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SWR2 Musikstunde

„Lieto fine oder von Trug- und anderen Schlüssen“ (3)

Von Jürgen Liebing

Sendung: Mittwoch, 12. November 2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Ulla Zierau

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MUSIKSTUNDE mit Jürgen Liebing „Lieto fine oder von Trug- und anderen Schlüssen“ (3)

MODERATION Eine Musikstunde mit einem Schluss zu beginnen, widerstrebt mir, auch wenn es in dieser Woche tatsächlich um den Schluss geht, zumal das „originale“ Ende der folgenden Geschichte alles andere als fröhlich ist. So beginnen wir doch lieber mit einer Ouvertüre, die gleichwohl etwas mit dem Ende zu tun hat.

1) *CD 1 Track 1 Claudio Monteverdi 1:38 „L’“ Toccata

The English Baroque Soloists His Majesties Sagbutts and Cornetts Ltg. John Eliot Gardiner ARCHIV 4192502 LC 00113

MODERATION Mit Monteverdis „L’Orfeo“ beginnt recht eigentlich die Geschichte der Oper, auch wenn diese nicht die allererste ist. Jacopo Peri und Giulio Caccini gebührt die Ehre der „Erstgeburt“. Peris Oper wurde 1600, Caccinis Werk zwei Jahre später uraufgeführt. Beide haben dasselbe Libretto vertont, verfasst von Ottavio Rinunccini. Damit steht zu Beginn der Operngeschichte der -Mythos, wenngleich hier die Titelheldin ist. Und schon hier wird das Ende anders erzählt. Es ist nicht tragisch, weil man das für ein fröhliches Fest, in 3 dessen Rahmen diese Opern aufgeführt wurden, für unangebracht hielt. Bei Monteverdis 1607 uraufgeführter Oper ist es etwas verzwickter, denn es gibt zwei verschiedene Fassungen: das Libretto von 1607 verfasst von Alessandro Striggio einerseits und die Partitur von 1609 andererseits. Das Ende der zweiten Fassung ist ein anderes als das der ersten. In der ersten Fassung endet die Geschichte so, wie sie Ovid und Vergil überliefert haben, nämlich alles andere als heiter. Orpheus, der ein zweites Mal verlor, weil er sich auf dem Weg aus der Unterwelt nach ihr umgeschaut hat, verflucht die Frauen. Daraufhin verfolgen ihn die Bacchantinnen, die ihn in Stücke zerreißen. Anschließend feiern die Frauen ein ausgelassenes Fest. Der Fluch des Orpheus ist auch in der endgültigen Fassung erhalten geblieben: „Alle anderen Frauen sind hochmütig und treulos/ gegen ihre Bewunderer, sind erbarmungslos unbeständig,/ ohne Verstand und jede edle Gesinnung,/ weshalb ihr Tun mit Recht nicht gepriesen wird;/ deswegen wird es niemals geschehen, dass Amor/ wegen eines schlechten Weibes, mein Herz mit seinem goldenen Pfeil durchbohrt.“ Ein Text, der natürlich in keiner Weise der political correctness unserer Tage entspricht und Feministinnen durchaus auch heute noch in Rage bringen könnte. Glücklicherweise wird Italienisch gesungen, und so verstehen die meisten ihn nicht. Bevor aber die Frauen ihr grausames Spiel mit dem trauernden Orpheus spielen können, erscheint auf einer Wolke aus dem 4

Bühnenhimmel schwebend der Gott Apoll. Der klassische Fall des Eingreifens eines „Deus ex machina“, der am Ende noch alles oder beinahe alles zum Guten wendet. „Warum, mein Sohn, willst du die Beute/ von Zorn und Schmerz werden?“, fragt der Gott und entführt Orpheus in den Himmel, denn dort, in den Sternen, werde er Eurydice sehen.

2) *CD 1 Track 12 – 14 (5:47+0:59+1:18) Claudio Monteverdi 8:04 „L’Orfeo“ Finale

Nigel Robson, Apollo; Anthony Rolfe Johnson, Orfeo The Monteverdi Choir The English Baroque Soloists His Majesties Sagbutts and Cornetts Ltg. John Eliot Gardiner ARCHIV 4192502 LC 00113

MODERATION „Fahr hin, Orpheus, vom Glück erfüllt,/ um dort himmlische Ehren zu genießen,/ wo das Gute nie vergeht/ und wo es keinen Schmerz gibt,/ während wir dir fröhlich und andächtig/ auf den Altären Weihrauch und Opfer darbringen.“ So singen die Nymphen und Hirten am Ende, also ein klassisches „Lieto fine“. Ende gut, beinahe alles gut. Christoph Willibald Gluck geht in seiner Oper „Orpheus und Eurydike“ einen Schritt weiter und setzt damit noch einen drauf. Hier heißt der „Deus ex machina“, der vom Himmel herabschwebt, nicht Apollo, sondern Amor, der Gott der Liebe, und der sorgt für ein wirklich gutes Ende, indem er Eurydike 5 wieder zum Leben erweckt Es ist also ein regelrechtes Happyend, so wie es auch bei den beiden ersten Opern war.

3) CD 2 Track 17 + 18 (2:47+2:24) Christoph Willibald Gluck 5:11 „Orphée et Eurydice“ Finale

Brigitte Fournier, Amor; Anne Sofie von Otter, Orphée; Barbara Hendricks, Eurydice The Monteverdi Choir Orchestre de l’Opéra de Lyon Ltg. John Eliot Gardiner EMI 7498342 LC 00110

MODERATION Viel ließe sich sagen über die verschiedenen Fassungen von Glucks Oper, über die Wiener, die italienische und die Pariser Fassung. Aber sie betreffen nicht das Ende. Joseph Haydns letzte Oper „L’anima del filosofo ossia Orfeo und Euridice“ hat eine höchst verworrene Entstehungsgeschichte, die hier nicht weiter ausgebreitet werden soll, außer dem Hinweis, dass sie in London komponiert worden ist. Haydns Opernschaffen steht übrigens leider im Schatten seines symphonischen Werks – sehr zu Unrecht. In London kam es nicht zur Aufführung wegen Querelen zwischen dem Impresario und einer königlichen Behörde, so dass auch nicht ganz klar ist, ob Haydn sie wirklich vollendet hat, denn in Briefen des Komponisten ist von fünf Akten die Rede, wohingegen nur vier überliefert sind. Bei Haydn beziehungsweise dem Librettisten Carlo Francesco Badini gibt es die Bacchantinnen, die versuchen, Orpheus zu verführen und zu einem Leben in Saus und Braus zu verlocken. Ein orgiastisches Fest möchten sie mit 6 ihm feiern. Aber Orpheus entsagt, und die Bacchantinnen reichen ihm schließlich einen Giftbecher – aus Rache oder aus Mitleid, das bleibt dahingestellt. Orpheus stirbt, während die Bacchantinnen, die zur Insel der Freuden aufbrechen wollen, in einem mächtign Sturm scheitern.

4) CD 2 Track 28 Joseph Haydn 2:27 „L’anima del filosofo ossia “ Finale

Chor des Bayerischen Rundfunks Münchner Rundfunkorchester Ltg. Leopold Hager ORFEO 262932 LC 08175

MODERATION Vielleicht wollte Haydn im letzten Akt die Seele von Orpheus, der zum Philosophen geworden ist, mit der Seele von Eurydike vereinen. Aber das bleibt reine Spekulation. Klar ist, dass die Geschichte bei Jacques Offenbach, der auch als Erfinder der französischen Operette gilt, anders ausgeht, anders ausgehen muß. Bei Offenbach und seinen Librettisten Hector Gremieux und Ludovic Halévy wird aus dem Sänger ein Geigenlehrer und Eurydike ist eine untreue Gattin, die mit dem Hirten Aristée flirtet, der niemand anderes ist als Pluto, der Gott der Unterwelt. Allerdings hat auch Jupiter ein Auge auf die Schöne geworfen. Die „öffentliche Meinung“, die Recht und Anstand, Moral und Sitte vertritt, nötigt Orpheus und Eurydike wieder zueinander zu kommen. Aber Jupiter schleudert daraufhin einen Blitz, woraufhin sich Orpheus doch erschrocken 7 umdreht, und damit ist die Gattin ein zweites Mal verloren, worüber weder er noch sie unglücklich sind. Damit sich die Götter nicht in die Wolle kriegen, verwandelt Jupiter die begehrenswerte Frau in eine Bacchantin. So sind alle froh und zufrieden – wir haben also ein wahres Lieto fine.

5) CD 2 Track 21 Jacques Offenbach 2:19 „Orphée aux enfers“ Finale

Ewa Podles, L’Opinion publique; Yann Beuron, Orphée; Natalie Dessay, Eurydice; Jean-Paul Fouchécourt, Pluto; Laurent Naouri, Jupiter Choeur et Orchestre de l’Opéra National de Lyon Ltg. Marc Minkowski EMI 5567252 LC 06646

MODERATION Dass wir uns so lange mit Orpheus beschäftigt haben, hat einerseits den sehr naheliegenden Grund, dass er quasi der Schutzpatron der „Musikstunde“ ist, aber er taugt auch dazu, um zu demonstrieren, wie unterschiedlich ein „Lieto fine“ ausfallen kann. Bei der folgenden Oper gibt es den Sonderfall, dass es zwei Finales gibt, und man mag trefflich darüber streiten, ob es nicht auch eines täte. Beide stammen vom Komponisten, und er hat das zweite auch selbst bei der Premiere in Wien gestrichen. Das zweite ist nämlich gleichsam die Moral von der Geschichte, dass alles wieder gut ist, was es aber nicht ist. Und dass dem nicht so ist, wusste der Komponist. Es geht um Mozarts „Don Giovanni“, die Oper der Opern schlechthin. 8

Das eigentliche Finale ist das, wenn der Komtur, der steinerne Gast, zu Don Giovanni kommt, um den nicht zur Reue bereiten Sünder in die Hölle mitzunehmen. Don Giovanni, der Herzensbrecher, hat trotz aller seiner Schandtaten und Sünden am Ende immer noch unsere Sympathie, zumindest die der Männer, denn er ist ein rechtes Mannsbild, das zwar auch heute nicht mehr ganz ins moderne Weltbild passt, aber Mann wird ja noch träumen dürfen. „Bereue, ändere dein Leben:/ es ist der letzte Augenblick.“ So mahnt der Komtur, also derjenige, der von Don Giovanni ermordet worden ist, gibt dem Missetäter noch eine letzte Chance, die aber Don Giovanni ausschlägt. Er behauptet sein Manns-Bild bis zum Schluss.

6) CD 3 Track 11 Wolfgang Amadé Mozart 7:14 „Don Giovanni“ „Don Giovanni, a cenar teco“

Cesare Siepi, Don Giovanni; Kurt Böhme, Komtur; Fernando Corena, Leporello Wiener Staatsopernchor Wiener Philharmoniker Ltg. Josef Krips DECCA 4116262 LC 00171

MODERATION Düster endet dieses Finale, und plötzlich wird es wieder heiter. Das 2. Finale wirkt in Mozarts Oper ein wenig wie angeklebt, als eine Moral von der Geschichte. Alle übrigen, außer Don Giovanni natürlich, kehren zurück in ihr normales, will sagen: banales Leben. Leporello wird sich einen neuen Dienstherrn 9 suchen. Ob die Ehe von Zerlina und Masetto glücklich wird, kann bezweifelt werden. Donna Elvira ändert zumindest ihr Leben, sie geht ins Kloster. Ob das die Lösung ist?

7) CD 3 Track 15 Wolfgang Amadé Mozart 1:33 „Don Giovanni“ „Questo è il fin“

Kiri Te Kanawa, Teresa Berganza, Edda Moser, José van Dam, Malcolm King, Kenneth Riegel Orchestre de Théâtre National de l’Opéra, Paris Ltg. Lorin Maazel CBS 35192 LC 00149

MODERATION „Das ist das Ende dessen, der Böses tut!/ Und der Tod des Treulosen/ ist immer wie ihr Leben!“ Schön wär’s, möchte man da sagen, und Mozart wusste, dass dem nicht so ist. Ohne Ironie und doppeltem Boden läßt sich dieses Finale nicht verstehen. Ganz anders das Finale von Giuseppe Verdis letzter Oper. Es ist seine einzige komische Oper, und insofern ein besonderer Schlusspunkt, dessen Finale voller Lebensweisheit steckt. Auch wenn es für alle Beteiligten ein weiter Weg war bis zu dieser Erkenntnis. „Alles um uns ist Narrheit./ Der Mensch wird als Narr geboren./ Ihm schwankt im Herzen die Wahrheit,/ Die Vernunft geht ihm verloren./ Lauter Genarrte! Weil einer/ Den anderen stets verlacht./ Doch besser lacht wohl keiner,/ Als der Letzte, der lacht.“

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8) CD 3 Track 15 Giuseppe Verdi 3:34 „Falstaff“ Finale

Giuseppe Tadei, Rolando Panerai, Francisco Araiza, Piero de Palma, Heinz Zednik, Federico Davia, Raina Kabaivanska, Janet Perry, Christa Ludwig, Trudeliese Schmidt Wiener Staatsopernchor Wiener Philharmoniker Ltg. Herbert von Karajan DG 4476862 LC 00173

MODERATION „It ain’t over till the fat lady sings.“ Die Engländer kennen keine political corestness. Sie sind fürs Derbe, fürs Direkte. Übersetzt sagt diese Redewendung: „Es ist nicht vorbei, bis die fette Dame singt.“ Das mag in früheren Zeiten gegolten haben, als die Sopranistinnen sich noch durch eine gewisse Leibesfülle auszeichneten. Das galt selbst für die berühmte Maria Callas, die sich mühevoll, aber erfolgreich einer heftigen Abmagerungskur unterzog. Besonders galt das für die weibliche Hauptpartie in Richard Wagners „Ring des Nibelungen“. Zwar tritt Brünnhilde nur an drei der vier Abende auf, und bei ihrem zweiten Auftritt im „Siegfried“ darf sie kurz bis vor Schluss schlafen, aber dafür hat sie in der abschließenden „Götterdämmerung“ das letzte Wort – fast jedenfalls. Das ist – jedenfalls für mich – einer der großartigsten Opernschlüsse, auch wenn es kein „Lieto fine“ – keine fröhliches Ende ist. Die alte Welt der Götter geht in Flammen auf. Ob aber die neue eine bessere sein wird, steht dahin. Viele Jahre hat Richard Wagner an dieser wahrscheinlich größten 11

Oper mit ihren insgesamt rund sechzehn Stunden Dauer, verteilt auf vier Tage, gearbeitet.

9) CD 29 Track 12 + 13(2:02+3:58) Richard Wagner 8:00 „Götterdämmerung“ Finale

Birgit Nilsson, Brünnhilde; Josef Greindl, Hagen Orchester der Bayreuther Festspiele Ltg. Karl Böhm DECCA 4780308 LC 00171