„Habt Keine Angst“ Bis Heute Liegt Der Giftmord an Den Sechs Kindern Von NS-Propagandachef Joseph Goebbels Im Dunkeln
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Deutschland ZEITGESCHICHTE „Habt keine Angst“ Bis heute liegt der Giftmord an den sechs Kindern von NS-Propagandachef Joseph Goebbels im Dunkeln. Ein Archivfund belegt nun: In den fünfziger Jahren gestand ein Arzt seine Mittäterschaft, doch die Richter ließen ihn ungestraft ziehen. Ein Justizskandal. Von Georg Bönisch STRENGHOLT TELEV. INT. / SPIEGEL TV (L.); INT. TELEV. (R.) STRENGHOLT BUNDESARCHIV Getötete Goebbels-Kinder 1945, SS-Arzt Kunz, um 1944: „Es ist besser, wir nehmen sie mit“ s sind die letzten Tage ihres Lebens, Bunker bedrängen die Eltern, ihre Kinder gischen Kriminalstück, das zum Schluss- aber das wissen die Kinder nicht. Da endlich in Sicherheit zu bringen. Die akkord des „Tausendjährigen Reichs“ ge- Eist die zwölfjährige Helga, die Au- Kunstpilotin Hanna Reitsch sagt: „Mein hört, je wirklich nachgefasst. Immer noch gen und das dunkle Haar hat sie von ihrem Gott, Frau Goebbels, und wenn ich 20-mal werden Spekulationen verbreitet, falsche Vater, Joseph Goebbels. Da ist Hilde, elf einfliegen soll, um die Kinder herauszu- Interpretationen. Jahre alt, eher brünett, und wer sie an- holen, die dürfen hier nicht bleiben.“ Dabei gab es Ende der fünfziger Jahre schaut, dem ist klar, dass sie bald eine rich- Doch die Goebbels bleiben hart. ein bemerkenswertes juristisches Nach- tige Schönheit sein wird. Und dann die „Meine Kinder sollen lieber sterben, als spiel; es reichte bis hinauf zum Oberlan- achtjährige Holde, Hedda, sechs, schließ- in Schande und Spott zu leben“, sagt die desgericht Hamm. Die Akten dazu lagerten lich Heide, mit vier Jahren die Jüngste. Mutter, Magda. Und der Vater fürchtet, im Staatsarchiv in Münster. Unbeachtet, H wie Hitler – jeder Kindsname erin- Stalin könne die Sprösslinge nach Moskau obwohl sie ein Schlaglicht darauf werfen, nert an den „Führer“, dem Goebbels als schaffen und dort zu Kommunisten drillen wie „milde und mit welch fragwürdiger Propagandachef dient. Der einzige Sohn lassen. „Nein, es ist besser, wir nehmen Argumentation damals die Justiz bei NS- der Familie heißt Helmut, er ist neun und sie mit.“ Verbrechen agierte“, sagt Oberstaatsan- etwas verträumt. Am 30. April, es ist etwa 15.30 Uhr, walt Maik Wogersien, der nun, eher zufäl- Berlin, Ende April 1945, Reichskanzlei. schießt sich Hitler eine Kugel in den Kopf, lig, auf die Dokumente gestoßen ist; er Tief hinab muss man steigen zum Führer- mit ihm stirbt Eva Braun. Der doppelte forscht an der nordrhein-westfälischen Jus- bunker. Grauer Beton, schmale Gänge, Ei- Selbstmord ist das Signal. Einen Tag später tizakademie genau über dieses Thema. sentüren, kaltes Licht. Kein Ort, an dem sind auch die sechs Goebbels-Kinder tot. Auch im Fall Goebbels, das offenbaren sich jemand wohl fühlen kann, erst recht Erst bewusstlosgespritzt mit Morphium, die Papiere, waren Richter am Werk, die nicht Kinder, die vor wenigen Wochen dann vergiftet mit Blausäure, einem Stoff, einst zu den Parteigängern Hitlers zählten noch auf einem Bauernhof weit weg von der binnen kürzester Zeit zum Erstickungs- – wie so oft bei der juristischen Aufarbei- Berlin mit Kätzchen und Hunden gespielt tod führt. tung der Nazi-Zeit in der jungen Bundes- hatten, sorglos, arglos. Sechs tote Kinder, doch die Tat ist nie republik. Es gelang ihnen zum Beispiel, Russische Soldaten sind nur noch weni- geahndet worden. Und erstaunlicherweise eine fertige Anklageschrift in Sachen Kin- ge hundert Meter entfernt, und alle im hat bis heute kein Historiker in diesem tra- destötung vom Tisch zu wischen, mit einer 58 der spiegel 41/2009 sachwidrigen, vielleicht sogar rechtswidri- loren, „schon deshalb“ könne er dies nicht sie zurückgekommen, weinend, aufgelöst: gen Begründung. Der Beschuldigte kam tun. Maike war fünf, als sie unter den Trüm- „Herr Doktor, ich kann es nicht, Sie müs- ungestraft davon. mern starb, Maren ein knappes Jahr alt. sen es tun.“ Der Zahnarzt antwortete: „Ich Der Aktenfund macht es nun erstmalig Doch Magda Goebbels insistierte und kann es auch nicht.“ Darauf Magda Goeb- möglich, diese Vorgänge zu rekonstruieren. soll kurz darauf erklärt haben, es handele bels: „Dann holen Sie Doktor Stumpf- sich „nicht mehr um einen Wunsch“ von egger.“ Ludwig Stumpfegger, ein knap- er Mann, um den sich in jenen Doku- ihr, „sondern um einen direkten Befehl pes Jahr jünger als Kunz, hatte zu den Dmenten alles dreht, heißt Helmut Hitlers“, erinnerte sich Kunz an den Wort- Vertrauensärzten des SS-Chefs Heinrich Kunz, geboren 1910 im badischen Ettlin- laut der Auseinandersetzung. „Sie fragte Himmler gehört. gen. Erst hatte er Jura studiert, dann mich, ob mir die Übermittlung des Befehls Eine Woche später obduzierten russi- Zahnmedizin, seine Doktorarbeit befasste durch sie genüge oder ob ich mit Hitler sche Gerichtsmediziner die Leichen der sich mit „Untersuchungen über Zahnca- persönlich sprechen wolle.“ Kinder und stellten fest, ihr Tod sei „in- ries bei Schulkindern unter folge der Vergiftung mit Zyanverbindun- Berücksichtigung ihrer Stillzei- gen eingetreten“. Blausäure also. Vor dem ten“. Von 1936 an betrieb er Bunker hatte sich das Ehepaar Goebbels eine Praxis in Lucka südlich selbst gerichtet, Stumpfegger starb beim von Leipzig, er gehörte der SS Versuch, sich in Berlin durch die russischen an, dem „Sturm 10/48“. Linien zu schlagen. Als Hitler den Krieg begann, Kunz blieb am Leben. Er war nun Zeu- diente Kunz als Sanitätsoffizier ge und Täter zugleich, er konnte andere bei der SS-Totenkopf-Division, belasten und sich selbst entlasten, er konn- einem berüchtigten Haufen, te auch Falsches behaupten. 1941 wurde der Arzt schwer verletzt – und nach seiner Ge- m 30. Juli 1945 flogen die Russen Kunz nesung in die Etappe versetzt: Anach Moskau aus, er war ein Kriegs- ans Sanitätsamt der Waffen-SS, gefangener wie Hunderttausende andere nach Berlin. Im April 1945, da Deutsche auch. Sechseinhalb Jahre lang war er Sturmbannführer, kom- saß er in einer Zelle, im Februar 1952 stand mandierten ihn seine Chefs er vor Gericht, weil er Mitglied der ab in die Reichskanzlei. Für NSDAP und der SS gewesen war – und, je- Kunz, den ein Vertrauter Hit- denfalls behauptete dies später der Zahn- lers als „stramme soldatische arzt, auch wegen des Todes der Goebbels- Erscheinung“ beschrieb, sollte Kinder. dies zum Schicksalsmoment Zum Zeitpunkt der Kunz-Verhandlung werden. in Moskau lagen die Nürnberger Pro- Am 22. April waren die zesse der Alliierten bereits einige Zeit Goebbels so weit: Es galt, die zurück. Auch westdeutsche Gerichte hat- gefährdete Stadtwohnung an ten sich anfangs redlich bemüht, NS-Täter der Hermann-Göring-Straße zügig abzuurteilen. Alsbald aber, sagt der zu räumen, Koffer wurden ge- Zeitgeschichtler Norbert Frei, sei es zu ei- packt, die Kinder in Hut und KINDERMANN PRESSEBILDERDIENST nem „unübersehbaren Verfall der Ahn- Mäntelchen gesteckt. Es war Diktator Hitler, Familie Goebbels*: Ausweglose Situation? dungsmoral“ gekommen, initiiert durch auch ein Abschied für immer eine Regelung, die den Artikel 131 des von Käthe Hübner, ihrer Erzieherin, die Angeblich antwortete Kunz: „Das ge- Grundgesetzes zwei Jahre nach seiner alle nur „Hübi“ nannten**. „Wir gehen nügt mir.“ Angeblich versuchte er wenig Verabschiedung zugunsten der früheren jetzt zum Führer in seinen Bunker“, sagte später zu entkommen, ins Hotel Adlon, wo Staatsdiener auslegte. Die neue Bestim- der kleine Helmut, „kommst du mit?“ Die einer seiner SS-Kameraden ein Lazarett mung ließ es nämlich zu, Beamte wieder junge Frau blieb. Sie sah zu, wie Magda eingerichtet gehabt habe. Angeblich ließ einzustellen, die „aus anderen als beam- Goebbels dem „Führer“ durchaus freiwil- ihn Magda Goebbels zurückpfeifen: Wenn ten- oder tariflichen Gründen“ entlassen lig „in seine ausweglose Situation“ folgte. ihr Gatte davon erfahre, soll sie gedroht worden waren – etwa wegen ihrer Nazi- Die Gattin des Propagandachefs wurde haben, dann sei „ich ein toter Mann“. Vergangenheit. Kunz’ erste Patientin in der Reichskanzlei: 1. Mai 1945, abends: Die Töchter und der Wer also zur NS-Zeit Richter war oder Unter einer Brücke in ihrem Unterkie- Sohn lagen schon im Bett, schliefen aber Staatsanwalt, war es in aller Regel nun wie- fer hatte sich ein Eiterherd gebildet. Die noch nicht. „Habt keine Angst“, sagte ihre der, resozialisiert von Amts wegen und „zu Goebbels sah sich als Vorzeigemutter und Mutter, „der Doktor gibt euch jetzt eine einer angemessenen Handhabung der Ge- First Lady, Hitler redete sie mit „gnädige Spritze, die alle Kinder und Soldaten be- setze immer weniger bereit“ (Frei). Frau“ an. Und schon deswegen war Mag- kommen.“ Sie verließ den Raum, Kunz inji- Hinzu kam, dass die junge Bundesrepu- da Goebbels, die so sanft sein konnte und zierte das Morphium, „zunächst den beiden blik großzügige Amnestien erließ, die erste dann wieder schrill, durchaus eine Auto- älteren Mädchen, dann dem Jungen und den schon 1949, in ihrem Gründungsjahr, 1954 ritätsperson. übrigen Mädchen“, je 0,5 Kubikzentimeter, folgte eine weitere – sie wirkte auf die Justiz Ende April nahm sie Kunz beiseite – und es „dauerte acht bis zehn Minuten“. endgültig wie ein Lähmungsgift. Denn das bat ihn wörtlich, ihr „bei der Tötung ihrer Als die Kinder weggedämmert waren, neue Straffreiheitsgesetz sollte es erlauben, Kinder behilflich zu sein“, so hat es der ging Magda Goebbels ins Zimmer, die „gewisse Straftaten aus der nationalsozialis- Zahnarzt später ausgesagt. O-Ton Kunz: Blausäurekapseln in der Hand, so gab es tischen Zeit“ außer Verfolgung zu setzen „Ich habe das abgelehnt und ihr gesagt, Kunz zu Protokoll. Sekunden später sei oder sie doch wenigstens nachsichtig