern.“480

Es scheint, dass es sich dabei um die selbe Splitterbombe handelte, die sowohl das kleine Kind getötet als auch das Haus zerstört hat, da der Schranken, von dem meine Oma spricht, in unmittelbarer Nähe zu diesem Haus liegt.481 Sonst dürfte in Loosdorf niemand durch Fliegerbomben ums Leben gekommen sein, wofür es zwei Gründe gab. Zum einen war das Hauptaugenmerk der Angriffe in Richtung Roggendorf, auf die Baustelle „Quarz“, gerichtet.482 Zum anderen war die Bevölkerung durch gewisse An- zeichen meist schon im Vorhinein vor Tieffliegern gewarnt worden. Meine Großmutter erklärt dies so: „Du hast es ja schon brummen gehört, da warst ja schon geschädigt, überhaupt war das eine Wettersache, wenn es recht klar war, da hat man sie schon gehört, wenn sie von Amstetten oder Ybbs gekommen sind oder von St. Pölten und das ist ja nicht einer gewesen, das hast dann schon gehört, wenn es gebrummt hat, da hat man sich eh schon gefürchtet.“483

479 Floßmann, Loosdorf an der Westbahn, 150. 480 Interview mit Josefa Brucker. 481 Floßmann, Loosdorf an der Westbahn, 150. 482 Pertz, Projekt Quarz, 404. 483 Interview mit Josefa Brucker. 224

Auch mein Großvater berichtet, dass er und seine Freunde immer auf das Wetter ge- schaut haben, bevor sie das Haus verlassen haben. Er verpackt das Ganze jedoch, wie er das des Öfteren macht, in eine Lausbuben- und Heldengeschichte: „Wir haben viel aufs Wetter geschaut und wenn es schön war, haben wir ge- wusst um zehn ist Fliegeralarm und da sind wir einmal im Kaltbad in St. Pölten gewesen...’Na heut hamma a Ruahr, heit kemma zuaschaun’ haben wir uns ge- dacht [Pause] und haben dabei die ’übernosert’, wo sie gegan- gen sind, aber dann haben sie uns dann doch erwischt, aber da haben wir schon gesehen, wie die Punkterl über Markersdorf gefallen sind und dann hat es ge- kracht [lacht], aber schön, sie haben nur die Rollbahn zusammen gehaut [...] Splitterbomben, da war der Flughafen weg in Markersdorf, den hat’s nicht mehr gegeben.“484

Bei dem Tag, von dem mein Großvater hier spricht, handelt es sich vermutlich um den 28. Juli 1944. An diesem Tag wurde der Flugplatz Markersdorf angegriffen und schwer getroffen.485 Natürlich war ein Fliegerangriff nicht mit so einer Leichtigkeit zu tragen, wie mein Großvater sie hier zu Tage bringt. Meine Großmutter spricht zum Beispiel in einem ganz anderen Ton von derartigen Ereignissen: „Ich habe das so erlebt und zwar in der Schule, wenn irgendwie Fliegeralarm im Anzug war, haben sie uns heim geschickt. Jeder hat halt geschaut, dass er am schnellsten Weg nach Hause kommt, und von da aus sind wir dann in den Luft- schutzkeller, mit meiner Mutter. Das war so ein alter Keller und der war halt für die Zwecke hergerichtet. Da haben wir sogar ein Bett gehabt, zum Schlafen, weil das ja auch oft in der Nacht war. [Pause] Meistens war meine Mutter und ich, und hin und wieder der Alois, aber der war auch selten daheim, und mein Vater, der war ja in Markersdorf, der ist erst am Abend heimgekommen, die Mitzi war da nicht mehr da. Das hat auch ganz gut geklappt, dass sie uns von der Schule rechtzeitig heimgeschickt haben. Wenn ir- gendwie eine Gefahr war, so dass man sich gedacht hat, heute könnte Flieger- alarm sein, sind wir auch schon gar nicht mehr in die Schule gegangen, in der letzten Zeit, das haben uns die Eltern gesagt.“486

3.2 Schule und Hitlerjugend in Loosdorf

Für die Jugendlichen in Loosdorf gab es, wie auch andere Loosdorfer Zeitzeugen be- richten, in dieser Zeit nicht viele berufliche Perspektiven oder Aussichten auf bessere Bildung. Der übliche Bildungsweg war die Grundschule und eine Handwerkslehre. Bes- tenfalls sollten die Kinder den Familienbetrieb übernehmen.487 So begann zum Beispiel der Bruder meiner Großmutter, Alois Stöckl, nach der Grundschule eine Lehre als Elek- triker, in der übrigen Zeit musste er bis zum Kriegsende die Hitlerjugend besuchen. Diese wurde neben Ausbildung und Elternhaus als drittes Standbein der ganzheitlichen

484 Interview mit Anton Brucker. 485 Johann Ulrich, Der Luftkrieg über Österreich 1939-1945 (Veröffentlichungen des Heeresgeschichtliches Museum Wien/Militärhistorisches Institut), Wien 1994, 18. 486 Interview mit Josefa Brucker. 487 Gerhard Floßmann, Loosdorf 1945-1955, Das Kriegsende und der Aufbruch aus dem Chaos; Befragung von Zeitzeugen, Loosdorf 2005, 31. 225 nationalsozialistischen Erziehung von Kindern und Jugendlichen gesehen. Die Kinder sollten körperlich, sittlich und geistig dem Nationalsozialismus verschrieben werden.488 Die Hitlerjugend war für alle Kinder und Jugendliche vom zehnten bis zum vollendeten 18. Lebensjahr verpflichtend. Je nach Alter und Geschlecht wurden sie verschiedenen Einrichtungen zugeteilt.489 Meine Großmutter berichtet, dass ihr Bruder sehr gern zur Hitlerjugend gegangen sei, da er von den nationalsozialistischen Ideologien überzeugt war. Auch von den Wehrertüchtigungslagern, die dazu dienten, männliche Jugendliche auf den militärischen Einsatz vorzubereiten und ideologisch zu indoktrinieren, scheint er damals begeistert gewesen zu sein.490 Im Februar 1945 hat man dann schließlich auch die Einberufung zum Wehrdienst auf den Jahrgang 1929 ausgedehnt.491 Da mein Großonkel genau in diesem Jahr geboren wurde, sollte nun auch er den Einberufungs- befehl bekommen, doch, wie meine Großmutter erzählt, wurde er für untauglich er- klärt. „Mein Bruder ist deswegen nicht eingezogen worden, weil er von der Körpergrö- ße nicht das vorgeschriebene Maß gehabt hat und irgendwie war er sehr ent- täuscht, weil er wäre so gerne gegangen, wie seine Freunde, die alle eingezo- gen worden sind und er ist dann halt zurückgeblieben.“492

Mein Großvater war in den Anfangsjahren ebenso bei der Hitlerjugend. Da er aber noch nicht 14 Jahre alt war, wurde er dem Deutschen Jungvolk zugeteilt. Er spricht aber eher abwertend von dieser Institution: „Das Deutsche Jungvolk war mir immer zuwider, die habe ich nicht gemocht. Wir haben, zum Beispiel durch den Schnee robben müssen und ich war frisch gebadet. Ich habe damit aber nicht viel zu tun gehabt.“493

In den letzten Kriegsjahren wurde mein Großvater von seinem damaligen Dorflehrer gefördert und dieser veranlasste, dass er nach St. Pölten ins humanistische Gymnasi- um fahren durfte. Dies war allerdings nur während des Krieges möglich, da das Schul- geld von den Nationalsozialisten bezahlt wurde.494 In dieser Zeit war er seinen Erzäh- lungen zufolge auch von der Hitlerjugend befreit: „Ich war befreit vom Deutschen Jungvolk, weil ich ins Gymnasium gefahren bin und am Nachmittag, wenn Dienst vom Deutschen Jungvolk war, auch Schule war.“495

Diese Darstellung erscheint durchaus plausibel, da im Reichsgesetzblatt von 1938

488 Werner Helsper/Christian Hillbrandt/Thomas Schwarz (Hg.), Schule und Bildung im Wandel: Anthologie historischer und aktueller Perspektiven, Wiesbaden 2009, 65. 489 Verordnung: Jugenddienstpflicht, 1939: http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/hjdienst/ (abgerufen am 13.04.2013) 490 Helsper/Hillbrandt/Schwarz (Hg.), Schule und Bildung, 66. 491 Michael Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, 201. 492 Interview mit Josefa Brucker. 493 Interview mit Anton Brucker. 494 Klaus-Jörg Ruhl, Verordnete Unterordnung: Berufstätige Frauen zwischen Wirtschaftswachstum und konservativer Ideologie in der Nachkriegszeit (1945 - 1963), München 1994, 161. 495 Interview mit Anton Brucker. 226 ebenfalls verankert worden war, dass Kinder und Jugendliche von den Pflichten und Aufgaben der Hitlerjugend befreit werden sollten, wenn sie die Anforderungen der Schule sonst nicht erfüllen konnten. Die Dauer der Befreiung war aber immer nur auf ein Jahr limitiert.496 In den letzten Kriegsmonaten ließ ihn jedoch seine Mutter nicht mehr nach St. Pöten in die Schule fahren. Sie sorgte sich zum einen, dass ihr Sohn mit 14 Jahren noch in die Wehrmacht eingezogen werden könnte (in diesem Zusam- menhang dürfte sie, wie mein Großvater berichtet, immer Folgendes gesagt haben: „De solln ihrn Kas selber fertig mochn“). Zum anderen befürchtete die Familie auch die Zerstörung des Schulgebäudes durch Kriegshandlungen, die dann laut den Erzählun- gen meines Großvaters auch tatsächlich stattgefunden haben. Nach dem Krieg konnten die Eltern meines Großvaters das Schulgeld, das zuvor von der NSDAP übernommen worden war, nicht mehr bezahlen. Außerdem sah die Familie in der höheren Bildung keine dringende Notwendigkeit und keine Zukunft für ihren Sohn. Da er der einzige männliche Nachkomme der Familie war, sollte er den Familien- betrieb übernehmen. So musste mein Großvater im Betrieb seines Vaters arbeiten und den Beruf des Schmiedes erlernen.

3.3 Projekt Quarz – KZ Melk: Ein Thema, das auch bei Kindern seine Spuren hinterließ

Wie schon anfangs erwähnt, gewann die Gemeinde Loosdorf im Zweiten Weltkrieg durch den naheliegenden Stollen in Roggendorf und das ebenso nicht weit entfernte Konzentrationslager Melk an Bedeutung. Die Häftlinge des KZs Melk wurden in ver- schiedene Arbeitskommandos eingeteilt, von denen sich einige auch in Loosdorf befan- den. Ein Teil des Arbeitskommandos war mit dem Bau von Siedlungshäusern beschäf- tigt. Diese Siedlung am Ostrand der Marktgemeinde sollte Barackengebäude sowie ein Lager für Arbeiter und Werksangehörige umfassen. Eine weitere Aufgabe des Arbeits- kommandos war der Ausbau des Loosdorfer Bahnhofs und einer neuen Bahntrasse. Von hier sollte auch ein direktes Gleis zum Hauptstollen A verlegt werden, da bis zu diesem Zeitpunkt eine große Zahl von Baumaterial und Baumaschinen in Loosdorf ab- geladen wurden. Für das Ausladen dieser Mengen an Materialien wurden ebenfalls sehr viele Häftlinge abkommandiert.497 Auf Grund dessen hielt sich auch eine Reihe von Häftlingen in Loosdorf auf. In Bezug auf die Frage, welche Bedeutung das KZ Melk und der naheliegende Stollen für die Bewohner von Loosdorf, insbesondere für die Kinder, hatte und inwiefern die

496 Verordnung: Jugenddienstpflicht, 1939. 497 Pertz, Projekt Quarz, 375. 227

Dorfbevölkerung mit den KZ- Häftlingen in Berührung kam, erhielt ich zwei sehr unter- schiedliche Antworten. Meine Großmutter versucht dies wie folgt zu erklären: „Das mit dem Stollen war schon ein Thema, weil immer davon geredet worden ist, was die da erzeugen und eben durch die Luftangriffe und durch des KZ war halt das so, man hat viel gesehen, KZler [...] was weiß ich, die sie zur Arbeit getrieben haben, da bist als Kind schon gestanden und hast geschaut, weil die haben’s ja gleich geschlagen auch und das war schon recht deprimierend, muss man schon sagen, und als Kind hat man das schon sehr arg empfunden, das heißt ich habe es als arg empfunden, wenn ich da oft gegangen bin und die ha- ben’s irgendwo hintrieben, wo sie arbeiten haben müssen und denen hast ja gar nichts geben dürfen, manche Leute sind stehen geblieben, das war ganz gefähr- lich, und wenn das der Aufseher gesehen hätte, hätte er dich gleich irgendwie [Pause] und auch den Sträflingen was geben, die Leute hätten ja den Sträflin- gen auch was zugesteckt, ich meine, die Loosdorfer Leute.“498

An dieser Stelle bestärkt mein Großvater die Aussage meiner Großmutter mit den fol- genden Worten: „Ja, da warst du gleich im KZ auch ….“499 Eine weitere Geschichte meines Groß- vaters dazu: „da haben die Rösser Knödel fallen lassen, die Häftlinge sind her- vorgesprungen und haben die Haferkörner herausgeholt und gegessen und da haben sie sofort ‚Dresch kriagt’, haben sie sofort ‚Dresch kriagt’."

Auf den ersten Blick weisen die Erzählungen meiner Großeltern einige Gemeinsamkei- ten auf. Beide sprechen darüber, wie schwer es war, den Häftlingen näher zu kommen und dass es eigentlich nicht möglich war, diesen etwas zu essen zu geben, ohne dabei das eigene Leben zu riskieren. Darüber hinaus schildert mein Großvater in seinen Aus- führungen, dass es auch für die Häftlinge schwierig war, am Boden liegende Nahrung aufzuheben ohne dabei erwischt zu werden. Auch aus Berichten von Häftlingen des KZs Melk oder anderen Zeitzeugen, wie des Melker Landrates Convall, geht hervor, dass es äußerst schwierig war mit der Zivilbevölkerung in Kontakt zu treten bzw. nur in deren Nähe zu kommen. Einerseits waren die Häftlinge unter ständiger Aufsicht und wurden, wenn sie außerhalb des KZ waren, brutal durch die Straßen getrieben, sodass es nicht denkbar war, stehen zu bleiben. Andererseits war eine Begegnung prinzipiell nicht gestattet. Der Häftling Pierre Pradales berichtet, auf die Frage hin nach dem Kontakt mit der örtlichen Bevölkerung, dass ein solcher nicht denkbar gewesen wäre. Er sagt, die Häftlinge konnten die Menschen auf der Straße oder bei den Häusern se- hen, aber mit ihnen zu sprechen sei unmöglich gewesen. Er fügt seinem Bericht noch hinzu, dass die Zivilbevölkerung nicht das Recht hatte, mit ihnen in Kontakt zu tre- ten.500 Außerdem schien die örtliche Propaganda ebenfalls dafür zu sorgen, dass die Zivilbevölkerung hinter den Häftlingen sowieso Schwerverbrecher vermutete. Tatsäch- lich handelte es sich bei vielen dieser Personen um Ärzte, Lehrer, Pfarrer oder Bauern,

498 Interview mit Josefa Brucker. 499 Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Interview mit Anton Brucker. 500 Zit. nach Pierre Pradales, in: Pertz, Projekt Quarz, 85. 228 die im Widerstand gearbeitet haben. Dies geht aus dem Erinnerungsbericht des ehe- maligen Häftlings Yves Briand hervor.501 Sowohl die Erzählungen meiner Großeltern als auch andere Zeitzeugenberichte bestätigen die Gefahr, die vom Kontakt mit den Häft- lingen ausgegangen ist. An dieser Stelle möchte ich noch eine Geschichte meines Großvaters einfügen, die mir schon als Kind sehr geläufig war: „Im Ofenloch hinten da waren ältere Herren, die haben gesagt, wenn sie uns er- wischt haben beim Brot fallen lassen für die KZler: ‚Buam, losst eich net dawi- schen, ihr kummt’s in Teufelsküche!!’“ Er beginn laut zu lachen und erzählt wei- ter: „ ... jetzt haben wir dann aufgepasst.“502

Die beiden widersprüchlichen Aussagen meines Großvaters irritierten mich anfänglich. Einerseits bekräftigt er die Aussage meiner Großmutter, es sei zu gefährlich gewesen Kontakt mit den Häftlingen aufzunehmen. Andererseits erzählt er, dass er sehr wohl Essen fallen gelassen hätte. Fügt man jedoch seine Erzählungen zusammen, hebt der Widerspruch seine Heldentat hervor. Dies werde ich allerdings später noch weiter aus- führen.

4 Einmarsch der Roten Armee in Loosdorf

4.1 „Die Russen kommen“

Am 8. Mai 1945 marschierte die sowjetische Armee in Loosdorf ein. Zuvor hatten Wehrmachtangehörige, bevor sie Loosdorf verließen, noch zwei Zugangsbrücken ge- sprengt.503 Dies war zu Kriegsende eine gängige Vorgehensweise, die sich gegen die Alliierten richtete und meist von nationalsozialistischen Fanatikern durchgeführt wur- de, die sich um ihren Sieg betrogen fühlten und das Ende des Krieges nicht akzeptie- ren wollten.504 Mein Großvater erinnert sich noch genau daran: „Die Front war unten in Wöbling und die Brücken Albrechtberg und Neuhofen haben’s um acht Uhr gesprengt, um neun waren die Russen da [...] also die ha- ben übern Funk den Befehl kriegt sprengen und aus.“505

Die ersten Tage der Besatzung waren besonders schwer. Der Einmarsch der Roten Ar- mee brachte bei der niederösterreichischen Bevölkerung viele Emotionen mit sich. Ne- ben positiven Gefühlen, wie Freude und Hoffnung auf ein besseres Leben, herrschte auch Angst vor dem Unbekannten. Diese rührte daher, da seitens der Nationalsozialis- ten viel negative Propaganda über die Sowjets verbreitet worden war. Es wurden viele

501 Ebd., 386. 502 Interview mit Anton Brucker. 503 Floßmann, Loosdorf 1945-1955, 6. 504 Klaus-Dieter Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, in: Stefan Karner (Hg.), Die Rote Armee in Österreich: sowjetische Besatzung 1945-1955, Graz 2005, 469-486, 470. 505 Interview mit Anton Brucker. 229

Stereotypen, wie z.B. „slawische Untermenschen“, die vom „Hort des Bösen“ (hiermit ist die Sowjetunion gemeint) kommen, geschaffen.506 Die Unsicherheit der Bevölkerung wurde zusätzlich dadurch verstärkt, dass die Soldaten der Roten Armee durch die Straßen und Gassen streiften, wahllos Häuser betraten und diese auch plünderten.507 „Wie die Russen gekommen sind, haben sie geplündert, auch die Einheimischen, Lebensmittel [...] alles ausgeräumt.“508

Diese Ereignisse hinterließen auch in den Erinnerungen meiner Großeltern ihre Spu- ren. Meine Großmutter erzählt so davon: „In dem Keller, in dem bewussten Luftschutzkeller, da waren wir schon die gan- ze Nacht oben und da hat es halt dann in der Früh geheißen, die Russen sind da und wir haben uns lange Zeit nicht rausgetraut, und wie wir dann am Vormittag in unsere Wohnung runtergekommen sind, da ist schon unser Nachbar mit der weißen Fahne gestanden. Der ‚Franzisguti’ war das, mit dem Leintuch hat er ge- wachelt und hat ‚Wia ergeben uns’ gerufen [lacht] dann haben wir die Russen eh schon gesehen und gefürchtet haben wir uns. Wir sind in die Wohnung ge- gangen und so wenig wie möglich heraus […] weil sie sind dann überall herum gerannt und haben die Leute angeleuchtet und die Frauen und so und die haben sich dann versteckt. Die ersten zwei, drei Nächte waren schiach.“

Dass der Nachbar meiner Großmutter die weiße Fahne schwenkte, war durchwegs nicht unüblich. Die niederösterreichische Bevölkerung war großteils unbewaffnet und versuchte so den „Befreiern“ entgegenzukommen. Die Dörfer wurden mit weißen Fah- nen beflaggt und einzelne Männer schwenkten diese auch.509 Mein Großvater hat eine eigene Geschichte über diese erste Nacht zu erzählen: „Wir haben eine Küche, ein Schlafzimmer und ein Kabinett gehabt, da haben ungefähr 18-20 Personen geschlafen, Loosdorfer und auch polnische Dirndln... Dienstmadln. [Pause] Ich [betont] bin als einziger munter geworden und habe gesehen wie ein Russe dem Vater die Pistole anhaltet [grinst] und die hätten glaubt, es soll eine Frau ins Kabinett gehen, und ich hab das gesehen, hab an- gefangen zu schreien und alle anderen haben mitgeschrien […] man hat gar nicht so schnell schauen können, so schnell waren die draußen.“ Mein Großvater lacht sehr über diese Geschichte und fügt noch hinzu: „Am nächsten Tag war die ‚Offizierskuchl’ da und es hat schon gepasst, hat schon gepasst.“510

Ganz so schnell, wie mein Großvater meint, scheint es dann doch nicht „gepasst“ zu haben, aber auch meine Oma berichtet unabhängig von den Erzählungen ihres Man- nes, dass sich die Lage innerhalb ein paar Tage wieder beruhigt hatte. Mit der Errich- tung der ‚Offizierskuchl’, wie mein Großvater sagt, war in erster Linie der Aufbau der Ortskommandanturen gemeint, wie auch meine Großmutter zu berichten weiß:

506 Barbara Stelzl-Marx, Freier und Befreier, in: Stefan Karner ( Hg.), Die Rote Armee in Österreich: sowjetische Besatzung 1945-1955, Graz 2005, 421-449, 440. 507 Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, 471. 508 Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Interview mit Josefa Brucker. 509 Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, 470. 510 Interview mit Anton Brucker. 230

„und dann ist auch bei uns da draußen so eine Russeneinheit einzogen, oben im Garten beim Stern, mit Pferden rundherum, da waren ja x Pferde.“511

Nach dem Aufbau der Ortskommandanturen, der sicherlich noch vor dem 15. Mai stattgefunden hatte, war in vielen Orten Niederösterreichs auch wieder ein gewisses Maß an Sicherheit gegeben.512 Speziell in Loosdorf wird auch von anderen Zeitzeugen nichts Gegenteiliges berichtet.513 Infolge der Errichtung wurden auch russische Solda- ten in Privathäusern einquartiert. Dabei gab es jedoch oft Probleme, da diese Einquar- tierungen in vielen Fällen mit Zwangsumsiedelungen von Familien bzw. Einzelpersonen verbunden waren. Die Soldaten der Roten Armee beschlagnahmten wahllos zahlreiche Gebäude, und befahlen den Bewohnern binnen kürzester Zeit ihre Häuser und Woh- nungen zu verlassen.514 In Loosdorf wurden ebenfalls Familien aus ihren Unterkünften vertrieben. Eine Loos- dorferin berichtet beispielsweise, dass sie und ihre Familie ihr Wohnhaus verlassen mussten, da dort die Telefonzentrale der Kommandantur eingerichtet wurde.515 Bei meiner Großmutter hingegen wurde nur ein Soldat einquartiert und die Familie konnte wie gewohnt bestehen bleiben. Dies war für sie, ihre Mutter und ihren Bruder eher ein Glücksfall, wie sie selbst erzählt: „Und in jeder Wohnung haben wir irgendwen aufnehmen müssen, obwohl wir ja nur zwei Räume gehabt haben und zu dritt waren, haben wir heraußen wen nehmen müssen und wir haben das Glück gehabt, dass wir einen ganz einen netten Mann erwischt haben, der war bei uns, das war ein Förster in Russland, der hat bei uns geschlafen und dadurch haben wir einen Schutz gehabt... der hat ein Kind gehabt in meinem Alter, darum hat er auch immer geschaut, dass ich was zum Essen habe.“516

Selbst wenn die Fürsorge dieses russischen Soldaten meiner Großmutter gegenüber vermutlich auch Propagandazwecken diente, um, wie es häufig der Fall war, das Anse- hen der russischen Besatzung aufzuwerten,517 trug dies dazu bei, dass meine Groß- mutter und ihre Mutter sich etwas sicherer fühlten. Viele Frauen mussten nämlich zunächst mit der Angst vor Vergewaltigungen und Plün- derungen durch die sowjetischen Soldaten leben. In Loosdorf direkt gibt es zwar so- weit keine Meldungen von Frauen, die von solchen Übergriffen berichteten, oft wurden diese aus Schamgefühl allerdings verschwiegen. In kleinen Orten wie Loosdorf wurden diese Ereignisse schnell zum Tagesgespräch, wodurch die Vergewaltigungsopfer noch mehr entmutigt wurden über diese Geschehnisse zu berichten. Viele der betroffenen

511 Interview mit Josefa Brucker. 512 Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, 476. 513 Floßmann, Loosdorf 1945-1955, 7. 514 Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, 478. 515 Floßmann, Loosdorf 1945-1955, 11. 516 Interview mit Josefa Brucker. 517 Stelzl-Marx, Freier und Befreier, 440. 231

Frauen verstummten ganz oder zogen sogar aus ihrer Ortschaft weg. 518 Meine Groß- mutter kann hierzu auch einen Dorfklatsch aus Loosdorf erzählen: „Wie die Russen gekommen sind, da sind sie in der ersten Nacht überall hinein- gegangen und haben die Leute angeleuchtet. Sie sind dann auch zu unsere Hausfrauen, die Grete und die Anna hinein und haben sie angeleuchtet, die bei- den haben in der Nacht immer ihre Gebisse heraus gegeben und haben sie am Nachtkasterl liegen gehabt, die Russen sind gekommen und haben sie ange- leuchtet, zwei ältere Damen, und sie haben die Gebisse gesehen und haben so- fort ‚reißaus gnumma’ und haben ‚Hexen Hexen’ geschrien, die haben das über- haupt nicht gekannt.“ Sie lacht dabei und fügt noch hinzu: „das ist dann gleich die Runde gegangen.“519

Dieses Anekdote scheint bei weitem nicht so schlimm zu sein, ist im Gegenteil sogar ganz unterhaltend. Meine Großmutter verweist jedoch darauf, dass sich die beiden Protagonistinnen der Geschichte für dieses Ereignis sehr geschämt haben. Frauen, die überfallen und vergewaltigt wurden, wurde oft sogar eine gewisse Mitschuld zugespro- chen.520 Hilfe seitens der Kirchen oder von Behörden bekamen sie eher selten. So blieb ihnen in vielen Fällen nur, das Erlebte zu verdrängen.521 Gesprächsbereit zeigten sich nur jene Frauen, die vom Entkommen eines sexuellen Übergriffes berichten konnten. Meine Großmutter spricht auch darüber, dass sich die Frauen in Loosdorf „verstecken miaßn“ und „schiach aunziagn“ haben müssen. Oft haben sie sich auch Marmelade ins Gesicht und auf den Körper geschmiert, um so Ausschläge und Krankheiten vorzutäu- schen.522 Im Laufe der Zeit haben einige Frauen im Loosdorf auch Beziehungen mit so- wjetischen Besatzungsmitgliedern gehabt. So wie meine Großmutter sagt: „Es hat schon auch einige gegeben, denen das dann einmal gefallen hat, die haben russische Freunde gehabt.“

Dies war damals durchaus nicht unüblich, jedoch wurde es von den Familienangehöri- gen oft nicht gerne gesehen. In einigen Fällen verließen Frauen deshalb auch ihren Heimatort. Meine Großmutter kann sich sogar an einen konkreten Fall erinnern: „Neben unsere Wohnung, bei der Frau Plunder, war einer einquartiert, er war ein Offizier, der hat eine Freundin mitgehabt, die eine Österreicherin war, die hat mit ihm dann da gewohnt.“523

Diese Beziehungen erfüllten häufig mehrere Funktionen, auch wenn sie heute noch gerne in Erzählungen unter den Deckmantel der ersten großen Liebe geschoben wer- den. Verbindungen solcher Art wurden von vielen Frauen eingegangen, um aus ihrem Elend herauszukommen. Je höher der Rang des Soldaten war, desto mehr konnten sich diese Frauen erhoffen. Bei einem Offizier bekamen Frauen meist neben Grund-

518 Ebd., 425. 519 Interview mit Josefa Brucker. 520 Stelzl-Marx, Freier und Befreier, 426. 521 Klaus-Dieter Mulley, Aspekte sowjetischer Besatzung in Niederösterreich, in: Alfred Ableitinger (Hg.), Österreich unter alliierter Besatzung, Wien 1998, 388. 522 Ebd. 523 Interview mit Josefa Brucker. 232 nahrungsmitteln auch Dokumente, Passierscheine und Luxusgüter, wie zum Beispiel Schnaps und Zigaretten. Ein weiterer Grund eine Beziehung mit einem ranghohen russischen Soldaten einzugehen, war, dass diese ihnen Schutz vor Übergriffen und Vergewaltigung boten. Unabhängig davon, ob es sich um eine zweckorientierte oder eine Liebesbeziehung handelte, steht fest, dass diese Verbindungen und die eventuell daraus entstandenen Kinder oftmals tabuisiert wurden.524

4.2 Dorfklatsch rund um die Entnazifizierungen unter russischer Besatzung

Grundsätzlich nahm die Rote Armee, im Gegensatz zu den anderen drei Besatzungs- mächten, keine Entnazifizierungen vor, solange sich diese nicht den Anweisungen der sowjetischen Soldaten widersetzten. In den ersten Monaten nach Kriegsende wurden sogar ehemaligen Nationalsozialisten Ämter überlassen um die Verwaltung aufrecht zu erhalten.525 In Loosdorf gab es einen besonderen Fall von einem Mann, der sich anscheinend mit Gewalt den Russen widersetzte und von den Russen ermordet wurde. Diese Begeben- heit ist bis heute bei den älteren Menschen in Loosdorf im Gespräch und wird meistens so erzählt, wie sie mein Großvater wiedergibt: „Der alte Alfery hat in die Luft geschossen, vor lauter Angst, oder er hat geglaubt er kann sie alle aufhalten, die Russen haben ihn dann in den Sierninger Auen erschlagen [...] regelrecht erschlagen, mit dem Pferd hat er vorher mit rennen müssen und ‚einizaht’ in die Auen und weg war er – das war ein Narr.“526

Bis heute ist nicht klar, wie sich dies genau zugetragen hat, doch ganz so ein Narr, wie mein Großvater sagt, dürfte Alfery nicht gewesen sein. Er war bis zu diesem Zeitpunkt ein angesehener Mann in Loosdorf, als pensionierter Lehrer sollte er während des Krie- ges aufgrund seines Status die nationalsozialistische Ordnung im Ort übernehmen. Nichtsdestotrotz, ist er ein NSDAP Mitglied gewesen und wollte sich, laut mehrere Zeitzeugenberichte, an dem Tag seiner Verhaftung mit dem Stellvertreter des Volks- sturms absetzen, wie es viele andere Nationalsozialisten auch gemacht haben. Sein Neffe, der ihn am besagten Tag noch gesehen hat, berichtet, dass ihm die Russen zu- vor gekommen seien und ihn und seinen Stellvertreter gesucht haben. Vermutlich hät- te er, als Ortsvorsteher, Loosdorf an die Alliierten übergeben bzw. das Amt des Bürger- meisters übernehmen sollen. Stattdessen hat er sich anscheinend versteckt und ist dann davon gelaufen. Dabei, so sein Neffe, sei ein Schuss gefallen.527 Dass er selbst

524 Stelzl-Marx, Freier und Befreier, 429. 525 Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, 481. 526 Interview mit Anton Brucker. 527 Floßmann, Loosdorf 1945-1955, 37. 233 geschossen habe, ist aus dieser Warte eher unglaubwürdig, da eine sofortige Erschie- ßung durch die sowjetische Soldaten in der ersten Zeit der Besatzung gängig war, wenn diese einen Widerstand vermuteten. Dazu reichte allerdings oft schon ein Kopf- schütteln oder ein „Nein“.528 Getötet wurde er jedoch nicht gleich. Nachdem die Rus- sen ihn gefasst hatten, haben sie ihn Richtung St. Pölten zur Kommandantur getrie- ben, auf halbem Weg bei einer kurzen Pause in einem Gasthaus, dürfte er einen er- neuten Fluchtversuch gewagt haben und dabei in einem Wald von hinten erschossen worden sein.529 Wenn die Nationalsozialisten in Niederösterreich weder vor der russischen Besatzung fliehen, noch von jenen in Ämtern eingesetzt werden konnten, so wie es vermutlich bei Alfery hätte sein sollen, wurden sie auch häufig zu gemeinnütziger Arbeit, wie Ex- humierung und Grabungsarbeiten, herangezogen.530 In Loosdorf wurden die ehemali- gen Nationalsozialisten vor allem zu Aufräumarbeiten und zur Kanalräumung einge- setzt.531 Meine Großmutter erinnert sich sehr gut an eine Frau, da sich ihr Vater für diese Frau bei der Gemeinde, wo auch er angestellt war, verbürgt hat. „Die Frau Weidacher, bei ihr und ihrem Mann war der Alois, mein Bruder, als Elektriker-Lehrling angestellt, die wurde nach dem Krieg recht schikaniert. Sie hat Straßen kehren müssen, und was weiß ich noch alles. Mein Vater hat sich, dann für sie eingesetzt, beim Fischer [Bürgermeister] und hat gesagt, die Frau, die war so gut und hat meinen Sohn als Lehrling genommen, weil er wollte ha- ben, dass sie in Ruhe gelassen wird und das wurde dann auch gemacht.“532

Scheinbar hatte der damalige Loosdorfer Bürgermeister, auf die Bitte meines Urgroß- vaters hin, bei den Sowjets interveniert, denn der Großteil (dabei handelt es sich in etwa um 90%) der nicht zu stark belasteten Nationalsozialisten wurde erst 1948 amnestiert, womit die Entnazifizierung beendet war.533 „Die geflohenen Nazis sind nachher wieder alle nach Loosdorf zurück gekommen“, erzählt mein Großvater.

4.3 Bei den Russen hatte ich’s gut …

Trotz dieser Gräueltaten, wie Raub, Diebstahl, Vergewaltigung und Mord, die den Rus- sen im Laufe der Zeit von der Bevölkerung zugeschrieben wurden, äußern sich meine Großeltern vielfach in einem guten Ton über die alliierte Besatzungsmacht. Während meine Großmutter die Gefahren auch ein wenig reflektiert, erzählt mein Großvater nur sehr positive Geschichten, die er während der Besatzung mit den sowjetischen Solda-

528 Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, 472. 529 Floßmann, Loosdorf 1945-1955, 38. 530 Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, 482. 531 Floßmann, Loosdorf an der Westbahn, 150. 532 Interview mit Josefa Brucker. 533 Oswald Panagl (Hg.), Text und Kontext: Theoriemodelle und methodische Verfahren im transdiziplinären Vergleich, Würzburg 2004, 142. 234 ten erlebt hat. Wie schon erwähnt, galten die Russen als sehr kinderlieb, sie be- schenkten die Kinder mit Süßigkeiten und anderen Kleinigkeiten. Besonders Buben hatten einen sehr guten Kontakt zu ihnen und durften kleinere Dienste für sie erledi- gen.534 Dies bestätigt auch mein Großvater, wobei er in seinen Erzählungen den Rotar- misten meist sogar einen gewissen Heldenstatus zuschreibt. „Die Russen haben zwei Ponys gehabt, mit denen sind wir immer bis nach Neu- hofen zur Wehr geritten [...] da haben wir sie dann schwimmen lassen und da- bei sind wir auf den Pferden gesessen. Wir haben die Pferde von den Russen aus waschen dürfen, aber wie wir sie wieder nach Hause gebracht haben, waren sie wieder dreckig.“535

Für solche Dienste wurden die Kinder und Jugendlichen dann oft mit Essen und Ge- brauchsgegenständen entlohnt.536 Auch an diese Begebenheit kann sich mein Großva- ter erinnern: „Die Russen haben eine gute Suppe gehabt, und mit zwei Teller Suppe habe ich genug gehabt, nur Natur- mit Sauerampfer alles war drin [...] ‚Gregor’, das war der Suppenkoch, ‚Suppe’, der hat auch schön deutsch gesprochen, und natürlich habe ich meine Sache bekommen.“537

5 „Gehungert haben wir nicht“ - Das Thema Ernährung 1945

Grundsätzlich blieb auch Loosdorf vom Kampf um das tägliche Brot nicht ganz verschont. Besonders die Zeit zwischen den letzten Kriegstagen und der Ankunft der neuen Besatzungsmacht war schwer. Die Felder der Bauern und Geschäfte wurden sowohl von dem ersten Soldatentrupp als auch von den durch streifenden Flüchtlingen geplündert.538 Meine Großeltern berichten jedoch beide unabhängig voneinander, dass sie eigentlich immer etwas zu essen gehabt hätten. So wie es meine Großmutter für die Familie Stöckl formuliert: „Wir sind schon über die Runden gekommen, ich meine, dass ich nicht an Hunger gelitten habe.“539 Mein Großvater bringt dieses Thema sogar mit einer großen Heiterkeit zur Sprache und sagt zufrieden über sich und seine Familie: „Wir haben genug gehabt, mehr wie genug.“540 Dafür dürfte es mehrere Gründe gegeben haben. Einer davon war, dass die Lebensmittelmarken, welche die nötige Grundnahrung bringen sollten, nach dem Krieg bestehen blieben. Meine Großmutter erinnert sich so daran: „Es hat eine Lebensmittelkarte gegeben, im Krieg und auch danach, und da hat es so Marken geben und da hat man halt verschiedene Stationen gehabt, da

534 Stefan Eminger/Ernst Langthaler (Hg.), Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, Stichwörter zu Niederösterreich 1945-1955, St. Pölten 2005, 95. 535 Interview mit Anton Brucker. 536 Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 95. 537 Interview mit Anton Brucker. 538 Floßmann, Loosdorf an der Westbahn, 148. 539 Interview mit Josefa Brucker. 540 Interview mit Anton Brucker. 235

Opa zum Beispiel Schmiede, Schwerstarbeiter, die haben halt mehr bekommen, Kinder weniger, und das ist so gestaffelt gewesen. Vier oder fünf Lebensmittel- geschäfte hat es in Loosdorf gegeben […] Dort hat man die Lebensmittelkarten einlösen können und man hat immer was bekommen - man hat halt nicht die Auswahl gehabt.“541

Mit der Einführung der Lebensmittelkarten, zu Kriegsbeginn 1939, versuchte man die Verteilung der so knappen Nahrungsmittel zu lenken. Diese Vorgehensweise wurde auch nach Kriegsende beibehalten und bis 1949 schrittweise abgeschafft. Bei den Le- bensmittelkarten wurde generell in zwei Gruppen unterteilt. Eine Gruppe war die der „Selbstversorger“542 zu der die Bauernfamilien zählten, diese Gruppe bekam keine Marken. Die zweite Gruppe war jene der „Nicht-Selbstversorger“, zu der auch die Fa- milien Stöckl und Brucker gehörten. Wie meine Großmutter schon erzählt, wurde hier wiederum in verschiedene Versorgungsklassen unterteilt: nach Beruf, Zustand (Kran- ke, Stillende Mütter, Schwangere) und Alter (Babys, Kinder, Alte Menschen). Ein weiterer Grund dafür, dass die beiden Familien meiner Großeltern nicht hungern mussten, war, dass sie auf eine erweiterte Selbstversorgung durch vermehrte Hausar- beit, Tierzucht und Gartenbau setzten. Diese Selbstversorgung beinhaltete auch illega- le Aktivitäten, die durchaus verbreitet waren, um das Überleben zu sichern, denn die Nahrung allein, die man durch die Lebensmittelkarten bekam, reichte nicht aus. Zu diesen kriminellen Handlungen zählten beispielsweise das Schmuggeln von Gütern oder die Hintergehung der „Ablieferungsvorschriften“.543 Die Familie Brucker hatte einen kleinen Acker, den sie von der Kirche pachtete, sowie Schweine, die, wenn es nötig war, geschlachtet wurden. Wie mein Großvater lachend und mit großer Begeisterung erzählt, hätten sie allerdings nur einen Teil der vorge- schriebenen Mengen abgegeben: „Vier Schweine haben wir abgestochen, zwei schwarz, und zwei angemeldet und […] jede hat mindestens 120 kg gehabt und meistens 140 kg und mehr auch noch, […]‚ kenn ma eh da Brucknerin ihre Sau’ hat der alte Holzer [Wirt] mit dem Stempel daraufgesagt: ‚120 kg Sau na Moizeit’ ... in der Nacht haben wir es erledigt, Schussapparat hat es schon gegeben, man hat nichts gehört, und ‚plärrt’ haben sie nicht. Untertags hab ich dann die halben Schweine auf den Dachboden rauf tragen müssen, und die Halbmeierin [Nachbarin] hat immer ge- sagt: ‚I was net wos de do tan am Bodn obn, do pumperts oiwei so’, in Wirklich- keit hat meine Mutter die Schweine eingehackt und das hat sie hinüber gehört.“544

Über den gepachteten Acker der Familie berichtet mein Großvater Folgendes: „Alles haben wir angebaut, Kukuruz für die Schweine, Erdäpfel, rote und weiße, die hat die Mutter auch für die Schweine gebraucht, dass sie fett werden […] und ich habe immer die roten gegessen, die waren gschmackiger. Bohnen zwi-

541 Interview mit Josefa Brucker. 542 Hierzu, sowie nachfolgender Absatz: Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 112. 543 Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 185. 544 Interview mit Anton Brucker. 236

schen den Erdäpfel, wir haben nie gegossen, alles trotzdem immer schön ge- wesen, und Rüben haben wir auch gehabt, [lacht] Zucker haben wir ebenfalls genug gehabt, auch zum Essen.“

Gerade im Jahr 1945 war es schwierig zu kontrollieren, ob die „Ablieferungspflicht“ für Lebensmittel tatsächlich eingehalten wurde, da man nicht überprüfen konnte, ob die Güter gestohlen oder im Zuge der Zerstörungen durch Kriegshandlung abhanden ge- kommen waren.545 Daher ist diese Erzählung meines Großvaters durchaus glaubwür- dig. Die Familie Stöckl musste sich mit weit weniger durchkämpfen als die Familie Brucker, dennoch meint meine Großmutter: „Es war deswegen nicht so schwierig, weil wir ja einen Gemüsegarten gehabt haben, im Sommer, haben wir Gemüse und Erdäpfel oder so etwas gehabt, und die Oma, das heißt meine Mutter, ist ja auch ein bisschen zu den Bauern arbei- ten gegangen, da hat sie kein Geld bekommen sondern Lebensmittel.“

Außerdem berichtet sie: „Dann sind wir öfters zu den Bauern gegangen, in der Früh, mit der Milchkanne, da haben wir bei den Bauern dort gefragt, ob wir eine Milch bekommen oder ir- gendein Brot oder so etwas, aber wir haben dafür eh bezahlt.“

Dann erzählt sie in diesem Zusammenhang noch eine sehr persönliche Kindheitserin- nerung: „Beim Schwinn, bei der Bäckerei, da waren heraußen beim Geschäftseingang so Jalousien aus Holz und wenn die aufgemacht wurden, da sind verschiedene Mehl- speisen, Schokolade und so draufgestanden, also was man da kaufen hätte können. Das hat es aber im Krieg und lang danach nicht gegeben, und da bin ich immer dort gestanden und habe geschaut und habe gefragt: ‚des hot ma olles zu kaufen kriagt’.“546 Ebenso spricht meine Großmutter von Hilfspaketen, die eine wichtige Zu- wendung für die Familien gewesen sein dürften. Bei diesen Hilfspaketen handelte es sich vermutlich um eine Aktion von CARE (Cooperative for American Remittances to Europe). Zunächst enthielten diese CARE-Pakete nur Grundnahrungsmittel, nach und nach wurde deren Inhalt durch verschiedene Produkte wie Schokolade, Honig und Dörrobst erweitert. Darüber hinaus gab es auch Pakete mit Decken und Wollstoff, ko- scherem Essen, sowie spezielle Pakete für Säuglinge.547 Meine Großmutter erzählt so davon: „Im Lagerhaus hat man sich so ein Paket holen können, ich weiß nicht, das war von Amerika oder so, da war halt manchmal auch eine Schokolade oder so drin- nen.“

Generell waren die Lebensmittelhilfen der Besatzungsmächte, wie zum Beispiel für Wien im Jahr 1945, die „Erbsenspende“ der Sowjetunion, eine wichtige Überlebenshil-

545 Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 56. 546 Interview mit Josefa Brucker. 547 CARE, http://www.care.at/ueber-care/das-care-paket (abgerufen, am 15.04.2013) 237 fe für die Bevölkerung und verhinderten wahrscheinlich sogar eine Massenhungersnot, besonders in den größeren Städten.548 Hier war die Nahrungsmittelbeschaffung weit schwieriger als in den ländlichen Regionen, daher mussten viele Menschen „hamstern“ gehen.549 Daran erinnert sich auch meine Großmutter noch: „Hungersnot, das war eher in der Stadt; von der Stadt, wie St.Pölten, sind schon viele Leute gekommen und zu den Bauern mit Sachspenden, Gewand oder irgendwelchen Sachen, dass sie Lebensmittel bekommen haben. Tausch war gang und gäbe. Wenn man nämlich gar nichts gehabt hat, keinen Garten und nichts, wir haben ja zumindest selber anbauen können und wann wir gar nichts gehabt haben, Erdäpfel und was dazu, das war immer da.“550

Obwohl das „Hamstern“ grundsätzlich verboten war, war dieses sehr weit verbreitet. Vorwiegend Frauen versuchten dadurch ihr Leben und das Leben ihrer Familien zu si- chern, wobei Kleidung, Wäsche und Haushaltsgeräte gegen Nahrungsmittel bei den Bauern getauscht wurden. Dabei kam es zu einem Aufeinandertreffen der unterschied- lichsten Bevölkerungsgruppen und sozialen Schichten, das in Folge zu Stadt-Land Kon- flikten führte, da auch die bäuerlichen Selbstversorgen zum Teil an den Kriegsfolgen litten und selbst ihr Überleben sichern mussten. Abgesehen davon, hatten diese Abga- ben zu leisten und konnten daher den Städtern kaum Güter überlassen. Die Bauern wurden daraufhin von den Stadtbewohnern als gierig bezeichnet, während diese von den Bauern wiederum als rücksichtslose Diebe beschimpft wurden.551

6 Die Konstruktion von Erinnerungen am Beispiel der Erzählungen meines Großvaters

Wie zu Beginn schon erwähnt, haben mich die Geschichten meiner Großeltern schon als Kind fasziniert. Nachdem ich diese (ich denke dabei speziell an die Geschichten meines Großvaters) nun in einem anderen Kontext gehört habe, habe ich begonnen diese zu reflektieren und erkenne jetzt viel deutlicher wie sich bestimmte Muster ab- zeichnen. Mein Großvater inszeniert sich meist als Held seiner Erzählungen (z.B. hat er sich nicht vor Luftangriffen gefürchtet, für die Häftlinge Essen fallen gelassen und die Familie vor den Russen gerettet). Lässt eine seiner Geschichten dies nicht zu, stilisiert er andere zu Helden, wie beispielsweise die russische Soldaten. Er ist stets darauf bedacht sich in ein gutes Licht zu rücken und distanziert sich von den Nationalsozialisten mit Aussa- gen wie

548 Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 114. 549 Margarete Kowall, Lebenserinnerungen niederösterreichischer Frauen um 1945, 2005, (unveröffentlichtes Manuskript), 5. Kopie, im Besitz der Verfasserin. 550 Interview mit Josefa Brucker. 551 Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 56. 238

„das DJ [Deutsche Jungvolk] woar eh nix“, oder wenn, dann habe er nur im Kol- lektiv gehandelt: „Olle hoben die Haund aufe grissen, wie da Hitler durch Loos- dorf gfoahrn is, also hob is holt a gmocht.“ Mehr oder weniger im selben Atem- zug erzählt er aber von einem Russen, den er nicht leiden konnte und sagt: „Donn is erna kumman, des woa so ana, wie a Jud, hot a ausgschaut, so a Wamst-Nosn.“

In Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg sowie die Nachkriegszeit konstruiert mein Groß- vater sich seine eigene Wirklichkeit, die für ihn sowieso, und bestenfalls für alle ande- ren auch, universelle Gültigkeit hat. Widerspricht man seinen Darstellungen, wie zum Beispiel seine „geliebten Russen“ betreffend, wird er zornig und trifft Aussagen, wie: „I waß es, ich woar dabei!“ Eine solche empörte Reaktion lässt sich im Zusammenhang mit der Befragung von Zeitzeugen sehr häufig beobachten. Laut Harald Welzer ist dies darauf zurückzuführen, dass das erzählte Erinnern auf Emotionen basiert, gegen die selbst ein fundiertes historisches Wissen nichts ausrichten kann. Das Problem besteht darin, dass das historische Wissen für die Betroffenen einen geringen Stellenwert hat, da es nicht in ähnlicher Weise emotional besetzt werden kann wie die persönlichen Er- innerungen.552 Doch wie sind die emotionalen Heldengeschichten meines Großvaters nun konstruiert? Hierbei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Die Geschichten meines Großvaters scheinen durchaus einen gewissen Wahrheitsgehalt zu implizieren. So ist es beispiels- weise möglich, dass mein Großvater gerade in den letzten Kriegsmonaten und zu Be- ginn der Besatzungszeit zahlreiche kleine Abenteuer erlebt hat. Viele Kinder waren in dieser Zeit auf sich allein gestellt, da die Mütter bzw. (im Fall meines Großvaters) die Eltern in erster Linie darauf bedacht waren, das Überleben der Familie zu sichern. Die- se Situation bot meinem Großvater die Gelegenheit seiner autoritären Mutter, meiner Urgroßmutter, zu entkommen. Auch seitens der Schule und der Erziehung hatten die Kinder und Jugendlichen oft nichts mehr zu fürchten. Einerseits wurden in den letzten Monaten des Krieges viele Lehrkräfte noch zum Wehrdienst eingezogen und anstelle derer kamen entweder pen- sionierte oder junge unerfahrene LehrerInnen, denen die Kinder nicht mehr viel Be- achtung schenkten. (Mein Großvater berichtet auch, dass er die Schule oft „gspritzt“ hat.) Andererseits gab es auch oft keine Möglichkeiten, den Unterricht abzuhalten, da viele Schulgebäude durch Luftangriffe zerstört worden waren.553 Aus diesem Grund ließ ihn meine Urgroßmutter auch nicht mehr nach St. Pölten fahren, da sie fürchtete, dass die Schule bombardiert werden könnte. Durch diese Einschränkungen öffneten sich für viele Kinder neue Freiräume. Dies galt aber in erster Linie für Buben, da die

552 Friedrich Jaeger/Jörn Rülsen (HG.), Handbuch der Kulturwissenschaften 3. Themen und Tendenzen, Stuttgart 2004, 164. 553 Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 94. 239

Mädchen schon früher Tätigkeiten im Haushalt ausführen mussten. Gerade in ländli- chen Bereichen nützten die Buben diese Zeit der fehlenden Autorität und waren kaum mehr Zuhause. Auch meine Großmutter berichtet, dass sie ihren damals 16-jährigen Bruder Alois in der Zeit selten zu Gesicht bekommen hat. Ebenso war mein Großvater viel unterwegs gewesen, wodurch er zweifellos viel erlebt hat. Seine neu gewonnene Selbständigkeit sowie seinen Unternehmungsdrang zog er über die Jahre hinaus bis weit in die 1950er Jahre. Er war bei der Freiwilligen Feuer- wehr, spielte Tischtennis, organisierte mit Freunden Tanzveranstaltungen oder ging ins Kino. Diese Aktivitäten ermöglichten es ihm, sowie vielen anderen Jugendlichen, neue Handlungsräume außerhalb der häuslichen Kontrolle für sich zu entdecken.554 Außer- dem versuchte mein Großvater durch diese Art von Beschäftigung sein Ansehen im Ort und speziell in seiner Familie und bei Freunden zu steigern. Für politische Ereignisse und das Weltgeschehen interessierte er sich hingegen kaum. Dies war jedoch ein ge- nerelles Phänomen unter den europäischen Jugendlichen in den 1950ern Jahren.555 Auch traumatische Kindheitserfahrungen wurden von meinem Großvater nicht aufge- arbeitet. Hierzu zählen einerseits die klerikale und autoritäre Erziehung durch seine Mutter und die Indoktrinierung mit nationalsozialistischen Werten durch seine Lehrer, andererseits der unfreiwillige Verzicht auf eine höhere Schulbildung. Anstatt sich mit den negativen Geschehnissen aus seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, flüchte- te mein Großvater lieber in die illusionäre Wirklichkeit der österreichischen Heimat- und Schlagerfilme, in denen Gesang, Liebesglück und Klamauk im Vordergrund stan- den.Die durch diese Filme vermittelten Werte, wie die Festlegung spezifischer Ge- schlechterrollen556, schienen meinem Großvater sehr wichtig zu sein. Er wollte genau diese Scheinidylle (z.B. ein perfektes Liebesglück) leben oder zumindest nach außen hin darstellen. So kam es auch, dass meine Großeltern sehr zeitig eine Familie gründeten. Eine frühe Heirat war in der 1950er und frühen 1960er Jahren wieder gängig geworden. Da kurz nach dem Krieg ein Umbruch im gesellschaftlichen Familienbild stattgefunden hatte, sehnte man sich wieder zurück zum stereotypen Bild der bürgerlichen Familie mit ei- ner klaren Rollenverteilung und einer autoritären Erziehung.557 Auch meine Großeltern leben und verkörpern genau diese Vorstellungen bis heute. Da mein Großvater scheinbar damals als eine „gute Partie“ galt und hohes Ansehen im Ort genoss, hob ihn meine Großmutter von Anfang auf eine Art Podest. Die klassische Rollenverteilung, die für beide so wichtig war und ist, und die Autorität, die er dadurch

554 Sebastian Kurme, Halbstarke: Jugendprotest in den 1950er Jahren in Deutschland und der USA, Frankfurt am Main 2006, 101. 555 Ebd., 103. 556 Werner Faulstich, Filmgeschichte, Paderborn 2005, 143. 557 Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas: 1945 bis zu Gegenwart, München 2007, 32. 240 auch an den Tag legt, verstärkten diese Verehrung ihrerseits noch mehr. Meine Groß- mutter bestärkt ihn bis heute, wo sie nur kann, und ganz gleich, ob sie prinzipiell et- was anderes erzählen würde, unterstreicht sie stets seine Aussagen. Auch bei meinem Interview vom 13. 1. 2013 war dieses Muster erkenntlich. Als mir mein Großvater die Geschichte der Russen, die seine Familie in der Nacht bedroht hatten, erzählte, verge- wisserte sich meine Großmutter, die ebenfalls gerade im Raum war, mehrmals, ob ich diese richtig verstanden habe, nämlich so, dass mein Großvater alle gerettet habe. Genau diese prägenden Faktoren verhafteten sich nun im Laufe der Zeit mit seinen Er- innerungen und formten diese auch. Nachdem er von meiner Großmutter im Bekann- ten- und Familienkreis immer als Held hervorgehoben wurde und sich selbst auch als unfehlbar betrachtet, ist er nicht in der Lage seine Schwächen einzugestehen und preiszugeben. Als Folge dessen grenzt er seine Erinnerungen unbewusst auf ein paar standardisierte Geschichten ein. Da diese aufgrund ihrer Bedeutung immer wieder er- zählt werden, bleiben diese zwar in Erinnerung, werden aber im Laufe der Zeit immer mehr modifiziert.558 Somit spiegelt sich in den Erzählungen meines Großvaters ein ver- klärtes Bild seiner tatsächlichen Erlebnisse wider. Als Beispiel, in einer Geschichte beweist er besonders viel Mut, als er einem Russen widerspricht. Diese Veränderungen bzw. sogar Ausschmückungen geschehen beim wiederholten Erzählen aber vielfach auch unbewusst.559 So ist mein Großvater auch davon überzeugt, dass sich folgende Geschichte genau so zugetragen hat: „Da Voter hot nie de Pferd von den Russen beschlogen, de hobn an eigenen Schmied ghobt […] de hobn für an Huaf braucht wie mia für olle viere. I hob amoi zugschaut und hob amoi gsogt: ‚DAWEI [LOS]’, mehr hob i net braucht, [lacht].“560

Natürlich kann man diese Geschichte nicht nachprüfen. Ich persönlich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass ein 14-jähriger Bub, der einen Besatzungssoldat angefeuert hat, ohne Bestrafung davon gekommen ist, auch wenn die Russen als kinderlieb gegolten haben und speziell zu Buben einen guten Kontakt hatten.561 Des Weiteren neigen Per- sonen prinzipiell dazu, Erinnerungslücken mit anderem Füllmaterial zu schließen, egal ob dies nun gänzlich andere Erlebnisse oder Quellen sind, die mit dem Leben der Be- troffenen nichts zu tun haben.562 Da mein Großvater nach wie vor von einem, durch die Heimatfilme inspirierten, makellosen Leben träumt, ergänzt er seine Erinnerungen gerne mit Aspekten aus diesen Heimat- bzw. Schlagerfilmen der 1950er. So erinnert zum Beispiel die Geschichte mit den Pferden der Russen [siehe Seite 20] stark an ein

558 Jaeger/Rülsen, Handbuch der Kulturwissenschaften, 157. 559 Ebd., 164. 560 Interview mit Anton Brucker. 561 Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 95. 562 Jaeger/Rülsen, Handbuch der Kulturwissenschaften, 162. 241

Abenteuer aus der Immenhof-Filmreihe.563 Grundsätzlich kann man sagen, dass mein Großvater sowie auch meine Großmutter Kinder ihrer Zeit sind und, wie auch viele ihrer Altersgenossen die zwischen 1930 und 1945 geboren sind, mitunter einen nostalgisch verklärten Blick auf die Kriegs- und Be- satzungszeit haben.564 Bei meinem Großvater treten diese Prägungen, durch seine Fa- milie sowie die gesehenen Filme, in Form der vielen herausragenden (Helden-)Ge- schichten besonders hervor.

7 Resümee

Für mich persönlich war es von großer Bedeutung diese Interviews mit meinen Großel- tern zu führen und über diese dann eine Arbeit zu schreiben. Erstens erfüllte mich die Hoffnung ein paar Familiengeschichten bewahren zu können, und zweitens habe ich durch die Gespräche mit meinen Großeltern sowie auch mit meiner Mutter viel Neues über meine Familie und den Kriegsalltag der Loosdorfer Be- völkerung in Erfahrung bringen können. In Hinblick auf die Führung der Interviews er- wies es sich als gute Entscheidung, meine Großeltern großteils einzeln zu befragen. Somit konnte meine Großmutter freier erzählen und wurde nicht durch meinen Groß- vater beeinflusst. In Bezug auf meinen Großvater war mir vom Anfang an klar, dass er in standardisier- ter Form erzählen und sich dabei stets positiv darstellen würde. Letzlich ergaben sich jedoch auch hier einige neue Erkenntnisse hinsichtlich seiner Persönlichkeit und seiner subjektiven Wahrnehmung. So erkannte ich zum Beispiel, dass die Geschichten, in de- nen er sich selbst als Held darstellt, als eine Art Flucht vor der Realität gedeutet wer- den können. Sie dienen in erster Linie dazu, persönliche Schwächen und Unsicherhei- ten zu kompensieren und sich nach außen hin als unfehlbar zu präsentieren. Von den Erzählungen meiner Großmutter und ihren Erinnerungen war ich positv über- rascht. Obwohl sie im Jahr 1945 ein kleines Mädchen gewesen ist, konnte sie sehr viel mehr erzählen als ich es mir erwartet hätte. Möglicherweise hat sie aber auch vieles wiederholt, dass sie von ihrer Familie erzählt bekommen hat. In Bezug auf meine Großmutter wurde mir einerseits bewusst, wie schwierig die Lebensumstände der Fa- milie Stöckl in der Kriegs- bzw. Nachkriegszeit waren. Andererseits lässt sich ihren Er- zählungen entnehmen, dass ihre Familie die Schwierigkeiten, die sich aus der damali- gen Situation ergaben, verhältnismäßig gut gemeistert hat. Die Conclusio meiner Arbeit ist, dass Lebenserinnerungen, so faszinierend sie auch

563 Immenhof-Filmreihe, http://www.imdb.com/find?q=immenhof&s=all ( abgerufen am 15.04.2013) 564 Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 93. 242 sein mögen, nur einen Teilaspekt von Geschehnissen widerspiegeln können und nicht als historisch fundiertes Wissen betrachtet werden dürfen. Besagte Erinnerungen müs- sen stets kritisch hinterfragt werden, da sie eine starke subjektive Färbung aufweisen. 243

8 Abbildungen

• Abbildung 1: Familienbild/Brucker. • Abbildung 2: Familienbild/Stöckl.

Quelle: alle Abbildungen befinden sich in Privatbesitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder.

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Stephan Turmalin

Die Oma im Stollen 246

Inhalt

1 Einleitung 247 2 Quellenkritik der Selbstzeugnisse 250 3 Taschenkalender 1945 251 3.1 Äußere Quellenkritik 252 3.2 Innere Quellenkritik 253 3.3 Schreibgeräte 254 3.4 Zeitferne Eintragungen 254 3.5 Zeitnahe Eintragungen 256 4 „Stollen-Tagebuch“ 257 4.1 Äußere Quellenkritik 258 4.1.1 Zur Eingrenzung der Entstehungszeit 259 der Autobiographie meiner Großmutter 4.2 Innere Quellenkritik 260 4.2.1 Darstellungsform im „Stollen-Tagebuch“ 260 4.2.2 Beschreibung der Zeit von 28. 11. bis 31. 12. 261 4.2.3 Feuer im Stollen 263 5 Versuch einer Verortung der Lebenswelt meiner Großmutter 264 – vor und während der Arbeit im Stollen 5.1 Reichsarbeitsdienst 265 5.2 Meine Großmutter, eine Täterin? 268 6 Schluss 269 7 Quellen 271 8 Abbildungen 271 247

1 Einleitung

In meiner Arbeit möchte ich die Aufzeichnungen meiner Großmutter Frauke C. be- trachten.565 Einerseits soll unter geschichts- biographischen Aspekten und andererseits durch eine Kontextualisierung mit dem derzeitigen Stand der Forschung ihre Lebens- welt während der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu verorten versucht werden. Meine Großmutter wohnte zeit ihres Lebens in Melk und stammte aus einer Familie mit handwerklichem Hintergrund. Ihr Vater war Binder, dessen Vater Bindemeister. Sie be- saßen eine Fassbinderei in der Wachauerstraße in Loosdorf.566 Sozioökonomisch stammte sie also aus einer kleinbürgerlichen Familie. Fraukes Eltern starben bereits in ihrer Kindheit, wodurch sie fortan bei ihrer Großmutter väterlicherseits aufwuchs. Meine Großmutter arbeitete gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, ihren Angaben nach vom 29. 11. 1944 bis zum 28. 3. 1945,567 in einem Rüstungsstollen in der Nähe von Melk. Sie lernte während ihrer dortigen Arbeitszeit ihren zukünftigen Mann, meinen Großvater Jens C., kennen. Mein Großvater war ein ab März 1941 in das Deutsche Reich eingebürgerter Südtiroler.568 Im Dezember des gleichen Jahres wurde er von Innsbruck nach Steyr umgesiedelt.569 Das genaue Eintrittsdatum hinsichtlich der Arbeit im Stollen konnte nicht nachvollzogen werden. Meine Großmutter schrieb in ihren Aufzeichnungen, dass sie ihn am 10. 12. 1944 zum ersten Mal wahrgenommen hatte. Durch Nachforschungen, die mein Bruder angestellt hat, konnte nachgewiesen werden, dass Jens C. nach einem kurzen Kriegsaufenthalt in Russland. durch einen Streifschuss, mehrere Lazarettaufenthalte hatte.570 Als letz- ten Abgang konnte der 9. 5. 1944 von Linz nach Steyr durch die Deutsche Dienststelle nachgewiesen werden. Die Umstände, die ihn von Steyr nach Melk brachten, können nur vermutet werden, sind aber für meine Arbeit nicht weiter von Belang. Im Laufe des Krieges veränderte sich das Ortsbild von Loosdorf durch Material- und Arbeitslager, die für den Bau der Autobahn benötigt wurden. Durch den Bau des Rüs- tungsstollens "Quarz" im Wachberg bei Roggendorf entstand eine Reihe von Versor- gungseinrichtungen in der heutigen Westsiedlung von Loosdorf. Vom Bahnhof Loosdorf wurde ein Gleis angelegt, das direkt in den sogenannten Stollen A führte (Plan des Stollens: siehe Abbildung 1).571

565 Dieser und alle folgenden Namen sind anonymisiert. 566 Faksimile der Geburtsurkunde von Frauke C, Gerhard Floßmann, Loosdorf. Ansichten, Loosdorf 1999, 54. In meinem Privatarchiv. 567 So gibt sie es de facto in ihrem „Stollen-Tagebuch“ wieder. Im Zuge der Recherche habe ich auf dem Versicherungsnachweis der OÖGKK eine de jure Abmeldung am 28. 4. 1945 finden können. 568 Einbürgerungsurkunde, angefordert vom Tiroler LA, in Kopie bei meinem Bruder Nils C. 569 Wehrmacht Suchkarte, angefordert vom Tiroler LA, in Kopie bei meinem Bruder Nils C. 570 Auskunft der Deutschen Dienststelle (WASt), Schreiben bei meinem Bruder Nils C. 571 Gerhard Floßmann, Loosdorf an der Westbahn. [400 Jahre Markt], Loosdorf 1984, 147-151. 248

Abbildung 1: Stollenanlage Roggendorf/Loosdorf. Nach einer Vermessung im Jahre 1983.

Roggendorf liegt zwischen Loosdorf und Melk, hier sollte die Stollenanlage des Projek- tes „Quarz“ in den sogenannten Wachberg ab dem Jahre 1944 gegraben werden. Die- ser Hügel bestand aus Sandstein und war daher besonders gut für einen Stollenbau geeignet. Die Steyr-Daimler-Puch AG (SDP) wollte hier einen Teil ihrer Rüstungspro- duktion unter die Erde verlegen.572 Der Grund dafür waren Angriffe alliierter Luftver- bände auf Ziele von Rüstungsbetrieben der SDP ab 1944.573 Für den Bau der unterirdischen Anlage wurden KZ-Häftlinge eingesetzt. Dazu wurde die „Freiherr von Birago“-Pionierkaserne zu einem KZ-Außenlager von Mauthausen und sollte zur Unterbringung der Häftlinge genutzt werden.574 Im November 1944 war der Vortrieb soweit fortgeschritten, dass die SDP ihr Wälzlagerwerk nach Melk verlegen konnte. Nach dem Bericht meiner Großmutter fertigte sie im Stollen Gewinde bei einer Maschine an.575 In ihrer Abteilung waren es ausschließlich Frauen, die dieser Tätigkeit

572 Bertrand Perz, Projekt Quarz. Steyr-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk (Industrie, Zwangsarbeit und Konzentrationslager in Österreich 3), Wien 1991, 160-170. 573 Josef Goldberger/Cornelia Sulzbacher, Oberdonau (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 11), Linz 2008, 70-72. 574 Perz, Projekt Quarz, 219. 575 Frauke C., Stollen-Tagebuch, 4 und 9. 249 nachgingen. Nur zur Justierung der Maschinen kamen regelmäßig männliche Arbeiter, die sie in ihren Aufzeichnungen als Einsteller bezeichnete. Ihre Selbstzeugnisse sind für mich deshalb interessant, da ich über meine Großmutter in den Archiven mehr oder minder auf sehr dürres Aktenmaterial gestoßen bin und es mir aus familiären Gründen zeit ihres Lebens verwehrt geblieben ist, sie richtig kennen zu lernen. Mit der Annäherung an ihre schriftliche Hinterlassenschaft im Zuge einer wissenschaftlichen Bearbeitung geht und ging also auch immer eine persönliche ein- her. Diese hat in jedem Fall, wenn auch nur indirekt, das Ergebnis der Arbeit berei- chert. In erster Linie aber hat sie eine mir persönlich eher unbewusste Lücke im Be- reich des Möglichen gefüllt. Die Fragestellungen beziehen sich einerseits auf ihre Selbstzeugnisse, die sie während der Arbeit im Stollen und in ihrem späteren Leben produziert hat. Dabei möchte ich die Interdependenzen und Korrelationen bei einer Auswahl ihrer Hinterlassenschaft herausarbeiten. Es soll geklärt werden, welche Aufzeichnungen wann stattgefunden haben und weshalb. Dies passiert mit quellenkritischen Methoden und soll anhand der Ergebnisse interpretiert werden. Meine These ist, dass es nicht alleine ihre zeitnahen Notizen und Aufzeichnungen aus der Zeit von 1944 bis 1945 waren, die für die Dar- stellung in ihren späteren Erinnerungsberichten herangezogen wurden. Vielmehr sind zum Beispiel museale Ausstellungen oder Fernsehberichte genauso in ihre Darstellung eingeflossen. Weiter stellt sich mir die Frage, weshalb sie überhaupt in diesem Stollen gearbeitet hat. Ob dies eine freiwillige Entscheidung war oder ob sie aufgrund von arbeitsmarkt- politischen Maßnahmen zu dieser Tätigkeit gezwungen wurde. Hierzu habe ich Litera- tur verwendet, die sich mit der Beschäftigungspolitik von Frauen des „Dritten Reiches“ befassen, genauer gesagt mit dem Reichsarbeitsdienst (RAD). Ich möchte der Frage nachgehen, ob meine Großmutter für den RAD oder den Kriegshilfsdienst (KHD) ein- gezogen wurde. Dahingehend hatte sie nie Aussagen gemacht, jedoch erscheint es mir wegen ihres Alters und ihrer Tätigkeit durchaus möglich. Dazu wird versucht werden, ihre Situation mit den arbeitsmarktrechtlichen Veränderungen im Laufe des Krieges in Zusammenhang zu stellen. Resultierend aus diesen Überlegungen stelle ich überdies die Frage nach der subjekti- ven Verantwortung meiner Großmutter. Anhand der Forschungsliteratur über Täterin- nen im Nationalsozialismus soll versucht werden zu beantworten, wie sich die individu- elle Situation von Frauke C. mit diesem Forschungshintergrund verorten lässt. Abgese- hen von den bereits erwähnten Selbstzeugnissen konnte ich nur bedingt an Quellen kommen, die meine Großmutter betreffen. Bei der Recherche im Haus-, Hof- und Staatsarchiv konnte ich keine sie betreffenden Dokumente finden. Die mir zur 250

Verfügung stehenden Quellen, die nicht von meiner Großmutter produziert wurden, beschränken sich auf den Eintrag im Taufbuch, einen Versicherungsnachweis ihrer Arbeitszeit im Stollen, ein Totenbild und ein Zeugnis ihrer Schulzeit.

2 Quellenkritik der Selbstzeugnisse

Im Folgenden sollen die Selbstzeugnisse meiner Großmutter Frauke C. nach inneren und äußeren quellenkritischen Kriterien betrachtet werden.576 Meine Großmutter hat eine Vielzahl an Selbstzeugnissen, die zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens ent- standen sind, hinterlassen. Für diesen Teil der Arbeit sollen vordergründig zwei Dokumente ihrer Hinterlassen- schaft genauer betrachtet werden. Erstens ein Taschenkalender von 1945, in welchem während der letzten Kriegsmonate des Zweiten Weltkrieges und danach bis Mitte No- vember nahezu täglich Notizen über Ereignisse von ihr eingetragen wurden. Und zwei- tens ein von meiner Großmutter sogenanntes „Stollen-Tagebuch“, in welchem meine Großmutter die Erinnerungen, Erlebnisse während ihrer Arbeitszeit im Rüstungsstollen Quarz-Roggendorf in teils erzählerischer, teils diaristischer Form wiedergibt. Die Be- zeichnung „Stollen-Tagebuch“ ist von Frauke C. selbst. Angesichts der strukturellen Gattungsmerkmale wäre ein Tagebuch, welches in seinem Titel bereits einen zeitlichen Rahmen umreißt, eher die große Ausnahme. Eintragungen in ein Tagebuch erfolgen im Normalfall schubweise. Der Grund, dass meine Großmutter den zeitlichen Rahmen im Titel vorgibt, ist, dass sie das „Tagebuch“ erst viel später in ihrem Leben geschrieben haben muss. Für meine Arbeit möchte ich die Bezeichnung „Stollen-Tagebuch“ über- nehmen, im Bewusstsein, dass der in ihrem Lebensabend verfasste Bericht in einer biographisch-genealogischen Betrachtungsweise nicht als Tagebuch bezeichnet werden kann. Zunächst lässt sich sagen, dass die beiden quellenkritisch betrachteten Selbstzeugnis- se miteinander verbunden sind. Wobei klarerweise hauptsächlich das „Stollen-Tage- buch“ von den täglichen Notizen des Taschenkalenders beeinflusst ist, dennoch hat meine Großmutter während ihres Schreibprozesses ihre ursprünglich 1945 entstande- nen Notizen adaptiert und gering verändert. Vordergründig dienten ihr die täglichen Notizen als Erinnerungsstütze für das Verfassen des „Stollen-Tagebuches“. In welchem

576 Eckart Henning, Selbstzeugnisse. Quellenwert und Quellenkritik, Berlin 2012, 28-43; Günter Müller, „Vielleicht interessiert sich mal jemand …“. Lebensgeschichtliches Schreiben als Medium familiärer und gesellschaftlicher Überlieferung, in: Peter Eigner/Christa Hämmerle/Günter Müller, Briefe, Tagebücher, Autobiographien. Studien und Quellen für den Unterricht, Innsbruck-Wien 2006, 76-95; Andreas Rutz, Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1 (2002) 2, URL: http://www.zeitenblicke.historicum.net/2002/02/rutz/index.html (abgerufen am 02.10.2012); Thomas Winkelbauer (Hg.), Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik (Waldviertler Heimatbund 40), Horn-Waidhofen/Thaya 2000. 251

Ausmaß, ob es weitere Erinnerungsstützen gab, soll im Zuge der folgenden Quellenkritik geklärt werden. In der Frage nach dem Quellenwert ist vor allem beim „Stollen-Tagebuch“ Vorsicht ge- boten. Alleine die Tatsache, dass dieser Bericht 40 Jahre ex eventu verfasst wurde, wirft die Frage nach der Wirklichkeitstreue bei der Darstellung auf. Mir geht es jedoch nicht darum „Unwahrheiten“ in ihrem Bericht aufzudecken. Viel interessanter ist, wenn aus den Interdependenzen der beiden Selbstzeugnisse verschiedene Daseinsentwürfe erkennbar werden. Erinnerungen, über die meine Großmutter im Alter schreibt, jedoch im Taschenkalender keine Erwähnung finden, zeugen in erster Linie von verschiedenen Erfahrungsebenen.577 Zum Beispiel, wenn meine Großmutter einerseits über ihre Be- gegnung mit KZ-Häftlingen schreibt und dazu nichts im Taschenkalender notiert hat, wird diese Erfahrung eher auf eine emotionale Ebene zurückzuführen sein. Anderer- seits wenn sie während ihres Berichtes über den Stollen plötzlich mehrere Absätze Fakten über Baubeginn, Dimensionen usw. anführt, kommt eher eine kognitive Erfah- rungsebene zu tragen. Bei dem letztgenannten Beispiel wird weniger der Wahrheitsge- halt für mich von Interesse sein, als vielmehr die Provenienz. Dass sie sich vierzig Jah- re nach den Ereignissen im Stollen an das genaue Datum des Baubeginnes erinnern kann, ist genauso unrealistisch, wie die Vermutung, dass sie diesem Baubeginn 1944 irgendeine Bedeutung beigemessen und dies einer Notiz in diesem Jahr gewürdigt hät- te.

3 Taschenkalender 1945

Zuerst möchte ich den Taschenkalender behandeln, da dieser meiner Großmutter wäh- rend ihrer Zeit im Stollen und danach als Notizbuch gedient hat und daher die ältere der beiden Quelle ist. Dass sie durchaus die Intention hatte, dieses auch als Tagebuch zu nutzen, zeigt ihr Vermerk am Titelblatt: „Mein Tagebuch! (Kleine Notizen)“.578 Ich folge in der Bezeichnung der Selbstzeugnisse meiner Großmutter weitestgehend der Strukturlehre nach Eckart Henning.579 Darin werden Tagebücher in drei Gruppen unterschieden: Notiztagebuch, Bekenntnistagebuch und Geschäftstagebuch. Letztge- nanntes dient im geschäftlichen, behördlichen Bereich als Registraturhilfsmittel, die anderen beiden Tagebuchformen entstehen im privaten Umfeld. Im Bekenntnistage- buch reflektiert der/die AutorIn bereits über das Erlebte. Es enthält überwiegend Ge- danken, Empfindungen oder Werteurteile. Im Notiztagebuch hingegen ist der überwie-

577 Robert Montau/Christine Plaß/Harald Welzer, „Was wir für böse Menschen sind!“. Der Nationalsozialismus im Gespräch zwischen den Generationen (Studien zum Nationalsozialismus in der edition diskord 1), Tübingen 1997, 9. 578 Frauke C., Taschenkalender. 579 Eckart Henning, Selbstzeugnisse, 29-31. 252 gende Inhalt Tageschronistik, also alles, was von außen an Begegnungen und Erlebnis- sen auf den/die SchreiberIn zukommt. Das Erlebte wird eher kommentarlos aneinan- dergereiht und registriert. Diese Form des Tagebuches wird von Frauke C. wie oben erwähnt auf dem Titelblatt angekündigt und im weiteren Verlauf auch erfüllt. Die Stilmerkmale Stereotype, Kürze, Stichworte, Sachlichkeit, Hingeworfenes, Nüch- ternes und Unpersönlich-Geschäftsmäßiges entsprechen zu einem Großteil dem Schreibstil meiner Großmutter im Taschenkalender. Wobei eine konjunkturelle Entwick- lung in der Intensität ihrer Aufzeichnungen feststellbar ist. Anfangs sind der Umfang und die Häufigkeit der Einträge nur sporadisch. Bis etwa Ende Mai 1945 werden sie zahl- und detailreicher. Hier finden sich auch die inhaltsreichsten Einträge. In diesem Bereich lässt sich auch nur noch schwierig von einem reinen Notitztagebuch sprechen. Eintragungen wie „…Hilda geht immer andere Wege, wir sind halt 2 grundverschiedene Naturen […]“580 sind schon reflektierter als sich dies zuvor feststellen lässt. Ab Juni werden die Einträge wieder kommentarloser, sachlicher und vor allem kürzer, bis sie gegen Jahresende nur noch wenige Wörter pro Tageseintrag verwendet. Diese quantitativ unterschiedlichen Einträge hängen stark mit dem Ereignisverlauf in diesem Jahr zusammen. So ist die Zeit, in der meine Großmutter einen geregelten Alltag hat- te. auch die, in der sie sachliche und kürzere Einträge macht. Während der turbulen- ten Zeit in ihrem Leben, ab in etwa Februar 1945, als es vermehrt zu Fliegeralarmen gekommen ist, sie ihr Zuhause zurücklassen musste, um in Richtung Steyr zu reisen, sind die Einträge detailreicher und persönlicher. Ein zweiter Grund wird auch sein, dass Frauke C. in dieser Zeit viel mehr auf sich alleine gestellt war und weder ihre Groß- mutter als unmittelbare Bezugsperson noch enge FreundInnen in ihrer Nähe hatte. Die Frage nach dem Motiv der Aufzeichnung lässt sich bei dem Taschenkalender leicht mit dem Begriff Gedächtnisstütze beantworten. Sie waren auf jeden Fall nicht für einen größeren Personenkreis bestimmt, wodurch die enthaltenen Informationen als durch- aus aufrichtiger angesehen werden können, als ihre Aufzeichnungen in den 1990er Jahren, die bereits für einen bestimmten Personenkreis vorgesehen waren.

3.1 Äußere Quellenkritik

Der Taschenkalender für das Jahr 1945 ist 10,4 cm lang und 7,2 cm breit. Wie sie zu diesem Taschenkalender gekommen ist, lässt sich nicht endgültig klären. Möglicher- weise bekam sie ihn von ihrem Arbeitgeber im Stollen der Steyr-Daimler-Puch AG zur Jahreswende. Genauso ist es möglich, dass sie den Kalender in einem beliebigen Büro- materialladen gekauft hat. Der Umschlag ist abgerissen worden oder hat sich durch

580 Frauke C., Taschenkalender, Eintrag vom 18. April. 253 den Gebrauch gelöst, wobei die olivgrüne Farbe des Umschlages noch an einem schmalen Papierstreifen erkennbar ist, der am Buchrücken haften geblieben ist. An- sonsten ist der Taschenkalender in einem guten Zustand, abgesehen vom Umschlag fehlen keine Seiten. Es finden sich darin vorgedruckte Einträge zu bestimmten Daten, darunter z.B. am 30. 1. 1933: Tag der Machtergreifung Adolf Hitler wird Reichskanz- ler; oder 23. 2.: Horst Wessel seinen Verletzungen erlegen usw. Ein Taschenkalender, wie er zu dieser Zeit überall erhältlich war. Es gibt im Kalender selbst keinen Hinweis auf den Ort des Druckes oder der Druckerei. Möglicherweise stand dieser auf der Rückseite des Umschlages. Angesichts der vorgedruckten Einträge im Kalender kann vermutet werden, dass auf dem Umschlag zum Beispiel ein Hakenkreuz abgedruckt war. Daher wäre es möglich, dass meine Großmutter den Umschlag bewusst abgelöst hat, um den Taschenkalender im Verlauf des Jahres 1945 weiterführen zu können. Darüber hinaus scheint der Vorsatz581 und die letzte Seite an die nächste beziehungs- weise vorige angeklebt zu sein, was ebenfalls eine bewusste Bearbeitung des Kalen- ders vermuten lässt. Dieser Kalender blieb zeit ihres Lebens in ihrem Besitz. Nach ihrem Tod kam ihr schriftlicher Nachlass teilweise zu ihrer Tochter, meiner Tante, Ramona K. und ihrem Sohn, meinem Vater, Pascal C. Der Taschenkalender war bis Ende 2005 bei meiner Tante, dann begann sich mein Bruder Nils C. für den Nachlass zu interessieren und hortete alles schriftliche Material, welches bei unserem Vater und unserer Tante war und fing an, den Großteil davon zu kopieren und zu vervielfältigen, um jedem/r von unserer Familie, der/die Interesse daran hat, ein Exemplar anzufertigen. Für den Ar- beitsaufwand bekam Nils C. dafür von unserer Tante den Taschenkalender. Nachdem ich im Zuge dieser Arbeit versucht habe, den Schreibprozess des „Stollen-Tagebuchs“ zu rekonstruieren und über meine Überlegungen mit meiner Familie gesprochen hatte, bin ich bald auf den Taschenkalender gestoßen. Im September 2012 wurde er mir von meinem Bruder vorübergehend für diese Arbeit geliehen.

3.2 Innere Quellenkritik

Meine Großmutter verwendet immer wieder Kürzel. Zum Beispiel für ihre Arbeits- schichten: “10-6“ für die Nachtschicht, „6-2“ für die Frühschicht und „2-10“ für die Nachmittagsschicht. Ab dem 26. 2. 1945 steht neben ihrer Schicht auch noch eine zweite in Klammer, zum Beispiel im Eintrag vom 26. 2.: „2-10 (18-6)f“. Das ist die Schicht von ihrem späteren Mann Jens C., meinem Großvater, den sie im Stollen ken-

581 Andreas Fehrmann, Glossar buchgestalterischer und buchtechnischer Begriffe (2010), URL: http://www.j- verne.de/verne_buch_buch.html (abgerufen am 17. 2. 2013) 254 nengelernt hat. Hinter diesem erweiterten Eintrag steckt also die beginnende Liebes- beziehung einer zu dieser Zeit 23-jährigen Frau. Eine andere häufig auftretende Ab- kürzung ist „kein All.“ oder „Fl. All“ für kein Fliegeralarm oder Fliegeralarm.

3.3 Schreibgeräte

Für den Zeitraum ihrer Tätigkeit im Stollen sind für die Eintragungen insgesamt fünf verschiedene Schreibgeräte erkennbar. Durch eine genaue Differenzierung wann sie welches Schreibgerät verwendet, können bestimmte Aussagen gewonnen werden. Es geht daraus hervor, dass sie in den 1990er Jahren noch nachträgliche Überarbeitungen durchgeführt hat, wodurch zwei der fünf Schreibgeräte für zeitnahe Eintragungen aus- geschlossen werden können. Da die Einträge, die ihre Arbeitsschicht betreffen, in den Monaten Jänner und Februar über Wochen mit einem anderen Schreibgerät durchgeführt wurden als die übrigen Eintragungen in dieser Zeit, kann davon ausgegangen werden, dass die zivilen Arbei- terInnen zirka drei bis vier Wochen im voraus über die Arbeitseinteilung Bescheid wussten.582 Durch die Eintragungen meiner Großmutter im Taschenkalender 1945 ist ersichtlich, dass unterschiedliche Arbeitsschichten bei den MitarbeiterInnen, die als zi- vile Arbeitskräfte angestellt waren, geherrscht haben. Meine Großmutter arbeitete in drei Schichten zu je acht Stunden, Jens C., der als Einsteller beschäftigt war, in zwei zu je zwölf Stunden. Diese Unterscheidung der Schichtlängen, wie sie aus dem Ta- schenkalender ab Jänner 1945 rekonstruiert werden können, sagt jedoch nichts über die Zeit davor aus. Es kann durchaus sein, dass diese aufgrund des Fachkräftemangels erst im Laufe der Zeit erhöht wurden.

3.4 Zeitferne Eintragungen

Die Einträge, die ich als nachträgliche Überarbeitungen identifiziert habe, tauchen das erste Mal im Bereich des 4. und 5. Jänners des Taschenkalenders auf. Diese lauten: „29. 11. 44 – 29. 3. 1945 im Stollen gearb. v. bis 5. 5. 1945 Kabelbr. 1. 2. 45“583

Bei diesen Einträgen, die einerseits einen höheren Schriftgrad und eine deutlich ande- re Schriftfarbe als zeitnahe Einträge aufweisen, hat sie auch mit einem helleren Kugel-

582 Perz, Projekt Quarz, 372. 583 Frauke C., Taschenkalender. 255 schreiber die Daten korrigiert. Von „28. 4.“ zu „29. 3.“ sowie anstelle von „5. 5. 145“ „5. 5. 1945“. Diese Daten bezeichnen einerseits die Arbeitszeit von Frauke C. im Stol- len, die Rückkehr ihres Bruders Frank N. von seinem Kriegsdienst und das um einen Tag früher angelegte Datum des Kabelbrandes im Stollen, zu dessen Zeitpunkt sie ge- rade Dienst hatte. Der ganze Eintrag hat ein einheitliches Schriftbild, muss also in ei- nem Zuge gemacht worden sein. Das Schriftbild und die verwendeten zwei Schreibge- räte dieses Eintrages ähneln denen im „Stollen-Tagebuch“. Ein weiterer Hinweis auf eine spätere Überarbeitung ist der Buchstabe . Dieser wurde von Frauke C. im Taschenkalender bei zeitnahen Einträgen aus drei sich berüh- renden Strichen geschrieben. In den frühen 1990er Jahren schreibt sie dieses so, dass der untere diagonale Strich aus dem oberen herausgezogen wird. Diese spätere Form des benutzt meine Großmutter, wenn sie im Bereich des 5. Januar im Ta- schenkalender von 1945 schreibt. Trotz des unterschiedlichen Schrift- bildes kann nicht daran gezweifelt werden, dass beide, zeitnahe und spätere Eintra- gungen aus ihrer Hand stammen. Die unterschiedliche Erscheinung hängt in erster Li- nie mit dem Entstehungszeitraum dieser Eintragungen zusammen. Weiters sind folgende drei Einträge, die miteinander zusammenhängen, im Taschenka- lender mit diesem Schreibgerät geschrieben worden. Montag, 5. Februar 1945: „[…] heute kam ein neu Trup Arbeiter, darunte auch P […] Bruder“ Montag, 12. Februar 1945: „[…] heute erzählt P. daß sein Bruder am Samstag auch im Stollen als Einsteller zu arb. beginnt“

Freitag, 16. Februar 1945: „Nachmittags P […] u. Herbert besucht! [Anm.: ab hier mit dickem Kugelschreiber] hier erzält heut daß sein Bruder morgen“

Anscheinend hatte sie noch in Erinnerung, dass der Bruder von Jens C., Frederik C., kurz nach dem Brand im Stollen Anfang Februar gekommen war und konnte sich auch noch erinnern, dass ihr mein Großvater davon vorab erzählt hatte. Aber sie hatte von der Ankunft des Bruders von Jens C. ursprünglich nichts im Taschenkalender ver- merkt. Im „Stollen-Tagebuch“ schreibt sie am 17. Februar584 über die Ankunft von Fre- derik C. Diese Eintragung steht in Zusammenhang mit den später ergänzten Eintra- gungen im Taschenkalender. Im Wehrpass des Bruders lässt sich das tatsächliche Da-

584 Frauke C., Stollen-Tagebuch, 56. 256 tum der Überstellung von Steyr nach Melk genau feststellen. Hier erfolgte die Anmel- dung im Wehrmeldeamt Steyr bereits am 24. 1. 1945585. Auch die dreimalige Erwäh- nung der Mitteilung von Jens C. über die Ankunft des Bruders wäre bei einem zeitna- hen Eintrag in dieser Form unmöglich. Der nächste Eintrag in dickerer Tinte ist am 24. Februar: „[…] heute Abschied Loni Kleid […]“. Einen Tag später schreibt sie, jedoch ist es hier ein zeitnaher Eintrag: „[…] Heimweg Loni getroff. (trg. warum?) […]“.

In ihrem „Stollen-Tagebuch“ beschreibt meine Großmutter hier den Abschied einer ihr nahestehenden Kollegin in der Abteilung im Stollen, da sich diese für eine Arbeitsstelle außerhalb des Stollens beworben hatte und diese auch bekam. Wenn der Eintrag vom 24. Februar auch an diesem Tag gemacht worden wäre, hätte sie sich wohl nicht einen Tag später gefragt, warum Loni traurig sei. Zusammenfassend lässt sich durch diese drei Beispiele sagen, dass die Schreibgeräte mit höherem Schriftgrad erst viel später im Taschenkalender hinzugefügt wurden und daher eine nachträgliche Überarbeitung darstellen. Diese Überarbeitung fand meiner Ansicht nach statt, als sie das „Stollen-Tagebuch“ geschrieben hat. Ein zusätzlicher Hinweis hierzu ist zum einen, dass dieser Kugelschreiber auch dann auftaucht, wenn sie etwas durch Unterstreichen herausgehoben hat. Sehr oft unterstreicht sie z.B. ihre Schicht bzw. Eintragungen, auf die sie in ihrem „Stollen-Tagebuch“ näher eingeht. Am eindeutigsten offenbart dies jedoch der Eintrag am 29. 3. 1945, der Tag mit dem ihr Bericht endet, den sie „Stollen-Tagebuch“ nennt. Hier steht zwischen zwei zeitnahen Einträgen gezwängt „…Ende…“.

3.5 Zeitnahe Eintragungen

Sie verwendet drei verschiedene Schreibgeräte für die zeitnahen Einträge im Taschen- kalender. Einen Bleistift, zwei Bleistifte mit bläulich-grauem Farbbild, davon einer mit eher hellerem und einer mit eher dunklerem Schriftbild. Anhand des Auftretens der verschiedenen Schreibgeräte und des Schriftbildes lässt sich sagen, dass sie nahezu täglich Notizen im Taschenkalender ergänzte, die Eintragungen also relativ nahe an dem Erlebten sind. Interessant ist das Schreibgerät, das Frauke C. für die Notiz ihrer Arbeitsschichten verwendet. Sie führt die Schicht einmal pro Woche am Montag an. Wie viele Tage in der Woche sie genau Arbeiten musste, geht aus den Aufzeichnungen nicht hervor, jedoch war es in der Regel eine Sechs-Tage-Arbeitswoche.586 Diese ist von Montag, dem 1. bis Montag dem 15. 1. mit dem hellen, bläulich-grauen Bleistift, von

585 Im Besitz seines gleichnamigen Sohnes. 586 Perz, Projekt Quarz, 371. 257

Montag dem 22. 1. bis Montag dem 12. 2. mit dem dunkleren, bläulich-grauen Bleistift, am 19. 2. mit dem helleren, bläulich-grauen Bleistift und vom 26. 2. bis zum 19. 3. mit grauem Bleistift angezeichnet. Da sie ab dem 24. 2. bis zum Ende ihrer Tätigkeit im Stollen ausschließlich mit Bleistift schreibt, lässt sich ab hier nichts mehr darüber aussagen, wie lange im Vorhinein ihr die Schichten mitgeteilt wurden. Aber immerhin lässt sich durch die unterschiedlichen Schreibgeräte herauslesen, dass sie am 1. 1. den Dienst für die nächsten drei Wochen wusste und ab 22. 1. für die nächsten vier Wochen. Weiters findet sich in ihrem Taschenkalender am 1. 2. ein Eintrag zu dem Kabelbrand im Stollen (der bei Quartz587 jedoch am 2. 2. angegeben ist): „5h Morgens Schreckenstunde im Werk mit Pepi u. Herbert nach Hause nachmittags Besuch v. Pepi u. Herb. Bericht. Schnee ausgeführt“

Der Grund, weshalb Frauke C. hier den Brand einen Tag früher ansetzt, ist sehr wahr- scheinlich der, dass sie den Brand in ihrer Nachtschicht vom 1. auf den 2. 2. in der Früh erlebt hat. Angesichts der zeitlichen Nähe zwischen dem Erlebten und der Nieder- schrift ist auffallend, dass sie den Eintrag nicht von den anderen hervorhebt. Von dem Ereigniswert her wird dieser Eintrag mit den Schneearbeiten vor ihrem Haus auf eine Ebene gestellt. Anscheinend ist ihr in diesem Moment noch nicht das Ausmaß des Vor- falles und das Glück, mit dem Leben davon gekommen zu sein, bewusst. Viel akzentu- ierter ist ihre Darstellung der Vorkommnisse, wenn sie sich in den 1990er Jahren in ih- ren autobiographischen Darstellungen daran erinnert.

4 „Stollen-Tagebuch“

Im Sinne der Strukturlehre von Henning ist dieses Selbstzeugnis eine Autobiogra- phie.588 In ihr steht das „Ich“, sowie dessen innere Entwicklung und persönliche Bezie- hungen im Mittelpunkt der Darstellung. Der Unterschied zum Tagebuch ist eine be- wusste Auswahl des Geschilderten. Diese determiniert sich bereits in der durch meine Großmutter vorgenommene Benennung „Stollen-Tagebuch“. Auch die Vorwegnahme späterer Ereignisse und eine bewusste Stilisierung von Erlebtem sind in diesem Selbst- zeugnis gehäuft anzutreffen. Ein typisches Merkmal von Autobiographien, nämlich die tagesenthobene Distanz, versucht meine Großmutter bewusst zu unterwandern. Durch ihre Vorgabe ein „Tagebuch“ schreiben zu wollen, versucht sie dem/der LeserIn das Gefühl zu vermitteln, der Bericht sei in der Zeit um 1945 aufgezeichnet worden. Je-

587 Perz, Projekt Quarz, 399-403. 588 Henning, Selbstzeugnisse, 31f. 258 doch kann dies nicht als bewusster Täuschungsversuch gewertet werden, da sie die zeitliche Distanz zwischen dem Selbstzeugnis und dem Geschehen zwar nicht wörtlich offenlegt, jedoch den Schein der zeitlichen Nähe durch Zeitsprünge in die Gegenwart oder in spätere Ereignisse durchbricht. Sie bewertet die Geschehnisse mehrmals in ei- ner Weise, die im Augenblick des eigentlichen Geschehens nicht möglich gewesen wäre.589 Bei diesen Beispielen ist sehr gut das Wechselspiel zwischen dem „erzählen- den Ich“ („Gegenwarts-Ich“) und einem „erzählten Ich“ (Vergangenheits-Ich“) zu se- hen.590 Dieser Versuch meiner Großmutter, vierzig Jahre nach den Geschehnissen in diaristischer Form über ihre Erlebnisse zu schreiben, ist ein bewusster Entschluss. Da- bei scheint ihr das chronologische Einteilungsprinzip angesichts der ihr zur Verfügung stehenden Erinnerungsstütze einerseits als sinnvoll, gleichzeitig tradiert eine Eintei- lung mit exakten Datumsangaben mehr Authentizität. Dieser Erinnerungsbericht diente ihr auch als Versatzstück für eine Schriftenkompilation, die sie „Familienge- schichte“ nannte. Dieser Nachlass sollte ihr gesamtes Leben, angefangen bei ihrer Kindheit, über ihre Jugend- und Ausbildungsjahre, die Stollenzeit, die Zeit nach dem Krieg bis hin zu der Geschichte ihrer Kinder, enthalten. Was sie noch alles geplant hat- te, lässt sich nicht sagen, da sie vor Vollendung der Niederschrift über ihre Kinder ver- storben ist. Nichtsdestotrotz findet sich hier, in diese Familiengeschichte eingebettet, auch die frü- here Fassung des „Stollen-Tagebuches“, wenn auch mit gewissen Adaptierungen, Ein- schränkungen und Veränderungen. Ob sie das „Stollen-Tagebuch“ lediglich als Vorlage für die Familiengeschichte geplant hatte, bleibt offen.

4.1 Äußere Quellenkritik

Es handelt sich um einen Chefkalender (B 14,5 x H 21,5) von 1985, der ein Werbegeschenk der Firma Liebherr war. Das „Stollen-Tagebuch“ wurde nach dem Tod meiner Großmutter bei meiner Tante aufbewahrt und, wie bereits erwähnt, wurde es nur kurzfristig meinem Bruder zur Verfügung gestellt, um es zu vervielfältigen. Ab dem Spätsommer 2012 hat es meine Tante mir für diese Arbeit überlassen.

589 Andreas Rutz, Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1 (2002) 2, URL: http://www.zeitenblicke.historicum.net/2002/02/rutz/index.html (abgerufen am 2. 10. 2012). 590 Günter Müller, „Vielleicht interessiert sich mal jemand …“. Lebensgeschichtliches Schreiben als Medium familiärer und gesellschaftlicher Überlieferung, in: Peter Eigner/Christa Hämmerle/Günter Müller (Hg.), Briefe, Tagebücher, Autobiographien. Studien und Quellen für den Unterricht, Bozen-Innsbruck-Wien 2006, 76-95. 259

4.1.1 Zur Eingrenzung der Entstehungszeit der Autobiographie meiner Großmutter

Frauke C. hat überdies ein weiteres Erinnerungszeugnis in einem solchen Chefkalender hinterlassen. Dieser ist von 1987 und behandelt die Zeit unmittelbar nach ihrer Arbeit im Stollen. Diese beiden Dokumente sind offensichtlich im Laufe der jeweiligen Jahre als Kalender benutzt worden, was daran erkennbar ist, dass immer wieder Seiten zu- sammengeklebt wurden, bestimmte Seiten fehlen (da sie herausgerissen wurden) und die Ecken mit Abrissvorlochung auch durchgehend abgerissen sind. Bei den Seiten des Zeitraumes vom 1. 1. bis einschließlich 12. 2. 1985 ist auffällig, dass Kalenderseiten eines fortgeschrittenen Datums vor die eines früheren geklebt wurden. Wobei dies nur bis zur zwölften geschriebenen Seite ihres Erinnerungsberichts auftritt. Der Grund da- für könnte sein, dass Frauke C. anfangs unsicher war, ob für ihr Schreibvorhaben ge- nug Platz im Kalender ist. Nachdem sie gemerkt hat, dass es genug ist, hört sie auf, Seiten aufzuheben, die nur auf einer Seite beschrieben sind. Die Nummerierung der Seitenzahlen wurde, abgesehen von S.101, von Frauke C. selbst vorgegeben. Auch der Appendix von Seite 68 hat keine Nummerierung, bei dem es sich um ein in der Hälfe zerschnittenes Kalenderblatt handelt. Durch das Jahr der Chefkalender lässt sich der Entstehungszeitraum des „Stollen-Tagebuch“ nur bedingt eingrenzen. Sehr wahr- scheinlich ist es nach dem Jahresbeginn 1988, jedoch sicher nach 1986 entstanden. Für eine genauere Eingrenzung wären andere Aufzeichnungen von Frauke C. notwen- dig. Meine Großmutter hat in der Zeit zwischen 1. 1. 1966 und 31. 12. 1994 täglich Noti- zen über Tagestemperatur, verrichtete Arbeiten, persönliche Treffen, telefonische Kon- takte, usw. in insgesamt vier DIN A5 Hefte eingetragen.591 Daraus lässt sich auch re- konstruieren, dass sie Anfang der 1990er Jahre begonnen hat, ihre schriftlichen Auf- zeichnungen, die sich im Laufe ihres Lebens angesammelt haben, zu ordnen. Anhand ihrer Gedichte, täglichen Notizen und Fotos hat sie dann ihr Leben reflektiert und schriftlich in mehreren Abschnitten zusammengefasst. Ab März 1990 taucht immer wieder der Eintrag „…gz. Tag geschr….“ in diesen DIN A5 Heften auf, insgesamt elf Mal, davon neun Mal an einem Sonntag. Dem Umfang ihres schriftlichen Nachlasses nach zu schließen hat sie diesen (ihren Nachlass) nicht an einem dieser elf Tage weiter be- arbeitet. Sie hat dieser Tätigkeit lediglich dann einen Eintrag gewürdigt, wenn sie den ganzen Tag hinter dem Schreibtisch gesessen hatte. Das letzte Mal notiert sie ihre Schreibtätigkeit am 28. 8. 1994. Nach Aussagen meiner Tante hat sie jedoch bis kurz vor ihrem Ableben immer wieder geschrieben. Ihr Vorhaben bzw. die Fertigstellung

591 Diese Aufzeichnungen befinden sich im Privatarchiv meines Vaters. 260 wurde, wie bereits erwähnt, durch ihren Tod vorzeitig beendet. Anhand des schriftli- chen Nachlasses lässt sich erkennen, dass sie chronologisch vorgegangen ist. Das „Stollen-Tagebuch“ war bis spätestens Mai 1994 fertig, ein Eintrag am Schluss grenzt die Entstehungszeit ein. „Tatens-Fernsehn 1993: Der Stolen hatte angeblich eine Fläche v. 65,000 km²(?) 80% wurden davn fertiggestellt. Und er hatte eine Höhe von 4m (16,000 haben dort gearbeitet KZler „ 4,000 davon sind gestorben 20-30 Tote gab es am Tag“.592

Eine Antwort auf die Frage, wann sie mit dem Schreiben des Stollen-Tagebuches be- gonnen hat, lässt sich nur vermuten. Am 22. 4. 1990 schreibt sie in ihren täglichen Aufzeichnungen, dass sie einen Spaziergang mit ihrer Familie in den Stollen unternom- men hat. Eventuell ist ihr dabei die Idee gekommen, auch darüber etwas schriftlich zu hinterlassen. Ein zweites Ereignis, das ihr den Anstoß dazu geben hätte können, war die Eröffnung der Gedenkstätte Melk am 8. 5. 1992.593 Aufgrund ihres Eintrages am Ende des „Stollen-Tagebuches“ über den Fernsehbericht, sowie ihrer Einträge über den Spaziergang durch den Stollen drei Jahre zuvor und die Eröffnung der Gedenkstätte im Mai 1992 lässt sich vermuten, dass diese Ereignisse sie zum Schreiben bewegt haben. Ihre Ausführungen in diesem Selbstzeugnis sind, wie im Folgenden gezeigt werden soll, einerseits von ihren Erinnerungen und andererseits von der medialen und musea- len Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, geprägt.

4.2 Innere Quellenkritik

4.2.1 Darstellungsform im „Stollen-Tagebuch“

Frauke C. versucht nahezu 45 Jahre nach den Ereignissen im Stollen sich in ihre jun- gen Jahre zurückzuversetzen und aus dieser Vorstellung heraus ihre Erinnerungen in Form eines Tagebuchs darzustellen. Dabei springt sie allerdings immer wieder aus die- ser Erzählposition, wie z.B. auf Seite 2 ihres Berichtes, wo Frauke C. sich an ihre erste Begegnung mit KZ-Häftlingen erinnert und schreibt, dass sie diese Menschen fortan täglich sehen sollte. Beziehungsweise auf Seite 4, wenn sie auf eine späteres Ereignis vorgreift:

592 Es gab einen Beitrag über das KZ Melk in einem Inlandsreport. Dieser war jedoch am 26. 5. 1994 und dauerte 6 min 52 sec. ORF Archivsignatur: 1994F09205. 593 Bertrand Perz, Konzentrationslager Melk. Begleitbroschüre zur ständigen Ausstellung in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Melk, Wien 1992. 261

„Diesbezüglich [Anm.: Tätigkeit im Stollen] gab es mal eine Mißere,-die mir u. einem Einsteller fast zum Verhängniß ge= worden wäre,-doch näheres darüber später.“594

Das Selbstzeugnis hat also nicht die Charaktereigenschaften eines Tagebuches.595 Es ist keine Serie von Einträgen, in denen die Erzählerin immer wieder neu einsteigt. Das am häufigsten angewandte Tempus in der Erzählung ist das Präteritum. Auch werden Ereignisse, die sich in der Zukunft als signifikant herausstellten, klar herausgehoben, so zum Beispiel ihre erste kurze Begegnung mit ihrem zukünftigen Mann.596

4.2.2 Beschreibung der Zeit von 28. 11. bis 31. 12.

Da ihre Erinnerungsstütze der Taschenkalender von 1945 ist, dienten ihr zur Darstel- lung der Zeit davor entweder allein ihre Erinnerungen oder sie besaß weitere Aufzeich- nungen, die mir nicht vorliegen. Endgültig lässt sich dies nicht klären. Ein Eintrag auf Seite 16 in ihrem „Stollen-Tagebuch“ verweist auf ein Tagebuch der Zeit vor 1945. Hier heißt es: „Laut Aufzeichnung meines Tagebuchs‘ von damals, arbeiteten wir vom 29. Nov. 44 bis 31. Dez. 44 in zwei Schichten,- u. v. 1.1.45-29.März 45 in drei Schichten.“

Der Erinnerungsbericht, den Frauke C. vor 1945 in den Aufzeichnungen skizziert, ist jedoch sehr vage, die Verwendung von konkreten Daten betreffend. Sie beschreibt diesen Abschnitt597 hauptsächlich in einem allgemeinen Ton; wie sie den Arbeitsalltag im Stollen erlebt hat, die Luftqualität, die mangelhafte Beleuchtung, ihre Arbeitskolle- gInnen und vieles mehr. Das einzige Datum, das auch im Taschenkalender von 1945 festzumachen ist, ist der 10. 12. 1944. Dieser Eintrag steht auf der Seite des Januars 1945 im Bereich vor dem 1.1.: „Am 10. Dez. 44 (1. Arbeitssonntag) Pepi kennen gelernt! (schneidiger Südtiroler!)„

Von den anderen vor 1945 vermerkten Daten ist eines der 24. 12. 1944 und die ande- ren vier der 13., 14., 15. und 17. Dezember. Abgesehen vom 24. 12. sind alle inner- halb der Woche nach dem 10. 10. 1944. Meine Vermutung ist, dass sie anhand dieses für sie sicheren Datums, an dessen Begebenheit sie sich auch erinnern konnte, die Er- eignisse, die ihr als zeitnah zu diesem Tag in Erinnerung waren, in ihrem Bericht ange- hängt hat.

594 Vorgriffe wie diese gibt es auch auf Seite 11. 595 Henning, Selbstzeugnisse, 29. 596 Frauke C., Stollen-Tagebuch, 17. 597 Frauke C., Stollen-Tagebuch, 1-25. 262

Bei ihrem Eintrag vom 17. 12. schreibt sie, dass sie bis 14:00 gearbeitet hatte. Da- nach berichtet sie über ihre sonntäglichen Unternehmungen mit Freunden und dass sie mangels adretter Kleidung ihr einziges Kleid, das sie auch im Stollen trug, ordent- lich reinigen musste. Dann spricht sie über die Schuhe ihrer Mutter, wobei sie erwähnt, dass sie diese ein paar Tage zuvor bei einer Schuhumtauschstelle in Melk abgegeben hatte. Auch in ihrem Taschenkalender schreibt sie über einen Schuhumtausch in Melk, jedoch ist dieser Eintrag hier am 1. 1.: „[…] Schuhumtauschstelle Melk Wienerstraße G. Vrtseliner 207“

Frauke C. berichtet im Abschnitt vor der ersten Datumsnennung (10. 12. 1944) über einen Vorfall im Stollen, an dem sie aufgrund von Übermüdung „Eine ganze Kiste Aus- schuß […]“598 Gewinde produzierte. Diese wurde mithilfe des zuständigen Einstellers „In einem unfertigen Teil eines Stollens […] zugeschüttet“.599 Auch dieser Eintrag kor- reliert nicht mit den Notizen im Taschenkalender von 1945, hier findet sich ein Eintrag am Freitag, dem 16. 3. 1945: „[…]in d. Nachtschicht v. Freitag auf Samstag Pech (Ausschuß) […]“ und am folgenden Montag: „[…] (Pech, doch wieder alles gut Selbstvorwürfe)“

Jedoch schreibt sie im „Stollen-Tagebuch“, dass dieses Ereignis in einer Nachtschicht passiert ist und weiter unten, dass sie erst ab 8. 1. in der Nachtarbeit eingesetzt war. Im Abschnitt in dem sie über die Ereignisse um den 16. 3. schreibt, erwähnt sie diesen Vorfall jedoch nicht mehr. Entweder war es ein bewusster Vorgriff oder sie hat den Ein- trag in ihrem Taschenkalender nicht entdeckt, da das Erlebnis für sie allerdings ein sehr emotionales war, hat sie ihre Erinnerung niedergeschrieben. Auch sind es Formu- lierungen wie „Mit Wiederwillen betrat ich tgl. dieses Areal“ (S.4), „Die neue Arbeit, war eine große Umstellung […]“ (S.4), „[…]daß ich in naher Zukunft, damit konfrontiert werden würde,-“ (S.5), „Am Anfang war der Aufenthalt für mich im Stollen […]“ (S.5), „So viel ich mich erinnern kann,[…]“ (S.5), die darauf schließen lassen, dass es ihr in der Darstellung vor der ersten Datumsnen- nung eher um eine allgemeine Beschreibung ging. Auf den Seiten sieben bis acht schreibt sie im Allgemeinen über den Stollen, wie es zu dessen Bau kam, seine Funkti- on, usw. Dieser Teil des Berichts wirkt, als wäre er aus einem Fernsehbericht oder Ähnlichem entnommen. Diese Beschreibung, genauer gesagt die darin enthaltenen Eckdaten über den Stollenbau könnten eventuell auch aus dem Begleitheft der Ge- denkstätte Melk stammen.

598 Frauke C., Stollen-Tagebuch, 15. 599 Frauke C., Stollen-Tagebuch, 15. 263

Dagegen gibt es aber auch Eintragungen, die auf andere Erinnerungsstützen schließen lassen. So schreibt sie im „Stollen-Tagebuch“ am Ende des Monats Dezember ihren er- haltenen Lohn für die Zeit von „[…] 29.11.-31.12.=RM 110,67“. Diese Einträge macht sie ab Jänner auch im Taschenkalender. Ein weiterer Hinweis ist ihr Bericht über den 3. 1. im „Stollen-Tagebuch“, hier schreibt sie über eine Begegnung mit KZ-Häftlingen, die ihr auffielen, da sie durch „gutaussehende Gesichter mit menschlichem Blick u. auf- rechter Gestalt“600 für sie ungewöhnlich aussahen. Einer der Einsteller berichtete ihr, dass diese Häftlinge erst heute angekommen sind. Tatsächlich kamen an diesem Tag 518 Häftlinge in Melk an.601 In ihrem Taschenkalender findet sich im Bereich des 3. 1. kein Eintrag, da es sehr unwahrscheinlich ist, dass sie sich 45 Jahre später noch an das genaue Datum erinnern konnte, muss davon ausgegangen werden, dass sie noch über weitere Aufzeichnungen aus dieser Zeit verfügte. Vor allem angesichts ihrer Ein- nahmen- und Ausgabenrechnung und der genauen Datumsangabe des Häftlingstrans- portes ist es wahrscheinlicher, dass Frauke C. noch andere Quellen besaß. Hauptsäch- lich lässt sich jedoch sagen, dass der Taschenkalender ihr als Erinnerungsstütze diente, da die meisten Datumsangaben und konkret beschriebenen Ereignisse – sei es ein Kino-Besuch, sei es der Brand im Stollen – aus diesem Dokument stammen.

4.2.3 Feuer im Stollen

In den Morgenstunden um zirka 5 Uhr des 2. 2. entfachte im Stollen aufgrund eines Kabelbrandes ein Feuer.602 Frauke C. hatte zu dieser Zeit ihre letzte Arbeitsstunde vor Ende der Nachtschicht. Sie beschreibt im „Stollen-Tagebuch“, wie sie dieses Ereignis- ses erinnert. Ihrem Bericht nach wurde sie von einer rettenden Hand aus dem Stollen gezogen. Als Datum des Ereignisses gibt sie, wie auch im Taschenkalender den 1. 1. an. Jens C. und Herbert, der Einsteller, besuchen sie später und berichten ihr über die Ereignisse. Laut ihrem Bericht wurde bereits über den Kabelbrand gesprochen und dass es eventuell ein Sabotagefall war. Es lässt sich nicht eindeutig klären, ob sich die- se Vermutung erst durch die spätere Diskussion um diesen Vorfall so geformt hat. In ihrem Taschenkalender von 1945 schreibt sie dahingehend noch nichts. In dem Eintrag vom Montag, dem 5. 2., der Tag an dem sie die Arbeit wieder aufge- nommen hat, schreibt sie über die noch vorhandenen Zeugnisse des Vorfalls: „Im Gelände vor dem Stollen ahnt man, daß sich grauenhaftes abge- spielt haben muß.

600 Frauke C., Stollen-Tagebuch, 27. 601 Perz, Quarz, 495. 602 Perz, Quarz, 399-403; Sammlung Bertrand Perz, Institut für Zeitgeschichte Uni Wien, Archiv Steyr-Daimler-Puch AG, Ordner Steyr Verlagerungen Quarz. 264

Berge von verkohltem Kabelmaterial, angesengtes Holz, - u. Baumaterial, liegt umher. Im Innern des Stollens noch Gestank vom Kabelbrand, – verußtes Mauerwerk.“

Zusammenfassend betrachtet geht hervor, dass meine Großmutter das „Stollen-Tage- buch“ auf Grundlage ihres Taschenkalenders aufgebaut hat. Für ihre Ausführungen zu Beginn des Selbstzeugnisses hat sie auf Informationsmaterial zurückgegriffen, an das sie erst durch die mediale oder geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung des Rüs- tungsstollens gekommen ist.

5 Versuch einer Verortung der Lebenswelt meiner Großmutter – vor und während der Arbeit im Stollen

In der Darstellung meiner Großmutter tritt der Dienstantritt im Rüstungsstollen Quarz plötzlich ein. In ihrem vierteiligen Erinnerungsbericht, den sie „Kindheitserinnerungen“ nennt,603 schreibt sie, dass sie zuvor eine Lehre als Schneiderin in Neuspielberg absol- vierte, die sie laut ihren Angaben im August 1939 begonnen und 1942 abgeschlossen hat. Nachdem sie ihre Gesellenprüfung bestanden hatte, wechselte sie zuerst nach Melk, dann nach St. Pölten und schließlich wieder zurück nach Melk. Bei ihrem letzten Wechsel in eine Schneiderei nach Melk hatte sie eigentlich vor, eine Halbtragarbeits- stelle anzunehmen. In ihrem Bericht schreibt sie, dass sie deshalb in ein Büro der NSDAP Loosdorf zitiert wurde, wo ihr die dortigen Beamten wegen ihres Wunsches we- niger zu arbeiten Vorwürfe machten. In welchem zeitlichen Ausmaß sie letztendlich in Melk arbeiten musste geht aus dem Bericht nicht hervor. Das Ende ihrer Tätigkeit in diesem Betrieb war im Oktober 1944, da der Leiterin der Schneiderei durch das Ar- beitsamt mitgeteilt wurde, dass insgesamt drei ihrer MitarbeiterInnen, darunter meine Großmutter, zur Arbeit im Rüstungsstollen verpflichtet werden würden. Drei andere Mitarbeiterinnen hatten noch das „Arbeitsdienstjahr“ abzulegen.604 Mit diesem Arbeits- dienstjahr meint meine Großmutter sehr wahrscheinlich den Reichsarbeitsdienst. Sie erwähnt jedoch nicht, ob und wann sie selbst diesen abgeleistet hätte, bzw., ob die Verpflichtung im Rüstungsbetrieb Quarz zu arbeiten mit diesem Dienst in Verbindung stand. Dies ist jedoch nicht auszuschließen, da die rechtliche Lage über die Rekrutierung und Verpflichtung von „Arbeitsmaiden“ zum RAD, Frauen in ihrem Alter betraf. Im Folgen- den soll die rechtliche Situation des RAD beleuchtet werden sowie dessen Anwendung.

603 Im Familienarchiv meiner Tante, in Kopie bei mir. 604 Frauke C., Kindheitserinnerungen 3. Buch 77. 265

Damit versuche ich zu beantworten, weshalb meine Großmutter anscheinend kein obli- gatorisches halbes Jahr RAD leisten musste bzw. ob sie gleich zum Kriegshilfsdienst (KHD) eingezogen wurde, oder ob ihre Abberufung eine Maßnahme des totalen Krie- ges war. Des weiteren möchte ich versuchen, den Handlungsspielraum meiner Großmutter ein- zugrenzen und anhand des Erinnerungsberichtes mich der Frage ihrer subjektiven Ver- antwortung anzunähern.605

5.1 Reichsarbeitsdienst

Der Reichsarbeitsdienst wurde in Österreich am 1. 10. 1938 eingeführt.606 Für die so- genannten „Arbeitsmaiden“ wurde der Reichsarbeitsdienst der weiblichen Jugend (RADwJ) aufgebaut, dieser wurde von Maria Lechner-Burgstaller und Lotte Eberbach geleitet.607 Der RAD wurde von der NSDAP als „Erziehungsschule“ gesehen, in der die deutsche Jugend im Geiste des Nationalsozialismus geformt werden sollte.608 Mit Aus- bruch des Krieges wurde am 4. 9. 1939 die RAD-Pflicht eingeführt.609 Dass meine Großmutter hier nicht herangezogen wurde, hängt mit ihrer Schneiderinnen lehre zu- sammen, die sie einen Monat vor Kriegsausbruch begonnen hatte. Im § 2 des Reichs- gesetzblattes (RGBl.) heißt es, dass „ledige Mädchen im Alter von 17 bis 25 Jahren, die nicht voll berufstätig sind, nicht in beruflicher oder schulischer Ausbildung stehen […] zur Erfüllung der Reichsarbeitsdienstpflicht heranzuziehen“ sind.

Sie ist also nur knapp der Vereinnahmung im Zuge des RAD durch die NSDAP entgan- gen, da sie zum Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses bereits 17 Jahre alt und somit in einem (im ideologischen Sinne) noch durchaus formbaren Alter war. Hätte sie sich zum RAD melden müssen, wäre sie in eines der Lager gekommen, wo sie sich fern von ihrer Familie ein halbes Jahr lang zusammen mit ihr unbekannten jungen Frauen, un- ter Verlust ihrer Individualität, hätte völlig unterordnen müssen. In Interviews, die mit ehemaligen „Arbeitsmaiden“ geführt wurden, wird diese Zeit im Großen und Ganzen als ein freiwilliger Zusammenschluss von Gleichgesinnten gese- hen.610 Die Infiltration mit nationalsozialistischer Propaganda und die Tatsache, dass es sich um einen Zwangsdienst handelte, wurden auch rückblickend von den ZeitzeugIn- nen oft nicht erkannt. Im Jahre 1941 wollte man die Zahl der „Arbeitsmaiden“ bis Ok- tober auf 130.000 erhöhen, eine weitere Erhöhung auf 150.000 sollte vom Reichsar-

605 Kathrin Kompisch, Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus, Köln/Weimar/Wien 2008, 7-18. 606 RGBl. I, 400. 607 Sieglinde Trybek, Der Reichsarbeitsdienst in Österreich 1938-1945, phil. Diss., Wien 1992, 41. 608 Trybek, Der Reichsarbeitsdienst, 132. 609 RGBl. I, 1693. 610 Trybek, Der Reichsarbeitsdienst, 149. 266 beitsführer vorbereitet werden.611 Erstmals wurde die Anzahl an jungen Frauen im RAD 1938 von 30.000 auf 50.000 erhöht und 1939 nach Beginn des Krieges auf 100.000.612 Zusätzlich wurde der RAD um ein halbes Jahr verlängert, alle, die das erste halbe Jahr abgeleistet hatten, mussten danach den KHD ableisten. Dieser beschränkte den mögli- chen Einsatzort der jungen Frauen nicht mehr auf ein Frauenlager des RAD, sondern wurde auf das gesamte „Großdeutsche Reich“ ausgedehnt. Meldepflichtige Frauen wurden zum Hilfsdienst im Bürobetrieb bei Dienststellen der Wehrmacht, bei Behör- den, in Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen sowie bei hilfsbedürftigen, insbe- sondere kinderreichen Familien herangezogen. In erster Linie ging es den Entschei- dungsträgern des Regimes bei der Inauguration des KHD darum, möglichst viele männliche Kräfte für die Front freizumachen. Diese sollten durch „Arbeitsmaiden“ er- setzt werden.613 Da meine Großmutter zu dieser Zeit noch mitten in ihrer Lehrzeit war, betraf sie diese Maßnahme nicht. Auch standen bei dieser Ausweitung des Tätigkeitsf- eldes für die RAD leistenden Frauen, Einsätze in Rüstungsbetrieben noch nicht im Vor- dergrund. Dies stellte sich im Verlaufe des Krieges als arbeitsmarktpolitische Fehlent- scheidung heraus, da ein solcher Einsatz aufgrund von geringerer Einarbeitungszeit für ungelernte Arbeitskräfte viel zweckmäßiger gewesen wäre, als der Einsatz von fach- fremden Personen im Bürobetrieb von Wehrmacht und Behörden. Diese Situation än- derte sich nach dem Winter 1941/1942, durch das Scheitern des Blitzkrieges und dem Ausbleiben der rückkehrenden Soldaten, die bis zu ihrem nächsten Einsatz in die Kriegsindustrie eingegliedert hätten werden sollen, kam es zu einem Arbeitskräfteeng- pass in der Rüstungsindustrie.614 Eine erneute arbeitsmarktpolitische Maßnahme im Jänner 1943 sollte jedoch auch auf meine Großmutter Einfluss haben. Am 27. 1. 1943 verabschiedete der Generalbevoll- mächtigte für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, die „Verordnung über die Meldung von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung“.615 Folglich waren alle im Reichsgebiet wohnenden Frauen zwischen dem vollendeten 17. und dem vollendeten 45. Lebensjahr bei Androhung von Strafmaßnahmen angehalten, sich bei dem für sie zuständigen Arbeitsamt zu melden. Befreit von dieser Meldung waren neben anderen Ausnahmen auch Frauen, die mindestens seit dem 1. 1. 1943 in einem Beschäfti- gungsverhältnis standen und deren Arbeitszeit 48 Stunden oder mehr in der Woche betrug. Wie bereits erwähnt, hatte sich meine Großmutter bei ihrem letzten Arbeits- platzwechsel vor ihrer Arbeit im Rüstungsstollen für eine Halbtagsarbeit beworben. In ihren Aufzeichnungen, die sie Kindheitserinnerungen genannt hat, schildert sie dies

611 RGBl. I, 464. 612 Trybek, Der Reichsarbeitsdienst, 212. 613 Trybek, Der Reichsarbeitsdienst, 210. 614 Trybek, Der Reichsarbeitsdienst, 241. 615 RGBl. I, 67f. 267 wie folgt so: „Vortsetzung meiner Arbeit von St.Pölten nach Melk. Durch Zufall erfuhr ich, daß die Damenschneiderin Fr. Ferlé in Melk auch Halbtags-Beschäftigung vergab,- das war gerade das richtige, für mich,-so konnte ich Großmutter daheim mehr unter= stützen als bis jetzt her. Doch die damalige Loosd. NSDAP fand es nicht richtig + forderte mich auf, am Posten zu erscheinen.- Ich wurde barsch, weiß Gott was alles gefragt, - + behandelt wie eine Verräterin, weil ich zeitgemäß dem Arbeitspensum nicht entsprach – und mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß jeder einzelne mit äußester Kraft seinen Teil zum Sieg für Führer+Vaterland beizutragen hatte.- Und das von einem Bekannten, der vor die- sem Regime nett + freundlich war.-“616

Den genauen Zeitpunkt dieses Arbeitsplatzwechsels gibt sie in ihrem Erinnerungsbe- richt nicht an, jedoch ist aufgrund der Meldepflichtverordnung von 1943 anzunehmen, dass dies nach dem 27. 1. 1943 war. Der Anlassgrund für die Vorladung in die örtliche NSDAP-Dienststelle von Loosdorf wird wegen einer Meldung des Arbeitsamtes gewe- sen sein, da sie sich für eine Halbtagsarbeit beworben hatte, welche sie zu dieser Zeit aufgrund ihres Alters nicht hätte ausführen dürfen. Nachdem sie aber letztendlich trotzdem in der Schneiderei Ferle zu arbeiten begann, ist entweder anzunehmen, dass sie sich Vollzeit anstellen hat lassen oder dass sie zwar als einsetzbar beurteilt wurde, jedoch aus bestimmten Gründen vorerst nicht eingeteilt wurde. Nach einer Aufstellung über gemeldete Frauen, die sich bis zum 31. 3. 1943 bei den Arbeitsämtern in Nieder- donau gemeldet hatten, geht hervor, dass von insgesamt 31.386 als einsetzbar gel- tenden Frauen (von insgesamt 96.298 gemeldeten) tatsächlich nur 25.628 zum RAD eingesetzt wurden.617 Es kann also durchaus sein, dass von der Möglichkeit, meine Großmutter in einem Arbeitslager einzusetzen, abgesehen wurde. Nachdem am 25. 7. 1944 der Erlass über den „totalen Kriegseinsatz“ herausgegeben wurde, sollte „das gesamte Leben den Erfordernissen der totalen Kriegsführung in jeder Beziehung“ an- gepasst werden.618 Mit einer weiteren Verordnung über die Meldung von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung waren die Arbeitsämter von nun an ange- wiesen, zweimal jährlich zur Meldung aufzurufen.619 Im Spätsommer 1944 wurde mit weiteren „Umschichtungen“ versucht, genügend Arbeitskräfte für den Einsatz in kriegswichtigen Betrieben zu akquirieren. Im Zuge dieser Maßnahmen wurden im Sep- tember 1944 die Arbeitsämter dazu angehalten hauswirtschaftliche Kräfte planmäßig

616 Frauke C., Kindheitserinnerungen 3. Buch, 66. 617 Karin Berger, Zwischen Eintopf und Fließband. Frauenarbeit und Frauenbild im Faschismus Österreich 1938-1945, Wien 1984, 85. 618 RGBl. I, 161. 619 RGBl. I, 133. 268 zu erfassen.620 Die „Umschichtung“ meiner Großmutter von ihrer Arbeit in Melk in den Rüstungsstollen fällt ebenfalls in diese Zeit. Obwohl sie keiner hauswirtschaftlichen Tä- tigkeit nachging, ist zu vermuten, dass das Arbeitsamt auch angehalten wurde, Frau- en, die nicht kriegsnotwendige Arbeiten leisteten, zu rekrutieren. Für die Arbeitgeberin sollte dies zur Folge haben, dass sie insgesamt sechs MitarbeiterInnen abgeben muss- te.

5.2 Meine Großmutter, eine Täterin?

Dies ist für mich persönlich das schwierigste Kapitel der Arbeit. Auch wenn es vorder- gründig keinen Grund zur Annahme gibt, dass meine Großmutter mit der Ideologie des Regimes im „Dritten Reich“ sympathisierte, so ist es meiner Ansicht nach dennoch notwendig, sie auf der Grundlage ihres Handlungsraumes im Sinne des Opfer-, Täter- begriffs zu verorten.621 Wie bereits erwähnt stammte meine Großmutter aus sozioöko- nomischer Sicht aus einer kleinbürgerlichen Familie. Zunächst möchte ich jedoch den Terminus Täterin gegenüber Mittäterinnen und Mit- läuferinnen abgrenzen.622 Täterin, als Begriff in einem juristischen Verständnis, wäre nur dann gerechtfertigt anzuwenden, wenn die Person eine strafrechtliche Handlung begangen hätte. Jedoch ist damit der Geschichtswissenschaft wenig geholfen, da in vielen Fällen bei Frauen die juristische Verantwortung noch nicht einmal geklärt wor- den ist. Die meisten Verbrechen von NS-Täterinnen sind heute ohnehin verjährt. Zu- dem wären aus heutiger Sicht viele Handlungen von Frauen und Männern im „Dritten Reich“ strafbar, auch jene, die nicht unmittelbar das Leben anderer bedrohen - zum Beispiel kann das Wegsehen bei Gewalt am Arbeitsplatz als unterlassene Hilfeleistung gelten. Als Mitläuferinnen werden Frauen bezeichnet, die die nationalsozialistische Ideologie teilweise akzeptierten und in ihrem Handeln umsetzten. Diesen Frauen wird eine gewisse Kenntnis der NS-Verbrechen zugesprochen, doch müssen sie dabei nicht zwangsläufig in diese involviert gewesen sein. Dazu muss die Frage gestellt werden, was diese Kategorie der Mitläuferinnen von den sogenannten kleinen „Rädchen“ in die- sem System abgrenzt, die genauso das Regime aufrechterhalten haben. Genauer ge- sagt stellt sich die Frage, ob alleine des Motivs wegen regimetreueren Frauen in Rüs-

620 Berger, Zwischen Eintopf und Fließband, 97. 621 Werner Goldschmidt/Bettina Lösch/Jörg Reitzig (Hg.), Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Beiträge zur Dialektik der Demokratie (Philosophie und Geschichte der Wissenschaften 68), Frankfurt/Main-Berlin-Bern-Bruxelles-New York- Oxford-Wien 2009, 249-262; Kathrin Kompisch, Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus, Köln-Weimar-Wien 2008, 7-18; Gisela Bock, Ganz normale Frauen. Täter, Opfer, Mitläufer und Zuschauer im Nationalsozialismus, in: Kirsten Heinsohn/Barbara Vogel/Ulrike Weckel (Hg.), Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland (Geschichte und Geschlechter 20), Frankfurt/Main-New York 1997, 245-277; Gabriella Hauch (Hg.), Frauen im Oberdonau. Geschlechtsspezifische Bruchlinien im Nationalsozialismus, Linz 2006; Ingrid Bauer, Eine Freuen- und Geschlechtergeschichtliche Perspektivierung des Nationalsozialismus, in: Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.)/Emmerich Tálos, NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 409-443. 622 Kathrin Kompisch, Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus, Köln-Weimar-Wien 2008, 15. 269 tungsbetrieben mehr Verantwortung zuzuschreiben ist als Frauen, die genauso freiwillig diese Tätigkeit ausgeführt haben, jedoch keine nationalsozialistischen Ambi- tionen hatten. In Bezug auf den Rüstungsstollen und die Verantwortung stellt sich zu- sätzlich die Frage nach den „Systemerhalterinnen“, die, wie meine Großmutter, an- scheinend nach den getroffenen arbeitspolitischen Maßnahmen während des totalen Krieges aus ihren Berufen abgezogen wurden und möglicherweise ihren Arbeitsplatz und die Tätigkeit mit den oben beschriebenen Mitläuferinnen geteilt haben. Auch der Terminus Mittäterin ist wenig befriedigend, da er Frauen in einer patriarchalen Gesell- schaft subsumiert. Dies läuft insofern ins Leere, da es Frauen nicht nur eine aktive Rolle bei Verbrechen, sondern ihnen genauso jegliche Zivilcourage abspricht. Alle diese Begriffe sind also nur eingeschränkt sinnvoll, wenn es darum geht Erkenntnisse über die Rolle von Frauen im Allgemeinen und der Rolle meiner Großmutter im Besonderen zu gewinnen. Sofern dies aus ihren Darstellung herauszulesen ist, wurde sie bis zum Eintritt in den Rüstungsstollen nur peripher mit dem NS-Regime konfrontiert. Andeutungen dazu fin- den sich in der Familiengeschichte.623 Während ihrer Gesellenprüfung, die sie 1942 hatte, schreibt sie etwa, dass sie in der Prüfungssituation gefragt wurde, wann der „Führer“ geboren wurde. Beispiele wie diese finden sich immer wieder in ihren Darstel- lungen und deuten auf Fragen hin, die sie sich selbst stellte. Es scheint ein Erwägen zu sein, ob sie Schuld an den NS-Verbrechen hatte, deren sie Zeugin geworden war. Ob sie den „Führer“ faszinierend fand, genauer gesagt, ob sie selbst gar eine „Nazine“ 624 gewesen war. Indem sie sich distanziert, versucht sie Unterstellungen, die es meines Wissens gegenüber meiner Großmutter nie gegeben hat, präventiv auszuräumen. Hier tritt ein Tradierungstypus auf, der nach Harald Welzer als der Typ der Distanzierung bezeichnet wird.625

6 Schluss

Es konnte gezeigt werden, dass durch die quellenkritische Betrachtung der Selbst- zeugnisse ein differenzierterer Blick auf die Entstehung ihres „Stollen-Tagebuchs“ her- ausgearbeitet werden kann. In ihren Schreibprozess sind nicht ausschließlich Erinne- rungen und ihre zeitnahen Notizen eingeflossen, es spiegeln sich auch die medial ge- führten Debatten Anfang der 1990er Jahre, sehr wahrscheinlich auch die Eröffnung

623 Frauke C., Kindheitserinnerungen 2. Buch, 166. 624 Diese feminine Form entnehme ich aus dem Roman von Hermynia Zur Mühlen, Unsere Töchter, die Nazinen, Wien 1935. 625 Robert Montau/Christine Plaß/Harald Welzer, „Was wir für böse Menschen sind!“. Der Nationalsozialismus im Gespräch zwischen den Generationen (Studien zum Nationalsozialismus in der edition diskord 1), Tübingen 1997, 172- 185. 270 der Gedenkstätte Melk, sowie die familiäre Auseinandersetzung in ihrem Bericht als Einflussfaktoren für das Selbstzeugnis wieder. Ergänzend zu dem Forschungsstand über den Arbeitsalltag im Rüstungsstollen war es anhand ihrer Notizen im Taschenkalender möglich, Aussagen über die Arbeitszeiteinteilung zu treffen. Zusätzlich konnte ich durch Vergleiche der Morphologie ihres Schriftbildes zeitnahe und nachträgliche Eintragungen in ihren Notizen von 1945 herausarbeiten. Durch diese wiederum, konnte ich Aussagen über Erinnerungs- und Entstehungsprozess treffen. Zur Frage ob sie freiwillig den Dienst angetreten hat konnte ich keine endgültige Aus- sage treffen. Jedoch scheint es angesichts des Führererlasses über den totalen Krieg vom 25. 7. 1944 sehr wahrscheinlich.626 In Anbetracht dessen konnte ich meine Aus- gangsthese verwerfen, dass meine Großmutter diese Arbeit im Zuge des RAD oder des KHD abgeleistet hatte. Durch die Auseinandersetzung mit ihrer Rolle als Frau in der Rüstungsproduktion und der Opfer/Täterin-Debatte, haben die Erkenntnisse eher offe- ne Fragen als Antworten gebracht. Es war für mich eine persönliche Gratwanderung, einerseits sachlich zu bleiben, die notwendige wissenschaftliche Distanz zum Thema zu wahren und andererseits, angesichts der Forschungsdebatten über Täterinnen, meine Großmutter nicht in eine solche Kategorie zwängen zu müssen. Dennoch bin ich mit dem Ergebnis zufrieden. Zusammengefasst hoffe ich mit der vorliegenden Arbeit mei- ner Familie und meinem akademischen Weg gedient zu haben.

626 RGBl. I, 161. 271

7 Quellen

• Frauke C., Kindheitserinnerungen in vier Büchern. • Frauke C., Stollen-Tagebuch. • Frauke C., Tägliche Aufzeichnungen zwischen 1966 und 1994. • Reichsgesetzblätter zwischen 1939 und 1944. • Sammlung Bertrand Perz, Institut für Zeitgeschichte Uni Wien, Archiv Steyr- Daimler-Puch AG, Ordner Steyr Verlagerungen Quarz. • Taschenkalender von 1945 mit Notizen von Frauke C. • Versicherungszeitenauszug der oberösterreichische Gebietskrankenkasse von Frauke C. • Wehrpass von Frederik C.

8 Abbildungen

• Abbildung 1: Stollenanlage Roggendorf/Loosdorf. Nach einer Vermessung im Jahre 1983. 272 273

Andreas Lampl

Vom „Täter“ zum „Helden“ und zurück

Die Ambivalenz eines Menschenbildes in der Familienerinnerung 274

Inhalt

1 Einleitung 275 2 Methoden 277 2.1 Oral History 277 2.2 Schriftliche Quellen 279 3 Der Hof und die Familie 280 3.1 Die Frauen der Familie 282 4 NSDAP-Mitgliedschaften 283 5 Karl und die Chronik 287 6 Leopolds Karriere, Anklagen und Prozesse 290 7 Der Mythos 296 8 Die NS- und Nachkriegszeit im Gedächtnis der Familie 299 9 Quellen 305 10 Abbildungen 305 275

1 Einleitung

In jeder Familie gibt es Geschichten, die über die Jahre immer wieder erzählt werden. Vor allem werden diese Geschichten meist so erzählt, als würden sie erstmalig zur Sprache kommen. Oft handelt es sich dabei um amüsante Anekdoten oder manchmal auch um tragische Begebenheiten, die Personen aus dem familiären Umfeld widerfah- ren sein sollen. Peinliches, Unangenehmes oder gar Verwerfliches wird meist ausge- spart, kommt bestenfalls auf Nachfragen zur Sprache und wird nur im allernötigsten Umfang beantwortet. So gibt es auch in meiner Familie einige Klassiker, die ich schon seit frühester Kindheit immer wieder erzählt bekommen habe und die dadurch auch Teil meiner Geschichte und meines Blickes auf die Vergangenheit meiner Verwandtschaft geworden sind. Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich mir einen Überblick über meine Familie väterli- cherseits verschaffen, mit Fokus auf meinen Großonkel Leopold Lampl, sein Leben zur Zeit des Nationalsozialismus, sowie sein Verhältnis zu meinem Familienzweig. Als Orts- gruppenleiter von Sankt Florian wurde er nach Kriegsende automatisch in Haft genom- men und in der Folge auch am Volksgericht Linz angeklagt.627 Diesbezüglich stehen mir als Quellen die Akten der Verhandlungen am Landesgericht Linz, sowie Interviews, die ich mit einer Reihe meiner Onkel und Tanten geführt habe, zur Verfügung. Vor allem wenn es um die Zeit des Nationalsozialismus geht, darf nicht vergessen wer- den, dass die Menschen, die für diese Arbeit über die „TäterInnengeneration“ befragt wurden, damals selbst noch Kinder waren. Dadurch kann sich eine verklärte Sicht auf die Taten des Onkels ergeben, beziehungsweise gab es Leopold unter Umständen auch die Möglichkeit das Bild zurechtzurücken, sodass in Erzählungen über ihn vielleicht das Eine oder Andere ausgespart wird.628 Gestoßen bin ich auf seine Geschichte aufgrund einer Begebenheit aus der unmittelba- ren Nachkriegszeit, die in meiner Familie schon seit dem ich mich erinnern kann kur- siert. Mein Onkel Franz, dem von mehreren Seiten ausgezeichnete Musikalität attes- tiert wurde, wollte nach Kriegsende bei den Florianer Sängerknaben eintreten. Er wur- de 1934 geboren und war somit etwa 11 Jahre alt, als er sich im Stift St. Florian dafür bewarb. Die Aufnahme wurde ihm jedoch verwehrt, was für den kleinen Buben damals ein herber Rückschlag war. In der Familie wird die Ablehnung von Onkel Franz bei den Sängerknaben bis zum heutigen Tag wie folgt dargestellt: „Der Name Lampl genügt uns“ bzw. „Den Namen Lampl brauchen wir im Stift nicht mehr“, soll ihm gesagt wor- den sein. Natürlich war dies nicht die offizielle Begründung derer, die die Leistung mei-

627 Verbotsgesetz 1947, §11. 628 Harald Welzer, "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002, 50-56. 276 nes Onkels beim Vorsingen zu beurteilen hatten, sondern seine bzw. meines Groß- vaters Interpretation, warum Franz trotz seiner tadellosen Leistung nicht bei den Sän- gerknaben aufgenommen wurde. Auch Franz selber hat erst später die Zusammen- hänge verstanden, die hier vielleicht mitgewirkt haben und seinen Eintritt in St. Florian verhinderten.629 Jedenfalls wurde die Geschichte innerhalb der Familie immer so er- zählt, als wäre sein Nachname der einzige Grund für das Scheitern von Franz gewe- sen. Dadurch zeigte sich für mich, dass innerfamiliär anscheinend ein starkes Bewusstsein für die Rolle meines Großonkels in der Zeit vor 1945 vorhanden war und ist. Somit be- schloss ich, ein bisschen genauer nachzufragen und mehr über meinen Großonkel her- auszufinden. Denn neben dieser eher negativ behafteten Erzählung zu seiner Person tauchte auch eine Geschichte auf, die ihn als den „Retter“ von St. Florian darstellt. Ihm alleine sei es zu verdanken gewesen, dass Markt und Stift St. Florian nicht von den anrückenden amerikanischen Truppen beschossen und zerstört wurden.630 Sollte dies eine Selbstdarstellung meines Großonkels sein oder wurde ihm diese Retter-Rolle von anderen zugeschrieben? Fakt ist: Leopold war während des gesamten Krieges in St. Florian, somit eine Person, die auch noch in den letzten Kriegstagen sicherlich eine gewisse Rolle gespielt hat. Sollte diese Geschichte wirklich stimmen, kann aber aus meiner Sicht nichtsdestotrotz nicht von Rettung gesprochen werden, sondern maximal von Schadensbegrenzung. Daraus ergeben sich für mich einige Fragen, die im Rahmen dieser Arbeit beantwortet werden sollen. Erstens: Als das zweifellos am tiefsten in die Machenschaften der NS- Diktatur verstrickte Familienmitglied, drängt sich zu seiner Person die Frage „Hat er es gewusst?“ förmlich auf. Die Rede ist natürlich vom industriellen Massenmord, den die Nazis an Millionen unschuldiger Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, Homosexueller, körperlich und geistig Beeinträchtigter sowie vielen politisch verfolgten Personen be- gangen haben. Auch die räumliche Nähe zu den Konzentrationslagern Gusen und Mauthausen (weniger als 20 km entfernt) sind mögliche Indizien für eine eventuelle Mitwisserschaft. Zweitens: Eine weitere Frage, die in Bezug auf meinen Familienzweig zu klären sein wird, ist die der Beeinflussung, die von Leopold ausgegangen sein könnte, und inwie- weit er eine gewisse „Vordenkerrolle“ in der Großfamilie innehatte. Dagegen sprechen würde, dass beispielsweise mein Großvater kein Mitglied der NSDAP war, und ich auch sonst keinen definitiv „braunen“ Einschlag in meinem Familienzweig finden konnte. Drittens: Was allen Familienmitgliedern gemeinsam ist, ist ein tiefer Katholizismus,

629 Interview mit August Lampl vom 21. 11. 2012, 1:38:00 bis 1:41:20. Bänder beim Autor. 630 VGA Vg 11 Vr 3644/46. 277 der, wie aus der Literatur bekannt, durchaus einen Grund für die Verweigerung der NS-Ideologie darstellen könnte. Verhinderte dieser Umstand womöglich eine engere Annäherung an die Nazis? Diese Frage könnte natürlich eine Antwort auf Frage zwei implizieren, wobei man hier jedoch keinesfalls von einem „Entweder-oder“-Prinzip aus- gehen darf. Wie so oft, kann die Wahrheit auch irgendwo dazwischen liegen.

2 Methoden

2.1 Oral History

Mündliche Weitergabe von Familiengeschichte ist vor allem in sozial schwächeren Mi- lieus in Ermangelung schriftlicher Aufzeichnungen oft die einzige Möglichkeit, um ein Bild der Alltagsgeschichte der Menschen zu rekonstruieren. Die erste Phase der Inter- views wurde von mir so angelegt, dass ich nach der ersten Kindheitserinnerung ge- fragt habe und mir dabei erhoffte, eventuell schon Erzählungen über Ereignisse zu sto- ßen, die sich in irgendeiner Weise in den Kontext der NS- bzw. Nachkriegszeit stellen lassen und somit Anknüpfungspunkte bieten könnten. Im Fall meiner Familie und der von mir ausgewählten InterviewpartnerInnen, war es für alle Beteiligten, inklusive meiner Person, eine Premiere, im Kontext einer wissenschaftlichen Aufarbeitung von Themen aus dem familiären Umfeld, miteinander zu sprechen und diese Gespräche auch mit dem Diktiergerät aufzuzeichnen. Mir bereitete es im Gespräch einige Schwie- rigkeiten, die Erzählungen, die ich schon seit vielen Jahren kannte, mit den Informa- tionen, die ich durch meine Recherche in Archiven und der Literatur schon gesammelt hatte, nicht zu vermischen. Im Fall von Leopold fiel mir auf, dass ich durch die Einsicht in seinen Gerichtsakt über viele Informationen verfügte, die im Gedächtnis meiner In- terviewpartnerInnen nicht vorhanden bzw. noch nie gehört worden waren. Obwohl ich als Teil dieser Familie bereits über einen sehr guten Informationsstand verfügte, blieb es nicht aus, öfter nachfragen zu müssen. Vor allem bei Unsicherheiten, bedingt durch die Namensgleichheiten über die Generationen, ob von einem meiner Onkel oder Großonkel die Rede war. Aber auch wenn es um Personen ging, die ich weder selbst gekannt noch von ihnen gehört hatte, oder um Orte, die es heute in dieser Form oder unter den genannten Namen nicht mehr gibt, stand ich vor der Herausforderung, dies in meine Recherche richtig einzuordnen. Diese „asymmetrische Relation“631, mit mei- ner Person als dem Unwissenden, kehrte sich aber ganz schnell um, wenn ich zu viel an Information aus meinen Nachforschungen preisgab. Dies wirkte sich teilweise sehr

631 Herwart Vorländer, Mündliches Erfragen von Geschichte, in: Herwart Vorländer (Hg.), Oral History. Mündlich erfragte Geschichte, Göttingen 1990, 17-18. 278 einschüchternd auf die InterviewpartnerInnen aus, worauf ich versuchte, solche Situa- tionen weitgehend zu vermeiden.Die ersten Gespräche waren deshalb ohnehin als nar- rative, lebensgeschichtliche Interviews angelegt, erst im letzten Drittel versuchte ich durch gezieltes Nachfragen, Zusätzliches zu erfahren, beziehungsweise an Stellen zu- rückzukehren, bei denen ich das Gefühl hatte, es sei noch nicht alles erzählt worden. Eine weitere Herausforderung bei der Analyse der Erzählungen ist die Verschmelzung der persönlichen Erinnerungen mit einem „kollektiven Gedächtnis“, wie Maurice Halb- wachs es nennt.632 Dieses lässt sich aber, nach Jan und Alaida Assmann, noch um die Kategorien des kulturellen und des kommunikativen Gedächtnisses erweitern, was in Abhängigkeit des Erzählten, vor allem im Fall meiner Familie, eine weitere Ausdifferen- zierung in Subgruppen erforderlich macht. Während das kommunikative Gedächtnis, welches auf direkte Kommunikation der Menschen innerhalb einer Gruppe angewiesen ist und, aufgrund der Notwendigkeit sich selbst erinnernder Personen, auf einen Zeit- raum von ca. 80 Jahren zu begrenzen ist, wirkt das kulturelle wesentlich länger. 633 Es speist sich aus den Informationen, die durch Medien, Bildung, Religion usw. aufge- nommen werden und sich als Teil des gemeinsamen Selbstverständnisses manifestie- ren. Erinnerung ist kein Abspulen der immer gleichen Informationen, sondern eine Re- konstruktion der Erlebnisse in Abhängigkeit der Art und Weise, wie etwas wahrgenom- men wurde, welche zusätzlichen Informationen und Einflüsse den eigenen Horizont in der Zwischenzeit zu diesem Thema erweitert haben und in welcher Situation das Ge- fragte erinnert wird. So werden Teile der Gegenwart in die Rekonstruktion der Vergan- genheit mit eingeschlossen.634 Auch der Gemütszustand in dem sich die befragte Per- son im Augenblick des Erinnerns befindet, spielt dabei eine große Rolle. Diese Kombi- nation aus individuellem und kollektivem Gedächtnis zeigt sich deutlich an folgendem Beispiel aus einem Interview: Ein Bericht über KZ-Häftlinge, die zum Wiederaufbau des durch Bombentreffer zerstörten Nachbarhauses herangezogen wurden, wird um folgenden Nachsatz erweitert: „die KZ’ler san gstorben und de håms hoid wo, wieder wo eini und zugscherrt.“635 Auf meine Rückfrage, ob dies auch selbst beobachtet wur- de, bekam ich die Antwort: Nein, aber das habe man ja im Nachhinein erfahren. Hier wird selbst Erlebtes mit im Nachhinein Gehörtem verschmolzen, was auf eine spätere Auseinandersetzung mit dem Thema, bewusst oder unbewusst, hinweisen könnte. Werden zum gleichen Sachverhalt mit verschiedenen Personen Interviews geführt, ist schnell festzustellen, dass Erinnerung natürlich etwas sehr Subjektives ist. Kann das Interview daher als Quelle fungieren? Die gleichen Geschichten werden mit unter-

632 Daniel Bertaux/Isabelle Bertaux-Wiame, Autobiographische Erinnerung und kollektives Gedächtnis, in: Lutz Niethammer (Hg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis, Frankfurt am Main 1985, 152-155. 633 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, 50. 634 Bertaux/Bertaux-Wiame, Autobiographische Erinnerung, 152-155. 635 Interview mit Johanna Matscheko, vom 29. 1. 2013, 00:38:10-00:40:30, Bänder beim Autor. 279 schiedlichen Protagonisten erzählt, sind zeitlich und regional anderswo verortet. Doch nicht nur die historischen Fakten können stark divergieren, auch die Gefühlsebene spielt dabei eine wichtige Rolle. Während zum Beispiel der Besuch russischer Be- satzungssoldaten bei den meisten Familienmitgliedern Angst und Unsicherheit auslös- te, erinnerte sich meine Tante Sigrid, damals sieben Jahre alt, mit Freude daran zu- rück, weil sie von einem der Soldaten ein kleines Geschenk bekam. Doch das Grund- gerüst der Erzählungen ist im Fall meiner InterviewpartnerInnen weitgehend ident. Also liegt es an mir „formale, sprachliche, sachliche und ideologische Kritik“ 636 zu üben, um das Chaos zu entwirren und die Informationen sinnvoll verwerten zu kön- nen.

2.2 Schriftliche Quellen

Zusätzlich zu den Interviews mit den Geschwistern meines Vaters, stand mir auch noch eine Reihe von schriftlichen Quellen zu Verfügung, die einer ausführlichen quali- tativen Analyse zu unterziehen waren. Über meinen Großonkel Leopold gibt es jede Menge Dokumente aus den Volksgerichtsakten, die neben den Anklageschriften auch ZeugInnenaussagen und Stellungnahmen beinhalten, die es ermöglichen, seine NS- Karriere nachzuvollziehen. Ich konnte auch auf Chroniken aus St. Florian zurückgrei- fen. Sein Verhältnis zu meinem Familienzweig lässt sich aber anhand dieser Unterla- gen nicht ausreichend rekonstruieren und auch seine private Gesinnung nach dem Krieg lässt sich nur vermuten. Ein weiteres schriftliches Dokument, das einzige, das aus der Familie stammt, ist die Chronik, die mein Großonkel Karl zwischen 1958 und 1962 geschrieben hat. Ein Manuskript, das einer sehr genauen Prüfung zu unterziehen war, und mehr über den Verfasser selbst, als über die Personen, die er beschreibt, aussagt. In punkto Quellenkritik waren für dieses Dokument genau dieselben Maßstä- be anzusetzen wie für die Interviews. Denn auch die Chronik wurde etwa 15 Jahre nach den für diese Arbeit relevanten Ereignissen angefertigt und somit ebenfalls aus Karls Gedächtnis rekonstruiert. Für drei der vier Brüder der Großelterngeneration standen auch NSDAP-Mitgliedskarten zur Verfügung. Zur Zitation ist zu sagen, dass die Gerichtsakten zu Leopold alle in den Schachteln 94 und 567 des Bestandes „Akten der Sondergerichte in Linz“ des Oberösterreichischen Landesarchivs zu finden waren. In den Fußnoten habe ich die Aktennummer, die auf dem jeweiligen Dokument angegeben waren, verwendet. Ich habe alle relevanten Do- kumente, in der Reihenfolge wie sie bei meiner Einsichtnahme in der Mappe vorzufin- den waren, fotografiert. Dabei entstanden 172 Fotos mit den Dateinamen

636 Vorländer, Mündliches Erfragen von Geschichte, 15. 280

P1000110.jpg bis P1000300.jpg, die Differenz ergibt sich aus gelöschten oder doppel- ten Bildern. Die Zahl am Ende der Fußnote stellt die letzten 3 Ziffern des Dateinamens dar, wie die Bilder bei mir archiviert sind. Bei den Fußnoten der Interviews ist zusätz- lich Start- und Endzeit des Abschnitts der Aufzeichnung, in dem das betreffende Zitat vorkommt, angegeben.

3 Der Hof und die Familie

Die Geschichte des Elternhauses meines Vaters lässt sich aufgrund von Grundbuchein- tragungen bis ins Jahr 1827 zurückverfolgen und wurde von meinem Großonkel Karl gründlich recherchiert und niedergeschrieben. Diese Chronik, die in einem späteren Kapitel auch noch ausführlich analysiert werden wird, besteht bis zum Jahr 1864 rein aus Zahlen und Fakten aus den Grundbuchakten. Erst ab diesem Jahr kommen per- sönliche Informationen zu den BewohnerInnen des Hauses und der Liegenschaft in Pulgarn 15 in der Gemeinde Steyregg hinzu. Daraus ist ersichtlich, dass Leopold Hauser den Hof kaufte und im Jahr 1868 seine Frau Maria Karlinger per Ehevertrag als Mitbesitzerin eintragen ließ. Nachdem das An- wesen 1870 bei einem Gewitter durch Blitzschlag in Brand geriet und zerstört wurde, bauten die beiden das Haus in der Form neu auf, in der es auch heute noch in Pulgarn steht. Da eigene Kinder ausblieben, nahm das Paar die zwei Schwestern Theresia und Aloisia Stadlbauer – letztere sollte später meine Urgroßmutter werden – auf, da diese aufgrund prekärer finanzieller Verhältnisse von ihrer eigenen Familie nicht mehr ver- sorgt werden konnten. Nachdem Leopold Hauser 1897 verstarb, übergab dessen Wit- we Maria Hauser den Hof an Aloisia und ihren zukünftigen Ehemann Josef Lampl, der vom Pfingsterbauerngut am Hohenstein unweit von Pulgarn abstammte. Schon ein Jahr später, am 1. 7. 1898, kam mein Großonkel Leopold als erstes von acht Kindern zur Welt. Maria wurde am 11. 9. 1899, Josef am 19. 8. 1902, Franz am 23. 7. 1905, Aloisia am 2. 11. 1906, das Zwillingspaar Theresia und Cäcilia am 18. 10. 1909 und Karl am 20. 12. 1910 geboren (für einen Teil der Familie: siehe Abbildung 1). Aufgrund dieses Kinderreichtums und der relativ kleinen landwirtschaftlichen Flä- che von 16 Joch (ca. 9,2 Hektar), strebte mein Urgroßvater Josef einen Häusertausch gegen ein größeres Anwesen in Gallneukirchen an. Dazu kam es aber aufgrund eines Arbeitsunfalles am 28. 9. 1910, in dessen Folge Josef vier Monate später verstarb, nicht mehr. Aloisia heiratete 1912 wieder und zwar Leopold Aichhorn, einen Bauern- sohn aus Holzwinden, einer nördlich von Pulgarn gelegenen Ortschaft, die ebenfalls im Gemeindegebiet von Steyregg liegt. 1914 musste Leopold Aichhorn einrücken und nahm bis 1918 am Ersten Weltkrieg teil. 1916 folgte ihm auch sein Stiefsohn Leopold 281

Lampl an die Front, wobei beide nach Kriegsende wieder zurückkehrten. Durch die Abwesenheit zweier wichtiger Arbeitskräfte im Laufe des Ersten Weltkrieges und der schwierigen wirtschaftlichen Lage danach kam die Familie in immer größere fi- nanzielle Nöte.637 Daran änderte sich auch nachdem mein Großvater Josef und seine Frau Katharina den Hof 1930 übernahmen wenig.

Abbildung 1: Geschwister und Mutter meines Großvaters am 25.08.1928, (hinten vlnr) Karl, Franz, Josef, Leopold, (vorne vlnr) Theresia, Aloisia (Mutter), Aloisia (Sr. Blanda), Maria.

Quelle: Nachlass Sr. Blanda, Privatarchiv August Lampl.

Zwischen 1931 und 1944 bekamen meine Großeltern zehn Kinder: 1931 Josef, 1932 Johanna, 1933 Johann, 1934 Franz, 1937 August, 1938 Aloisia (Sr. Sigrid), 1939-2011 Wilhelm, 1941 Leopold, 1942 Paul und 1944 Florian. Als InterviewpartnerInnen stan- den mir Josef, Johanna, August und Sr. Sigrid zur Verfügung. Josef ist gelernter Elek- triker und arbeitete später als Postbeamter. Er und seine Frau Gertrude haben zwei Kinder und wohnen in Linz. Johanna heiratete den ÖBB-Bediensteten Paul Matscheko und baute mit ihm ein Haus in der Pulgarnerstraße, die beiden haben vier Kinder. Paul ist zu Anfang der 2000er Jahre verstorben, seither bewohnt Johanna das Haus alleine. August übernahm 1962 mit seiner Frau Rosa den elterlichen Hof, den sie noch einige Jahre im Nebenerwerb betrieben, bis sie schließlich die Landwirtschaft aufgaben. Die beiden haben drei Kinder und den Hof mittlerweile an ihren jüngsten Sohn Hubert

637 Interview mit August Lampl, 00:15:00-00:25:00. 282

übergeben. Sigrid, die als Aloisia zur Welt kam, trat 1958 bei den Kreuzschwestern in Linz ein und arbeitete dort bis zu ihrer Pensionierung als Kindergärtnerin. Danach wechselte sie in das Haus der Besinnung in Gaubing bei Wels.

3.1 Die Frauen der Familie

Bei der Recherche ist ganz stark aufgefallen, dass die Kontakte meiner Interviewpart- nerInnen zu den Brüdern meines Großvaters viel intensiver waren als zu dessen Schwestern, ihren Tanten. Durch deren frühes Verlassen der Familie waren sie in den geführten Interviews weniger präsent als die Lampl-Brüder, deren Besuche am Hof in Pulgarn, sowie deren Unterstützung bei der Arbeitssuche meiner Onkel, mehrmals zur Sprache kamen. Zwar heiratete die erste Tochter Maria nach Steyregg, das eigentlich unweit von Pulgarn liegt, doch dürfte das Verhältnis durch ihre nicht ganz standesge- mäße Hochzeit mit dem Töpfer Johann Würzburger, auch „Loamhans“ genannt, ge- schwächt worden sein.638 Die zweite Tochter Aloisia ging schon früh ins Kloster nach Lauffen, wo sie den Namen Blanda annahm und auch nur mehr wenig Kontakt zur Fa- milie pflegen konnte. Eine gewisse Rolle kommt ihr aber später wieder zu, als sie Teile der Familie, vor allem die von Leopold, mit Nahrungsmitteln versorgte, da diese durch dessen Haft und Berufsverbot über wenig bis gar keine Einkünfte verfügten. Theresia heiratete 1939 den Postangestellten Franz Stumhofer und zog mit ihm nach Press- baum. So war sie räumlich relativ weit von der Familie entfernt, wodurch sich der Kon- takt ebenfalls einschränkte. Theresias Zwillingsschwester Cäcilia ist im Alter von acht- einhalb Jahren verstorben. Doch nicht nur der Auszug aus dem Hof in Pulgarn, auch die sehr traditionelle Rollen- verteilung innerhalb der Familie drängten die Frauen eher in den Hintergrund. Die Mädchen wurden einzig darauf vorbereitet, nach der Volksschule die Hausarbeit zu er- lernen, vielleicht noch einige Jahre am Hof mitzuhelfen, bevor sie schließlich heirate- ten. Der katholische Glaube sowie eine patriarchale Familienstruktur spielten dabei eine sehr große Rolle. Nicht nur in meiner Großelterngeneration ist dieses Muster er- kennbar, auch noch bei den Schwestern meines Vaters behält dieser Verlauf Gültigkeit. Leider ist mir nicht bekannt, wie meine Großtanten darüber dachten und wie sie sich in diese Rolle fügten. Bei meinen Tanten Johanna und Sigrid war der Drang nach mehr Bildung und einem selbstbestimmteren Leben jedenfalls sehr stark. So war das erste, was die älteste Tochter Johanna im Interview, nachdem sie sich vorgestellt hatte, sag- te: „Wir san nach Steyregg in’d Schul gånga, weil nåch Linz hama hoid, ham nur

638 Interview mit Sigrid Lampl, geführt am 28. 1. 2013, 00:28:23-00:29:29, Bänder beim Autor. 283

meine Brüder gehen derfn, weil die solln wås lernen und da Våta hod gsågt, d’- Mendscha brauchn eh nix lerna, die solln d’Årbeit lerna und’s spårn.“639

Danach ging sie noch auf die Arbeitsteilung innerhalb der Familie ein, derzufolge sie und die Mutter immer in der Küche waren um zu kochen, abzuwaschen und aus den Rohmaterialien, die der Hof hergab, wie Milch und Getreide, die Endprodukte wie But- ter, Topfen und Brot herzustellen. Die Männer waren indes mit Kartenspielen oder Aus- gehen beschäftigt. Auch im Gespräch mit Sr. Sigrid wurde das Thema Bildung in ähnli- cher Weise angesprochen. So erkannte ihr Lehrer in der Volksschule Steyregg schon früh ihr Talent für Musik und Kunst, worauf er ihren Eltern vorschlug, Aloisia in die Kunstgewerbeschule nach Salzburg zu schicken, was die Eltern im Gespräch auch be- fürworteten. Doch wieder Zuhause angekommen, war keine Rede mehr von diesem Vorhaben und Aloisia trat vorerst denselben Weg wie ihre große Schwester Johanna an, bis sie sich im Alter von 20 Jahren entschied, ins Kloster der Kreuzschwestern in Linz einzutreten. Seither trägt sie den Namen Sigrid.

4 NSDAP-Mitgliedschaften

Wie ich bereits aus bis dahin geführten Interviews wusste, waren alle drei Brüder meines Großvaters Anhänger des Nationalsozialismus und mit aller Wahrscheinlichkeit auch Parteimitglieder. Die Recherche nach meinen Familienmitgliedern in der NSDAP- Hauptkartei am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien bestätigte diese Vermutungen. Allerdings hielten die Mikrofiche mit den Karteikarten einige neue Aspekte für mich bereit.640 Leopold war als Ortsgruppenleiter in St. Florian natürlich auch Parteimitglied. Gemäß seiner Mitgliedskarte hat er die Mitgliedschaft am 30. 5. 1938 beantragt und wurde rückwirkend mit 1. 5. 1938 in die NSDAP aufgenommen. Als Mitgliedsnummer wurde ihm die Nr. 6.366.006 zugewiesen. Ansonsten wurde auf der Karteikarte nur noch sein Geburtsdatum, sein Wohnort, seine Ortsgruppe und sein Beruf „Justizaktuar“, eine veraltete Bezeichnung für einen Gerichtsangestellten641, vermerkt. Sein Geburtsdatum stimmt um einen Tag nicht (statt 1. 7. 1898 ist der 2. 7. eingetragen) wobei es sich aber wahrscheinlich nur um einen Tippfehler handelt.642 Interessanter erweist sich da schon seine Mitgliedsnummer, beziehungsweise das Aufnahmedatum in die NSDAP. In seinen Aussagen behauptet Leopold, dass er vor dem „Anschluss“ Österreichs nichts mit der NSDAP zu tun gehabt hätte und seine Frau Elisabeth sagte aus, er sei sogar

639 Interview mit Johanna Matscheko, 00:12:28-00:17:50. 640 Seite 15 dieser Arbeit. 641 Duden online, URL: http://www.duden.de/rechtschreibung/Aktuar (abgerufen am 10. 9. 2013). 642 Mikrofilm der NSDAP-Hauptkartei (Bundesarchiv Berlin), Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. 284 von Parteigenossen als „Märzveilchen“, ein Ausdruck für österreichische Parteimitglie- der die erst nach dem 13. 3. 1938 der NSDAP beigetreten waren, bezeichnet wor- den.643 Er rechtfertigte sich damit gegen den Vorwurf der Illegalität gemäß §10 des Verbotsgesetzes. Seine Mitgliedsnummer sowie das eingetragene Eintrittsdatum verra- ten jedoch etwas anderes. Diese Daten stellten einen wichtigen Faktor innerhalb der Hierarchie der NSDAP dar und waren auch mit gewissen repräsentativen Privilegien verbunden. So wurde vielen zusätzlich der Ehrentitel „Alter Kämpfer“ verliehen, was sie auch berechtigte das goldene Parteiabzeichen zu tragen. Ob Leopold diesen Titel oder irgendwelche Parteiauszeichnungen erhalten hat, konnte nicht festgestellt wer- den, doch zeigen seine Mitgliedsnummer und das Beitrittsdatum, dass er bereits vor dem „Anschluss“ als „Illegaler“ aktiv war. Da im „Altreich“ die Nummernvergabe schon Jahre früher begonnen hatte und somit alle ÖsterreicherInnen, die vor 1933 noch nicht Mitglied der NSDAP waren, eine sehr hohe Nummer bekommen hätten, wären sie automatisch am unteren Ende der Hierarchie gestanden. Deshalb bediente sich die Verwaltung einer Speziallösung. Alle Personen, die bereits vor dem Verbot der NSDAP in Österreich am 19. 6. 1933644 Parteimitglieder waren, erhielten nach Prüfung ihrer Angaben, ihre alte Mitgliedsnummer wieder zugewiesen. Für all jene, die vor 1933 kei- ne Parteimitglieder waren, sich aber in der Zeit zwischen 1933 und 1938 als National- sozialistInnen betätigt hatten, wurde eine Mitgliedsnummer aus dem durch Adolf Hitler definierten Nummernblock von 6.100.000 bis 6.600.000 zugewiesen. Als Eintrittsda- tum wurde bei all diesen meist einheitlich der 1. 5. 1938 eingetragen, unabhängig da- von, wann der Antrag um Aufnahme gestellt worden war.645 Leopold war bis Kriegsen- de Parteimitglied und wurde danach aufgrund seiner Ämter, die er zwischen 1938 und 1945 ausübte, im Camp Marcus W. Orr, dem sogenannten Lager Glasenbach, inter- niert. Der nächste in der Reihe der Brüder war mein Großvater Josef. Zu seiner Person ließ sich in der NSDAP-Hauptkartei nichts finden, auch die Aussagen sowie die Beschrei- bung über ihn in der Familienchronik lassen auf keine Parteimitgliedschaft schließen. Für ihn bracht die Machtübernahme Hitlers in Österreich finanzielle Vorteile, die ihm ermöglichten, den Hof aus der wirtschaftlichen Krise zu führen und sogar durch die Anschaffung einiger Maschinen zu modernisieren.646 Ein anfängliches Naheverhältnis zum nationalsozialistischen System könnte daher vermutet werden. Aus mehreren Quellen geht auch hervor, dass er zu Kriegsende noch am „Volkssturm“ teilnahm. In

643 Hierzu, sowie nachfolgender Absatz: VGA Vg 8 Vr 5387/47, 150-153. 644 Winfried R. Garscha, Nationalsozialisten in Österreich 1933-1938, in: Emmerich Tálos, Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus: Politik, Ökonomie, Kultur; 1933-1938, Wien 2012, 101. 645 Gerhard Botz, Expansion und Entwicklungskrisen der NSDAP-Mitgliedschaft. Von der sozialen Dynamik zur bürokratischen Selbststeuerung? (1933-1945) (Veröffentlichung des Ludwig-Boltzmann-Institutes für historische Sozialwissenschaft), Wien 2011, 18. 646 Karl Lampl, Chronik. Die Geschichte unseres Elternhauses in Pulgarn Nr. 15, 1958-1962 (unveröffentlichtes Manuskript), Kopie im Besitz des Verfassers. 285 welcher Art und Weise ist nicht überliefert, jedenfalls hat er die nähere Umgebung sei- nes Hofes nicht verlassen. Er wird von seinem Bruder in der Chronik als „[…] christli- cher Bauer althergebrachter Tradition“647 bezeichnet, womit aus der Sicht Karls, der selbst Nationalsozialist und Parteimitglied war, durchaus eine christlich motivierte Op- position zum Regime gemeint sein könnte. Die Nazi-Symbolik lehnte Josef jedenfalls ab, als ihn seine Brüder dazu bringen wollten, statt dem Bild des Heiligen Josef das Portrait Hitlers in der Stube aufzuhängen.648 Aus meinen eigenen Erinnerungen und von alten Fotos weiß ich, dass mein Großvater bis ins hohe Alter das „Hitlerbärtchen“ getragen hat. Ob aus ideellen oder ästhetischen Gründen konnte mir bisher noch nie- mand beantworten. Der einzige der Brüder, der zur Wehrmacht eingezogen wurde, war Franz. Er nahm 1940 am Westfeldzug teil, von wo er, am Bein verwundet, bald wieder zurückkehrte. Seine NSDAP-Mitgliedsnummer war die 9.828.379 und scheint in Verbindung mit dem sehr späten Aufnahmedatum 1. 1. 1944, bei einer Beantragung am 25. 11. 1943, recht plausibel. Jedenfalls waren die Daten nicht prestigeträchtig genug, um ihm einen Vorteil gegenüber einer „ganz normalen“ Parteimitgliedschaft zu verschaffen. Beruflich war er aber schon seit seiner Rückkehr aus Frankreich in einer Vorfeldorganisation der NSDAP, der Hitlerjugend, tätig. Als Verwaltungsleiter ging er nach Strub bei Bischofs- wiesen im Berchtesgadener Land, damals im Gau München-Oberbayern gelegen, und wohnte dort im Adolf Hitler Jugendheim.649 Nach Kriegsende kehrte er nach Linz zu- rück und hatte laut Familienchronik auch noch einige Zeit mit der Entnazifizierung zu tun.650 Da jedoch keine Volksgerichtsakten zu seiner Person zu finden sind, kam es möglicherweise zu keiner Anklage oder die Akten gingen verloren. Karl, der Verfasser der Familienchronik und jüngster der vier Brüder, fand sich auch in der NSDAP-Hauptkartei, was mich, aufgrund der geführten Interviews, nicht weiter verwunderte. Seine Mitgliedsnummer war die 8.433.257 mit dem Aufnahmedatum 13. 2. 1942, was genau in die Zeit nach der Verhängung einer totalen Aufnahmesperre durch Reichsschatzmeister Schwarz am 2. 2. 1942 und vor die Lockerung selbiger durch Adolf Hitler am 14. 7. 1942 fällt.651 Dies deutet darauf hin, dass auch dieses Aufnahmedatum rückwirkend vergeben wurde, oder dass die Weisungen in Oberdonau nicht so streng zur Anwendung kamen. Als Beruf wurde nur die Abkürzung „Ang.“, für „Angestellter“, eingetragen. Das Datum der Antragstellung fehlt. Lediglich die Orts- gruppenzugehörigkeit wurde einmal von Ohldsorf zu Traunkirchen geändert.652 Doch dann die Überraschung: Gleich als nächstes tauchte auf dem Mikrofilm eine

647 Karl Lampl, Chronik. 648 Interview mit Sigrid Lampl, 01:01:26-01:04:35. 649 Mikrofilm der NSDAP-Hauptkartei. 650 Karl Lampl, Chronik. 651 Gerhard Botz, Expansion und Entwicklungskrisen, 22. 652 Mikrofilm der NSDAP-Hauptkartei. 286 zweite Mitgliedskarte Karls auf, nämlich eine österreichische, „gelbe“ Mitgliedskarte, wie sie vor dem Verbot der NSDAP in Österreich angefertigt wurden. Laut Eintrag wur- de ihm am 8. 2. 1932 eine provisorische Mitgliedskarte ausgestellt und rückwirkend das Eintrittsdatum 1. 1. 1932 zugewiesen. Der Grund, warum er später nicht wieder seine alte sehr niedrige Mitgliedsnummer 783.163 bekommen hat, ist ebenfalls auf der Karte vermerkt. Karl ist nämlich am 1. 9. 1932 selbst wieder aus der Partei ausgetre- ten. Die Karte wurde in der Kartei belassen und nach seinem erneuten Ansuchen um Aufnahme weiterverwendet. Die alte Mitgliedsnummer und das Eintrittsdatum wurden durchgestrichen und die erste Aufnahme sowie der Austritt mit „ungültig“ gestempelt. Das neue Aufnahmedatum auf dieser Karte lautet 13. 2. 1942. Weiters findet sich ohne sichtbare Erklärung auch zweimal das Datum 1. 1. 41, erstens mit einem „/E.“ davor, neben dem durchgestrichenen Austrittsdatum, und zweitens über der Zeile Ortsgruppe, mit einem nachgestellten „M“. Dies könnte das Datum sein, mit dem er 1942 rückwirkend wieder in die NSDAP aufgenommen wurde, sodass das /E für Eintritt stünde. Es besteht auch die Möglichkeit, dass sein Parteiaustritt 1938 übersehen wur- de und die Änderung seiner Mitgliedsnummer und seines Aufnahmedatums erst 1942 erfolgten.653 Nach dieser Interpretation hätte er bis 1942 als illegaler Nationalsozialist gegolten. Abweichungen gibt es auch bei den eingetragenen Wohnorten, die hier mit Wels (wahrscheinlich der Wohnort beim ersten Eintritt 1932) und dann zu Traun (eventuell der Wohnort beim erneuten Parteieintritt) geändert wurden.654 Dies würde auch darauf hindeuten, dass diese alte Mitgliedskarte zu einer Zeit aktualisiert wurde, als Karl gar nicht in der Partei war. Denn er selbst gibt an, dass er 1935 seinen Dienst bei der österreichischen Gendarmerie in Traun angetreten hatte und danach in Orten um Gmunden, zu denen Ohlsdorf und Traunkirchen gehören, seinen Dienst versah. Im Anschluss berichtet er von seinem Einsatz als Feldgendarm. Die Feldgendarmerie be- stand aus regulären Polizeieinheiten, die bei Vorkriegseinsätzen und bei Kriegsbeginn direkt der Wehrmacht unterstellt wurden. Karl nahm am Einmarsch in die Tschechoslo- wakei und später nach Polen teil (siehe Abbildung 2).655 Auch Karl war bis Kriegsende Mitglied in der NSDAP und danach gemäß § 19 bb des Verbotsgesetzes vom Dienst bei der Gendarmerie ausgeschlossen, welchen er aufgrund der immer lockerer werdenden Entnazifizierung in Österreich656 1948 wieder aufnehmen durfte. Da zu seiner Person keine Volksgerichtsakten zu finden sind, erfolgte vermutlich auch keine Anklage.

653 Besprechung mit Dr. Gerhard Botz am 6. 9. 2013. 654 Mikrofilm der NSDAP-Hauptkartei. 655 Karl Lampl, Chronik. 656 Die Entnazifizierung in Oberösterreich, Verbund Oberösterreichischer Museen, URL: http://www.ooegeschichte.at/Entnazifizierung.227.0.html (abgerufen am 15. 3. 2013). 287

Abbildung 2: Karl Lampl in Uniform. 1940 in Polen.

Quelle: Nachlass Sr. Blanda, Privatarchiv August Lampl.

5 Karl und die Chronik

Neben mündlichen Quellen zur Familiengeschichte steht mir auch eine Familienchro- nik, die mein Großonkel Karl geschrieben hat, zur Verfügung. Karl (geb. 1910) war das Jüngste der Geschwister meines Großvaters und der erste der, im Alter von 22 Jahren, Mitglied der NSDAP wurde. Bei allen Interviews, die ich geführt habe, wurde im Zu- sammenhang mit der Geschichte von Leopold auch meist sofort Karl erwähnt und als „so richtiger Nazi“ bezeichnet. Er schlug ursprünglich eine Laufbahn als Priester ein, verließ aber das Petrinum in Linz, damals auch „kleines Seminar“ genannt, wieder ohne den Abschluss zu machen.657 Interessanterweise kommt diese Geschichte in sei- ner eigenen Personenbeschreibung gar nicht vor. Er selbst erzählt nur von seiner Schneiderlehre, seiner Arbeitslosigkeit und seiner Zeit als Krankenpfleger in Wien, be- vor er 1934 in das österreichische Bundesheer eintrat. Im Rang eines Korporals war er als Aufseher im Anhaltelager Wöllersdorf stationiert. 1935 ging er zur Gendarmerie, wo er auch bis Kriegsende blieb und nach dreijähriger Zwangspause noch bis 1954 ar- beitete. Danach ging er krankheitsbedingt in Ruhestand. Karl heiratete 1940 und hatte zwei Kinder, er verstarb 2006. Ich selbst habe ihn zwar ein paar Mal gesehen, kann aber nicht behaupten ihn gekannt zu haben. Aus Erzählungen weiß ich, dass er als der „Intellektuelle“ der Familie gegolten hat. Er hatte zwar nicht studiert oder zumindest

657 Interview mit Sigrid Lampl, 01:08:10-01:09:25. 288 kein Studium abgeschlossen, schrieb aber Gedichte, verfasste Leserbriefe, und eben auch die Familienchronik. Politisch ist er seiner Gesinnung treu geblieben, was im Folgenden auch noch gezeigt werden soll. Die wenigen Informationen, die ich zu seiner Persönlichkeit habe, zeichnen für mich das Bild eines nachdenklichen, oft unzufriedenen, ja vielleicht sogar getriebenen Menschen, der sein Leben nie wirklich in den Griff bekommen hat.658 Die Chronik ist leider nicht datiert und auch der Verfasser wurde nicht angegeben, je- doch haben mehrere Familienmitglieder meinen Großonkel Karl als den Autor der Chronik genannt. Außerdem gibt es noch eine andere schriftliche Aufzeichnung in Form einer reinen Bestandsaufnahme meiner Großelterngeneration sowie deren Kinder und Enkelkinder. Dieses Papier ist von Karl am 15. 11. 1978 erstellt worden und weist bei der Formatierung große Ähnlichkeiten mit dem älteren Dokument auf, dessen Ent- stehung sich auf die Jahre 1958 bis 1962 eingrenzen lässt, da die letzte Jahreszahl, die der originale Schreibmaschinentext enthält, 1958 und die erste handschriftlich er- gänzte Jahreszahl, das Jahr 1962 ist. Wer diese handschriftlichen Ergänzungen vor- nahm und wann diese gemacht wurden, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Es han- delt sich dabei aber nur um Sterbedaten meiner Großtanten und –onkel, sowie das Datum der Hofübernahme durch meinen Onkel August, welche sich auch anhand an- derer Quellen belegen lassen. Wie schon an anderer Stelle erwähnt gibt dieses Schrift- stück mehr über seinen Verfasser preis als über die beschriebenen Personen selbst. Natürlich stimmen die biografischen Daten, sowie wahrscheinlich auch die Aussagen über Mentalität und Lebenswandel der Genannten, aber die Maßstäbe, die er ca. 15 Jahre nach Kriegsende bei seinen Schilderungen ansetzte, sowie die Formulierungen, die er wählte, sind teilweise mehr als bedenklich. Dazu einige Beispiele aus den Be- schreibungen seiner Geschwister: Leopold: „In der großdeutschen Ära bekleidete er politische Ehrenämter, die mit einer Lockerung seiner konfessionellen Bindung verbunden waren. Nach Kriegsende mußte er deswegen bittere Verfolgung, Freiheits- und Existenzberaubung auf sich nehmen.“659

Karl benutzte nach wie vor die Terminologie der nationalsozialistischen Propaganda und verwendete diese auch in sehr positiv klingender Formulierung. Leopold bekleide- te zwar als Ortswalter der NS-Volkswohlfahrt (NSV) und später als Ortsgruppenleiter in St. Florian tatsächlich Ehrenämter im Sinne einer unentgeltlichen, nebenberuflichen Tätigkeit660, doch ist zu bezweifeln, dass Karl nicht viel mehr in äußerst pathetischer

658 Anmerkung des Verfassers: In mehreren Interviews in ähnlicher Weise geäußert. 659 Karl Lampl, Chronik. 660 Phillip Wegehaupt, Funktionäre und Funktionseliten der NSDAP. Vom zum Gauleiter, in: Wolfgang Benz (Hg.), Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt am Main 2009, 44-49. 289

Weise die Bedeutung seines Bruders zu jener Zeit hervorheben wollte. Die Lockerung von Leopolds konfessioneller Bindung ist mit dessen Kirchenaustritt zu übersetzen und rein nach der deutschen Grammatik bezieht sich der darauffolgende Satz auf die Eh- renämter. Für die/den LeserIn aber tritt die „Lockerung seiner konfessionellen Bin- dung“ in den Vordergrund, als trüge dieser Umstand Mitschuld an der „bitteren Verfol- gung,…“, die er nach Kriegsende „auf sich nehmen“ musste. Diese Formulierung könn- te auf eine biographische Parallele hinweisen; Karl selbst brach das Priesterseminar ab, schloss sich der NSDAP 1932 an und trat vermutlich 1938 aus der Kirche aus. Die- se Vorgangsweise ließe sich mit der „Nicht-Vereinbarkeit von Kirche und Nationalsozia- lismus“661 begreifen. Nach Ende des Krieges trat Karl allerdings nicht wie Leopold wie- der in die katholische Kirche ein. Aber grundsätzlich stellte er Leopold als völlig un- schuldiges Opfer hin und dachte auch 15 Jahre danach nicht daran, nur ein Wort zu schreiben, das den Hauch einer Einsicht vermuten lässt. Franz: „Die Nachkriegsfurie hat auch ihn noch eine Zeit gepeinigt.“ Karl: „Nachdem er sich auch der nat. soz. großdeutschen Idee und Weltan- schauung angeschlossen hatte, musste er nach Kriegsende ebenfalls Dienstent- hebung und Zurücksetzung hinnehmen.“

Hier zeigt sich dasselbe Muster wie zuvor bei Leopold. NS-Termini, beide befinden sich in der Opferrolle. Er bedient sich sogar des Wortes „Furie“, der Name der römischen Rachegöttinnen, um die Unrechtmäßigkeit der verhängten Sühnepflicht662 zu unter- streichen, die sie für ihn darstellte. Theresia: „Nach Kriegsende vor des Mannes Rückkehr, mußte Resi während der militärischen Besatzungszeit in Österreich bittere Erfahrungen machen.“

Bei der Konfrontation meiner InterviewpartnerInnen wurde die Vermutung, dass es sich um eine Vergewaltigung handeln könnte, bestätigt. Es ist interessant, dass diese Begebenheit in solch einem Schriftstück überhaupt Erwähnung findet, da Vergewalti- gungen in den Familien meist nicht offen angesprochen und schon gar nicht schriftlich festgehalten wurden. Doch Karl benutzte dieses Thema ohnehin für seinen Zweck, zur weiteren Unterstreichung seiner konstruierten Nachkriegs-Opferrolle, in die er die ge- samte Familie hier drängt, aber eigentlich den gesamten Nationalsozialismus damit meint. Theresia: „In frommer Gesinnung kennt sie nur die eine Pflicht- ein Leben für Haus und Familie.“663 Aloisia Lampl (1872-1944): „Sie wurde während der großdeutschen Zeit mit dem ,goldenen Mutterkreuz‘ ausgezeichnet.“

661 Josef Goldberger/Cornelia Sulzbacher, Oberdonau, Linz 2008, 199. 662 Verbotsgesetz 1947, §19 bb. 663 Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Zitate: Karl Lampl, Chronik. 290

Diese beiden Zitate erklären, warum meinen Tanten Johanna und Sigrid weitere Bil- dung nach der Volksschule verwehrt blieb. Natürlich wurde in den Interviews erwähnt, dass es an Geld mangelte, dass die richtige Kleidung nicht vorhanden war, dass die Arbeitskraft am Hof gebraucht wurde. Doch der wahre Grund war ein in Nationalsozia- lismus wie Katholizismus vorgegebenes Bild, welche Rolle eine Frau in der Gesellschaft einnehmen muss und welche Aufgaben sie dabei zu erledigen hat. Denn die Söhne der Familie haben ja schließlich auch Lehren gemacht, ja einer sogar studiert. „Das Schicksal der Geschwister nahm einen sehr verschiedenen Verlauf, weil ihr Leben mitten in größte geschichtliche Ereignisse fiel: Die Angliederung Öster- reichs an Deutschland und der 2. Weltkrieg. Am 8. 5. 1945 endet dieser Krieg mit einer Niederlage für Großdeutschland. Österreich wurde wieder von Deutschland getrennt und zur selbständigen Republik erklärt.“

Dieses, eigentlich für sich selbst sprechende Zitat zeigt noch einmal welch „größte ge- schichtliche Ereignisse“ für Karl vor dem 8. 5. 1945 stattfanden und wie ernüchternd die Nachkriegsordnung der Siegermächte für ihn war.

6 Leopolds Karriere, Anklagen und Prozesse

Über die Kindheit Leopolds ist aus den mir zur Verfügung stehenden Quellen nur wenig bekannt. Es dürfte sich aber um eine in mehrerlei Hinsicht schwierige Zeit gehandelt haben. Es geht aus der Chronik hervor, dass mein Urgroßvater Josef den Hof gegen ein größeres Anwesen tauschen wollte, da die in Pulgarn zu erwirtschaftenden Erträge für die Familie nicht ausreichend waren. Durch den frühen Tod des Vaters 1911 (Leo- pold war erst 12 Jahre alt) musste er auch schon sehr früh Verantwortung für Hof und Familie übernehmen. 1912 heiratete meine Urgroßmutter Leopold Aichhorn, der 1914 schon in den ersten Weltkrieg einrücken musste. 1916 wurde schließlich auch mein Großonkel Leopold zur k.u.k. Armee eingezogen.664 Es lässt sich vermuten, dass ihn diese schwierige Situation in seiner Jugend zu einer gewissen Härte erzogen hatte. So ist überliefert, dass er schon als junger Mann Menschen, die von den Lampl´schen Obstbäumen Kirschen oder Äpfel entwendeten, stellte und diese sofort zur Gendarme- rie nach Steyregg getrieben haben soll.665 Nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Welt- krieg wurde Leopold Gendarmeriebeamter und nahm 1921 an der Burgenlandbeset- zung teil. Nachdem er 1925 im Dienst angeschossen wurde, wechselte er 1926 in den Justizdienst, von 1926-1929 in Graz, danach bis 1931 am Bezirksgericht in Mondsee. Ab 1931 war er am Bezirksgericht St. Florian beschäftigt, welches 1943 aufgelöst und dem Gerichtsbezirk Linz eingegliedert wurde, wo er schließlich bis 1945 seinen Dienst

664 Karl Lampl, Chronik. 665 Interview mit Sigrid Lampl, 01:07:15-01:08:05. 291 versah. Die folgende Darstellung Leopolds beruflicher und politischer Karriere, sowie seiner Prozesse in der Nachkriegszeit, ist sowohl aus den ZeugInnenaussagen und Protokol- len der Gerichtsakten, als auch aus den Interviews mit seinen Nichten und Neffen re- konstruiert. Es soll gezeigt werden welche für die Entnazifizierungsprozesse typischen Verteidigungsstrategien von Leopold angewandt wurden und welche Informationen aus den Akten und Interviews dem gegenüberstehen. Die hier herangezogenen Zeu- gInnenaussagen stammen aus zwei Prozessen in denen sich Leopold zu verantworten hatte. Die erste Anklage, gemäß §§10,11 des Verbotsgesetzes 1947, wegen des Vor- wurfs der Illegalität, erfolgte am 26. 11. 1947666. Die Zweite am 12. 1. 1950, gemäß § 8 StG, wegen des Vorwurfs der versuchten Denunziation.667 Im Folgenden geht es nicht darum, die Prozesse an sich Revue passieren zu lassen, sondern darum, mithilfe der Quellen, die dabei entstanden sind, seine Rolle in der NS-Zeit zu beleuchten. Aus politischer Sicht begann er schon früh sich in diversen Verbänden zu beteiligen. Aufgrund seiner Herkunft wenig überraschend, war er von 1918 bis 1920 Obmann des christlichen Landarbeiterbundes in Steyregg. Durch seine Abwesenheit von Steyregg nach seinem Eintritt bei der Gendarmerie konnte er dieses Amt nicht mehr länger aus- üben. 1934 schloss er sich der Vaterländischen Front (VF), der Einheitspartei des ös- terreichischen „Ständestaats“668 an, in der er auch als Dienststellenleiterstellvertreter aktiv war. Er verstand sich in der Zeit bis 1938 selbst als unpolitisch und begründet dies bei seiner Einvernahme am 25. 4. 1949 am Landesgericht Linz folgendermaßen: „Als ich 1926 in den Gerichtsdienst übertrat, habe ich mich keiner politischen Richtung angeschlossen, da von unserer Berufsvertretung aus eine politische Verbindung unerwünscht war und wir Beamte vollkommen überparteiisch sein mussten.“669

Auch seinen Eintritt in die NSDAP erklärte er mit dem gleichen Pragmatismus wie sei- ne unpolitische Haltung zuvor. Aus Angst, seine Anstellung beim Bezirksgericht zu ver- lieren, hätte er Ende April 1938 das Ansuchen um Aufnahme bei der Ortsgruppe St. Florian eingebracht. Eine Betätigung in der NSDAP vor 1938 bestritt er und zog dazu das auf seiner Mitgliedskarte vermerkte Aufnahmedatum (1. 5. 1938), sowie seine Mitgliedsnummer (6.366.006) als Beweise heran. Von 29. 6. 1938 bis 4. 9. 1939 über- nahm er das Amt des Ortswalters der NS-Volkswohlfahrt (NSV) und hat diese Organi- sation in St. Florian nach eigener Aussage auch selbst aufgebaut. Ab dem 5. 9. 1939 bekleidete Leopold die Funktion des der NSDAP in St. Florian und

666 VGA Vg 11 Vr 3644/46, 162. 667 VGA Vg 8 Vr 5387/47, 184. 668 Verena Pawlowsky, Vereine im Nationalsozialismus: Vermögensentzug durch den Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände und Aspekte der Restitution in Österreich nach 1945, Oldenbourg 2004, 57. 669 VGA Vg 8 Vr 5387/47, 165-167. 292 behält dieses Amt bis Kriegsende bei.670 Leopold wurde nach Kriegsende aufgrund seiner Funktion als Ortsgruppenleiter durch die amerikanischen Streitkräfte in „automatische Haft“671 genommen und am 15. 5. 1945 im Camp Marcus W. Orr bei Glasenbach interniert. Diese Vorgangsweise galt für alle Parteimitglieder, die ein Amt in der NSDAP ausgeübt hatten und sollte dazu beitragen, die gesamte Parteistruktur zu zerschlagen. Leopold befand sich bis 25. 6. 1947 in Glasenbach und wurde anschließend dem Landesgericht Linz überstellt. Dort wurde er wegen des Verdachtes der Illegalität nach §§10, 11 des Verbotsgesetzes 1947 in Untersuchungshaft ge- nommen. Nach seinen eigenen Aussagen ist er zu allen seinen Ämtern innerhalb von VF und NSDAP berufen worden und habe dies nur aus Angst vor Entlassung mitgemacht. Er versuchte sich damit als kleines Rädchen im System darzustellen und so zu überzeugen, dass ihn die Zwänge der NS-Herrschaft dazu veranlasst hätten mitzumachen und nicht die Begeisterung für die NS-Ideologie selbst. Dabei handelte es sich um ein gängiges Muster in der Verteidigungsstrategie der Angeklagten im Entnazifizierungsprozess. So hatte auch Leopold einen prominenten Fürsprecher, Dr. Johannes Hollnsteiner, der ihm eine weiße Weste bescheinigte, ihm gar zugestand, das Stift und den Markt St. Florian vor der Zerstörung durch die anrückenden Amerikaner gerettet zu haben.672 Es geht aus den Gerichtsakten hervor, dass Leopold behauptete, zum Ortsgruppenleiter nach dem deutschen Beamtengesetz dienstverpflichtet worden zu sein. Die Dienstverpflichtung bezog sich im Sinne der Nazis rein auf die Kriegswirtschaft und da auch nur auf Betriebe, die ihren Bedarf nachweislich mit den eigenen Ressourcen nicht mehr abdecken konnten. Diese Form der Ar- beitskräftebeschaffung diente den Arbeitseinsatzbehörden als wirksames Instrument, um die erforderlichen Kräfte bereitzustellen673 und nicht, um die NSDAP-Kader aufzufüllen. Die offensichtliche Unrichtigkeit dieser Argumentation wurde ihm bereits am 10. 11. 1950 in einem Schreiben des Innenministeriums dargelegt, da es sich (auch falls es tatsächlich eine Berufung war) sicher um keine Dienstverpflichtung nach beschriebenem Muster handelte.674 Dieses Schreiben war die Antwort auf das Ansuchen Leopolds aus der Liste der Belasteten gestrichen zu werden. Außerdem argumentierte er, dass er offiziell erst am 9. 11. 1942 vom Gauleiter Eigruber zum der NSDAP mit der Dienststellung als Ortsgruppenleiter betraut wurde. Nach eigener Aussage und Aussagen Dritter in den Prozessakten, übte er dieses Amt aber bereits seit September 1939 aus.675 Auffallend ist bei den von ihm

670 Karl Lampl, Chronik. 671 Oskar Dohle/Peter Eigelsberger, Camp Marcus W. Orr. "Glasenbach" als Internierungslager nach 1945, Linz 2009, 106-116. 672 VGA Vg 11 Vr 3644/46, 191. 673 Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, Nachdr. der Ausg. von 1998, Berlin 2000, 153-154. 674 VGA Vg 11 Vr 3644/46, 212-213. 675 VGA Vg 11 Vr 3644/46, 192. 293 selbst geschilderten Funktionen und Tätigkeiten, dass seine politisch aktive Zeit erst begann, als in Österreich die Demokratie ausgeschaltet wurde und ein autoritärer Einparteienstaat an ihre Stelle trat. Seine politische Laufbahn begann mit dem Eintritt zur VF und ging nahtlos in die NSV und NSDAP über. Seine Beweggründe bleiben dabei verborgen, doch lässt dieser Umstand eine antidemokratische Einstellung Leopolds vermuten. Seine Mitgliedschaft in der VF befreit ihn auch nicht vom Verdacht der Illegalität, da viele seiner damaligen Parteikollegen auch bereits in der NSDAP aktiv waren. Ein Schwenk vom „Austrofaschismus“ zum Nationalsozialismus war somit kein Bruch, sondern eher eine Kontinuität in seiner politischen Entwicklung gewesen zumal der Dienststellenorganisation für den öffentlichen Bereich bereits 1934 bekannt war, „dass viele Beamte den Nationalsozialisten nahestanden und nur aus Gründen der Erhaltung ihrer beruflichen Existenz der VF beigetreten waren.“676

Aus den Akten geht ebenfalls hervor, dass Leopold ein begeisterter Anhänger des Na- tionalsozialismus gewesen sein und wegen seiner Radikalität sogar bei Parteigenossen unbeliebt gewesen sein soll. Entgegen seiner Angabe, er hätte erst im Mai 1938 Kon- takt zur NSDAP gehabt und sei auch nur aus rein pragmatischen Gründen der Organi- sation beigetreten, zeichnen die ZeugInnenaussagen aus seinen Prozessen ein ande- res Bild. So habe er sich bereits am 13. 3. 1938 als Nationalsozialist zu erkennen ge- geben, als er gemeinsam mit anderen Nazis das Strafregister in der Gemeindekanzlei beschlagnahmte. Nach Aussage von Franz Huber, dem damaligen Gemeindesekretär, soll sich Leopold damit gebrüstet haben, mit der NSDAP in Verbindung zu stehen und für diese zu arbeiten.677 Seine Position als Leiter der NSV-Ortsgruppe brachte ihn auch von Anfang an in direk- ten Kontakt mit der NS-Ideologie und da vor allem mit der Vorstellung vom „Herren- menschen“ und der Rassenlehre. Die NS-Volkswohlfahrt hatte zum Ziel, die traditio- nellen Wohlfahrtsverbände entweder ganz auszuschalten, oder zumindest zurückzu- drängen. So wurden in Deutschland bereits ab 1933 die meisten Wohlfahrtsverbände entweder aufgelöst oder der NSV angeschlossen. Eigenständig aber in ihren Kompe- tenzen beschnitten blieben nur die konfessionellen Verbände Caritas, Innere Mission und das Deutsche Rote Kreuz. Während sich diese Organisationen auf die Alten- und Behindertenbetreuung beschränken sollten, hatte die NSV laut ihrem Leiter Erich Hil- genfeldt die Aufgabe, „die Gesundheitsführung des deutschen Volkes zu übernehmen und ihm rasse- hygienisches Denken und Handeln beizubringen‘ Wohlfahrtspflege im national- sozialistischen Sinne treiben heiße, ,in allem Handeln und Tun zuerst die Ge- meinschaft und dann an den Einzelnen zu denken‘. Aber nur die gesunden

676 Emmerich Tálos, Aspekte der politischen Struktur des Austrofaschismus, in: Emmerich Tálos, Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus: Politik, Ökonomie, Kultur; 1933-1938 Wien 2012, 149. 677 VGA Vg 11 Vr 3644/46, 151-152. 294

und ,wertvollen‘ Mitglieder der Volksgemeinschaft sollten gefördert werden; von jeglicher Fürsorge auszuschließen seien ,Gemeinschaftsfremde‘, ,Asoziale‘ und ,Arbeitsscheue‘ “.678

Daraus ist zu ersehen, dass Leopold bereits von Beginn seiner NS-Karriere an mit der Rassenhygiene und der rigorosen Umerziehung der Bevölkerung in Berührung kam. Inwieweit er diese Vorgaben in St. Florian auch umsetzte ist aus seiner Zeit in der NSV nicht belegt. Seine Tätigkeit in dieser Organisation legte er im Herbst 1939 ab, um tags darauf Leiter der NSDAP-Ortsgruppe zu werden. „[…] er habe sich als Ortsgruppenleiter bemüht, politische Härte auszugleichen und dafür gesorgt, dass keinem Bürger von St. Florian etwas zu leide getan werde.“679

Diese Selbstdarstellung, festgehalten in einem Vernehmungsprotokoll, ist allerdings anhand einer Reihe von ZeugInnenaussagen in Zweifel zu ziehen. Laut diesen habe er mehrere Personen angezeigt, was für die Betroffenen, angefangen bei Vernehmungen und Gefängnisaufenthalten über Einberufungen zur Wehrmacht bis hin zur Deportation einer geistig behinderten Frau nach Niedernhardt zur Konsequenz hatte. Die Heil- und Pflegeanstalt Niedernhardt fungierte als Zwischen- bzw. Sammelanstalt für die berüch- tigte Euthanasieanstalt Hartheim, wurde aber auch selbst zu einem Schauplatz der de- zentralen Euthanasie, in der PatientInnen mithilfe von Medikamenten getötet wur- den.680 Die besagte Frau wurde, laut der Aussage ihres Vaters, im Sommer 1939 nach Deutschland überstellt und verstarb dort am 11. 7. 1940, angeblich an einer plötzlich auftretenden fiebrigen Krankheit.681 An welchen Ort sie tatsächlich gebracht wurde war nicht mehr zu klären. Weitere Begebenheiten: Dem Fleischergehilfen Alois Pfenning- berger wurde von Leopold mit der Inhaftierung im KZ-Mauthausen gedroht, weil sich dieser abfällig über Adolf Hitler geäußert hatte.682 Der Orgelbauer Georg Windtner, der an der Ostfront im Einsatz war, hatte auf Fronturlaub zuhause den Ortsgruppenleiter Leopold einmal zu spät gegrüßt. Daraufhin erging die Meldung an Windtners Batail- lonskommandanten, der ihn, als er zurück an die Ostfront kam, zum Rapport bestellte. Windtners Glück war, dass sein Vorgesetzter die Angelegenheit mit den Worten, „der Herr Lampl soll selber mal hier raus kommen“ abtat und von weiteren Maßnahmen ab- sah.683 Diese Geschichte behielt er lange für sich und erzählte sie erst viele Jahre spä- ter seiner Familie. Die letzten durch die Pfarrchronik belegten Anzeigen, die Leopold bei der Gendarmerie einbrachte, betreffen einige Frauen und Mädchen aus St. Florian.

678 Mario Wenzel, Die NSDAP, ihre Gliederung und angeschlossene Verbände, in: Wolfgang Benz (Hg.), Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt am Main 2009, 33-34. 679 VGA Vg 11 Vr 3644/46, 222. 680 Waltraud Häupl, Der organisierte Massenmord an Kindern und Jugendlichen in der Ostmark 1940-1945, Gedenkdokumentation für die Opfer der NS-Euthanasie, Wien 2008, 165. 681 VGA Vg 11 Vr 3644/46, 290. 682 VGA Vg 11 Vr 3644/46, 233. 683 Interview mit Georg Windtner Jun., geführt am 7. 4. 2013, 00:30-01:30, Bänder beim Autor. Wörtliches Zitat aus einer Nacherzählung. 295

Als am 16. 4. 1945 ein ca. 6000 Personen umfassender Zug von KZ-Häftlingen, die bereits vom Burgenland zu Fuß bis nach St. Florian getrieben worden waren, den Markt passierte, versuchten diese Frauen den Häftlingen vom Straßenrand aus Äpfel zuzurollen. Dies unterband Leopold und brachte es zur Anzeige. Die örtliche Gendar- merie leitete die Anzeigen jedoch nicht mehr weiter. Pfarrer Nikolussi berichtet in sei- nen Aufzeichnungen, dass bereits am nächsten Tag wieder ca. 6000 Menschen durch den Ort getrieben wurden und zählt für diese beiden Tage 83 Personen, die auf dem Gemeindegebiet von St. Florian erschossen worden waren.684 Es handelte sich dabei hauptsächlich um ungarische Jüdinnen und Juden. Das über Leopold, gemäß Verbots- gesetz 1947, verhängte Berufsverbot blieb bis 1958 aufrecht. Ein Freispruch bzw. eine Verurteilung wegen des Vorwurfs der Illegalität findet sich in den Gerichtsakten nicht. Vom Vorwurf der versuchten Denunziation wurden er und sein Mitangeklagter Karl Banhuber „mangels ausreichender Beweise“685 am 16. 1. 1952 freigesprochen. Zusätz- lich zum Freispruch fügte das Gericht noch folgenden Satz ein: „Gem. §263 StPO. wird der Staatsanwaltschaft die selbständige Verfolgung des Leopold Lampl wegen der bei der Hauptverhandlung neu hervorgekommenen Straftaten vorbehalten.“686

Es handelte sich dabei um die oben auszugsweise erwähnten Vorwürfe und deren Kon- sequenzen. Weitere Anklagen erfolgten jedoch nicht mehr. Auch nach Kriegsende dürf- te Leopold, der sich selbst als Mitläufer darstellte, seiner nationalsozialistischen Gesin- nung treu geblieben sein und diese teilweise auch an seine Kinder weitergegeben ha- ben.687 Bezugnehmend auf die Frage nach einer Mitwisserschaft am Holocaust stelle ich fest, dass er von Mauthausen wusste. Er drohte Anderen mit der Inhaftierung in Mauthausen688, um, wie es scheint, mehr Druck aufzubauen als die Androhung einer „normalen“ Anzeige bewirkt hätte. In seinem Einflussbereich wurden auch Zwangsar- beiterinnen aus den KZs eingesetzt, er könnte also Kenntnis von deren schlechtem Gesundheitszustand und Sterben gehabt haben. Auch die erwähnten Berichte aus den letzten Kriegstagen weisen auf eine bis zuletzt regimetreue Haltung gegenüber den sogenannten „Volksfeinden“ hin, für die er jede Unterstützung unterband. Ob er aber vom industriellen Massenmord wusste ist mit den zur Verfügung stehenden Informa- tionen nicht zu klären. Auch die Anschuldigung, er sei verantwortlich für den Abtrans- port einer jungen Frau nach Niedernhardt ist kein Beweis, dass sich Leopold über die Konsequenzen dieses Vorgangs im Klaren war.

684 Egbert Bernauer, St. Florian in der NS-Zeit, phil. Diss., Wien 2004, 103-108. 685 VGA Vg 11 Vr 3644/46, 267. 686 VGA Vg 11 Vr 3644/46, 263. 687 Interview mit Sigrid Lampl, 01:06:35-01:08:05, Auszug: “du und des årge is eigentlich, dass der Helmut, der Helmut der is jå schon gstorben, åber da Rudl, der wår jå då a scho do in Gaubing, und dass das solche sind, der sollt a, den ganzen Nationalsozialismus leugnen.“ 688 VGA Vg 11 Vr 3644/46, 233. 296

7 Der Mythos

Zum Thema meiner Arbeit hat mich, wie schon eingangs erwähnt, die Geschichte mei- nes Onkels, der sich erfolglos bei den Florianer Sängerknaben beworben hatte, ge- bracht. Schnell wurde klar, dass hinter dieser Geschichte weit mehr steckt, als nur die- ses eine Ereignis. Mein Vater erzählte mir eine Begebenheit, die sich ca. Mitte der 1960er (er war gut 20 Jahre alt) an seiner Dienststelle abgespielt hat. Ihm wurde ein neuer Kollege vorgestellt, der in St. Florian wohnhaft war. Auf dessen Frage, ob mein Vater aufgrund der Namensgleichheit mit Leopold Lampl verwandt sei, antwortete mein Vater voller Überzeugung: „Ja, das ist mein Onkel. Der hat ja im Krieg euer Stift gerettet!“ Worauf ihm zu seinem Erstaunen geantwortet wurde: „Nein, gerettet hat der gar nichts!“ Mein Vater hatte damals nichts verschweigen oder beschönigen wol- len, er hat es schlicht und einfach nicht besser gewusst und die Erzählungen, die in der Familie kursierten bzw. die Geschichten, die sein Onkel erzählt hatte, vorbehaltlos geglaubt und wiedergegeben. Es war für meinen Vater das erste Mal, dass er die Ge- schichte in Frage stellte und über die tatsächliche Rolle Leopolds nachdachte. Schon in mehreren Gesprächen mit Personen aus St. Florian konnte ich einen bis heu- te wirkenden bitteren Nachgeschmack aus der Zeit meines Großonkels als NSDAP- Ortsgruppenleiter feststellen. Damit bestätigt sich, was ich aus den Erzählungen mei- nes Vaters gehört habe. Doch wie ist dieser Mythos überhaupt entstanden und warum wird er teilweise bis heute, zu Recht oder nicht, noch geglaubt? Als Ausgangspunkte dieser Version der Geschichte sind zwei wesentliche Faktoren festzumachen. Erstens natürlich das Bild, das Leopold nach dem Krieg und seiner Haftzeit in Glasenbach selbst über sich in der Familie verbreitete. Zweitens eine Erklä- rung des ehemaligen Augustiner Chorherrn Dr. Johannes Hollnsteiner, der in den 1930er Jahren enger Berater Kurt Schuschniggs war und eine sehr enge Beziehung zu Alma Mahler-Werfel pflegte. Er bekam einen Lehrstuhl für Kirchenrecht an der Theolo- gischen Fakultät der Universität Wien und setzte sich für von den Nazis verfolgte KünstlerInnen ein. Er wurde nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland verfolgt und in Dachau interniert. Nach seiner Freilassung arrangierte er sich mit dem NS-System, so dass er sich als einziger der Augustiner Chorherren nach der Enteig- nung des Stiftes noch frei darin bewegen konnte. 1941 trat Hollnsteiner aus dem Or- den aus und heiratete. Er wurde Mitglied bei der NSV und hatte auch sonst gute Kon- takte zu Nazi-Eliten, sodass er von den Amerikanern nach Kriegsende ebenfalls nach Glasenbach gebracht wurde.689 Sein Biograph Friedrich Buchmayer schreibt dazu fol- gendes:

689 Bernauer, St. Florian in der NS-Zeit, 209-211. 297

"Es gab in seiner Generation nicht viele Personen, die sowohl in einem Konzen- trationslager der Nationalsozialisten als auch in einem Entnazifizierungslager waren.“690

Hollnsteiner, der nach seiner Haft in Dachau vermutlich aufgrund seiner politischen Verbindungen nicht mehr nach Wien zurückkehren durfte, verbrachte die gesamten Kriegsjahre in St. Florian. Er dürfte Leopold wohlgesonnen gewesen sein, da er sowohl in den Prozessen zu Leopolds Gunsten aussagte, als auch in einer schriftlichen Erklä- rung darlegte, dass Leopold in seiner Funktion als Ortsgruppenleiter wesentlichen An- teil an der kampflosen Übergabe von St. Florian an die amerikanischen Truppen ge- habt habe. Hollnsteiner gibt an, als Teil einer Personengruppe, die sich gegen eine Verteidigung von Sankt Florian engagierte, zu Leopold gegangen zu sein, um diesen zur Mithilfe zu bewegen. Daraufhin habe Leopold selbst einige HJ-Mitglieder, die zum Kampf entschlossen waren, entwaffnen und eine im Stift einquartierte SS-Abteilung unter der Führung von SS-Obergruppenführer Dr. Glasmeier (siehe Abbildung 3/4) zum Abzug bewegen können. Er bestätigte Leopold somit, dass er wesentlichen Anteil daran hatte, dass Markt und Stift St. Florian den Krieg nahezu unbeschadet überstan- den, wodurch unersetzliche Kunstwerke, unter denen sich auch Beutekunst befand, erhalten blieben.691 Nach Durchsicht der Gerichtsakten, stellt sich das Bild allerdings etwas anders dar. Glasmeier hat das Stift bereits zwei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner in St. Florian verlassen und sich, wie wenig später auch der Rest seiner Einheit, in Zivilklei- dung aus dem Staub gemacht. Als Grund hierfür wird nicht eine Unterredung mit dem Ortsgruppenleiter angegeben, sondern der Versuch, so der Gefangennahme durch die Amerikaner zu entgehen. Die amerikanischen Luftstreitkräfte sollen auch strikt ange- wiesen worden sein, das Stift und den ganzen Ort St. Florian nicht zu bombardieren. Dies ist im Prozess auch mit Hilfe amerikanischer Luftkarten belegt worden.692

690 Buchbeschreibung: Friedrich Buchmayr; Der Priester in Almas Salon, Bibliothek der Provinz. URL: http://www.bibliothekderprovinz.at/buecher.php?id=198 (abgerufen am 25. 4. 2013). 691 VGA Vg 11 Vr 3644/46, 221. 692 VGA Vg 11 Vr 3644/46, 222, Anmerkung des Verfassers: Diese Luftkarten lagen dem Gerichtsakt nicht bei. 298

Abbildung 3: Ortsgruppenleiter Leopold Lampl und Reichsrundfunkintendant Dr. Heinrich Glasmeier.

Quelle: Egbert Bernauer, St. Florian in der NS-Zeit, phil. Diss., Wien 2004, 234.

Das Stift lief nur einmal Gefahr, ins Visier der amerikanischen Bomber zu geraten, nämlich als Gauleiter Eigruber 1943 plante, die Stiftskeller als Ausweichquartiere für das Kugellagerwerk Steyr zu verwenden. Von dieser Idee soll auch Leopold sehr be- geistert gewesen sein. Der Plan wurde jedoch von Leopold Weginger, dem Weinkelle- reidirektor des Stiftes St. Florian, vereitelt, indem er durch persönliche Intervention beim Oberkommando der Wehrmacht (OKW) erwirkte, dass in den Kellern größere Weinvorräte für das deutsche Heer eingelagert wurden.693 Inwieweit die Entwaffnung der HJ-Einheiten den Tatsachen entspricht, war mit dem mir zur Verfügung stehenden Material nicht zu klären. Leopold wird in mehreren Quellen als fanatischer Nationalsozialist bezeichnet, was so- wohl für die Zeit vor als auch nach dem 8. 5. 1945 gilt. So hat er in der Stube seines Elternhauses, als er meinen Großvater besuchte, noch laut gerufen: „Wir müssen sie- gen, wir müssen siegen! Aber wehe wir siegen nicht!.“694

693 VGA Vg 11 Vr 3644/46, 222. 694 Interview mit August Lampl, 21. 11. 2012. 299

Abbildung 4: Erntedankfest am Sportplatz St. Florian, Ortsgruppenleiter Leopold Lampl und Reichsrundfunkintendant Dr. Heinrich Glasmeier.

Quelle: Egbert Bernauer, St. Florian in der NS-Zeit, phil. Diss., Wien 2004, 235.

Auch der bereits erwähnte Eintrag in der Pfarrchronik zum Durchmarsch jüdischer Häftlinge zeigt, dass Leopold bis in die letzten Kriegstage noch an der NS-Ideologie festhielt. In mehreren ZeugInnenaussagen aus seinen Volksgerichtsprozessen wird er- klärt, dass Leopold gar nicht mehr die Möglichkeit gehabt hätte, die Amerikaner am Vorrücken zu hindern, da sich die versprengten Wehrmachtseinheiten nur noch darauf vorbereiteten, sich zu ergeben. Somit ist völlig irrelevant, welche Pläne Leopold ge- habt hat, die nahenden Ereignisse konnte er in keine Richtung mehr beeinflussen.

8 Die NS- und Nachkriegszeit im Gedächtnis der Familie

Im Folgenden soll, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, ein ausgewähltes Sample einen Einblick in die Erinnerungskultur meiner Familie geben und in zwei Blöcke geteilt ei- nerseits die individuell erinnerten Fakten und andererseits die Verschmelzung dieser Einzelerinnerungen zu einer kollektiven Familienerinnerung aufzeigen. Einzelne Ereignisse sollen als Narrative der gemeinsamen Geschichte in den Fokus ge- rückt werden, während andere Aspekte einer noch kleineren Subgruppe bzw. nur einer einzelnen Person zuzuordnen sind. Vorausgeschickt sei, dass das Reden über den Na- tionalsozialismus, auch im Fall meiner Familie, ein Reden über den Krieg ist.695 Die ers- ten Kindheitserinnerungen meiner InterviewpartnerInnen hingegen sind in den meis-

695 Reiter, Margit, Die Generation danach: der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck-Wien 2006, 49. 300 ten Fällen weder mit dem Nationalsozialismus noch mit dem Krieg in Verbindung zu bringen sondern sehr persönliche Ereignisse. Bei der Durchsicht der Interviews fällt sehr stark auf, dass der Krieg mit all seinen ne- gativen Auswirkungen erst im Juli 1944 im Ort und in der Familie angekommen war. In allen Interviews nahm die Beschreibung der ersten Luftangriffe der Alliierten auf die Hermann Göring Werke in Linz eine zentrale Rolle ein. Pulgarn war davon ebenso be- troffen, da eine Flakstellung ganz in der Nähe auf einem Hügel stationiert war und die Bomber beim Anflug auf diese oft auch schon über dem kleinen Ort ihre Fracht entlu- den. Im Zuge dieser Erzählungen werden sowohl die regelmäßige Flucht in den knapp einen Kilometer entfernten Luftschutzkeller, als auch der Einschlag einer Brandbombe in den Hof, die aber glücklicherweise nicht zündete, in allen Interviews gleichermaßen erwähnt. Bei diesem Angriff wurde auch das Nachbarhaus getroffen, welches dadurch völlig ausbrannte. Doch nicht nur die Ereignisse des letzten Kriegsjahres, sondern vor allem die Nach- kriegszeit in der Sowjetischen Besatzungszone sind in den Erinnerungen tief verwur- zelt: Betrunkene Soldaten, die drohten, den Vater zu erschießen, aber schlussendlich mit etwas Speck und Schnaps wieder von dannen zogen sowie „displaced persons“, die aufgrund der völlig zusammengebrochenen Infrastruktur festsaßen. Durch die räumliche Nähe zu Mauthausen und Gusen befanden sich ebenfalls noch viele ehemali- ge KZ-Häftlinge in der Gegend um Pulgarn, die um Nahrung und Unterkunft bettelten bzw. sich diese auch gewaltsam verschafften. Für alle Onkel und Tanten spielt schon während des Krieges Genowewa, eine polnische Fremdarbeiterin, die wie so viele junge Mädchen unter falschen Versprechungen ins „Deutsche Reich“ gelockt worden war, eine wichtige Rolle. Nach Aussagen meiner Ver- wandten wurde ihr eine lukrative Arbeit versprochen, tatsächlich musste sie aber ohne Bezahlung am Hof arbeiten und war vom Wohlwollen der Familie abhängig. Sie war damals nur wenige Jahre älter als die Kinder des Hofs und wurde somit zu einer wich- tigen Bezugsperson. Ihre Erfahrungen mit dem Krieg, den sie bereits in Polen durch den deutschen Überfall erlebt hatte sowie ihre Sprachkenntnisse haben meine Famili- enmitglieder vor einigen Gefahren bewahren können. So wusste sie sofort was zu tun war, als die ersten Bomber im Juli 1944 Pulgarn erreichten und konnte in der Nach- kriegszeit oft besser einschätzen, ob von herannahenden Soldaten bzw. KZ-Häftlingen eine Gefahr ausging, indem sie deren Gespräche belauschte. Meine Großmutter hielt mit Unterbrechungen noch bis in die 1970er Jahre Kontakt zu Genowewa und auch nach dem Tod meiner Großmutter gab es noch Besuche von Familienmitgliedern in Po- len sowie von Genowewas Familie in Österreich. Das Thema Leopold kam in den Interviews meist nur auf gezieltes Nachfragen hin zur 301

Sprache und handelte mehr von dessen imposanter Erscheinung und seinem schneidi- gen Auftreten als von seiner Involvierung in den Machtapparat des Nationalsozialis- mus. In Bezug auf seine Nazi-Vergangenheit wurde verstärkt auf seine Zeit in Haft und die schlechten Jahre danach, in denen er und seine Familie unter dem Berufsverbot lit- ten, eingegangen. Mein Großvater hat ihm auch regelmäßig Pakete mit Lebensmitteln nach Glasenbach geschickt und nach der Haft half meine Großtante Blanda ebenfalls mit Nahrungsmitteln aus. Er beklagte auch selbst die prekären Haftbedingungen wie mehrere Quellen belegen.696 Zweifellos war die Versorgungslage der Häftlinge nicht die beste, doch betrachtet man die Gesamtsituation der Nachkriegsjahre, ist der Literatur zu entnehmen, dass den Häftlingen in den Lagern der Westalliierten mehr Nahrungs- mittel zur Verfügung standen, als der Zivilbevölkerung.697 Das Thema KZ-Mauthausen kam nur einmal von selbst zur Sprache. Und zwar in Zu- sammenhang mit dem zerstörten Nachbarhaus, das Ende 1944 von KZ-Häftlingen wie- der aufgebaut wurde. Die Tochter des Nachbarn erkrankte während des Wiederauf- baus an Typhus und verstarb kurze Zeit später.698 Die Häftlinge wurden durch die SS von der Bevölkerung abgeschirmt. Der schlechte gesundheitliche Zustand der Häftlin- ge blieb meiner Familie jedoch nicht verborgen, was auch in den Interviews bestätigt wurde. Das Unrecht, das diesen Menschen widerfuhr, wurde jedoch nicht in vollem Umfang erkannt, da die NS-Propaganda ihr bestes tat, um diese Menschen als Schwerverbrecher und „Volksfeinde“ darzustellen. Der Nachbar z.B. forderte hingegen von der SS einen ordentlichen Umgang mit den Menschen, die beim Wiederaufbau sei- nes Hofes beschäftigt waren, ein.699 Dies zeigt, dass in der Bevölkerung des Ortes sehr wohl das Bewusstsein, wie mit den KZ-Häftlingen in Mauthausen normalerweise ver- fahren wurde, vorhanden war. Beim Versuch, einen Querschnitt durch die Interviews zu machen, fällt stark auf, dass es einerseits einen Anteil sehr homogener Geschichten gibt, die bei allen Personen in gleicher Weise vorkommen und andererseits natürlich sehr individuelle Begebenheiten, die für die Einzelperson von besonderer Bedeutung waren. Ein dritter Aspekt im Erin- nern meiner Interviewpartnerinnen ist eine weitere Ausdifferenzierung in noch kleinere Gruppen als die ganze Familie. So ist in Bezug auf das Verhältnis zu und deren Bild von den Eltern ein großer Unter- schied zwischen den älteren Geschwistern, Josef und Johanna, und den Jüngeren, Sig- rid und Florian, festzustellen. Dies findet vor allem in der Rolle meiner Tante Johanna als Erzieherin für die Jüngeren seinen Ausdruck, da sie in gewisser Weise aus der Ge-

696 VGA Vg 8 Vr 5387/47, 146-148. 697 Dohle/Eigelsberger, Camp Marcus W. Orr. "Glasenbach", 234-258. 698 Interview mit Johanna Matscheko, 00:38:10-00:30:30. 699 Interview mit Josef Lampl, 01:31:20-01:36:10. 302 meinschaft der Geschwister heraus in den Status einer Respektsperson und Verant- wortungsträgerin gestellt wurde. Daraus ergab sich eine starke Bindung an die Mutter, was auch im Interview in sehr emotionaler und für mich berührender Weise zum Aus- druck kam. Diese Beziehung war aber kein klassisches Eltern-Kind-Verhältnis, sondern ist durch die gemeinsame Führung des Haushalts und vor allem die Übernahme der Erziehung der jüngeren Geschwister durch Johanna eher als innige Bindung auf Au- genhöhe zu betrachten. Dieselbe Differenzierung zwischen älteren und jüngeren Geschwistern, zeigt sich auch in Bezug auf die Kriegserinnerungen. Hier kann eine Generationengrenze zwischen de- nen, die Krieg und Nationalsozialismus schon aktiv erlebt hatten, die Ängste und Sor- gen der Eltern teilen mussten, und denen, die erst in den letzten Kriegsjahren geboren wurden und somit keine persönliche Erinnerung daran haben, gezogen werden. Wäh- rend die Jüngeren zwar darüber informiert sind, sowie einige Geschichten, die vor ih- rer Zeit passiert sind, aus den Familienerzählungen reproduzieren können, ist bei den älteren Familienmitgliedern, die in Bezug auf den Nationalsozialismus noch unter dem Begriff „Erlebnisgeneration“ eingeordnet werden können700, ein emotionalerer Umgang mit dem Thema erkennbar. Auch die persönliche Aufarbeitung des Erlebten als Erwachsene dürfte bei den älteren Geschwistern eine intensivere gewesen sein. Dazu möchte ich zwei Beispiele verglei- chen. Mein Vater (Jahrgang 1944) hat sich, wie oben bereits ausgeführt, erst durch einen Arbeitskollegen der Konfrontation mit seiner Familiengeschichte gestellt und be- gann dadurch die Erzählungen seines Onkels zu hinterfragen. Er bleibt dabei trotzdem ein Außenstehender und kann nur, wohl auch etwas emotional berührt, auf die Erzäh- lungen der Erlebnisgeneration zurückgreifen. Ganz anders verlief die Auseinanderset- zung bei meinem Onkel Josef (Jahrgang 1931). Beim Gespräch über das KZ-Mauthau- sen kam von ihm bald das Thema „Mühlviertler Hasenjagd“ ins Spiel. Die Häftlinge, die am 2. 2. 1945 aus Mauthausen fliehen konnten, flohen in Richtung Norden und Os- ten, um hinter den Linien der bereits anrückenden Roten Armee in Sicherheit zu ge- langen.701 In Pulgarn, das ca. zehn Kilometer westlich von Mauthausen liegt, kamen somit keine Häftlinge vorbei. Mein Onkel erklärte dazu, dass er die gesamte Propagan- da, die über die entflohenen Häftlinge verbreitet wurde, geglaubt hat. Hätte er einen gesehen, hätte er sofort nach einem Erwachsenen gerufen, um den Häftling zu stellen. Alleine die Tatsache, dass auch er sich so verblenden ließ und sich so leicht an den Verbrechen der Nazis mitschuldig hätte machen können, beschäftigt ihn bis heute.702 In seinem Fall war es sehr schön zu sehen, wie eine Aufarbeitung der persönlichen

700 Reiter, Die Generation danach, 20. 701 Gordon J. Horwitz, In the shadow of death, living outside the gates of Mauthausen, New York 1990. 702 Interview mit Josef Lampl, 01:28:40-01:30:00. 303

Rolle in der Geschichte funktionieren kann und, losgelöst von falschem Stolz oder Scham, Einsicht und Erkenntnis zu Tage fördert. Er fordert im Interview auch ganz ve- hement ein, niemals zu vergessen und die Erinnerung daran am Leben zu erhalten, wie leicht es ist, durch Verblendung Schuld auf sich zu laden, die ihn persönlich, zwar nur in Form einer Imagination, aber dennoch bis heute verfolgt. Auch die lang gehegte Opferthese zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wurde von ihm selbst angesprochen und sofort, sogar unter der Verwendung des Begriffes „Täter“, dekon- struiert. Eine weitere Unterteilung der Großgruppe der zehn Geschwister in Bezug auf deren Wissen um die Familiengeschichte zeigt sich im Vergleich derer, die in der näheren Umgebung des Elternhauses verblieben sind und derer, die das regionale und soziale Umfeld verlassen haben. Interessanterweise wird dabei die Gruppe der Gebliebenen von der der Weggegangenen als die wissende Gruppe definiert. Diese Differenzierung ist aber einseitig und in die andere Richtung nur in Bezug auf konkrete spätere Ereig- nisse, und nicht in dieser generalisierenden Form festzustellen. Ganz wichtig ist hier natürlich, wie in anderem Kontext bereits des öfteren erwähnt, die Kategorie des Geschlechts. Es werden von meinen Tanten ganz klar andere Schwerpunkte in der Aufarbeitung gesetzt als von meinen Onkeln, wie sich beispiels- weise bei den bereits erwähnten Themen Bildung und Beruf deutlich zeigt. Auch die Kommunikation mit der Mutter war bei den Mädchen und auch später bei den Schwie- gertöchtern, vor allem was „Frauenthemen“ anging, deutlich offener. Meine Großmut- ter bekam von Frühjahr 1931 bis Winter 1944 zehn Kinder. Auf die Frage, warum in manchen Jahren kein Kind zur Welt kam, antwortete mein Onkel, dass er es nicht wüsste, aber dass sie in diesen Jahren vielleicht Fehlgeburten hatte. Als ich meine Mutter auf das Thema ansprach, sagt sie sofort: „Sie war wirklich jedes Jahr schwanger und wenn sie kein Kind bekam, hatte sie einen Abort. Das hat mir die Oma selbst erzählt.“

Einige der Söhne wissen das bis heute nicht. Eine Opfer-Täter-Umkehr ist am stärksten in den Erzählungen über meinen Großonkel Leopold zu erkennen. In den Interviews wurde meist nur kurz seine Funktion als Orts- gruppenleiter erwähnt, um gleich anzuhängen, dass er seine Beteiligung am national- sozialistischen Machtapparat „bitter bezahlen musste.“703 Bei allen Indizien über ein angespanntes Verhältnis der Familienzweige hinsichtlich des Nationalsozialismus versus der Konfession als Reibungspunkt,während des Krieges scheinen danach das Mitgefühl und der Familiensinn das Verhältnis wieder gebessert

703 Interview mit August Lampl, 01:26:00-01:27:40. 304 zu haben. Dies ließ Leopold für meine Familie eher zum Opfer dieses Krieges704 als zum Täter des Regimes werden. Hartnäckig hält sich auch der an anderer Stelle be- schriebene Mythos von der Rettung des Stiftes St. Florian durch Leopold. Es wird ihm von mehreren Seiten zugestanden, dass diese Erzählung einen Wahrheitsanspruch hat und dass er in seiner Position sehr wohl die Möglichkeit gehabt hätte, die Ereignisse, so wie von ihm selbst geschildert, zu beeinflussen. Doch sehr wohl kritisch und vor- sichtig, da ja in diesem Fall die Ablehnung von Onkel Franz bei den Sängerknaben das Heldenbild etwas stört. Bis auf die Ausformung seines eigenen Bildes hatte Leopold of- fensichtlich eher wenig Einfluss auf die Familie. Er und sein Bruder Karl wurden vor- sichtig als Fanatiker bezeichnet und dafür auch eher belächelt. Im größeren Kontext wird die intensive Beteiligung der ÖsterreicherInnen am Natio- nalsozialismus zwar nicht verteidigt, aber zumindest gerechtfertigt. Der Hof hätte ver- kauft werden müssen, wäre Hitler nicht einmarschiert, er brachte Arbeitsplätze und Kinderbeihilfe. Doch hätte man gewusst, worauf das ganze hinausläuft, wäre man der Faszination nicht erlegen.705 Auch wenn dieser Satz etwas polemisch klingt, denke ich doch, dass meine Interview- partnerInnen damit recht haben. Denn ich würde mir auch nicht anmaßen zu behaup- ten, im Jahr 1938 meine heute klar antifaschistische Einstellung in gleicher Weise ge- habt zu haben. Dieses Rechtfertigungsmuster stellt sich sehr pauschal dar. Die eigene Ablehnung des Nationalsozialismus wird mit der tiefen Religiosität meiner Familienmit- glieder erklärt. Die Ablehnung des Hitlerbildes im Haus durch meinen Großvater und eine Anekdote meiner Tante Johanna aus ihrer Schulzeit unterstreichen diesen Um- stand. Johanna erzählte, dass jeden Tag in der Früh ein Spruch aufzusagen war, in dem die ganzen „oberen Bonzen“ wie Goebbels, Göring und natürlich Hitler vorkamen. Dazu sagte Johanna: „Weil anders hätt ma hoid a Vater Unser g’bet, das wär gscheiter gwesn.“706 Auch die Nähe zu den Augustiner Chorherren, die nach ihrer Vertreibung aus St. Florian im Kloster Pulgarn lebten und natürlich auch Kontakt zur Bevölkerung pflegten, zeigten meinen Familienmitgliedern, wie die Nazis mit den Geistlichen und der Kirche verfuhren. Aus diesen Beobachtungen stelle ich fest, dass der katholische Glaube in meinem Familienzweig durchaus eine Rolle spielte, die Nazi-Ideologie abzu- lehnen. Hier aber von Opposition oder gar Widerstand zu sprechen, wäre etwas zu weit gegriffen. Die Familie hat es im möglichen Rahmen vermieden und sich im not- wendigen mit den Nazis arrangiert. Man könnte vielleicht von einem „Ich tu dir nichts und du tust mir nichts“-Verhältnis sprechen.

704 Reiter, Die Generation danach, 21. 705 Anmerkung des Verfassers: In mehreren Interviews in ähnlicher Weise geäußert. 706 Interview mit Johanna Matscheko, 00:21:00-00:23:00. 305

9 Quellen

• Karl Lampl, Chronik. Die Geschichte unseres Elternhauses in Pulgarn Nr. 15, 1958-1962 (unveröffentlichtes Manuskript), Kopie im Besitz des Verfassers. • NSDAP-Hauptkartei, Mitgliedskarten von Leopold, Franz und Karl Lampl, Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. • Volksgerichtsakten (VGA). • Vg 8 Vr 5387/47, Vg 11 Vr 3644/46. • Verbotsgesetz 1947.

Interviews: • Interview mit August Lampl, geführt am 21. 11. 2012, Bänder beim Autor. • Interview mit Johanna Lampl, geführt am 29. 1. 2013, Bänder beim Autor. • Interview mit Josef Lampl, geführt am 26. 3. 2013, Bänder beim Autor. • Interview mit Sigrid Lampl, geführt am 28. 1. 2013, Bänder beim Autor. • Interview mit Georg Windtner, geführt am 7. 4. 2013, Bänder beim Autor.

10 Abbildungen

• Abbildung 1: Geschwister und Mutter meines Großvaters am 25.08.1928, (hinten vlnr) Karl, Franz, Josef, Leopold, (vorne vlnr) Theresia, Aloisia (Mutter), Aloisia (Sr. Blanda), Maria. Quelle: Nachlass Sr. Blanda, Privatarchiv August Lampl. • Abbildung 2: Karl Lampl in Uniform. 1940 in Polen. Quelle: Nachlass Sr. Blanda, Privatarchiv August Lampl. • Abbildung 3: Ortsgruppenleiter Leopold Lampl und Reichsrundfunkintendant Dr. Heinrich Glasmeier. Quelle: Egbert Bernauer, St. Florian in der NS-Zeit, phil. Diss., Wien 2004, 234. • Abbildung 4: Erntedankfest am Sportplatz St. Florian, Ortsgruppenleiter Leopold Lampl und Reichsrundfunkintendant Dr. Heinrich Glasmeier. Quelle: Egbert Bernauer, St. Florian in der NS-Zeit, phil. Diss., Wien 2004, 235. 306 307

Bettina Pirker

Zwischen Opfermythos, Heroisierung und Verharmlosung

Eine Murauer Familie und der Nationalsozialismus 308

Inhalt

1 Die Quellen 310 1.1 Familienchronik und Lebenslauf von Hilde Maier 310 1.2 Die Interviews 311 2 – Dreh- und Angelpunkt meiner Familie 313 2.1 Zahlen und Fakten zum Bezirk Murau 314 2.2 Nationalsozialismus in Murau 315 2.2.1 Vorgeschichte 315 2.2.2 Die jüdischen Bürger Muraus 316 2.2.3 Die Familie Schwarzenberg 318 2.2.4 Zwangsarbeiter 318 2.2.5 Der Franz Amberger 319 2.3 Erinnerungen und Schicksalsgemeinschaft 321 4 Familiengeschichte 323 4.1 Johann Fritsch – von Böhmen nach Murau 323 4.2 Maria Fritsch 324 4.3 Paula Grössing, geb. Pernthaler 324 4.4 Othmar Pernthaler 324 4.5 Die Familie Grössing 327 4.5.1 Johann Grössing sen. 327 4.5.2 Ella Hernach, geb. Grössing 328 4.5.3 Johann Grössing jun. 329 4.5.4 Franz Xaver Grössing 330 4.5.5 Josef Grössing 330 4.5.6 Friedrich Grössing 332 4.5.7 Maria Weys, geb. Grössing (Tante Mitzi) 333 4.6 Die Familie Höfinger 335 4.7 Hilde Maier, geb. Ponholzer (meine Oma) 342 4.8 Verharmlosung und Opfermythos 353 5 Resümee 355 6 Anhang: Karl Brunner – Muraus „Retter vor den Russen“ 357 7 Quellen 364 8 Abbildungen 366 309

Danksagung

An dieser Stelle möchte ich all jenen Menschen Dank aussprechen, ohne die vorliegen- de Arbeit, in dieser Form, nicht möglich gewesen wäre. Die Zeitzeugen Hilde Maier und Friedrich Höfinger jun. haben mit mir sehr ausführlich und offen über ihre Erlebnisse gesprochen. Friedrich Höfinger jun. danke ich außerdem für unsere Familienchronik, aus der ich viele, für diese Arbeit wertvolle, Erkenntnisse gewinnen konnte. Der Leiter des Stadtamtes Murau, Herr Mag. Alfred Balzer, hat mir rasch und unbüro- kratisch Zugang zu den Akten im Gemeindearchiv Murau gewährt. Frau Uli Vonbank- Schedler und Herr Dr. Werner Koroschitz haben mich mit ihren Hinweisen auf so man- che Spur gebracht. Der Bürgermeister der Stolzalpe, Herr Wolfgang Hager, hat mir ein Exemplar seines bereits vergriffenen Buches „Die Arbeiterbewegung im Bezirk Murau“ kostenlos zur Verfügung gestellt. Herr Prof. Dr. Stefan Karner hat mir einen sehr hilf- reichen Tipp zu den Vorgängen rund um die britische Besetzung Muraus gegeben. Die Professoren Dr. Gerhard Botz und Dr. Peter Dusek haben mich immer wieder ange- spornt und ließen stets Nachsicht walten, wenn ich als Mutter einer kleinen Tochter den vorgegebenen Zeitplan nicht immer einhalten konnte. Mein innigster Dank gilt meinen Großeltern Hilde und Dr. Anton Maier, die mir durch ihre persönliche und finanzielle Unterstützung dieses Studium erst ermöglicht haben. Danke, dass ihr immer an mich geglaubt habt! 310

1 Die Quellen

Neben wissenschaftlicher Literatur und Archivquellen waren mir bei dieser Arbeit unsere Familienchronik sowie der, von meinem Onkel Heimo Taus erstellte, Lebenslauf meiner Oma Hilde Maier eine große Hilfe. Um derartige Quellen im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit nutzen zu können, bedarf es zunächst einer Quellenkritik. Ich habe mich bemüht, sämtliche Informationen aus diesen beiden Werken mit anderen Quellen abzugleichen, was mir vielfach auch gelungen ist. Auch auf die, für diese Arbeit, geführten Interviews mit den Zeitzeugen werde ich in diesem Kapitel näher eingehen.

1.1 Familienchronik und Lebenslauf von Hilde Maier

Viele Kenntnisse über meine Familie verdanke ich unserer Familienchronik. Die meis- ten in dieser Arbeit erwähnten Personen konnte ich nie persönlich kennen lernen. Friedrich Höfinger jun., der Cousin meiner Oma Hilde Maier, erstellte diese Familien- chronik im Sommer 2008 und hat sie seinen Geschwistern gewidmet. Im Geleit er- wähnt er, dass er es wichtig findet, dass man seine Vorfahren kennt. 707 Alle angegebe- nen Daten hat Friedrich Höfinger mit vorhandenen Dokumenten wie Geburts-, Heirats- oder Sterbeurkunden abgeglichen. Die Erzählungen und Anekdoten über die Familien- mitglieder kennt er teils aus eigener Erfahrung, teils aus Erzählungen anderer Famili- enmitglieder. Ich sehe diese daher nicht unbedingt als historische Wahrheit an, son- dern vielmehr als Erinnerungskultur unserer Familie. Familienchroniken werden in ers- ter Linie dazu erstellt, die Erinnerung an Vorfahren am Leben zu erhalten und diese Familiengeschichte zukünftigen Generationen zugänglich zu machen. Daher neigen sie oft dazu, positive Dinge besonders hervorzuheben und negative Dinge unter den Tisch fallen zu lassen. Obwohl Friedrich Höfinger jun. beim Thema Nationalsozialismus die Tendenz zeigt, vor allem seinen Vater von aller Schuld reinzuwaschen, muss ich ihm hoch anrechnen, dass er auch diesen Abschnitt im Leben unserer Familie ausführlich und weitgehend ehrlich behandelt hat. Er lässt keine Vorkommnisse aus und themati- siert offen die NSDAP-Mitgliedschaft einiger Mitglieder der Familie. Wohl versucht er, diese zu erklären oder zu entschuldigen. Das Leben meiner Oma Hilde Maier, geb. Ponholzer, hat Friedrich Höfinger in der Fami- lienchronik nur kurz im Kapitel über ihren Vater Othmar Pernthaler behandelt. Weitere Aufschlüsse gab mir hier ein Lebenslauf von Hilde Maier, den ihr Sohn Heimo Taus ver- fasst hat. Heimo Taus hat die Kindheit und Jugend meiner Oma anlässlich ihres 80.

707 Friedrich Höfinger, Familienchronik. Murau 2008, 1. 311

Geburtstags im Jahr 2007 zu Papier gebracht. Er hatte ursprünglich noch einen zwei- ten Teil geplant, der die restlichen Jahre ihres Lebens darstellen sollte. Aus Zeitgrün- den hat er diesen aber noch nicht geschrieben. Der Lebenslauf basiert hauptsächlich auf Erinnerungen, die Hilde Maier ihrem Sohn selbst erzählt hat. Da ihr Gedächtnis mittlerweile altersbedingt etwas getrübt ist, umfasst er auch Episoden, an die sie sich heute nur noch auf Nachfrage mühsam erinnert. Ihrem Sohn hat sie allerdings schon seit seiner Kindheit Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt, damals waren die Erinne- rungen natürlich noch viel frischer. Daher war mir dieser Lebenslauf eine große Hilfe, etwaige Lücken in ihren Erzählungen aufzufüllen. Die Zeit des Nationalsozialismus hat mein Onkel allerdings so gut wie ausgespart. Erst mitten im Text erscheint anlässlich des „Pflichtjahres“ meiner Oma plötzlich das Jahr 1941. Heimo Taus folgt hier der Tak- tik, diese Zeit so gut wie möglich auszusparen. Diese Vorgangsweise ist in lokalen ge- schichtlichen Abrissen sehr häufig zu finden.

1.2 Die Interviews

Ich habe für diese Arbeit insgesamt drei Interviews geführt, wobei ursprünglich mehr geplant waren. Leider bin ich mit meinem Wunsch, diesen Teil der Geschichte unserer Familie aufzuarbeiten, teils gegen verschlossene Türen gerannt. Mein besonderer Dank gilt meiner Oma Hilde Maier sowie ihrem Cousin Friedrich Höfinger jun., welche beide sofort meinem Ansinnen nach einem Interview nachgekommen sind und sehr ausführ- lich mit mir gesprochen haben. Auch die Nutzung eines Aufnahmegerätes stellte hier- bei kein Problem dar. Während des Interviews mit meiner Oma taten sich jedoch auch einige Schwierigkei- ten auf. Meine Oma war eigentlich die einzige Person aus meiner Familie, die schon immer offen mit mir über dieses Thema gesprochen hat. Da wir im Vorfeld bereits vie- le Stunden diskutiert haben, kannte sie natürlich, sowohl meine Einstellung, als auch die Tatsache, dass ich im Rahmen meines Studiums, und auch aus eigenem Interesse heraus, schon einige Kenntnisse über jene Zeit habe. Dementsprechend vorsichtig wa- ren daher oft ihre Antworten und sie fragte immer wieder nach, ob ich dieses oder je- nes schon wüsste. Aus dieser Vorsicht heraus hat sie wohl oft nicht so offen gespro- chen, wie sie es bei einem anderen Interviewer vielleicht getan hätte. Da wir schon vor dem Interview so viel über dieses Thema gesprochen haben, werde ich in diese Arbeit auch einige dieser früheren Gespräche einfließen lassen. Ein weiteres Problem war, dass das Gedächtnis meiner Oma altersbedingt schon etwas nachlässt. Dies be- trifft aber vor allem das Kurzzeitgedächtnis, an die weiter zurückliegende Vergangen- heit hat sie noch relativ klare Erinnerungen. Trotzdem ist mir aufgefallen, dass ich bei 312 manchen Themen, von denen sie mir vorher schon einmal erzählt hat, der Erinnerung auf die Sprünge helfen musste. Mein persönlicher Eindruck war aber, dass dies hauptsächlich jene Themen betraf, über die zu sprechen ihr unangenehm war. Das Interview mit Friedrich Höfinger jun. fand unter ganz anderen Voraussetzungen statt. Erst im Zuge dieses Interviews habe ich diesen Verwandten überhaupt kennen gelernt. Er wusste wohl, dass ich Geschichte studiere, wusste aber nichts über meine Vorkenntnisse auf diesem Gebiet. Hier ist es mir also viel besser gelungen, möglichst ahnungslos zu wirken und ihn einfach erzählen zu lassen. Friedrich Höfinger jun. war Hauptschullehrer und zuletzt Direktor der Hauptschule Murau. Ein durchaus gebildeter Mann also, der sich selbst als geschichtlich interessierten Menschen bezeichnet. Die größten Schwierigkeiten bereitete mir das Interview mit Maria Weys, der Tante meiner Oma, genannt „Tante Mitzi“. In der Familie war stets bekannt, dass sie immer noch dem Nationalsozialismus zugetan ist und sogar den Führergeburtstag bis heute feiert. Meine Oma zitierte immer wieder ihren Satz: „Der Hitler war ja so gut, nur den Krieg hätte er nicht anfangen sollen.“ Den millionenfachen Mord an den Juden kom- mentierte sie laut meiner Oma damit, dass das ja auch eine andere Rasse waren. Ich persönlich kam nie in die Situation, mit ihr solche Themen zu besprechen. Mit Kindern redet man darüber ja sowieso nicht, als Jugendliche habe ich mich genau wegen die- ser Einstellung von ihr komplett zurückgezogen und seit ich mich wieder versöhnlicher zeigte, hatte ich mich der Taktik der Familie angepasst, die lautete: ignorieren – man kann sie sowieso nicht umstimmen; sofort das Thema wechseln; nie von sich aus das Thema ansprechen. In- zwischen war auch ihre Lust, darüber zu reden, schon ziemlich vergangen. Die Familie hatte ihr nämlich immer wieder zu verstehen gegeben, dass niemand ihre Einstellung teilt und keiner ihre Lobeshymnen auf den Nationalsozialismus hören wollte. Nur mei- ner Oma vertraute sie sich noch hie und da an und auch das hatte immer wieder zu Streitgesprächen geführt. Dementsprechend negativ waren auch die Reaktionen in der Familie, als ich nun aus- führlich mit ihr „darüber“ sprechen und „alles wieder aufrühren“ wollte. Dazu kam, dass Maria Weys mittlerweile 91 Jahre alt und nicht mehr sehr guter Gesundheit ist, was sich u.a. auch an starken Gedächtnisproblemen äußert. Lange musste ich daher um das begehrte Interview betteln, von dem ich mir den spannenden Einblick in die Seele einer überzeugten Nationalsozialistin versprach. Bevor ich die Tante mit der Bit- te um ein Interview anrief, hat mich meine Oma darauf eingestimmt, was ich sagen sollte und was nicht. Ich dürfe auf keinen Fall sagen, dass ich mit ihr über die Zeit des Nationalsozialismus reden wolle, sondern über die „Kriegszeit“. Ich habe mich lange darauf vorbereitet, wollte ihr sagen, dass ihre Anonymität gewahrt wird. All den Vor- 313 bereitungen zum Trotz hat Tante Mitzi mein Ansinnen sofort mit den Worten „darüber weiß ich nichts“ abgelehnt. Nach langem Bitten und erklären, dass sie mir lediglich über ihre persönlichen Erfahrungen erzählen soll, hat sie mich vertröstet. Ich sollte mich noch einmal melden, wenn es ihr gesundheitlich besser geht. Monatelang musste ich um dieses Interview betteln und nachdem ich schon fast aufgegeben hatte, war es Mitte September 2013 dann endlich soweit. Ich hatte einen Termin, ich durfte nach Graz fahren und die Tante erwartete mich. Freudig machte ich mich auf mit der Erwartung, in meiner bereits jahrelangen Forschung über die „kleinen Nazis“ ein großes Stück weiter zu kommen. Dementsprechend enttäuschend war das Interview dann für mich. Nachdem ich stundenlang warten musste, bis sie sich für das Interview bereit fühlte, stellte sie von Anfang an klar, dass eine Tonbandaufnahme für sie nicht infrage kam. Dann erzählte sie mir einige Belanglosigkeiten und Episoden von Famili- enmitgliedern, gefolgt von ständigen Seufzern, dass es eine so schlimme Zeit war. Ha- rald Welzer nennt diese Form der Erzählung „Sätze, die nicht als Erinnerung sondern als Überzeugungen definiert werden. Sätze wie […] ‚es war eine schlimme Zeit‘“.708

Nach ca. 10 Minuten erklärte sie mir, dass ihr nicht mehr einfällt und auf all meine vorsichtigen Fragen meinte sie nur, dass sie darüber nichts wisse. Außerdem wollte ich noch Hertha Ölknecht interviewen. Sie ist die zweite Tochter von Othmar Pernthaler, meinem Urgroßvater und vier Jahre jünger als meine Oma. Ich hätte mir mehr Informationen über Othmar Pernthaler erhofft, da seine Rolle nach dem Anschluss sehr lückenhaft ist. Mit seinem Tod im Lazarett wurde er in der Familie zu einem der vielen Opfer von „Hitlers Krieg“ stilisiert und seine nationalsozialistischen Aktivitäten gerieten in den Hintergrund. Mehr als die Tatsache, dass er illegaler Nazi war und schließlich nach Polen einberufen wurde, konnte mir keiner erzählen. Hertha Ölknecht hat das Interview aber leider strikt verweigert, mit der Begründung, dass sie damals noch ein Kind war und daher dazu nichts sagen könne.

2 Murau – Dreh- und Angelpunkt meiner Familie

Der Großteil der Geschehnisse, über die ich in dieser Arbeit schreibe, spielten sich im Bezirk Murau ab. Teilweise jedoch auch im Bezirk Judenburg, da meine Oma auch eini- ge Jahre dort gelebt hat. Zum Bezirk Judenburg hatten wir nie eine besondere Verbin- dung, wohingegen Murau mit den Jahren zur Heimat meiner Familie wurde. Obwohl ei- nige Familienmitglieder im Laufe der Zeit weggezogen sind, und manche gar nicht dort

708 Harald Welzer, „Opa war kein Nazi“ Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main, 8. Aufl. 2012, 136. 314 geboren wurden, kommen alle doch immer wieder nach Murau zurück. Dies wird in den Lebensgeschichten der Protagonisten noch ausführlich beschrieben. Auch ich habe die ersten Tage meines Lebens in Murau verbracht, obwohl meine Mutter damals in Graz und meine Großeltern in Mürzzuschlag wohnten. Trotzdem war es in der Familie klar, dass meine Mutter zur Geburt nach Murau kommen sollte.

2.1 Zahlen und Fakten zum Bezirk Murau

Ich wurde in Judenburg geboren, weil der Bezirk Murau bis heute kein Krankenhaus mit einer Geburtenstation hat. Das zeigt auch schon, dass die Infrastruktur in Murau immer noch mangelhaft ausgebaut ist. Der Bezirk Murau liegt eher abgelegen im Wes- ten der Steiermark an der sogenannten Mur-Mürz-Furche, nahe Kärnten im Süden und im Westen liegt nur 22km entfernt der Salzburger Lungau. Der Bezirk ist ungewöhn- lich dünn besiedelt, was vor allem daran liegen dürfte, dass er sehr viel unbewohnba- res oder nur spärlich besiedeltes Bergland aufweist. Der Bezirk besteht aus vielen klei- nen Orten, die zersplittert im umliegenden Bergland liegen. Nach Bad Radkersburg ist Murau die zweitkleinste Bezirkshauptstadt der Steiermark. Im Gegensatz zu den obersteirischen Industrieorten wie Judenburg und Knittelfeld, ist der Bezirk Murau fast ausschließlich agrarisch geprägt und verfügt über keinerlei Industrie. Hauptwirt- schaftszweige waren seit jeher die Landwirtschaft, in Form kleiner, in den umliegenden Bergen verstreuter Bauernhöfe, sowie die Forstwirtschaft. Einen Namen über die Gren- zen der Steiermark hinaus hat sich in erster Linie die Murauer Brauerei gemacht, im- mer noch einer der größten Arbeitgeber des Bezirkes. Murau war und ist von einer starken Abwanderung betroffen, vor allem die besser ausgebildete Jugend zieht es in die Städte. Zur mangelhaften Infrastruktur kommt eine schlechte Verkehrsanbindung. Der nächste Autobahnanschluss liegt bei Judenburg und die einzige Verbindung zur Bahn ist die 1894 eröffnete Murtalbahn, die bis zum Bahnhof Unzmarkt fährt und im Personenverkehr nur im Zweistundentakt verkehrt. Die Murauer Gesellschaft lebte also stets relativ abgeschieden und unter sich, quasi in ihrer eigenen kleinen heilen Welt, mit grünen Wiesen, blauem Himmel und hohen Ber- gen. Ich habe mich hier immer wohl gefühlt, die Gastfreundschaft der Murauer gelobt, die mich stets sehr freundlich empfangen haben, auch ohne Hinweis auf meinen fami- liären Hintergrund. Erst mit der Zeit begann ich, diese Gastfreundschaft zu hinterfra- gen. Immer wieder habe ich fremdenfeindliche Bemerkungen vernommen. Ich wurde einige Male gefragt, wie ich es in Wien denn aushalten könne, dort seien ja so viele Ausländer. Ich begann mich zu fragen, ob ich auch so freundlich aufgenommen würde, wenn ich anders wäre, z.B. dunkelhäutig. Folgendes Zitat beschreibt dieses Dilemma 315 zwischen freundlicher Harmonie auf der einen und Ressentiments auf der anderen Seite: „Denn jeder, der sich der Regionalgeschichte zuwendet, muss damit rechnen, dass dahinter oft die Sehnsucht nach Harmonie, Geborgenheit und Überschau- barkeit steht. Harmonische Gesellschaften aber sind statische Gesellschaften; sie stehen angeblich in Gegensatz zur bewegten, konfliktbeladenen Außenwelt, verteidigen ihre geordneten Innenbeziehungen. In Wahrheit bedeutet dies, dass die soziale Durchlässigkeit gering ist, dass Fremdes ausgegrenzt, abweichendes Verhalten stigmatisiert wird.“709

2.2 Nationalsozialismus in Murau

Regionalgeschichte birgt gewisse Schwierigkeiten, vor allem bei einem Thema wie dem Nationalsozialismus. In Murau stand in jener Zeit kein Konzentrationslager, es gab kei- ne öffentlichen Hinrichtungen, kein Jude ist direkt in Murau ermordet worden. Trotz- dem passierte die Verfolgung und Entrechtung jener Menschen, die vom Regime zu „Feinden“ erklärt wurden, vor aller Augen.

2.2.1 Vorgeschichte

Der Vorläufer der NSDAP, die Deutsche Arbeiterpartei (DAP), hatte bereits in der Mon- archie ihren Schwerpunkt, neben den deutschsprachigen Gebieten in Böhmen und Mähren, in der Steiermark; und zwar in Graz und einigen obersteirischen Gebieten. Während die DAP bei den Reichstagswahlen 1911 insgesamt nur 0,54% erreichen konnte, kam sie im Bezirk Murau auf erstaunliche 26,8% der Stimmen. Stärkste Partei im rechten Lager wurden allerdings die Deutschfreiheitlichen, die insgesamt doppelt so viele Stimmen wie die DAP erreichten. In der Obersteiermark stimmte etwa ein Viertel der Wähler für eine der beiden deutschnationalen Parteien. Murau, Liezen und Gröb- ming waren die steirischen Bezirke mit der stärksten NS-Affinität.710 Bei den Gemein- deratswahlen 1925 kamen in Murau erstmals Nationalsozialisten in den Gemeinderat und erreichten zwei von 14 Mandaten.711 Auch der Antisemitismus war in Murau bereits in den 1920er Jahren stark verbreitet. 1925 fasste der Gemeinderat einen Beschluss, Juden künftig die Sommerfrische in Mu- rau zu verwehren.712 Dies war der übliche Gang der Dinge: zuerst waren die jüdischen

709 Helmut Konrad, Regionalgeschichte, in: Sirikit M. Amann, Elisabeth Morawek, Veronika Ratzenböck (Hg.), Die zwei Wahrheiten. Eine Dokumentation von Projekten an Schulen zur Zeitgeschichte im Jahr 1988, Wien 1989, 117-135, hier 118. 710 Kurt Bauer, „Steiermark ist einmal gründlich verseucht…“ Regionale Unterschiede bei der Affinität zum Nationalsozialismus in der Phase des Durchbruchs zur Massenbewegung. Mögliche Ursachen und Erklärungsansätze, in: Österreich in Geschichte und Literatur, 43. Jahrgang, Heft 5-6 1999, 295-316, hier 305. 711 Wolfgang Wieland, Murau. Eine Stadt stellt ihre Geschichte vor, Band 2: Von 1850 bis zur Gegenwart, Murau 1998, 67f. 712 StLA, Murau Stadt, Gemeinde-Sitzungsprotokolle 1923-1936, H 4779. Gemeinderat-Sitzungsprotokoll, Murau, 29. 5. 1925. 316

Bürger Muraus noch in die Gesellschaft integriert. Man wetterte zwar gegen „die Juden“, meinte damit aber meist noch nicht seine eigenen Bekannten, sondern „den Juden“ als anonymes Feindbild. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme sollte sich dieses Feindbild aber sehr schnell auf bisherige Nachbarn und sogar Freunde ausweiten.

2.2.2 Die jüdischen Bürger Muraus

Bis 1938 lebten in Murau zwei jüdische Familien; die Familie Humburger hatte einen Gemischtwarenhandel und ein Sägewerk. Die Familie Reitmann-Fuchs hatte eine Ei- senwarenhandlung und eine Installationswerkstatt. Außerdem lebte in Murau die zum katholischen Glauben übergetretene „Jüdin“ Franziska Huwer, die mit einem „arischen“ Murauer verheiratet war. Die Eheleute Huwer waren nach dem „Anschluss“ bereits bei- de über 60 Jahre alt. Gleich nach dem „Anschluss“ begann die Entrechtung und Ent- eignung der Murauer Bürger mit jüdischer Herkunft. Da sie in einer sogenannten „pri- vilegierten Mischehe“ lebte, also mit einem „Arier“ verheiratet war, durfte Franziska Huwer in Murau bleiben. Das Ehepaar musste aber im Rahmen der „Zwangsentjudung der Liegenschaft“ ihr Haus weit unter Wert an ein „arisches“ Ehepaar verkaufen.713 Die Brüder Reitmann wanderten mit ihren Familien nach Montevideo aus.714 Der 81-jährige verwitwete Julius Fuchs dürfte wohl aufgrund seines Alters in der „Ostmark“ geblieben sein. Die genauen Umstände seines Todes sind nicht bekannt. Das Ehepaar Humbur- ger konnte den 15-jährigen Sohn Ernst mit einem Kindertransport nach England schi- cken, bevor die beiden in Murau verhaftet wurden. Nach der Entlassung aus der Haft floh das Ehepaar nach Jugoslawien.715 Jugoslawien war damals ein beliebter Zufluchts- ort für steirische „Juden“. An der Grenze hatte sich eine regelrechte Schlepperszene gebildet. Meist „arische“ Schlepper brachten die „Juden“ gegen Bezahlung über die Grenze.716 Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen am 6. 4. 1941 begann die Ver- folgung auch dort auf Hochtouren zu laufen. Adolf Humburger wurde vermutlich am 4. 8. 1941 in ein Konzentrationslager in Daruvar deportiert und ist dort gestorben. 717 Das letzte Lebenszeichen von seinen Eltern war ein 1942 über das internationale Rote Kreuz an Ernst Humburger übermittelter Brief von Malvine Humburger.718 1948 kam Elsa Blau, die Schwester von Malvine Humburger, nach Murau. Sie hatte

713 StLA, Finanzlandesdirektion Graz, Arisierung LG 2295 (Huwer). 714 StLA, Finanzlandesdirektion Graz, Arisierung HG 01211 (Fuchs). 715 Wolfgang Hager, Gerhard Weilharter, „Wir haben die Zeit erlebt!“ Die Arbeiterbewegung im Bezirk Murau 1918-1938, Zeitzeugen berichten, Stolzalpe 1998, 45-49. 716 Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938-1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung, 3. Aufl. Graz 1994, 171. 717 URL: http://www.lettertothestars.at 718 Hager/Weilharter, Die Arbeiterbewegung im Bezirk Murau, 49. 317 den Holocaust überlebt, ihr Mann war aber im Vernichtungslager Treblinka ermordet worden. Sie hatten gemeinsam in Villach ein Textilgeschäft geführt, weshalb sie zuerst nach Villach ging.719 Da Ernst Humburger zu jener Zeit in London studierte, kämpfte sie vor Ort für die Rückstellung des Humburger-Vermögens. Dieser Kampf sollte sich als sehr schwierig erweisen. Nach der Flucht des Ehepaares Humburger waren in ih- rem Haus Gliederungen der NSDAP, unter anderem auch die Kreisleitung, unterge- bracht. Im Zuge dessen wurden umfangreiche Umbauarbeiten vorgenommen. Elsa Blau forderte von der Gemeinde Murau die Wiederherstellung in den vorherigen Zu- stand. Sie erhielt einen ablehnenden Bescheid, in dem ihr die Stadtgemeinde mitteilte, dass „[…] die Gemeinden nicht Rechtsnachfolger der Gemeinden während der NS- Zeit [sind], sondern das Deutsche Reich.“

Es stehe ihr aber frei, gegen den ehemaligen Bürgermeister Ersatzansprüche zu stel- len. Außerdem hätte das Gebäude durch die Umbaumaßnahmen nur an Wert gewon- nen.720 In drastischem Gegensatz dazu steht die Wahrnehmung der Bevölkerung. Mei- ne Oma betonte im Interview mehrmals, dass die Juden alles wieder genau so bekom- men mussten, wie es vorher war. Die Gebäude wären wieder hergerichtet und einge- richtet worden, wie sie vorher waren. Auf meine ungläubigen Nachfragen, wieso sie das denke, antwortete sie, das sei Gesetz gewesen, weil „[…] den Krieg haben wir ja verloren.“ Als Bekräftigung dieser Sichtweise nennt sie als weiteres Beispiel das Kauf- haus Benedek in Fohnsdorf. Auch dort wäre alles wieder so hergerichtet worden, wie es vorher war.721 Die Familie Benedek führte viele Jahre lang ein Kaufhaus in Fohnsdorf. Nach dem „An- schluss“ 1938 wurde das Gebäude „arisiert“, das Kaufhaus „liquidiert“. Auch dort wur- den Verwaltungsstellen der NSDAP, unter anderem die Kreisleitung, eingerichtet. Die Familie Benedek floh nach New York. Nach 1945 wurde das Gebäude verlassen, nie- mand kümmerte sich mehr um die Instandhaltung. 1946 wurden Rückstellungsmaß- nahmen eingeleitet, 1948 kehrte die Familie zurück. Sie bekamen lediglich das mittler- weile ziemlich verfallene Gebäude zurück. Entschädigung für die Umbaumaßnahmen, die entwendete Einrichtung und die abverkauften Waren erhielten sie keine. Für Ein- richtung und Renovierung musste die Familie einen Kredit aufnehmen, damit sie das Kaufhaus wieder eröffnen konnte.722 Die Bevölkerung sah aber nur das neu renovierte, wiedereröffnete Kaufhaus und war überzeugt, dass dies alles im Rahmen von Rück-

719 Helga Embacher, Michael John, Remigranten in der österreichischen Wirtschaft nach 1945. Wiederaufbau und Wirtschaftswunder am Beispiel der Provinz, in: Österreichisch-jüdisches Geistes- und Kulturleben, Band 4, Wien 1992, 5-82, hier 62. 720 StLA, Murau Stadt 4624, Stellungnahme des Bürgermeisters der Stadt Murau an Rechtsanwalt August Bichler, Murau, 3. 2. 1948. 721 Interview mit Hildegard Maier am 3. 4. 2013. 722 Embacher/John, Remigranten, 56-58. 318 stellungsmaßnahmen geschehen war. Elsa Blau lebte in Murau sehr isoliert, niemand wollte etwas mir ihr zu tun haben. Mei- ne Oma erzählte, dass die Leute Angst vor ihr hatten, weil sie einen bösen Gesichts- ausdruck hatte. Herr Trojak, der Chef meiner Oma bei der Handelskammer, soll sogar gesagt haben, Frau Blau habe „den typischen jüdischen Blick.“ Es kursierten sogar Witze in Murau, dass Frau Blau nicht verheiratet war und keinen Mann finden würde. 723 Niemand machte sich die Mühe herauszufinden, dass ihr Mann in einem Vernichtungs- lager ermordet worden war. Auch für das Schicksal des Ehepaares Humburger interes- sierte sich offenkundig kaum jemand in Murau. Es wurde erzählt, dass das Ehepaar Humburger ausgewandert wäre.724 Damit hatte es sich erledigt, mehr wollte man nicht wissen. Elsa Blau verstarb 1950 in Murau.725

2.2.3 Die Familie Schwarzenberg

Die Familie Schwarzenberg, in deren Eigentum sich das Schloss Murau und viele Hektar Wald- und Grundbesitz befanden, war in Murau bis zum „Anschluss“ 1938 sehr angesehen. Nachdem aber vor allem das Familienoberhaupt Adolph Schwarzenberg durch Handlungen gegen das nationalsozialistische Regime aufgefallen ist, wurde die Familie verfolgt. Zu Kriegsbeginn 1939 hatte die Gestapo die Verhaftung von Adolph Schwarzenberg angeordnet, er konnte aber noch rechtzeitig nach Italien fliehen.726 Die umfangreichen Besitztümer der Schwarzenbergs in Österreich und der Tschechoslowa- kei wurden vom Regime enteignet. Das Schloss Murau wurde danach von einigen NS- Organisationen genutzt.727

2.2.4 Zwangsarbeiter

Auch in Murau wurden, wie im gesamten Deutschen Reich, zahlreiche sogenannte „Ostarbeiter“ eingesetzt. Diese waren hauptsächlich Kriegsgefangene und, aus den be- setzten Gebieten, verschleppte Menschen. Manche hatten sich aber auch freiwillig zum Arbeitseinsatz im Deutschen Reich gemeldet. Meine Oma erinnert sich an Polen, die in der Brauerei beschäftigt waren, an Russen, die bei Bauern arbeiten mussten und an einen französischen Kriegsgefangenen, der in ihrer Nähe in Murau wohnte. Der Fran- zose hatte ihren Erinnerungen zufolge eine eigene kleine Wohnung zur Verfügung und durfte sich in Murau frei bewegen. Wesentlich stärkerer Bewachung unterlagen Polen,

723 Interview Maier. 724 Interview mit Friedrich Höfinger jun. am 7. 1. 2013 in Murau. 725 Meldezettel von Elsa Blau, Gemeindearchiv Murau. 726 http://restitution.cz/de/historie/exil-a-zabaveni-majetku-nacisty 727 Wieland, Murau, 275. 319 am stärksten überwacht wurden Russen. Erstaunlich ist, dass meine Oma den Zwangsarbeitereinsatz nicht besonders ungewöhnlich oder verwerflich findet. Sie er- klärte mir, dass die Bauern froh waren, „Weißt eh, was ein Knecht gekostet hat“. Auf meine Nachfrage, ob die Bauern dafür keinen Lohn zahlen mussten, meinte sie nur „Gefangene Russen, was willst du“. Sie erzählte mir auch von einigen russischen Kriegsgefangenen, die in Murau in einem Keller eingesperrt waren. Diesen gab sie Brot durch die Gitterstäbe. Aber auch deren Hunger und Notsituation schwächt sie gleich wieder ab: „Sie haben eh zu essen bekommen, aber sie hatten halt eine Freude, wenn man ihnen was gibt“.728

Zu Kriegsende kam es in Murau zu einem Verbrechen an Zwangsarbeitern. Sechs Men- schen, darunter ein zweijähriges Kind, wurden erschossen. Am Murauer Friedhof gibt es daher bis heute ein sogenanntes „Russengrab“, in dem die Ermordeten nach Kriegsende begraben wurden. Da sich unter den Opfern, aller Wahrscheinlichkeit nach, auch ein französischer Kriegsgefangener befand, fand im November 1947 eine Ver- handlung vor dem französischen Militärgericht in Innsbruck statt. Drei Murauer wurden wegen der Ermordung von Zwangsarbeitern zu Gefängnisstrafen und Zwangsarbeit zwischen vier und fünfzehn Jahren verurteilt.729

2.2.5 Der Kreisleiter Franz Amberger

Nach dem Anschluss wurde Franz Amberger Kreisleiter von Murau. Im Jahr 1910 ge- boren galt er als der „jüngste Kreisleiter des Großdeutschen Reiches“.730 Amberger war bereits am 16. 9. 1930 der NSDAP beigetreten und erhielt die Mitgliedsnummer 198.632.731 Bereits in der illegalen Zeit brachte er es zum SA-Standartenführer. Wegen seiner NS-Betätigung wurde er strafweise einer sogenannten „Putzschar“ zugeteilt. 732 Hierfür wurden ortsbekannte Nationalsozialisten herangezogen, die Hakenkreuz- schmierereien und Ähnliches beseitigen mussten. Schließlich wurde er im Ständestaat zu über einem Jahr schweren Kerker verurteilt. Aus diesem Grund erhielt er vom NS- Regime 1941 den sogenannten „Blutorden“.733 Am 13. 5. 1945 wurde Amberger zu- nächst im Lager Wolfsberg interniert. Am 7. 12. 1946 wurde er in die französische Zone überstellt und kam dort in Untersuchungshaft. Auch er wurde wegen der Ermor- dung von Zwangsarbeitern zu Kriegsende in Murau angeklagt.734 Da ihm keine Mit-

728 Interview Maier. 729 Tiroler Nachrichten vom 3. 10. 1947 und vom 15. 12. 1947, Österreichische Nationalbibliothek, Wien. 730 Wieland, Murau, 271. 731 NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle A022, Nr. 1910. 732 Wieland, Murau, 269. 733 ÖSTA/AdR, Gauakten 1938-1945, 300.575, Personal-Fragebogen der NSDAP, Franz Amberger. 734 ÖSTA/AdR, Gauakten 1938-1945, 300.575, Einträge in der Lagerkartei Wolfsberg. 320 schuld nachgewiesen werden konnte, wurde er freigesprochen.735 Er wurde direkt nach Graz in Untersuchungshaft überstellt und vom Volksgericht Leo- ben wegen § 1 Abs. 6 KVG736 und § 11 VG737 zu acht Jahren und wegen § 4 KVG738 zu weiteren vier Jahren schweren Kerker verurteilt739. Die Verurteilung wegen § 4 KVG er- folgte, weil eine Apothekerin aus St. Lamprecht Anzeige wegen „Herabwürdigung ihrer Frauenehre“ gegen ihn eingebracht hatte. Amberger soll sie im Februar 1940 beschul- digt haben, ihrer Bedienerin die Teilnahme an einer örtlichen NS-Veranstaltung unter- sagt zu haben. Daraufhin hängte er ihr eine Tafel mit der Aufschrift „Ich bin ein Schwein“ um und ließ sie so von SA-Männern durch den Ort treiben. Da sogar Fotos von Frau Hutter mit der Tafel gemacht wurden, erschien dem Gericht der Vorwurf glaubhaft.740 Nachdem er unter Anrechnung der Internierungszeit in Wolfsberg, sowie der Untersuchungshaft, vier Jahre verbüßt hatte, stellte Amberger ein Gnadengesuch an den Bundespräsidenten. Darin rühmte er sich zahlreicher Hilfsmaßnahmen für Ver- folgte und behauptete sogar, die Stelle als Kreisleiter nur angenommen zu haben, um vom NS-Regime Verfolgten helfen zu können. Er legt eine Liste mit den Namen von 24 „Antifaschisten“ bei, welche „bereits listenmäßig erfasst in das Konzentrationslager nach Dachau kommen sollten“. Es sei ausschließlich Amberger zu verdanken, dass ih- nen dieses Schicksal erspart blieb. In der Anlage finden sich insgesamt 56 Fürspra- chen für Amberger. Neben dem späteren ÖVP-Nationalrat Karl Brunner (siehe Anhang) haben sich die Stadtgemeinde Murau, einige Ministerialräte, der Dekan Josef Vögl, alle politischen Gemeinden des Bezirkes Murau sowie viele andere für Amberger einge- setzt.741 Das Gnadengesuch tat seine Wirkung. Am 8. 2. 1950 wurde Amberger aus der Haft entlassen und kehrte zurück nach Murau.742 Bald danach fand er eine Anstel- lung bei der Handelskammer Murau, wo er bis zu seinem Tod beschäftigt war.743

735 Tiroler Nachrichten vom 15. 12. 1947, Österreichische Nationalbibliothek, Wien. 736 Kriegsverbrechergesetz, § 1 Abs 6: „Kriegsverbrecher […] sind auch diejenigen Personen, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Österreich, […] als Mitglieder der Reichsregierung, Hoheitsträger der NSDAP vom Kreisleiter oder Gleichgestellten aufwärts, […] tätig waren.“ Zu finden unter URL: http://www.nachkriegsjustiz.at 737 Verbotsgesetz, § 11 Abs. 1: „Ist eine der im § 10 Abs. 1 genannten Personen politischer Leiter vom Ortsgruppenleiter oder Gleichgestellten aufwärts gewesen […] oder ist sie Blutordensträger […] gewesen, so wird sie mit Freiheitsstrafe von 10 bis zu 20 Jahren bestraft, wenn die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung strenger strafbar ist.“ Zu finden unter URL: http://www.ris.bka.gv.at 738 Kriegsverbrechergesetz, § 4: Verletzung der Menschlichkeit und der Menschenwürde aus politischer Gehässigkeit oder unter Ausnützung dienstlicher oder sonstiger Gewalt. Zu finden unter URL: http://www.nachkriegsjustiz.at 739 StLA, Landesgericht für Strafsachen Graz, Vr. 1021-1949 (Amberger), Gnadengesuch von Franz Amberger an den Bundespräsidenten der Republik Österreich, 25. 7. 1949. 740 StLA, Landesgericht für Strafsachen Graz, Vr. 1021-1929 (Amberger), Urteilsbegründung des Volksgerichtes Graz, Senat Leoben. 741 StLA, Landesgericht für Strafsachen Graz, Vr. 1021-1949 (Amberger), Gnadengesuch von Franz Amberger an den Bundespräsidenten der Republik Österreich, 25. 7. 1949. 742 Meldezettel von Franz Amberger, Gemeindearchiv Murau. 743 Interview Maier. 321

2.3 Erinnerungen und Schicksalsgemeinschaft

Der Tenor, in allen Fürsprachen für Amberger, war jener, dass dieser ein guter Mensch war, seine Position als Kreisleiter niemals ausgenutzt hätte und eigentlich nur Kreislei- ter wurde, um Verfolgte vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu schützen. Nach dem Krieg wurde die Schuld, an den in der NS-Zeit verübten Verbrechen, alleine Hitler, den Deutschen und einigen führenden Nationalsozialisten zugeschrieben. Der Großteil der Bevölkerung versteifte sich auf die Behauptung, von all dem nichts gewusst zu ha- ben. Dies war ein weit verbreiteter Vorgang in den ländlichen Gemeinschaften des ehemaligen Dritten Reichs. Malte Thießen schreibt, dass sich kommunale Gesellschaf- ten schon bald als „friedliche Inseln im braunen Meer“ definierten. So befindet Hart- mut Berghoff: „Lokale Nationalsozialisten gab es anscheinend nicht. Amtsträger haben dage- gen beherzt ‚Schlimmeres‘ verhindert.“

Dieser Vorgang sei wichtig für die „lokale Identitätsbildung“ gewesen.744 Sogar Ernst Humburger, der einzige der Familie Humburger, der den Holocaust überlebt hat, pro- pagiert die Legende von den guten Murauern und den bösen Nazis von auswärts. Er erzählte, dass sich die Murauer seinem Vater gegenüber sehr korrekt benahmen. „Die Scharfmacher von den Nazis kamen von auswärts!“745 Die Augen so zu verschließen war wohl die einzige Möglichkeit für Ernst Humburger, weiterhin in der Murauer Gesell- schaft zu verkehren. Er lebte nach dem Krieg zwar in Kanada, kam aber regelmäßig zu Besuch nach Murau. Das Haus seiner Eltern, das sich nach einem langen und mühsa- men Rückstellungsprozess wieder in seinem Besitz befand, vermietete er sogar an den ehemaligen Kreisleiter Amberger, mit dem er gemeinsam die Schule besucht hatte. Die Frau von Amberger eröffnete im ehemaligen Geschäft von Malvine Humburger einen Modesalon.746 Dass Franz Amberger die Position als Kreisleiter nur angenommen hat, um Verfolgte zu schützen, ist zweifelhaft. Er denunzierte z.B. den Kaplan Lettmayer aus Murau, weil dieser „[…] eine politisch vollkommen unzuverlässige, ja sogar gefährliche Figur [sei], die durch geheime Machenschaften die Bevölkerung gegen das nationalsozialis- tische Regime aufzuhetzen versucht und das mit solcher Schlauheit tut, dass man ihm nicht beikommen kann. [Lettmayer ist] schon längst Gestapo-reif, weil er sich auf seinen zahlreichen Fahrten durch das Kreisgebiet bestimmt nicht nur seelsorgerisch, sondern vor allem politisch und propagandistisch gegen die

744 Zitiert bei Malte Thießen: Schöne Zeiten? Erinnerungen an die „Volksgemeinschaft“ nach 1945, in: Frank Bajohr, Michael Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 2009, 165-231, hier 171. 745 Ernst Humburger zitiert bei Hager, Weilharter, Zeit, 49. 746 Ebd. 45. 322

NSDAP betätigt.“747

Ob ein Mann, dessen größtes Anliegen es ist, Verfolgte vor den Nationalsozialisten zu schützen, solche Worte schreibt, darf wohl bezweifelt werden. Alle Schuld an den Verbrechen auf die NS-Führung zu schieben war auch in Deutsch- land ganz normaler Alltag nach dem Krieg. Sönke Neitzel erklärt in der Dokumentation „Davon haben wir nichts gewusst“, wie sich die Deutschen schon in der Endphase dar- auf vorbereitet haben, die Mitschuld an den Verbrechen abzuwenden: „Je länger der Krieg dauert desto mehr erkennen die Deutschen natürlich, dass der Krieg möglicherweise auch verloren gehen kann. Das führt aber gleichzeitig dazu, dass man sich als Individuum auch auf eine Niederlage vorbereitet und das führt dann dazu, dass man selber nicht schuld sein will und sich selber aus der Verantwortung herauszieht und ein Interpretationsschema schafft, das ganz scharf nach gut und böse unterscheidet. Böse ist die NS-Führung, böse ist Hit- ler, böse ist Goebbels und die NS-Entourage, die haben auch die Verbrechen be- gangen und wir, wir konnten nichts dafür, wir haben auch nichts davon gewusst. Wir sind eigentlich eher Opfer dieses Regimes, wir sind Opfer des Krieges aber wir sind auf keinen Fall dafür verantwortlich, was dieses Regime angerichtet hat.“748

Nach dem Krieg positionierten sich die Täter als Opfer. Dies fängt bei den Haupttätern an, die sich im Rahmen ihrer Prozesse in der Nachkriegszeit oft sogar nicht nur als Op- fer, der ungerechten Behandlung durch die Alliierten mit ihrer „Siegerjustiz“ sahen, sondern auch noch als Opfer ihrer schweren Aufgabe, die sie ja nicht gerne erfüllt hät- ten, die Befehle aber ausführen mussten. Wie oft hat man folgenden Satz wohl schon gehört: „Ich musste es tun, sonst wäre ich ja gleich erschossen worden oder ins KZ gekommen!“ Plötzlich sahen sich alle Deutschen als Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes. In Österreich ging dies einen Schritt weiter, Österreich wurde gleich als Ganzes zum Opfer der Deutschen, die bei uns einmarschiert sind. Die Gründungslüge der Zweiten Republik, gestützt auf einer falschen Interpretation der Moskauer Deklaration. Die ein- zelnen Menschen waren plötzlich alle Opfer des Krieges, ehemalige Nationalsozialisten zusätzlich Opfer der Alliierten und der ungerechten Maßnahmen der Entnazifizierung. Außerdem war man Opfer der Not und Entbehrung nach dem Krieg.749 Wir waren alle Opfer – so der Tenor – warum sollte man da einzelne Opfer mehr beachten? In der öf- fentlichen Wahrnehmung wurden die Opfer des rassistischen Vernichtungsfeldzuges gleichgesetzt mit Opfern des Krieges. Eine sehr zynische aber nicht seltene Form die- ser Sichtweise ist die Aussage, dass im Zweiten Weltkrieg mehr Deutsche als Juden getötet wurden.

747 StLA, Bezirkshauptmannschaften, BH Murau, 341/1939. 748 ZDF History, „Davon haben wir nichts gewusst“ Die Deutschen und der Holocaust. 749 Gerhard Botz, Geschichte und kollektives Gedächtnis in der Zweiten Republik, in: Wolfgang Kos, Georg Riele (Hg.), Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, 51-85, hier 59. 323

Diese gesellschaftliche Entwicklung konnte man auch darin erkennen, dass der gesell- schaftlichen Wiedereingliederung der ehemaligen Nationalsozialisten von allen Seiten weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde, als der Wiedereingliederung der überle- benden Opfer. Die wenigen Überlebenden, die zurück in ihre Heimat gekommen sind, mussten oft ihr Leben lang gesellschaftliche Ausgrenzung erfahren. Die in dieser Ar- beit beschriebene Elsa Blau (siehe Kapitel 3) ist hier nur ein Fall unter vielen. Niemand machte sich die Mühe, denjenigen die in der Emigration überlebt hatten, die Rückkehr zu erleichtern oder zumindest ein Signal zu setzen um ihnen zu zeigen, dass ihre Rückkehr erwünscht sei.

4 Familiengeschichte

Im Folgenden möchte ich einen kurzen Überblick über die Geschichte meiner Familie geben, seit sie sich im Bezirk Murau niedergelassen hat. Da es hierfür keine offiziellen Quellen gibt, muss ich mich größtenteils auf die Familienchronik von Friedrich Höfinger jun. und Aussagen von Familienmitgliedern verlassen. Nur was jene Personen betrifft, die nähere Verbindungen zur NSDAP hatten, konnte ich auf Archivquellen und die NSDAP-Mitgliedskartei zurückgreifen.

4.1 Johann Fritsch – von Böhmen nach Murau

Unser Urahn Johann Fritsch war der Erste, der sich im Bezirk Murau niedergelassen hat. Fritsch, welcher ursprünglich aus Duppau in Böhmen stammte, erwarb im Jahre 1848 das Schloss in Feistritz am Kammersberg, Bezirk Murau. Das hat im Laufe der Jahre sehr oft seine Besitzer gewechselt.750 Dort lebte die Familie Fritsch 59 Jahre lang. Sein Bruder Wenzel Fritsch war von 1873 bis 1888 Pfarrer in St. Peter ob Judenburg. Wieso es die Gebrüder Fritsch aus Böhmen ausgerechnet nach Feistritz verschlagen hat, ist nicht belegt, es gibt nur Vermutungen. Angeblich sollen die Brüder Fritsch an der Märzrevolution 1848 beteiligt gewesen sein und sich deshalb in diese abgelegene Gegend zurückgezogen haben. Dafür lassen sich aber keine Be- weise finden, nur mündliche Überlieferungen der Bevölkerung.751

750 Chronik Schloss Feistritz, zu finden unter URL: http://www.diefeistritzerinnen.at/images/chronik%20schloss %20feistritz.pdf 751 Höfinger, Familienchronik, 5. 324

4.2 Maria Fritsch

Die Urgroßmutter meiner Oma, Maria Fritsch, wurde 1858 auf Schloss Feistritz gebo- ren. Ihr Bruder, Johann Fritsch, heiratete die Murauerin Maria Mitteregger. Offensicht- lich verschuldet verkaufte er das Schloss 1907 und zog mit seiner Familie nach Kla- genfurt, wo er 1921 verstarb. Nach einem weiteren Besitzerwechsel wurde das Schloss 1913 an Erzherzog Karl I. verkauft, welcher es seiner Frau Zita als Morgenga- be schenkte.752 Warum sich Karl ausgerechnet das abgelegene, und damals schon ziemlich heruntergekommene, Schloss Feistritz, ausgesucht hat, darüber kann nur spekuliert werden. Maria Fritsch heiratete einen verwitweten Großbauern aus Scheiben bei Unzmarkt, Peter Pernthaler. Meine Urgroßmutter Paula war das erste Kind des Paa- res – insgesamt hatten sie vier Kinder – wobei Maria ein Kind in die Ehe mitbrachte. Obwohl es zu jener Zeit sehr ungewöhnlich war, ließ sie sich von ihrem Mann scheiden, welcher sein Gut verkaufte. Maria bekam einen Teil dieses Erlöses und ließ sich mit ih- ren Kindern in St. Peter am Kammersberg nieder, wo sie einen Bauernhof kaufte.753

4.3 Paula Grössing, geb. Pernthaler

Paula Pernthaler bekam drei ledige Kinder, alle von verschiedenen Vätern, was zur da- maligen Zeit am Land zwar keine Seltenheit war, offiziell aber trotzdem nicht gern ge- sehen wurde. Schließlich kam es doch noch zu einer Ehe, und zwar mit Hans Grössing, dem Vater ihres zweiten Kindes Ella. Hans Grössing hatte von seinen Eltern mittlerwei- le ein Gasthaus samt Fleischerei in Haus im Ennstal übernommen, wo Paula dann mit ihm lebte. Sie nahm nur Ella, ihr Kind mit Hans Grössing mit nach Haus im Ennstal, ihr erster Sohn Othmar blieb bei Großmutter Maria und die zweite Tochter Wilhelmine kam auf einen Pflegeplatz in Feistritz. So blieben Othmar und Wilhelmine also im Be- zirk Murau. Das Ehepaar Grössing bekam noch die Kinder Franz, Hans, Josef, Friedrich und Maria. Später trennte sich das Ehepaar und Paula kam mit ihren Kindern nach Mu- rau zurück.754

4.4 Othmar Pernthaler

Othmar war der erste Sohn von Paula Grössing und meinem Urgroßvater. Er wurde am 15. 11. 1901 in St. Peter am Kammersberg geboren. Sein Vater war ein Fleischerge- selle und im örtlichen Gasthaus tätig. Othmar begann nach dem Pflichtschulbesuch

752 Chronik Schloss Feistritz. 753 Höfinger, Familienchronik, 8f. 754 Höfinger, Familienchronik, 11-13. 325 eine Lehre als Kaufmann bei Jakob Wesiak in Murau. Später führte er ein eigenes Geschäft in Murau, eine Gemischtwarenhandlung mit Tabak-Trafik. Meine Oma sagt, dass ihn sein Vater beim Aufbau des Geschäftes finanziell unterstützt hat.755 Er soll auch der erklärte Liebling seiner Großmutter Maria gewesen sein, die ihm im Geschäft half und den Haushalt führte. Sein Bruder Franz war Lehrling bei ihm im Geschäft. Othmar ging eine Beziehung mit meiner Urgroßmutter Anna Ponholzer ein, die im Hotel Sonne in Murau als Stubenmädchen beschäftigt war. Sie hatten eine Tochter, meine spätere Oma Hilde Maier, geb. Ponholzer. Die Beziehung ging jedoch in die Brüche und Othmar heiratete im Februar 1931 die Bauerntochter Maria Hauser, mit der er seine zweite Tochter Hertha bekam.756 Ein großer Einbruch für die Familie war der Konkurs des Geschäftes von Othmar Pernthaler 1932. Die Ursache wurde in der schlechten wirtschaftlichen Lage gesehen, allerdings kursiert in der Familie unter der Hand die Meinung, dass Othmar nicht be- sonders geschäftstüchtig gewesen sei. So erzählte mir auch Maria Weys (Tante Mitzi) im Interview, dass Othmar von seiner Großmutter sehr verwöhnt wurde. Ihr eigener Sohn Peter besuchte ein Gymnasium, worauf seine Mutter sehr stolz war. Allerdings verstarb dieser bereits mit 18 Jahren. Angeblich war er zu lange einem Heuwagen nachgelaufen, weil sich ein Knecht einen Scherz erlaubte. Er erlitt deshalb eine Lun- genentzündung, an der er verstarb. Maria Fritsch soll danach all ihre Zuneigung auf ih- ren Enkel Othmar übertragen haben. Tante Mitzi ist der Meinung, dass er deshalb so untüchtig im Leben war, weil er als Kind so verwöhnt wurde. Ihrer Ansicht nach war sein Bruder Franz ganz anders und hätte nie Konkurs anmelden müssen.757 Die Ge- schäftspleite war für Othmar auch mit dem Verlust seines Wohnhauses, und in weite- rer Folge mit dem Ende seiner Ehe verbunden. Seine Frau zog mit Tochter Hertha zu- rück in ihr Elternhaus, Othmar bewohnte fortan eine kleine Wohnung in Untermiete.758 Mit diesen traumatischen Erfahrungen wird seine Zuwendung zur NSDAP erklärt. Dies wurde in der Familie auch nie als problematisch gewertet, ich wusste schon lange, dass er „illegaler Nazi“ gewesen ist. Die NS-Parteimitgliedschaft, aufgrund wirtschaftli- cher Nöte und ohne persönliche Überzeugung war seit Kriegsende eine Begründung, die keiner näheren Erklärung bedurfte. Dementsprechend überrascht war ich nach meiner Einsichtnahme in die Mitgliederkartei. Othmar Pernthaler trat bereits am 1. 10. 1930 der NSDAP bei und erhielt am 17. 11. 1930 seine provisorische Mitgliedskarte der Ortsgruppe Murau mit der Mitgliedsnummer 301.462.759 Es ist wahrscheinlich, dass seine wirtschaftliche Situation zu diesem Zeitpunkt bereits schwierig war, eine direkte

755 Interview Maier. 756 Höfinger, Familienchronik, 14f. 757 Interview mit Maria Weys am 20. 11. 2013. 758 Interview Maier. 759 NSDAP-Mitgliederkartei, A 3340, Rolle Q061, Nr. 0014. 326

Folge seines Konkurses war sein Beitritt jedoch nicht. Othmar zählte aufgrund seines frühen Beitritts zu einem der etwa 68.000 „Alten Kämpfer“, die der Partei bereits vor dem Verbot 1933 beigetreten waren, und nach dem „Anschluss“ 1938 hohes Ansehen unter den Nazis genossen.760 Die fünf Jahre zwischen seinem Konkurs und dem „Anschluss“ war er arbeitslos und schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. 1938 sollte sich das Blatt für ihn wenden und er wurde für seinen Status als „Alter Kämpfer“ belohnt. Die folgende Episode in Othmars Laufbahn ist äußerst undurchsichtig, da ich sie nur aus vorhandenen Akten rekonstruieren kann. Er wurde zum „kommissarischen Verwal- ter“ des, in jüdischem Besitz befindlichen, Geschäftes von Malvine Humburger er- nannt. Am 14. 6. 1938 teilte der Gauwirtschaftsleiter dem für das Land Österreich mit, dass er „In sinngemäßer Anwendung des § 7 des Gesetztes über die Bestellung von kommissarischen Verwaltern und kommissarischen Überwachungspersonen [...] bei der Fa. Malvine Humburger, Kaufhaus, Murau Herrn Othmar Pernthaler, Mu- rau, als kommissarischen Verwalter bestellt habe, da in diesem Fall Gefahr der Vermögensverschleppung vorliegt.“761

Othmar Pernthaler scheint diese Funktion aber nie ausgeführt zu haben. Aus einem Schreiben von Franz Vasold, der schließlich „kommissarischer Verwalter“ des Geschäf- tes wurde, geht hervor, dass Othmar die Stelle „nicht ausüben konnte“ und ihn (Va- sold) gebeten habe, diese anzutreten. Zuvor hat Othmar aber noch seinen Schwager Friedrich Höfinger als Experten hinzugezogen, der bis zur Geschäftsauflösung dort ver- blieben ist und Bezüge verrechnet hat.762 Warum mein Urgroßvater die Stelle niemals angetreten hat, muss offen bleiben. In der Familie scheint sich niemand daran zu erin- nern, dass er überhaupt jemals zum kommissarischen Verwalter bestellt wurde. Ziemlich bald danach dürfte Othmar zum Leiter der Ortskrankenkasse Murau ernannt worden sein. Es war mir nicht möglich dieses Detail zu belegen, weshalb ich mich auf familiäre Erzählungen sowie den von meinem Onkel Heimo verfassten Lebenslauf mei- ner Oma Hilde Maier verlassen muss. Trotz seines Status als „Alter Kämpfer“ und sei- ner angeborenen Schwerhörigkeit gelang es ihm nicht, sich der Einberufung an die Front zu entziehen. 1943 wurde er als Pferdeführer ins heutige Polen beordert. Meiner Oma schießen heute noch Tränen in die Augen, wenn sie an diese Zeit zurückdenkt. Sie stand mit ihm in regem Briefkontakt, in dem er ihr sein Leid geklagt hat. Besonde- ren Schmerz bereitete ihm die Tatsache, dass sich die jüngeren Unteroffiziere oft über

760 Gerhard Botz, Nazi, Opportunist, „Bandenbekämpfer“, Kriegsopfer. Dokumentarische Evidenz und Erinnerungssplitter zu meinem Vater, in: Gerhard Botz (Hg.), Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2007, 135-159, hier 139. 761 StLA, Finanzlandesdirektion Graz, Arisierung, Komm 1938, Humburger Adolf/Murau, Schreiben des Gauwirtschaftsberaters an den Reichsstatthalter des Landes Österreichs. 762 StLA, Finanzlandesdirektion Graz, Arisierung, Komm 1938, Humburger Adolf/Murau, Schreiben von Franz Vasold an den Staatskommissar in der Privatwirtschaft. 327 seine Schwerhörigkeit lustig machten. Auch sein Umgang mit den Pferden, mit denen er vorher keinerlei Erfahrung hatte, dürfte nicht sehr gut gewesen sein, weshalb er mehrfach von Pferden verletzt wurde. Nachdem er einen Magendurchbruch erlitten hatte, kam er nach Graz ins Lazarett. Dort konnte ihn die Familie zum ersten Mal be- suchen, bald darauf verstarb er. Meine Oma hat bis heute großes Mitleid mit ihm. Dies liegt wohl auch an ihrer schwierigen Kindheit, die ich noch näher ausführen werde. Ihr Vater war ihre wichtigste Bezugsperson. Trotzdem bringt sie ein Zitat im Zusammen- hang mit dem Tod ihres Vaters immer wieder vor: „Des hot er ghobt von sein illegalen Nazi-sein!“763

4.5 Die Familie Grössing

Wie bereits erwähnt hatte Paula Grössing außer Othmar noch sieben weitere Kinder. Über Wilhelmine werde ich noch im Rahmen der Familie Höfinger ausführlicher berich- ten. Ihre weiteren sechs Kinder Ella, Franz, Hans, Josef, Friedrich und Maria hatte sie mit ihrem Ehemann Hans Grössing, mit dem sie während ihrer Ehe in Haus im Ennstal wohnte. Die Mitglieder der Familie Grössing waren vom Nationalsozialismus sehr ange- tan. Wie weit sich die Familie, auch noch lange nach 1945, über den Nationalsozialis- mus und den Einsatz in der Wehrmacht definiert hat, erkennt man schon daran, dass für die Familienchronik, von allen Brüdern, ausgerechnet jene Fotos ausgewählt wur- den die sie in Wehrmachtsuniform zeigen. Es gibt allerdings von dieser Zeit relativ we- nige Familienfotos. Die Familie war arm und hatte kein Geld für Fotoapparate und Filmentwicklungen übrig. Man war darauf angewiesen, hie und da von Bekannten foto- grafiert zu werden; nur einmal ließ man ein Familienportrait in einem Fotostudio anfer- tigen (siehe Abbildung 1).

4.5.1 Johann Grössing sen.

Auffällig ist, dass die meisten der Geschwister dem Nationalsozialismus stark zugetan waren. Während bei meinem Urgroßvater Othmar die Begeisterung für diese Ideologie mit seiner wirtschaftlichen Lage als selbstständiger Kaufmann erklärt wird, gibt es in der Familie keine nähere Erklärung dafür, wie es beim Rest der Familie Grössing dazu kam. Die NS-Begeisterung dürfte aber wohl von ihrem Vater ausgegangen sein. Zuerst habe ich mich von seinem Parteibeitritt täuschen lassen, da auf seiner Mitgliedskarte mit der Mitgliedsnummer 6.120.062 nämlich der 1. 5. 1938 vermerkt ist 764 – ein Da-

763 Interview Maier. 764 NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle G025, Nr. 615. 328 tum das mich anfangs davon ausgehen ließ, dass er erst im allgemeinen Ansturm nach dem Anschluss beigetreten ist. Nach genauerer Recherche konnte ich aber her- ausfinden, dass es eine einvernehmliche Verfügung des Beauftragten des Führers für die NSDAP in Österreich und des Reichsschatzmeisters vom 28. 4. 1938 gibt. Zum Aufbau der Partei in Österreich wurde einerseits die Erfassung derjenigen Mitglieder bestimmt, die bereits Mitglied NSDAP waren. Andererseits wurden aber auch jene Ös- terreicher, die sich bis zum 11. 3. 1938 „als Nationalsozialisten betätigt hatten“, erst- mals für die Zentralkartei beim Reichsschatzmeister der NSDAP erfasst und als „Illega- le“ eingestuft. Somit wurden sie der Beitragsordnung vom 29. 10. 1935 unterworfen und erhielten eine Mitgliedsnummer aus dem eigens für diese österreichischen Mitglie- der reservierten Nummernblock von 6.100.001 bis 6.600.000. Als einheitlicher Auf- nahmetag wurde für diese Mitglieder der 1. 5. 1938 festgesetzt.765 Johann Grössing sen. zählte also zu diesem Personenkreis der „Illegalen“. Auf welche Art er sich genau „als Nationalsozialist betätigt“ hat, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Johann Grössing sen. hatte von seinen Eltern ein Gasthaus mit Fleischerei geerbt, 1911 ging der Betrieb in Konkurs. Damit wurde der endgültige wirtschaftliche Abstieg der Familie eingeläutet.766 Da wirtschaftliche Gründe bis heute die Standarderklärung für den Beitritt zur NSDAP sind, könnte diese Tatsache natürlich als Begründung für Johann Grössings Betätigung für die Partei, und auch jene seiner Kinder, gelten. Dies bleibt aber Spekulation, die wirklichen Gründe für diese Begeisterung wollte in der Fa- milie nie jemand wissen. Nach dem Krieg wurde all dies stark unter den Teppich ge- kehrt, man positionierte sich lieber als „Opfer“ der ungerechten Entnazifizierungsmaß- nahmen. „Es waren halt schlechte Zeiten“, diese Aussage soll bereits alles erklären.

4.5.2 Ella Hernach, geb. Grössing

Die älteste Tochter von Paula und Johann Grössing, Eleonore (genannt Ella), wurde noch vor der Eheschließung am 6. 3. 1908 in St. Peter am Kammersberg geboren. Da Johann Grössing ihr Vater war, nahm ihre Mutter sie als einziges ihrer drei Kinder nach der Eheschließung 1911 mit nach Haus im Ennstal. Sie erlebte den wirtschaftlichen Niedergang der Familie, als das elterliche Gasthaus in Konkurs ging. Es folgten mehre- re Umzüge. Ende der 20er Jahre zog sie zu ihrem Bruder Othmar nach Murau und führte ihm den Haushalt. In Murau lernte sie Richard Hernach kennen, Fahrdienstleiter bei der Murtalbahn, den sie 1930 heiratete. 1931 kam Sohn Richard zur Welt.767

765 Deutsches Bundesarchiv, PG – zum Mitgliedschaftswesen der NSDAP, 18. Zu finden unter URL: http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00757/index-17.html.de 766 Höfinger, Familienchronik, 12. 767 Höfinger, Familienchronik, 16f. 329

Abbildung 1: Paula Grössing mit ihren Kindern und Enkelin Hilde. Hinten (vlnr.): Johann, Franz Xaver, Josef. Vorne (vlnr.): Maria (Mitzi), Wilhelmine, Paula, Hilde, Othmar, Ella, Friedrich. Die Aufnahme entstand zwischen 1929 und 1931.

Quelle: Höfinger, Familienchronik.

Richard Hernach trat am 1. 3. 1932 der NSDAP bei und erhielt die Mitgliedsnummer 898.514768. Auch er war also ein „Alter Kämpfer“. 1936 übersiedelte die Familie aus beruflichen Gründen nach Graz. Über die Zeit von 1938 bis 1945 konnte ich nichts in Erfahrung bringen, auch nicht über einen etwaigen Einsatz an der Front oder im Volks- sturm. Laut Familienchronik wurde Richard Hernach nach dem Krieg wegen seiner NS- Vergangenheit aus dem Bahndienst entlassen. Er fand dann Arbeit bei einem Optiker, trauerte aber sein Leben lang seiner Arbeit als Fahrdienstleiter nach.769

4.5.3 Johann Grössing jun.

Der älteste Sohn von Paula und Johann Grössing, Johann Grössing jun., wurde am 12. 3. 1912 in Strechau bei Rottenmann geboren, wo seine Eltern nach dem Konkurs des Familienbetriebes ein Gasthaus gepachtet hatten. Nachdem er eine Bäckerlehre abge- brochen hatte, ging er zur Eisenbahn, wo er es bis zum Fahrdienstleiter brachte 770 – ein häufiger Beruf in unserer Familie. Auch er wurde, wie sein Vater, zum „Illegalen“ erklärt. Seine Mitgliedskarte wird mit der Aufnahme am 1. 5. 1938 datiert und trägt die Mitgliedsnummer 6.297.828.771 Auch bei ihm ist nicht bekannt, auf welche Weise

768 NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle H0102. 769 Höfinger, Familienchronik, 16f. 770 Ebd., 40. 771 NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle G025, Nr. 616. 330 er sich vor dem 11. 3. 1938 „als Nationalsozialist betätigt“ hat. Laut Familienchronik wurde er nach dem Krieg „als NSDAP Mitglied bei der Bahn entlassen.“ Johann Grös- sing jun. verstarb 1950 an den Folgen eines Autounfalls.772

4.5.4 Franz Xaver Grössing

Franz Xaver Grössing wurde am 13. 10. 1913 ebenfalls in Strechau geboren. Nach der Schulzeit begann er eine Kaufmannslehre bei Bruder Othmar in Murau, wechselte dann aber zur Eisenbahn und wurde ebenfalls Fahrdienstleiter.773 Am 15. 3. 1933, also noch vor dem Parteiverbot, trat er der NSDAP, Ortsgruppe Haus im Ennstal, bei.774 Im Herbst 1943 musste er an die Front, zuerst nach Pula und Görtz, später nach Tsche- chien. Von dort erhielt die Familie am 17. 4. 1945 seine letzte Nachricht. Seither gilt er offiziell als vermisst. Sein Bruder Josef erklärte immer wieder „die Tschechen haben ihn erschlagen“.775

4.5.5 Josef Grössing

Am 2. 11. 1919 wurde Josef, von allen Pepi genannt, geboren. Die Familie hatte mitt- lerweile ein bescheidenes Haus in Öblarn erworben, wo Pepi die Volksschule besuchte. Auch dieses Haus konnte die Familie nicht lange halten und musste wieder umziehen, diesmal nach Ruperting im Ennstal. Dort besuchte Pepi die ersten beiden Jahre der Hauptschule, danach trennten sich seine Eltern. Seine Mutter ging zurück nach Murau, wo sie mit den drei jüngsten Kindern, Pepi, Friedrich und Maria, sehr beengt bei ihrem Sohn Othmar untergebracht war. In Murau beendete Pepi im Jahr 1935 die Hauptschu- le, danach kam er ins Gymnasium nach Graz. Gleich nach der Matura ging er 1939 an die Front, laut Familienchronik wurde er sofort „eingezogen“.776 Es wäre aber durchaus möglich, dass er sich freiwillig gemeldet hat, was nach Kriegsausbruch 1939 sehr viele getan haben. Er soll ein sehr begeisterter Soldat gewesen sein. Nach einiger Zeit bei der Infanterie und einer Offiziersausbildung wurde er zum Leutnant befördert. Im Herbst 1944 kämpfte er an der Westfront gegen die Alliierten und erlitt dabei eine schwere Verletzung. Er kam für einige Monate ins Lazarett und wurde nach seiner Ge- nesung kurz vor Kriegsende mit der Führung einer Kosakenkompanie in Italien beauf- tragt. Diese löste sich im Mai 1945 in Klagenfurt auf. Er schlug sich zu Fuß nach St. Peter am Kammersberg durch, versteckte sich dort bei seiner Schwester Wilhelmine

772 Höfinger, Familienchronik, 40. 773 Ebd., 42. 774 NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle G025, Nr. 600. 775 Höfinger, Familienchronik, 42. 776 Ebd., 44. 331 und entging somit der Kriegsgefangenschaft. 1946 begann er ein Jusstudium in Graz, welches er 1950 mit dem Doktorat abschloss. Während seines Studiums schloss er sich der schlagenden Studentenverbindung Corps Joannea an. Nach dem Studium machte er sich in Graz als Immobilienhändler selbstständig.777 Josef war Zeit seines Lebens glühender Nationalsozialist, obwohl es in der NSDAP-Mit- gliedskartei keinen Hinweis auf eine Parteimitgliedschaft gibt. Das kann mit seinem Al- ter zu tun haben. Schließlich war neben der Unbescholtenheit und der „rein arischen Abkunft“ auch die Vollendung des 18. Lebensjahres eine der Aufnahmevoraussetzun- gen, was erst 1944 für Angehörige der Hitlerjugend und des Bundes Deutscher Mädel auf 17 Jahre herabgesetzt wurde.778 Im November 1937 feierte Josef Grössing seinen 18. Geburtstag. Damals besuchte er das Gymnasium in Graz und ging nach dessen Abschluss sofort zum Militär. Eventuell hat es etwas mit der in Österreich nach dem „Anschluss“ eingeführten Aufnahmesperre für Neumitglieder zu tun, dass Josef nicht Parteimitglied wurde, was bei seinem familiären Hintergrund aber eher unwahrschein- lich ist. Maturajahr, „Anschluss“, danach sofort an die Front – nach seinem 18. Ge- burtstag ging es bei ihm Schlag auf Schlag. Er strebte eine Karriere in der Wehrmacht an und dieser stand seine fehlende Parteimitgliedschaft nicht im Weg. Josef Grössing war dem Alkohol sehr zugetan und ließ vor allem unter Alkoholeinfluss die Nazizeit und sogar den Krieg hochleben. Bis zu seinem Tod 1988 soll er „ein stram- mes Auftreten und einen barschen Befehlston beibehalten“779 haben. Bei seinen häufi- gen Besuchen bei der Familie Höfinger grölte er gerne bis in die Nacht Soldatenlieder und erzählte Heldengeschichten aus dem Krieg. Friedrich Höfinger jun. vermerkt dazu in der Familienchronik: „Bei seinen Kriegsberichten ist bei ihm eine gewisse Skepsis angebracht, im Nachhinein wurden die Erzählungen seiner Heldentaten nämlich von Mal zu Mal immer heroischer.“

Seinen Offiziersdolch bewahrte er, gemeinsam mit seiner Promotionsrolle, auf dem Dachboden der Familie Höfinger auf. Als meine Mutter sich verlobte, lud er meinen Stiefvater in seine Wohnung in Graz ein, wo er ihm stolz verschiedene Andenken an die Nazizeit und auch an den Krieg zeigte. In der Familie war er nicht sehr beliebt, was aber wohl eher an seinem schwierigen Charakter lag. Friedrich Höfinger jun. erklärt diesen in der Familienchronik damit, dass er „durch diesen Krieg mit seinen schreckli- chen Erlebnissen geprägt“ wurde. Wenn man den Erzählungen über Onkel Pepi glau- ben darf, waren die Erlebnisse für ihn aber gar nicht so schrecklich, sondern die bes- ten Jahre seines Lebens. Hinter vorgehaltener Hand wird er bis heute in der Familie

777 Ebd., 44f. 778 Bundesarchiv, PG, 2. Zu finden unter URL: http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00757/index-3.html.de 779 Hierzu, sowie die folgenden Absätze: Höfinger, Familienchronik, 44. 332

„fester Nazi“ genannt. Die meisten Familienmitglieder haben versucht, Gespräche mit ihm über das Thema Nationalsozialismus zu vermeiden, weil sie es als aussichtslos er- achtet haben, mit ihm über dieses Thema zu diskutieren. Seine Geschwister sollen sei- ne Meinung Zeit ihres Lebens geteilt haben. Offen dazu bekannt hat sich nur seine Schwester Maria.

4.5.6 Friedrich Grössing

„Friedl“ wurde am 3. 8. 1921 als zweitjüngstes Kind von Paula und Johann Grössing in Weissenbach geboren. Er besuchte die Volksschule in Öblarn, danach folgte der Umzug der Familie nach Ruperting. Nach der Trennung der Eltern wohnte er, mit seiner Mutter und den Geschwistern Josef und Maria, in Murau bei seinem Bruder Othmar, wo Friedl die Hauptschule besuchte. Dann kam er, wie Bruder Pepi, ins Gymnasium nach Graz, wo er im Sommer 1941 maturierte. Es folgte sofort die Einberufung zur Wehrmacht, wo er nach einer Ausbildung als Eisenbahn-Pionier am russischen Kriegsschauplatz eingesetzt wurde. Gegen Kriegsende wurde er schwer verwundet und kam in Berlin in russische Kriegsgefangenschaft. Aus dieser wurde er aber sehr schnell entlassen. Sein körperlicher Zustand soll so schlecht gewesen sein, dass die Russen ihn nicht nach Russland mitnahmen, weil sie davon ausgingen, dass er sowieso bald sterben würde und ihn daher laufen ließen. 1946 begann er ein Lehramtsstudium für Geografie und Geschichte in Graz und unterrichtete anschließend bis zu seiner Pensionierung am Gymnasium in Stainach. 1949 heiratete er Elfriede Zöchling, welche am 8. 7. 1925 in Wien geboren wurde. Elfriede diente im Krieg in der Flugzeugabwehr und steckte sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit TBC an. In Folge musste ihr ein Lungenflügel entfernt werden und sie blieb Zeit ihres Lebens kränklich; 1999 verstarb sie an Darm- krebs. Bis zu seinem Tod im Jahre 2003 lebte Friedrich Grössing in Stainach.780 Friedrich soll den Krieg sehr verabscheut haben und auch selbst gesagt haben, dass er nie ein Kriegsheld war. In seiner Familie ist er der einzige, dem man keinerlei Begeis- terung für den Nationalsozialismus nachsagt. Friedrich Höfinger jun. sagte mir im In- terview, Friedrich sei „national eingestellt“ gewesen; „aber kein Nazi“.781 Er dürfte auch kein Parteimitglied gewesen sein, in der Mitgliedskartei konnte ich ihn nicht fin- den. Er war allerdings als schwieriger, autoritärer und konservativer Mensch bekannt. Meiner Oma Hilde Maier brachte er ganz offen allergrößte Verachtung entgegen, weil sie sich von ihrem ersten Mann scheiden ließ. Scheidung war für Onkel Friedl eines der schlimmsten Vergehen überhaupt. Er soll sehr katholisch gewesen sein, Friedrich Hö-

780 Höfinger, Familienchronik, 47. 781 Interview Höfinger. 333 finger jun. erzählte mir im Interview, dass er jeden Sonntag in die Kirche ging. Seine Tochter Gerrit leidet bis heute unter den, ihrer Meinung nach, viel zu strengen Er- ziehungsmethoden ihres Vaters. Wie er auf ihre Scheidung von ihrem ersten Mann im Jahre 1989 reagiert hat, kann nur erahnt werden. Friedrich Höfinger jun. versucht auch bei Friedrich Grössing, seinen schwierigen Charakter mit den „schrecklichen Er- lebnissen“ im Krieg zu erklären.782

4.5.7 Maria Weys, geb. Grössing (Tante Mitzi)

Die schon oben erwähnte Maria, genannt „Mitzi“, war das jüngste Kind von Paula und Johann Grössing und wurde am 31. 1. 1923 in Öblarn geboren. In Murau, nach dem Umzug zu Bruder Othmar, besuchte sie sowohl die Volks- als auch die Hauptschule, bis zu einem neuerlichen Umzug mit ihrer Mutter nach Haus im Ennstal, wo sie die letzten beiden Schuljahre absolvierte. Nach dem Besuch der Hauptschule arbeitete sie von 1937 bis 1941 als Hausmädchen in verschiedenen Haushalten. 1941 folgte die Anstel- lung im Postdienst in Oberwölz bei Murau, wo sie bis 1954 am Postschalter beschäftigt war.783 Es wurde ihr die Leitung des Postamtes angeboten, welche sie aber abgelehnt hat. Da- mals wurden die Pensionen meist bar mit der Post ausgezahlt. Sie hatte Angst, für so viel Geld verantwortlich zu sein. Über diese Zeit bei der Post hat sie mir erzählt, dass immer viele Bauern am Postamt auf Feldpost von ihren Söhnen an der Front gewartet haben. Viele Familien haben so die Nachricht über den Tod ihres Sohnes erhalten. Ge- gen Kriegsende hat sie ihren Bruder Pepi gefragt, was sie denn mit den Poststempeln machen solle, weil da überall „Heil Hitler“ draufsteht. Er wies sie an, diese zu vernich- ten, was sie auch getan hat. Über die Zeit der Besatzung hat sie mir nur von einer Er- innerung erzählt. Oberwölz war in der britischen Zone; sie hatten damals nur wenige Telefonleitungen, welche vom Postamt aus verwaltet wurden. Die Engländer haben häufig telefoniert und dadurch die Leitungen lange blockiert. Da Mitzi kein Englisch konnte, hat sie wieder ihren Bruder Pepi um Rat gefragt. Dieser brachte ihr dann den Satz „Get out of the line“ bei.784 Über die restlichen Begebenheiten aus ihrem Leben wollte Tante Mitzi nicht mit mir sprechen, daher weiß ich das alles lediglich von meiner Oma Hilde Maier. Meine Oma und ihre beste Freundin Hella haben kurz nach Kriegsende bei Tante Mitzi in Oberwölz gewohnt, nachdem sie aus Fohnsdorf, welches in der russischen Besatzungszone lag, geflüchtet waren. Mitzi bewohnte damals ein kleines Zimmer in einem Gasthof. Für

782 Höfinger, Familienchronik, 44. 783 Ebd., 49. 784 Interview Weys. 334 kurze Zeit haben sie zu dritt in diesem Zimmer gewohnt. Dort kamen sie auch mit bri- tischen Besatzungssoldaten in Kontakt, die ebenfalls Zimmer in diesem Gasthof be- wohnten. Nach den Erzählungen meiner Oma waren sie und Mitzi aber äußerst distan- ziert und hatten ein eher mulmiges Gefühl, obwohl meine Oma die Briten als „vorneh- me Herren“ und „fesche Kerle“ bezeichnet, „im Vergleich zu den Russen“.785 Relativ bald nach Kriegsende lernte Mitzi ihre erste große Liebe kennen, die sie bis heute stark geprägt hat. Es handelte sich um einen Sudetendeutschen namens Ernst, der als Flüchtling in die Region Murau gekommen war. Seine Familie war laut meiner Oma in einem Flüchtlingslager in Linz untergebracht. Bis heute spricht Tante Mitzi im- mer wieder wehmütig von Ernst. Die Beziehung zerbrach, weil es sein Traum war, nach Amerika auszuwandern, was er auch bald getan hat. Für Mitzi kam es jedoch nicht in- frage, ihre Heimat zu verlassen. Ernst hat dann in Amerika geheiratet, die beiden blie- ben aber bis zu seinem Tod brieflich in Kontakt. Heute noch weint Tante Mitzi um Ernst, weil sie der sicheren Ansicht ist, dass er ihre große Liebe war und ihr Leben an seiner Seite glücklicher verlaufen wäre. Nachdem Ernst ausgewandert war, lernte sie in Oberwölz den Wiener Hermann Weys kennen. Hermann Weys wurde 1904 geboren und ist am 1. 1. 1941 der NSDAP beige- treten.786 1949 haben Maria Grössing und Hermann Weys die Ehe geschlossen. Es han- delte sich aufgrund finanzieller Überlegungen um eine Doppelhochzeit. Meine Oma Hil- de Maier heiratete am selben Tag ihren ersten Mann Josef Taus. 1950 brachte Mitzi ihre einzige Tochter Eva zur Welt. Das Paar lebte in Murau, wo Hermann Weys von sei- nem Onkel Anton Müller ein Haus geerbt hat. Anton Müller hatte viele Jahre in Ameri- ka gelebt und dort viel Geld verdient, in Murau hat er sich zur Ruhe gesetzt. Es war keine glückliche Ehe, Erzählungen zufolge war Hermann Weys nicht sehr lebenstüch- tig. Er wechselte in Murau mehrmals den Job, konnte aber keinen davon lange halten. Deshalb musste Mitzi viele Jahre die Wintersaison in der Schweiz verbringen, um als Zimmermädchen Geld zu verdienen. Ihre Tochter Eva war in der Zwischenzeit bei Ver- wandten untergebracht, was Mitzi sehr zu schaffen machte. Nach Hermanns Tod und einem verwandtschaftlichen Erbschaftszwist verkaufte Mitzi das Haus in Murau und zog mit ihrer Tochter Eva nach Graz, wo sie bis heute in einer Eigentumswohnung le- ben.787

785 Interview Maier. 786 NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle Y052, Nr. 1642. 787 Höfinger, Familienchronik, 50. 335

4.6 Die Familie Höfinger

Wilhelmine Pernthaler wurde am 5. 11. 1909 in St. Peter am Kammersberg als drittes uneheliches Kind der Paula Grössing geboren. Paulas dritte uneheliche Schwanger- schaft wurde von deren Mutter Maria Fritsch nicht gerade freudig aufgenommen. Wil- helmines Vater war der Handelsangestellte Anton Janisch, der St. Peter bald nach Be- kanntwerden der Schwangerschaft wieder verließ. Maria Fritsch beschloss, dass sie die drei Enkelkinder nicht im Haus behalten werde. Ein Spruch von ihr ist bis heute in der Familie überliefert: „Das Fräulein Janisch wird dem Othmar nix die Milch wegtrinken!“. Tochter Paula gehorchte schließlich und willigte ein, die neugeborene Wilhelmine weg- zubringen. Sie machte sich mit Wilhelmine mit einem Pferdewagen auf den Weg nach Schöder zu Markus Petzl, einem entfernten Verwandten und Taufpaten aller drei Kin- der. Diesen wollte sie bitten, ihre Tochter aufzunehmen. Auf der Fahrt kam sie in Feistritz bei Juliane Mohr vorbei, einer Bekannten die vor ihrem Haus auf einer Holz- bank saß. Diese bot sich an, das Kleinkind aufzunehmen. Juliane Mohr wohnte mit ih- ren beiden Töchtern in einem gepachteten Haus und verdiente sich ihren Lebensunter- halt damit, Dirndlkleider zu nähen. Wilhelmine lebte von da an in ihrer Obhut und be- richtete von einer sehr schönen Kindheit. Juliane Mohr war zwar eine arme Frau, sie soll aber äußerst liebevoll gewesen sein. Wilhelmine absolvierte die Pflichtschulzeit in der Volksschule in St. Peter. Danach kam sie als Lehrling in die Gemischtwarenhand- lung zum Kaufmann Friedrich Höfinger.788 Friedrich Höfinger sen. wurde am 6. 6. 1886 in Wien, als unehelicher Sohn der Köchin Franziska Capek, geboren. Sein Vater ist laut Geburtsurkunde unbekannt. Er kam be- reits als Kleinkind zu Pflegeeltern, über die ebenfalls nichts Näheres bekannt ist. Sein Sohn Friedrich Höfinger jun. geht davon aus, dass sie in der Nähe von St. Pölten ge- lebt haben. Über den Lebensweg des Vaters weiß auch Friedrich jun. eher wenig. Der Vater soll nie viel erzählt haben und Friedrich jun. war bei seinem Tod erst 16 Jahre alt. Einige Informationen konnte er einem Lebenslauf entnehmen, den Friedrich Höfin- ger sen. anlässlich seines 70. Geburtstags für Karl Brunner verfasst hat (zu Karl Brun- ner siehe Anhang). So schreibt er darin, dass für ihn „nach der Schulzeit sofort der Le- benskampf“ begonnen habe. Mit 15 Jahren begann er eine Kaufmannslehre in Marbach an der Donau, danach kam er als Gehilfe nach Schärding am Inn. Weiter ging die Rei- se nach Scheibbs an der Erlauf und dann nach St. Pölten. Von dort rückte er 1907 zum Militär ein und absolvierte eine Soldatenausbildung in Wien und Hohenmauth beim Landwehrinfanterieregiment Nr. 30. Nachdem er es bis zum Korporal gebracht hatte, nahm er sein Wanderleben wieder auf. Er arbeitete als Kaufmann in Görtz und Triest.

788 Höfinger, Familienchronik, 18f. 336

1913 kam er schließlich nach St. Peter am Kammersberg, wo er ursprünglich ein Ge- schäft pachten wollte. Nachdem dieses Vorhaben nicht gelang, blieb er bis 1914 als Angestellter in diesem Geschäft. Es gibt in der Familie nicht einmal Vermutungen, wie er ausgerechnet an diesen abgelegenen Ort gelangt war. Nach Kriegsausbruch im Sommer 1914 wurde er an den russischen Kriegsschauplatz berufen. Er wurde dreimal verwundet und kam schließlich in russische Kriegsgefan- genschaft. Zwei Jahre war er in Kriegsgefangenschaft in Sibirien, danach kam er nach Omsk, wo er als Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft eingesetzt wurde. Im März 1918 wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und Anfang 1919 kam er wie- der nach St. Peter am Kammersberg. Später erzählte er seinem Sohn, dass er in der russischen Kriegsgefangenschaft relativ gut behandelt worden ist, was diesen sehr er- staunte.789 Schließlich gelang ihm sein Vorhaben, sich als Kaufmann selbstständig zu machen und er pachtete ein kleines Geschäft. Nach einigen Jahren kaufte er ein klei- nes Bauernhaus und baute das untere Stockwerk zu einem Kaufmannsladen um. Im Jahre 1920 gründete er in St. Peter den ersten „Fremdenverkehrs- und Verschöne- rungsverein“, mit dem Ziel, den Tourismus anzukurbeln. In dieser Funktion regte er den Bau eines Schwimmbades 1929 an, wofür er sehr viel von seinem eigenen Kapital investiert haben soll. Die Gemeinde konnte sich nicht auf eine Kostenübernahme eini- gen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Investition soll er in den wirtschaftlich schwierigen 30er Jahren in große finanzielle Bedrängnis gekommen sein.790 Jedenfalls steht im Schwimmbad in St. Peter noch heute eine Gedenktafel für Friedrich Höfinger, die aber erst viele Jahre nach seinem Tod errichtet wurde.791 Ende der 20er Jahre gingen er und Wilhelmine eine Beziehung ein und lebten zunächst in „wilder Ehe“ in seinem Haus in St. Peter. 1931 kam die älteste Tochter Elly als un- eheliches Kind zur Welt. Obwohl zwischen dem Paar 23 Jahre Altersunterschied be- standen, erzählen alle in der Familie, dass es sich um eine äußerst glückliche Bezie- hung gehandelt hat (Abbildung 2). 1938 kam die zweite Tochter Margret zur Welt. 1939 wurde standesamtlich geheiratet; 1941 folgte Sohn Friedrich jun. und 1943 Sohn Heinrich. In der Familie ist bekannt, dass das Ehepaar Höfinger dem Nationalsozialismus stark zugetan war. Bei Friedrich Höfinger sen. ist, genauso wie bei Johann Grössing sen. und jun., der Beitritt zur NSDAP auf seiner Mitgliedskarte mit dem 1. 5. 1938 vermerkt und auch er hat mit der Mitgliedsnummer 6.218.157792 eine der ausgesuchten Nummern für jene österreichischen Nationalsozialisten, die sich bereits vor dem 11. 3. 1938 „als

789 Interview Höfinger. 790 Heide Stöckl, Wie es bei uns einmal war..., Eibiswald 1997, 84f. 791 Höfinger, Familienchronik, 23f. 792 NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle I27, Nr. 894. 337

Nationalsozialisten betätigt“ hatten. Somit wurde auch er als „Illegaler“ eingestuft. Auch über ihn ist nicht genau bekannt, auf welche Art er sich „als Nationalsozialist be- tätigt“ hat. Sogar seine Frau Wilhelmine war Parteimitglied, was zur damaligen Zeit eher ungewöhnlich war. Die NSDAP verstand sich hauptsächlich als Männerpartei und nahm kaum Frauen als Mitglieder auf. Dafür waren andere der Partei angegliederte Or- ganisationen zuständig, z.B. die NS-Frauenschaft. Wilhelmine Höfinger wurde am 1. 4. 1942 in die Partei aufgenommen, nachdem sie die Aufnahme am 1. 1. 1942 beantragt hatte.793 In St. Peter am Kammersberg soll eine von einem deutschen Staatsbürger gegründete Pelztier-Zuchtanstalt zur Keimzelle des Nationalsozialismus im ganzen Bezirk rangiert sein. 1932/33 wurde auf diesem Anwesen ein Raum für Schulungszwecke zur Verfü- gung gestellt und ein SA-Sturm gegründet, dessen Kern die Mitarbeiter des Unterneh- mens waren. Obwohl es in St. Peter während des Juliputsches ruhig geblieben war, dürften die Anstrengungen doch erfolgreich gewesen sein. Im Mai 1933 rangierte der Gerichtsbezirk Oberwölz, zu dem St. Peter damals gehörte, auf Platz 3. in der Steier- mark, die NSDAP Mitgliedszahlen betreffend.794 Inwieweit Friedrich Höfinger in diese Aktivitäten einbezogen war, kann nicht mehr nachvollzogen werden; St. Peter am Kammersberg ist jedoch ein sehr kleiner Ort. Bei der Volkszählung 1934 wurden für die ganze Gemeinde St. Peter am Kammersberg 2.146 Einwohner gezählt.795 Da ist es eher unwahrscheinlich, dass Friedrich Höfinger nichts von diesen Vorgängen mitbe- kommen hat. Kurt Bauer weist jedenfalls nach, dass sich in der Steiermark sehr oft Gewerbetreibende mit ihrer ganzen Familie für die Nazis engagiert haben.796

793 NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle I27, Nr. 923. 794 Kurt Bauer, Struktur und Dynamik des illegalen Nationalsozialismus in der obersteirischen Industrieregion 1933/34, Dipl. Arb. Universität Wien, 1998, 122. 795 Statistik Austria, Volkszählungsergebnisse, Statistik der Standesfälle, Datenbank POPREG. Zu finden unter URL: http://www.statistik.at/blickgem/blick1/g61425.pdf 796 Bauer, Struktur, 121. 338

Abbildung 2: Das Ehepaar Friedrich (mit NSDAP-Parteiabzeichen) und Wilhelmine Höfinger, 1944.

Quelle: Höfinger, Familienchronik.

Von 1938 bis 1945 war Friedrich Höfinger nationalsozialistischer Gemeinderat in St. Peter am Kammersberg.797 Außerdem war er als „Aufsichtsperson“ dem „kommissari- schen Verwalter“ in der Gemischtwarenhandlung Humburger in Murau zugeteilt, die sich im Besitz der „Jüdin“ Malvine Humburger befand. Diese Stelle hatte ihm sein Schwager Othmar Pernthaler vermittelt, der ursprünglich als „kommissarischer Ver- walter“ bestellt wurde.798 Friedrich Höfinger stellte sogar einen Antrag, das Geschäft von Malvine Humburger im Rahmen der „Arisierung“ zu erwerben.799 Auf Wunsch der Murauer Kaufmannschaft wurde nach Beratung mit der Murauer Kreisleitung allerdings beschlossen, das Geschäft zu „liquidieren“.800 Die sogenannte „Liquidierung“ jüdischer Klein- und Mittelbetriebe war eine beliebte Strategie der Nationalsozialisten, die Mo- dernisierung der Wirtschaft in der „Ostmark“ voranzutreiben. Inventar und Lagerbe- stände des Geschäftes von Malvine Humburger wurden zu günstigen Preisen an die Murauer Kaufmannschaft verkauft. Auch Friedrich Höfinger profitierte davon. Ernst Humburger, der Sohn des Ehepaares Humburger, der den Holocaust als einziges Fami- lienmitglied überlebt hatte, stellte nach dem Krieg ein Restitutionsbegehren gegen Friedrich Höfinger und die anderen Kaufleute, zog ihn aber 1951 zurück.801

797 Walter Brunner: St. Peter am Kammersberg. Die Marktgemeinde stellt ihre Geschichte vor. St. Peter am Kammersberg 1997, 405. 798 STLA, Finanzlandesdirektion Graz, Arisierung, Komm 1938, Humburger Adolf/Murau, Schreiben von Franz Vasold an den Staatskommissar in der Privatwirtschaft. 799 STLA, Finanzlandesdirektion Graz, Arisierung, Komm 1938, Humburger Adolf/Murau, Schreiben von Friedrich Höfinger an die Vermögensverkehrsstelle Wien, Zweigstelle Graz. 800 STLA, Finanzlandesdirektion, Arisierung, Komm 1938, Humburger Adolf/Murau, Schreiben der Vermögensverkehrsstelle Wien, Zweigstelle Graz an den Kreiswirtschaftsberater der NSDAP Kreisleitung Murau. 801 StLA, Finanzlandesdirektion Graz, Rückstellung, L17-0374-1948, Amt der Steiermärkischen Landesregierung an die 339

Selbst durch seine nationalsozialistische Betätigung konnte sich Friedrich Höfinger nicht der Einberufung in den sogenannten Volkssturm entziehen. Im Herbst 1944 wur- de dieser aus allen wehrfähigen Männern im Alter von 16 bis 60 Jahren aufgestellt. Friedrich Höfinger war damals 58 Jahre alt und wurde als „Volkssturmmann“ in der Un- tersteiermark eingesetzt.802 Der Murauer Volkssturm wurde im Kampfabschnitt Kalch am sogenannten „Südostwall“ eingesetzt. Er kam zwei Tage zu spät am Abschnitt an, da sämtliche Zufahrtsstraßen rund um Murau von Wehrmachtseinheiten auf dem Rückzug sowie von Flüchtlingsströmen verstopft waren. Am 31. März wurde das gera- de erst eingetroffene Murauer Volkssturm-Bataillon von russischen Panzern geradezu überrollt. Erzählungen zufolge haben einige Mitglieder, des äußerst schlecht ausgerüs- teten Bataillons, bereits die Flucht ergriffen, als die sowjetischen Panzer sich näherten. Im allgemeinen Chaos löste sich das Bataillon auf.803 Ob auch Friedrich Höfinger die allgemeinen Auflösungserscheinungen genutzt hat, um den Heimweg anzutreten, ist nicht bekannt. Jedenfalls geriet er nicht in Kriegsgefangenschaft und kam schon bald wieder nach Hause zurück. Nachdem die Briten den Bezirk Murau besetzt hatten, begannen die Entnazifizierungs- maßnahmen. Prominente Nationalsozialisten wurden in Internierungslager gebracht; darunter auch Friedrich Höfinger. Sein Sohn Friedrich jun. erinnert sich heute noch, wie die Engländer mit einem „Jeep“ gekommen sind und seinen Vater „raufverladen“ haben. Er ist sich sogar heute noch sicher, dass es ein Dodge war. Friedrich sen. war dann zwei Jahre in Wolfsberg interniert, bis zum Herbst 1947. 804 In Murau gibt es einen Linolschnitt mit der Aufschrift „Weihnacht 1945 Wolfsberg“; darauf sind die Un- terschriften von 29 Murauern, neben der von Friedrich Höfinger auch die des ehemali- gen Murauer Franz Amberger.805 In der Familie wird über Friedrich Höfinger und seine Frau Wilhelmine oft in lobender Weise gesprochen; Erzählungen über ihre Taten erinnern stark an die von den Natio- nalsozialisten propagierten Eigenschaften des „deutschen Mannes“ und der „deutschen Mutter“. Tante Mitzi erzählte Friedrich Höfinger jun. über seine Eltern: „Vater war ein Ehrenmann, der beste Gatte und Vater und unsere Mutter, von allen liebevoll Minerl genannt, die Seele der Familie, tüchtig, fleißig, umsichtig, geduldig und 100 Prozent Mutter.“806

Beide scheinen von der Ideologie des Nationalsozialismus wirklich überzeugt gewesen zu sein. Sie waren deshalb auch aus der Kirche ausgetreten.807 Meine Oma Hilde Maier

Bezirkshauptmannschaft Murau, 18. 9. 1951. 802 Interview Höfinger. 803 Karner, Steiermark 1986, 407f. 804 Interview Höfinger. 805 Wieland, Murau, 145. 806 Höfinger, Familienchronik, 19. 807 Höfinger, Familienchronik, 25. 340 erinnert sich, dass Wilhelmine sehr geweint hat, als im Radio durchgesagt wurde, dass Hitler tot ist und bezeichnet sie dezidiert als „Nazi“: „Wie dann der Hitler vom Führerbunker, wie der Krieg verloren war, hat ja der Hitler auch aufgeben müssen, da hat er die Eva Braun erschossen und dann sich. Da haben die Nazi geweint, unter anderem die Tante Minerl. Jaja, die sind halt so eingestellt gewesen.“808

Während Friedrich sen. in Wolfsberg interniert war, kümmerte sich seine Frau Wilhel- mine alleine um das Geschäft und die vier Kinder. Unterstützung bekam sie dabei von Verwandten, die größte Hilfe war aber Maria Mohr. Maria war die Tochter jener Juliane Mohr, die Wilhelmine als Baby in Pflege genommen hat. Die Familie Höfinger hatte stets intensiven Kontakt zur Familie Mohr. Bereits während des Krieges, und noch viel mehr danach, hat Maria Mohr viel im Haus und im Geschäft geholfen.809 Auch meine spätere Oma Hilde hat einige Zeit bei der Familie Höfinger verbracht und im Haushalt sowie im Geschäft mitgearbeitet. So schaffte es Wilhelmine, das Geschäft zu erhalten. Nach Friedrichs Heimkehr aus Wolfsberg normalisierte sich das Familienleben wieder. 1948 kam die jüngste Tochter Christine zur Welt. Man wollte die Vergangenheit hinter sich lassen. So traten sie auch wieder in die Kirche ein und im März 1949 wurde kirch- lich geheiratet.810 Friedrich Höfinger jun. steht dem Nationalsozialismus äußerst kritisch gegenüber. Den- noch ist es für ihn sehr schwierig bis unmöglich sich einzugestehen, dass seine Eltern etwas Unrechtes getan haben. Er versucht mit allen Mitteln, den Vater zu verteidigen. So schreibt er in der Familienchronik: „In schlechten wirtschaftlichen Zeiten folgen die Menschen gerne Rattenfängern, die das Blaue vom Himmel versprechen. Mein Vater trat 1938 der NSDAP bei und war während der NS-Zeit Gemeinderat in St. Peter.“811

Die Internierung seines Vaters in Wolfsberg war seiner Ansicht nach völlig ungerecht- fertigt: „Seine Anhängerschaft zu diesem Regime musste er mit einer fast zweijährigen Internierung im Lager Wolfsberg büßen. Die Leute, die dort inhaftiert waren, waren durchwegs keine ‚Schwerbelasteten‘. Viele von ihnen hatten einer ‚Idee‘ gedient, ohne um die furchtbaren Folgen zu wissen. Auch der Pfarrer von St. Peter, Johann Kots, bestätigte mir einmal, dass mein Vater keinem Ortsbewoh- ner in dieser dunklen Zeit je geschadet hat.“

Friedrich jun. sagte im Interview, dass seine Eltern kaum über die Zeit des Nationalso- zialismus gesprochen haben. Er habe auch nicht viel nachgefragt, weil er sie nicht drängen wollte und außerdem erst 16 Jahre alt war, als der Vater starb. In diesem Al- ter habe er sich noch nicht für die Vergangenheit interessiert. Die Mutter zu fragen ist

808 Interview Maier. 809 Höfinger, Familienchronik, 19. 810 Ebd., 25. 811 Hierzu, und zum folgenden Zitat: Höfinger, Familienchronik, 26. 341 ihm nicht in den Sinn gekommen. Es wäre durchwegs möglich, dass er gar nicht zu viel wissen wollte. Seine Frau Juliane bestätigt, dass auch ihre Mutter nicht über diese Zeit sprechen wollte und sie die Kinder nicht drängen wollten. Friedrich jun. erzählt von einem dicken Stapel an Briefen, die seine Eltern sich geschrieben haben, während der Vater in Wolfsberg war. Im Interview erzählt er, dass er diese Briefe nie angeschaut, keinen einzigen gelesen habe und sie vor einiger Zeit alle im Garten verbrannt hatte. Als Begründung dafür gibt er an: „Ich wollte mit diesen Geschichten die irgendwie sehr viel Unglück über die Fa- milie und über die damalige Zeit gebracht haben, eigentlich nichts mehr zu tun haben.“812

Mir persönlich erscheint es sehr drastisch, die Briefe einfach zu verbrennen. Friedrich jun. nimmt hier die typische Haltung an, die nach dem Krieg üblich und bis heute auf- recht war: die Familie war ein Opfer, zuerst ein Opfer Hitlers und seiner verführeri- schen Ideologie, dann ein Opfer des Krieges und nicht zuletzt ein Opfer der ungerecht- fertigten Entnazifizierung. Selbst hat Friedrich jun. nur wenige Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus, er wurde ja erst 1941 geboren. Er erinnert sich, dass vor ihrem Haus eine riesige Hakenkreuzfahne gehangen hat. Damals war in St. Peter ein RAD-Lager. Im selben Gebäude war auch der Kindergarten untergebracht, den Fried- rich jun. ein paar Monate lang besucht hat. Am 16. 10. 1944 wurden Bomben auf St. Peter am Kammersberg abgeworfen. Vermutungen legen nahe, dass das RAD-Lager als Ziel geplant war, welches jedoch verfehlt wurde.813 Friedrich jun. erinnert sich, dass er später mit der oben erwähnten Maria Mohr den Bombentrichter auf einem Feld be- sichtigt hat. Auch an die Kolonnen von Soldaten, die auf dem Rückzug durch den Ort gezogen sind, erinnert er sich.814 Obwohl Friedrich jun. nicht viel nachgefragt hat und auch nicht viel Veranlassung dazu sah, kann man aus so mancher Alltagsgeschichte doch einiges ableiten. In der Familienchronik schreibt er, dass seine Eltern in seiner Kindheit Tiere gehalten haben, neben Hühnern auch ein paar Schweine. Ein besonders verunstaltetes Schwein, es war bucklig und schielte, erhielt den Namen „Churchill“.815 Dies sagt meiner Ansicht nach viel darüber aus, dass auch nach dem Krieg noch eine „gewisse“ Ideologie in der Familie bestand. Solche kleinen Scherze waren damals weit verbreitet, offiziell sagte man nichts Belastendes. Gleichgesinnte verstanden jedoch sehr gut, was man meinte. Da alle Geschwister von Wilhelmine stark dem Nationalso- zialismus zugetan waren, kann man hier sicher von einem Milieu der „Ehemaligen“ im Sinne von Margit Reiter sprechen816.

812 Interview Höfinger. 813 Wieland, Murau, 119. 814 Interview Höfinger. 815 Höfinger, Familienchronik, 27. 816 Gemeint sind ehemalige Nationalsozialisten, die auch nach dem Verbot der NSDAP noch in der NS-Ideologie verhaftet waren. Siehe: Margit Reiter, Die Last der Erinnerung. Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, 2. 342

4.7 Hilde Maier, geb. Ponholzer (meine Oma)

Meine spätere Oma Hilde Maier wurde am 30. 3. 1927 als Hildegard Ponholzer in der Wohnung ihrer Tante Maria Huber in Fohnsdorf geboren. Sie war die uneheliche Toch- ter von Anna Ponholzer und Othmar Pernthaler. Die Beziehung ihrer Eltern zerbrach bald. Ihre Mutter Anna Ponholzer war als Stubenmädchen im Hotel Sonne in Murau beschäftigt. Da es damals kaum Schutzvorschriften für Mütter und Kinder gab, musste Anna bereits drei Wochen nach der Geburt wieder zur Arbeit gehen. Hilde kam auf ih- ren ersten Pflegeplatz zu einem älteren Ehepaar namens Moser in Murau. Bald darauf brach in Murau Scharlach aus, weshalb man die Kleinkinder aus der Stadt bringen musste. Anna fand für ihre Tochter einen Pflegeplatz bei zwei armen alten Frauen, die sprichwörtlich in einer Hütte wohnten. Die beiden sollen bitterarm aber sehr liebevoll gewesen sein und gut für das Baby gesorgt haben. Nach vier Wochen war die Schar- lach-Gefahr gebannt und Hilde wurde mit der Pferdekutsche wieder zum Ehepaar Mo- ser gebracht. Nachdem Frau Moser schwer erkrankte, erlaubte Frau Bayer, die Chefin des Hotel Sonne, dass Anna ihr Kind mit ins Hotel brachte. In einem geflochtenen Wä- schekorb wurde das Baby auf der Veranda untergebracht. Frau Bayer fand Gefallen an der kleinen Hilde und nahm sie mit in die Hotelküche. Nachdem sie dort allerdings ihre ersten Schritte gemacht hatte, wurde der Aufenthalt in der Küche, neben dem riesigen Herd, für das Kind zu gefährlich. Frau Moser hatte sich mittlerweile erholt und so kam das Kleinkind wieder zum Ehepaar Moser in Pflege.817

Abbildung 3: Hildegard Ponholzer mit ihren Eltern, Mai 1928.

Quelle: Foto im Privatbesitz der Autorin.

817 Heimo Taus, Aus dem Leben von Hilde Maier. Erinnerungen anlässlich ihres 80. Geburtstags, 1. Teil: Kindheit und Jugend, Stainach 2007, 3. 343

1929 lernte Othmar Pernthaler seine spätere Frau Maria Hauser, eine Bauerntochter aus Triebendorf, kennen. Das Haus, in dem Othmar Pernthaler im Erdgeschoss sein Geschäft und im ersten Stock seine Wohnung hatte, lag gleich neben dem Hotel Son- ne. Ab Weihnachten 1929 lebte Hilde im Haus ihres Vaters und seiner Lebensgefährtin. 1931 heirateten Othmar und Maria; 1932 kam Hildes Halbschwester Hertha zur Welt.818 Später im Jahr 1932 musste Othmar Pernthaler Konkurs anmelden. Im Zuge dessen wurde das Haus versteigert, die Familie verlor neben dem Geschäft auch die Wohnung. Im Rahmen dieser Ereignisse ging auch die Beziehung zwischen Othmar und seiner Frau Maria in die Brüche. Maria zog mit Hertha wieder in ihr Elternhaus nach Triebendorf, Othmar bewohnte fortan ein kleines Zimmer in Untermiete.819 Meine Oma kam wieder zum Ehepaar Moser in Pflege.820 Als ihre Mutter Anna eine Stelle als Zahlkellnerin in Trieben bekam, nahm sie Tochter Hilde mit. In Trieben war sie wieder bei Pflegeeltern untergebracht. Anlässlich des Schuleintritts ihrer Tochter, war Anna der Meinung, dass Hilde nun alt genug sei und keiner ganztägigen Aufsicht mehr bedurfte, weshalb sie von da an bei ihrer Mutter wohnen durfte. Dies schien nicht so gut funktioniert zu haben, weshalb Hilde noch während des ersten Schuljahres wieder umziehen musste; Anna brachte sie zu ihren Eltern nach Judenburg. Diese bewohnten eine komfortlose Küche-Zimmer Wohnung. Das Ehepaar Ponholzer war sehr arm, weshalb Maria Ponholzer, Hildes Großmutter, nach ihrer Pensionierung als Schuldienerin in St. Peter ob Judenburg ein Zubrot ver- diente. Darüber hinaus hatte das Ehepaar insgesamt zwölf Kinder, und einen Ehemann der etwas zu sehr dem Alkohol zugeneigt war. Meine Oma erinnert sich aber, dass ihre Großeltern sehr liebevoll waren und nennt diese Zeit „bescheidenes Kinderglück in der fröhlichen Armut“. Dieses endete jäh während ihres zweiten Volksschuljahres. Hilde kam am Faschingsdienstag von der Schule nach Hause und ihre Großmutter lag im Sterben. Nach ihrem Tod führte Tante Rosl, die ledige Tochter ihres Großvaters, den Haushalt.821 Im Herbst hatte Hilde noch die dritte Klasse der Volksschule in Judenburg begonnen. Dann bekam ihre Mutter jedoch eine neue Stelle als Zahlkellnerin in Wald am Schober- pass. Dort lebte sie dann bei ihrer Mutter, wo sie auch die vierte Klasse der Volksschu- le begann. Warum sie dann mitten im Schuljahr wieder nach Judenburg zu ihrem Großvater und Tante Rosl übersiedeln musste, ist ihr nicht mehr in Erinnerung. Sie war dort aber nur für kurze Zeit; ihre Mutter hatte in der Zwischenzeit den Pferdefrachter Reicher aus Fohnsdorf geheiratet und holte ihre Tochter zu sich, wo diese die vierte

818 Taus, Aus dem Leben von Hilde Maier, 5. 819 Höfinger, Familienchronik, 14. 820 Taus, Aus dem Leben von Hilde Maier, 5. 821 Hierzu, sowie die folgenden Absätze: Taus, Aus dem Leben von Hilde Maier, 6-7. 344

Klasse der Volksschule beendete. Ihre Mutter fand in Fohnsdorf wieder eine Stelle als Zahlkellnerin, weshalb Hilde teils bei ihrer Mutter und teils bei der Schwester ihrer Großmutter, welche sie Tante Poldi nannte, wohnte. Tante Poldi lebte in großer Armut und verbesserte ihr Auskommen, indem sie sich um die Wäsche der in Fohnsdorf be- schäftigten Bergknappen kümmerte. Jeden Sonntag holte sie von den Bergarbeiterun- terkünften zu Fuß die Wäsche in einem riesigen Wäschekorb. Dann musste sie diese mit der Hand waschen, bügeln und flicken und brachte sie am folgenden Sonntag wieder zurück. Hilde begleitete sie oft dabei und half ihr beim Tragen des schweren Korbes. Mit dem bescheidenen Lohn kauften sie beim Kaufmann Reis und Tee. Nach Abschluss der ersten Klasse der Hauptschule in Fohnsdorf holte ihr Vater sie nach Murau, wo sie teils bei einer Familie namens Gandler und teils wieder beim Ehepaar Moser in Pflege war. In dieser Zeit besuchte sie die zweite und dritte Klasse der Hauptschule in Murau. Die vierte Klasse besuchte sie wieder in Fohnsdorf, wo sie teils bei ihrer Mutter und teils bei Tante Poldi wohnte. An ihre Kindheit hat meine Oma keine sehr glückliche Erinnerung. Natürlich haben die vielen Umzüge und Schulwechsel und auch die vielen Pflegeplätze sie stark belastet. Noch schwerer waren für sie aber jene Zeiten, in denen sie bei ihrer Mutter gelebt hat, da diese sie regelmäßig geschlagen hat. Zur damaligen Zeit war dies noch in weiten Kreisen üblich, die „gsunde Watschn“ war ein akzeptiertes Mittel der Kindererziehung und es gab kaum jemanden, der ein Kind vor Misshandlungen geschützt hätte. Schon oft erzählte mir meine Oma eine Episode aus ihrer Kindheit, die ihr bis heute sehr nahe geht. Ihre Mutter hat mit einem Zweig so lange auf ihre Beine geschlagen, bis diese bluteten. Am nächsten Tag wollte sie Strümpfe anziehen, damit man in der Schule ihre Striemen nicht sah. Ihre Mutter hat ihr das aber verboten und gesagt, es sollen nur alle ihre „Landkarten“ sehen. 1941 hat Hilde die vierte Klasse der Hauptschule in Fohnsdorf abgeschlossen. An den „Anschluss“ hat sie keine besonderen Erinnerungen. Die erste Episode, an die sie sich im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus erinnert, hat sie mir bereits oft er- zählt. In Fohnsdorf veranstalteten die Nationalsozialisten eine Maifeier, wo die Kinder des Ortes (wohl im Rahmen der Hitlerjugend) singen sollten. Dies fand abends statt und Anna hatte, aufgrund ihrer Berufstätigkeit, nicht die Möglichkeit Hilde hinzubrin- gen und wieder abzuholen. Da sie nicht wollte, dass ihre Tochter so spät noch alleine aus dem Haus ging, verweigerte sie ihr die Teilnahme. Meine Oma erzählte mir, dass bereits am nächsten Tag Vertreter der Ortsgruppe Fohnsdorf am Arbeitsplatz ihrer Mutter erschienen und ihr sagten, dass sie ihre Tochter in Zukunft zu den Veranstal- tungen gehen lassen soll, wenn sie ihren Arbeitsplatz nicht verlieren möchte. Derartige Drohungen waren damals äußerst üblich, die lokalen NS-Größen sorgten penibel dafür, 345 dass alle Einwohner den örtlichen NS-Veranstaltungen beiwohnten, wie wir schon am Beispiel des Murauer Kreisleiters Amberger sehen konnten. Ihre nächste Erinnerung an das NS-Regime stammt aus dem Jahr 1938. Sie und ihre Freundin Hella sahen das jüdische Ehepaar Humburger im Hof des Murauer Gefängnis- ses Marhof, da man vom Park des Schlosses Schwarzenberg aus in den Gefängnishof sehen konnte. Meine Oma erzählte im Interview, dass sie und Hella zum Gefängnis gingen, um mit dem Ehepaar Humburger zu sprechen. 822 Dies war damals durchaus möglich; das Gefängnis Marhof scheint keine besonders hohen Sicherheitsstandards gehabt zu haben und Murauer gingen dort sehr oft hin, um heimlich mit Inhaftierten zu sprechen.823 Erstaunlich finde ich es, dass meine Oma es für notwendig befunden hat zu betonen, dass das Ehepaar Humburger perfekt Deutsch sprach.824 Schließlich hatte die Familie Humburger schon lange vor der Geburt meiner Oma in Murau gelebt. Hier tut die Propaganda der Nationalsozialisten, dass Juden keine Deutschen bzw. Ös- terreicher seien, noch immer ihre Wirkung. Bei diesem Gespräch soll das Ehepaar ge- weint haben, weil sie ihren einzigen Sohn nach England schicken mussten. Eine weitere bittere Erinnerung meiner Oma ist die Ermordung des behinderten Bru- ders eines guten Freundes. Im Rahmen der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, im NS-Jargon mit dem Wort „Euthanasie“ verschleiert, wurden zahlreiche Menschen mit Behinderung ermordet. Diese wurden von den Nationalsozialisten als „unnütze Esser“ und als ein „Ballast am deutschen Volkskörper“ gesehen. Ein Programmpunkt war die Ermordung geistig oder körperlich behinderter Kinder. Diese begannen mit 18. 8. 1939 und wurden bis Kriegsende fortgesetzt. Mit einem Erlass vom 18. 8. 1939 wurden Ärz- te und Hebammen angehalten, Kinder mit bestimmten Leiden zu melden. Hierfür wur- den ihnen eigene Meldebögen zugesandt. Meldepflichtig waren zunächst Kinder bis drei Jahre, 1941 wurde das Alter aber auf 16 Jahre angehoben.825 Um alle Kinder zu erfassen, die zu Hause bei ihren Eltern versorgt wurden, waren die Meldebögen bei al- len Gesundheitsämtern erhältlich und wurden von den Amtsärzten an den Reichsaus- schuss weitergegeben. Von dort gingen sie an drei ärztliche Gutachter, die alleine auf- grund dieser Informationen entschieden, ob das Kind getötet werden sollte. Haupt- sächliche Entscheidungskriterien waren Erbkrankheiten und der zukünftige Nutzen der Kinder für die „Volksgemeinschaft“. Den Eltern sollte Hoffnung auf Heilerfolge gemacht werden, um die Abgabe der Kinder zu beschleunigen. Wenn die Eltern ihrem Kind „die notwendige Behandlung verweigerten“, wurden ihnen wirtschaftliche Belastungen oder der Entzug der Obsorge angedroht. Die Kinder wurden in sogenannte „Kinderfachab-

822 Interview Maier. 823 Hager, Weilharter, Zeit, 35f. 824 Interview Maier. 825 Karl Cervik, Kindermord in der Ostmark: Kindereuthanasie im Nationalsozialismus 1938-1945, Münster 2004, 14. 346 teilungen“ gebracht und dort ermordet. In vielen Fällen wurden sie von den Ärzten vor ihrer Ermordung noch monatelang für medizinische Experimente missbraucht.826 Die Kinder wurden hauptsächlich durch Injektionen getötet oder man ließ sie schlichtweg verhungern; es dürften nur wenige Kinder vergast worden sein.827 Schließlich erhielten die Eltern Todesmeldungen unter Angabe einer erfundenen Todesursache.828 Diese Morde sind nicht zu verwechseln mit der „Aktion T4“829, in deren Zuge ab September 1939 Erwachsene mit Behinderung ermordet wurden. Die „Aktion T4“ wurde nach Pro- testen aus kirchlichen Kreisen und der Bevölkerung offiziell eingestellt, ging jedoch heimlich weiter. Die sogenannte „Kindereuthanasie“ war unabhängig von der Ermor- dung behinderter Erwachsener organisiert. Sie begann früher, bereits im August 1939, und wurde bis Kriegsende ununterbrochen weitergeführt. Nach Schätzungen wurden im Rahmen der „Kindereuthanasie“ in der „Ostmark“ rund 5.000 Kinder und Jugendli- che ermordet.830 Die Geschichte der Familie Wohleser verlief genau nach diesem Schema. Die Familie Wohleser lebte in ; meine Oma war sehr gut mit Max Wohleser befreundet. Sein Bruder war geistig behindert, wodurch ihn jeder im Ort kannte. Eines Tages wur- de seinen Eltern mitgeteilt, dass er in eine Heilanstalt kommen sollte; es gebe neue Möglichkeiten der Heilung. Seine Eltern hatten ein wenig Hoffnung; nach einigen Mo- naten bekamen sie aber die Mitteilung, dass er an Masern verstorben sei. Dies kam al- len etwas seltsam vor und sie hörten sich in der Umgebung um. Da erfuhren sie, dass es vielen Eltern, die ein behindertes Kind hatten, so ergangen war. Meine Oma ver- wechselt hier in der Erinnerung zwar etwas, sie glaubt, dass die behinderten Kinder nach Mauthausen gebracht und dort ermordet wurden. Dies verwundert allerdings nicht, wenn man bedenkt, dass im Rahmen der Ermordung erwachsener Menschen mit Behinderung oft als Duschen getarnte Gaskammern verwendet wurden. Dieses Bild assoziieren wir in erster Linie mit den Vernichtungslagern. Interessant finde ich in die- sem Zusammenhang, dass meine Oma erzählte, sie und einige Bekannte hätten sich umgehört und bald erfahren, dass die Ermordung Behinderter System hat. Was den Holocaust betrifft hält sich nämlich auch meine Oma an die allseits bekannte Aussage „Davon haben wir nichts gewusst.“831 An eine Mitgliedschaft im Bund Deutscher Mädel (BDM) erinnert sie sich nicht. Der BDM war eine Unterorganisation der Hitlerjugend (HJ), der dafür zuständig war, die weibliche Jugend losgelöst vom Elternhaus ideologisch zu schulen und für die körperli-

826 Matthias Dahl, Die Tötung behinderter Kinder in der Anstalt Am Spiegelgrund 1940 bis 1945, in: Eberhart Gabriel, Wolfgang Neugebauer (Hg.), NS-Euthanasie in Wien, Wien, Köln, Weimar 2000, 75-92, hier 76-82. 827 Cervik, Kindermord, 14. 828 Dahl, Tötung, 85. 829 Benannt nach der Zentraldienststelle der Nationalsozialisten, welche die Morde plante in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Die Bezeichnung „Aktion T4“ findet sich in zeitgenössischen Quellen nicht und wurde erst nach 1945 üblich. 830 Dahl, Tötung, 76. 831 Interview Maier. 347 che Ertüchtigung zu sorgen. Im BDM sollten die Mädchen lernen, was es für die Nationalsozialisten bedeutete, eine „deutsche Frau“ zu sein. Ab März 1939 galt die Zwangsmitgliedschaft aller Kinder ab zehn Jahren für die HJ, alle Mädchen ab zehn Jahren mussten daher dem BDM beitreten. Eltern, die ihre zehnjährigen Kinder nicht zur HJ anmeldeten, wurden mit Geldstrafen oder sogar Haft bedroht. Dies ist histo- risch gesehen aber selten vorgekommen, die meisten Kinder traten mit Freude in die HJ ein.832 Auch bei meiner Oma gehe ich davon aus, dass sie im BDM war. Über die Einstellung ihrer Mutter zum Nationalsozialismus ist zwar nichts bekannt, wir wissen aber bereits, dass ihr Vater ein „Alter Kämpfer“ war. Daher werden die Eltern den Ein- tritt ihrer Tochter in die HJ (BDM) sicher nicht verhindert haben. Die erste tiefergreifende Veränderung in ihrem Leben war die Absolvierung des soge- nannten „Pflichtjahres“. 1938 führte das Regime eine einjährige Arbeitsverpflichtung für Frauen unter 25 Jahren ein. Diese durften von öffentlichen und privaten Betrieben nur eingestellt werden, wenn sie eine mindestens einjährige Beschäftigung in der Lan- d- oder Hauswirtschaft nachweisen konnten.833 Meine Oma verbrachte ihr Pflichtjahr auf einem kleinen Bauernhof auf der Schlatting. Laut ihrem Arbeitsbuch war sie von 1. 8. 1941 bis 10. 8. 1942 „Pflichtjahrmädchen“ bei Fanni Gandler, landwirtschaftlicher Betrieb. In diesem Arbeitsbuch gab es sogar eine eigene Seite, auf der bestätigt wer- den musste, dass man „Die Voraussetzungen der Anordnung über den verstärkten Ein- satz weiblicher Arbeitskräfte in der Land- und Hauswirtschaft vom 15. 11. 38“ erfüllt hat. Bei meiner Oma scheint hier ein Eintrag vom Arbeitsamt Judenburg auf, dass sie die Voraussetzungen am 7. 8. 1942 erfüllt hat.834 Während ihres „Einsatzes“ musste sie sämtliche anfallende Arbeiten verrichten: Gartenarbeit, Hilfe bei der Ernte, Versor- gung der Tiere, Arbeit im Haushalt. Sie erzählte mir immer, dass sie dort nicht gut be- handelt worden war und sogar Hunger leiden musste. Einmal musste sie eine ver- schimmelte Brotscheibe essen, weil sie sonst nichts zu essen bekam. Nach dem Pflichtjahr hätte sie einen bescheidenen Lohn bekommen sollen; die Familie weigerte sich aber ihr diesen Lohn zu zahlen. Ihr Vater sagte daraufhin, sie solle „keinen Wirbel machen“ und auf ihren Lohn verzichten.835 Er verdiente mittlerweile gut in seiner, von den Nationalsozialisten vermittelten, Stellung als Leiter der Ortskrankenkasse. Durch seine neue Position hatte er auch gute Beziehungen und konnte seiner Tochter Hilde so eine Lehrstelle als Industriekauffrau in der Brauerei Murau vermitteln. Auch Herr Kuntschak, der Direktor der Brauerei, dürfte der NSDAP nahe gestanden haben. Meine Oma erzählte mir nämlich im Interview, dass er zu dieser Zeit auch für die Ver-

832 Gisela Miller-Kipp, „Der Führer braucht mich“ Der Bund deutscher Mädel (BDM): Lebenserinnerungen und Erinnerungsdiskurs, Weinheim, München 2007, 13-15. 833 Detlev Humann, „Arbeitsschlacht“ Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der NS-Zeit 1933-1939, Göttingen 2011, 148-151. 834 Arbeitsbuch von Hildegard Ponholzer, im Privatbesitz von Heimo Taus. 835 Interview Maier. 348 waltung des Schlosses Schwarzenberg zuständig war. Da das Schloss von der NSDAP enteignet wurde, gehe ich davon aus, dass sie die Verwaltung jemandem übergaben, der aus ihrer Sicht „politisch zuverlässig“ war. Als Arbeitgeber war er für meine Oma ein Glücksfall, was natürlich auch an der „Parteifreundschaft“ zu ihrem Vater liegen konnte. Er bezahlte ihr die doppelte Lehrlingsentschädigung und brachte ihr immer wieder selbstgemachte Mehlspeisen seiner Frau. Außerdem durfte sie jeden Tag so viel Bier mitnehmen, wie sie in ihre Tasche packen konnte. Zu dieser Zeit wohnte sie bei ihrer Großmutter väterlicherseits, Paula Grössing, in St. Egidi. Dieses Bier war in jener Zeit sehr willkommen zur Versorgung der Familie, da die Lebensmittel im Laufe des Krieges immer knapper wurden. Sie tauschten das Bier bei den umliegenden Bauern gegen Lebensmittel.836 Ein großer Einschnitt in ihrem Leben war, als ihr Vater 1943 nach Polen eingezogen wurde und bald darauf an einem Magendurchbruch verstarb. Ihr Vater war ihre wichtigste Bezugsperson gewesen und bis heute hält sie sein An- denken in allen Ehren.837 Ihre Lehre dauerte vom 1. 9. 1942 bis 3. 8. 1944. Laut ihrem Arbeitsbuch war sie nach ihrem Lehrabschluss noch von 1. 9. 1944 bis 3. 5. 1945 als Stenotypistin bei der Brauerei Murau beschäftigt.838 Hier scheinen aber die Einträge nicht präzise zu sein. Meine Oma erzählte mir, dass sie zu Beginn des Frühjahres 1945 zum Reichsarbeitsdienst (RAD) eingezogen wurde.839 1935 wurde in Deutschland eine halbjährige Arbeitsdienstverpflichtung für die männli- che Jugend zwischen 18 und 25 Jahren eingeführt. Erst nach dem Überfall auf Polen im September 1939 wurden auch Frauen verpflichtet. Es galten viele Ausnahmebe- stimmungen, z. B. konnte man sich wegen Schulbesuch, Ausbildung und Berufstätig- keit befreien lassen. In seinen Anfängen hatte der RAD hauptsächlich erzieherische Funktionen. Er galt als „Ehrendienst am deutschen Volke“ und sollte die klassenlose Gemeinschaft und die befriedigende Wirkung harter Arbeit vermitteln. Im Verlauf des Krieges diente der RAD immer stärker kriegsbedingten Zielen und die Verpflichteten wurden immer öfter für Kriegshilfsdienste in Anspruch genommen. Vor allem in der Landwirtschaft sollten sie auch die, aufgrund des Kriegseinsatzes fehlenden, Arbeits- kräfte ersetzen. Die jungen Frauen und Männer wurden während ihres Arbeitsdienstes in geschlossenen Lagern fern ihres Heimatortes eingesetzt. Die RAD-Lager mit ihren Strukturen wurden von den Verantwortlichen als „Vorform des nationalsozialistischen Staates“ bezeichnet. Durch das Lagerleben sollten die jungen Menschen zu guten „Volksgenossen“ erzogen werden. So wurden in den Lagern auch umfangreiche ideolo- gische Schulungen vorgenommen.840

836 Taus, Leben, 8. 837 Interview Maier. 838 Arbeitsbuch von Hildegard Ponholzer. 839 Interview Maier. 840 NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, Jugend in Deutschland 1918-1945: Reichsarbeitsdienst. Zu finden 349

Hilde kam in ein RAD-Lager nahe Schloss Hunnenbrunn in St. Veit an der Glan. Kärn- ten wies eine außerordentliche Dichte an RAD-Lagern auf, in denen besonders viele Steirerinnen untergebracht waren.841 Aber auch einige Mädchen aus dem „Altreich“ waren mit meiner Oma in dem Lager. Sie mussten dort schwere Feldarbeit verrichten. Sie war dort nur für kurze Zeit, denn als die russische Front immer näher rückte, lies die Leiterin das Lager auf. Sie wies die Mädchen an, sich schnellstmöglich auf den Heimweg zu machen, damit sie nicht „den Russen in die Hände fallen“.842 Die Angst vor den Russen war damals in der Bevölkerung stark verbreitet. Jahrelang waren die Russen als Todfeind propagiert worden. Geschürt wurden Gerüchte über Gräueltaten von aus Russland nach Hause gekehrten Soldaten, bei denen wohl auch das Wissen um die deutschen Kriegsverbrechen im Osten die Angst vor Rache verstärkt hat. Hilde machte sich mit vier Mädchen aus dem „Altreich“ auf den Weg. Sie hatten Glück und am Bahnhof hielt ein Lazarettzug, der in Richtung Fohnsdorf fuhr. Die Mädchen bestie- gen den Zug, der jedoch bei Zeltweg auf offener Strecke unerwartet zum Stehen ge- bracht wurde. Dort stiegen sie aus und erreichten nach einem zweistündigen Fuß- marsch das Haus von Hildes Mutter Anna Reicher in Fohnsdorf. Diese war nicht sehr begeistert, dass ihre Tochter kurz vor Kriegsende vier fremde Mädchen mitbrachte. Schließlich wurde den Mädchen aber erlaubt, zwei Nächte im Pferdestall zu schlafen. Danach hielten sie eine Gruppe von Wehrmachtssoldaten auf, die gerade durch Fohns- dorf zogen. Meine Oma ist sich nicht sicher, ob es sich um Deserteure oder Wehr- machtssoldaten auf dem Rückzug handelte. Diese waren jedenfalls unterwegs ins „Alt- reich“ und willigten ein, die vier Mädchen mitzunehmen. Meine Oma weiß bis heute nicht, ob diese gut zu Hause angekommen sind.843 Wenn man aber die allgemeinen Wirren zu Kriegsschluss, und die sich von allen Seiten nähernden Alliierten, in Betracht zieht, ist es aus heutiger Sicht wohl fraglich, ob die Entscheidung sich einer Gruppe von Wehrmachtssoldaten anzuschließen, die Beste war. Kurz vor Kriegsschluss hatte Hilde noch ein Erlebnis, das ihr bis heute sehr nahe geht. In Zeltweg gab es einen Fliegerhorst. Kurz vor Kriegsende kursierte in der Bevölke- rung das Gerücht, dass der Fliegerhorst aufgelöst wird und dort Bettwäsche für die Bevölkerung verteilt wird. Hilde und ihre Mutter fuhren daher mit dem Fahrrad nach Zeltweg, um Bettwäsche zu bekommen. Auf dem Weg fanden sie am Straßenrand ein ausgehobenes Grab, in dem einige junge deutsche Soldaten lagen. Anbei war ein Schild befestigt, mit der Aufschrift: „So ergeht es Vaterlandsverrätern. Wegen unerlaubter Entfernung von der Trup- unter URL: http://www.jugend1918-1945.de/thema.aspx?s=1610 841 Bernhard Gitschtaler, Gailtaler Jugend im Nationalsozialismus. Hitlerjugend, Bund deutscher Mädel und Reichsarbeitsdienst im Gailtal, Wien, Hermagor 2012, 31. 842 Taus, Leben, 8f. 843 Interview Maier. 350

pe standrechtlich erschossen“.

Hilde war darüber sehr erschüttert. Sie hat dann beim Fliegerhorst nachgefragt und dort wurde ihr mitgeteilt, dass das Standrecht verhängt wurde und daher das Recht bestand, aufgegriffene, desertierte Soldaten zu erschießen. Am 20. 4. 1945 waren tat- sächlich sechs junge Deserteure vom Standgericht am Fliegerhorst zum Tode verurteilt und nahe der Hauptstraße erschossen worden.844 Am 8. 5. 1945 ging der Zweite Weltkrieg mit der Kapitulation Deutschlands zu Ende. Es herrschten chaotische Zustände. Flüchtlinge und Wehrmachtssoldaten versuchten, sich von den nahenden sowjetischen Truppen abzusetzen. Entlang der Rückzugsrouten fand man überall zurückgelassene Fahrzeuge, Waffen und Munition.845 Die Menschen versuchten panisch, Gegenstände aus ihren Haushalten verschwinden zu lassen, die sie mit dem NS-Regime in Verbindung bringen konnten. So wie Maria die Poststempel mit der Aufschrift „Heil Hitler“ vernichtet hat (siehe Kapitel 3). Am 9. 5. erschienen die ersten sowjetischen Panzer in Knittelfeld, Zeltweg und Judenburg. Am 10. 5. begann die eigentlich Besetzung durch die nachrückenden Truppenverbände der Roten Armee. Am 10. 5. waren auch britische Truppen in Judenburg eingetroffen und verhandelten mit Offizieren der Roten Armee. Danach zogen sich die Sowjets auf das nördliche Mu- rufer zurück. Judenburg war somit doppelt besetzt, südlich der Mur britisch und nörd- lich der Mur sowjetisch. Der ganze Bezirk wurde zweigeteilt; Fohnsdorf blieb zunächst in der sowjetischen Besatzungszone.846 Die Murbrücke wurde zur Demarkationslinie, die man anfangs noch mit einem Ausweis überschreiten konnte. Schließlich wurde aber auch das verboten.847 Die Truppen der Roten Armee taten einiges, um den in der Bevölkerung verbreiteten Schreckensbildern zu entsprechen. In der Oststeiermark wurden zwischen 8. 5. und 4. 8. 1945 an die 9.493 vergewaltigten Frauen regis- triert.848 Man kann davon ausgehen, dass die Dunkelziffer um einiges höher war. In vielen Regionen kam es zu Plünderungen und Diebstählen. Diese wurden allerdings nicht nur von Angehörigen der Roten Armee und Fremdarbeitern begangen, sondern auch die Bevölkerung der Umgebung, die schon länger unter Lebensmittelknappheit litt, beteiligte sich an den Plünderungen.849 Meine Oma schildert den Einmarsch der Roten Armee in Fohnsdorf äußerst drastisch. Sie erzählte im Interview, dass die Russen nur Wodka getrunken hätten und besoffen mit Panzern kreuz und quer durch Fohnsdorf gefahren wären. Dabei hätten sie die

844 Heimo Halbrainer, Erinnern und Gedenken. Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum der Region Aichfeld-Murboden für die Zeit 1938 bis 1945, in: Heimo Halbrainer, Michael Georg Schiestl (Hg.), Adolfburg statt Judenburg. NS- Herrschaft: Verfolgung und Widerstand in der Region Aichfeld-Murboden, Graz 2011, 237-256, hier 241. 845 Meinhard Brunner, Ende mit Schrecken. Die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs in der Region Aichfeld-Murboden, in: Halbrainer, Schiestl (Hg.): Adolfburg, 175-194, hier 181. 846 Brunner, Ende mit Schrecken, 181-183. 847 Günther Jones, Günter Schilhan, Vom Anschluss bis zum Staatsvertrag. Die Steiermark 1938-1955, Graz 2007, 95. 848 Karner, Steiermark, 98. 849 Brunner, Ende mit Schrecken, 183f. 351

Straßenlaternen beschossen und die Bauern ausgeraubt. Das Spital in Judenburg sei voll von vergewaltigten Frauen gewesen. Hilde und ihre beste Freundin Hella waren damals gerade einmal 18 Jahre alt. Sie versteckten sich bei ihrer Mutter im Tauben- schlag vor den Sowjetsoldaten; drei Nächte verbrachten sie dort. Ihre Mutter war 1945 gerade 40 Jahre alt; sie soll sich als alte Frau verkleidet haben, um den Verge- waltigungen zu entgehen. Kurz bevor die inneren Zonengrenzen zu den jeweiligen Be- satzungsräumen der übrigen Alliierten, und somit auch die Demarkationslinie an der Murbrücke, von den Briten geschlossen wurden850, überquerten Hilde und Hella die Murbrücke, um die britische Zone zu erreichen. Vor den Sowjetsoldaten hatten sie große Angst. Der Bezirk Murau war damals schon britisch besetzt. Sie gingen zu Tante Mitzi, welche in Oberwölz in der britischen Zone wohnte und lebten einige Zeit bei ihr in einem Untermietzimmer.851 Nach kurzer Zeit machte sich Hilde auf den Weg nach St. Peter am Kammersberg, zu Wilhelmine Höfinger. Hella ging zu einer bekannten Bauernfamilie nach Schöder. Friedrich Höfinger war damals bereits in Wolfsberg inter- niert und so half Hilde im Geschäft aus. Sie blieb bis zum 31. 8. 1945 bei der Familie Höfinger.852 Im Geschäft Höfinger lernte sie Herrn Trojak kennen, der gerade die Bezirksstelle der Handelskammer Murau aufbaute. Sie begann dort als Stenotypistin zu arbeiten und mietete eine kleine Wohnung in Murau. Die Handelskammer war im Haus der Familie Humburger untergebracht. Im selben Gebäude hatte auch der spätere ÖVP-Nationalrat Karl Brunner (zu Karl Brunner siehe Anhang) sein Büro. Hilde verrichtete für ihn regel- mäßig Schreibdienste, da er damals noch keine Sekretärin hatte. Als Entlohnung gab er ihr silberne Löffel, welche sie wiederum bei Bauern gegen Lebensmittel eintauschte. So diktierte er ihr auch das Schreiben für das Gnadengesuch des inhaftierten ehemali- gen Murauer Kreisleiters Franz Amberger. An einen Satz kann sich meine Oma noch genau erinnern: „Wir bitten für den Sohn unserer Stadt.“853 1948 lernte Hilde bei einer Tanzveranstaltung in St. Peter am Kammersberg Josef Taus kennen. Im Frühjahr 1949 fand die Doppelhochzeit statt, Hilde heiratete Josef Taus, ihre Tante Maria heiratete Hermann Weys.854 Im Zusammenhang mit dieser Hochzeit fand ich es sehr erstaunlich, als meine Oma mir erzählte, dass sie ein schwarzes Hochzeitskleid getragen hat, weil auch die Braut von Franz Amberger ein schwarzes Hochzeitskleid getragen hatte und das hat ihr damals so gefallen, weil es „einmal was anderes“ war. Die Hochzeit des Kreisleiters, die im enteigneten Schloss Schwarzenberg stattgefunden hatte855, blieb als ein großes Fest für die gesamte Murauer „Volksge-

850 Siegfried Beer, Die „britische“ Steiermark 1945-1955, Graz 1995, 470. 851 Interview Maier. 852 Arbeitsbuch von Hildegard Ponholzer. 853 Interview Maier. 854 Taus, Leben, 10. 855 Wieland, Murau, 279. 352 meinschaft“ der NS-Zeit in Erinnerung. Am 30. 7. 1949 kam Gerhard, der erste Sohn des Paares, zur Welt. Am 23. 2. 1952 wurde der zweite Sohn Heimo geboren. Josef Taus hatte ein unberechenbares Tempe- rament und war sehr eifersüchtig. Dies äußerte sich mit den Jahren immer stärker in Form von psychischer und physischer Gewalt gegen seine Frau und seine Kinder, wes- halb es 1958 schließlich zur Scheidung kam.

Abbildung 4: (vlnr.) Hildegard Ponholzer (meine Oma), Maria Grössing (Tante Mitzi), Josef Grössing, Maria Mohr, vorne die vier Kinder von Friedrich und Wilhelmine Höfinger (St. Peter am Kammersberg, 1945).

Quelle: Foto im Privatbesitz der Autorin.

1959 wurde der Jurist und Sozialdemokrat Dr. Anton Maier aus Graz in die Bezirks- hauptmannschaft Murau versetzt; er sollte mein Großvater werden. Bald nachdem Hil- de und er sich kennen lernten, wurden sie ein Paar. 1961 folgte die Hochzeit und im April 1962 kam meine Mutter Luise Maier zur Welt. Berufsbedingt übersiedelte die Fa- milie mehrmals, zuerst nach Bad Aussee, wo Anton Maier Expositurleiter der Bezirks- hauptmannschaft wurde, schließlich nach Mürzzuschlag, wo er Bezirkshauptmann wur- de. Immer wieder zog es das Ehepaar jedoch zurück nach Murau, obwohl Anton Maier ursprünglich aus Weiz stammte und nur wenige Lebensjahre in Murau verbracht hatte. Nichtsdestotrotz hatte auch er dort seine Heimat gefunden. Einige Jahre vor seiner be- vorstehenden Pensionierung kauften sie ein Grundstück auf der Stolzalpe, auf dem sie 353 ein Haus bauten. Nach der Pensionierung übersiedelte das Paar in ebenjenes Haus, wo sie bis zum Tod meines Großvaters im Jahr 2005 glücklich zusammen lebten. Meine Oma lebt bis zum heutigen Tag in diesem Haus.

4.8 Verharmlosung und Opfermythos

Im Rahmen dieser Arbeit habe ich erstmals bewusst erfahren, dass einige Punkte un- serer Familiengeschichte ausgeblendet, verharmlost oder gar geleugnet werden. Ich schließe z.B. aus der langjährigen Betätigung für die NSDAP, dass Friedrich Höfinger sen. und mein Urgroßvater Othmar Pernthaler bereits lange vor 1938 antisemitisch eingestellt waren. Ihre Kinder hingegen schließen dies kategorisch aus. Hilde Maier antwortete mir auf die Frage, ob ihr Vater einmal etwas gegen Juden geäußert hätte: „Nein, dazu war er ein viel zu guter Mensch.“856 Friedrich Höfinger jun. meinte auf die Frage hin, ob sein Vater einmal etwas zu seiner Einstellung gegenüber Juden geäußert hätte, dass sein Vater nie etwas zu diesem Thema gesagt hätte, wobei er aber sofort anfügte: „Der war sicher kein Rassist oder hätte irgendwas gegen Juden gehabt. […] Die- ser ganze Juden-Rassenhass war ja in Murau vor 1938 gar nicht existent. Aber wenn man den Menschen sagt, wir nehmen den Juden das weg und wenn du uns hilfst, dann kriegst du was davon, dann sieht man erst die Gier der Men- schen.“857

Dass die Aussage, dass es in Murau vor 1938 keinen Antisemitismus gegeben habe, falsch ist, konnte ich in dieser Arbeit bereits belegen. Dass er aber mit dem zweiten Satz genau seinen Vater beschrieben hat, war Friedrich Höfinger jun. natürlich nicht klar. Ich habe ihm nämlich nichts von meiner Entdeckung erzählt, dass sein Vater das Humburger Geschäft im Rahmen der „Arisierung“ erwerben wollte. Ich wollte seine Il- lusionen über den eigenen Vater nicht zerstören. Die Verleugnung der Existenz von Antisemitismus in Österreich vor 1938, sowie die Meinung, dass dieser erst von den „bösen Nazis“ aus Deutschland zu uns gebracht wurde, zieht sich bis heute durch breite Teile der Gesellschaft. Dies zeigt z.B. die Re- aktion meiner Mutter, nachdem sie durch die Medien vernommen hatte, dass der „Dr.- Karl-Lueger-Ring“ aufgrund Luegers antisemitischen Agitationen in „Universitätsring“ umbenannt wird. Meine Mutter ist als Religionslehrerin eine gebildete Frau, und hatte im Zuge ihres Studiums auch Lehrveranstaltungen im Fach Geschichte. Trotzdem er- zählte sie mir ganz schockiert, dass sie erst jetzt erfahren habe, dass „der Lueger ja auch ein Nazi war“. Bisher hatte sie nämlich immer nur gehört, dass er so viel Gutes

856 Interview Maier. 857 Interview Höfinger. 354 für Wien getan hat. Diese Aussage ist für mich in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Sie zeigt die weit verbreitete Meinung, dass Antisemiten mit Nazis gleichgesetzt wurden, und es vor 1938 in Österreich keinen Antisemitismus gegeben habe (nach 1945 natürlich sowieso nicht). Zweitens finde ich es bedenklich, wenn eine Lehrerin, die ich wirklich als keinesfalls antisemitisch oder rassistisch bezeichnen kann, den Mann, der neben Schönerer als Begründer des politischen Massenantisemitismus österreichischer Prägung gilt, bisher nur als Wohltäter wahrgenommen hat. Diese Wahrnehmung erfolgte hier keinesfalls aus Ignoranz sondern lediglich aus reiner Unwissenheit. Es ist österreichische Lebenslüge, dass vor 1938 in Österreich alles in Ordnung war und „die bösen Deutschen“ und „der böse Hitler“ Österreich durch militärische Über- nahme in die Verbrechen hineingezogen hätten. Meine Oma meinte im Interview, „Der Hitler hätte nicht einmarschieren sollen.“ Auf meine verständnislose Nachfrage, wo er nicht einmarschieren hätte sollen, in Polen, in Russland; antwortet sie: „Der Hitler? Na Österreich hat er okkupiert.“858 Gerhard Botz bringt diese Einstellung in der Dokumen- tation „Hitlers Österreich“ auf den Punkt: „Es war der Führer und es waren die Deutschen. Sonst nix. Es waren nicht wir. Die anderen waren‘s, der war‘s und die waren‘s. […] Das sind nicht wir, sondern wir haben auf Befehl gehandelt, wir sind verführt worden oder wir sind verge- waltigt worden.“859

Wenn ich in den Interviews die Ermordung der Juden ansprach, kam sofort die übliche Antwort „Davon haben wir nichts gewusst“. Die ewig wiederkehrende Beteuerung, dass man von den Konzentrationslagern erst nach dem Krieg erfahren habe, weil das ja alles so heimlich abgelaufen sei. Ich möchte hier nicht in Frage stellen, wie viel man wirklich gewusst hat. Dies haben einige Wissenschaftler bereits ausführlich erforscht, die jüngsten Arbeiten zu dieser Frage sind u.a. von Peter Longerich860 und Bernward Dörner861. Mir geht es hier um einen ganz anderen Aspekt dieser Aussage. Selbst wenn man nichts vom Massenmord gewusst hat, geschah die völlige Entrechtung, Be- raubung, Misshandlung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung vor aller Augen. Obwohl auch dies immer wieder geleugnet wird, muss im Endeffekt doch jeder zuge- ben, davon etwas mitbekommen zu haben. Das Schlimme ist jedoch, dass das alles bis heute noch als harmlos angesehen wird, im Angesicht des noch viel stärkeren Grauens, das noch folgen sollte. Durch die Schrecken des Völkermordes wurde der Maßstab für das Unrecht nivelliert. Die Zeitzeugen fühlen sich nicht bemüßigt, sich zu rechtfertigen, wie sie all das davor zulassen konnten und werden letztlich auch selten

858 Interview Maier. 859 ZDF Dokumentation „Hitlers Österreich“, Teil 2: Der Krieg. 860 Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945, München 2006. 861 Bernward Dörner, Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte, Berlin 2007. 355 danach gefragt. Lediglich die Frage nach dem Völkermord ist leicht dahingehend zu beantworten, dass man davon ja nichts gewusst habe. Die Einsicht, dass jegliche Benachteiligung – und sei es nur ein böses Wort - die man nur deshalb erfährt, weil man einer tatsächlichen oder konstruierten Gruppe zugeordnet wird, so wie es damals mit den Juden geschah, Unrecht ist, kommt hierbei unter die Räder. Ich habe meine Oma im Interview auf diesem Punkt festgenagelt. Ich sagte ihr, dass sie ja zumindest mitbekommen haben muss, dass den Juden alles weggenommen wurde, dass sie öffentlich beschimpft und misshandelt, im Gefängnis eingesperrt, dass sie vertrieben wurden oder ins Ausland flüchten mussten. Sie versuchte es mit Aus- flüchten, dass sie das damals wohl gar nicht wirklich verstanden hätten. Erst auf noch- malige Nachfrage meinerseits kam endlich der Durchbruch in unserem Gespräch: „Vielleicht ist auch so viel gehetzt worden damals, dass einem gar kein richtiges Mitleid, verstehst, so ähnlich“.862

Schließlich gab sie also zu, sehr wohl einiges mitbekommen zu haben, aber durch die NS-Propaganda so beeinflusst gewesen zu sein, dass sie kein richtiges Mitleid gehabt hätte. Auch Friedrich Höfinger jun. spricht seinem Vater jegliches Wissen über den Ge- nozid ab, obwohl er selbst sagt, dass er nie mit ihm über dieses Thema gesprochen hätte. Er stellt seinen Vater als unwissendes Opfer dar, das an eine Bewegung ge- glaubt hat und schließlich von diesem Regime betrogen wurde.

5 Resümee

Ich habe mich schon vor meinem Studium viel mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt und mich im Laufe des Studiums (sofern es der Studienplan zuließ) vor al- lem auf dieses Thema konzentriert. Mit meiner Oma Hilde Maier habe ich zwar oft pri- vate Gespräche über die Zeit des Nationalsozialismus geführt, auf die Idee einer wis- senschaftlichen Aufarbeitung der Familiengeschichte in der Zeit des Nationalsozialis- mus bin ich aber vor dieser Arbeit nicht gekommen. Einige Dinge waren mir schon be- kannt, z.B. dass mein Urgroßvater illegaler Nationalsozialist war oder dass meine Tan- te Mitzi bis heute vom Nationalsozialismus überzeugt ist. Erst im Rahmen dieser Arbeit habe ich aber erfahren, wie tief die NS-Verstrickung meiner Familie reicht. Es ist zwar beruhigend, dass zumindest keine Mörder im wörtlichen Sinn unter meinen Vorfahren sind, dass jedoch so gut wie alle männlichen Familienangehörigen Mitglieder der NSD- AP waren, hat mich stark getroffen. Dass sie alle auch noch „Alte Kämpfer“ oder „Ille- gale“ waren, noch mehr. Sehr schlimm war es für mich zu erfahren, dass mein Urgroß- vater zum „kommissarischen Verwalter“ des Geschäftes von Malvine Humburger be-

862 Interview Maier. 356 stellt wurde. Noch schlimmer war es für mich, dass Friedrich Höfinger sen. versucht hat, das Geschäft von Frau Humburger im Wege der „Arisierung“ zu erwerben. Immer- hin lebte die Familie Humburger schon seit vielen Jahren in Murau und war allseits be- kannt. Dass der Nationalsozialismus auch in Murau existiert hat war mir zwar bewusst, ich habe aber nie ernsthaft darüber nachgedacht. Ich kann mich zwar erinnern, dass mei- ne Oma mir schon früher einmal davon erzählt hat, dass das jüdische Kaufmannsehe- paar im Gefängnis war. Aber all das habe ich psychisch in den Kontext „NS-Zeit“ ein- geordnet, es stimmte auch mit meinen bisherigen Informationen über die NS-Zeit überein. Ich habe es aber nicht wirklich in Zusammenhang mit der Stadt Murau, und schon gar nicht mit meiner Familie, gebracht. Meine Oma spricht hauptsächlich vom „Krieg“, wenn sie vom Nationalsozialismus spricht. Auch im Interview sagte sie zwei Mal „38 bis 45 haben wir Krieg gehabt.“863 Das ist kein Einzelfall, in den meisten Fami- lien ist das Reden über den Nationalsozialismus automatisch Reden über den Krieg.864 Auch ich sah meine Vorfahren in der NS-Zeit hauptsächlich als Opfer oder Akteure des Krieges. Ich konnte mir vorstellen, wie sie als Soldaten an der Front kämpfen, oder wie sich meine Oma als junge Frau im Taubenschlag vor den Sowjetsoldaten versteckt, und wie die Briten Murau besetzen. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, dass schon lange in Murau wohnhafte Bürger verfolgt, enteignet und vertrieben werden, weil sie als „Juden“ klassifiziert wurden. Ich habe nie bedacht, dass Mitglieder meiner Familie unter diesen „Nazis“ waren, die den Menschen das antaten. Mir persönlich ist es ob all dieser Entdeckungen und Erkenntnisse zeitweise wirklich schwer gefallen, diese Arbeit zu schreiben. Es fällt um einiges leichter, über fremde Menschen zu schreiben, als über die eigene Familie. Auch, dass all dies in meiner Hei- matstadt Murau passierte, war für mich schwer zu verkraften. Ich spürte oftmals eine tiefe Verbundenheit zur Familie Humburger, teils hatte ich Tränen in den Augen, je mehr ich über ihr Schicksal herausgefunden habe. Dies ist zwar soweit nichts Beson- deres, mir kommen oftmals auch die Tränen wenn ich von Massenerschießungen, Kon- zentrationslagern, etc. lese, noch näher gehen mir die dazugehörigen Bilder in Doku- mentationen. Bei den Murauer Juden kommt aber ein starkes Schuldgefühl hinzu, weil einige Mitglieder meiner Familie direkt daran beteiligt waren und auch, weil jene, die nicht beteiligt waren, nicht geholfen haben. Auch dass sich die Murauer gegenüber der Holocaust-Überlebenden Elsa Blau so übel benommen haben, hat mich mitgenommen. Ich habe die Murauer immer als besonders freundlich und gastfreundlich erlebt. So war es für mich schwer einzusehen, dass sie ausgerechnet eine Frau, der so viele

863 Interview Maier. 864 Reiter, Last, 2. 357 grausame Dinge angetan wurden, so ausgegrenzt haben. Dass meine Oma diese Ausgrenzung mitgetragen hat, kann ich nicht mit meinem Bild von ihr in Einklang bringen. Ich kenne sie nur als gutherzigen und extrem mitleidsvollen Menschen, wir können z.B. bei keinem Bettler vorbeigehen, ohne dass sie ihm Geld gibt. Alles in allem bin ich aber froh, diese Arbeit geschrieben zu haben, und jetzt besser über die Geschichte meiner Familie sowie über die Geschichte Muraus informiert zu sein.

6 Anhang: Karl Brunner – Muraus „Retter vor den Russen“

Der Name Karl Brunner ist in Murau wohl jedem bekannt und untrennbar mit der Ge- schichte des Nationalsozialismus verbunden. Es gibt kaum einen Zeitzeugenbericht, der ohne den Namen Karl Brunner auskommt, als Beispiel sei hier der Bericht von Dietrich Derbolav, der die Kriegszeit als Kind auf der Stolzalpe verbracht hat, genannt, in der wie selbstverständlich Karl Brunner erwähnt wird.865 Nach dem Krieg wurde Brunner Nationalrat der ÖVP und Erster Landtagspräsident der Steiermark.866 In Murau spricht man über ihn stets nur als „Nationalrat Brunner“. Brunner wurde in Murau die Ehrenbürgerschaft verliehen, es wurde ihm in der Stadt ein Denkmal errichtet, eine Siedlung nach ihm benannt, die Landesberufsschule sowie das Europahaus in Neu- markt tragen seinen Namen.867 Auch in den beiden Zeitzeugeninterviews mit meiner Oma Hilde Maier und mit Friedrich Höfinger jun. wird Karl Brunner erwähnt. Die Inter- views zeigen, dass sich um diesen Mann viele Mythen ranken, weshalb ich mich um Aufklärung der tatsächlichen Rolle Brunners bemüht habe. Eine ausführliche Recher- che rund um Karl Brunner würde, aufgrund der Fülle der Ereignisse, den Rahmen die- ser Arbeit sprengen. Mein Hauptaugenmerk gilt der Frage, wie weit die in Murau tra- dierte Geschichte wahr ist, dass Karl Brunner durch eine List die russische Besetzung Muraus verhindert hat. Karl Brunner wurde am 31. 12. 1889 in Vitis, im Bezirk Waidhofen an der Thaya, als Sohn eines Baumeisters geboren. Er erlernte den Kaufmannsberuf und ließ sich 1918, nachdem er im Ersten Weltkrieg an der Ostfront gekämpft hatte, in Murau als selbst- ständiger Kaufmann nieder. Er begann, sich politisch zu betätigen und war von 1924 bis 1938 christlich-sozialer Gemeinderat, einige Jahre davon war er auch Vizebürger- meister. Im Zuge der immer stärker werdenden Paramilitarisierung gründete Brunner 1919 als erster im Bezirk Murau die Heimwehr und wurde deren Gauführer. Mit Beginn

865 Gert Dressel, Günther Müller, 1945 erinnern. Ein lebensgeschichtliches Leseheft. „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“, Institut f. Wirtschafts- u. Sozialgeschichte, Universität Wien 2005, 37-38. 866 URL: http://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_00110/ 867 URL: http://murau.riskommunal.net/system/web/zusatzseite.aspx?detailonr=220272637 358 des Jahres 1921 standen ihm rund 500 Männer im Bezirk Murau zur Verfügung. 868 Ab 1930 spaltete sich der Heimatschutz in einen großdeutschen Flügel, den nunmehr nationalsozialistischen steirischen Heimatschutz, unter der Führung von Konstantin Kammerhofer, und einen regierungstreuen Flügel, die sogenannten Legalisten, den Österreichischen Heimatschutz unter Ernst Rüdiger Starhemberg.869 Die Murauer Gruppe unter Brunner blieb stets regierungstreu.870 Murau wies von allen steirischen Bezirken die größte Anzahl an regierungstreuen Heimatschützern auf.871 Dies dürfte vor allem mit Brunners vielgelobtem Charisma und seiner Führungspersönlichkeit zu tun gehabt haben, da der Bezirk Murau den Nationalsozialisten im Allgemeinen sehr zugetan war (siehe Kapitel 2). Hilde Maier erzählte mir im Interview, dass Brunner in Lind bei Scheifling ein paar Sol- daten erschlagen hätte, und deshalb kein so schönes Grab in Murau verdienen würde. Sie schildert Brunners Tat als äußerst grausam. Er hätte den Zuschauern sogar stolz den Gewehrkolben mit dem Hirn der Erschlagenen gezeigt.872 In einem früheren Ge- spräch zu diesem Thema hat sie mir gesagt, dass ihr der ehemalige Murauer Kreislei- ter Franz Amberger diese Geschichte erzählt hat und dass es sich bei den erschlage- nen Männern um Nazis gehandelt hätte. Bereits damals konnte sie sich aber nicht mehr an die Zusammenhänge erinnern, warum Brunner Nazis erschlagen sollte. Im Interview erzählte sie mir, dass Brunners Tat zu Kriegsende geschehen sei und rätsel- te, ob es sich bei den erschlagenen Männern um Engländer oder Deutsche gehandelt habe. Als abschließende Erklärung bringt sie vor „Es ist ja zugegangen damals!“. Somit komme ich nun zur Rekonstruktion der Ereignisse rund um den Juliputsch der Nationalsozialisten. Im Juli 1934 wurden die Heimwehren des Bezirkes Murau zum Ein- satz beordert, um bei der Niederschlagung des Aufstandes der Nationalsozialisten mit- zuwirken.873 Brunner selbst schilderte die Ereignisse bei einer Einvernahme 1945. Nachdem zwei Heimatschützer in Niederwölz angeschossen worden waren, wurde er telefonisch verständigt und befahl einen MG-Zug und einen Sturmzug zum Abmarsch nach Niederwölz, wo er mit den beiden Zügen um 22 Uhr eintraf. Unter Brunners Kom- mando stürmten sie den Gasthof Raß, der von den Nationalsozialisten besetzt worden war. Im Zuge dessen kam es zu Kampfhandlungen. Der SA-Mann Marchl verletzte Brunner mit einem Bajonett. Daraufhin wurde Marchl vom Murauer Heimatschützer Georg Pezl erschossen. Bei Kämpfen in den folgenden beiden Tagen wurden weitere 10 Aufständische erschossen. Über 100 Nationalsozialisten wurden verhaftet. Soweit

868 Wieland, Murau, 305f. 869 Bauer, Steiermark, 231. 870 Wieland, Murau, 77. 871 Bauer, Steiermark, 31. 872 Interview Maier. 873 Schreiben des Gendarmeriepostenkommandos St. Lamprecht vom 30. Juli 1934, zitiert bei Wieland, Murau, 82. 359

Brunners Darstellung der Ereignisse.874 Die Gendarmeriechronik des Postens Murau spricht von über 100 festgenommenen Nationalsozialisten, die in der Turnhalle interniert und am 29. 7. nach Graz transportiert wurden.875 Dies deckt sich mit Brunners Aussagen. Nach dem „Anschluss“ Österreichs am 12. 3. setzten auch im Bezirk Murau umgehend Verhaftungen politischer Gegner ein, einige Personen begingen Selbstmord. Karl Brun- ner wurde am 13. 3. in Judenburg von der SA verhaftet und in das dortige Gericht eingeliefert.876 Am 20. 9. wurde ihm in Leoben der Prozess gemacht. Die Anklage lau- tete auf Anstiftung zum Mord und schwere Körperverletzung. In der Anklageschrift ist auch festgehalten, dass Brunner und seine Männer gefangene Nationalsozialisten mit Gewehrkolben schwer misshandelt hätten. Dies deckt sich mit der Geschichte, die Am- berger meiner Oma erzählt hat, wobei die Ereignisse in ihrer Erzählung noch weiter ausgeschmückt wurden. Brunner und ein weiterer Heimwehrmann wurden wegen der Erschießung des Nationalsozialisten Marchl, welcher laut Anklageschrift bereits wehrlos am Boden lag, als Brunner den Befehl gab ihn zu erschießen, und wegen schwerer Körperverletzung am SA-Scharführer Feuchter, welcher laut Anklageschrift ebenfalls bereits entwaffnet am Boden lag, als Brunner mit dem Gewehrkolben auf ihn ein- schlug, zu lebenslangem schweren Kerker verurteilt.877 Brunner erzählte bei seiner Einvernahme 1945, dass die Anklage eigentlich auf To- desstrafe gelautet hatte und nur auf lebenslangen Kerker gemindert wurde, weil für die Todesstrafe keine Stimmeneinheit zustande kam. Seine schwere Bestrafung soll zustande gekommen sein, weil die NSDAP-Kreisleitung Murau, unter Angabe schwers- ter Unwahrheiten in mehreren Schreiben an die Staatsanwaltschaft Leoben, die To- desstrafe für Brunner gefordert hatte.878 In Anbetracht dessen erstaunt der Einsatz Brunners für den inhaftierten ehemaligen Kreisleiter Amberger noch viel mehr (siehe Kapitel 2). Am 22. 2. 1940 wurde das Urteil vom Reichsgericht Leipzig auf 15 Jahre schweren Kerker gemindert. Am 13. 3. 1940 wurde Brunner in das Zuchthaus Karlau in Graz zur Verbüßung seiner Strafe überstellt.879 Für die folgenden Vorkommnisse in Brunners Leben konnte ich keinerlei Quellen finden und kann daher hier nur jene Gerüchte wiedergeben, die Wolfgang Wieland in seinem Buch über Murau aufgegriffen hat: „Am 6. April wurden bei einem Bombenangriff auf die Strafanstalt Karlau 15

874 Niederschrift vom 6. 6. 1945 beim Gendarmerieposten Murau über Karl Brunner, Public Record Office Kew, London W 170/7127. Zitiert bei Kurt Bauer, Juliputsch 1934 in der Steiermark. Auszüge aus Prozessberichten, 11. 875 Gendarmerie-Chronik des Postens Murau, zitiert bei Wieland, Murau, 582. 876 Wieland, Murau, 101f. 877 Kleine Zeitung, Graz, 20. September 1939, 9. Zitiert bei Bauer, Juliputsch, 10f. 878 Niederschrift vom 6. Juni 1945 beim Gendarmerieposten Murau über Karl Brunner, Public Record Office Kew, London, WO 170/7127. Zitiert bei Wieland, Murau, 102. 879 Wieland, Murau, 102. 360

Wachebeamte und 150 kriminelle [sic!] Häftlinge getötet oder schwer verletzt.“880

Ich zweifle an der Richtigkeit der Datierung. Walter Brunner hat eine Liste der Bom- bentoten von Graz in den Jahren 1941-1945 erstellt. Diese Liste beruht auf den Auf- zeichnungen von Rudolf Weißmann, welcher von Mai 1942 bis Mai 1945 stellvertreten- der Kommandant der Schutzpolizei Graz war. In dieser Funktion hat er Aufzeichnungen über die Bombenangriffe auf Graz geführt, welche sich im Steirischen Landesarchiv befinden. Sämtliche Tote, aufgrund eines Bombenangriffes auf die Strafanstalt Karlau, sind hier auf den 19. 2. 1945 datiert; am 6. 4. 1945 werden keine Toten in der Karlau verzeichnet.881 Auch in der Chronologie der Luftangriffe auf Österreich des virtuellen Militärluftfahrt-Journals ist für den 6. 4. 1945 kein Angriff auf Graz verzeichnet.882 Da- her kann man davon ausgehen, dass Wieland das Ereignis falsch datiert hat. Auch Friedrich Höfinger jun. erzählt im Interview davon, dass Brunner nach dem Bomben- angriff mitgeholfen hat, Gefängniswärter aus dem Schutt auszugraben und somit zu retten, weswegen er begnadigt und „nach Murau zurückgeschickt“ wurde.883 Ich konn- te keine verlässlichen Quellen finden, die dies bestätigen bzw. widerlegen. Relativ bald nach seiner Rückkehr nach Murau wurde Brunner eine der zentralen Figu- ren der lokalen Initiative der Widerstandsgruppe „Österreichische Freiheitsbewegung“. Laut dem Gendarmen Johann Glettler, welcher ebenfalls der Widerstandsbewegung angehörte, soll Brunner bereits am 1. 5. 1945, als einziger in Murau, die rot-weiß-rote Fahne gehisst haben. Ein SS-Offizier, der auf dem Rückzug durch Murau kam, soll die Fahne mit einem Säbel zerrissen und versucht haben, in Brunners Haus einzudringen, wovon Glettler ihn aber abhalten konnte.884 Einer der Mitinitiatoren der Freiheitsbewegung war Alfred Weitzendorf, welcher später als Generaldirektor der Steirerbrau AG bekannt werden sollte.885 Weitzendorf erzählte Prof. Stefan Karner von seinen Erinnerungen. Ab Ende April 1945 war Weitzendorf im Lazarett auf der Stolzalpe untergebracht. Der damalige ärztliche Leiter Dr. Schosserer soll äußerst regimekritisch gewesen sein und im Lazarett ein Refugium für regimedi- stanzierte Personen geschaffen haben. So kam Weitzendorf mit der Gruppe der Mu- rauer Freiheitsbewegung in Kontakt, der auch Brunner angehörte.886 Gemeinsam mit

880 Ebd. 136. Interessant ist, dass Wieland ausgerechnet in diesem Zusammenhang von 150 „kriminellen“ Häftlingen schreibt. Brunner war schließlich einer der Häftlinge in der Karlau und es war bekannt, dass dieser nur wegen seiner politischen Gegnerschaft zur NSDAP inhaftiert wurde. 881 Walter Brunner, Die Bombentoten von Graz 1941-1945, aus der Dokumentation Weissmann. 882 URL: http://www.airpower.at/news03/0813_luftkrieg_ostmark/timeline.htm 883 Interview Höfinger. 884 Wieland, Murau, 142. 885 Mein Dank gilt Prof. Stefan Karner für den entscheidenden Tipp, der mich mit dem Namen Alfred Weitzendorf auf die richtige Spur der Ereignisse rund um die Besetzung Muraus gebracht hat. 886 Prof. Stefan Karner im Gespräch mit DDr. Alfred Weitzendorf. Gesprächsprotokoll vom 24. 4. 1985. Zitiert bei Klaus Heitzmann, „Die Wiesen wurden buchstäblich kahlgefressen“ Aspekte der Kriegs- und frühen Nachkriegsgeschichte im Lungau um 1945, Salzburg in Geschichte und Politik, Mitteilungen der Dr.-Hans-Lechner-Forschungsgesellschaft, 9. Jahr 1999, Nr. 2/3, 7f. 361 dem ehemaligen Oberleutnant Strenitz, der sich gegen Kriegsende ebenfalls im Lazarett auf der Stolzalpe aufhielt, schloss sich Weitzendorf dieser an. Nachdem sie am 8. 5. über Rundfunk vernommen hatten, dass der Krieg zu Ende ist, besetzten sie die Kreisleitung. Gerhard Stepantschitz kam auf dem Weg in seine Heimatstadt Graz durch Murau. Später erzählte er, dass er die rot-weiß-rote Fahne an der Kreisleitung hängen sah und deswegen sofort hinein ging.887 Stepantschitz gelang es, telefonisch Kontakt zu einem Freund bei der Polizeileitung im russisch besetzten Graz aufzunehmen. Nach dessen Angaben „merkten wir schon, dass es in Graz nicht sehr gemütlich sein konnte.“888 So fasste die Widerstandsbewegung den Plan, die russische Besatzung Muraus zu ver- hindern. Zuerst dachten sie, die Amerikaner würden die Besatzung Muraus planen. Es stellte sich jedoch heraus, dass dies nicht der Fall war. Sie konnten in Erfahrung brin- gen, dass die Engländer bereits in Villach waren, diese jedoch nicht nach Murau kom- men konnten, weil sämtliche Straßen und befahrbaren Wege verstopft waren.889 In den letzten Kriegstagen waren die Straßen in und um Murau voll mit der Wehrmacht, der SS und der Bevölkerung. Die einen auf dem Weg zur „Alpenfestung“ in den Salzburger Alpen, die anderen wollten sich in amerikanische Kriegsgefangenschaft begeben, man- che versuchten, über Salzburg das „Altreich“ zu erreichen, wieder andere wollten ein- fach nur so weit wie möglich weg von der Roten Armee.890 Die Sowjets hatten bereits Judenburg besetzt, es bestand daher täglich die Gefahr, dass die Rote Armee von dort aus in Murau einmarschieren würde. Die Freiheitsbewe- gung fasste daher den Plan, eine britische Besatzung Muraus vorzutäuschen. In Murau befanden sich einige britische Kriegsgefangene, die zumeist als Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft beschäftigt waren. Diese wurden von den Höfen geholt und von der Be- völkerung mit Waffen ausgestattet. Außerdem wurden britische Fahnen genäht, wel- che aus einem Lexikon kopiert wurden. Ab hier variieren die Angaben der Zeitzeugen ein wenig, was wohl auch daran liegen mag, dass die Zeitzeugenberichte erst viele Jahre später festgehalten wurden, und bis dahin nur Gerüchte kursierten. „Glettler meint, dass Brunner und er selbst die Kriegsgefangenen ausgerüstet hätten, die dann eine britische Besatzung in Murau vortäuschten, indem sie die Bundesstraße beim Mauthofbauern, eineinhalb Kilometer östlich von Murau, ab- sperrten. Stepantschitz hingegen erinnert sich, dass er selbst mit den Gefange- nen gesprochen und an dem Coup mitgewirkt habe. Die englischen ‚Besatzer‘ seien dann in Richtung Judenburg in Marsch gesetzt worden, bis sie auf russi- sche Verbände stießen. Dies entspricht auch der Erinnerung Weitzendorfs, der ergänzend hinzufügt, dass die bewaffneten Kriegsgefangenen mit der Murtal- bahn nach Judenburg transportiert wurden. Im übrigen sei diese Vorgangsweise

887 Heitzmann, Wiesen, 7f. 888 Gerhard Stepantschitz, zitiert bei Heitzmann, Wiesen, 8. 889 Ebd., 7-9. 890 Wieland, Murau, 139-144. 362

mit den Briten in Kärnten abgesprochen worden.“891

Hugo Portisch berichtete in seiner Dokumentation Österreich II über die Ereignisse, über die Glettler als Zeitzeuge spricht. In der TV-Dokumentation werden sogar von ei- nem Hobbyfilmer aufgenommene Szenen der damaligen Vorgänge gezeigt.892 Dass trotz widersprüchlicher Erinnerung der Zeitzeugen zumindest der Kern der Ge- schichte wahr ist, beweist aber eine knapp drei Monate später vermerkte Meldung des Amerikanischen „Office of Strategic Services‘‘ (OSS): "Upper Mur Valley adjoining Lungau: This area was first occupied by Austrian and British ex-PW's [PW = Prisoner of War] who were armed by the Austrian Freedom Movement. Local Nazis were arrested even before the arrival of Allied troops. The Freedom Movement in Murau (about 120 km southeast of Salzburg) consists of leftists and members of the clergy who collaborate with them. [...]"893

Auf jeden Fall gelang der Plan, die Russen blieben in Judenburg und die Briten besetz- ten Murau. Möglich war dieser, mir zunächst sehr unglaubwürdig erscheinende Verlauf der Ereignisse, wohl deshalb, weil der Verlauf der Besatzung Österreichs nicht immer wie geplant vor sich ging, sondern variabel je nach Kampferfolgen. Oft wurde lange um kleine Geländegewinne gekämpft. Die Sowjets rückten nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am 8. bzw. 9. 5. jeweils so weit vor, bis sie auf die Briten oder die Amerikaner trafen. Murau war die letzte Bezirkshauptstadt Österreichs, die von al- liierten Truppen besetzt wurde.894 Dass sich Brunner aufgrund seiner Verurteilung durch die Nationalsozialisten der Be- satzungsmacht als regimefeindlich positionieren konnte, war sicher hilfreich. Am 9. 5. 1945 tagte in Murau erstmals der provisorische Gemeinderat, in den auch Brunner einberufen wurde.895 Brunner konnte seinen Beitrag zur Vermeidung der russischen Besatzung Muraus politisch hervorragend für sich nutzen. Weiter steigern konnte er seine Beliebtheit bei der Bevölkerung durch seinen Einsatz für die ehemaligen Natio- nalsozialisten, wie wir es am Beispiel des ehemaligen Kreisleiters Franz Amberger ge- sehen haben. Auch Friedrich Höfinger jun. erzählt im Interview, dass sein Vater wäh- rend seiner Internierung in Wolfsberg mit Brunner in Kontakt stand. Bei einer Wahl- versammlung gab Brunner einen Satz von sich, für den er bis heute in Murau berühmt ist: „Ich bin sieben Jahre in der Karlau gesessen und habe in dieser Zeit beten und

891 Heitzmann, Wiesen, 8. 892 Hugo Portisch, Sepp Riff: Österreich II. Die Wiedergeburt unseres Staates, Wien 1985, 275-277 sowie die gleichnamige Fernsehdokumentation Österreich II, Folge 6, Das Erbe des Krieges. 893 NA, Record Group 226, E108, B187, Intelligent Dissemination, LS-266, 28 June 1945. Zitiert bei Heitzmann, Wiesen, 7. 894 Karner, Steiermark, 94-96. 895 Einladung vom 9. 5. 1945 des Bürgermeisters der Stadt Murau und Verhandlungsschrift der ordentlichen Sitzung des provisorischen Gemeinderates der Stadt Murau um 20:30 Uhr, Stadtarchiv Murau. Zitiert bei: Wieland, Murau, 138f. 363

verzeihen gelernt.“896

Dies war seine Begründung für seinen Einsatz für die ehemaligen Nationalsozialisten aus dem Bezirk. Ich denke aber, dass da wohl auch einiges an politischem Kalkül mit- gespielt hat. Brunner agierte im Rahmen des allgemeinen Zeitgeistes. „Verzeihen“ war plötzlich das große Wort, man hatte das große Wählerpotential der ehemaligen Natio- nalsozialisten und den Wunsch der Bevölkerung, von aller Schuld reingewaschen zu werden, erkannt. Immer größer wurde der Ruf nach einem „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit. Meiner Ansicht nach trugen “versöhnliche“ Gesten wie die von Brunner noch stärker dazu bei, Überlebende des Holocaust zu diskreditieren. Es entstand der Eindruck, dass NS-Opfer wie Brunner vergeben können – warum vergeben die Juden nicht? Für die wahren Opfer hat Brunner jedenfalls weniger getan als für die Täter. Dies entspricht wohl ganz dem politischen Kalkül, da die Opfer ein weitaus geringeres Wählerpotential darstellten. Brunner scheint die Judenverfolgung nie thematisiert zu haben. Sein Streben nach Versöhnung hat wohl nur den Tätern gegolten und nicht den Opfern.

896 Wieland, Murau, 146. 364

7 Quellenverzeichnis

• Steiermärkisches Landesarchiv (StLA): Murau Stadt, Gemeinde-Sitzungsprotokolle 1923-1936. Finanzlandesdirektion Graz, Arisierung. Finanzlandesdirektion Graz, Rückstellung. Landesgericht für Strafsachen Graz. Bezirkshauptmannschaften, BH Murau. Murau Stadt 4624. • Österreichisches Staatsarchiv (ÖstA): Archiv der Republik (AdR), Zivilakten der NS-Zeit/Gaupersonalamt des Reichsgaues Wien („Gauakten“) 1938-1945. • Gemeindearchiv Murau: Meldezettel von Franz Amberger. Meldezettel von Elsa Blau. • Österreichische Nationalbibliothek, Wien. • Tiroler Nachrichten vom 3. 10. 1947 und vom 15. 12. 1947. • NSDAP-Mitgliederkartei/Berlin Documents am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, A 3340. • Brunner, Walter: Die Bombentoten von Graz 1941-1945. Aus der Dokumentation Weissmann. Zu finden unter: http://www.landesarchiv.steiermark.at/cms/dokumente/11683562_77969250/d c300a5c/103%20bis%20240%20aus%20Mitteilungen%2039-Die %20Bombentoten%20von%20Graz%201941%20-%201945.pdf • Höfinger, Friedrich: Familienchronik. Murau 2008. • Taus, Heimo: Aus dem Leben von Hilde Maier. Erinnerungen anlässlich ihres 80. Geburtstags. 1. Teil: Kindheit und Jugend. Stainach 2007.

Interviews mit Zeitzeugen: (Bänder bei der Autorin) • Interview mit Friedrich Höfinger jun. am 7.1.2013 in Murau • Interview mit Hildegard Maier am 3.4.2013 auf der Stolzalpe • Interview mit Maria Weys am 20.9.2013 in Graz 365

Internetquellen (alle zuletzt besucht am 20. 11. 2013): • Murau auf der Landkarte: http://www.plz-suche.org/at/steiermark/bezirk.murau/12c76.html • Bevölkerungsentwicklung der Gemeinde Murau, Statistik Austria: http://www.statistik.at/blickgem/blick1/g61411.pdf • Datenbank der ermordeten Holocaust Opfer: http://www.lettertothestars.at • Verweigerte Rehabilitation: Der Fall Adolph Schwarzenberg: http://restitution.cz/de/historie/exil-a-zabaveni-majetku-nacisty • Kriegsverbrechergesetz (KVG), gesamte Rechtsvorschrift im Wortlaut von 1947: http://www.nachkriegsjustiz.at • Verbotsgesetz (VG), Gesamte Rechtsvorschrift für Verbotsgesetz 1947, Fassung vom 27.11.2013: http://www.ris.bka.gv.at • Biografie von Karl Brunner auf der Webseite des österreichischen Parlaments: http://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_00110/ • Informationen über Karl Brunner auf der Webseite der Stadtgemeinde Murau: http://murau.riskommunal.net/system/web/zusatzseite.aspx? detailonr=220272637 • Chronologie der Luftangriffe auf Österreich des virtuellen Militärluftfahrt- Journals: http://www.airpower.at/news03/0813_luftkrieg_ostmark/timeline.htm • Chronik des Schlosses Feistritz: http://www.diefeistritzerinnen.at/images/chronik%20schloss%20feistritz.pdf • Deutsches Bundesarchiv: PG – zum Mitgliedschaftswesen der NSDAP: http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00757/ind ex-17.html.de • NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln: Jugend in Deutschland 1918-1945: Reichsarbeitsdienst: http://www.jugend1918-1945.de/thema.aspx?s=1610

Filme: • Portisch, Hugo/Riff, Sepp: Österreich II, Folge 6, Das Erbe des Krieges. Neuauflage 2013, Erstausstrahlung 23.11.2013 auf ORF 3. • ZDF History, „Davon haben wir nichts gewusst“ Die Deutschen und der Holocaust. Deutsche Erstausstrahlung 16.1.2011 auf ZDF. • ZDF Dokumentation „Hitlers Österreich“. Teil 2: Der Krieg. Erstausstrahlung 18.3.2008 auf ZDF. 366

8 Abbildungen

• Abbildung 1: Paula Grössing mit ihren Kindern und Enkelin Hilde. Hinten (vlnr.): Johann, Franz Xaver, Josef. Vorne (vlnr.): Maria (Mitzi), Wilhelmine, Paula, Hilde, Othmar, Ella, Friedrich. Die Aufnahme entstand zwischen 1929 und 1931. Quelle: Höfinger, Familienchronik.

• Abbildung 2: Das Ehepaar Friedrich (mit NSDAP-Parteiabzeichen) und Wilhelmine Höfinger, 1944.

Quelle: Höfinger, Familienchronik.

• Abbildung 3: Hildegard Ponholzer mit ihren Eltern, Mai 1928.

Quelle: Foto im Privatbesitz der Autorin.

• Abbildung 4: (vlnr.) Hildegard Ponholzer (meine Oma), Maria Grössing (Tante Mitzi), Josef Grössing, Maria Mohr, vorne die vier Kinder von Friedrich und Wilhelmine Höfinger (St. Peter am Kammersberg, 1945).

Quelle: Foto im Privatbesitz der Autorin. 367

Veronika Siegmund

Der lange Schatten der Napola

Nachwirkungen der „nationalpolitischen Erziehung“ auf das Leben meines Großvaters 368

Inhalt

1 Einleitung 369 2 Bezugnahme auf den aktuellen Forschungsstand 370 3 Kritische Reflexion der eigenen Position 372 innerhalb des Forschungsprozesses 4 Quellenmaterial und methodische Überlegungen 375 4.1 Überblick über das verwendete Quellenmaterial 375 4.2 Erläuterungen zur angewandten Interviewmethode 376 4.3 Möglichkeiten und Grenzen des lebensgeschichtlichen Interviews 377 4.4 Reflexion der konkreten Interviewsituation 378 5 Von der Napola zur „Göringdivision“ – ein biographischer Abriss 379 5.1 Familiärer und sozialer Kontext 379 5.2 Die ersten Jahre in der Nationalpolitischen 380 Erziehungsanstalt Wien Theresianum 5.3 Rekrutierung zum Flugabwehrkommando in Linz 385 5.4 „Freiwillige Meldung“ zum Fallschirm-Panzerkorps 387 Hermann Göring 6 Kadettenanstalt, Charakterschmiede, Lebensretter? 389 Die Napola in der Erinnerung meines Großvaters 6.1 Idealisierende Darstellung der Napola 389 6.2 Faktoren, die zur Entwicklung eines 392 positiven Napola-Bildes beitrugen 7 Mentale Prägung durch die Napola 394 7.1 Schule als Ort der Sozialisation und Prägung 395 – die Sonderstellung der Napola 7.2 Selbstbild 395 7.3 Fremdbild 398 8 Schlussbetrachtung und Ausblick 402 9 Quellen 404 10 Abbildungen 404 369

1 Einleitung

„Des, .. des woar ned so, wie sie die Trottln des vorgstöt ham, dass mir mit am Messer im Mund umadumgrennt san, wo is a Jud, den ma dastechen kenna.“897

Solche und ähnliche Bemerkungen meines Großvaters über den Zeitraum zwischen September 1938 und Jänner 1945, in dem er Internatsschüler der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Wien Theresianum war, haben mich dazu bewogen, mich näher mit dieser Phase seines Lebens auseinanderzusetzen. Der Entschluss dazu fiel mir alles andere als leicht, ein Umstand, den ich in erster Linie darauf zurückführe, dass mein Großvater noch heute Ansichten über die NS-Zeit vertritt, die mir zutiefst widerstreben und in der Vergangenheit immer wieder zu Spannungen und Konflikten im engeren Fa- milienkreis geführt haben. Im Laufe der letzten Jahre sind diese innerfamiliären um den Nationalsozialismus krei- senden Diskussionen und Streitgespräche deutlich weniger geworden, einerseits wohl als Begleiterscheinung des zunehmenden Alters meines Großvaters, andererseits auch aufgrund einer merklich abnehmenden Diskussionsbereitschaft der restlichen Familie. Im Vorfeld dieser Arbeit habe ich mir aufgrund dessen wiederholt die Frage gestellt, ob und inwiefern es sinnvoll ist, diesen über die Jahre mühselig hergestellten „Burg- frieden“ aufs Spiel zu setzen, zumal mir bewusst war, dass ich durch meine Nachfor- schungen zu diesem Thema einiges an Staub aufwirbeln und somit auch Potential für neue Konflikte schaffen würde. Ausschlaggebend für meine Entscheidung, dennoch diesen Schritt in die Vergangenheit zu wagen, war zum einen der Wunsch nach einer Aufarbeitung und kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte. Zum anderen ließ mich der Gedanke nicht los, das Privileg, noch einen Zeitzeugen bei der Hand zu haben, nützen zu können. „Damit es nicht verlorengeht…“898, wie der ös- terreichische Historiker Michael Mitterauer eine, auf lebensgeschichtlichen Erinnerun- gen basierende historische, Editionsreihe sehr treffend betitelte. Die Intention nachfolgender Darstellungen besteht nicht, wie Franz Leopold von Ranke dies einst für geschichtswissenschaftliche Darstellungen forderte, darin zu „zeigen, wie es wirklich gewesen ist899“. Diesem Anspruch kann man, wie in der zeitgenössischen Fachliteratur bereits hinlänglich verdeutlicht wurde, als HistorikerIn nicht gerecht wer- den. Anliegen der vorliegenden Arbeit ist vielmehr, die heutige Sichtweise meines Großvaters auf seine Napola-Zeit zu erfassen und nachzuvollziehen. Darüber hinaus soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Erziehung in der Nationalpoliti- schen Erziehungsanstalt – die offizielle Abkürzung für diesen Schultypus lautete

897 Interview mit Gerhard Siegmund, geführt am 14. 12. 2012, Bänder bei der Autorin. 898 „Damit es nicht verloren geht“…, hg. vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“, Wien 1983-2013. 899 Franz Leopold von Ranke, Leopold von Ranke´s sämmtliche Werke, Bd. 33-34, Leipzig 1885, 7. 370

„NPEA“, speziell in Österreich setzte sich umgangssprachlich jedoch bald die Bezeich- nung „Napola“ durch – sein weiteres Leben prägte. Bedeutsam in diesem Zusammen- hang scheint es, von einer eindimensionalen Opfer-Täter-Kategorisierung Abstand zu nehmen. Nicht ein Urteilen meinerseits, sondern der Versuch, zu verstehen soll im Vordergrund stehen und die Basis für die nachfolgenden Untersuchungen bilden. Zu Beginn meiner Arbeit soll einerseits auf bisherige (geschichts-)wissenschaftliche For- schungen zur Napola Bezug genommen werden. Andererseits gilt es an dieser Stelle meine eigene Position in diesem Forschungsprozess kritisch zu hinterfragen und zu re- flektieren. Anschließend werde ich auf die im Rahmen meiner Nachforschungen heran- gezogenen Quellen eingehen und die gewählte methodische Vorgehensweise näher er- läutern. Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit wird darin bestehen, die Lebensgeschichte meines Großvaters zu skizzieren, wobei eine Verknüpfung zwischen vorhandenem Quellenma- terial, Familienerzählungen und dem historischen Hintergrund hergestellt werden soll. Im Anschluss daran wird eine Auseinandersetzung mit den Erinnerungen meines Groß- vaters an die NPEA erfolgen. Im Zusammenhang damit gilt es zu untersuchen, wel- ches Bild er von der genannten Institution zeichnet und welche Faktoren zu der Ent- stehung dieses Bildes beitrugen. Darüber hinaus soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Erziehung in der Napola Auswirkungen auf das spätere Leben meines Großvaters zeigte.

2 Bezugnahme auf den aktuellen Forschungsstand

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Nationalpolitischen Erziehungsan- stalten – mittlerweile hat sich auch in der Fachliteratur die Bezeichnung „Napola“ durchgesetzt – erfolgt seitens unterschiedlicher Disziplinen. Hervorzuheben sind hier- bei die Geschichtswissenschaft, die Erziehungswissenschaft und die Psychologie. Eine verstärkte Beschäftigung mit „NS-Ausleseschulen“ seitens der historischen Forschung lässt sich seit den späten 1960ern bzw. 1970ern erkennen. Ein frühes, bahnbrechen- des Werk in diesem Zusammenhang stellt Horst Ueberhorsts Monographie „Elite für die Diktatur“900 dar. In Form eines Dokumentarberichts gibt der Autor darin einen um- fassenden Überblick über die Entstehungsgeschichte, Organisation und Ausrichtung der NPEAs, sowie über die mit der Schaffung dieser Einrichtung verfolgten Ziele und die in den Anstalten zur Anwendung kommende Erziehungspraxis. Neben einer Fülle von Dokumenten, die dem amtlichen Schriftverkehr entstammen, führt Ueberhorst

900 Horst Ueberhorst, Elite für die Diktatur. Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten 1933-1945. Ein Dokumentarbericht, Düsseldorf 1969. 371 auch eine nicht unbeträchtliche Anzahl autobiographischer Dokumente, beispielsweise Erlebnisberichte und Tagebuchaufzeichnungen an, die jedoch zumeist unkommentiert bleiben. Eine weitere bedeutende Monografie im Kontext der Erforschung Nationalpoli- tischer Erziehungsanstalten ist Harald Scholtz Werk „NS-Ausleseschulen als Herr- schaftsmittel des Führerstaates“.901 Ähnlich wie Ueberhorst setzt sich der Erziehungs- wissenschaftler und Historiker darin vor allem mit der Struktur und Organisation der genannten Erziehungseinrichtung auseinander. Scholtz richtet den Fokus jedoch weni- ger stark auf die Napola, sondern nimmt in seinen Ausführungen auch auf andere NS- Ausleseschulen Bezug. Im Rahmen zeitgenössischer geschichtswissenschaftlicher Dar- stellungen zu den „Eliteschulen“ des NS-Systems wird stets auf die Forschungsergeb- nisse von Ueberhorst und Scholtz zurückgegriffen. Bemerkenswert dabei ist, dass trotz der zunehmenden Popularität der „Oral History“ in den letzten Jahrzehnten kaum der Versuch unternommen wurde, sich der Thematik „Napola“ aus einer erfahrungsge- schichtlichen Perspektive zu nähern bzw. Verknüpfungen mit einer solchen herzustel- len. Eine Ausnahme diesbezüglich stellen einige Diplomarbeiten jüngeren Datums dar, die erste Schritte in diese Richtung setzen. Der Gedanke, das genannte Themenfeld von Seite der Zeitzeugen her aufzurollen, geht eher von der Erziehungswissenschaft bzw. der Psychologie aus. Ein Beispiel hier- für ist die 1996 von Christian Schneider, Cordelia Stillke und Bernd Leinweber publi- zierte Monografie „Das Erbe der Napola“902. Auf der Basis biographischer Gespräche kommen hier ehemalige Napola-Schüler und deren Nachkommen direkt zu Wort. Ab- seits der wissenschaftlichen Fachliteratur sind in den letzten Jahren einige Werke er- schienen, die Erlebnisberichte ehemaliger NS-Eliteschüler aufgreifen. Hierbei handelt es sich einerseits um autobiografische Darstellungen in Romanform, andererseits um Aneinanderreihungen von Zeitzeugenberichten, die einen Einblick in die subjektive Er- fahrungswelt der Betroffenen geben. Publikationen dieser Art lassen jedoch eine kriti- sche Auseinandersetzung mit den lebensgeschichtlichen Darstellungen, sowie eine his- torische Kontextualisierung der geschilderten Ereignisse vermissen. Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, eine Brücke zwischen der Erfahrungs- geschichte und den faktenorientierten Forschungen zur Napola zu schlagen. Ausgangs- punkt der erfahrungsgeschichtlichen Ebene bilden die lebensgeschichtlichen Darstel- lungen meines Großvaters. Diese sollen jedoch nicht unkommentiert bleiben, sondern einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Ebenso sollen Verknüpfungen mit dem historischen Kontext und aktuellen Forschungen zur Institution Napola erfolgen.

901 Harald Scholtz, NS-Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates, Göttingen 1973. 902 Christian Schneider/Cordelia Stillke/Bernd Leineweber, Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus, Hamburg 1996. 372

3 Kritische Reflexion der eigenen Position innerhalb des Forschungsprozesses

Der Auseinandersetzung mit der Napola-Vergangenheit meines Großvaters möchte ich eine kritische Reflexion meiner eigenen Position in diesem Forschungsprozess voran- stellen. Wie vor allem seitens postmoderner TheoretikerInnen verdeutlicht wurde, können His- torikerInnen dem Anspruch einer objektiven Darstellung der Vergangenheit nicht ge- recht werden. Objektivität in der Historiographie lässt sich, wie Gabriele Metzler in ih- rem Werk „Einführung in das Studium der Zeitgeschichte“ aufzeigt, nur im Sinne einer „intersubjektiven Nachprüfbarkeit“ erreichen.903 Die Geschichtsschreibung unterliegt schon alleine deshalb einer subjektiven Färbung, weil die Subjektposition der Wissen- schaftlerInnen Einfluss auf deren Forschungen nimmt, sowohl im Bezug auf die Aus- wahl der Fragestellungen als auch in Hinblick auf die Interpretation des Quellenmateri- als. Folglich liegt es in der Verantwortung des Historikers/der Historikerin sich seine/ihre Position als „forschendes Subjekt“ bewusst zu machen und diese kritisch zu hinterfra- gen. Hinsichtlich der historischen Forschung zur eigenen Familie scheint mir diese For- derung von besonderer Bedeutung, zumal diese mit speziellen Forschungsbedingun- gen und -voraussetzungen einhergeht, die es transparent zu machen gilt. Wesentlich in Bezug auf die Forschung zur eigenen Familie ist, dass man nicht zu gänzlich Fremden forscht, sondern zu Personen, zu denen durch die bestehende Ver- wandtschaft ein besonderer Bezug gegeben ist. Die Spannweite reicht hierbei von über das Familiengedächtnis transportierten Erinnerungen an Personen bis hin zu einem en- gen persönlichen Kontakt zu diesen. Wenn, wie in meinem Fall, ein Naheverhältnis zur beforschten Person besteht, lässt sich ein gewisse Emotionalität nicht verhindern. Letztere kann sich sowohl positiv als auch negativ auf den Verlauf der intendierten Forschung auswirken. Einerseits geht die persönliche Beziehung zu einer Person häufig mit einem besonders Interesse für deren Leben einher, ein Umstand, der dem For- schungsprozess durchaus zuträglich sein kann. Andererseits können die im Zusam- menhang damit auftretenden Emotionen dabei hinderlich sein, die im Kontext wissen- schaftlicher Forschungen notwendige kritische Distanz zu wahren. So kann ein Nahe- verhältnis zu Eltern oder Großeltern bewirken, dass man deren NS-Verstrickung nicht oder nur teilweise wahrnimmt bzw. (un-)bewusst übergeht. Tendenzen dieser Art äu- ßern sich beispielsweise dadurch, dass Handlungen und Verhaltensweisen der Eltern bzw. Großeltern, die auf eine solche hinweisen, relativiert bzw. gerechtfertigt werden.

903 Gabriele Metzler, Einführung in das Studium der Zeitgeschichte, Paderborn-Wien 2004, 43. 373

Die Soziologin Gabriele Rosenthal macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerk- sam, dass Betroffene hierbei häufig auf den „Mythos vom Befehlsnotstand“ zurück- greifen. Dieser spricht Täter und Mitläufer von jeglicher Schuldzuweisung frei, mit Ver- weis darauf, dass diese unter Zwang gehandelt hätten.904 Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall weisen im Rahmen ihrer Untersuchungen zum Nationalsozia- lismus im Familiengedächtnis darauf hin, dass speziell Angehörige der Enkelgeneration dazu neigen, ihre Großeltern unreflektiert als Opfer darzustellen.905 Eine solche Sicht- weise bezüglich der Rolle der Großeltern im Kontext des Nationalsozialismus erwächst einerseits aus dem Bedürfnis, die eigenen Verwandten vor Anschuldigungen zu bewah- ren. Andererseits spielt laut Rosenthal hier auch der Wunsch mit, sich vor einem sol- chen Wissen, das das bisherige im Familiengedächtnis verankerte positive Bild der Großeltern in Frage stellen könnte, zu schützen.906 Im Zuge selbstreflexiver Überlegungen kam ich zu der Erkenntnis, dass meine Um- gangsweise mit der NS-Verstrickung meines Großvaters durchaus ambivalent ist. Auf der einen Seite wurde mir, speziell im Gespräch mit Familienmitgliedern und Freunden, bewusst, dass ich trotz der meiner Arbeit zu Grunde liegenden Intention, zu verstehen statt zu urteilen, speziell anfänglich dazu neigte, über Verhaltens- bzw. Denkweisen meines Großvaters zu richten. Mein Urteil fiel dabei deutlich härter aus, als dies wahr- scheinlich gegenüber einer fremden Person der Fall gewesen wäre. Basis dieser ten- denziell anklagenden Haltung gegenüber meinem Großvater bildete weniger seine Na- pola-Vergangenheit bzw. Verwicklung in das Kriegsgeschehen, sondern vielmehr der Umstand, dass er nach wie vor an nationalsozialistischem Gedankengut festhält. Auf der anderen Seite bereitete mir, wie ich ebenfalls erst im Laufe des Forschungsprozes- ses feststellte, der Gedanke Unbehagen, ich könnte im Zuge meiner Recherchen auf Informationen stoßen, die meinen Großvater als aktiv in das NS-System involviert bzw. an NS-Verbrechen beteiligt ausweisen würden. Erstmals wurde mir dies bewusst, als ich im Rahmen meiner Nachforschungen am In- stitut für Zeigeschichte die von den Alliierten erfasste NSDAP-Mitgliedskartei durch- suchte, um die Aussage meines Großvaters, kein NSDAP-Mitglied gewesen zu sein, auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Auch wenn besagte Kartei aufgrund bestehender Lücken keinen endgültigen Beweis dafür darstellt, dass er tatsächlich kein NSDAP-Mit- glied war, verspürte ich doch eine gewisse Erleichterung darüber, dass ich beim Durch- sehen des Mikrofilms seinen Namen nicht fand. Der Bericht meines Großvaters hinge-

904 Gabriele Rosenthal, Nationalsozialismus und Antisemitismus im intergenerationellen Dialog, in: Gabriele Rosenthal (Hg.), Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoa und von Nazi-Tätern, Gießen 1999, 351. 905 Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002, 31. 906 Gabriele Rosenthal/Christine Müller, Die Übertragung der Schuld an die Enkel: Die Familie Sonntag, in: Gabriele Rosenthal (Hg.), Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoa und von Nazi- Tätern, Gießen 1999, 374. 374 gen, dass er als Napola-Schüler an der sogenannten „Mühlviertler Hasenjagd“ beteiligt war, löste Entsetzen in mir aus, zumal er dies in bisherigen Erzählungen nie erwähnt hatte. Derartige Reaktionen meinerseits führten mir vor Augen, dass ich, trotz des erklärten Ziels meiner Recherchen, bisher Verschwiegenes aufzudecken, doch eine gewisse Scheu davor hatte, mich den damit verbundenen Erkenntnissen zu stellen. Rosenthal beschreibt diese Form des Umgangs mit der NS-Vergangenheit der Großeltern auch als „ein Pendeln zwischen Aufdecken und Verhüllen“907. Wie oberhalb bereits angedeutet, birgt das Naheverhältnis zur beforschten Person nicht nur Gefahren und Schwierigkeiten, sondern kann durchaus auch einen positiven Einfluss auf den Forschungsprozess nehmen. So macht beispielsweise der Zeithistori- ker Gerhard Botz in der Einleitung des Sammelbandes „Schweigen und Reden einer Generation“908 darauf aufmerksam, dass ein Naheverhältnis zwischen den Interviewer- partnerInnen auch zu einem „verständnisvollen, verstehenden Blick“909 beitragen kann. Im Hinblick auf das Verstehen sieht Botz die Enkelgeneration gegenüber der Kindergeneration sogar im Vorteil, weil diese, bedingt durch den größeren Generatio- nenabstand, Schilderungen der Großelterngeneration zur NS-Zeit aus einem differen- zierten Blickwinkel betrachten kann. Anders als die Generation ihrer Eltern, die der Kriegsgeneration vor allem anklagend entgegentrat und damit entscheidend am Bau des Schweigepakts zwischen den Generationen beteiligt war, sind Angehörige der drit- ten Generation viel eher dazu in der Lage, ihren Großeltern das für einen Dialog erfor- derliche Verständnis entgegenzubringen. Dies wiederum ermöglicht es ihnen, zu bis- her Verschwiegenem vorzudringen.910 Gerade im Zusammenhang mit der Durchführung eines lebensgeschichtlichen Inter- views, wie dieses im Rahmen der vorliegenden Arbeit Anwendung fand, spielt die Art der Beziehung zwischen den InterviewpartnerInnen eine ganz wesentliche Rolle. Eine Vertrautheit zwischen ForscherIn und interviewter Person kann sich sowohl auf die In- halte als auch auf die Tiefe der Erzählung nachhaltig auswirken und durchaus eine günstige Voraussetzung für das Gelingen einer Interviewsituation darstellen. Im Bezug auf das Interview mit meinem Großvater bin ich davon überzeugt, dass das nahe Ver- wandtschaftsverhältnis und der gute Kontakt zwischen uns ausschlaggebend dafür wa- ren, dass er sich zu diesem bereit erklärte. Auch seine im Laufe des Interviews zuneh- mende Offenheit hinsichtlich der Bewertung nationalsozialistischer Ideologien führe ich auf das zwischen uns bestehende Naheverhältnis zurück.

907 Rosenthal/Müller, Die Übertragung der Schuld an die Enkel, 374. 908 Gerhard Botz, Jenseits der Täter-Opfer-Dichotomie lebensgeschichtlich forschen und essayistisch schreiben, in: Gerhard Botz (Hg.), Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2005, 9-20. 909 Ebd., 16. 910 Ebd., 14-15. 375

4 Quellenmaterial und methodische Überlegungen

4.1 Überblick über das verwendete Quellenmaterial

Das für die vorliegende Arbeit herangezogene Quellenmaterial gliedert sich in zwei Sparten. Zum einen ermöglichte mir mein Großvater Zugang zu Quellen aus seinem Privatfundus. Neben diversen schriftlichen Quellen wie Briefen, Schulzeugnissen, An- tragsstellungen an die NPEA, etc. umfassten diese auch bildliche Quellen, beispielswei- se Fotos, die ihn in seiner Napola-Uniform bzw. als Flakhelfer zeigen. Darüber hinaus stellte er mir diverse dingliche Quellen aus seiner Napola-Zeit zur Verfügung, z. B. Reste seiner Uniform, Wäscheetiketten der NPEA Theresianum, die seinen Namen auf- weisen, und einige Abzeichen für sportliche Leistungen. Im Rahmen meiner Recher- chen versuchte ich auch relevante Quellen außerhalb des privaten Archivs meines Großvaters ausfindig zu machen, von denen ich mir weitere Informationen über die Napola- und Wehrmachtszeit meines Großvaters, bzw. in Hinblick auf den Grad der Einbindung meiner Familie väterlicherseits, in den NS-Kontext erhoffte. Meine Nach- forschungen in diese Richtung verliefen jedoch bislang weitgehend erfolglos. Ausstän- dig ist in diesem Zusammenhang noch die Antwort der „WASt“ (Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der Deutschen Wehrmacht) von der ich mir detailliertere Auskünfte über die Stationierung meines Großvaters in Polen erwarte. Zum anderen bildeten das lebensgeschichtliche Interview, das ich im Vorfeld dieser Arbeit mit meinem Großvater führte, sowie auch über das Familiengedächtnis tradierte mündliche Erzählungen eine wesentliche Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Napola-Vergangenheit meines Großvaters. Voraussetzung für eine seriöse histori- sche Quellenarbeit ist der kritische Umgang mit den ausgewählten Quellen. Aufgrund des begrenzten Umfangs der vorliegenden Arbeit und des beträchtlichen Spektrums des verwendeten Quellenmaterials erscheint es mir wenig sinnvoll, eine kritische Ana- lyse jeder im Zuge meiner Nachforschungen bearbeiteten Quelle anzuführen. Da je- doch das lebensgeschichtliche Interview mit meinem Großvater und dessen Auswer- tung einen besonderen Stellenwert im Rahmen meiner Forschungen einnimmt, sollen in der Folge ausführlichere methodische und quellenkritische Überlegungen zu diesem angestellt werden. 376

4.2 Erläuterungen zur angewandten Interviewmethode

Im Hinblick auf die Durchführung von Zeitzeugeninterviews steht der „Oral History“ mittlerweile ein breit gefächertes Spektrum an Techniken zur Verfügung. Methodisch orientiert sich die Geschichtswissenschaft hierbei an Erkenntnissen der empirischen Sozialforschung.911 Einen zentralen Stellenwert im Rahmen zeitgeschichtlicher Studien nimmt das „lebensgeschichtliche Interview“ ein, eine spezielle Form des narrativen In- terviews, bei der, wenn auch häufig mit dem Fokus auf bestimmte Lebensphasen, Be- zug auf die gesamte Lebensgeschichte der interviewten Person genommen wird.912 In der Unterredung mit meinem Großvater orientierte ich mich lose an methodischen Anregungen der Zeithistorikerin Roswitha Breckner, die vorschlägt, das lebensge- schichtliche Interview in einen „Erzählteil“ und einen „Nachfrageteil“ zu gliedern. 913 Unter Rückgriff auf dieses Konzept leitete ich den ersten Teil des Gesprächs mit einer erzählgenerierenden Frage ein, die meinen Großvater dahingehend motivieren sollte, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Um eine thematische Akzentuierung zu erreichen, bat ich ihn, im Kontext seiner lebensgeschichtlichen Darstellungen besonderes Augen- merk auf den Zeitraum zu legen, in dem er Schüler der NPEA Wien Theresianum war. Mein Interesse galt hierbei speziell der Frage, welche Erfahrungen und Erlebnisse ihm aus dieser Zeit in besonderer Erinnerung geblieben sind, bzw. inwiefern diese, seiner Auffassung nach, Auswirkungen auf sein späteres Leben hatten. Entscheidend in die- ser ersten Phase eines narrativen Interviews ist die Zurückhaltung seitens der befra- genden Person.914 Dementsprechend agierte ich zunächst vor allem als Zuhörerin und beschränkte mich weitgehend auf Äußerungen paraverbaler Art. Fragen stellte ich, ab- gesehen von der Eingangsfrage, nur dann, wenn der Erzählfluss deutlich ins Stocken geriet, bzw. durch Fragen wie: „Was soll ich dir noch erzählen?“ oder „Was willst du noch wissen?“ seitens meines Großvaters abgebrochen wurde. In diesem Kontext griff ich auf einen im Vorfeld des Interviews entwickelten Leitfaden zurück, wobei ich ver- suchte, diesen dem Gesprächsverlauf weitgehend anzupassen. Der an die Erzählphase anschließende Nachfrageteil umfasste einerseits Fragen, die auf das Erzählte Bezug nahmen. Andererseits sprach ich in dieser zweiten Phase des Interviews auch Bereiche an, die mein Großvater im Rahmen seinen Erzählungen nicht thematisiert hatte, die mir jedoch für meine Arbeit von Relevanz erschienen.

911 Margit Reiter, Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck-Wien-Bozen 2006, 32. 912 Roswitha Breckner, Von den Zeitzeugen zu den Biographien. Methoden der Erhebung und Auswertung lebensgeschichtlicher Interviews, in: Julia Obertreis (Hg.), Oral History (Basistexte Geschichte 8), Stuttgart 2012, 135. 913 Ebd., 137-141. 914 Uwe Flick, Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung, Reinbeck bei Hamburg 2007, 228. 377

4.3 Möglichkeiten und Grenzen des lebensgeschichtlichen Interviews

Eine Besonderheit des lebensgeschichtlichen Interviews besteht darin, dass dem Gegenüber der Freiraum gewährt wird, seine Erzählung selbst zu strukturieren. Die interviewte Person entscheidet selbst darüber, welche Ereignisse sie darstellt, bzw. welchen Stellenwert sie diesen im Rahmen ihrer lebensgeschichtlichen Darstellungen einräumt. Diese Vorgangsweise ermöglicht es ihr, Aspekte einzubringen, die seitens des Forschers/der Forscherin gar nicht berücksichtigt worden wären. Außerdem werden durch den lebensgeschichtlichen Zusammenhang die Aussagen der interviewten Person, hinsichtlich forschungsrelevanter Fragen, in einen zeitlichen und thematischen Kontext eingebettet.915 Bedeutsam zu erwähnen scheint, dass die Durchführung lebensgeschichtlicher Inter- views nicht auf die Rekonstruktion einer Faktengeschichte abzielt. Die dargestellten Erinnerungen dürfen nicht als Abbild vergangener Ereignisse betrachtet werden.916 Demzufolge war das Interview mit meinem Großvater weniger auf die Suche nach his- torischen Fakten ausgerichtet, sondern vielmehr darauf, seine subjektive Wirklichkeit bzw. heutige Sichtweise auf vergangene Ereignisse und Erlebnisse zu erfassen und nachzuvollziehen. Im Hinblick auf die inhaltliche Analyse des Interviews ist festzuhal- ten, dass Erinnerungen nicht als statisch betrachtet werden dürfen, sondern als dyna- misches Konstrukt gedacht werden müssen, das durch den weiteren Verlauf der Le- bensgeschichte bzw. durch diverse äußere Einflüsse Veränderungen ausgesetzt ist. Dabei kommt es zu Umdeutungen und Modifizierungen der Erinnerungen. Die Zeithis- torikerin Margit Reiter macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass In- terviews immer kontextgebunden sind, da sie in einem „vergangenheitspolitischen und lebensgeschichtlichen Kontext“ stattfinden.917 Aber auch die konkrete Interviewsituation nimmt Einfluss auf den Verlauf eines Inter- views. Das lebensgeschichtliche Interview muss folglich auch als komplexe soziale In- teraktion verstanden werden, die durch ein wechselseitiges Agieren der Interviewpart- nerInnen geprägt wird.918 Hierbei spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle, auf die in der Folge noch genauer eingegangen werden soll.

915 Breckner, Von den Zeitzeugen zu den Biographien, 134-136. 916 Ebd., 132. 917 Reiter, Die Generation danach, 33. 918 Ebd., 35. 378

4.4 Reflexion der konkreten Interviewsituation

Als ich meinen Großvater im Vorfeld dieser Arbeit erstmals fragte, ob er dazu bereit wäre, mir im Rahmen eines Interviews von seiner Napola-Vergangenheit zu erzählen, willigte er ohne zu zögern ein. Diese Reaktion entspricht seiner prinzipiellen Bereit- schaft im Familienkreis über die NS-Zeit und seine Anschauungen zum Nationalsozia- lismus zu sprechen. In der Interviewsituation selbst agierte er jedoch zunächst unge- wohnt zurückhaltend. Dies schlug sich vor allem in seinem Erzählstil nieder. Während er im Rahmen informeller Gespräche üblicherweise sehr lange und ausführlich über Er- lebnisse der Vergangenheit berichtet, oft ohne dabei sein Gegenüber aktiv in die Un- terhaltung miteinzubeziehen, brach er, speziell zu Beginn des Interviews, seine Dar- stellungen immer wieder recht abrupt ab, wobei er Fragen wie: „Was willst du noch hören?“ oder „Was soll ich noch erzählen?“ an diese anfügte. Mitgrund für dieses von seiner herkömmlichen Erzählweise abweichende Verhalten war sicherlich der unge- wohnt formelle Charakter unseres Gesprächs. Verstärkt wurde der Gegensatz zu unse- ren alltäglichen Unterhaltungen dadurch, dass wir uns nicht wie üblich in seinem Wohnzimmer, sondern im Kaminzimmer aufhielten, das in der Regel nur sehr selten genutzt wird. Auch das Diktiergerät, das während des Interviews sichtbar vor uns auf dem Tisch lag, dürfte zur Formalisierung der Situation beigetragen haben. Darüber hinaus schien mein Großvater trotz meiner ausführlichen Erklärungen, welchen Zweck ich mit dem Interview verfolgte, Bedenken zu haben, woher mein Interesse für seine Vergangenheit rührte. Einige skeptische Bemerkungen zu Beginn unseres Gesprächs erweckten den Eindruck, dass er erwartete, sich im Zuge seiner Erzählungen für seine Vergangenheit rechtfertigen zu müssen. Bei mir selbst ortete ich sowohl im Vorfeld als auch zu Beginn des Interviews ebenfalls eine subtile Nervosität, die ich im Nachhinein auf mehrere Ursachen zurückführe. Ei- nerseits stellte die Durchführung eines lebensgeschichtlichen Interviews methodisches Neuland für mich dar, andererseits gründete sich diese wohl auf der Befürchtung, dass das Interview meinen Großvater, dessen physischer Zustand sich in der letzten Zeit zusehends verschlechtert hat, kräftemäßig überfordern könnte. Darüber hinaus mach- te ich mir Gedanken darüber, wie er auf meine Fragestellungen reagieren würde. Die genannten Faktoren trugen dazu bei, dass zu Beginn unserer Unterhaltung beider- seits eine gewisse Anspannung spürbar war. Mit der Fortdauer des Interviews ent- spannte sich die Gesprächssituation jedoch zusehends. Förderlich für diese Entwick- lung war, dass die zweite Frau meines Großvaters, die sich anfänglich mehrmals unge- fragt in das Gespräch eingeschalten hatte, den Raum nach wenigen Minuten verließ und wir die verbleibende Zeit des Interviews nur zu zweit zubrachten. Weiters dürfte 379 sich die Erkenntnis meines Großvaters, dass ich keine Rechtfertigungen seinerseits einforderte, positiv auf den Verlauf des Interviews ausgewirkt haben. Je länger das Gespräch dauerte, umso unbekümmerter und befreiter erschienen mir seine Erzählun- gen. Während er zu Beginn unserer Unterhaltung seine Anschauungen zum National- sozialismus, die er sonst sehr offen preisgibt, sichtlich zurückhielt, kam er gegen Ende des Interviews ganz von selbst auf diese zu sprechen.

5 Von der Napola zur „Göringdivision“ – ein biographischer Abriss

5.1 Familiärer und sozialer Kontext

Mein Großvater, Gerhard Siegmund, wurde am 26. 6. 1927 in Wien geboren. Die Fami- lie mütterlicherseits, zu der eine sehr enge Bindung bestand, gehörte der städtischen Mittelschicht an. Die Großeltern meines Großvaters, Johann und Maria Haberkorn be- trieben eine Gastwirtschaft in der Garelligasse im 9. Bezirk, die vor allem von der Ver- köstigung der Soldaten aus der benachbarten Alserkaserne lebte. In den frühen 1920er Jahren wurde die Gaststätte veräußert. Mit dem Erlös wurde das nahe der Vo- tivkirche gelegene „Café Maximilian“ in der Universitätsstraße gegründet, in dem auch die Mutter meins Großvaters, Maria Haberkorn, arbeitete. In ihrer Funktion als Kassie- rerin lernte sie dort ihren späteren Mann, Arthur Siegmund, kennen, einen Vertreter für Eisenwaren, der aus Siebenbürgen stammte und als Junggeselle häufig im Kaffee- haus zu Gast war. Am 15. 9. 1925 wurde trotz Vorbehalte der Familie Haberkorn we- gen des bestehenden Standesunterschieds geheiratet. Die Ehe war jedoch nicht von langer Dauer. Im September 1932, fünf Jahre nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes, suchten Arthur und Maria Siegmund, wie aus einem Bescheid des Hietzinger Bezirksgerichts hervorgeht, einvernehmlich um die „Scheidung von Tisch und Bett“ an.919 Am 27. 10. 1938 erfolgte schließlich die endgültige Auflösung der ehelichen Ver- bindung.920 Aus der Zeit ihrer Ehe ist nur ein einziges Foto erhalten, das die beiden mit ihrem Sohn zeigt. Laut der Schilderung meines Großvaters wurde es ihm nach der Scheidung seiner Eltern verwehrt, seinen Vater weiterhin zu sehen. Erst im Alter von 16 Jahren nahm er eigenmächtig wieder Kontakt zu diesem auf. Die ersten zehn Lebensjahre verbrachte Gerhard Siegmund vorwiegend im großelterli- chen Kaffeehaus, wo er seinen Darstellungen zufolge von seiner Großmutter und dem größtenteils weiblichen Küchenpersonal des Betriebs sehr verwöhnt wurde. Diesen

919 Bewilligung der Scheidung von Tisch und Bett, Antragsteller: Maria und Arthur Siegmund, Geschäftszahl 7 P 192/32, ausgefertigt von Dr. Leopold Wilfinger für das Bezirksgericht Hietzing, 15. 9. 1932, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012. 920 Scheidungsbeschluss, Geschäftszahl 7 Nc 965/38, ausgefertigt von Dr. Leopold Wilfinger für das Amtsgericht Hietzing, 27. 10. 1938, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012. 380

Umstand betrachtet er rückblickend als Ursache dafür, dass sein Großvater beschloss, ihn auf das Dollfußkolleg in Traiskirchen zu schicken, eine Bundeserziehungsanstalt, in der er „zum Mann“ erzogen werden sollte. Die Wahl der Schule deutet darauf hin, dass sich die Familie mit dem damals herrschenden austrofaschistischen Regime arrangierte bzw. möglicherweise sogar Sympathien für dieses hegte. Welche Haltung die engere Verwandtschaft meines Großvaters später gegenüber dem Nationalsozialismus einnahm, lässt sich aus den mir zur Verfügung stehenden Quellen nicht eruieren. NSDAP-Mitglieder dürften, wie meine Recherche am Institut für Zeitge- schichte ergab, nicht darunter gewesen sein. Laut den Erzählungen meines Großvaters war seine Mutter jedoch Anwärterin auf eine Parteimitgliedschaft. Da sein Enkel die für den Eintritt in das Dollfußkolleg abzulegende Aufnahmeprüfung nicht bestand, bewirkte Johann Haberkorn, Familienerzählungen zufolge, dessen Auf- nahme über den Umweg der Protektion. In einem Brief des Bundesministeriums für Unterricht vom 2. 7. 1937 wurde Gerhard Siegmund schließlich ein Stiftsplatz in der Anstalt zugesagt, am 16. 9. 1937 trat er in die als Internat geführte Schule ein.921

5.2 Die ersten Jahre in der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Wien Theresianum

Nach dem „Anschluss“, im März 1938, wurden die Bundeserziehungsanstalten (BEA) Österreichs sowie auch das Theresianum Wien zunächst in Staatserziehungsanstalten (STEA) umgewandelt. Am 29. 7. 1938 erging seitens des Ministeriums für Wissen- schaft, Erziehung und Unterricht der Erlass, die genannten schulischen Einrichtungen zu Nationalpolitischen Erziehungsanstalten umzugestalten.922 Die Umsetzung dieses Beschlusses erfolgte schließlich im Frühjahr 1939.923 Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten waren vom NS-Regime installierte, staatli- che Internatsschulen, die die Sekundarstufe umfassten. Begründet worden war dieser neue nationalsozialistische Schultypus, der sich in mehrfacher Hinsicht auf das Prinzip der Auslese stützte, bereits 1933 auf Initiative des Reichserziehungsministers Bern- hard Rust. Anlässlich des „Führergeburtstages“ am 20. 4. 1933 hatte dieser unter Rückgriff auf das von seinem Mitarbeiter Joachim Haupt entwickelte „nationalpolitische Erziehungsmodell“ die Umwandlung der ehemaligen Kadettenanstalten Plön, Köslin und Potsdam zu NPEAs veranlasst. Bis zum Jahr 1944 wurden auf dem Gebiet des so- genannten „Altreichs“ 22 Napolas gegründet. Auch in den neueingegliederten bzw. be-

921 Bundesministerium für Unterricht an Maria Siegmund, ZI. 23.204/10/ZD, 2. 7. 1937, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012. 922 Merkblatt der Staatserziehungsanstalt für Knaben, Wien Theresianum, 1938/39, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012. 923 Sebastian Pumberger, Führen und gehorchen: Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten in Österreich 1938-1945, Dipl. Arb., Wien 2013, 84. 381 setzten Gebieten wurden NPEAs eingerichtet. Hier erfolgten insgesamt 15 Gründun- gen, darunter zwei Internate für Mädchen.924 In Österreich lassen sich im Hinblick auf die Napolas zwei Gründungsphasen unterscheiden. 1938/39 wurden die Nationalpoliti- schen Erziehungsanstalten Traiskirchen, Wien Theresianum, Wien-Breitensee und Hu- bertendorf-Türnitz gegründet. In den Jahren 1940/41 erfolgte die Gründung fünf wei- terer Schulen.925 Wie aus der Literatur zur nationalsozialistischen Schul- und Erziehungspolitik hervor- geht, sind die NPEAs in Abgrenzung zu anderen NS-Ausleseschulen zu sehen. In die- sem Zusammenhang ist zum einen die im Herbst 1933 vom der SA Ernst Röhm gegründete Reichsschule der NSDAP Feldafing zu erwähnen. Nach dem „Röhm- Putsch“ im Juni 1934 übernahmen andere bedeutende NS-Funktionäre die Schirmherr- schaft über die ursprünglich als Private Oberschule der SA konzipierte Erziehungsein- richtung, darunter auch der Stellvertreter Hitlers, Rudolf Heß. Die Reichsschule nahm einen Sonderstatus gegenüber den anderen NS-Eliteschulen ein. Dieser äußerte sich zum einen in der großzügigen finanziellen Ausstattung der Schule, kam andererseits jedoch auch in der weitgehenden Selbstständigkeit zum Ausdruck, die dieser zuge- standen wurde.926 Zum anderen sind in diesem Kontext auch die im Jänner 1937 von Reichsorganisati- onsleiter Robert Ley begründeten Adolf-Hitler-Schulen zu nennen, die konkurrierend zu den NPEAs als Parteischulen installiert wurden. Ein wesentlicher Unterschied zwi- schen den Adolf-Hitler-Schulen und den NPEAs bestand darin, dass es sich bei den NPEAs um staatliche Schulen handelte. Sie unterstanden nicht der Partei und deren unmittelbarem Einfluss, sondern dem Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Sowohl die Erstellung des Lehrplans, der, abgesehen vom Wehrsport, weitgehend jenem der deutschen Oberschule entsprach, als auch die „Auslese“ der Schüler und Zuteilung der Lehrkräfte oblag damit der staatlichen Aufsicht.927 Während aus den Adolf-Hitler-Schulen künftige Parteiführer und -funktionäre hervorgehen soll- ten, wurde den Absolventen der NPEA eine freie Berufswahl zugestanden. Änderungen diesbezüglich erfolgten erst ab Dezember 1944, mit dem Befehl Hitlers den aktiven Offziersnachwuchs aus den Eliteschulen zu beziehen.928 Von ihrem Gründungsgedanken her zielten die NPEAs darauf ab, eine regimetreue Elite zur Besetzung öffentlicher und ziviler Berufe heranzuziehen.929 Obwohl der vormilitäri- schen Erziehung der Schüler eine bedeutende Rolle zukam, ging es in erster Linie dar-

924 Elke Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, in: Johannes Leeb (Hg.), „Wir waren Hitlers Eliteschüler“. Ehemalige Zöglinge der NS-Ausleseschulen brechen ihr Schweigen, Hamburg 1998, 192-210. 925 Sebastian Pumberger, „Der Einzelne ist nichts – die Gemeinschaft ist alles“, in: Gedenkdienst (2010) 1, 6. 926 Pumberger, Führen und gehorchen, 57. 927 Ueberhorst, Elite für die Diktatur, 9. 928 Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, 247. 929 Dirk Gelhaus/Jörn-Peter Hülter, Die Ausleseschulen als Grundpfeiler des NS-Regimes, Würzburg 2003, 51-52. 382 um, „politische Kämpfer“ auszubilden, die sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich zur Durchsetzung und Festigung des nationalsozialistischen Gedankenguts beitragen sollten.930 Im Rahmen einer schriftlichen Mitteilung vom 8. 9. 1938 wurden die Zöglinge der STEA Traiskirchen und deren Eltern über die Umwandlung der Schule in eine NPEA in- formiert. Seitens der Direktion der Anstalt wurde verfügt, dass ein Teil der „Schüler- schaft“, darunter auch Gerhard Siegmund, fortan die NPEA Wien Theresianum, Favori- tenstraße 15 besuchen sollte.931 Die Übernahme der Schüler der Staatserziehungsan- stalten in die Napolas erfolgte nicht automatisch. Ihr Verbleib an den Schulen war, wie sich anhand eines von der Direktion ausgegebenen Merkblattes erkennen lässt, davon abhängig, ob sie die von der Schulleitung angekündigte Überprüfung auf „rassische und körperliche Tauglichkeit“ bestanden.932

Abbildung 1: Gerhard Siegmund.

Quelle: In Privatbesitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder.

Kriterium für die Ausstellung der „rassischen Tauglichkeit“ war die Erbringung des so- genannten „Ariernachweises“, mittels dessen die „arische Abstammung“ der Schüler nachgewiesen werden sollte. Laut der Aussage meines Großvaters verfügte er lediglich über den sogenannten „Kleinen Ariernachweis“, der seine „nichtjüdische Abstammung“

930 Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, 248. 931 Mitteilungen der Direktion der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Traiskirchen an alle Zöglingserhalter, 8. 9. 1938, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012. 932 Merkblatt der Staatserziehungsanstalt für Knaben, Wien Theresianum, 1938/39, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012. 383 zurückgehend bis zu den Großeltern bestätigte. Für den „Großen Ariernachweis“ muss- te die „arische Abstammung“ zurückgehend bis 1800 nachgewiesen werden. 933 Wel- cher Gesellschaftsschicht die Schüler entstammten, spielte hingegen für die Entschei- dung über ihren Verbleib an den Anstalten keine Rolle. Die im Rahmen der Auslese der Schüler zum Tragen kommenden Kriterien geben Aufschluss über die ideologische Ausrichtung der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten. Ganz deutlich kommt hier die vom Nationalsozialismus propagierte Rassenlehre zum Ausdruck. Darüber hinaus spie- geln sich in den Aufnahmekriterien der Anstalten auch die vom NS-Regime vermittel- ten pädagogischen Vorstellungen wider, die den Charakter der Schulen wesentlich prägten. Letztere fußten zum einen auf den Erziehungsvorstellungen Adolf Hitlers, die dieser sowohl in seiner Propagandaschrift „Mein Kampf“ als auch im Rahmen diverser öffentlicher Reden kundtat.934 Zum anderen orientierten sich diese auch an der von ihm beeinflussten Nationalsozialistischen Pädagogik. Gemäß den Aussagen Hitlers über Erziehung wurde an den NPEAs der physischen Aus- bildung der Schüler ein besonderer Stellenwert beigemessen. Im Vergleich zu den Re- gelschulen wurde diese an den NPEAs deutlich intensiver betrieben und war auch we- sentlich vielseitiger angelegt. Neben zahlreichen zum Teil aufwendigen Sportarten wie Reiten, Rudern, Boxen, Schi fahren, Segeln, Fechten und Segelfliegen, umfasste die Leibeserziehung an den NPEAs auch wehrsportliche Übungen wie Orientierungsläufe und Schießübungen.935 Mein Großvater hebt in seinen Erzählungen über die vormilitärische Ausbildung im Theresianum zum einen die Exerzierübungen besonders hervor, die mehrmals täglich durchgeführt wurden. Zum anderen berichtet er von lan- gen Nachtmärschen mit Gepäck, die seiner Aussage nach zuweilen auch zur Diszipli- nierung der Schüler eingesetzt wurden. Alle diese körperlichen Tätigkeiten waren im Endeffekt auf die Erlangung der Wehrhaftigkeit ausgerichtet.936 Gleichzeitig sollten das harte physische Training und die hohen Anforderungen, denen die Schüler in diesem Zusammenhang ausgesetzt waren, auch der Ausbildung des Charakters dienen. Hier- bei standen im Hinblick auf den Kriegsdienst bedeutende Werte wie „Disziplin“, „Ge- horsam“ und „Einsatzbereitschaft“ im Vordergrund.937 Der wissenschaftlichen Ausbildung der Schüler, die sich im Wesentlichen nicht von je- ner der Regelschulen unterschied, wurde weit weniger Bedeutung zugemessen. Doch auch auf diesem Gebiet mussten die Internatszöglinge gewissen Leistungsanforderun- gen gerecht werden. War dies nicht der Fall, so war ihr Verbleib an den Anstalten ge-

933 Der Ariernachweis, Deutsches Historisches Museum, URL: http://www.dhm.de/lemo/html/nazi/antisemitismus/ariernachweis/ (abgerufen am 3. 4. 2013). 934 Stefan Baumeister, NS-Führungskader. Rekrutierung und Ausbildung bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs 1933- 1939, Konstanz 1997, 15-16. 935 Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, 36. 936 Ueberhorst, Elite für die Diktatur, 251. 937 Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, 242. 384 fährdet. Der Umstand, dass man der körperlichen Leistungsfähigkeit der Schüler eine besonde- re Bedeutung beimaß, kam wie bereits oben angemerkt, auch im Rahmen des Ausle- severfahrens der Anstalten zum Ausdruck. Die Überprüfung der körperlichen Eignung erfolgte im Zuge der Durchführung sportlicher Aktivitäten. Über die charakterliche Eig- nung angehender „Jungmannen“ – eine seitens der Anstalten geprägte Bezeichnung für die Schüler der NPEAs – wurde, wie aus den Darstellungen diverser „Ehemaliger“ hervorgeht, mittels der Durchführung von Mutproben entschieden. So wurden, laut der Aussage meines Großvaters, die Zöglinge des Theresianums dazu angewiesen, von einem Dreimeterbrett ins Wasser zu springen, ohne Rücksichtnahme darauf, ob sie be- reits schwimmen konnten. Schüler, die dies verweigerten, wurden seinen Schilderun- gen zufolge der Anstalt verwiesen. Im Rahmen des mit ihm geführten lebensge- schichtlichen Interviews schilderte mein Großvater seine Erinnerungen an dieses Er- eignis mit folgenden Worten: „Und dann hams gsagt, oiso wir müssen (.) und i hab damois no ned schwim- men kenna, wer äh…wer vom Dreimetterbre (,) oiso vom Dreimeterbrett ei- nespringt, braucht si ned fiarchtn, unten schwimmen eh die Großen. Und i bin hoid einegsprungen, weu i ma gedocht hab: dasaufen kamma eh nur amoi. Nur einer woar dabei, der hat gsagt: (`) Meine Mami hat gesagt .. (Lachen) das brauch ich nicht machen, (.) no der hat glei hamgehen diafn.“938

Einer praktischen Überprüfung ihrer geistigen Fähigkeiten mussten sich die ehemali- gen Schüler der Bundes- bzw. Staatserziehungsanstalten, wie aus den hierzu unter- suchten schriftlichen Quellen hervorgeht, nicht unterziehen. In diesem Punkt bestand ein Unterschied zu jenen Schülern, die sich von außerhalb um einen Platz an den NPEAs bewarben. Allerdings musste Gerhard Siegmund im Rahmen eines schriftlichen Gesuchs zur Aufnahme an der NPEA neben Personalblättern, HJ-Dienstleistungszeug- nissen und einem Lebenslauf auch Schulzeugnisse beilegen.939 Aus der Zeit, die mein Großvater in der NPEA Wien Theresianum verbrachte, sind eini- ge Fotos und etliche Schulzeugnisse erhalten. Letztere zeugen davon, dass Gerhard Siegmund kein besonders guter Schüler war. Sowohl in den sportlichen, als auch in den geistigen Disziplinen wurden seine Leistungen als eher dürftig beurteilt. Aufgrund seiner mittelmäßigen bis schlechten Noten war seine Versetzung in die nächste Schul- stufe mehrmals gefährdet. Besonders aufschlussreich sind die auf den Zeugnissen auf- scheinenden verbalen Beurteilungen. Sie geben darüber Auskunft, welche Ansprüche seitens der Anstaltsleitung an die Schüler gestellt wurden und lassen Schlüsse darauf zu, welches Gewicht einzelnen Bereichen zukam. Auffällig ist, dass im Rahmen der Be-

938 Interview mit Gerhard Siegmund. 939 Aufnahmeantrag für die NPEA Wien Theresianum, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012. 385 urteilungen zunächst immer auf die körperliche Beschaffenheit und die sportlichen Leistungen der „Jungmannen“ Bezug genommen wurde. Dies ist wiederum ein Indiz dafür, dass die physische Ausbildung besonders hohe Priorität hatte. Erst in weiterer Folge wird in den Zeugnissen auch auf den Charakter und die geistigen Fähigkeiten der Schüler eingegangen.

5.3 Rekrutierung zum Flugabwehrkommando in Linz

Ab Februar 1943 war Gerhard Siegmund, wie sich anhand seiner Schulzeugnisse er- kennen lässt, als Luftwaffenhelfer tätig.940 In der Umgangssprache entwickelte sich für diese Tätigkeit die noch heute gängige Bezeichnung „Flakhelfer“. Die Entscheidung, Minderjährige für die Luftverteidigung einzusetzen, ging mit der Entwicklung des Kriegsgeschehens im Winter 1942/1943 einher. Nach den schwerwie- genden personellen Verlusten in Stalingrad sah sich die militärische Führung des Drit- ten Reiches dazu gezwungen „eine totale Mobilisierung aller vorhandenen Kräfte“941 herbeizuführen. Am 26. 1. 1943 erging seitens des Oberbefehlshabers der Luftwaffe, Hermann Göring, der Erlass, Schüler der Oberen und Mittleren Schule als Luftwaffen- helfer einzusetzen.942 Betroffen davon waren zunächst nur die Jahrgänge 1926 und 1927. Die Schüler sollten in unmittelbarer Umgebung ihres Heimatsortes eingesetzt werden. Ausgenommen von dieser Regelung waren nur „Heimschüler“, wodurch es möglich war, meinen Großvater im Raum Linz einzusetzen.943 Neben dem Großraum Wien, Wiener Neustadt, Graz, Klagenfurt, Spittal an der Drau, Villach, Innsbruck, Steyr, St. Valentin und Ranshofen, zählte Linz zu den Verteidigungsschwerpunkten Ös- terreichs. Dies hing damit zusammen, dass die Stadt einen zentralen Verkehrsknoten- punkt darstellte. Außerdem war der Raum Linz auch im Hinblick auf die Rüstungsin- dustrie von großer Bedeutung.944 Wichtig in diesem Zusammenhang erschien unter an- derem der Schutz der „Hermann-Göring-Werke“, zu dem Gerhard Siegmund, seinen Erzählungen zufolge, herangezogen wurde. Die Aufgabenbereiche der Luftwaffenhelfer umfassten ein weites Spektrum. Zunächst setzte man die Jugendlichen vorwiegend im Fernsprech- und Fernmeldedienst, in der Aus- und Umwertung bzw. zur Bedienung von Funkmessgeräten und leichten Geschützen ein. Der immer prekärer werdende Personalmangel führte jedoch dazu, dass die Flakhelfer vermehrt auch an den schwe-

940 Luftwaffenhelferzeugnis für Gerhard Siegmund, ausgestellt von der NPEA Theresianum Wien, 26. 7. 1944, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012. 941 Norbert Schausberger, Der Einsatz der Luftwaffenhelfer in Österreich. Zur Situation der Jugend unter dem Nationalsozialismus, in: Ernst Nöstlinger, Martin Wimmer und der totale Krieg. Fünfzehnjährige als Luftwaffenhelfer, Wien 1987, 162. 942 Leopold Banny, Dröhnender Himmel. Brennendes Land. Der Einsatz der Luftwaffenhelfer in Österreich 1943-1945, Wien 1988, 26. 943 Ebd., 25. 944 Ebd., 209. 386 ren Geschützen zum Einsatz kamen.945 Mein Großvater wurde laut seinen Schilderungen mit der Aufgabe betraut, das Signal zum Abschuss weiterzuleiten. Die Ausbildung der Flakhelfer dauerte meist nur wenige Wochen. Im Anschluss an diese Grundausbildung erfolgte die Zuteilung der Jugendli- chen zu einer bestimmten Flakbatterie, wobei man sich darum bemühte, Schul- und Klassengemeinschaften weitgehend zu erhalten.946

Abbildung 2: Gerhard Siegmund.

Quelle: In Privatbesitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder.

Parallel zu ihrem Dienst im Rahmen des Flugabwehrkommandos besuchten die Luft- waffenhelfer einen vor Ort eingerichteten Schulunterricht, der sich, wie anhand der Luftwaffenhelferzeugnisse meines Großvaters deutlich wird, auf eine geringe Anzahl von Fächern beschränkte. Die Schüler der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten wurden von eigenen den Anstalten angehörenden Lehrern unterrichtet. Speziell in der Endphase des Krieges dürfte der schulische Unterricht jedoch kaum mehr von Bedeu- tung gewesen sein, ein Umstand der sich in einer drastischen Senkung der vorgesehe- nen Stundenzahlen manifestierte.947 Als Wohnraum wurden den Flakhelfern Baracken zugewiesen. Meinem Großvater, der laut seinen Schilderungen zunächst in einer Bara- cke am Pöstlingberg und später im Barackenlager Haid untergebracht war, blieb vor al-

945 Ebd., 73. 946 Schausberger, Der Einsatz der Luftwaffenhelfer in Österreich, 168. 947 Banny, Dröhnender Himmel, 105. 387 lem die eisige Kälte in Erinnerung, die dort im Winter herrschte.

5.4 „Freiwillige Meldung“ zum Fallschirm-Panzerkorps Hermann Göring

Im Jänner 1945, zu einem Zeitpunkt als sich die endgültige Niederlage des Dritten Reiches immer deutlicher abzeichnete, meldete sich Gerhard Siegmund freiwillig zum „Fallschirm-Panzerkorps Hermann Göring“. Die Formulierung „freiwillig“ ist deshalb mit Vorsicht zu genießen, weil die Anstalten gegen Kriegsende vermehrt auch die jüngeren Jahrgänge zu einem „freiwilligen Fronteinsatz“ nötigten. Sebastian Pumberger macht in seinen Ausführungen zu den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten darauf auf- merksam, dass sich fallweise ganze Klassen zu einem vorgezogenen Kriegsdienst mel- deten.948 Laut den Erzählungen meines Großvaters hatte man ihm und seinen Klassen- kollegen seitens der Schulleitung nahegelegt, sich der SS anzuschließen. Dies erklärt sich aus der im Laufe der Jahre immer stärker werdenden Anbindung der NPEAs an die SS. Seitens diverser anderer Organisationen, beispielsweise seitens der Wehrmacht, der SA und der HJ war ebenfalls versucht worden, auf die NPEAs einzuwirken, um so den eigenen Fortbestand zu sichern. Die SS erwies sich jedoch im Machtkampf um die Einflussnahme auf die Napolas am erfolgreichsten.949 Bereits 1934 hatte der SS- Reichsführer, , die Finanzierung der Ausrüstung und Bekleidung der „Jungmannen“ übernommen. Ab März 1936, mit der Ernennung August Heißmeyrs, dem Leiter des SS Hauptamtes, zum Inspektor der NPEAs, verstärkten sich seine Ma- chansprüche.950 Folglich war es nicht verwunderlich, dass viele Napola-Schüler der SS beitraten. In den Schilderungen über seine Napola-Zeit betont mein Großvater stets, dass er sich bewusst gegen einen Eintritt in die SS entschied. Als Grund dafür nennt er eine persönliche Abneigung gegenüber einigen Erziehern der Anstalt, die der SS ange- hörten: „Eingerückt bin ich zur Göring Division, weil ich nicht zur SS wollte, weu a poar unserer Erzieher so wie ma heit sagt goschert woarn und freiwillig melden mussten wir uns, oiso bin ich zur Göring Division gekommen.“951

Wie sich den Dokumenten meines Großvaters entnehmen lässt, wurde er dem „Fall- schirm- Panzer- Ers.- und Ausb. (Ersatz und Ausbildungs-) Regiment 1 Hermann Gö- ring“, einer Untereinheit der „Fallschirm-Panzer-Ers. und Ausb. Brigade Hermann Gö- ring“, zugeteilt.952 Dieses wiederum war dem „Fallschirm-Panzerkorps Hermann Gö- ring“ unterstellt, dessen Ursprünge bis in die 1930er Jahre zurückreichen. Im Oktober

948 Pumberger, Führen und gehorchen, 188. 949 Baumeister, NS-Führungskader, 26. 950 Scholtz, NS-Ausleseschulen, 89. 951 Interview mit Gerhard Siegmund. 952 Kriegsgefangenen-Formular, ausgestellt für Gerhard Siegmund, 9. 6. 1945, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012. 388

1942 war die „Flakbrigade Hermann Göring“, die aus dem „(Flak-)Regiment General Göring“ und dem „Schützenregiment General Göring“ entstanden war, zur „Division Hermann Göring“ erweitert worden. Aus den Resten der größtenteils in Tunis vernich- teten Truppen ging im Jahr 1943 in Sizilien eine neue „Division Hermann Göring“ her- vor, die im September 1944 gemeinsam mit anderen Truppen zum „Fallschirm-Panzer- korps Hermann Göring“ zusammengefasst wurde.953 Letzeres war formal den deut- schen Luftstreitkräften unterstellt. Namensgeber der Division war der Oberbefehlsha- ber der deutschen Luftwaffe, Hermann Göring. Die Einheiten des „Fallschirm-Panzer- korps Hermann Göring“ kamen einerseits in Italien, andererseits an der Ostfront zum Einsatz.954 Die Einheit meines Großvaters war im an der Weichsel gelegenen Landkreis Rippin (Westpreußen) stationiert, der dem Wehrkreis XX (Danzig) angehörte. Bereits im Dezember 1944 war es zu einer massiven Schwächung der deutschen Truppen an der Weichselfront gekommen. Verantwortlich dafür war einerseits die am 16. 12. 1944 gestartete „Ardennenoffensive“, die letzte Großoffensive der deutschen Wehrmacht im Westen. Andererseits spielten hier auch die aktuellen Entwicklungen am Kriegsschau- platz Ungarn eine bedeutende Rolle. Nachdem es der Roten Armee am 24. 12. 1944 gelungen war, Budapest einzuschließen, entschied sich die militärische Führung des Dritten Reiches Anfang Jänner zur Durchführung einer Gegenoffensive.955 Die beiden als Entsatzoffensiven gedachten militärischen Operationen der Deutschen machten den Abzug von Reservekräften notwendig. Schließlich verblieben lediglich fünf Panzer- divisionen an der Weichselfront. Die Sowjets hingegen verstärkten ihr Truppenkontin- gent an der Weichsel zusehends, so dass sich Anfang Jänner 1945 bereits eine klare zahlenmäßige Überlegenheit gegenüber den Deutschen abzeichnete. Am 12. 1. gelang der Roten Armee der Durchbruch an der Weichsel, bereits fünf Tage später, am 17. 1. wurde Warschau eingenommen. Das Vordringen der Sowjets bewirkte den Rückzug deutscher Truppen.956 Auch die Division meines Großvaters flüchtete in Richtung Wes- ten. Seiner Aussage nach wurde er aufgrund des fluchtartigen Rückzugs seiner Truppe nicht mehr in direkte Kampfhandlungen mit den Sowjets verwickelt. Schenkt man sei- nen Erzählungen Glauben, so kam es Ende Jänner zur Auflösung seiner Einheit. Den Darstellungen des Militärhistorikers Georg Tessin nach zu schließen, erfolgte der end- gültige Vernichtungsschlag der Roten Armee gegen das „Fallsch. Panzer-Ers. und Ausb. Rgt. 1 Hermann Göring“ im März 1945 in Graudenz.957 Beim Versuch, über Norddeutschland wieder nach Hause zu gelangen, geriet mein

953 Fallschirmpanzerkorps „Hermann Göring“, Das Bundesarchiv. 954 Georg Tessin, Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939-1945, Osnabrück 1980, 118-119. 955 Hans Magenheimer, Abwehrschlacht an der Weichsel 1945. Vorbereitung, Ablauf, Erfahrungen (Einzelschriften zur militärischen Geschichte des Zweiten Weltkrieges 20), Freiburg 1976, 26-31. 956 Anderson Duncan/Lloyd Clark/Stephen Walsh, Die Ostfront 1941-1945 Barbarossa, Stalingrad, Kursk und Berlin, Wien 2002, 217-221. 957 Georg Tessin, Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS, 123. 389

Großvater, seinen Schilderungen zufolge, in der Gegend von Uelzen, kurzfristig in amerikanische Gefangenschaft, aus der er jedoch fliehen konnte. Belege für diese In- ternierung existieren allerdings nicht. In weiterer Folge dürfte er über diverse Umwege nach Oberösterreich gelangt sein. Wie sich sowohl seinen Erzählungen, als auch einem Kriegsgefangenen-Formular vom 9. 6. 1945 entnehmen lässt, wurde er in der im Mühlviertel gelegenen Ortschaft Leonfelden, die von Mai 1945 bis Juli 1945 der Kon- trolle der Amerikaner unterstand958, erneut gefangen genommen.959 Laut seinen Schil- derungen gelang es ihm jedoch, sich im Rahmen der ihm zugewiesenen Funktion als Schreibkraft selbst einen Entlassungsschein auszustellen. Eine von der Polizei ausge- stellte Meldebestätigung gibt Auskunft darüber, dass Gerhard Siegmund ab 25. 6. 1945 wieder in Wien, in der Wohnung seiner Mutter, wohnhaft war.960 Im Herbst des selben Jahres begann er Medizin zu studieren. Zu Beginn des Jahres 1947 wurde mei- nem Großvater seitens der Medizinischen Fakultät der Universität Wien eine „politische Überprüfung“ angekündigt, höchstwahrscheinlich deshalb, weil er eine Napola besucht hatte.961 Am 3. 9. 1954 heiratete Gerhard Siegmund meine Großmutter, Ilse Seltenhammer. Aus der Ehe meiner Großeltern gingen drei Söhne hervor, darunter auch mein Vater, Ernst Siegmund. Nach Abschluss seines Studiums arbeitete mein Großvater zunächst als Spitalsarzt im Krankenhaus Lainz, wo er mehrere Jahre als der 2. Medizi- nischen Abteilung tätig war. In den frühen 1970er Jahren bewarb er sich für das Amt des stellvertretenden Chefarztes der Pensionsversicherungsanstalt, das er bis zu sei- ner Pensionierung ausübte.

6 Kadettenanstalt, Charakterschmiede, Lebensretter? Die Napola in der Erinnerung meines Großvaters

6.1 Idealisierende Darstellung der Napola

Wie bereits im Zuge der Einleitung angedeutet, besteht ein zentrales Anliegen der vor- liegenden Arbeit darin, das heutige Bild meines Großvaters von der Institution Napola herauszuarbeiten. Die Analyse des mit ihm geführten Interviews bestätigten mich in meiner bis dahin lediglich auf informellen Gesprächen basierenden Annahme, dass er

958 Gerhard Jagschitz, Regierungs- und Verwaltungsaufbau in Österreich 1945 im Spannungsfeld sowjetischer Besatzung, in: Andreas Hilger/Mike Schmetzer/Clemens Vollnhals (Hg.), Sowjetisierung oder Neutralität? Optionen sowjetischer Besatzung in Deutschland und Österreich 1945-1955 (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 32), Göttingen 2006, 390. 959 Kriegsgefangenen-Formular, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012. 960 Meldebestätigung für Gerhard Siegmund, 25. 6. 1945, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012. 961 Dekanat der Medizinischen Fakultät Wien an Gerhard Siegmund, Dek. Zl. 60 aus 1946/47, 30. 12. 1946, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012. 390 die Erfahrungen, die er im Rahmen seiner Napola-Zeit machte, rückblickend als durch- aus bereichernd für den weiteren Verlauf seines Lebens betrachtet. Dementsprechend positiv fällt auch seine Bewertung der NPEA als Erziehungseinrichtung aus. Der päd- agogische Verdienst der NPEAs bestand den Schilderungen meines Großvaters zufolge darin, den Jugendlichen moralische Werte zu vermitteln, die sie dabei unterstützen sollten, zu ehrbaren Menschen heranzuwachsen und sich im späteren Leben zu be- währen. In diesem Zusammenhang hebt er Werte wie „Kameradschaft“, „Aufrichtig- keit“ sowie eine „verantwortungsbewusste Haltung gegenüber dem weiblichen Ge- schlecht“ in besonderer Weise hervor, ein Umstand, auf den im Rahmen des nächsten Kapitels meiner Arbeit noch näher eingegangen werden soll. Charakteristisch für das Bild meines Großvaters von der Napola ist auch sein Bestreben die NPEAs den „Kadettenanstalten“ gleichzusetzen: „Na es war ja auch so, oiso wenn einer Kadettenschüler woar, aus da Monarchiezeit, so woar des was Positives … ja.“962

Die von Klaus Schmitz durchgeführte Studie zur deutschen Bildungsgeschichte lässt darauf schließen, dass tatsächlich gewisse Parallelen zwischen den genannten Erzie- hungseinrichtungen bestanden.963 Schneider, Stillke und Leineweber führen dies vor allem darauf zurück, dass man im Zuge der Errichtung der Napolas Anleihe an Kon- zepten diverser renommierter schulischer Institutionen nahm.964 Neben den Kadetten- anstalten spielten hierbei auch die „Landeserziehungsheime“ und die „Public School“ eine bedeutende Rolle. Die Leitbildfunktion der Kadettenanstalten äußerte sich vor al- lem im Bemühen der NPEAs um die Wahrung einer soldatischen Tradition. Letztere kam sowohl in der Hochhaltung von militärischen Tugenden wie „Gehorsam“, „Zucht“ und „Ordnung“ zum Ausdruck als auch in der Betonung einer praktischen vormilitäri- schen Erziehung.965 Abgesehen von diversen wehrsportlichen Übungen, auf die bereits an anderer Stelle Bezug genommen wurde, manifestierte sich diese auch in der Übernahme militärischer Organisationsformen, sowie im Hinblick auf die vorherrschenden Kleidungsvorschrif- ten. Hinsichtlich der Zielsetzung und Organisation bestanden jedoch wesentliche Un- terschiede zu den Kadettenanstalten. Zum einen waren letztere daraufhin ausgerich- tet, ihre Schüler auf eine Offizierslaufbahn vorzubereiten, wohingegen den Absolven- ten der Napola bis 1944 die Berufswahl freigestellt wurde. Zum anderen legten die NPEAs, im Gegensatz zu den Kadettenanstalten, starkes Gewicht auf die politische Er-

962 Interview mit Gerhard Siegmund. 963 Klaus Schmitz, Militärische Jugenderziehung. Preußische Kadettenhäuser und Nationalpolitische Erziehungsanstalten zwischen 1807 und 1936 (Veröffentlichung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung, Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte 67), Köln-Weimar-Wien 1997, 297. 964 Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, 36. 965 Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, 247. 391 ziehung und ideologische Formung der Schüler.966 Ziel war die Verinnerlichung der nationalsozialistischen Weltanschauung als Basis für eine dem „Führerwillen“ entspre- chende Denk- und Handlungsweise.967 Die Tendenz vieler ehemaliger Napola-Schüler, die NPEAs mit Kadettenanstalten gleichzusetzen, impliziert eine Ausblendung dieser im Zusammenhang mit den NPEAs bedeutsamen ideologischen Komponente. So sehr mein Großvater im Rahmen seiner Erzählungen darauf bedacht scheint, die Nähe zwischen den Kadettenanstalten und den NPEAs aufzuzeigen, so sehr bestreitet er jegliche Ähnlichkeit der Napolas mit den Adolf-Hitler-Schulen: „Oiso (,) die Mähr, die Erzählung, dass man geglaubt hat, da kommen nur die Kinder von Parteifunktionären hin, des is ned woahr, des hat hechstens .. des hat nur gegolten, für die sogenannten Adolf-Hitler-Schulen.“968

Unmissverständlich wird im Rahmen dieser Aussage der Wunsch meines Großvaters deutlich, die NPEAs von den Adolf-Hitler-Schulen abzugrenzen. Dieses Bedürfnis lässt sich einerseits aus der Konkurrenz zwischen den beiden Erziehungseinrichtungen er- klären, ist andererseits jedoch auch darauf zurückführbar, dass nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Adolf-Hitler-Schulen im öffentlichen Raum weitaus negativer bewertet wurden als die Napolas. Neben der seiner Ansicht nach positiven Wirkung der Napola auf die Charakterformung der Jugendlichen schreibt mein Großvater der NPEA auch eine lebensrettende Funktion zu. Mehrmals verlieh er im Rahmen des durchgeführten Interviews seiner Überzeu- gung Ausdruck, dass er ohne den Besuch der NPEA den Krieg nicht überlebt hätte: „Summarisch muss i sogn: Wäre ich nicht in der Napola gewesen, hätt ich den Krieg nicht überlebt.“

Mit diesen und ähnlichen Aussagen spielt er, wie der Erzählkontext entsprechender Be- merkungen erkennen lässt, auf das harte physische Training an, dem die Schüler der NPEAs ausgesetzt waren. Eingang in die Schilderungen meines Großvaters finden hier- bei Berichte über ausgedehnte Nachtmärsche mit Gepäck, die Überquerung der Do- nau, sowie Ausführungen zu den täglichen Exerzierübungen. Wie bereits im Rahmen des vorhergehenden Kapitels angemerkt, lassen die Schulzeugnisse meines Großva- ters darauf schließen, dass seine physische Leistungsfähigkeit im Vergleich zu seinen Altersgenossen eher unterdurchschnittlich war. Seine Bemerkungen zu den wehrsport- lichen Übungen in der Napola scheinen diesen Eindruck zu bestätigen. Umso schwerer dürfte es ihm gefallen sein, dem Leistungsdruck, der in der Anstalt im Hinblick auf die körperliche Ertüchtigung herrschte, standzuhalten. Dennoch klagt er im Rahmen sei- ner Erzählungen kaum über die hohen Anforderungen, die diesbezüglich an ihn ge-

966 Ueberhorst, Elite für die Diktatur, 38-39. 967 Gelhaus/Hülter, Die Ausleseschulen als Grundpfeiler des NS-Regimes, 52. 968 Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Interview mit Gerhard Siegmund. 392 stellt wurden. Die wenigen subtilen Unmutsäußerungen in diesem Kontext werden ent- weder durch humorvolle Äußerungen entschärft, oder aber, wie bereits angemerkt, mit dem Verweis darauf abgetan, dass ohne derartige Maßnahmen ein Überleben im Krieg nicht möglich gewesen wäre. Auffallend im Bezug auf die durchgängig positive Bewertung der Napola seitens mei- nes Großvaters ist der Kontrast zu den Darstellungen anderer Napola-Schüler. Sowohl diverse Zeitzeugenberichte von „Ehemaligen“ als auch die geschichtswissenschaftli- chen Darstellungen zu den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten weisen darauf hin, dass Gewalt, Demütigung und Drill in den NPEAs an der Tagesordnung standen. Den- noch finden Erlebnisberichte, die dies bestätigen würden, keinen Eingang in die Erzäh- lungen meines Großvaters. Seine Darstellung der Napola vermittelt vielmehr das Bild einer idealen Erziehung, die als Basis für Erfolge im späteren Leben diente, sowohl auf privater als auch auf beruflicher Ebene. Den Schilderungen von Schneider, Stillke und Leineweber zu Folge, die im Rahmen von Gesprächen mit ehemaligen Napola- Schü- lern mit ähnlichen Bildern der NPEA konfrontiert wurden, handelt es sich hierbei um eine nachträgliche Idealisierung der genannten Erziehungseinrichtung, welche die rea- len Bedingungen, die an den Anstalten vorherrschten, ausblendet.969

6.2 Faktoren, die zur Entwicklung eines positiven Napola-Bildes beitrugen

Eine bedeutende Frage, die sich im Zusammenhang mit der idealisierten Darstellung meines Großvaters von der Napola aufdrängt ist, wie diese zustande kam. Obwohl es aufgrund der dieser Fragestellung anhaftenden Komplexität fast unmöglich scheint, eine hinreichende Antwort auf diese zu finden, soll in der Folge dennoch der Versuch unternommen werden, Faktoren zu eruieren, die zur Entwicklung besagten Bildes bei- getragen haben. Mitgrund dafür, dass mein Großvater die Napola in so positiver Weise darstellt, ist si- cherlich der Umstand, dass er bis heute Sympathien für gewisse, im Rahmen des NS- Systems propagierte Ideologien hegt. Seine Äußerungen im Bezug auf die NS-Zeit er- wecken zwar den Eindruck, dass er den Krieg und die Grausamkeiten, die seinen Dar- stellungen zufolge auf beiden Seiten passiert sind, kritisiert, lassen jedoch eine Verur- teilung des NS-Regimes vermissen. In Gesprächen über die NS-Zeit weist er stets dar- auf hin, dass die politische Führung des Dritten Reiches heute in der Öffentlichkeit vor allem deshalb so scharf kritisiert wird, weil der Krieg verloren wurde. Die Aussage „Der Sieg hat viele Väter, die Niederlage nur einen“, die er in diesem Zusammenhang gerne tätigt, impliziert eine Relativierung der vom NS-Regime initiierten und begange-

969 Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, 36. 393 nen Gräueltaten. Die Erziehung in der Napola, die auf der nationalsozialistischen Weltanschauung aufbaute, dürfte großen Anteil daran gehabt haben, dass mein Großvater eine positive Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus entwickelte. In diesem Kontext muss auch darauf hingewiesen werden, dass es, wie Ralph Schörken im Rahmen seines Werkes „Die Niederlage als Generationserfahrung“ verdeutlicht, für Jugendliche, die so eindringlich mit nationalsozialistischem Gedankengut konfrontiert worden waren, besonders schwer gewesen sein dürfte, sich nach der Niederlage von diesem zu lösen und neu zu orientieren.970 Sowohl der Besuch der Napola, als auch die damit verbundene Infiltrierung mit natio- nalsozialistischen Ideologien entschuldigen jedoch nicht den Umstand, dass mein Großvater seine positive Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus bis heute nicht abgelegt hat. Am Beispiel anderer ehemaliger NS-Ausleseschüler, die sich gegen- wärtig sowohl vom Nationalsozialismus selbst als auch von dem im Rahmen der „na- tionalpolitischen Erziehung“ vermittelten ideologischen Gedankengut distanzieren, wird deutlich, dass eine Abkehr von im Jugendalter indoktrinierten Werten und politi- schen Ideologien sehr wohl bewerkstelligt werden kann. Voraussetzung dafür ist je- doch die Anerkennung der Niederlage des NS-Systems und zwar nicht nur im Hinblick auf die Tatsache, dass der Krieg verloren wurde, sondern auch im Sinne einer kriti- schen Hinterfragung des Regimes und den von diesem vermittelten Wertvorstellungen. Einer solchen Umorientierung, die einen persönlichen Willensakt seitens der Betroffe- nen erfordert, hat sich mein Großvater bisher verwehrt. Dementsprechend findet sich bei ihm auch keine Verurteilung sondern eine positive Bewertung nationalsozialisti- scher Erziehungseinrichtungen. Neben der bis heute ausständigen Distanzierung ge- genüber dem Nationalsozialismus dürften auch die speziellen familiären Bedingungen, denen Gerhard Siegmund in seiner Kindheit bzw. Jugendzeit ausgesetzt war, dazu bei- getragen haben, dass er ein positives Bild von der Napola entwickelte. Wie im Rahmen des vorigen Kapitels bereits erwähnt wurde, dauerte die Ehe seiner Eltern nur wenige Jahre an. Nach der Scheidung bestand kein Kontakt zum Vater und seine Mutter war zu beschäftigt, um sich hinreichend um ihren Sohn zu kümmern. Seinen Erzählungen zufolge bestand zwar eine innige Beziehung zu den Großeltern mütterlicherseits, den- noch dürfte die NPEA für meinen Großvater als eine Art Ersatz- bzw. Zweitfamilie fun- giert haben. Eine weitere Bestätigung erfuhr die positive Sichtweise meines Großvaters auf die Na- pola dadurch, dass sich verhältnismäßig viele Napola-Schüler in ihrem späteren Leben beruflich sehr erfolgreich zeigten. Viele von ihnen nahmen Führungspositionen in Wirt-

970 Rolf Schörken, Die Niederlage als Generationserfahrung. Jugendliche nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft (Materialien zur Historischen Jugendforschung), München 2004. 13. 394 schaft, Politik, Journalismus und anderen öffentlichkeitswirksamen Berufsfeldern ein.971 Dieser Umstand, der sich sowohl im Hinblick auf Deutschland als auch auf Österreich feststellen lässt, bekräftigt die unter ehemaligen Napola-Schülern nicht selten anzu- treffende Auffassung, die Erziehung in der NPEA habe sie optimal auf das Leben vor- bereitet. Darüber hinaus kann die positive Darstellung der Napola auch als eine Art Abwehrme- chanismus gegen Urteile und Anschuldigungen gedeutet werden, mit der ehemalige NS-Eliteschüler aufgrund ihrer Napola-Vergangenheit konfrontiert wurden. Zwar ver- neinte mein Großvater im Rahmen des mit ihm durchgeführten Interviews die Frage, ob er aufgrund des Besuchs einer NPEA jemals Anfeindungen erfahren hat: „Des hat mir eigentlich immer nur weiter geholfen, oiso niemois, (,) oiso nie- mois hat ma des oiso geschadet.“972

Diverse im Rahmen des Interviews getroffene Bemerkungen seinerseits lassen jedoch darauf schließen, dass er mit der Offenlegung seiner Napola-Vergangenheit sehr wohl auch auf negative Reaktionen stieß: „Des, des woar ned so, wie sie die Trottln des vorgstöt ham, dass mir mit am Messer im Mund umadumgrennt san, wo is a Jud, den ma dastechen kenna.“

Auch im Hinblick auf mein Forschungsvorhaben äußerte er Bedenken, dass es dabei si- cher nur darum gehe, die Napola in einem schlechten Licht darzustellen. Den Hinter- grund solcher Aussagen bildet vermutlich die negative Bewertung, die die Napola ge- genwärtig durch diverse Medien erfährt. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei dem Fernsehen zu, das seit den 1990er Jahren vermehrt Dokumentationen zur NS- Zeit ausstrahlt. In diesen wird zuweilen auch auf die NPEAs Bezug genommen, wobei häufig auch ehemalige Schüler zu Wort kommen. Aber auch der 2004 in Deutschland produzierte Spielfilm „Napola-Elite für den Führer“ nahm Einfluss auf das in der Öf- fentlichkeit vorherrschende Bild von der Institution Napola.

7 Mentale Prägung durch die Napola

Eine zentrale These der vorliegenden Arbeit ist, dass die Erziehung in den Nationalpoli- tischen Erziehungsanstalten das weitere Leben ehemaliger Napola-Schüler nachhaltige prägte. Im Rahmen des folgenden Kapitels soll anknüpfend an einleitende Anmerkun- gen zur Sozialisationsfunktion der Institution Schule die Sonderstellung der Napola in diesem Zusammenhang aufgezeigt werden. Darüber hinaus möchte ich untersuchen, inwiefern die Napola-Zeit meines Großvaters und die damit einhergehenden Erfahrun-

971 Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, 37. 972 Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Interview mit Gerhard Siegmund. 395 gen und Erlebnisse Einfluss auf sein späteres Leben nahmen. Bedeutsam in diesem Kontext scheint es, eine Differenzierung zwischen Selbst- und Fremdbild vorzuneh- men. Auf der einen Seite soll veranschaulicht werden, wie mein Großvater selbst im Hinblick auf etwaige Nachwirkungen seiner Napola-Zeit denkt. Auf der anderen Seite werde ich auch die im Zuge meiner Nachforschungen und Analysen gewonnen Er- kenntnisse diesbezüglich darstellen.

7.1 Schule als Ort der Sozialisation und Prägung – die Sonderstellung der Napola

Der Institution Schule kommen unterschiedliche gesellschaftliche Aufgaben zu. Neben ihrer Funktion als Bildungs-, Selektions-, und Legitimationsanstalt ist die Schule auch ein Ort der Sozialisation und nimmt als solche wesentlichen Einfluss auf Denkweisen, Wertvorstellungen und Haltungen des Individuums.973 In den NPEAs wurde ganz ge- zielt der Versuch unternommen, die Schüler zu prägen, sowohl im Bezug auf ihren Charakter als auch im Hinblick auf ihre politische Auffassung und Weltanschauung. Voraussetzung für das Gelingen dieses Vorhabens bildete die Erziehungsform des In- ternats.974 Dadurch, dass die Schüler den Großteil ihrer Zeit in den Anstalten verbrach- ten, konnte die Wirkung äußerer Einflüsse, beispielsweise seitens der Familie oder des Bekanntenkreises, reduziert werden. Ziel stellte es, wie bereits andernorts ausgeführt, dar, eine führertreue Elite heranzubilden, die dafür Sorge tragen sollte, der nationalso- zialistischen Gesinnung in möglichst allen gesellschaftlichen Bereichen zur praktischen Umsetzung zu verhelfen.

7.2 Selbstbild

Wie sich einerseits im Zuge des lebensgeschichtlichen Interviews, andererseits auch in vorangehenden informellen Gesprächen mit meinem Großvater herausstellte, vertritt er die Auffassung, dass die Erziehung in der Napola ihn primär in Hinblick auf die Ent- wicklung moralischer Wertvorstellungen prägte. Seinen Schilderungen zufolge fungier- te die Napola als eine Art Charakterschmiede, die den Jungendlichen sowohl in priva- ter als auch in beruflicher Hinsicht den Weg zu einem erfolgreichen Leben bahnte. In besonderem Maße betont er, dass die Napola-Schüler seitens der Erzieher zu einem verantwortungsvollen Umgang mit dem weiblichen Geschlecht angehalten wurden.

973 Roland Reichenbach, Die Tugend der Dissenstauglichkeit: Schule und Pluralität, in: Marian Heitger (Hg.), Wozu Schule? (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, Neue Folge 76), Innsbruck-Wien 2002, 22. 974 Scholtz, NS-Ausleseschulen, 7. 396

Dieser implizierte seiner Aussage nach unter anderem die Forderung, im Falle der Zeugung eines Kindes, die Kindesmutter zu heiraten und dafür Sorge zu tragen die eheliche Verbindung ein Leben lang aufrecht zu erhalten: „Mitgegeben hat ma uns wie gsagt, des Vahoitn zum ondern Geschlecht, dass ma imma .. wie i scho gsagt hab, a Frau ka Spüzeig is und dass ma Konsequen- zen zu trogn hat. Und, und keine Scheidung, (.) des Wort hats nicht gegeben. Und meine (,) äh Kameraden die heite des überlebt ham, san alle ihren Frauen treu geblieben, es hat sie kana scheiden lassn. Oiso insofern woar des scho sehr prägend, aber des is uns dort eingeimpft wordn.“975

Ähnliche Darstellungen im Bezug auf die in der Napola vermittelten Wertvorstellungen finden sich bei einem ehemaligen Schüler der NPEA Traiskirchen, der ebenfalls das Verhalten gegenüber Frauen als einen Kernpunkt der moralischen Erziehung in den NPEAs hervorhebt: „Wir wurden dazu erzogen, das andere Geschlecht als „hoch und hehr“ zu be- trachten und uns überall so zu benehmen.“976

Wie mein Großvater verweist auch er darauf, dass die meisten Ehen seiner ehemaligen Klassenkollegen nicht geschieden wurden. Durch die Positionierung dieser Aussage ganz am Ende seiner Ausführungen bringt er zum Ausdruck, dass er diesen Umstand als Folgeerscheinung der Erziehung betrachtet, die ihm und seinen Schulkameraden in der Napola zu Teil wurde: „Zum Abschluß (sic!) möchte ich noch ergänzen: Von den 15 Jungmannen mei- nes Zuges (Klasse), welche den Krieg überlebten, waren alle verheiratet, nur ei- ner wurde geschieden.“977

Die Vermutung ehemaliger Napola-Schüler, dass die Erziehung in den Nationalpoliti- schen Erziehungsanstalten eine positive Auswirkung auf die Dauerhaftigkeit ihrer Ehen hatte, lässt sich nicht belegen. Die Entwicklung der Scheidungsrate in Österreich zeigt jedoch, dass die Gesamtscheidungsrate in den beiden Jahrzehnten nach 1945, abge- sehen von einem kurzfristigen, steilen Anstieg direkt nach Kriegsende, im Vergleich zu den Folgejahrzehnten relativ niedrig war.978 Folglich liegt der Schluss nahe, dass die geringe Scheidungsrate unter den Napola-Kollegen meines Großvaters weniger als eine direkte Folge der Napola-Erziehung, sondern vielmehr als Teil eines gesamtgesell- schaftlichen Phänomens betrachtet werden muss. Einen massiven, stetigen Anstieg er- fuhr die Scheidungsrate, ähnlich wie in Deutschland, erst Ende der 1960er Jahre. Der Soziolge Helmut Klages begründet diese Entwicklung mit einem „Wertwandelsschub“, der „im Wandel von Pflicht- und Selbstentfaltungswerten

975 Interview mit Gerhard Siegmund. 976 Interview mit D. R., in: Herbert Kocab, Die Nationalpolitische Erziehungsanstalt. Eine Ausleseschule als Herrschaftsmittel des NS-Regimes, Dipl. Arb., Wien 1993, 125. 977 Ebd., 143. 978 Ehescheidungen, Scheidungsrate und Gesamtscheidungsrate seit 1946, Statistik Austria, URL: https://www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/scheidungen/index.html (abgerufen am 25. 5. 2013). 397

seinen Ausdruck fand und auch zu Veränderungen in den subjektiven Eheauffas- sungen führte.“979

Ein weiterer Wert, der den Schilderungen Gerhard Siegmunds zufolge in der NPEA be- sonders hervorgehoben wurde, war die aufrichtige Haltung gegenüber den Mit- menschen: „Denn einen Erzieher zweimal anlügen woar gleichzeitig mit dem Ausscheiden aus der Napola, (.) oiso a des woar ned gfrogt.“980

Auch im Hinblick auf diese Aussage finden sich Parallelen zu den Erzählungen des be- reits zuvor genannten ehemaligen Schülers der NPEA Traiskirchen: „Wir hatten im Keller des Hauptgebäudes Lebensmittelmagazine, welche durch Lattenverschlag abgesichert waren. Schüler einer höheren Klasse stahlen dort Äpfel. Sie wurden sofort entlassen.“981

Beide Darstellungen erwecken den Eindruck, dass man in den NPEAs großen Wert auf die Aufrichtigkeit der Schüler legte und ein diesbezügliches Fehlverhalten entspre- chend hart bestraft wurde. Die Auffassung meines Großvaters, dass diese Forderung nach einer ehrlichen Grundhaltung Auswirkungen auf sein späteres Leben hatte, wird unter anderem in der folgenden Passage des mit ihm geführten Interviews deutlich. Diese lässt erkennen, dass er sein, seinen Angaben nach redliches Verhalten im Be- rufsleben, als Nachwirkung der Napola-Erziehung betrachtet: I: „Würdest du sagen, dass sich der Umstand, dass du in der Napola warst, auf dein späteres Leben, vielleicht auch in beruflicher Hinsicht, ausgewirkt hat?“

GS: „Sicha, oberster Grundsatz woar: Man .. man betrügt niemand und als Chefarzt, i hab ja nie jemandem was weg (,) weggenommen, was ma (,) äh, was ma äh, jede Form von Bestechung hab i oiso entrüstet zurückgewiesen .. nedwoar, dadurch hab i a nix (Lachen), kane Besitztümer, und hab ma .. hab ma a nix ongeeignet, ja..“982

Neben dem ehrbaren Verhalten gegenüber dem weiblichen Geschlecht und einer auf- richtigen Haltung zählte laut den Schilderungen meines Großvaters auch Kamerad- schaft zu den moralischen Grundsätzen, die in der Napola vermittelt wurden. Schnei- der, Stillke und Leineweber machen im Rahmen ihrer Darstellungen zu den NPEAs dar- auf aufmerksam, dass beinahe alle der von ihnen interviewten ehemaligen Napola- Schüler den in den Anstalten herrschenden Gemeinschaftssinn in besonderer Weise hervorhoben.983 In diesem Kontext verweisen sie auf den einstigen Napola-Zögling Ha- rald Völklin. Dieser zeigte sich im Rahmen des mit ihm geführten biographischen Ge-

979 Gitta Scheller, Wertwandel und Anstieg des Ehescheidungsrisikos? Eine qualitative Studie über den Anspruchs- und Bedeutungswandel der Ehe und seine Konsequenzen für die Ehestabilität (Soziologische Studien 9), Pfaffenweiler 1992, 14-15. 980 Interview mit Gerhard Siegmund. 981 Interview mit D. R., 130. 982 Interview mit Gerhard Siegmund. 983 Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, 63. 398 sprächs davon überzeugt, dass in der NPEA die Basis für die Entwicklung eines Teamgeistes geschaffen wurde, der sich für seine spätere berufliche Laufbahn als be- deutsam erwies.984 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Gerhard Siegmund gemäß dem ideali- sierten Bild, das er von der Napola zeichnet, davon ausgeht, dass ihn die Zeit in der NPEA Wien Theresianum ausschließlich in positiver Weise geprägt hat. Der Gedanke, dass die Napola-Erziehung auch negative Auswirkungen auf seine persönliche Entwick- lung bzw. auf sein späteres Leben gehabt haben könnte, findet keinen Eingang in sei- ne Darstellungen. Meine Frage, ob in den Anstalten politischer Einfluss auf die Schüler ausgeübt wurde, verneinte er entschieden. Auf diese unter ehemaligen Napola-Schü- lern durchaus verbreitete Auffassung und deren Hintergründe soll zu einem späteren Zeitpunkt noch genauer eingegangen werden.

7.3 Fremdbild

Im Rahmen des vorhergehenden Abschnitts meiner Arbeit wurde der Versuch unter- nommen, die Perspektive meines Großvaters hinsichtlich seiner Prägung durch die Na- pola herauszuarbeiten. Im nun folgenden Teil möchte ich meine eigene Sichtweise diesbezüglich darstellen. Hierzu sei angemerkt, dass lediglich Vermutungen darüber angestellt werden können, inwiefern die Erziehung in der Napola Auswirkungen auf das spätere Leben meines Großvaters hatte bzw. immer noch hat. Die in diesem Zu- sammenhang getroffenen Annahmen basieren einerseits auf Recherchen zur Instituti- on Napola, andererseits auf der Lebensgeschichte meines Großvaters und dem mit ihm geführten Interview. Ziel stellt es dar, grundlegende Denkweisen, Wertvorstellun- gen und Haltungen zu eruieren, die durch seine Erziehung in der NPEA mitgeprägt wurden, wobei kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird. Die Formulierung „mit- geprägt“ verwende ich an dieser Stelle ganz bewusst. Sie soll zum Ausdruck bringen, dass auch andere Faktoren jenseits der NPEA Einfluss auf die Entwicklung besagter Denkweisen, Wertvorstellungen und Haltungen nahmen. In diesem Kontext sei auf Margit Reiter und ihre Forschungen zum Nationalsozialismus im Familiengedächtnis verwiesen. Die Zeithistorikerin macht darauf aufmerksam, dass die Kinder bzw. Enkelkinder jener Generation, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat, dazu neigen, bestimmte Wesenszüge ihrer Eltern bzw. Großeltern unreflektiert auf den Nationalsozialismus bzw. auf eine Verstrickung in NS-Ideologien zurückführen. Reiter betont jedoch, dass bestimmte Prägungen und Strukturen, die als durch nationalsozia- listische Ideologien geprägt wahrgenommen werden, bereits vor der Machtübernahme

984 Ebd., 137. 399 der Nationalsozialisten fest in der Gesellschaft verankert waren und keineswegs ein NS-Monopol darstellten, auch wenn sie im Kontext des Nationalsozialismus eine besondere Ausformung erfuhren.985 Einen Wesenszug meines Großvaters, den ich, wenn auch nicht ausschließlich, als Nachwirkung seiner Napola-Vergangenheit betrachte, ist seine in Gesprächen mit ihm immer wieder zum Ausdruck kommende Auffassung, einer elitären Schicht anzugehö- ren. Diese Annahme stützt sich nicht etwa auf den Besitz materieller Güter, sondern vielmehr auf die Vorstellung, aufgrund moralischer Qualitäten und beruflicher Leistun- gen der breiten Masse überlegen zu sein. Wie sich bisherigen geschichtswissenschaftli- chen Studien zur Napola entnehmen lässt, spielte die Vermittlung eines Elitebewusst- seins in den NPEAs eine ganz wesentliche Rolle. Das Gefühl der Schüler, etwas Beson- deres zu sein, speiste sich unter anderem aus der Gewissheit, zu den wenigen „Auser- wählten“ zu gehören, die eine solche Einrichtung besuchen durften.986 Im Rahmen des Aufnahmeverfahrens mussten die Schüler, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, ne- ben ihrer „rassischen Tauglichkeit“ auch ihre körperliche und geistige Leistungsfähig- keit unter Beweis stellen. Laut dem Zeitzeugenbericht von Harald Ofner trug auch der Stolz darüber, das harte Leben in der NPEA auszuhalten, dazu bei, dass die Napola- Schüler eine Art Herrenbewusstsein entwickelten.987 Seitens der Anstalten versuchte man unter anderem durch eine gezielte Förderung des Gruppenbewusstseins derartige Prozesse zu fördern.988 Die Vorstellung der Napola-Schüler einer elitären Gemeinschaft anzugehören fand zum einen in der Anfertigung spezieller Uniformen Ausdruck, durch die sie sich von anderen Jugendorganisationen abhoben.989 Andererseits spiegelte sich diese auch in der abwehrenden Haltung der NPEAs gegenüber den Adolf-Hitler-Schulen und der Hitlerjugend wider. Das für die damalige Zeit ungewöhnlich vielfältige Angebot an exklusiven Sportarten sowie die paramilitärische Ausbildung und der damit verbun- dene Drill waren ausschlaggebend dafür, dass die NPEAs auch seitens der Öffentlich- keit als Eliteschulen wahrgenommen wurden. Eng verbunden mit dem Elitedenken, das in den Anstalten vermittelt wurde, war die Erwartung an die Schüler hohe Leistun- gen zu erbringen. Die Schilderungen von Ueberhorst lassen darauf schließen, dass hierbei ein kausaler Zusammenhang hergestellt wurde. Einer elitären Gruppe durfte man sich demnach nur dann zugehörig fühlen, wenn man entsprechende Leistungen erbrachte, sei es auf physischer, intellektueller oder charakterlicher Ebene.990 Basie- rend auf dieser Schlussfolgerung waren die Napola-Schüler einer ständigen Bewäh-

985 Reiter, Die Generation danach, 72. 986 Baumeister, NS-Führungskader, 27. 987 Harald Ofner, „Wir hätten jeden Befehl bedingungslos befolgt“, in: Johannes Leeb (Hg.), „Wir waren Hitlers Eliteschüler“. Ehemalige Zöglinge der NS-Ausleseschulen brechen ihr Schweigen, Hamburg 1998, 175. 988 Gelhaus/Hülter, Die Ausleseschulen als Grundpfeiler des NS-Regimes, 61. 989 Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, 252. 990 Ueberhorst, Elite für die Diktatur, 30. 400 rungsprobe ausgesetzt. Wer den Leistungsanforderungen, auf welcher Ebene auch immer, nicht entsprach, musste mit einem Verweis von der Schule rechnen. Die starkeLeistungsorientierung an den NPEAs manifestierte sich unter anderem in dem Ausspruch: „Mehr sein als scheinen“. Diese ursprünglich vom preußischen Generalfeld- marschall Helmuth von Moltke geprägte Formulierung, der sich mein Großvater auch heute noch gerne bedient, fungierte als einer von mehreren Wahlsprüchen der Napo- las.991 Er wurde auf den Ehrendolch eingraviert, den die Schüler mit 16 Jahren erhiel- ten, ein Umstand der vermuten lässt, welche Bedeutung diesem zukam. Der große Leistungsdruck, den mein Großvater in der Napola erfuhr, dürfte im Zusam- menspiel mit anderen Faktoren dazu beigetragen haben, dass er ein unverhältnismä- ßig starkes Leistungsstreben entwickelte. Dieses äußert sich zum einen darin, dass er sich selbst sehr stark über erbrachte Leistungen definiert, kommt jedoch auch dadurch zum Ausdruck, dass er die Wertigkeit anderer Menschen an deren Leistungen fest- macht. Bedeutsam in diesem Zusammenhang erscheint, dass er fast ausschließlich berufliche Erfolge als Leistung anerkennt. Die starke Leistungsorientierung meines Großvaters wirkte sich unter anderem auch auf die Erziehung seiner Söhne aus. So- wohl mein Vater als auch einer seiner beiden Brüder gaben im Rahmen informeller Ge- spräche zur Napola-Vergangenheit meines Großvaters an, dass sie im Hinblick auf ihre beruflichen Karrieren stets einen großen Erwartungsdruck seitens ihres Vaters ver- spürten. Bezüglich der Frage, inwiefern in den NPEAs der Versuch unternommen wurde, die Zöglinge auch in politischer Hinsicht zu prägen, besteht Uneinigkeit unter ehemaligen Napola-Schülern. Während die einen den politischen Charakter der genannten Ausle- seschule hervorheben, betonen die anderen, „daß (sic!) es sich bei den Anstalten nur am Rande um politische Einrichtungen gehandelt habe“992. Gerhard Siegmund zählt, wie sich auch im Zuge des mit ihm geführten Interviews zeigte, zur letzteren Gruppe: I: „Du hast gesagt der Schwerpunkt war Sport und Schulunterricht, ist euch auch auf politischer Ebene was vermittelt worden?“

GS: „Na, an politischen Unterricht hats nicht gegeben. Na, die Erzieher ham uns hoid des vorgelebt, was ma hoid ham weidermochn soin. Und wie gsagt, es (,) es hat sie kana von meine Kameraden je scheiden lassn, ned?“993

Diese Aussage meines Großvaters widerspricht den Ergebnissen geschichtswissen- schaftlicher Forschungen zur Napola. Sowohl Ueberhorst als auch Baumeister machen im Zuge ihrer Darstellungen darauf aufmerksam, dass die Zöglinge der NPEAs im Rah- men des Schulunterrichts sehr wohl mit politischen Inhalten konfrontiert wurden. Auf

991 Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, 253. 992 Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, 36. 993 Interview mit Gerhard Siegmund. 401 der einen Seite fand die „nationalpolitische Bildung“ Eingang in bestehende Unterrichtsfächer. Vor allem in Fächern wie Biologie, Geschichte, Deutsch, Erdkunde und Kunst unterlagen die vermittelten Inhalte einer starken politischen Färbung.994 Auf der anderen Seite wurde ein eigener „nationalpolitischer Fachunterricht“ installiert, der sich jedoch auf die Oberstufe beschränkte und mit zwei Stunden wöchentlich von eher geringem Ausmaß war.995 Abseits des Schulunterrichts wurden, beispielsweise im Rahmen von Sportveranstaltungen und Festen, hochrangige NS-Funktionäre dazu eingeladen, Vorträge zu halten, die ebenfalls politischen Charakter hatten.996 Seitens der Anstalten wurde kein Hehl daraus gemacht, dass man darauf abzielte, die „Jungmannen“ auch in politischer Hinsicht zu formen. Dies wird beispielsweise in der aus dem Jahr 1938 stammenden Festschrift anlässlich der Eröffnung der Napola Stuhm deutlich: „Die Gesamterziehung der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten hat die Auf- gabe, den politischen Menschen zu formen, der von nationalsozialistischem Glauben und von seinem Wissen her in der Lage ist, später auch in den schwie- rigen Lagen richtig politisch zu urteilen und zu handeln.“997

Diverse Aussagen, die mein Großvater im Rahmen seiner Erzählungen über die Napola tätigt, lassen darauf schließen, dass die Vermittlung einer antisemitischen Haltung einen Kernpunkt der politischen Prägung in den NPEAs darstellte. Folgende Passage des mit ihm geführten Interviews scheint diesen Eindruck zu bestätigen: „Aber wie gsagt: (´) Ein Volk, ein Reich ein Führer, das Volk wird immer dürrer, der Jud wird immer fetter, Heil Hitler, unsern Retter. (Pause) Du, ganz so un- recht (,) is des ned, denk nur heit noch, was die Juden olles onstön (schnell) was die in Palästina onstön. Wie vüle Juden (,) wie vüle Juden beim (…) oiso heit a wieder beteuligt san (,) oda hast des ned mitkriagt? Schau, da Strauss Kahn, .. der woar do a so a Typ, ned? (Pause) Waßt mit die Judn, man hat uns nicht zu Mördern erzogen, aber ma hat uns nur gsagt, von denen soi ma si fernhoiten, weu die ham in ihrer Tora stehen, dassd´an Gol bescheißen derfst, des is ka Sünde, ja, oiso die ham si scho religiös versichert (,) ja, rückversi- chert. Und du sikst ja was die in Palästina unten treiben, ned? Das ist an und für sich denen ihr Land was sie besetzt ham, ned? (Pause) Na denn.“998

Seine antisemitische Haltung rechtfertigt mein Großvater mit einem Verweis auf eine vermeintliche Unredlichkeit der Juden gegenüber den Nichtjuden. Diese basiert seiner Auffassung nach auf der Tora, in der angeblich der Wortbruch von Juden gegenüber Andersgläubigen legitimiert wird, eine Behauptung, die theologisch betrachtet keines- wegs haltbar ist. Die generalisierenden, abschätzigen Bemerkungen meines Großva- ters über „die Juden“ lassen eine Verknüpfung zwischen traditionellen Formen des An-

994 Baumeister, NS-Führungskader, 38. 995 Ueberhorst, Elite für die Diktatur, 183. 996 Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, 37. 997 Festschrift zur Eröffnung der NPEA Stuhm, 1938, in: Horst Ueberhorst, Elite für die Diktatur. Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten 1933-1945. Ein Dokumentarbericht, Düsseldorf 1969, 180. 998 Interview mit Gerhard Siegmund. 402 tisemitismus und einem „Sekundären Antisemitismus“ erkennen. Zum „traditionellen Antisemitismus“ zählen sowohl der „religiöse Antisemitismus“ als auch der „Ras- senantisemitismus“999, die mein Großvater in seinen Aussagen über die Juden undiffe- renziert miteinander vermengt. Als Ausdruck eines traditionellen Antisemitismus können beispielsweise die mit rassis- tischen und religiösen Vorurteilen behafteten Judenwitze gewertet werden, die er in Gesellschaft gerne erzählt. Der Versuch hingegen, seine Vorbehalte gegenüber Juden mit der israelischen Politik zu begründen und zu legitimieren, ist Ausdruck eines „Se- kundären Antisemitismus“. Der Begriff des Sekundären Antisemitismus wurde zu Be- ginn der 1950er Jahre von Peter Schönbach, einem engen Mitarbeiter Theoder W. Ad- ornos, geprägt und bezeichnet laut Wolfgang Benz eine „subtilere, indirekte Form der Judenfeindschaft“.1000 Vorrangiges Ziel dieser speziellen Form des Antisemitismus ist die Schuldabwehr bzw. -umkehr. Mittels unterschiedlicher Strategien versuchen Vertreter eines Sekundären Antisemitismus die Verbrechen des Holocausts und die damit einhergehende Schuld Deutschlands und Österreichs zu relativieren. Dies geschieht, wie anhand des oberhalb angeführten Zitats meines Großvaters deutlich wird, beispielsweise, indem auf ein einseitiges Fehlverhalten der Israelis gegenüber den Palästinensern hingewiesen wird. Verbrechen des NS-Regimes an den Juden werden mit Vergehen der Israelis an den Palästinensern verglichen und aufgerechnet.1001 Im Hinblick auf den traditionellen Antisemitismus scheint es naheliegend, dass dieser durch die Erziehung Gerhard Siegmunds in der Napola mitgeprägt wurde. Der Sekun- däre Antisemitismus hingegen kann nicht als direkte Prägung durch die Napola gedeu- tet werden, zumal sich diese spezielle Ausformung der Judenfeindlichkeit erst nach 1945 herausbildete.

8 Schlussbetrachtung und Ausblick

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde einerseits der Versuch unternommen, die Lebensgeschichte meines Großvaters, speziell jenen Zeitraum, den er als Schüler der NPEA Wien Theresianum verbrachte, nachzuzeichnen. Die Verknüpfung von Familienerzählungen, relevantem Quellenmaterial und dem historischem Kontext ermöglichte es, einzelne, im Familiengedächtnis kursierende Episoden über seine Napola-Zeit bzw. Kriegserlebnisse chronologisch zu ordnen und in einen

999 Steven Beller, Antisemitismus (Reclams Universal-Bibliothek 18643), Stuttgart 2009, 105. 1000 Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Gesellschaft und Gegenwart (Begriffe, Theorien, Ideologien 3), Berlin-New-York 2010, 300-301. 1001 Reiter, Die Generation danach, 61. 403

Zusammenhang zu bringen. Andererseits wurde der Frage nachgegangen, wie mein Großvater die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten aus heutiger Sicht bewertet. Die Analyse des lebensgeschichtlichen Interviews ergab, dass er ein ausschließlich positives Bild von der genannten Erziehungseinrichtung zeichnet, wobei darauf aufmerksam gemacht wurde, dass unterschiedliche Faktoren an der Entstehung dieses Bildes beteiligt waren. Neben der speziellen familiären Situation und seiner bis heute ausstehenden Distanzierung von nationalsozialistischen Ideologien spielten hierbei auch äußere Umstände, wie der berufliche Werdegang ehemaliger Napola-Schüler und die nachträgliche Bewertung der Institution durch diverse Medien eine entscheidende Rolle. Darüber hinaus konnte am Beispiel meines Großvaters verdeutlicht werden, dass die Erziehung in den NPEAs das weitere Leben ehemaliger Napola-Schüler nachhaltig prägte. Hinsichtlich der Frage, inwiefern die Zeit in der Napola Nachwirkungen auf seine Persönlichkeitsentwicklung zeigte, wurde festgestellt, dass hierbei eine Differenzierung zwischen Selbst- und Fremdbild vorgenommen werden muss. Während mein Großvater selbst davon ausgeht, dass die Erziehung in der NPEA ihn lediglich im Hinblick auf die Ausbildung moralischer Qualitäten geprägt hat, kam ich im Zuge der Beschäftigung mit seiner Biographie, der Analyse des durchgeführten lebensgeschichtlichen Interviews, sowie durch eine Auseinandersetzung mit der Institution Napola zu dem Schluss, dass der Besuch besagter Schule auch die Entwicklung diverser Denkweisen, Wertvorstellungen und Haltungen mitprägte. In diesem Zusammenhang wurde zum einen auf die starke Leistungsorientierung und das Elitedenken meines Großvaters, zum anderen allerdings auch auf seine antisemitische Haltung, die in Gesprächen mit ihm immer wieder deutlich wird, verwiesen. Weiterführend würde es sich anbieten, die Nachwirkungen der Napola auf die zweite und dritte Generation zu untersuchen. Ursprünglich hätte eine solche Auseinandersetzung mit dem „Erbe der Napola“ ebenfalls Gegenstand meiner Forschungen sein sollen. Aufgrund des begrenzten Umfangs der vorliegenden Arbeit entschied ich mich jedoch dazu, diese Fragestellung vorläufig auszuklammern. Gerade im Sinne der Intention, die Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte voranzutreiben, wäre eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik jedoch von großem Interesse. 404

9 Quellen

Aus dem Privatarchiv von Gerhard Siegmund (Einsichtnahme am 4. 11. 2012): • Aufnahmeantrag für die NPEA Wien Theresianum, 1938. • Bewilligung der Scheidung von Tisch und Bett, Antragsteller: Maria und Arthur Siegmund, Geschäftszahl 7 P 192/32, ausgefertigt von Dr. Leopold Wilfinger für das Bezirksgericht Hietzing, 15. 9. 1932. • Bundesministerium für Unterricht an Maria Siegmund, ZI. 23.204/10/ZD, 2. 7. 1937. • Dekanat der Medizinischen Fakultät Wien an Gerhard Siegmund, Dek. ZI. 60 aus 1946/47, 30. 12. 1946. • Kriegsgefangenen-Formular, ausgestellt für Gerhard Siegmund, 9. 6. 1945. • Luftwaffenhelferzeugnis für Gerhard Siegmund, ausgestellt von der NPEA Theresianum Wien, 26. 7. 1944. • Meldebestätigung für Gerhard Siegmund, 25. 6. 1945. • Merkblatt der Staatserziehungsanstalt für Knaben, Wien Theresianum, 1938/39. • Mitteilungen der Direktion der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Traiskirchen an alle Zöglingserhalter, 8. 9. 1938. • Scheidungsbeschluss, Geschäftszahl 7 Nc 965/38, ausgefertigt von Dr. Leopold Wilfinger für das Amtsgericht Hietzing, 27. 10. 1938.

Interviews: • Interview mit Gerhard Siegmund, geführt am 14. 12. 2012 in Wien, Bänder bei Autorin.

10 Abbildungen

• Abbildung 1/2: Gerhard Siegmund. Quelle: In Privatbesitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder. 405

Autorinnen und Autoren

Gerhard Botz, geb. 1941 in Schärding, studierte in Wien, war Professor an den Uni- versitäten Linz, Salzburg und Wien. Hier als Emeritus weiter tätig leitet er auch das Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft.

Peter Bystricky, geb. 1979 in Wien. Seit 2007 Studium der Geschichte, Numismatik (Nebenfach) und Volkswirtschaft an der Universität Wien. Steht kurz vor dem Ab- schluss seines Bachelors.

Nikolaus Domes wurde am 5. 5. 1988 in Wien geboren. Dort besuchte er auch die Schule und begann 2008 mit dem Bachelorstudium Geschichte an der Universität Wien, welches er 2013 mit dieser Arbeit abschloss. Seit 2013 studiert er im Master Geschichtsforschung, Historische Hilfswissenschaften und Archivwissenschaft.

Peter Dusek wurde am 20. 5. 1945 in Waidhofen an der Thaya geboren. Er ist Hono- rar-Professor für Zeitgeschichte und Archivwissenschaft und war, zwischen 1988 und 2008, ORF-Hauptabteilungsleiter des FS-Archivs, sowie von 1995 bis 2008 Präsident der Freunde der Wiener Staatsoper.

Kristina Kreutzer wurde 1981 in St. Pölten geboren und wuchs in der Marktgemein- de Loosdorf auf. 2008 begann sie an der Universität Wien das Bachelorstudium Ge- schichte und beendete dies im Frühjahr 2014 mit der vorliegenden Arbeit. Während ihres Studiums arbeitete sie u.a. als Kulturvermittlerin bei der Niederösterreichischen Landesausstellung 2011.

Martina Lajczak, geb. 1990 in Wien, absolvierte ihr Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien, welches sie 2013 abschloss. Momentan studiert sie im Masterstudium Theater-, Film- und Mediengeschichte und arbeitet als freie Journalistin. Seit 2011 ist sie als wissenschaftliche Hilfskraft am Lud- wig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft tätig.

Peter Liszt wurde 1988 in Oberwart, Burgenland geboren. Studium der Geschichte in Wien. Zurzeit arbeitet er als Historiker und studiert Ausstellungsdesign in Graz. Ent- wicklung und Gestaltung mehrerer historischer Ausstellungen, u.a.: „Besser die Hände als der Wille gefesselt – Franz Jägerstätter“ (2009), und „Geldgeschichte.n“ (2010). 2013 erschien in der edition lex liszt 12: Peter Liszt, Aaron Sterniczky (Hg.): „Herrn 406

Max und einen Milchkaffee, bitte! Erinnerungen an den Spanischen Bürgerkrieg“.

Bettina Pirker begann 2007 ihr Geschichtsstudium an der Universität Wien.

David Pöcksteiner wurde am 22. 7. 1990 in Scheibbs, Niederösterreich geboren. Er studiert zurzeit im Masterstudium Zeitgeschichte, sowie die Lehramtsstudien Ge- schichte und Physik an der Universität Wien. Dort hat er die Bachelorstudien Geschich- te (mit dieser Arbeit) und Politikwissenschaft im Sommersemester 2013 abgeschlos- sen.

Cornelia Rosenkranz wurde 1990 in Wien geboren, macht derzeit ihren Master der Zeitgeschichte an der Universtität Wien sowie eine Ausbildung zur Gebärdensprachdol- metscherin. Davor hat sie mit dieser Arbeit im Wintersemester 2012/13 ihren Ge- schichte Bachelor und im Sommersemester 2013 ihren Bachelor in vergleichender Li- teraturwissenschaft abgeschlossen.

Lucinda Schmatz-Rieger wurde 1944 in Wien geboren, und studierte Geschichte, Psychologie, Philosophie und Pädagogik an der Universität Wien. Sie ist Prof. ObStR. für Geschichte, PPP und Informatik am BG Wien 1 (Stubenbastei 6-8) und absolviert seit 2010 ihr Doktoratsstudium für Zeitgeschichte an der Universität Wien.

Veronika Siegmund wurde am 12. 5. 1985 geboren. Seit 2009 studiert sie Geschich- te an der Universität Wien. Ihre Interessensschwerpunkte sind der Nationalsozialismus in Österreich sowie die Habsburgermonarchie im 19. und beginnenden 20. Jahrhun- dert. Neben ihrem Studium arbeitet sie in einem Medienvertrieb an der Realisierung von Buchprojekten zum Thema Stadtgeschichte.

Stephan Turmalin (geb. Wurm) wurde 1985 in Korneuburg geboren. Er studiert Zeit- geschichte und Germanistik an der Universität Wien, sowie Israel Studies an der Ben- Gurion University Beer Sheva in Israel, wobei er im Februar 2014 seinen Geschichte Bachelor mit der vorliegenden Arbeit abschloss. Nebenbei arbeitet er als Fremdenfüh- rer.