Plenarprotokoll 16/157

Deutscher

Stenografischer Bericht

157. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- von Lissabon vom 13. Dezember 2007 neten Dr. und Ina Lenke . . . 16449 A (Drucksachen 16/8300, 16/8917) ...... 16451 A Wahl der Abgeordneten als c) Zweite und dritte Beratung des von den Schriftführerin ...... 16449 B Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Wahl des Abgeordneten Thomas Bareiß als wurfs eines Gesetzes über die Auswei- ordentliches Mitglied in den Beirat der Bun- tung und Stärkung der Rechte des Bun- desnetzagentur für Elektrizität, Gas, Tele- destages und des Bundesrates in kommunikation, Post und Eisenbahnen . . . 16449 B Angelegenheiten der Europäischen Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Union nung ...... 16449 B (Drucksachen 16/8489, 16/8919) ...... 16451 B Absetzung des Tagesordnungspunktes 13. . . . 16450 D e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Begrüßung des Ministers für auswärtige und Europäischen Union zu dem Antrag der europäische Angelegenheiten der Franzö- Abgeordneten Dr. , sischen Republik, Herrn Bernard Kouchner 16469 C , Dr. Hakki Keskin, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Intransparenz beenden – Eine Tagesordnungspunkt 3: lesbare Fassung des Reformvertrags b) Zweite und dritte Beratung des von den schaffen Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und (Drucksachen 16/7446, 16/8920) ...... 16451 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach- f) Antrag der Abgeordneten Dr. Diether ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Dehm, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan rung des Grundgesetzes (Art. 23, 45 Aydin, weiterer Abgeordneter und der und 93) Fraktion DIE LINKE: Das Ratifizie- (Drucksachen 16/8488, 16/8912) ...... 16450 D rungsverfahren zum Vertrag von Lissa- d) Zweite und dritte Beratung des von den bon aussetzen – Ein Sozialprotokoll ver- Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Monika einbaren Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiteren (Drucksache 16/8879) ...... 16451 C Abgeordneten und der Fraktion DIE Dr. , Bundeskanzlerin ...... 16451 D LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundge- Dr. (FDP) ...... 16454 D setzes Kurt Beck, Ministerpräsident (Drucksachen 16/7375, 16/8913) ...... 16451 A (Rheinland-Pfalz) ...... 16456 D a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung Dr. (DIE LINKE) ...... 16460 A des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zum Vertrag Dr. Guido Westerwelle (FDP) ...... 16461 A II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ und zum Übereinkommen über die bio- DIE GRÜNEN) ...... 16463 B logische Vielfalt zum Erfolg machen (Drucksache 16/8890) ...... Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) ...... 16464 D 16498 C Michael Link (Heilbronn) (FDP) ...... 16465 C c) Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. , Sevim Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der (Bayern) ...... 16467 A Fraktion DIE LINKE: Konzepte der Ver- Dr. Carl-Christian Dressel (SPD) ...... 16468 D mittlung des Wissens zur NS-Zeit über- prüfen und den veränderten Bedingun- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ gen anpassen DIE GRÜNEN) ...... 16469 D (Drucksache 16/8880) ...... 16498 D Michael Roth (Heringen) (SPD) ...... 16471 A d) Antrag der Abgeordneten Monika Henry Nitzsche (fraktionslos) ...... 16472 A Knoche, Hans-Kurt Hill, Heike Hänsel, Michael Stübgen (CDU/CSU) ...... 16473 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Konsequente Ener- Dr. Barbara Hendricks (SPD) ...... 16473 C giewende statt Militarisierung der Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) ...... 16474 D Energieaußenpolitik (Drucksache 16/8881) ...... 16498 D Axel Schäfer (Bochum) (SPD) ...... 16475 B

Namentliche Abstimmungen ...... 164 . . .7 .6 . B,. 16476 C Tagesordnungspunkt 5: 16482 A b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ergebnisse ...... 164 . . .7 .6 . D,. 16479 C Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, 16482 D Dr. , weiteren Abge- Tagesordnungspunkt 4: ordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Unterrichtung durch die Bundesregierung: zur Stärkung der Arbeitnehmermitbe- Berufsbildungsbericht 2008 stimmung bei Betriebsänderungen (Drucksache 16/8750) ...... 16485 B (Drucksache 16/7533) ...... 16499 A Dr. , Bundesministerin BMBF ...... 16485 B c) Antrag der Abgeordneten Dr. , Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weite- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 16486 D rer Abgeordneter und der Fraktion DIE Patrick Meinhardt (FDP) ...... 16487 B LINKE: Beschäftigte und Unternehmen vor Ausplünderung durch Finanzinves- (SPD) ...... 16489 A toren schützen Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 16490 D (Drucksache 16/7526) ...... 16499 A Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16492 B Zusatztagesordnungspunkt 2: (CDU/CSU) ...... 16493 D a) Antrag der Abgeordneten Angelika Dieter Grasedieck (SPD) ...... 16495 D Brunkhorst, , Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und (CDU/CSU) ...... 16496 D der Fraktion der FDP: Leitlinien für den Jörg Tauss (SPD) ...... 16497 A internationalen Arten- und Lebens- raumschutz im Rahmen des Überein- Tagesordnungspunkt 35: kommens über die biologische Vielfalt (Drucksache 16/8878) ...... 16499 B a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und b) Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeord- Änderung des Gesetzes zur Errichtung neter und der Fraktion der FDP: Gleiche einer Stiftung „Erinnerung, Verantwor- Rechte gleiche Pflichten – Benachteili- tung und Zukunft“ gungen von Lebenspartnerschaften ab- (Drucksache 16/8870) ...... 16498 C bauen (Drucksache 16/8875) ...... 16499 B b) Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Undine Kurth (Quedlinburg), Ulrike c) Antrag der Abgeordneten Sibylle Höfken, weiterer Abgeordneter und der Laurischk, Ina Lenke, Miriam Gruß, wei- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: terer Abgeordneter und der Fraktion der Erhalten, was uns erhält – Die UN-Kon- FDP: Forderung nach einem Bericht ferenzen zur biologischen Sicherheit der Bundesregierung über die Lage der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 III

Frauen- und Kinderschutzhäuser (SPD) ...... 16505 D (Drucksache 16/8889) ...... 16499 C Werner Dreibus (DIE LINKE) ...... 16507 A (DIE LINKE) ...... Tagesordnungspunkt 36: 16507 D Anette Kramme (SPD) ...... 16508 B a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ schaft und Verbraucherschutz zu dem An- DIE GRÜNEN) ...... 16508 C trag der Abgeordneten , (CDU/CSU) ...... 16509 D Bärbel Höhn, Thilo Hoppe, weiterer Ab- (DIE LINKE) ...... 16512 A geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: EU-Importver- Paul Lehrieder (CDU/CSU) ...... 16512 B bot für illegales Holz durchsetzen Frank Schäffler (FDP) ...... 16512 C (Drucksachen 16/8052, 16/8876) ...... 16499 C Andreas Steppuhn (SPD) ...... 16513 A b) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- schusses: Übersicht 10 über die dem Jörg Rohde (FDP) ...... 16514 B Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfas- Tagesordnungspunkt 6: sungsgericht Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der (Drucksache 16/8791) ...... 16499 D SPD: Das Recht auf Meinungs- und Presse- c) Beschlussempfehlung und Bericht des freiheit weltweit durchsetzen und der In- Rechtsausschusses: zu der Streitsache ternet-Zensur entgegentreten vor dem Bundesverfassungsgericht (Drucksache 16/8871) ...... 16515 B 2 BvE 1/08 Christoph Strässer (SPD) ...... 16515 B (Drucksache 16/8911) ...... 16500 A (FDP) ...... 16516 D d)–k) Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 16518 C Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . 16520 A schusses: Sammelübersichten 390, 391, 392, 393, 394, 395, 396 und 397 zu Peti- (Köln) (BÜNDNIS 90/ tionen DIE GRÜNEN) ...... 16520 D (Drucksachen 16/8763, 16/8764, 16/8765, Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) ...... 16522 A 16/8766, 16/8767, 16/8768, 16/8769, (CDU/CSU) ...... 16523 C 16/8770) ...... 16500 A Tagesordnungspunkt 7: Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke, Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Dr. Christian Ruck, Maria Eichhorn, weiterer Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsaus- Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU schuss) zu dem Gesetz zur Regelung des sowie der Abgeordneten Dr. , Statusrechts der Beamtinnen und Beamten , Sabine Bätzing, weiterer Ab- in den Ländern (Beamtenstatusgesetz – geordneter und der Fraktion der SPD: Natio- BeamtStG) nale und internationale Maßnahmen für (Drucksachen 16/4027, 16/4038, 16/7508, einen verbesserten Kampf gegen Drogen- 16/8189, 16/8910) ...... 16501 A handel und -anbau in Entwicklungslän- dern Tagesordnungspunkt 5: (Drucksache 16/8776) ...... 16524 D a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Sascha Raabe (SPD) ...... 16525 A Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Hellmut Königshaus (FDP) ...... 16526 D Hüseyin-Kenan Aydin, weiteren Abgeord- Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) ...... 16528 B neten und der Fraktion DIE LINKE einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 16530 C Stärkung der Interessen der Beschäftig- Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ ten bei Massenentlassungen trotz Ge- DIE GRÜNEN) ...... 16531 D winnsteigerungen Sabine Bätzing (SPD) ...... (Drucksache 16/8448) ...... 16501 A 16532 D

Oskar Lafontaine (DIE LINKE) ...... 16501 B Tagesordnungspunkt 8: Franz Romer (CDU/CSU) ...... 16503 A Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Ekin Heinz-Peter Haustein (FDP) ...... 16504 C Deligöz, Britta Haßelmann, weiterer Abge- IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE fonds stoppen – Morbiditätsorientierten GRÜNEN: Existenzsicherung und Teilha- Risikostrukturausgleich einführen bechancen für Kinder und Jugendliche (Drucksache 16/8882) ...... 16550 A durch bedarfsgerechte Kinderregelsätze (Münster) (FDP) ...... 16550 B gewährleisten (Drucksache 16/8761) ...... 16534 B Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) ...... 16551 C Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 16552 A DIE GRÜNEN) ...... 16534 C (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 16536 D DIE GRÜNEN) ...... 16552 C Jörg Rohde (FDP) ...... 16537 B Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 16554 B Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) ...... 16554 D DIE GRÜNEN) ...... 16538 A Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 16555 B Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 16556 C (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 16538 C Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ Stefan Müller (Erlangen) DIE GRÜNEN) ...... 16557 D (CDU/CSU) ...... 16539 A Peter Friedrich (SPD) ...... 16558 D Rolf Stöckel (SPD) ...... 16540 A Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ Elke Reinke (DIE LINKE) ...... 16541 A DIE GRÜNEN) ...... 16559 C Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 16542 A Tagesordnungspunkt 11: Tagesordnungspunkt 9: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Zweite und dritte Beratung des von der Bun- CDU/CSU und der SPD eingebrachten desregierung eingebrachten Entwurfs eines Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Gesetzes zur Erleichterung familienge- des Bundeskindergeldgesetzes richtlicher Maßnahmen bei Gefährdung (Drucksache 16/8867) ...... 16560 A des Kindeswohls b) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksachen 16/6815, 16/8914) ...... 16542 D Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen , Bundesministerin und Jugend zu dem Antrag der Abgeord- BMJ ...... 16543 A neten Diana Golze, Klaus Ernst, Dr. , weiterer Abgeordneter (BÜNDNIS 90/ und der Fraktion DIE LINKE: Kinderar- DIE GRÜNEN) ...... 16543 D mut bekämpfen – Kinderzuschlag aus- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger bauen (FDP) ...... 16544 C (Drucksachen 16/6430, 16/8915) ...... 16560 A (CDU/CSU) ...... 16545 C in Verbindung mit Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 16547 A Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 5: DIE GRÜNEN) ...... 16548 A Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, (SPD) ...... 16548 D Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Kinderzuschlag weiterent- Tagesordnungspunkt 10: wickeln – Fürsorgebedürftigkeit und ver- Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr (Müns- deckte Armut von Erwerbstätigen mit Kin- ter), Heinz Lanfermann, Dr. , dern verhindern und bekämpfen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (Drucksache 16/8883) ...... 16560 B FDP: Gesundheitsfonds stoppen – Beitrags- autonomie der Krankenkassen bewahren in Verbindung mit (Drucksache 16/7737) ...... 16550 A Zusatztagesordnungspunkt 6: in Verbindung mit Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über die Auswirkungen des § 6 a Zusatztagesordnungspunkt 4: des Bundeskindergeldgesetzes (Kinderzu- Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, schlag) sowie über die gegebenenfalls not- Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe, wendige Weiterentwicklung dieser Vor- weiterer Abgeordneter und der Fraktion schrift BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gesundheits- (Drucksache 16/4670) ...... 16560 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 V

Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes BMFSFJ ...... 16560 C zur Gewährleistung angemessener Ar- Ina Lenke (FDP) ...... 16561 B beitsbedingungen für grenzüberschrei- tend entsandte und für regelmäßig im Wolfgang Spanier (SPD) ...... 16562 B Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Ina Lenke (FDP) ...... 16563 A Arbeitnehmerinnen (Arbeitnehmer- Entsendegesetz – AEntG) Elke Reinke (DIE LINKE) ...... 16564 B (Drucksache 16/8758) ...... 16585 C Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ b) Erste Beratung des von den Abgeordneten DIE GRÜNEN) ...... 16565 B Brigitte Pothmer, Birgitt Bender, (CDU/CSU) ...... 16566 B Dr. , weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Tagesordnungspunkt 12: GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Antrag der Abgeordneten Monika Knoche, Gesetzes über die Festsetzung von Paul Schäfer (Köln), Inge Höger, weiterer Ab- Mindestarbeitsbedingungen (Erstes geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Un- verzüglicher Rückzug der Bundeswehr aus Mindestarbeitsbedingungen-Ände- dem Kosovo rungsgesetz – 1. MiArbGÄndG) (Drucksache 16/8779) ...... 16567 B (Drucksache 16/8757) ...... 16585 C Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 16567 B Tagesordnungspunkt 17: Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU) ...... 16568 B Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Ent- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 16569 B wurfs eines Gesetzes über das Verbot der Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 16570 B Einfuhr, der Verarbeitung und des Inverkehr- Detlef Dzembritzki (SPD) ...... 16571 B bringens von Robbenerzeugnissen (Robben- erzeugnisse-Verbotsgesetz – RobErzVerbG) Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/8868) ...... 16585 D DIE GRÜNEN) ...... 16572 B Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 16573 A Tagesordnungspunkt 16: Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16573 C Große Anfrage der Abgeordneten Dr. , Hellmut Königshaus, Dr. Werner Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 16574 A Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ursula Mogg (SPD) ...... 16574 C tion der FDP: Gesundheit in Entwicklungs- ländern Tagesordnungspunkt 15: (Drucksachen 16/3209, 16/5378) ...... 16586 A

Unterrichtung durch die Bundesregierung: in Verbindung mit Dritter Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen mit dem Gentechnikgesetz (Drucksache 16/8155) ...... 16575 C Zusatztagesordnungspunkt 7: Dr. Max Lehmer (CDU/CSU) ...... 16575 D Antrag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 16577 C Dr. Christian Ruck, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 16579 B sowie der Abgeordneten Dr. Wolfgang Dr. (DIE LINKE) ...... 16580 B Wodarg, Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ weiterer Abgeordneter und der Fraktion der DIE GRÜNEN) ...... 16581 C SPD: Deutschlands globale Verantwortung für die Bekämpfung vernachlässigter Dr. (SPD) ...... 16582 D Krankheiten – Innovation fördern und Zu- Dr. Max Lehmer (CDU/CSU) ...... 16583 C gang zu Medikamenten für alle sichern Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 16584 C (Drucksache 16/8884) ...... 16586 A Dr. Matthias Miersch (SPD) ...... 16585 A Dr. Karl Addicks (FDP) ...... 16586 B Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 16587 D Tagesordnungspunkt 14: Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 16589 B a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. (SPD) ...... 16590 B Brigitte Pothmer, Birgitt Bender, Dr. Thea Dückert, weiteren Abgeordneten und der Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN) ...... 16592 A VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Tagesordnungspunkt 19: Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Bericht des Ausschusses für Bildung, For- Bernward Müller (Gera), Dr. Hans-Peter schung und Technikfolgenabschätzung gemäß Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und § 56 a der Geschäftsordnung: Technikfolgen- der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- abschätzung (TA): Industrielle stoffliche ordneten Annette Faße, Renate Gradistanac, Nutzung nachwachsender Rohstoffe , weiterer Abgeordneter und Sachstandsbericht zum Monitoring „Nach- der Fraktion der SPD: Chancen des demo- wachsende Rohstoffe“ graphischen Wandels im Tourismus nutzen (Drucksache 16/7247) ...... 16604 C (Drucksache 16/8777) ...... 16593 A Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundes- Tagesordnungspunkt 22: regierung für Tourismus ...... 16593 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (FDP) ...... 16594 D schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- Renate Gradistanac (SPD) ...... 16596 D torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne- (BÜNDNIS 90/ ten Dr. Christel Happach-Kasan, Hans- Michael Goldmann, Jens Ackermann, weite- DIE GRÜNEN) ...... 16597 C rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Fischartenschutz fördern – vordringliche Tagesordnungspunkt 18: Maßnahmen für ein Kormoranmanage- Erste Beratung des von den Abgeordneten ment Dorothée Menzner, Dr. Diether Dehm, (Drucksachen 16/3098, 16/8218) ...... 16605 A Dr. Barbara Höll, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- Tagesordnungspunkt 24: wurfs eines Gesetzes zur Änderung des VW-Gesetzes Antrag der Abgeordneten , Diana (Drucksache 16/8449) ...... 16598 B Golze, Jörn Wunderlich, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Für die Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 16598 C Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) ...... 16599 C UN-Kinderrechtskonvention und eine – hier- von unabhängige – effektive Umsetzung Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 16600 D der Kinderrechte im Asyl- und Aufent- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ haltsrecht DIE GRÜNEN) ...... 16601 C (Drucksache 16/8885) ...... 16605 B (SPD) ...... 16602 C Tagesordnungspunkt 25: Tagesordnungspunkt 21: a) Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, Zweite und dritte Beratung des von der Bun- (), Volker Beck desregierung eingebrachten Entwurfs eines (Köln), weiterer Abgeordneter und der Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. De- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zember 2003 über Politischen Dialog und Entwicklung in Afghanistan – Strate- Zusammenarbeit zwischen der Europäi- gien für eine wirkungsvolle Aufbauar- schen Gemeinschaft und ihren Mitglied- beit kohärent umsetzen staaten einerseits und der Andengemein- (Drucksache 16/8887) ...... 16605 C schaft und ihren Mitgliedstaaten (Bolivien, b) Antrag der Abgeordneten Monika Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela) Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, andererseits Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter (Drucksachen 16/8654, 16/8908) ...... 16604 A und der Fraktion DIE LINKE: Afghanis- tan eine Chance für legalen lizenzierten Tagesordnungspunkt 20: Mohnanbau geben – Drogenmafia wirksam bekämpfen Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, (Drucksache 16/7525) ...... 16605 C Dr. Gerhard Schick, Sylvia Kotting-Uhl, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Fonds Ökowandel – Nächste Sitzung ...... 16605 D Neues Wirtschaften mit altem Geld – Der grüne Fonds aus den Rückstellungen der Anlage 1 Atomwirtschaft (Drucksache 16/8220) ...... 16604 B Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 16607 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 VII

Anlage 2 Abstimmung über die Nr. 2 der Beschluss- empfehlung des Ausschusses für die Angele- Mündliche Frage 31 genheiten der Europäischen Union zu dem Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von Lis- DIE GRÜNEN) sabon vom 13. Dezember 2007 (Tagesord- Anzahl der dem Verwaltungsrat der Kre- nungspunkt 3 a) ...... 16615 C ditanstalt für Wiederaufbau (KfW) durch das Bundesministerium der Finanzen vor- Anlage 6 gelegten aufsichtsrechtlichen Prüfberichte über die KfW seit dem Jahr 2000; freiwil- Erklärung des Abgeordneten Volker Beck lige Unterstellung der KfW unter die Auf- (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur sicht der Bundesanstalt für Finanzdienst- Abstimmung über die Beschlussempfehlung leistungsaufsicht des Rechtsausschusses: Übersicht 10 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streit- Antwort sachen vor dem Bundesverfassungsgericht Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin (Tagesordnungspunkt 36 b) ...... 16615 C BMF ...... 16607 C (156. Sitzung, Drucksache 16/8841) Anlage 7 Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten – Entwurf eines Gesetzes zur Gewährleis- , Dr. Wolfgang tung angemessener Arbeitsbedingungen Strengmann-Kuhn, Sylvia Kotting-Uhl, Ute für grenzüberschreitend entsandte und für Koczy, Hans-Josef Fell, Peter Hettlich, regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeit- Dr. Harald Terpe, Thilo Hoppe und Monika nehmer und Arbeitnehmerinnen (Arbeit- Lazar (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur nehmer-Entsendegesetz – AEntG) namentlichen Abstimmung über den Entwurf – Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Ände- eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon rung des Gesetzes über die Festsetzung vom 13. Dezember 2007 (Tagesordnungs- von Mindestarbeitsbedingungen (Erstes punkt 3 a) ...... 16607 D Mindestarbeitsbedingungen-Änderungs- gesetz – 1. MiArbGÄndG) Anlage 4 (Tagesordnungspunkt 14 a und b) Erklärungen nach § 31 GO zu den namentli- chen Abstimmungen: Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU) ...... 16615 D – Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von Anette Kramme (SPD) ...... 16617 B Lissabon vom 13. Dezember (FDP) ...... 16618 B – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23, 45 und 93) Werner Dreibus (DIE LINKE) ...... 16619 B Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ – Entwurf eines Gesetzes über die Auswei- DIE GRÜNEN) ...... 16619 D tung und Stärkung der Rechte des Bundes- tages und des Bundesrates in Angelegen- heiten der Europäischen Union Anlage 8 (Tagesordnungspunkt 3 a bis c) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über das Verbot Alexander Dobrindt (CDU/CSU) ...... 16608 B der Einfuhr, der Verarbeitung und des Inver- (CDU/CSU) ...... 16609 A kehrbringens von Robbenerzeugnissen (Rob- Dr. (CDU/CSU) ...... 16609 D benerzeugnisse-Verbotsgesetz – RobErzVerbG) (Tagesordnungspunkt 17) Paul Lehrieder (CDU/CSU) ...... 16611 C Dr. (CDU/CSU) ...... 16620 C Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 16612 B Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 16621 D Marion Seib (CDU/CSU) ...... 16613 A (SPD) ...... 16623 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16613 B Christoph Pries (SPD) ...... 16624 A Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 16624 B Anlage 5 Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 16625 A Erklärung des Abgeordneten Volker Beck Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur DIE GRÜNEN) ...... 16625 C VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Anlage 9 Andrea Wicklein (SPD) ...... 16640 A Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 16641 A Antrags: Chancen des demographischen Wan- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 16641 D dels im Tourismus nutzen (Tagesordnungs- Ulla Lötzer (DIE LINKE) ...... 16642 D punkt 19) Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 16626 B DIE GRÜNEN) ...... 16643 C

Anlage 10 Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des der Beschlussempfehlung und des Berichts: VW-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 18) Fischartenschutz fördern – vordringliche Rainer Brüderle (FDP) ...... 16627 B Maßnahmen für ein Kormoranmanagement (Tagesordnungspunkt 22) Anlage 11 Josef Göppel (CDU/CSU) ...... 16644 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Christoph Pries (SPD) ...... 16645 B des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkom- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 16646 A men vom 15. Dezember 2003 über Politischen Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 16647 B Dialog und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit- Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ gliedstaaten einerseits und der Andengemein- DIE GRÜNEN) ...... 16648 A schaft und ihren Mitgliedstaaten (Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela) Anlage 15 andererseits (Tagesordnungspunkt 21) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (CDU/CSU) ...... 16628 A des Antrags: Für die Rücknahme der Vorbe- Lothar Mark (SPD) ...... 16629 A haltserklärung zur UN-Kinderrechtskonven- tion und eine – hiervon unabhängige – effek- (FDP) ...... 16630 D tive Umsetzung der Kinderrechte im Asyl- Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 16631 C und Aufenthaltsrecht (Tagesordnungspunkt 24) Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ Johannes Singhammer (CDU/CSU) ...... 16649 B DIE GRÜNEN) ...... 16632 C Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) ...... 16650 A Anlage 12 Miriam Gruß (FDP) ...... 16651 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 16651 D des Antrags: Fonds Ökowandel – Neues Wirt- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ schaften mit altem Geld – Der grüne Fonds DIE GRÜNEN) ...... 16652 B aus den Rückstellungen der Atomwirtschaft (Tagesordnungspunkt 20) Anlage 16 Dr. (CDU/CSU) ...... 16633 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Rolf Hempelmann (SPD) ...... 16634 C der Anträge: Christoph Pries (SPD) ...... 16635 B – Entwicklung in Afghanistan – Strategien Gudrun Kopp (FDP) ...... 16635 D für eine wirkungsvolle Aufbauarbeit kohä- Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 16636 C rent umsetzen Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ – Afghanistan eine Chance für legalen lizen- DIE GRÜNEN) ...... 16636 D zierten Mohnanbau geben – Drogenmafia wirksam bekämpfen Anlage 13 (Tagesordnungspunkt 25 a und b) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (CDU/CSU) ...... 16653 A des Berichts: Technikfolgenabschätzung (TA) Detlef Dzembritzki (SPD) ...... 16654 A Industrielle stoffliche Nutzung nachwachsen- der Rohstoffe: Sachstandsbericht zum Moni- Harald Leibrecht (FDP) ...... 16655 C toring „Nachwachsende Rohstoffe“ (Tages- Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 16656 B ordnungspunkt 23) Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ Dr. (CDU/CSU) ...... 16637 D DIE GRÜNEN) ...... 16657 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16449

(A) (C) Redetext

157. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ange- Die Sitzung ist eröffnet. lika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierho- fer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich FDP begrüße Sie alle herzlich. Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten, gibt es einige wenige amtliche Leitlinien für den internationalen Arten- und Mitteilungen. Der Kollege Dr. Norman Paech feierte Lebensraumschutz im Rahmen des Überein- am 12. April seinen 70. Geburtstag und die Kollegin Ina kommens über die biologische Vielfalt Lenke am 18. April ihren 60. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich beiden nachträglich herzlich und – Drucksache 16/8878 – wünsche alles Gute. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) (Beifall) Rechtsausschuss (B) Bevor wir in die Beratungen unserer Tagesordnung Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (D) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und eintreten, müssen wir noch zwei Wahlen vornehmen. Verbraucherschutz Der Kollege Dr. Hans-Ulrich Krüger hat sein Amt als Ausschuss für Bildung, Forschung und Schriftführer niedergelegt. Als Nachfolgerin schlägt Technikfolgenabschätzung die SPD-Fraktion die Kollegin Doris Barnett vor. Sind Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Sie damit einverstanden? – Das scheint der Fall zu sein. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Dann ist die Kollegin Doris Barnett damit zur Schrift- Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, führerin gewählt. Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und Außerdem hat die CDU/CSU-Fraktion mitgeteilt, der Fraktion der FDP dass der Kollege aus dem Beirat bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Tele- Gleiche Rechte gleiche Pflichten – Benachteili- kommunikation, Post und Eisenbahnen ausscheidet. gungen von Lebenspartnerschaften abbauen Als Nachfolger wird der Kollege Thomas Bareiß als or- – Drucksache 16/8875 – dentliches Mitglied vorgeschlagen. Können wir uns auch darauf einigen? – Das sieht so aus. Dann ist auch hier Überweisungsvorschlag: einvernehmlich der Kollege Thomas Bareiß in den Bei- Rechtsausschuss (f) Innenausschuss rat der Bundesnetzagentur gewählt. Finanzausschuss Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle führten Punkte zu erweitern: Laurischk, Ina Lenke, Miriam Gruß, weiterer Ab- ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion geordneter und der Fraktion der FDP BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Forderung nach einem Bericht der Bundesre- Überfällige Strategien der Bundesregierung gierung über die Lage der Frauen- und Kin- zur Lösung der Welternährungskrise derschutzhäuser (siehe 156. Sitzung) – Drucksache 16/8889 – ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- Überweisungsvorschlag: fahren Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) (Ergänzung zu TOP 35) Innenausschuss 16450 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (C) schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Ver- Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Rege- Ausschuss für Bildung, Forschung und lung des Statusrechts der Beamtinnen und Technikfolgenabschätzung Beamten in den Ländern (Beamtenstatusge- Haushaltsausschuss setz – BeamtStG) ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Drucksachen 16/4027, 16/4038, 16/7508, richts des Ausschusses für Menschenrechte und 16/8189, 16/8910 – Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt – zu dem Antrag der Abgeordneten Florian Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. , weiterer Abgeordneter und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Fraktion der FDP Gesundheitsfonds stoppen – Morbiditätsorien- Für eine zügige Zeichnung, Ratifizierung tierten Risikostrukturausgleich einführen und Umsetzung des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention der Vereinten Na- – Drucksache 16/8882 – tionen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) – zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Finanzausschuss Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin De- ligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Für eine unverzügliche Zeichnung und Ra- Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/ tifizierung des Zusatzprotokolls zur Anti- DIE GRÜNEN Folter-Konvention der Vereinten Nationen Kinderzuschlag weiterentwickeln – Fürsorge- – Drucksachen 16/455, 16/360, 16/8790 – bedürftigkeit und verdeckte Armut von Berichterstattung: Erwerbstätigen mit Kindern verhindern und Abgeordnete Holger Haibach bekämpfen Christoph Strässer – Drucksache 16/8883 – Florian Toncar (B) Überweisungsvorschlag: (D) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Volker Beck (Köln) Ausschuss für Arbeit und Soziales Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- ZP 6 Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- weit erforderlich, abgewichen werden. regierung Die Tagesordnungspunkte 5 b und 5 c sollen ohne Bericht über die Auswirkungen des § 6 a des Debatte an die Ausschüsse überwiesen werden. Der Ta- Bundeskindergeldgesetzes (Kinderzuschlag) gesordnungspunkt 13 – hier geht es um das Flächener- sowie über die gegebenenfalls notwendige Wei- werbsänderungsgesetz – wird abgesetzt. Die nachfolgen- terentwicklung dieser Vorschrift den Tagesordnungspunkte 15, 17, 19, 21 und 23 der – Drucksache 16/4670 – Koalitionsfraktionen rücken jeweils einen Platz vor. – Überweisungsvorschlag: Hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) schlossen. Rechtsausschuss Finanzausschuss Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f auf: Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- nen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, wei- Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ (Art. 23, 45 und 93) CSU sowie der Abgeordneten Dr. Wolfgang Wo- darg, Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, weiterer – Drucksache 16/8488 – Abgeordneter und der Fraktion der SPD Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Deutschlands globale Verantwortung für die schusses (4. Ausschuss) Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten – – Drucksache 16/8912 – Innovation fördern und Zugang zu Medika- menten für alle sichern Berichterstattung: Abgeordnete – Drucksache 16/8884 – Michael Roth (Heringen) Überweisungsvorschlag: Gisela Piltz Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Ulla Jelpke Auswärtiger Ausschuss Wolfgang Wieland Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16451

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Intransparenz beenden – Eine lesbare Fassung (C) neten Dr. Diether Dehm, Monika Knoche, Hü- des Reformvertrags schaffen seyin-Kenan Aydin, weiteren Abgeordneten und – Drucksachen 16/7446, 16/8920 – der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundge- Berichterstattung: setzes Abgeordnete Michael Stübgen Michael Roth (Heringen) – Drucksache 16/7375 – Markus Löning Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Dr. Diether Dehm schusses (4. Ausschuss) Rainder Steenblock – Drucksache 16/8913 – f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Monika Knoche, Hüseyin- Berichterstattung: Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Abgeordnete Ingo Wellenreuther Fraktion DIE LINKE Michael Roth (Heringen) Gisela Piltz Das Ratifizierungsverfahren zum Vertrag von Ulla Jelpke Lissabon aussetzen – Ein Sozialprotokoll ver- Wolfgang Wieland einbaren a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des – Drucksache 16/8879 – von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Überweisungsvorschlag: eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) 13. Dezember 2007 Rechtsausschuss – Drucksache 16/8300 – Ausschuss für Arbeit und Soziales Ich weise darauf hin, dass wir später über drei Gesetz- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- entwürfe namentlich abstimmen werden. Außerdem ma- ses für die Angelegenheiten der Europäischen che ich auf mehrere Änderungs- und Entschließungsan- Union (21. Ausschuss) träge aufmerksam. – Drucksache 16/8917 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Berichterstattung: diese Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Auch da- (B) Abgeordnete Michael Stübgen rüber herrscht offenkundig Einvernehmen. Dann können (D) Michael Roth (Heringen) wir so verfahren. Markus Löning Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- Dr. Diether Dehm nerin der Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel das Wort. Rainder Steenblock (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- neten der SPD) nen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Ausweitung und Stärkung der Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Rechte des Bundestages und des Bundesrates Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! in Angelegenheiten der Europäischen Union Meine Damen und Herren! Ich möchte an diesem Tage mit einem Wort des Dankes beginnen. Ich danke allen – Drucksache 16/8489 – für die vertrauensvolle Zusammenarbeit an einem – wie ich glaube: großen – Projekt, einem Projekt, mit dem wir Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- uns nicht mehr und nicht weniger als eine neue Grund- ses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (21. Ausschuss) lage für Europa schaffen. Ich bin mir sicher: Es ist eine Grundlage, die solide und von Bestand ist. Das ist eine – Drucksache 16/8919 – Überzeugung, die ich nicht nur mit der gesamten Bun- desregierung teile. Die bisherige Debatte über den Ver- Berichterstattung: trag von Lissabon in diesem Haus hat nahezu über alle Abgeordnete Michael Stübgen Fraktionsgrenzen hinweg eine grundlegende Einigkeit Michael Roth (Heringen) offengelegt. Der neue Vertrag ist gut für Europa. Michael Link (Heilbronn) Dr. Diether Dehm (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Rainder Steenblock FDP) e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Er ist nicht nur gut für Europa, sondern er ist auch gut richts des Ausschusses für die Angelegenheiten für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Dies der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem zählt für uns in diesem Hause natürlich in ganz besonde- Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Ale- rer Weise. Diese Einigkeit in den Grundfragen der Euro- xander Ulrich, Dr. Hakki Keskin, weiterer Abge- papolitik in Deutschland ist ein hohes Gut. Einigkeit ordneter und der Fraktion DIE LINKE macht stark. Sie stärkt auch die Stimme der Bundes- 16452 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) republik Deutschland in der Europäischen Union. Das schwieriger wird, eigene Interessen zu 100 Prozent (C) wird sich in vielen Fällen zeigen; deshalb dieses herzli- durchzusetzen. Umso wichtiger wird es sein, frühzeitig che Dankeschön. für unsere Anliegen bei der Kommission, dem Europäi- schen Parlament und bei anderen Mitgliedstaaten zu (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) werben. Aber insgesamt ist es von Vorteil auch für uns; Meine Damen und Herren, zusammen mit vielen an- denn Stillstand und Blockaden können so sehr viel bes- deren ist es uns gelungen, unter unserem Ratsvorsitz und ser überwunden werden. dann unter der portugiesischen Präsidentschaft Europa (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem aus seinem Stillstand herauszuführen. Es ist uns gelun- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen, die 27 Mitgliedstaaten zu einem Bekenntnis zusam- menzubringen: Europa bekennt sich heute mit größerem Zweitens bekommen wir eine gerechtere Gewich- Nachdruck zu seinen unveräußerlichen Werten, die wir tung der Stimmen. Bei Mehrheitsabstimmungen im Rat in der Berliner Erklärung vom 25. März 2007 zum wird die Bevölkerungsgröße der Mitgliedstaaten – dies Ausdruck gebracht haben. Der neue Vertrag macht die ist für Deutschland natürlich wichtig – voll ins Gewicht Grundrechtecharta verbindlich. Die Europäische Union fallen. Es ist in einer Gemeinschaft demokratischer Staa- ist jetzt nicht mehr nur eine Union von Frieden, Freiheit ten nur recht und billig, dass jede einzelne Stimme zählt. und Sicherheit, sondern sie macht mit der Grund- rechtecharta auch deutlich, dass sie sich zu einem euro- Drittens erhält die Europäische Union eine Kompe- päischen Wirtschafts- und Sozialmodell bekennt, in tenzordnung, die die Kategorien der Zuständigkeit der dem wirtschaftlicher Erfolg und soziale Verantwortung Mitgliedstaaten und der Union festlegt. Dies war eine miteinander vereint werden. Für uns in Deutschland, die langjährige Forderung der Bundesregierung und der wir in diesem Jahr den 60. Jahrestag der sozialen Markt- deutschen Bundesländer. Außerdem wird zum ersten wirtschaft begehen, ist dies eine ganz wichtige Bot- Mal das Prinzip der Rückübertragbarkeit von Kompeten- schaft: Unsere Europäische Union ist den gleichen Wer- zen festgeschrieben. Sie kommt dann infrage, wenn die ten verpflichtet, wie wir sie im deutschen Sozialmodell Mitgliedstaaten glauben, dass etwas besser national erle- kennen. Das ist eine Stärkung unserer Stimme auch in ei- digt werden kann. ner globalen Zeit. Viertens. Der neue Vertrag erleichtert die Zusammen- arbeit in einem ganz wichtigen Feld der Politik, nämlich (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der in der Innen- und Justizpolitik. So können wir die Au- FDP) ßengrenzen Europas besser sichern und illegale Einwan- Die Bürgerinnen und Bürger müssen natürlich spüren, derung nach Europa und nach Deutschland weiter ein- (B) dass die Europäische Union ihnen persönlich in ihrem dämmen. In Zukunft werden auch gemeinsame operative (D) Lebensumfeld und in der Familie zugutekommt. Das Ermittlungsgruppen in Europa möglich, und damit sind macht den Zusammenhalt in Europa und natürlich wir für den Kampf gegen grenzüberschreitende Krimina- auch in unserer Gesellschaft aus. Ich bin sehr froh, dass lität und gegen Terrorismus besser als bislang gerüstet. es uns gelungen ist, dieses fundamentale politische Be- Fünftens. Es werden die Grundlagen für einen ge- kenntnis Europas zu sich selber zu erreichen. Dies ist meinsamen Klimaschutz und für eine solidarische Zu- nach meiner Auffassung die tiefe Bedeutung dieses Ver- sammenarbeit im Energiebereich geschaffen. Ich tragsabschlusses. denke, die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, Wir haben in der Berliner Erklärung gesagt, wir Euro- dass wir bei diesen großen Zukunftsfragen in der Euro- päer seien zu unserem Glück vereint. Die Bundesregie- päischen Union tätig werden können. rung und dieses Parlament sehen heute in diesem neuen Der Vertrag von Lissabon erfüllt schließlich viele Vertrag einen weiteren Schritt auf dem Wege zur Ausge- weitere, ganz speziell auch deutsche Forderungen, die staltung unserer gemeinsamen Zukunft. Wir sollten uns aus Europa Schritt für Schritt stärker ein Europa der ganz bewusst machen, was mit diesem Vertrag passiert Menschen, ein Europa der Bürgerinnen und Bürger ma- ist; denn anders als andere Verträge trägt dieser Vertrag chen. Ich begrüße zum Beispiel ausdrücklich, dass die von Lissabon kein Verfallsdatum. Er hat anders als Achtung der regionalen und lokalen Selbstverwaltung seine unmittelbaren Vorgänger keine Revisionsklausel. nun der Europäischen Union vertraglich vorgeschrieben Eine weitere grundlegende Änderung der Verträge ist wird. Das sichert unser Verständnis von Europa als einer heute nicht in Sicht. Wenn dieser Vertrag in Kraft tritt, engen politischen Gemeinschaft, die aber kein Staat ist dann wird die Europäische Union auf sicheren Beinen und auch kein Staat sein wird, sondern ein Gebilde sui stehen. Dies ist meine Überzeugung und die vieler ande- generis, ein einzigartiges Gebilde. rer. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Schauen wir uns die Dinge im Einzelnen an, bringt dieser Vertrag erhebliche Fortschritte: Ich begrüße insbesondere, dass der Status der Kirchen in einem eigenen Artikel festgeschrieben werden konnte. Erstens. Er sichert die Entscheidungs- und Hand- Auch das ist für unser Werteverständnis von großer Be- lungsfähigkeit der 27 Mitgliedstaaten. Künftig werden deutung. wir im Rat überwiegend mit Mehrheit statt mit Einstim- migkeit beschließen. Ich weiß, dass dies natürlich für (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Deutschland auch bedeuten kann, dass es manchmal bei Abgeordneten der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16453

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Schon diese wenigen Beispiele zeigen uns: Der Ver- tretern, die heute in der Kommission in diesen Bereichen (C) trag von Lissabon ist ein Gewinn für Deutschland. Er ist arbeiten. Auch das wird eine spannende Sache werden. in seiner Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen. Ich sehe deshalb mit Freude, dass die Ratifizierungsverfah- Die Beschreibungen dieser neuen Ämter werden nach ren auch in den anderen Mitgliedstaaten zügig voran- der Konsultation der einzelnen Organe der Europäischen schreiten. Ich bin heute hier zuversichtlich, dass der Ver- Union im zweiten Halbjahr vorliegen, damit wir zu Be- trag am 1. Januar in Kraft treten kann. Ich sage aber ginn des Jahres 2009 in die Arbeit einsteigen und effi- auch: Es ist wirklich höchste Zeit für Europa. Wir haben zient handeln können. uns jahrelang mit uns selbst beschäftigt. Die Phase der Die Fundamente der Europäischen Union sind neu Ungewissheit und der Lähmung muss vorbei sein. Es ist gelegt. Sie müssen sich nun festigen, und das gibt Ruhe wichtig, dass wir jetzt wieder den Blick nach vorne rich- und Kraft für die eigentlichen politischen Aufgaben. Ich ten. sehe unsere nächste große Herausforderung in Europa darin, unsere eigenen, die europäischen Interessen in der Da ist auf der einen Seite natürlich die spannende Welt deutlicher zu definieren und Strategien zu ent- Frage, was denn nun dieser neue Vertrag für die Organe wickeln, um diese Interessen in der Welt wirklich durch- der Union, für den Rat, für die Kommission, für das zusetzen. Europäische Parlament, für die Zusammenarbeit und für das Verhältnis zu den nationalen Parlamenten und Regie- Die Bürgerinnen und Bürger erwarten mit Recht Ant- rungen bedeutet. Genau dafür werden wir im zweiten worten auf die großen politischen Fragen, vor denen die Halbjahr dieses Jahres, nämlich unter der französischen Mitgliedstaaten und die Union insgesamt stehen. Ich will Präsidentschaft, die Weichen stellen; denn wir müssen diese Aufgabe unter dem Begriff der politischen Gestal- jetzt noch im Detail ausgestalten, wie das alles funktio- tung der Globalisierung zusammenfassen. Die Men- niert. Wir wissen, dass das Europäische Parlament durch schen erwarten von uns, dass wir den ökonomischen Er- diesen Vertrag gestärkt wird. Als gleichberechtigter Mit- eignissen nicht hinterherlaufen, sondern dass wir für sie gesetzgeber wird es zum ersten und einzigen voll gülti- einen Ordnungsrahmen finden. Der Grundgedanke der gen supranationalen Parlament der Welt für die Kompe- sozialen Marktwirtschaft ist der Grundgedanke des ge- tenzen, die nach Europa übertragen werden. Die Arbeit ordneten Wettbewerbs. Diesen Gedanken müssen wir der Kommission wird an Effizienz und Konzentration auf die Europäische Union übertragen, weil wir als Na- gewinnen. Die Kommission wird ab 2014 verkleinert. tionalstaaten unsere Interessen in vielen Fragen allein Ich glaube, das ist richtig; denn wir haben immer wieder nicht mehr ausreichend durchsetzen können. erlebt: Je mehr Kommissare wir haben, desto mehr Zu- ständigkeiten werden gefunden. Deshalb ist diese Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (B) schränkung nach meiner festen Überzeugung richtig. bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- (D) NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Was gehört dazu? Dazu gehört eine Wirtschaftsord- FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nung mit menschlichem Gesicht. Dazu gehören gere- SES 90/DIE GRÜNEN) gelte und transparente Finanzmärkte. Dazu gehört eine Zu einer der wichtigsten Neuerungen zählt das Amt gestärkte, wertegebundene gemeinsame Außenpolitik, des Präsidenten des Europäischen Rates. Der Vertrag die europäische Interessen und auch Standards durch- sagt, dass der Präsident der Arbeit des Europäischen Ra- setzt. Dazu gehört die Sicherung der Energieversorgung. tes Kontinuität verleihen soll. Damit wird ihm in beson- Dazu gehört ein moderner Klima- und Umweltschutz. derer Weise, so ist es beschrieben, die Aufgabe der Kon- Dazu gehören eine geregelte Migrations- und Integra- sensbildung unter den 27 Mitgliedstaaten zukommen, tionspolitik genauso wie der Schutz des geistigen Eigen- genauso wie die Vertretung in der gemeinsamen Außen- tums. Das ist notwendig, wenn wir ein Kontinent der In- politik auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs. novation bleiben wollen. Aber natürlich ist das in Bezug auf die bisher bekannte Unter diesen großen Aufgaben sind nicht wenige, bei Präsidentschaft, die ein halbes Jahr dauert und die es denen die Europäische Union in Zukunft stärker tätig auch weiter gibt, eine interessante Neuerung, die vieler- werden muss, als sie das heute tut. Sie hat den Auftrag, lei Fragen aufwirft, die erst einmal geklärt werden müs- dies immer dort zu tun, wo wir eine geschlossene und sen. entschlossene Gemeinschaft der 27 Mitgliedstaaten (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist wahr!) brauchen, um ein Anliegen in der Welt durchzusetzen. Wir sind gemeinsam 500 Millionen Einwohner in Eu- Außerdem wird natürlich das neugestaltete Amt des ropa. Wenn wir uns zu gemeinsamen Positionen zusam- Hohen Vertreters für Außenpolitik von großer Wich- menfinden, kann man in der Welt daran nicht einfach tigkeit sein. Der Hohe Vertreter für Außenpolitik wird vorbeigehen. praktisch Vizepräsident der Kommission sein. Damit (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie steht er zwischen diesen beiden Organen. Es wird viel bei Abgeordneten der FDP) Aufmerksamkeit erfordern, wenn wir den Aufbau des neuen Europäischen Auswärtigen Dienstes in Angriff Der Vertrag bietet auch eine Handhabe für den Fall, nehmen. Der wird natürlich aus Menschen bestehen, die dass wir uns einmal nicht einig sind, wenn wir gemein- aus den Mitgliedstaaten kommen – Deutschland wird sam handeln wollen. Deshalb gibt es das Instrument sich daran beteiligen –, aber gleichzeitig auch aus Ver- der verstärkten Zusammenarbeit. Allerdings müssen 16454 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) alle Mitgliedstaaten zustimmen, dass eine Gruppe dieses den, warum sie denn welche Zuständigkeit für sich bean- (C) Instrument nutzt. Ich sage allerdings auch: Es darf nicht sprucht. der normale Weg sein, dass wir in allen wichtigen Fra- gen nur die verstärkte Zusammenarbeit suchen. Viel- Ich glaube, dass wir gemeinsam – Bundesregierung, mehr müssen wir uns schon bemühen, gemeinsame Posi- Bundestag und Bundesrat – sehr gut daran gearbeitet ha- tionen auszuarbeiten. ben, dass diese Parlamentsrechte von Anfang an wir- kungsvoll angewandt werden können. Dass zum Bei- Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jah- spiel die Klageerhebung vor dem Europäischen ren, man kann fast sagen: Jahrzehnten, war der Weg der Gerichtshof bewusst als Minderheitenrecht ausgestaltet Europäischen Union ein Weg, der zu immer mehr Inte- worden ist – das heißt: Bereits ein Viertel der Mitglieder gration, zu immer mehr gemeinsamem Handeln geführt dieses Hauses kann vom nächsten Jahr an eine Subsidia- hat. Dies war zu Beginn nötig, um das gemeinsame ritätsklage bewirken –, ist ein Teil dessen. Das zeigt, Werk überhaupt einmal auf die Füße zu stellen und zum dass wir hier auch ein ganzes Stück näher an die Men- Laufen zu bringen. Ich glaube, dass wir in Zukunft stär- schen herangerückt sind. ker vor der Aufgabe stehen, zu entscheiden, wie das (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der richtige Gleichgewicht zwischen nationalen Aufgaben FDP) und europäischen Aufgaben auszugestalten ist. Das heißt, wir müssen überlegen, wo etwas am besten erle- Wir sind gut beraten, von diesem neuen Recht auch digt werden kann: in Brüssel, in Berlin, in Schwerin oder Gebrauch zu machen, es anzuwenden und europäische in Mainz? Debatten damit künftig viel früher, als das in der Vergan- genheit der Fall war, zu deutschen Debatten zu machen. (Heiterkeit) Ich kann also nur sagen: Packen wir den Stier bei den – Ich hätte auch „München“ sagen können. Das leuchtet Hörnern! Lassen wir uns darauf ein, die Subsidiaritäts- vielleicht mehr ein. kultur in Europa wirklich weiterzuentwickeln! Deutsch- land hat mit seinem föderalen System sehr gute Erfah- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- rungen gemacht, und das sollten wir auch in Europa wie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – zeigen. Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Da kann vieles besser erledigt werden!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Nun kommt ein wichtiger Punkt: Der Vertrag macht SES 90/DIE GRÜNEN) klar: Die Mitgliedstaaten sind Herren der Verträge. Das (B) heißt, wir, die Bundesregierung und der Deutsche Bun- Meine Damen und Herren, nächstes Jahr – der Vertrag (D) destag, entscheiden, wann wir eine Aufgabe der europäi- tritt dann hoffentlich in Kraft – wird es 20 Jahre her sein, schen Ebene geben und wann sie besser in der nationalen dass Ungarn den Stacheldraht durchtrennte und in Berlin Verantwortung bleibt. Hierfür ist in Deutschland der die Mauer fiel. Die Europäische Union hat sich in dieser Maßstab gesetzt, nämlich der Maßstab der Anwendung Zeit zu einer Union erweitert, die fast Gesamteuropa des Subsidiaritätsprinzips, was nichts anderes heißt, umfasst – bestehend aus Staaten, die in Demokratie, als dass die untere Ebene den Vorrang vor der oberen Frieden und Freiheit leben können. Die Europäische hat, wann immer sie die Aufgabe richtig erledigen kann. Union ist gewachsen, äußerlich durch die Erweiterungen und innerlich jetzt durch die Reform des Vertrages. Das Es ist kein Geheimnis, dass dieser Grundsatz in der macht uns als Kontinent handlungsfähig. Deshalb sage Europäischen Union noch nicht immer zu hundert Pro- ich: Europa wird nächstes Jahr stärker und selbstbewuss- zent befolgt wird. Deshalb ist es so wichtig, dass der ter denn je sein. Wir Deutschen in seiner Mitte werden Vertrag von Lissabon uns hier völlig neue Möglichkeiten davon großen Nutzen haben. Das ist jedenfalls, kurz ge- gibt. Er räumt den nationalen Parlamenten zum ersten sagt, mein Verständnis von erfolgreicher Europapolitik Mal die Möglichkeit ein, sich früher, nämlich bevor Rat in Deutschland. Auf diesem Wege werden wir weiterge- und Europäisches Parlament mit den Verhandlungen be- hen. Ich danke noch einmal für Ihre Unterstützung. ginnen, mit den Vorschlägen zu befassen, sie zu prüfen und zu fragen: Ist ein Tätigwerden der Union an dieser Herzlichen Dank. Stelle überhaupt nötig? – Mit der Antwort auf diese (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Frage können dann die nationalen Parlamente frühzeitig FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- klare Signale an die Europäische Union senden. SES 90/DIE GRÜNEN) Natürlich wird es vorkommen, dass die Organe der Europäischen Union einen Vorschlag weiterverfolgen, Präsident Dr. Norbert Lammert: obwohl er nach Auffassung eines nationalen Parlaments Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Guido Wester- gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt. Aber in diesem welle, FDP-Fraktion. Fall eröffnet der neue Vertrag dem nationalen Parlament den Klageweg zum Europäischen Gerichtshof. Wenn wir (Beifall bei der FDP) dieses Instrument nutzen – der Erfolg hängt natürlich da- von ab, ob wir es vernünftig nutzen –, dann wird hier Dr. Guido Westerwelle (FDP): sehr schnell deutlich werden, dass die Europäische Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Union stärker als bisher dazu aufgefordert ist, zu begrün- ren! Frau Bundeskanzlerin, das ist eine der Debatten in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16455

Dr. Guido Westerwelle (A) diesem Hohen Hause, bei der die Grenzen in Wahrheit der Europäischen Union organisiert sind. Für einen Kon- (C) nicht zwischen Regierung und Opposition verlaufen. tinent, auf dem Krieg das Normale war, ist das eine mitt- Wir freuen uns darüber, und zwar gleich auf welcher lere Sensation. Es ist großartig, was wir jetzt hier und Seite dieses Hauses wir sitzen, dass mit der heutigen heute erleben, meine Damen und Herren! Entscheidung eine Entwicklung einen guten Schluss- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten punkt finden wird. Das ist ein guter Tag für Deutschland; der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des es ist ein guter Tag für Europa. Das Wichtigste dabei ist, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass die Bürgerinnen und Bürger davon etwas haben. Ausdrücklich erkennen wir als liberale Opposition auch Deswegen kann ich nur denen sagen, die heute mit den Beitrag an, den die Regierung Merkel/Steinmeier Maximalpositionen kommen – von Rechtsaußen und hier geleistet hat. von Linksaußen hört man ja Vieles, was man hätte bes- ser machen sollen –: Das ist leicht gesagt. Jeder wird es (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der so sehen, dass einiges, hätten wir den Vertrag alleine er- SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- stellt, ohne auf die anderen 26 Staaten Rücksicht zu neh- SES 90/DIE GRÜNEN) men, anders gekommen wäre. Aber wir hätten auch fet- Meine Damen und Herren, wenn man in der Bevölke- zige Diskussionen erlebt. Erst recht erlebt man solche, rung über Europa debattiert – der Vertrag ist ausführlich wenn sich 27 Staaten einigen müssen. Deswegen gilt, dargestellt worden; ich muss nicht noch einmal alle De- wie ich denke, die Erkenntnis von Konrad Adenauer: tailpunkte wiedergeben –, mit jungen Menschen oder Wenn man das Beste in der Europapolitik nicht erreichen mit Bürgerinnen und Bürgern, die sich über Bürokratie kann – das Beste wäre eine Verfassung gewesen, und ärgern, die nicht nachvollziehen können, warum uns in zwar durch eine Volksabstimmung bestätigt –, ist man Deutschland bestimmte Dinge aus Brüssel erreichen, gut beraten, das Zweitbeste zu machen. Das, was heute dann stellt man häufig fest, dass der eigentliche Grund, vorliegt, ist das Zweitbeste. Es ist besser als alles andere, warum wir Europa machen, in den Hintergrund rückt. was wir an Alternativen haben. Für mich ist das besonders deutlich geworden in einer (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten außerordentlich bewegenden Stunde, die wir vor weni- der CDU/CSU und der SPD) gen Wochen hier erleben durften, nämlich bei der Ge- denkstunde anlässlich des vor 75 Jahren erlassenen Er- Ich ahne, dass es Stunden und Tage geben wird, wo mächtigungsgesetzes. Es gab hier, wie ich ausdrücklich wir Deutsche die institutionellen Reformen, die die erwähnen möchte, zwei großartige Reden, nämlich vom Bundeskanzlerin hier zu Recht als Erfolg darstellt und Bundestagspräsidenten und von Hans-Jochen Vogel. die wir heute loben – mehr Mehrheitsentscheidungen, kleinere EU-Kommissionen –, verfluchen werden. Wir (B) Das, was Hans-Jochen Vogel uns als denen, die heute (D) Verantwortung tragen, da gesagt hat, ist in meinen Au- werden nämlich erleben, dass es nicht für all unsere Auf- gen auch erhellend dafür, warum wir Europa machen fassungen und Haltungen in Europa eine Mehrheit geben müssen. wird. Wir werden unglaublich kräftige Diskussionen mit mehr oder weniger lokalpatriotischer Ausprägung füh- (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!) ren. Wir werden all das erleben. So stimmt das, was Sie, Hans-Jochen Vogel sagte damals hier von diesem Platz Frau Bundeskanzlerin, sagten: Man kann Brüssel besser aus: Für meine Generation war Krieg die Normalität. Für machen, so wie man Mainz und München besser machen euch ist Frieden die Normalität. – Wir, die wir im Frie- kann. den leben, sollten nicht vergessen, dass das das größte (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geschenk der europäischen Geschichte ist. Hätte Europa Berlin kann man auch besser machen!) nicht mehr gebracht als Frieden, es hätte sich schon ge- lohnt, meine Damen und Herren! – Jetzt, wo Sie es sagen, Frau Künast. Auch die Grünen kann man besser machen. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) CDU/CSU) Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wer- Ich habe mir während der Rede der Bundeskanzlerin den noch einige sehr empfindliche Diskussionen darüber – ihre Ausführungen unterstützen wir – ein bisschen die führen. Das wird vor allem in Bereichen sein, die wir Gesichter vor allen Dingen von den jungen Menschen uns zurzeit nur zaghaft anzusprechen trauen. Ich meine angesehen, die oben auf den Tribünen sitzen, die zu- die gesamte Entwicklung im Innen- und Rechtsbereich schauen und sich die Frage stellen, was diese europäi- sowie das Selbstverständnis, auch das rechtsstaatliche schen Institutionen und Techniken – Hoher Kommissar Selbstverständnis. Das ist zum Glück in Deutschland au- für Außenpolitik, doppeltes Mehrheitsprinzip, Subsidia- ßerordentlich sensibel ausgeprägt, wobei wir wissen, ritätsklage – mit ihnen zu tun haben. Natürlich ist das auf dass dies in anderen Ländern nicht unbedingt zwingend den ersten Blick unglaublich kompliziert; natürlich ist so der Fall ist. das auch das, was uns im täglichen Geschäft beschäftigt. Aber in Wahrheit ist es ein unglaubliches Glück, dass Das, was wir heute beschließen, ist schlechter als eine wir zum ersten Mal in unserer Geschichte in einem Zu- Verfassung mit Volksabstimmung, aber besser als die stand leben, in dem um Deutschland herum nur befreun- Alternative, nämlich nichts zustande zu bringen. Vor al- dete Länder und Staaten sind, die unter demselben Dach lem ist es die Konsequenz aus der Erweiterung der 16456 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Dr. Guido Westerwelle (A) Europäischen Union. Natürlich fragen sich viele, ob ei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) nige Länder unbedingt dazukommen mussten, ob diese der CDU/CSU und des Abg. Manfred Zöllmer Länder überhaupt schon die mitteleuropäischen Stan- [SPD]) dards erfüllen. Aber die Erweiterung der Europäischen Ich komme zum Schluss. Frau Bundeskanzlerin, Sie Union liegt vor allem aufgrund unserer geografischen haben völlig zu Recht auf die Chancen hingewiesen, die Lage im deutschen Interesse, übrigens nicht nur im deut- jetzt, jedenfalls theoretisch, durch eine besser koordi- schen friedenspolitischen Interesse, sondern auch im nierte Außenpolitik entstehen. Das beschäftigt und be- deutschen ökonomischen Interesse. Viele reden über die wegt natürlich schon seit langer Zeit auch den Außenmi- Globalisierung. Dass wir einen Binnenmarkt mit etwa nister. Wir hoffen, dass das mehr sein wird als eine 500 Mil-lionen Bürgerinnen und Bürgern, also Teilneh- Institution. Wir hoffen, dass das mehr sein wird als eine mern dieses Binnenmarktes, bekommen, ist in Wahrheit strukturelle Beruhigung. Das muss mit Leben und Seele eine ausgezeichnete Antwort auf den wachsenden Wett- gefüllt werden. Nur dieses Amt eines europäischen bewerbsdruck in der Welt durch die Globalisierung. Quasi-Außenministers zu schaffen, ohne die Bereit- Auch die ökonomischen Chancen steigen. Deutsch- schaft, in Europa zu einer gemeinsam koordinierten Au- land ist der Gewinner der Europäischen Union, auch ßen- und Sicherheitspolitik zu kommen, wäre zu wenig. wenn wir viel dafür zahlen. Wir sind der Gewinner der Dahinter muss auch der Wille stehen, gemeinsam zu Europäischen Union, weil kein Land so abhängig ist handeln. Egal wer regiert, ob in Deutschland oder in an- vom Export und damit auch vom großen europäischen deren Ländern, es ist nicht gut, wenn wir in Europa, und Binnenmarkt wie wir Deutsche. Etwas anderes haben zwar noch in diesen Tagen, zulassen, dass andere außer- wir nicht. halb von Europa es schaffen können, uns in Europa au- ßenpolitisch und sicherheitspolitisch zu spalten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das ist übrigens etwas, was bei der Raketenstationie- der CDU/CSU und der SPD) rung aus unserer Sicht zu kurz gekommen ist. Es ist Europa wird mit diesem Vertrag besser funktionieren. nicht nur für die NATO eine Frage, ob die USA in Polen Mehr überzeugte Europäer schafft er noch nicht. Das und in Tschechien Raketen stationieren, sondern es ist hätte aus unserer Sicht ein Verfassungsvertrag mit einer auch eine europäische Frage; denn wenn wir es mit der Volksabstimmung leisten können. Aber wir müssen zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitik ernst mei- Kenntnis nehmen, dass dies nicht erreichbar war. Wir nen, können wir Zonen unterschiedlicher Sicherheit in alle wissen, dass das in anderen Ländern per Volksab- Europa nicht zulassen. stimmung gescheitert ist. Jetzt gibt es diesen Vertrag. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (B) Wir als FDP-Fraktion werden aus innerster Überzeu- SPD) (D) gung den Vorlagen einstimmig zustimmen. Wir haben ein Interesse an einer gemeinsamen Europa- Ich möchte nun noch zwei Bemerkungen machen, und Außenpolitik, das heißt an einer Außenpolitik, die von denen ich überzeugt bin, dass wir sie hier berück- der Abrüstung verpflichtet ist und die nicht sehenden sichtigen sollten. Aus Sicht einer liberalen Partei, einer li- Auges eine neue Aufrüstungsspirale zulässt. beralen Fraktion ist es nicht erfreulich, dass sich beispiels- Das ist das, was ich dazu beitragen wollte. Wir wer- weise der Gedanke eines freien und funktionierenden den zustimmen. Wettbewerbs, eines unverfälschten Wettbewerbs – das ist eigentlich ein klassischer Gedanke der Gründer der sozia- Herzlichen Dank. len Marktwirtschaft – in einer Protokollnotiz verstecken muss. Das bedauern wir. Aus unserer Sicht hat dies einen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) zu sehr wohlfahrtsstaatlichen Anstrich. Aber so ist es nun einmal bei einem Kompromiss. Präsident Dr. Norbert Lammert: ( [CDU/CSU]: So ist es!) Das Wort erhält nun der Ministerpräsident von Rhein- land-Pfalz, Kurt Beck. Dies hätten wir gerne anders gesehen. Aber das kommt jetzt so und man muss es akzeptieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Natürlich ist aus unserer Sicht völlig klar – das wird unsere Aufgabe sein, auch aufgrund unserer deutschen Kurt Beck, Ministerpräsident (Rheinland-Pfalz): Tradition der Währungsstabilität –, dass die Europäische Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Zentralbank nicht irgendeine, sondern die entscheidende Damen und Herren! Wer die Geschichte Europas kennt, Institution zur Wahrung der Stabilität des europäischen wird feststellen: Die europäische Einigung ist eine Er- Finanzmarktes ist. Von daher müssen wir mit Argus- folgsgeschichte. Mit dem Lissabon-Vertrag, der heute augen darauf achten, dass die Europäische Zentralbank vorliegt und der zum 1. Januar des kommenden Jahres in nicht zum politischen Spielball von gelegentlichen Stim- Kraft treten wird, haben wir einen vorläufigen Abschluss mungen wird. Wir wissen, andere Länder gehen an diese dieses Einigungsprozesses gefunden. Sache anders heran. Umso wichtiger ist es, dass wir Deutsche unsere Währungskultur in Brüssel nachdrück- Freilich, es war ein langer Weg. Ich darf daran erin- lich vertreten. nern, dass Sozialdemokraten bereits im Jahr 1925 in ih- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16457

Ministerpräsident Kurt Beck (Rheinland-Pfalz) (A) rem Heidelberger Programm beschlossen haben: Unser (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Ziel ist, die vereinigten Staaten von Europa zu erreichen. der CDU/CSU und der FDP) Wenn einige dieser Gedanken Eingang in die Politik ge- Frau Bundeskanzlerin, ich finde das Beispiel Mainz – der funden hätten, wäre uns vieles erspart geblieben. Kollege Beckstein wird es mir verzeihen – schon gut ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wählt. Daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben. der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir sind uns sicher einig, dass es ein zäher Prozess Im Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz ist auf dem ist, mit 27 Staaten Regelungen zu finden und Entschei- Hambacher Schloss der Gedanke eines gemeinsamen dungen herbeizuführen, die die Interessen der großen Europas schon 1832 propagiert worden, zu einer Zeit, als Staaten wie Italien, Frankreich, Großbritannien und in Bayern noch Truppen gegen alles, was demokratisch Deutschland genauso berücksichtigen wie die der klei- erschien, ausgesandt wurden. nen und kleinsten Staaten Europas. Aber wer die Kraft zum Interessensausgleich nicht findet, wird den Kernge- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei danken dieses Europas, das aus eigenständigen Staaten Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des zusammengesetzt ist und damit auch deren Geschichte BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und besondere Bedürfnisse berücksichtigen muss, ver- Ich gebe zu, Herr Beckstein, das hat sich geändert. fehlen. Ich will auch unterstreichen, dass mit diesen Verträ- Entscheidend ist deshalb Kompromissbereitschaft, gen ausdrücklich betont worden ist, dass die Europäi- die freilich auf dem Weg zu der jetzigen Entscheidung sche Grundrechtecharta Teil dieser Wertegemeinschaft auch viele Rückschläge erlebt hat. Wir empfinden es als ist. Aber an dieser Stelle muss man etwas Wasser in den einen Rückschlag, dass die Arbeit des Konvents, eine Wein gießen und feststellen: Das Opting-out von Groß- europäische Verfassung nicht nur vorzulegen, sondern britannien und Polen ist sicher keine sehr angenehme auch ratifiziert zu bekommen, letztendlich in dieser Begleiterscheinung. Form nicht erfolgreich war. Aber es ist anerkennenswert – ich will das, Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundes- Ich will auch den Ansatz hervorheben, dass europäi- außenminister, auch Ihnen gegenüber ausdrücklich un- sche Bürgerinnen und Bürger, wenn ihre Zahl mindes- terstreichen –, dass dieser Rückschlag eben nicht zu ei- tens 1 Million beträgt, ihrerseits eine Initiative auf den ner dauerhaften Lähmung Europas geführt hat, sondern Weg bringen können. Die Kommission wird sich dann dass es gerade unter deutscher Ratspräsidentschaft mög- mit ihrem Anliegen befassen. Ja, 1 Million ist sehr viel; lich war, einen neuen Anlauf zu einem Prozess zu neh- die Hürden sind sehr hoch. Es ist aber ein neuer Ge- (B) men, der dann unter portugiesischer Ratspräsidentschaft danke, der die Idee der europäischen Bürgerschaft (D) seinen Abschluss gefunden hat. transportiert. Auch da wird das letzte Wort noch nicht gesprochen worden sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der CDU/CSU und der FDP) Unterstreichen will ich, dass wir uns alle wünschen, Dabei müssen wir uns immer wieder in Erinnerung die Europäische Gemeinschaft möge in ihrem außenpoli- rufen, dass dieser vorläufige Abschluss natürlich keine tischen Handeln und Wirken stärker werden. Sie kann Öffnung enthält, die es ermöglicht, sofort wieder neue nur stärker werden, wenn wir im Inneren einiger werden. Verhandlungen über Verträge zu führen. Aber es wird Deshalb gilt es, gemeinsame Werte immer wieder zu be- damit eine Idee transportiert, mit der uns die Aufgabe tonen und gemeinsame Haltungen zu den Konfliktsitua- gestellt wird, an dem Gedanken einer weiteren Festigung tionen dieser Welt im Rahmen vieler bilateraler Kon- und einer weiteren Zusammenführung entlang der ge- takte herbeizuführen. Mit dem Hohen Vertreter für den meinsamen Werte und Ziele dieses Europas zu arbeiten. außenpolitischen Bereich – ich hätte ihn lieber „europäi- Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten scher Außenminister“ genannt – und seiner Verankerung bleibt deshalb das Ziel, eine europäische Verfassung zu an der Spitze der Kommission ist auch dort ein Faktum erreichen, eine große Vision, die wir auch weiter verfol- geschaffen worden. Ich bin davon überzeugt, dass sich gen werden. die große Bedeutung dieses Amtes zeigen wird. Aber (Beifall bei der SPD) auch dort sind wir noch nicht am Ende eines Prozesses. Wir haben diesen Prozess zunächst neu angestoßen und Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass mit neue Möglichkeiten eröffnet. den Lissabonner Verträgen die groß gewordene Europäi- Dass dieser Vertrag für Europa und für die Menschen sche Gemeinschaft handlungsfähig gemacht worden ist. gut ist, wurde uns in der Tat deutlich vor Augen geführt, Es ist wohl wahr, was der Kollege Westerwelle ange- als wir uns an den Gedenktagen in den letzten Wochen sprochen hat: Diese Handlungsfähigkeit setzt teilweise die Vergangenheit in Erinnerung zurückgerufen haben. sehr viel Insiderwissen voraus, wenn man die Mechanis- men erkennen und durchschauen will. Dennoch gilt: Wir Uns ist deutlich geworden, was es bedeutet, wenn haben eine Straffung der Kommission und eine Stärkung man so eng miteinander lebt wie auf diesem Kontinent der Parlamente erreicht – übrigens nicht nur des Europäi- mit so vielen Nationen und statt Miteinander Gegen- schen Parlamentes, sondern auch des Deutschen Bundes- einander aufkommen lässt. Deshalb war es eine wirklich tages und der Landtage. entscheidende Idee, angesichts des Nationalismus, des 16458 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Ministerpräsident Kurt Beck (Rheinland-Pfalz) (A) übertriebenen Interesses der einzelnen Staaten, was im- fene Europäische Gemeinschaft für unsere exportorien- (C) mer wieder zu Kriegen und Auseinandersetzungen, ja zu tierte Wirtschaft zu nutzen. angeblichen Erbfeindschaften zwischen Völkern geführt hat, diesem europäischen Einigungsprozess mit dem Ziel Vielleicht erinnern wir uns für einen kleinen Moment eines friedlichen Zusammenlebens, mit dem Ziel, souve- an die Bedenken bei der Einführung des Euro. Natürlich räne Staaten auf Gemeinsamkeit zu verpflichten, und wissen wir um die Sorgen vieler Menschen, um Teue- dem Recht und der Freiheit dabei unverbrüchliche Be- rungseffekte und Ähnliches mehr. Wir sollten uns aber deutung zukommen zu lassen. auch in Erinnerung rufen, wie stabil diese Währung ge- worden ist und was diese Stabilität derzeit bedeutet. Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird uns klar, wenn wir zum Beispiel an die Rohstoff- der CDU/CSU) kosten denken, die auf Dollarbasis abgerechnet werden. Die Einführung des Euro hat entscheidend dazu beige- Es war eine großartige Entscheidung, dass nach 1945 tragen, dass unsere Wirtschaft eben nicht aufgrund der nicht das wieder getan worden ist, was 1871 und 1918 Entwicklungen in jüngster Zeit in eine tiefe Rezessions- geschehen ist, nämlich dass man den jeweils Unterlege- phase geriet. nen gedemütigt hat und damit eine neue Grundlage für Auseinandersetzungen und jeweils am Ende, wie wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wissen, auch für Krieg gelegt worden ist. Die großen der CDU/CSU und der FDP) Ideen von Jean Monnet und Robert Schuman haben ge- griffen. Wir Deutsche haben unsererseits verstanden, Freilich fehlt für uns an diesem Europa immer noch dass wir ein gemeinsames Deutschland nur in einem ge- ein ganz entscheidender Teil, nämlich das, was wir meinsamen freien Europa erreichen können. Diese Idee soziales Europa nennen. ist dann – es werden bald 20 Jahre her sein – Gott sei (Beifall des Abg. Oskar Lafontaine [DIE Dank auch Wirklichkeit geworden. Diese Dimension LINKE]) nicht immer wieder neu zu sehen und sie uns nicht in Er- innerung zu rufen, würde bedeuten, eine Kernvorausset- Die Verträge von Lissabon bieten allerdings eine zung für die Gemeinsamkeit auf diesem Kontinent zu Chance, dieses zu erreichen. vergessen, und das wäre sträflich. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist ein Bewertungsunterschied zwischen uns und denjenigen, die Ablehnung empfehlen. Sie geben uns Frieden und Freiheit sind ein Markenzeichen dieser eine Chance, und wir müssen diese Chance nutzen. Ich (B) Gemeinschaft, ein Markenzeichen, von dem wir uns stimme allen zu, die sagen, dass wir die wirkliche soziale (D) wünschen, dass es auch ausstrahlt, dass deutlich wird, Dimension, den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Ar- dass dieses Beispiel Europas auch in anderen Teilen der beitnehmer in Deutschland, nur durch gemeinschaftliche Welt nicht nur wahrgenommen werden sollte, sondern Anstrengung sicherstellen können. Ansonsten würden dass es sich lohnt, auch bei scheinbar noch so unüber- wir ständig in einer Konfliktsituation leben. Wer die Si- windbaren Konflikten den Weg zum Miteinander zu su- tuation zwischen den USA und Mexiko betrachtet, weiß, chen. Denn weiter auseinander, als wir in Europa waren dass noch so hohe Zäune und noch so viele Polizisten oder scheinbar waren, sind andere auf dieser Welt, die Migrationswanderungen und Ausgleichsbestrebungen gegeneinanderstehen, auch nicht. Es lohnt sich, diesen gegenüber sozialen Verwerfungen nicht aufhalten kön- Weg zu gehen und dafür auch Geduld und Kraft aufzu- nen. wenden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Gert Winkelmeier der CDU/CSU) [fraktionslos]) Ich will auch auf die konkreten Erfolge dieses Euro- Für uns gilt es, diese Chance zu nutzen, wenn dieser pas eingehen. Zu Recht ist die wirtschaftliche Bedeu- Vertrag ratifiziert ist, und in den kommenden Jahren ne- tung dieser Europäischen Gemeinschaft genannt worden – ben der ökonomischen die soziale Dimension dieses von den Römischen Verträgen im Europa der Sechs bis Europas in den Mittelpunkt unserer Weiterentwicklungs- zur heutigen Situation. Nur wenige Zahlen unter- bemühungen zu stellen. streichen in der Tat die besondere Interessenlage der Bundesrepublik Deutschland an diesem gemeinsamen (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!) Wirtschaftsraum. Der Anteil Europas am gesamten deut- Wir wollen keinen einheitlich organisierten Sozialraum, schen Außenhandel lag 2007 bei 75 Prozent. 65 Prozent aber einen Sozialraum, der von gleichen Ideen ausgeht: davon entfielen auf die EU-Staaten. Auf die Länder der Die Arbeitsbedingungen müssen anständig sein, und die Eurozone entfielen davon über 40 Prozent. Der dynami- Menschen müssen die Chance haben, durch ihre eigene sche und sich auch weiter positiv entwickelnde Handel Arbeit und Anstrengung für sich und ihre Familien zu und die wirtschaftlichen Beziehungen mit den neuen sorgen. Dann werden wir eine hohe Zustimmung zu die- Beitrittsstaaten haben die Handels- und Wirtschaftsbe- sem europäischen Prozess erlangen. ziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika in ihrer Größenordnung schon übertroffen. Ökonomisch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten können wir gar keinen besseren Weg gehen, als diese of- der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16459

Ministerpräsident Kurt Beck (Rheinland-Pfalz) (A) Wir sagen Ja zu einer sozialen Marktwirtschaft in Deshalb sage ich: Das, was in 22 Mitgliedstaaten Stan- (C) Europa, Ja zur Stärkung der Arbeitnehmerrechte im dard ist, muss auch in Deutschland Standard werden. europäischen Binnenmarkt und Ja zur Stärkung der Mit- Wir brauchen Regeln, um das Prinzip „Guter Lohn für bestimmungsrechte. Bei der Bildung europäischer Un- gute Arbeit“ in ganz Europa durchzusetzen. ternehmensstrukturen muss sichergestellt sein, dass die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Arbeit der Betriebsräte und die Mitbestimmungsabsiche- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE rung auf diese Ebene gehoben werden. Ansätze dafür ha- GRÜNEN – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: ben wir gefunden; sie müssen weiterentwickelt werden. Die SPD stimmt wohl dagegen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das heißt unter diesem Gesichtspunkt: Wettbewerb der LINKEN) ja. Aber es heißt auch, dass wir keinen Wettbewerb um Wer an Erfahrungen erinnert wird, die wir in jüngster die schnellere soziale Abwärtsspirale wollen, sondern ei- Zeit zum Beispiel mit Nokia gemacht haben, sieht nen Wettbewerb um die Teilhabe der Bürgerinnen und schnell ein, dass das nicht irgendwelche ideologischen Bürger von Malta bis Schweden erreichen wollen. Das Forderungen sind, sondern Forderungen, die mit der ist unsere Vorstellung von einem sozial gerechten realen Situation von Millionen Menschen in dieser Ge- Europa. meinschaft zu tun haben. Es darf nicht sein, dass heute (Beifall bei der SPD – Hartmut Koschyk [CDU/ die Deutschen gegen die Rumänen und morgen die Ru- CSU]: Da haben wir nichts dagegen!) mänen gegen wen auch immer ausgespielt werden. Meine Damen und Herren, dieses Europa hat den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Menschen Chancen gebracht, und es wird an uns sein, der LINKEN) den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln und deutlich zu machen, dass Europa auch ihrer Unterstützung be- Ich will gar nicht verschweigen, dass es mir in beson- darf: durch Teilhabe an der Europawahl, aber auch durch derer Weise Sorge macht, wie sich die Rechtsprechung Annahme der Entwicklungen auf dieser Ebene. des Europäischen Gerichtshofs entwickelt hat. Deshalb sagen wir Ja zu einem Europa, das sich Frie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der den und Freiheit und dem Gebot der Subsidiarität ver- LINKEN – Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr rich- pflichtet weiß. Wir sagen Ja zu einem Europa, das öko- tig!) nomischen Erfolg mit ökologischer Gerechtigkeit und Ansätze, die man spürt, beispielsweise in dem Fall Vernunft, mit sozialem Ausgleich und mit sozialer Ge- Rüffert, wo es um die Frage der Gültigkeit des Tarif- rechtigkeit untrennbar verbindet. (B) treuegesetzes des Landes Niedersachsen ging, sehe ich (Beifall bei der SPD) (D) mit Sorge. Hier wurden entgegen dem Plädoyer des Ge- neralanwalts Entscheidungen über die Auslegung der Dieses Europa will in Frieden und Freiheit und in Verträge getroffen, die die ökonomische Betrachtung ab- Fairness mit anderen Teilen dieser Welt zusammenleben solut in den Vordergrund stellen, sodass der soziale Aus- und konkurrieren; ich glaube, das sollte unsere Zu- gleich dahinter deutlich zurücktritt. Solche Ansätze müs- kunftsvision sein. Es sollte nicht der Versuchung erlie- sen wir durch eine Weiterentwicklung der Verträge gen, andere Kulturen und andere Kulturkreise zu kopie- verhindern. Lissabon bietet eine Chance dafür. ren. Vielmehr sollte dieses Europa eine eigene Identität entwickeln, die durch die Vielfalt der Kulturen immer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wieder lebendig gehalten und angetrieben wird, und auf der LINKEN und des Abg. diese Art und Weise zeigen, dass eine menschliche, so- [CDU/CSU] und des Abg. Josef Göppel ziale, ökologisch vernünftig handelnde, friedliche Ge- [CDU/CSU]) sellschaft erfolgreich mit anderen Teilen dieses Erdballs konkurrieren kann. Als Vertreter des Landes Rheinland-Pfalz erlaube ich mir, morgen im Bundesrat eine Initiative dazu vorzule- Wenn es uns gelingt, daraus auch entlang konkreter gen. Themen eine Vision zu entwickeln – das ist, wie ich glaube, unsere gemeinsame Hoffnung –, dann werden (Beifall bei der SPD – Dr. Gesine Lötzsch wir von Generation zu Generation die Zustimmung fin- [DIE LINKE]: Gesetzlicher Mindestlohn über- den, die notwendig ist, um diese europäische Idee unum- all!) kehrbar zu machen. – Ich danke Ihnen für den Zuruf. Genau darauf wollte Vielen Dank. ich jetzt zu sprechen kommen. (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Hakki Ke- doch schön!) skin [DIE LINKE]) Sie können davon ausgehen, dass ein Sozialdemokrat dieses Thema nie und nimmer vergessen wird. Präsident Dr. Norbert Lammert: Dr. Lothar Bisky ist der nächste Redner für die Frak- (Beifall bei der SPD – Dr. Gesine Lötzsch tion Die Linke. [DIE LINKE]: Nicht „nicht vergessen“! Durchsetzen!) (Beifall bei der LINKEN) 16460 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): (Dr. [CDU/CSU]: Da (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke muss man aber auch lesen können!) engagiert sich für ein Europa des Friedens, der Freiheit, Glasnost auch für Europa! Einen Antrag dazu hat die der Demokratie, der sozialen und ökologischen Sicher- Linksfraktion vorgelegt; denn das gesamte Vertragswerk heit und der Solidarität. ist für normale Menschen schwer verständlich. Europa- (Beifall bei der LINKEN) politik wird so zunehmend eine Auslegungssache für Ju- ristinnen und Juristen. Ich frage Sie: Wie sollen sich Wir sind in diesem Hause die Einzigen, die dem Vertrag denn so die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen von Lissabon die Zustimmung verweigern. In der Ge- Union mit Europa identifizieren können? sellschaft und in Europa stehen wir mit unserer kriti- schen Haltung keineswegs allein da. Die EU-Kommission finanziert Werbekampagnen, um den Menschen, wie es heißt, Europa zu erklären. Ich (Beifall bei der LINKEN) sage Ihnen: Solange Sie eine Politik über die Köpfe der Auf der europäischen Ebene – auch in Deutschland – Bürgerinnen und Bürger hinweg machen und solange die haben Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ihre Menschen nicht das Gefühl haben, am Bau des europäi- Bedenken gegen den neoliberalen Geist des Lissabon- schen Hauses beteiligt zu sein, so lange ist das herausge- Vertrages deutlich gemacht. Die Arbeitsgemeinschaft für schmissenes Geld. Arbeitnehmerfragen in der SPD, AfA, lehnt den Lissa- bon-Vertrag ab und fordert die SPD-Abgeordneten auf, (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert diesem Vertrag im Bundestag nicht zuzustimmen. Die Winkelmeier [fraktionslos]) Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges Die Art und Weise des Zustandekommens dieses Ver- fordern, den EU-Vertrag nicht zu ratifizieren. Ob Pax trages spricht Bände. Es ist ein Vertrag der Regierenden, Christi oder Attac, sie alle weisen darauf hin, dass der nicht der Bürgerinnen und Bürger. Lissabon-Vertrag nicht den Interessen der Mehrheit der Menschen entspricht. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Wieder tagte eine Regierungskonferenz hinter verschlos- senen Türen, wieder konnten sich die Bürgerinnen und Wer also meint, nur die Linke habe Bedenken, irrt Bürger nicht an der Gestaltung der vertraglichen Grund- gewaltig und sollte sich mit den Positionen von Gewerk- lagen der Zukunft der Union beteiligen. Über das Ergeb- schafterinnen und Gewerkschaftern und anderen Initiati- nis dürfen sie nicht mitentscheiden. Das Einzige, was sie ven und Verbänden auseinandersetzen. (B) dürfen, ist, die Zeche zu bezahlen. Eine solche Politik (D) (Beifall bei der LINKEN) lehnen wir ab. Wenn Herr Kollege Beck der Ansicht ist – das hat er (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert nicht hier, aber an anderer Stelle gesagt –, dass man mit Winkelmeier [fraktionslos]) einer Partei, die diesen EU-Vertrag ablehnt, nicht koalie- Europapolitik darf nicht länger eine Politik von Eliten ren könne, dann sage ich als Antwort darauf ganz deut- für Eliten sein. Die europäischen Bürgerinnen und Bür- lich: Wenn sich Regierungsfähigkeit an der Akzeptanz ger wollen ihr Europa mitgestalten. Dafür müssen sie von Beihilfe zum Sozialdumping bemisst, dann wollen über die Grundausrichtung europäischer Politik mitent- wir nicht regierungsfähig sein. scheiden können. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Winkelmeier [fraktionslos] – Renate Künast dass Sie die Bevölkerung von der Entscheidung aus- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da muss er ja schließen, zeigt, dass Sie dem Vertrag von Lissabon sel- selber lachen!) ber nicht über den Weg trauen; Wieder liegt uns eine Vertragsänderung und keine (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Verfassung für die Bürgerinnen und Bürger der Union Winkelmeier [fraktionslos]) vor. Der Verfassungsentwurf wurde von der französi- schen und der niederländischen Bevölkerung abgelehnt. sonst hätten Sie doch nichts zu befürchten. Wir Linken wollen eine Volksabstimmung. Hier sind wir nicht al- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lein. NEN]: Internationale Solidarität der Arbeiter- klasse! Da würde sich Karl Marx im Grabe (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- umdrehen!) NEN]: In Berlin ziert ihr euch aber bei der Volksabstimmung! Was ist mit Tempelhof?) Der französische Altpräsident Giscard d’Estaing sagt über den heute auf dem Tisch liegenden Vertrag, er un- – In Berlin stimmen wir mit dem überein, was ich hier terscheide sich nur unwesentlich vom Verfassungsent- sage, Frau Künast. Das könnten Sie wissen. wurf. Man merkt die Absicht und ist verstimmt. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Von einer Vereinfachung der EU-Verträge und von NEN]: Nein, Frau Knake-Werner darf sich ent- mehr Transparenz kann leider keine Rede sein. Wir hät- halten oder zustimmen! Für Tempelhof wollen ten dringend rechtzeitig eine lesbare Fassung gebraucht. Sie keinen Volksentscheid!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16461

Dr. Lothar Bisky (A) Alle in der Europäischen Linkspartei zusammenge- Ich werbe dafür, sich dagegen auszusprechen, dass der (C) schlossenen 28 Parteien fordern Volksabstimmungen Flughafen Tempelhof weiter betrieben wird. über das Fundament des europäischen Hauses. Wir ver- weisen da auf Irland; das ist ein vernünftiger Weg. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Aber eine Volksabstimmung ist eine Volksabstimmung, Winkelmeier [fraktionslos]) und man hat sich daran zu halten. Nicht nur die Linksparteien, auch die Friedenskoordi- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der nation Berlin, die Initiative „Mehr Demokratie“ und CDU/CSU und der FDP – Dr. Guido Wester- weitere Initiativen haben Unterschriften für ein Referen- welle [FDP]: Meine Frage hat sich gelohnt! – dum in Deutschland zum Vertrag von Lissabon gesam- Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- melt. Diese Unterschriften werden heute dem Bundestag NEN]: Sonntagabend!) übergeben. – Warten Sie Sonntagabend ab! Wir Linken sind engagierte Internationalisten, und wir sind proeuropäisch. Ich möchte jetzt zum Thema Europa zurückkehren. Wir Linken sind Internationalisten, und wir sind pro- (Beifall bei der LINKEN) europäisch. (Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ Präsident Dr. Norbert Lammert: DIE GRÜNEN]) Herr Kollege Bisky, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle? Wir leben und arbeiten wie Sie, Herr Trittin, in Europa und in Deutschland, und wir fühlen uns für die Entwick- Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): lung Europas mit verantwortlich. Ja. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Dr. Guido Westerwelle (FDP): Nach den wenig erfolgreichen und vor allem undemo- Herr Kollege Bisky, Sie haben nachdrücklich für eine kratischen und intransparenten Regierungskonferenzen Volksabstimmung geworben, Sie haben nochmals zum von Amsterdam und Nizza wurde ein Konvent einberu- Ausdruck gebracht, dass Sie eine Volksabstimmung für fen. Das haben wir begrüßt. Wir haben aktiv an der Aus- die Legitimation des europäischen Hauses für nötig hal- arbeitung des Verfassungsentwurfes mitgearbeitet, (B) ten. (D) ebenso an der Grundrechtecharta der EU. Sie sehen, Aktuell steht ein Volksentscheid in Berlin an. Meine liebe Kolleginnen und Kollegen: Europa liegt auch uns Frage ist: Was ist davon zu halten, wenn Regierende an- am Herzen. Die Linke ist für Europa. Es gibt aber genü- kündigen, dass sie sich um das Votum der Bürgerinnen gend Gründe, heute mit Nein zu stimmen. und Bürger nicht scheren werden? (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Winkelmeier [fraktionslos]) der CDU/CSU) Dass wir als Linke den Vertrag von Lissabon in der Auf den Punkt gefragt: Werden Sie für den Fall, dass vorgelegten Fassung ablehnen, hat einzig inhaltliche sich die Berlinerinnen und Berliner für den Weiterbe- Gründe. Wir übersehen nicht, dass dieser Vertrag gegen- trieb des Flughafens Tempelhof aussprechen, über dem Vertrag von Nizza durchaus Verbesserungen bringt; das betrifft beispielsweise die Mitentschei- (Zurufe von der SPD und der LINKEN: Ach!) dungsrechte des Europäischen Parlaments, die stark er- zu dieser Entscheidung stehen und den Willen des Vol- weitert werden, und die Beteiligung der nationalen Par- kes da, wo Sie regieren, umsetzen? lamente, erste Schritte zu mehr direkter Demokratie. Wir verleugnen das Positive nicht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Der Vertrag von Lissabon bringt aber leider vor allem GRÜNEN – Michael Roth [Heringen] [SPD]: gravierende Nachteile. Von diesem Reformvertrag geht Das ist jetzt Kreisliga, Herr Westerwelle! – kein Friedenssignal aus. Gegenruf der Abg. Renate Künast [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das ist richtig! (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie Entweder ist er dafür oder dagegen!) des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Die Bestimmungen der gemeinsamen Sicherheits- und Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): Verteidigungspolitik sind nun vor allem militärisch ge- Herr Westerwelle, das ist jetzt außerhalb dieser The- prägt. Wir halten diese Ausrichtung für falsch und auch matik. für gefährlich. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Winkelmeier [fraktionslos]) 16462 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Dr. Lothar Bisky (A) Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf schrittweise [SPD]: So ein gequirlter Unsinn! Wirklich (C) Verbesserung ihrer militärischen Fähigkeiten, Art. 42 wahr! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So et- Abs. 3, heißt doch im Klartext: ständige Aufrüstung. was Verquastes bei so einem Thema!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Wenn die Salonfähigkeit durch Krieg definiert wird, Winkelmeier [fraktionslos] – Michael Roth dann heben wir uns gerne davon ab. Zu einem solchen [Heringen] [SPD]: Nein, heißt es nicht!) Salon begehren wir keinen Einlass. Im Sinne einer friedlichen, demokratischen, sozialen und (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert ökologischen Entwicklung brauchen wir aber mehr Ab- Winkelmeier [fraktionslos] – rüstung. [SPD]: Das ist gequirlter Unsinn, den Sie hier erzählen!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Michael Roth Mit der Einrichtung einer ständigen strukturierten Zu- [Heringen] [SPD]: Da stimmen Sie Herrn sammenarbeit für militärisch besonders anspruchsvolle Westerwelle zu?) Staaten wird ein militärisches Kerneuropa auf den Weg gebracht. Im Vertrag von Nizza war eine verstärkte Zu- – Da stimme ich Herrn Westerwelle ausdrücklich zu. sammenarbeit von Mitgliedstaaten in sicherheits- und Für ebenso kontraproduktiv wie überflüssig halten verteidigungspolitischen Fragen durch Art. 27 b noch wir die Battle-Groups. Zur Terrorismusbekämpfung explizit ausgeschlossen. Das hätte so bleiben müssen. taugen sie nicht, und weltweite Militärinterventionen sind der falsche Weg, um Frieden zu erhalten oder herzu- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert stellen. Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Regelungen, Winkelmeier [fraktionslos]) die Einfluss auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen haben, sind uns sehr wichtig, weil durch sie in Wir bleiben dabei: Wir sagen Ja zur Selbstverteidigung, das Leben von fast einer halben Milliarde Menschen ein- aber außerhalb des Hoheitsgebietes der EU sollen militä- gegriffen wird. Ich habe wohl zur Kenntnis genommen, rische Operationen der EU nicht stattfinden. Herr Beck, dass die soziale Frage auch bei Ihnen eine wichtige Rolle spielt. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Ein neoliberaler europäischer Binnenmarkt und eine neoliberale Wirtschafts- und Währungspolitik, mit denen Aufrüstung ist ein falsches Signal. Es muss Schluss vornehmlich auf Wettbewerbsfähigkeit und Preissta- (B) sein mit dem historischen Völkergemetzel der vergange- (D) bilität gesetzt wird, haben den meisten Menschen in Eu- nen Jahrhunderte. Um die Probleme der Europäischen ropa mehr geschadet als genutzt. Union und die globalen Probleme zu lösen, brauchen wir politische Mittel. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Winkelmeier [fraktionslos]) Unsichere Jobs und massenhaft niedrige Löhne sind das Wir wollen keine völkerrechtswidrigen Kriege, sondern Ergebnis dieser Politik. Trotzdem ist der Vertrag von friedliche Lösungen politischer und sozialer Konflikte. Lissabon nicht grundlegend verändert worden. Zwar Das heißt, wir wollen ein vertraglich zu verankerndes wurde in Art. 3 EUV die soziale Marktwirtschaft als Ziel Verbot von Angriffskriegen, eine strikte Bindung an die der EU definiert, gleichzeitig wurde sie aber an die Wett- UN-Charta und die Einhaltung der international aner- bewerbsfähigkeit gebunden. In den Art. 119 und 120 des kannten Völkerrechtsnormen. Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union wird das Ziel der sozialen Marktwirtschaft jedoch wie- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert der zurückgenommen, indem von offener Marktwirt- Winkelmeier [fraktionslos] – Volker Beck schaft und freiem Wettbewerb die Rede ist. Dies ist nicht [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wa- nur widersprüchlich. Nun kann sich jede und jeder belie- rum unterstützen Sie dann die UN-Einsätze big aussuchen, was gebraucht wird. Letztlich entschei- nicht?) den die Gerichte. Wohin das führt, haben die jüngsten drei Urteile des Europäischen Gerichtshofes zu Viking, Frieden hat für uns Linke absolute Priorität. Laval und Rüffert deutlich gezeigt: zu Lohndumping, zu (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Sozialdumping und zu einem eingeschränkten Streik- Winkelmeier [fraktionslos]) recht. Man hört, dass die Linke wegen ihrer friedlichen Außen- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert politik angeblich nicht salonfähig ist. Wenn die Meinung Winkelmeier [fraktionslos]) der anderen Parteien darin besteht, dass weitere kriegeri- Wir haben uns gefragt, wie der Vertrag wirtschaftlich, sche Lösungen anzustreben sind, dann sind wir froh, nicht salonfähig zu sein. sozial und politisch interpretiert wird. Unsere Befürch- tungen sind durch die drei Urteile des Europäischen (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Gerichtshofes bestärkt worden. Meine Damen und Her- Winkelmeier [fraktionslos] – Gerd Andres ren, sagen Sie den Beschäftigten, was diese Urteile für Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16463

Dr. Lothar Bisky (A) sie bedeuten. Die Befürchtungen der Linken waren und Kern dieses Vertrages, und es ist der Grund, warum wir (C) sind begründet. Sie werden durch die Rechtsprechung diesem Vertrag zustimmen werden. des Europäischen Gerichtshofes vollauf bestätigt; denn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diese Urteile sind eindeutig gegen die Interessen der Ar- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der beitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerichtet. Diese Ent- SPD und der FDP) wicklung ist verhängnisvoll. Durch diesen Vertrag wird Europa demokratischer. Die (Beifall bei der LINKEN) Parlamente werden gestärkt. Die Bürger erhalten mehr Wir lehnen eine solche neoliberale Politik ab. Rechte, und sie erhalten eine Charta von Grundrechten. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man wundert sich gelegentlich, dass Europa dennoch 5,25 Euro Stundenlohn in Berlin!) oft einen schlechten Ruf hat und so schlechte Reden wie Ihre, Herr Bisky, eine solche Wirkung entfalten. Ich habe Wir können es nicht mit unserem Gewissen vereinbaren, darüber nachgedacht, wie es dazu kommen kann. Es gibt einer Politik Vorschub zu leisten, die den Unternehmen ein verblüffendes Zusammenspiel zwischen nationalisti- Extraprofite sichert, den Beschäftigten aber nicht einmal schen Populisten auf der einen Seite und Neoliberalen Mindestlöhne gönnt. auf der anderen Seite. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Zurufe von der FDP: Oh!) Winkelmeier [fraktionslos]) Konservatives und neoliberales Schlechtreden von Eu- Unsere Vorstellung von Europa ist nicht, dass Sozialab- ropa befördert die Glaubwürdigkeit von solchen Polemi- bau Gesetzescharakter erhält. ken wie Ihren. Das ist das Problem. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Man kann zum Beispiel nicht, verehrte Frau Bundes- ich bin sicher, dass auch manch eine oder manch einer in kanzlerin, zu Recht über die friedenstiftende Wirkung Ihren Reihen von den arbeitnehmerfeindlichen Urteilen dieses gemeinsamen Europas und darüber sprechen, wie des Europäischen Gerichtshofes kalt erwischt wurde. viel die Erweiterungsperspektive zur Friedensordnung Der Europäische Gerichtshof hatte den Vertrag von dieses Kontinents beigetragen hat, es aber gleichzeitig in Nizza auszulegen. Um solche Urteile in Zukunft zu ver- den eigenen Unionsparteien dulden, dass die Herren meiden, muss der Vertrag von Lissabon geändert wer- Beckstein und Huber den Beitritt und die Beitrittsper- den, zum Beispiel durch ein weiteres Protokoll zum Ver- spektive der Türkei bei jeder Gelegenheit zum Anlass trag, das eine soziale Fortschrittsklausel beinhaltet. für innenpolitische Polemiken nehmen. Das diskreditiert (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Europa. (D) (B) Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit. Sie haben sich für einen geordneten Wettbewerb ausgesprochen, verehrte Frau Bundeskanzlerin. Aber wenn es um das Monopol von Eon, EnBW, RWE und Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): Vattenfall auf das Stromnetz geht, dann verteidigen Sie Dazu haben wir einen entsprechenden Antrag vorge- dieses Monopol auch dann noch, wenn Eon es schon legt. selbst nicht mehr haben möchte. Wir Linken wollen eine Europäische Union, die sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in ihren Werten zur Sozialstaatlichkeit bekennt, und sowie des Abg. Dr. Hakki Keskin [DIE zwar nicht nur theoretisch, sondern auch im Detail. LINKE]) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Sie haben sich für mehr Klimaschutz eingesetzt. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie machen Winkelmeier [fraktionslos]) ja so weiter wie Herr Bisky!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Aber wenn in Europa der einfachen physikalischen Tat- Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin, Bünd- sache Rechnung getragen wird, dass bei einem großen, nis 90/Die Grünen. schweren Auto mehr Sprit eingespart werden kann als bei einem kleinen Auto, dann sprechen Sie von einer „Kriegserklärung“ an die deutsche Industrie. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Bisky, ich zitiere aus dem Vertrag. Der Vertrag be- Das fasse ich mit den Worten zusammen: Sie reden kennt sich zu „Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger von Europa, blockieren aber national. Diese Doppel- Entwicklung, Solidarität“ sowie – jetzt kommt eine Pas- züngigkeit hat Ihnen in Newsweek zu Recht die Über- sage für Herrn Westerwelle – „zu freiem und gerechtem schrift „Europe’s Worst Double Talkers“ eingetragen. Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte“ und „zur Wahrung der Grundsätze der Wenn wir die Europaskepsis überwinden wollen, Charta der Vereinten Nationen“. Das ist für mich der müssen wir mit dieser Politik, europäisch zu reden und 16464 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Jürgen Trittin (A) national zu blockieren, aufhören. Wir, die Bundesrepu- Da wir bei europäischen Inseln sind, kann ich dazu nur (C) blik Deutschland, müssen unsere Hausaufgaben in sagen: Hic Rhodus, hic salta. Sie können nicht hier im Europa machen. Der Lissabonner Vertrag fordert den Bundestag ein glühendes und, wie ich finde, glaubwürdi- Kampf gegen „soziale Ausgrenzung und Diskriminie- ges Bekenntnis zu Europa ablegen und sich dann von rung“ und verlangt die Förderung „sozialer Gerechtig- Oskar Lafontaine in Berlin am Nasenring durch die Ma- keit und sozialen Schutzes, die Gleichstellung von nege führen lassen. Das geht nicht, Herr Kollege Beck. Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Ge- Sorgen Sie dafür, dass das nicht eintritt! Hier erwarte ich nerationen“. Ich führe das an, um deutlich zu machen, Führung. dass Ihre ewigen Polemiken gegen Europa – das zeigt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN insbesondere Ihr Verhalten beim Antidiskriminierungs- und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der gesetz –, gegen den Geist und den Wortlaut genau dieses CDU/CSU) Vertrages gerichtet sind, meine liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU. Der Vertrag von Lissabon ist sicherlich nicht perfekt. Der Weg nach Europa wird noch lang sein. Aber in ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nem Punkt sind wir alle oder ist zumindest die große Mehrheit einer Auffassung: Wenn es eine Antwort auf Wir müssen Deutschland endlich europakompatibel die Frage gibt, wie man die Globalisierung gerechter, machen. Herr Kollege Beck, Sie haben das Rüffert- ökologischer und demokratischer gestalten kann, dann Urteil angesprochen. Nach meiner Auffassung haben ist es dieses gemeinsame Europa. Es ist eine Antwort auf Sie das falsch interpretiert. Das ist keine schlechte diese Herausforderung. Dieses Europa demokratischer Rechtsprechung. Vielmehr ist diese Rechtsprechung und handlungsfähiger zu gestalten, ist der Kern des Ver- Folge des Versagens der Großen Koalition. Weil Sie es trages von Lissabon. Deswegen stimmen wir Grünen nicht geschafft haben, bestimmte Tarifverträge für allge- diesem Vertrag zu, auch die von uns mit gestellten Lan- meinverbindlich zu erklären, ist dieses Urteil ergangen. desregierungen, die rot-grüne ebenso wie die schwarz- Klagen Sie also nicht über das Gericht, sondern sorgen grüne. Sie dafür, dass in Deutschland mit einer Politik Schluss gemacht wird, die dazu führt, dass Menschen, die Voll- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zeit arbeiten, unter Tarif bezahlt werden! Das ist Ihre Hausaufgabe. Sie sollten nicht über das Gericht klagen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Angelica Schwall- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Düren, SPD-Fraktion. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D) Weil es bisher nicht gelungen ist, den in Europa einmali- gen Zustand zu beenden, dass es keinen gesetzlichen Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Mindestlohn in Deutschland gibt, können die Gleichen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! die hier gegen Europa wettern, in Berlin, wo die Links- Mit der Ratifizierung des Lissabonner Vertrages gewin- partei regiert, für die Bewachung landeseigener Gebäude nen die Bürgerinnen und Bürger Europas. Mein Kollege weiterhin 5,30 Euro pro Stunde zahlen. Das ist die Situa- hat das dieser Tage sehr nachdrücklich unter- tion, für die auch Sie von der Großen Koalition ein Stück strichen: Es gewinnen die Parlamente, die Zivilgesell- weit verantwortlich sind. schaft, die Nationalstaaten, die Regionen und Europa (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN selbst. Deswegen bin ich froh, dass wir heute mit ganz sowie bei Abgeordneten der SPD) großer Mehrheit diesen Vertrag ratifizieren werden, wie es schon einige unserer Nachbarn getan haben. Insbe- Lieber Herr Beck, Sie sind über Mainz und Malta auf sondere freue ich mich, dass Frankreich bereits ratifiziert Europa zu sprechen gekommen. Ich möchte einen Punkt hat, aber auch Polen, wo nur noch die Unterschrift des ansprechen, der mich sehr interessiert. Sie haben zu Präsidenten aussteht. Recht darauf hingewiesen, dass die europäische Idee (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gerade im Schoße der Sozialdemokratie entstanden ist und dort sehr stark verankert ist. Sie haben den Be- Wir haben heute schon sehr viel über die Erfolge des schluss von 1925 zitiert. Ich glaube, hier hat die Sozial- Lissabonner Vertrages gehört. Man kann es nicht genug demokratie eine große Tradition zu verteidigen. Wenn unterstreichen: Die Demokratie gewinnt. Wir haben als das aber so ist, werter Herr Beck: Wie wird sich denn das Vertreter der Bürger und Bürgerinnen sowohl im Euro- Land Berlin am 23. Mai dieses Jahres im Bundesrat ver- päischen Parlament als auch im Deutschen Bundestag halten? Ich habe gestern mit Erschütterung zur Kenntnis und in den Regionen eine Stärkung über diesen Vertrag genommen, dass im Berliner Abgeordnetenhaus der An- zu erwarten. Aber auch die Bürgerinnen und Bürger sel- trag meiner Fraktion, dass der Senat dem Vertrag von ber gewinnen durch die Möglichkeit, ein Bürgerbegeh- Lissabon, für den Sie hier in aller Deutlichkeit gespro- ren einzubringen und so die Agenda in der Europäischen chen haben, zustimmen soll, von SPD und Linkspartei Union mitzubestimmen. gemeinschaftlich abgelehnt worden ist. (Beifall bei der SPD) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz besonders GRÜNEN]: Skandalös!) wichtig ist mir die Stärkung der sozialen Dimension. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16465

Dr. Angelica Schwall-Düren (A) Sie ist in der Zielsetzung zu finden, die im Lissabonner nannt. Aber es macht in der Tat Sinn, die militärischen (C) Vertrag festgeschrieben ist, aber auch ganz konkret in Fähigkeiten zu optimieren. der Grundrechtecharta, in der eine ganze Reihe sozialer (Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE Grundrechte enthalten sind. Deswegen ist die Kritik von LINKE]) links, wir hätten es hier mit der Festschreibung des Tur- bokapitalismus zu tun und hier erfolge, wie im Antrag Was nützt es denn, wenn wir unglaublich viel Geld aus- der Linken zu lesen ist, die Festlegung auf die Grund- geben, aber Doppelstrukturen vorhalten und nicht die sätze eines neoliberalen Finanzmarktkapitalismus und entsprechenden Fähigkeiten haben, wenn wir im Rah- den Verzicht auf Sozialstaatlichkeit, in keiner Weise men unserer internationalen Verantwortung auch militä- nachzuvollziehen. Was ist denn nun richtig? Auf der an- rische Sicherung vornehmen müssen? Deswegen, liebe deren Seite erklärt uns die FDP, dass in diesem Vertrag Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie wirklich in den zu viel Soziales enthalten sei und eine zu starke wohl- Vertrag! Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die Berli- fahrtsstaatliche Ausrichtung erfolge. ner Kollegen der Linken sich doch dazu durchringen können, der Ratifizierung des Vertrages zuzustimmen; Nach meiner Überzeugung kommt es hier vor allen denn dieser Vertrag ist eine gute Grundlage für das Han- Dingen darauf an, was wir mit den neuen Grundlagen deln der EU. des Vertrags tun. Der Vertrag von Lissabon schreibt erst- mals fest, dass das Prinzip des unverfälschten Wettbe- Europa gelingt gemeinsam, und auch Europa sozial werbs nicht mehr Ziel, sondern Instrument der EU ist gelingt gemeinsam. Lassen Sie es uns anpacken. und den Zielen der Vollbeschäftigung, des sozialen Fort- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schritts und der Preisstabilität dienen soll. Die Regelun- der CDU/CSU und der FDP) gen dieses Vertrages bieten beispielsweise für eine euro- parechtliche Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge – ein Anliegen, das vielen Bürgern und, wie Sie sich vor- Präsident Dr. Norbert Lammert: stellen können, auch der SPD am Herzen liegt – eine Michael Link ist der nächste Redner für die FDP- Grundlage. Die vier Freiheiten des europäischen Bin- Fraktion. nenmarktes dürfen nicht zulasten der Verbraucherinnen (Beifall bei der FDP) und Verbraucher sowie der Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmer gehen. Michael Link (Heilbronn) (FDP): (Beifall bei der SPD) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und geehrte Auch ich möchte gerne in diesem Zusammenhang auf Kollegen! Der Bundestag ist heute zum zweiten Mal seit (B) das jüngste EuGH-Urteil, das sogenannte Rüffert- 2005 zusammengekommen, um einen Vertrag zu ratifi- (D) Urteil, zurückkommen. Wir sind nicht glücklich über zieren, der den misslungenen Vertrag von Nizza weiter- dieses Urteil. Wir müssen uns in der Tat Gedanken da- entwickeln soll. Wir beschäftigen uns heute mit der Ver- rüber machen, ob nicht die Entsenderichtlinie nachge- tiefung dessen, was wir immer angestrebt haben, bessert werden muss. Was wir aber vor allen Dingen tun nämlich mit der Vertiefung der Zusammenarbeit in der müssen, ist, die Hausaufgaben bei uns zu erledigen. Europäischen Union. (Beifall bei der SPD) Wir haben gemeinsam viele Fortschritte in diesem Vertrag erreicht. Auch von meiner Seite ausdrücklich ein Der Vertrag von Lissabon bietet den notwendigen Spiel- Kompliment an die in mancher Situation wirklich sehr raum, um aus der Wirtschaftsunion eine soziale Union schwierige, aber unter dem Strich doch gelungene Ver- zu machen, um die soziale Union der Wirtschaftsunion handlungsführung der Bundesregierung, bei der wir an die Seite zu stellen. Das liegt an uns. Die wichtigste uns im Detail, in den Ergebnissen oft etwas anderes er- Voraussetzung dafür in der ganz nahen Zukunft ist die wartet hätten, bei der aber doch Vieles gelungen ist. Einführung von Mindestlöhnen in allen Bereichen. Ich bin sehr froh, dass Rheinland-Pfalz hierzu eine Geset- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zesinitiative in den Bundesrat eingebracht hat. der SPD) (Beifall bei der SPD) Die Fortschritte im Einzelnen sind erwähnt worden; ich will darauf nicht mehr eingehen. Ich will aber auf je- Was sich an der Kritik der Linken am Lissabonner den Fall – das muss angesprochen werden – etwas zu der Vertrag zeigt, ist nicht, Herr Bisky, linker Internationa- Militarismuskeule sagen, die gerade von der PDS – Par- lismus oder EU-Freundlichkeit, sondern es ist Links- don, von der Linkspartei – wieder ins Spiel gebracht nationalismus und Schüren von Angst, was die Bürge- wurde: Die EU, verehrte Kolleginnen und Kollegen von rinnen und Bürger davon abhält, die Chancen dieses der Linkspartei, erhält im neuen Vertrag die Aufgabe, die Vertrages zu sehen und in Anspruch zu nehmen. Grundsätze des Völkerrechts zu festigen und zu fördern. Sie erhält quasi die Verfassungsaufgabe, den Frieden zu (Beifall bei der SPD) erhalten. Mit Fug und Recht kann man insoweit sogar Das Gleiche ist über Ihre völlig abstruse Behauptung zu von einer friedenspolitischen Querschnittsklausel im sagen, dass dieser Vertrag zu einer Militarisierung der Vertrag reden. – Das sind nicht meine Worte, sondern EU beitragen würde. Das Ziel der Abrüstung und ein das ist ein Zitat aus dem schönen Buch Die EU und ihre umfassender Sicherheitsbegriff mit den Komponenten Verfassung. Linke Irrtümer und populäre Missverständ- der zivilen Konfliktprävention sind hier ausdrücklich ge- nisse von Sylvia-Yvonne Kaufmann. Mit der Militaris- 16466 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Michael Link (Heilbronn) (A) muskeule muss Schluss sein. Das ist kein Punkt, mit Wir wollen eine EU, die die neuen Möglichkeiten der (C) dem man Wahlkampf machen sollte. Hier geht es um ein Mehrheitsentscheidungen auch im Innen- und Rechtsbe- zu wichtiges Thema, als dass wir es im Vorgriff auf den reich – im Prinzip begrüßen wir sie – nutzt. Wir wissen Europawahlkampf im nächsten Jahr instrumentalisieren aber, dass Mehrheitsentscheidungen immer dann schnell sollten. an Grenzen stoßen müssen, wenn Grundrechte ins Spiel kommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir wollen eine EU, die mit dem Verweis auf den Kampf gegen den Terrorismus nicht in Datensammelwut Die EU, wir alle erfüllen mit der Ratifizierung dieses verfällt. Wir wollen eine EU, die ihren Haushalt so um- Vertrages quasi unsere Bringschuld, auch was die Stär- baut, dass nicht weit über die Hälfte des Haushalts in kung der Rechte der nationalen Parlamente angeht. Die Subventionen vergraben wird und die nur 1 Prozent für nationalen Parlamente bekommen durch diesen Vertrag transeuropäische Verkehrsnetze ausgibt. Wenn es schon die Rolle der Wächter der Subsidiarität zugewiesen. nicht gelungen ist, eine Gemeinsame Außen- und Erfüllen wir aber auch unsere Holschuld, diese Sicherheitspolitik zu bekommen, wollen wir zumindest Rechte ernst zu nehmen? Dazu gehört natürlich, dass wir eine EU mit einem Europäischen Auswärtigen Dienst, in bei der Art und Weise, wie die Kompetenzen verteilt dem unser nationaler auswärtiger Dienst auf Augenhöhe sind – uns als FDP gefällt dieser ganze Bereich inhaltlich mitwirkt. Gerade mit Blick auf unsere französischen nicht so gut –, gemeinsam sehr genau hinschauen. Die Freunde – Außenminister Kouchner nimmt an unserer Kompetenzen werden durch diesen Vertrag in vielen Be- heutigen Debatte teil – hoffe ich ganz besonders, dass reichen nämlich nicht klarer. Im Gegenteil: Das in Art. 5 wir gemeinsam mit der französischen Präsidentschaft im des Vertrages von Lissabon verankerte Subsidiaritäts- zweiten Halbjahr Konkretes erreichen können. Wir wer- prinzip ist schwächer als die bisher gültige Regelung im den die Bundesregierung gern unterstützen, wenn es da- Amsterdamer Subsidiaritätsprotokoll. Schon von vorn- rum geht, einen funktionsfähigen Europäischen Auswär- herein sind neue Konflikte zwischen den verschiedenen tigen Dienst zu schaffen. Ebenen angelegt. Ich weise darauf hin: Auch das Subsi- diaritätsprinzip selber wird völlig unterschiedlich ausge- (Beifall bei der FDP) legt. Die deutsche Auslegung, wonach in der Regel auf Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. der „niederen“ Ebene entschieden wird und erst danach Lassen Sie mich wiederholen: Wir wollen insbesondere die „höhere“ Ebene ins Spiel kommt, wird von vielen eine Europäische Union, die das, was bisher für Erfolg Partnern in der EU so nicht geteilt. gesorgt hat, nicht riskiert. Ein wichtiges Erfolgsprinzip Wir als FDP verbinden mit der heutigen Zustimmung war der freie und unverfälschte Wettbewerb. Wir ha- (B) (D) zu diesem Vertrag die eindeutige Erwartung, dass eine ben vonseiten der Bundesregierung und eben auch von Subsidiaritätsrechtsprechung durch den Europäischen Frau Schwall-Düren sehr deutlich gehört, dass man den Gerichtshof entwickelt wird, durch die Kompetenzen freien und unverfälschten Wettbewerb, der jetzt nur noch klarer abgegrenzt werden, als es durch den jetzigen Ver- eine Protokollnotiz ist, nur als Instrument, nicht aber als trag geschieht. Ziel ansieht. Das ist ein gefährlicher Weg.

Heute erleben wir nur eine Zäsur. Kein Prozess geht Präsident Dr. Norbert Lammert: zu Ende; vielmehr beginnt ein neuer Prozess. Mit der Herr Kollege. Ratifizierung dieses Vertrages beginnen wir mit einer neuen Praxis. Wir wollen, dass diese neue Union eher weniger als mehr reguliert. Michael Link (Heilbronn) (FDP): Noch im Zukunftsprogramm der CDU von 1998 hieß (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten es: Wettbewerb ist das entscheidende Ordnungsprinzip der CDU/CSU) für die Europäische Union. – Leider können wir bei der Wir wollen, dass es zum Normalfall wird, dass dieses CDU hier keine klare Linie in Richtung soziale Markt- Parlament sich mit den entsprechenden Fragen befasst wirtschaft mehr erkennen. und politisch mandatiert, bevor die entscheidenden (Beifall bei der FDP – Hartmut Koschyk [CDU/ Ministerratssitzungen stattfinden und im deutschen Na- CSU]: Ich habe es Ihnen doch erklärt!) men abgestimmt wird. Für uns bleibt Wettbewerb das entscheidende Ordnungs- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten prinzip, damit wir die Europäische Union auch in Zu- der CDU/CSU) kunft auf einem Erfolgskurs halten können. Kolleginnen und Kollegen, dieses Parlament darf nicht Vielen herzlichen Dank. nur als Notar deutscher Ministerratsentscheidungen tätig werden. (Beifall bei der FDP) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir als FDP fordern, dass der Deutsche Bundestag eine Das Wort erhält nun der Ministerpräsident des Frei- Europafragestunde einführt, die diesem Teil der Ge- staates Bayern, Dr. Günther Beckstein. setzgebung und damit unserer eigenen Gesetzgebung ge- recht wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16467

(A) Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident (Bayern): Ich empfehle jedermann, das Urteil des Bundesver- (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und fassungsgerichts zum Maastricht-Vertrag nachzulesen, Herren! Der Vertrag von Lissabon ist nach meiner Über- in dem das Bundesverfassungsgericht uns allen ins zeugung ein Fortschritt für Europa. Europa wird ein Stammbuch geschrieben hat, was der Ewigkeitsgarantie Stück weit handlungsfähiger und auch ein Stück weit des Grundgesetzes unterliegt. In ähnlicher Form gilt das demokratischer. Die von vielen Seiten befürchtete Läh- auch für die Länder. mung Europas – die Volksabstimmungen in einigen Wir müssen ganz deutlich machen, dass nicht jedes Ländern sind gescheitert, und gleichzeitig ist die Erwei- Problem in Europa ein Problem für Europa ist, das der terung der EU erfolgt – ist vermieden worden. Die deut- Regelungskompetenz der Europäischen Union unter- sche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 hat ei- liegt. nen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass eine Einigung erreicht worden ist. Die Einigung auf ein kon- (Beifall bei der CDU/CSU) kretes und umfassendes Mandat für die Regierungskon- Es gibt aber ganz eindeutig Bereiche, in denen mehr ferenz beim EU-Gipfel im Juni 2007 hat die Grundlage Europa gut ist. Im Bereich der Außen- und Sicherheits- für einen raschen und erfolgreichen Abschluss der Ver- politik ist es gut, wenn Europa stark ist und mit einer handlungen über den Reformvertrag ermöglicht. Stimme sprechen kann, sodass wir auch in der Partner- Ich stehe nicht an, der Bundesregierung Anerken- schaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika unserem nung für diesen großen Erfolg auszusprechen. Ich stehe Partner gegenüber etwas selbstbewusster auftreten kön- auch nicht an, Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, hier ein öf- nen. Wenn Europa einheitlich spricht, hat es mehr Ein- fentliches Lob auszusprechen. Sie haben ganz persönlich fluss auf die USA, und das kann der Politik für die ganze einen großen Anteil daran gehabt, dass dieser Durch- Welt nur guttun; die vergangenen Jahre haben das ge- bruch in Europa erzielt worden ist. zeigt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: [SPD]) Es wird gefährlich, Frau Merkel, wenn er Sie Henry Kissinger hat immer gesagt, er vermisse die lobt!) eine Telefonnummer, die er anrufen könne, wenn er die Es ist zwar ungewöhnlich, dass öffentliches Lob aus Haltung Europas wissen wolle. Dass es sie in der Zu- Bayern kommt, kunft geben wird, halten wir für einen Fortschritt; denn in diesen Bereichen brauchen wir mehr Europa. (Zurufe von der SPD: Ja!) Dieses „Wir brauchen insoweit mehr Europa“ kann (B) (D) aber es war eine herausragende Leistung, und dann muss ich auch für den Bereich der Menschenrechte nur bestä- sie auch anerkannt werden. tigen. Es wäre gut gewesen, wenn im Zusammenhang (Beifall bei der CDU/CSU) mit dem olympischen Fackellauf – Stichwort „Tibet“ – die Haltung in Paris nicht anders gewesen wäre als die in Weil der Freistaat den Vertrag von Lissabon insge- Deutschland. Wir hätten mehr Chancen auf die Durch- samt positiv bewertet, werden wir am 23. Mai im Bun- setzung einheitlicher Menschenrechtsstandards, wenn desrat diesem Vertragswerk auch zustimmen. Es geht da- die EU hier mit einer Stimme sprechen würde. rum, die grundlegende Ordnung in der Europäischen Union für Frieden, Freiheit und Sicherheit zu erweitern, (Beifall bei der CDU/CSU) was die Geltung der Grundrechte und Grundwerte an- Darum ist es gut, wenn wir hier Fortschritte haben. geht, aber natürlich auch die Wettbewerbsordnung, die durchaus soziale Werte aufweist. Wir brauchen auch mehr Europa im Kampf gegen den Terror. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war als Länder- Auch dass wir eine gemeinsame Währung haben, ist vertreter jahrelang Mitglied der europäischen Innen- und ein Erfolg. hat dafür gesorgt, dass die ent- Justizministerrates. Ich kann nur sagen: Wenn die Grenz- sprechenden Voraussetzungen geschaffen worden sind. kontrollen wegfallen, muss es im Bereich der Polizei Wir können in der aktuellen Situation froh darüber sein, und der Sicherheit eine stärkere Zusammenarbeit geben. dass wir in der EU einen so großen Anteil am Export in Wir brauchen dann ein gemeinsames Vorgehen im die Eurozone haben. Kampf gegen Kriminalität und Terrorismus. Darum wird Das will ich hier hervorheben: Diese Dinge sind posi- die Frage der Polizei- und Justizzusammenarbeit immer tiv. wichtiger. Dafür bietet der Vertrag den richtigen Rah- men. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Aber ich will auch ganz deutlich machen, dass Europa kein einheitlicher starker Staat werden darf. Die EU ist Meine Damen und Herren, wir brauchen auch – ich kein Bundesstaat; sie soll und darf kein solcher werden. stimme Ihnen, Herr Kollege Beck, da durchaus zu – Es darf nicht die Staatlichkeit der Bundesrepublik mehr Europa bei der Gestaltung der Globalisierung. Deutschland, aber auch nicht die Staatsqualität der Län- Wir Europäer haben ein Interesse daran, dass bei der der beeinträchtigt werden. Produktion von Waren und Dienstleistungen möglichst weltweit faire, das heißt auch vergleichbare Bedingun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen herrschen, dass keine Ausbeutung von Kindern 16468 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Ministerpräsident Dr. Günther Beckstein (Bayern) (A) erfolgt, dass Mindeststandards für Arbeitnehmer nicht Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Beck, dass noch (C) nur in Europa, sondern auch in anderen Ländern und heute mancher, der in der Pfalz lebt, der guten Zeit beim Wirtschaftsräumen der Welt eingehalten werden, die mit Freistaat Bayern nachtrauert. uns konkurrieren. Solche Fragen können in den interna- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- tionalen Gremien sehr viel besser und nachdrücklicher wie bei Abgeordneten der FDP) geregelt werden, wenn wir mit einer Stimme sprechen. Das ist zum Beispiel in der WTO ganz offensichtlich. Das gilt insbesondere, wenn man sich die Haushalts- situation in Rheinland-Pfalz und im Freistaat Bayern, die Das gilt aber auch für den Umgang mit geistigem Bildungschancen oder die Erfolge im Exzellenzwettbe- Eigentum. Hier muss das Urheberrecht für Schutz und werb der Hochschulen vor Augen führt. Respekt sorgen. Copy-Products stellen ein erhebliches Problem für die Wirtschaft und die Arbeitnehmer in Deutschland dar. Hier kann ein gemeinsames Vorgehen Präsident Dr. Norbert Lammert: Europas nur nützlich und richtig sein. Herr Ministerpräsident, möchten Sie diese wichtigen historischen Zusammenhänge durch die Antwort auf Ich füge hinzu: Natürlich muss auch die Bändigung eine Zwischenfrage weiter vertiefen? der globalen Finanzmärkte ein Ziel sein. Dass es hier Defizite gibt, hat ja selbst Herr Ackermann vor kurzer Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident (Bayern): Zeit überraschenderweise eingeräumt. Es ist völlig of- Ja. fensichtlich, dass ein europäisches Land hierbei weniger Möglichkeiten hat als ein Europa, das mit einer Stimme spricht. All diese Fortschritte erkenne ich an. Präsident Dr. Norbert Lammert: Bitte schön, Herr Kollege. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Selbstverständlich erfordern auch globale Probleme Danke, Herr Präsident. – Herr Ministerpräsident, sind wie die Erderwärmung, also der Klimawandel, einheitli- Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es zum Zeit- ches europäisches Handeln. Zugleich müssen wir aber punkt des Hambacher Festes noch keinen Freistaat Bay- aufpassen, dass dieses einheitliche Handeln nicht einsei- ern, sondern ein Königreich Bayern gab? Einen Freistaat tige Belastungen für die deutsche Wirtschaft mit sich Bayern gibt es erst seit 1918. bringt. Wir wissen, dass unsere französischen Freunde (Heiterkeit und Beifall bei CDU und FDP so- ihre eigenen Interessen immer sehr massiv vertreten. Wir wie bei Abgeordneten der SPD) (B) wollen, dass der Wahrnehmung unserer Interessen zu- (D) mindest dieselbe Bedeutung zugemessen wird. Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident (Bayern): (Beifall bei der CDU/CSU) Geschätzter Herr Kollege, ich habe diese Zwischen- Es ist aber auch völlig eindeutig, dass nicht jedes Pro- frage längst erwartet. blem in Europa ein Problem für Europa sein darf. In die- (Heiterkeit bei der CDU) sem Zusammenhang habe ich einige kritische Anmer- kungen zu machen. Es gibt viele Bereiche, für die es in Sie ermöglicht mir die weitere Bemerkung, dass im der Tat bei uns – davon bin ich überzeugt – ortsnähere Königreich Bayern die Pfalz nur als eine Provinz ange- und bessere Lösungen gibt. Wir können gerne darüber sehen worden ist. streiten, ob die in Mainz, Schwerin oder in München ge- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU – Gerd fundenen besser sind. Andres [SPD]: Was sagt uns das jetzt über das Sie, lieber Herr Kollege Beck, haben eben mit gro- demokratische Königreich Bayern?) ßem Stolz vom Hambacher Fest gesprochen. Sie waren Aber, meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf allerdings außerordentlich fahrlässig im Umgang mit der die Kompetenzen – das war der ernste Hintergrund – zu- historischen Wahrheit. Sie haben versucht, einen Gegen- rückkommen. Selbstverständlich müssen wir sehen, dass satz zwischen den Ereignissen in Hambach und in Bay- der Vertrag von Lissabon die Kompetenzen leider nur ern herzustellen. Zu jener Zeit war die Pfalz ein stolzer sehr schwammig regelt, woraus Gefahren entstehen kön- Teil des Freistaates Bayern! nen, nämlich dass die EU in manchen Bereichen äußerst (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- umfangreiche Regelungen vornehmen kann, die wir bes- wie bei Abgeordneten der FDP – Gerd Andres ser auf nationaler Ebene oder auf der Ebene der Länder [SPD]: Königreich Bayern, nix Freistaat!) geregelt sehen. Für bestimmte Bereiche ist meiner Mei- nung nach zu Unrecht eine Kompetenz für die Europäi- Ich habe gerade noch einen Beitrag aus Wikipedia erhal- sche Union vorgesehen. Warum muss die EU eine Kom- ten – das sind die Vorteile moderner Kommunikations- petenz im Bereich des Sports, des Tourismus oder der mittel –: Hier wird dargestellt, wie die Pfälzer ihre Son- Daseinsvorsorge haben? Ich finde, dass eine kommunale derrechte, die sie im Freistaat Bayern hatten, aus Angst, Wasserversorgung nicht von Brüssel aus in Gefahr ge- sie in einem Land wie Rheinland-Pfalz zu verlieren, ver- bracht werden darf. teidigen wollten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) neten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16469

Ministerpräsident Dr. Günther Beckstein (Bayern) (A) Das Gleiche gilt für den Bereich Asyl oder Zuwande- ner Vertrag bietet hierfür einen geeigneten Rahmen. Es (C) rung, wofür es in den verschiedenen Nationen in Europa wird an uns allen liegen, dafür zu sorgen, dass dieser höchst unterschiedliche Interessen gibt. Aus meiner Rahmen in einer bestmöglichen Weise ausgefüllt wird, Sicht ist es falsch, wenn das alles einheitlich von Brüssel um Transparenz, Bürgernähe, mehr Demokratie und aus geregelt werden sollte. Von daher müssen wir auf mehr Respekt vor der Unterschiedlichkeit der verschie- diese Fragen mehr achten. denen Nationen und Länder in Europa Realität werden zu lassen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass die (Beifall bei der CDU/CSU) Europäische Union bei den Bürgern ein Stück mehr an- Meine Damen und Herren, der Vertrag von Lissabon kommt. hat auch in einem weiteren Bereich Fortschritte ge- Wir wollen Europa, aber nicht als eine überbordende bracht, was ich für unabdingbar notwendig halte, näm- Bürokratie. Wir erleiden zu viel Bürokratie in Europa. lich dass rechtzeitig die Bürgerinnen und Bürger über Wenn über ein fußballfeldgroßes FFH-Gebiet nicht in ei- die nationalen Parlamente bei der Beantwortung der nem Landratsamt, in der Staatsregierung in München Frage, was von Europa aus geregelt wird, eingebunden oder im Bundesumweltministerium in Berlin, sondern in werden. Wir alle haben doch in der Vergangenheit im- Brüssel und Straßburg entschieden wird, von Leuten, die mer wieder beklagt, dass das, was im Deutschen Bun- dieses Stück Landschaft niemals gesehen haben, dann ist destag und im Bundesrat nicht durchsetzbar war, über das ein Fehler. Wir wollen die Friedensordnung in die Seilschaften in Brüssel auf den Weg gebracht worden Europa; aber dafür müssen Subsidiarität und Eigenstaat- ist. Wenn wir es dann umsetzen mussten, war der Zorn lichkeit von Bund und Ländern die Grundlage sein. der Bürger groß. Hier ist es notwendig, dass frühzeitig eine große Transparenz erfolgt. Diese Transparenz wird Unter diesen Umständen und Voraussetzungen stim- durch frühzeitige Information und Mitwirkungsmöglich- men wir zu und werden in der Zukunft die Wächter der keiten der nationalen Parlamente, auch des Bundesrats, Subsidiarität sein. hergestellt. Dadurch sind wir an Gesetzgebungsvorhaben und europäischen Vorhaben frühzeitig beteiligt. Das ist (Beifall bei der CDU/CSU) ein Stück Fortschritt. Damit wird ein Stück mehr Trans- parenz – Transparenz ist die Voraussetzung für Bürger- Präsident Dr. Norbert Lammert: nähe – erreicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Gästetri- Es gibt auch einen weiteren Fortschritt im Bereich der büne verfolgt der französische Außenminister Bernard Subsidiarität. Die Subsidiarität als Ordnungsprinzip ist Kouchner diese Debatte und die Entscheidung des eine der entscheidenden Fragen; dies entspricht auch der Deutschen Bundestages zum Lissabonner Vertrag. Sehr (B) Mentalität Europas. Europa ist gekennzeichnet durch geehrter Herr Minister, ich begrüße Sie und Ihre Delega- (D) eine ganz besondere Betonung der Individualität des tion herzlich im Deutschen Bundestag. Menschen. Anders als zum Beispiel in der chinesischen (Beifall) Kultur ist die Persönlichkeit des Einzelnen der Mittel- punkt der staatlichen Ordnung. Dazu zählt auch, dass Wir freuen uns, dass Sie gerade heute in Berlin sind, und ortsnahe Regelungen besser sind als zentrale Regelun- sehen im Übrigen, insbesondere mit Blick auf die bevor- gen. Dieses Prinzip der Subsidiarität wird in Europa je- stehende französische Präsidentschaft, der Fortführung denfalls vom Prinzip her anerkannt. Aus diesem Grunde der bewährt guten Zusammenarbeit zwischen unseren gibt es Klagerechte für den Deutschen Bundestag, für den beiden Ländern mit Sympathie entgegen. Herzlich will- Ausschuss der Regionen und für den Bundesrat. Ich halte kommen! es für wichtig – das will ich hier öffentlich erklären –, dass (Beifall) man im Bundesrat übereingekommen ist, dass, wenn ein Land eine Klage einreichen will, diese Klage auch ein- Nächster Redner ist der Kollege Rainder Steenblock, gereicht wird. Ursprünglich wollten wir ja das Klage- Bündnis 90/Die Grünen. recht für jedes Land als eigenes Recht. Das bedeutet: Im Normalfall wird, wenn ein Land eine Klage wegen Ver- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip vor dem Europäi- NEN): schen Gerichtshof einreichen will, Klage erhoben. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage hierzu: Bayern wird der Wächter der Subsi- Lieber Herr Minister Kouchner, Sie sind gerade Zeuge diarität sein einer Debatte geworden, die den Unterhaltungswert des deutschen Föderalismus gezeigt hat. Das hat man in (Zurufe von der SPD: Hoi!) Frankreich in dieser Form sicher nicht. und wird auch nicht zögern, beim Europäischen Ge- richtshof Klagen einzureichen; denn wir wollen keinen (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ überbordenden Zentralismus in Europa haben. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie sind aber auch Zeuge eines historischen Moments geworden. Denn dass ein bayerischer Ministerpräsident Meine Damen und Herren, wir sind für diese grundle- sich aus München zu solch einer Debatte aufmacht, um gende Friedensordnung und auch für diese Wirt- die deutsche Bundesregierung zu loben, ist ein histori- schafts- und Sozialordnung in Europa. Der Lissabon- sches Ereignis, das den Integrationsgedanken in 16470 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Rainder Steenblock (A) Deutschland in seiner positiven Entwicklung ausgespro- wischt. Auf all diese Vorurteile, die gegen das angeblich (C) chen deutlich macht. neoliberale Europa geschürt werden – ich will gar nicht behaupten, dass Sie diese Vorurteile mit Ihrer Politik im- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ mer bestärken –, muss man sehr sensibel und sehr poli- DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Ab- tisch reagieren. Das Wegwischen dieser Befürchtung geordneten der CDU/CSU) schürt nur Ängste und vergrößert das Misstrauen. Wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Debatte ist werden das Vertrauen der Menschen nur gewinnen, sehr deutlich geworden, warum der Vertrag von Lissa- wenn sie Europa als Schutzmacht ihrer ganz persönli- bon ein großer Fortschritt für die Handlungsfähigkeit chen Interessen erleben. Europas ist, ein großer Fortschritt für die Demokratie in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Europa, für dieses Friedensprojekt, das wir alle im Deut- schen Bundestag unterstützen, auch wenn wir zum Ver- Die sozialen Grundrechte – sie sind im Grundrechte- trag unterschiedliche Positionen haben. katalog enthalten – müssen der Rat, das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente in die Praxis Jetzt geht es darum, die Aufgaben, die aus diesem umsetzen. Ansonsten werden wir eine Haltung der Bür- Vertrag folgen, ernst zu nehmen. Der Vertrag ist ein gerinnen und Bürger zu Europa bekommen, wie sich in – das haben wir immer gesagt – wichtiger Schritt zur Frankreich in dem Ergebnis der Volksabstimmung ge- Vertiefung der Handlungsfähigkeit. Aber mit diesem zeigt hat. Dort wurde der europäische Integrations- Vertrag kommt natürlich sehr viel Arbeit auf das Parla- gedanke von der rechten und der linken Ecke instru- ment, auf die Regierung und auch auf die Bürgerinnen mentalisiert und so Befürchtungen geweckt. Liebe und Bürger zu; denn es geht darum, wie wir das neu zu Kolleginnen und Kollegen von der Linken, es war in gestaltende Verhältnis zwischen den Nationalstaaten, Frankreich eben nicht allein die versammelte Linke, die den nationalen Parlamenten und der Europäischen Union diesen Vertrag bekämpft hat, sondern es war zum großen konkret ausgestalten wollen. Teil die organisierte Rechte und die Rechtsextremen, die Ich möchte gerne noch folgende Punkte ansprechen. diesen Vertrag bekämpft haben. Das muss man deutlich sagen. Erster Punkt. Für den Deutschen Bundestag – das haben viele Kollegen schon gesagt – ist mit den Subsi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diaritätsklagerechten eine neue Möglichkeit eröffnet und bei der SPD) worden, europäische Politik mitzubestimmen. Wir hal- ten es für richtig und gut, dass neben der Ausweitung der Sie reden von Internationalismus. Aber wenn ich mir Kontrolle durch das Europäische Parlament auch die na- anschaue, wie zum Beispiel der Internationalismus in Ir- land gefeiert wird, und wenn ich sehe, dass unter der (B) tionalen Parlamente Möglichkeiten haben, in stärkerem (D) Maße europäische Politik mitzugestalten. Das schafft Führung des „Sozialisten“ Rupert Murdoch eine Volks- eine Verbreiterung der Legitimation und ist eine Mög- union von Le Pen bis Lafontaine Veranstaltungen ma- lichkeit, die Bürgerinnen und Bürger auf nationaler chen könnte, um den europäischen Integrationsgedanken Ebene in diesem Prozess mitzunehmen. für rechten und linken Populismus zu instrumentalisie- ren, dann muss ich sagen: Das ist genau der Internationa- Aber eines sage ich auch sehr deutlich: Wir müssen lismus, der Europa schadet. uns diese neuen Rechte erarbeiten. In den Strukturen, in denen wir bisher gearbeitet haben – ich erinnere in die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sem Zusammenhang daran, wie wir zum Teil europäi- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der sche Rechtsetzungsverfahren im Parlament durchgewun- CDU/CSU) ken haben –, ist der Deutsche Bundestag noch nicht in der Lage, seine Subsidiaritätsrechte wahrzunehmen. Die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: heutige Abstimmung ist eine Verpflichtung für uns, Herr Kollege Steenblock, Ihre Redezeit. diese Rechte im Deutschen Bundestag wahrzunehmen und dafür zu kämpfen, dass entsprechende Maßnahmen umgesetzt werden können. Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eine Abschlussbemerkung, liebe Frau Präsidentin. sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP) Wir sollten die Gesetzgebung der Europäischen Union in Zukunft nicht mehr so darstellen – leider klang Zweiter Punkt. Dieser Bereich ist heute ebenfalls das bei dem Kollegen Beckstein auch so an –, als seien schon angesprochen worden; aber ich möchte ihn noch Lobbygruppen am Werke. Nein, der Rat, die nationalen einmal aufgreifen. Die Frage ist, wie wir im Hinblick auf Parlamente und das Europäische Parlament machen die das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Deutsch- Gesetzgebung. Wir sollten ehrlich und offen mit diesen land in das Projekt Europäische Union, das so erfolg- Fragen umgehen und es nicht zulassen, dass die Euro- reich war, einen Schritt vorankommen; denn an dieser päische Union für einen regionalen Populismus miss- Stelle besteht durchaus noch Nachholbedarf. Die Frage braucht wird. der sozialen Gerechtigkeit, die wir ernst nehmen müs- sen, ist auf diesem Wege ein zentraler Punkt. Vielen Dank. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es geht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht an, dass man über diesen Punkt locker hinweg- sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16471

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Meines Erachtens muss Europa auch ein Gefühl von (C) Nächster Redner ist der Kollege Michael Roth, SPD- Heimat, von Beheimatung, von Vertrauen entwickeln. Fraktion. Wir brauchen also mehr europäisches Selbstbewusst- sein. Wir sollten nicht nationale Abgrenzung pflegen (Beifall bei der SPD) und die alten nationalen Forderungen in den Mittelpunkt rücken. Es geht nicht mehr allein um nationales Inte- Michael Roth (Heringen) (SPD): resse. Wir müssen unsere Werte offensiv vertreten und dürfen nicht in den globalen Mainstream von Ideen ein- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! stimmen, die von der Geschichte schon längst als über- Es ist gut, dass in der heutigen Debatte deutlich wird: holt dargestellt worden sind. Ich darf an die neoliberale Wir stimmen in wesentlichen europapolitischen Fragen Idee erinnern. Darüber redet heute keiner mehr; denn es überein. Die Gemeinsamkeit zu suchen, ist zwar notwen- hat sich gezeigt: Dieses Projekt ist gescheitert, weil es dig; aber dennoch sollten wir dem Streit nicht aus dem die Menschen nicht zu mehr sozialer Gerechtigkeit, Ge- Weg gehen. Dann kann man auch immer wieder selbst- meinsinn und Solidarität führen konnte. kritisch überprüfen: Sind die eigenen Argumente über- zeugend genug, auch wenn die Absurdität der Argu- Wir als Europäerinnen und Europäer müssen deutlich mente der anderen manchmal kaum noch zu unterbieten machen: Es geht uns um Freiheit, es geht uns um Solida- ist? Gestern hat Kollege Wieland im Innenausschuss so rität, es geht uns um noch stärkere ökologische Nachhal- schön gesagt: Solange in einem europäischen Vertrag tigkeit. Das ist der Dreiklang, für den wir stehen. nicht steht: „Hartz IV muss weg“, wird die Linkspartei (Beifall bei der SPD) niemals zustimmen. – Das macht deutlich, wie verant- wortungslos sie mit diesem Bereich umgeht. Das müssen wir im globalen Wettbewerb der Ideen selbstbewusster nach außen tragen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eine Anmerkung in Richtung der jungen Mitglied- staaten. Mit diesem Reformvertrag überwinden wir end- Zwei kurze Anmerkungen zum Ministerpräsidenten gültig die Teilung Europas, weil zum ersten Mal die des Freistaats Bayern. Wenn ich zum einen historisch Staaten Mittelosteuropas gleichberechtigt dabei waren. richtig informiert bin, bedurfte es der Initiative der Sie haben mitberaten, sie haben mit abgestimmt, sie ha- Sozialdemokraten, dass der Freistaat, auf den die Bayern ben ihre Ideen eingebracht. Das macht deutlich: Wir sind zu Recht stolz sind, auf den Weg gebracht werden ein gemeinsames Europa – nord-, süd-, ost- und west- konnte. übergreifend. Dies ist ein großer Erfolg. (B) (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) (D) Dies ist ein sozialdemokratischer Erfolg. Zum anderen Lassen Sie mich zum Schluss deutlich machen, was hat mich die Rede von Ministerpräsident Beckstein ein das für unser nationales Parlament bedeutet; denn es ist wenig enttäuscht; denn er hat sehr lange erklärt, was die viel darüber geredet worden, dass der Bundestag ge- Bayern und die CSU nicht wollen. Es ist aber sehr wenig stärkt wird. Das stimmt. Aber für viele ist das zu ab- Zeit darauf verwandt worden, deutlich zu machen, was strakt. Deswegen ein kurzes Beispiel zum Schluss: Die man eigentlich mit dem Vertrag von Lissabon, mit dieser Brückenklausel hat es schon vor Jahren gegeben. Wo neuen, stärker gewordenen Europäischen Union will. war Bayern als Wächter, als wesentliche Bereiche der Innen- und Justizpolitik, die Migrations- und Asylpoli- (Beifall bei der SPD) tik, von der Einstimmigkeit in das Mehrheitsprinzip übertragen worden sind? Der Bundestag war damals nie Wir sollten nicht beim Feiern bleiben, sondern einen damit befasst. Jetzt haben wir die Chance, dass der Bun- Blick in die Zukunft wagen. Wir brauchen neue Impulse, destag mit der Bundesregierung sowohl dann in der Ver- damit dieser Integrationsprozess, den Ministerpräsident antwortung steht, wenn wir von der Einstimmigkeit auf Beck als offen dargestellt hat, auch erfolgreich weiterge- das Mehrheitsprinzip übergehen, als auch dann, wenn hen kann. Wir haben den Frieden im Inneren Europas neue Kompetenzen von der nationalen Ebene auf die eu- erreicht. Das ist leider für allzu viele eine Selbstver- ropäische Ebene übertragen werden. ständlichkeit. Dass es aber keine Selbstverständlichkeit ist, merken wir dann, wenn wir uns die Situation im Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an den Westbalkan vor Augen halten. Wenn wir dieses europäi- höchst sensiblen Bereich der justiziellen Zusammen- sche Friedensprojekt nicht vor Jahrzehnten auf den Weg arbeit bei Strafverfahren. Hier brauchen wir einen gebracht hätten, drohten vielleicht auch uns Verhältnisse selbstbewussten Bundestag, der sich frühzeitig einbringt. wie im Westbalkan. Aber es geht heute nicht mehr allein Das haben wir in einem Beschluss des Europaausschus- darum, deutlich zu machen, was wir alles im Inneren er- ses einmütig zum Ausdruck gebracht. Ich bedanke mich reicht haben. Die große Aufgabe muss vielmehr sein, zu ausdrücklich bei dem Kollegen Silberhorn, der dazu bei- erklären: Wie können wir denn im globalen Maßstab getragen hat, dass wir das klären konnten. Frieden, Freiheit, Sicherheit und Solidarität erfolgreich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der auf den Weg bringen? Welchen Beitrag können wir als CDU/CSU) Europäerinnen und Europäer leisten? Bei all dem Lob zum Vertrag von Lissabon muss ich (Beifall bei der SPD) dennoch sagen: Dieser Vertrag wird nicht automatisch 16472 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Michael Roth (Heringen) (A) alles richten, was wir als notwendig erachten. Soziale – ermächtigt! –, fast das gesamte bestehende Unions- (C) Gerechtigkeit, Solidarität und tragfähige soziale Stan- recht zu ändern. Davon betroffen sind Wirtschafts-, dards kommen nicht von selbst. Der Klimaschutz kommt Währungs-, Sozial-, Landwirtschafts-, Umwelt-, Ar- nicht von selbst. Eine zukunftsfähige Landwirtschaft, die beits-, Steuer-, Justiz-, Verkehrs- und Kulturpolitik. Eine bäuerliche Strukturen enthält, die natürliche und gen- Zustimmung des Europäischen Parlaments ist nicht mehr technikfreie Lebensmittel garantiert, kommt nicht von notwendig. selbst, und auch eine gerechte Handelsordnung sowie faire Chancen für die Entwicklungsländer kommen nicht Wo bleibt die Mitsprache der nationalen Parla- von selbst. Dafür brauchen wir politische Mehrheiten. mente? Wo bleibt die Volkssouveränität? Ein angehäng- Dafür müssen wir kämpfen. Dazu lädt uns der Vertrag tes Protokoll gibt es bloß über die Anwendung der von Lissabon ein. Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßig- keit. Danach können der Bundestag usw. die Flut von Vielen Dank. Entwürfen von Europavorschriften dahin gehend prüfen, ob diese Grundsätze verletzt wurden. Wenn ja, können (Beifall bei der SPD) sie innerhalb von acht Wochen, aber nicht später, eine Stellungnahme abgeben. Dass in dieser Zeit auch die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Landtage die Vorlagen geprüft haben und der Bundesrat Ich gebe das Wort dem Kollegen Henry Nitzsche, darüber beschlossen hat, ist wohl eher illusorisch. fraktionslos. Wo wir das Europäische Parlament ansprechen: Deutschland hat derzeit ein Sitzkontingent von 99. Das Henry Nitzsche (fraktionslos): wird reduziert auf 96. Angesichts der Tatsache, dass Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Weil wir Deutschland 20 Prozent der Bevölkerung Europas stellt, in Deutschland unserem eigenen Volk nicht mehr trauen, stünden Deutschland mindestens 150 Abgeordnete zu. sitzen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages Dieses Parlament wird aber nicht durch das Prinzip ge- heute hier, um über seine Zukunft zu entscheiden. Es ist wählt, das Bismarck 1871 in Deutschland eingeführt hat: aber nicht nur so, dass wir unserem Volk nicht mehr zu- das gleiche Wahlrecht. trauen, selbst über seine Zukunft zu entscheiden, wir hal- ten es anscheinend auch für dämlich und vergesslich. Künftig wird die für Deutschland entscheidende Poli- Das scheint mittlerweile Konsens in Europa zu sein. Da tik von 27 Staats- und Regierungschefs bestimmt, von das Volk in Frankreich und in den Niederlanden die ge- denen mindestens 26 nicht deutsch sind. Wie sich das plante EU-Verfassung abgelehnt hat, fragt man es im mit dem Leitsatz aus Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes zweiten Durchgang einfach nicht mehr und winkt das – „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – verträgt, ist (B) Kind unter einem anderen Namen durch: Reformvertrag. mir schleierhaft. (D) So eine Verhöhnung des Volkswillens brauchen wir Was wird noch verschwiegen? Zum Beispiel, dass der uns zum Glück nicht vorwerfen zu lassen. Bei uns in Reformvertrag ermöglicht, europäische Steuern zu Deutschland werden die Bürger prinzipiell nicht gefragt, schaffen. Wenn ein Staat die Möglichkeit hat, Steuern zu schon gar nicht in Europaangelegenheiten – siehe Ein- erheben, dann tut er dies auch. Das Milliardengrab EU führung des Euros oder Erweiterung des Schengen- und die finanzielle Belastung für uns Deutsche werden Raums im vergangenen Dezember. Für beide Entschei- damit eine noch gewaltigere Dimension annehmen. Das dungen hätte es im Volk nie eine Mehrheit gegeben, und wird ein neues Versailles für Deutschland. das wissen Sie alle. (Widerspruch bei der SPD) Dieser Vertrag von Lissabon, der in beschönigender Weise Reformvertrag genannt wird, unterscheidet sich Genau diese Tatsache verschweigen Sie dem deutschen im Wesentlichen nicht vom gescheiterten Verfassungs- Vo l k . vertrag, von jenem Vertrag, der dank des aufrechten Durch diesen EU-Reformvertrag legitimieren Sie Politikers Peter Gauweiler und seines Anwalts Professor Brüssel, allmächtig und ungehindert über deutsche Inte- Schachtschneider ressen zu entscheiden. Dieser Vertrag ist ein neuerliches (Zurufe von der SPD: Oh!) Ermächtigungsgesetz. auch von Deutschland nicht ratifiziert wurde. Das Bun- (Widerspruch bei der SPD und beim BÜND- desverfassungsgericht untersagte es dem Bundespräsi- NIS 90/DIE GRÜNEN) denten nicht ohne Grund, diesen Vertrag zu unterschrei- Gerade wir in Deutschland sollten hier ganz vorsichtig ben. Daher wird nun peinlichst genau das Wort sein. Verfassung gemieden. ( [SPD]: Raus hier! – Mit diesem Reformvertrag wird eine verbindliche Mechthild Rawert [SPD]: Das ist unver- Verfassung für über 500 Millionen Menschen geschaf- schämt!) fen. Allerdings ist das eine Verfassung, die nicht demo- kratisch legitimiert ist, die von einem europäischen Volk Ich würde Ihnen empfehlen, einmal durch das Portal ausgeht, das es gar nicht gibt, und deren Inhalte zutiefst dieses Gebäudes zu gehen. Dort steht in Stein gemeißelt demokratiefeindlich sind. Der Europäische Rat wird „DEM DEUTSCHEN VOLKE“. Hören Sie auf diese In- durch das vereinfachte Änderungsverfahren ermächtigt schrift! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16473

Henry Nitzsche (A) (Zuruf von der SPD: Unerträglich! – Abg. Michael Stübgen (CDU/CSU): (C) Dr. Barbara Hendricks [SPD] meldet sich zu Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Nach langer Zeit einer Zwischenfrage) und nachdem der Verfassungsprozess längst totgesagt Entscheiden Sie sich für Deutschland! Sichern wir die war, haben wir es dank der Initiative der Bundeskanzle- Zukunft und die Souveränität Deutschlands! Nicht weni- rin Angela Merkel und der Bundesregierung im Rahmen ger erwarten die Bürger heute von uns. der deutschen EU-Ratspräsidentschaft geschafft, die Grundlagen dafür zu legen, dass wir diesen Reformver- trag heute ratifizieren werden; das muss an dieser Stelle Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: einmal gesagt werden. Wir haben die sehr große Chance, Herr Kollege, die Kollegin Hendricks würde gerne dass dieser Reformvertrag auf europäischer Ebene zum eine Zwischenfrage stellen. 1. Januar 2009 in Kraft treten wird.

Henry Nitzsche (fraktionslos): Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Deutsche, Christen und Demokraten können diesem Herr Kollege Stübgen, die Kollegin Hendricks würde Vertrag nicht zustimmen. gerne eine Zwischenfrage stellen. (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Gerade Sie müssen von Christen sprechen! Dass ich nicht Michael Stübgen (CDU/CSU): lache! – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ach Ja. du Gütiger! Was sind denn deutsche Christen?) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Bitte. Ich gebe das Wort dem Kollegen Michael Stübgen, CDU/CSU-Fraktion. Dr. Barbara Hendricks (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Kollege Stübgen, ich bin ganz sicher, dass Sie mit mir einer Meinung sind, dass die Rede des Herrn Michael Stübgen (CDU/CSU): Nitzsche eine ahistorische Beleidigung dieses demokra- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und tischen Parlaments war. Herren! Ich möchte nur ganz kurz auf meinen Vorredner, (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (B) Herrn Kollegen Nitzsche, eingehen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- (D) (Zuruf von der CDU/CSU: Das darf man nicht geordneten der CDU/CSU und der FDP – machen!) [Bayreuth] [FDP]: Auch das noch! Jetzt kriegt er nur die Aufmerksamkeit, – Doch. die er haben wollte! So ein Blödsinn! Genau das wollte er doch erreichen!) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nein! Das darf man nicht! Jede Antwort auf seinen Vor- trag würde ihn nur adeln!) Michael Stübgen (CDU/CSU): Frau Kollegin, da sind wir völlig einer Meinung. Auffällig ist für mich Folgendes: Sie bezeichnen sich als rechtskonservativ oder was auch immer. Ihre Argumente (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der gegen den Reformvertrag sind allerdings in den meisten SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Punkten nahezu identisch mit den Argumenten der Lin- NEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: ken. Darüber sollten Sie und die Linken einmal nachden- Jetzt ist es aber gut! Ignoriert ihn doch ein- ken. fach! Meine Güte!) (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Eine un- Ich will allerdings wiederholen, was ich zu Beginn ge- heilige Allianz!) sagt habe: In den meisten inhaltlichen Punkten sind die Argumente nahezu identisch. Ich habe die Äußerungen Für Deutschland und für Europa ist heute ein beson- der Linken aber nicht mit denen des Herrn Kollegen derer Tag. Nitzsche gleichgesetzt. (Unruhe) Die Europäische Union gibt sich mit diesem Vertrag das Rüstzeug, um die Herausforderungen der Zukunft Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: meistern zu können. Europa wird mit diesem Vertrag de- Herr Kollege Stübgen, lassen Sie uns einen Augen- mokratischer, effizienter und transparenter. blick warten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, dem Redner die Chance zu geben, durchzudringen. Was bedeutet „demokratischer“? Wir bekommen in der Europäischen Union – das ist für einen Völkerbund (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und singulär – erstmalig ein Parlament mit vollwertigen par- der FDP) lamentarischen Rechten. 16474 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Union erreicht; denn nach zaghaften Anfängen beim (C) Herr Kollege Stübgen, ich muss Sie noch einmal fra- Maastrichter Vertrag vor 17 Jahren wird erstmalig die gen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen, diesmal des besondere Rolle der nationalen Parlamente in der Eu- Kollegen Dehm? ropäischen Union in diesem Vertrag festgeschrieben. Wir als nationale Parlamente haben volle Informations- rechte, also das Recht, zum frühestmöglichen Zeitpunkt Michael Stübgen (CDU/CSU): informiert zu werden. Wir als nationale Parlamente ha- Nein. ben in der europäischen Politik in Zukunft auch Mitwir- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Bravo!) kungsrechte. Aber die Chance, die sich mit diesem Vertrag ergibt, Ich will nur auf einen Punkt kurz eingehen. Es gibt bedeutet in erster Linie eine Herausforderung und einen zum Beispiel die Möglichkeit, dass 50 Prozent der Parla- Anspruch für das künftige Europäische Parlament. Jeder mente innerhalb von acht Wochen eine Rüge für ein von Ihnen kennt sicherlich mindestens eine Entschlie- Rechtsetzungsvorhaben der Kommission äußern. Damit ßung des Europäischen Parlamentes, die man doch als ist die Kommission verpflichtet, sich mit diesem Vorha- recht merkwürdig bezeichnen kann, nicht hinsichtlich ben noch einmal zu beschäftigen. Jedes nationale Parla- der politischen Zielsetzung, sondern hinsichtlich der Tat- ment hat die Möglichkeit, gegen ein Rechtsetzungsvor- sache, wie weltfremd und abgehoben dort manchmal et- haben der Europäischen Union Klage zu führen. was beschlossen wird. Wenn man sich aber anschaut, Hier ist Folgendes wichtig: Ich glaube – das wird eine dass dieses Europäische Parlament bisher so gesetzt war, besondere Herausforderung für Deutschland und auch dass es zwischen Straßburg und Brüssel hin und her va- für den Deutschen Bundestag sein –, dass wir der Wir- gabundiert und ihm fundamentale parlamentarische kung und der effektiven Kontrolle des Subsidiaritäts- Rechte vorenthalten wurden, dann muss man sich nicht prinzips Vorschub leisten müssen. Das Subsidiaritäts- wundern, wenn solch ein Parlament wundersame Be- prinzip steht seit 16 Jahren im Maastrichter Vertrag. schlüsse fasst. Ich bin überzeugt, dass das Europäische Wenn wir aber einmal ernsthaft überprüfen, wie es denn Parlament in der Lage sein wird, diese Herausforderun- gewirkt hat, ob und wieweit die Europäische Kommis- gen anzunehmen und seine Möglichkeiten als Machtzen- sion, der Europäische Rat und auch der Europäische Ge- trum der europäischen Politik voll auszufüllen. richtshof dieses Prinzip verinnerlicht haben und danach Das europäische System wird mit diesem Vertrag effi- leben, dann müssen wir feststellen, dass dieser Prozess zienter. Die Zahl der Kommissare wird reduziert. Der noch nicht weit vorangekommen ist. Wenn nicht wir den Ratspräsident wird für mehrere Jahre gewählt, die Prozess der Implementierung des Subsidiaritätsprinzips (B) (D) Rechte des Kommissionspräsidenten werden gestärkt voranbringen, dann wird es niemand tun. Das wird in und vieles mehr. Das heißt, die Europäische Union, die Zukunft für uns als deutsches Parlament eine wichtige europäische Administration und die europäischen Insti- Aufgabe sein. tutionen werden in Zukunft in der Lage sein, Politik aus Meine Fraktion stimmt dem Vertrag zu. Heute ist ein einem Guss zu machen. Aber auch hier muss ich anmer- guter Tag für Deutschland, für Europa und weit darüber ken: Auch hier sind die neuen Chancen, die sich durch hinaus. diesen Vertrag ergeben, für die europäischen Institutio- nen in erster Linie Herausforderung und Anspruch. Ich danke Ihnen. Uns nützt es zum Beispiel in Zukunft nicht viel, wenn (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wir auf der einen Seite einen Hohen Vertreter für der SPD) Außen- und Sicherheitspolitik haben werden – der Volksmund wird ihn einfach den „europäischen Außen- minister“ nennen, ob das nun im Vertrag steht oder nicht – Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und wenn auf der anderen Seite die Regierungen in den Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Nitz- entscheidenden und wichtigen europapolitischen Fragen sche hat in seiner Rede einen Vergleich gezogen zwi- trotzdem öffentlich munter durcheinanderreden werden. schen dem Vertrag von Lissabon und dem Ermächti- Es wird wichtig sein, dass sich die Europäische Union gungsgesetz aus der NS-Zeit. Ich halte das für und die Regierungen in der Europäischen Union dahin undemokratisch, für falsch und bitte Sie, Herr Kollege gehend entwickeln, dass sie weniger effektorientierte au- Nitzsche, dies zu überdenken. ßenpolitische Aktionen starten, sondern mehr integra- (Beifall im ganzen Hause) tive, sachorientierte europäische Aktionen. Aber auch hier beginnt der Prozess erst, auch hier werden wir vo- Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege rankommen. Diether Dehm. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Herr Nitzsche darf den Vertrag von Die europäische Politik wird mit diesem Vertrag Lissabon durchaus mit dem Ermächtigungsgesetz ver- transparenter. Wir haben nicht nur horizontal, sondern gleichen; aber er darf den Vertrag von Lissabon mit dem auch vertikal eine Demokratisierung der Europäischen Ermächtigungsgesetz nicht gleichsetzen. Denn wenn Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16475

Dr. Diether Dehm (A) man den Vertrag von Lissabon mit dem Ermächtigungs- zeigt nicht nur Geschichtslosigkeit, sondern ein gnaden- (C) gesetz der Nazizeit vergleicht, stellt man fest, dass Wel- loses Maß an Dummheit. ten dazwischen liegen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Wir kritisieren den Lissabon-Vertrag, würden ihn aber bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und niemals in die Nähe von Nazigesetzgebung rücken. Ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des gleichen und Gleichsetzen sind grundverschiedene Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Dinge. Er hat Lissabon-Vertrag und Ermächtigungsge- setz gleichgesetzt. Das ist das, wovon wir uns distanzie- Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sa- ren. gen: Heute ist ein guter Tag für Europa, weil wir die De- mokratisierung durch die Parlamentarisierung durchset- Er hat die Rechte und die Linke gleichgesetzt. Ich zen. Es ist erfreulich, dass einer der Väter dieses Werkes, möchte bei dieser Gelegenheit den Kollegen Stübgen Professor Jürgen Meyer, der den Bundestag in zwei – wir kennen uns aus dem Ausschuss und wissen von- Konventen vertreten hat, heute bei uns ist; er sitzt auf der einander eigentlich etwas mehr – ganz herzlich bitten, Tribüne. Jürgen Meyer, herzlichen Dank für die Arbeit, zur Kenntnis zu nehmen: Wenn wir den Lissabon-Ver- die du geleistet hast! trag ablehnen, dann deshalb, weil wir mehr Grundgesetz, mehr Sozialstaatlichkeit, mehr Verbot eines Angriffs- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem krieges und mehr demokratischen Rechtsstaat wollen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dies, Kollege Stübgen, hat nichts, aber auch gar nichts mit dem wirrköpfigen Chauvinismus des Kollegen Nitz- Was wir vollenden, wurde in der Regierungszeit von sche zu tun, mit dem Sie uns bitte nicht gleichsetzen! Gerhard Schröder auf den Weg gebracht, und das ist auch gut so. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wir werden eine neue europäische Wahrhaftigkeit in Vergleichen können Sie uns; aber dann werden Sie fest- Parteipolitik in diesem demokratisierten Europa erleben. stellen, dass es zwischen uns und Herrn Nitzsche, der Das heißt, dass wir weiterhin Kompromisse schließen aus Ihrer Fraktion ausgesondert worden ist, keinerlei und neue Konsense stiften müssen, über Partei- und Län- Nähe gibt. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis, und ver- dergrenzen hinweg. Ein Beispiel dafür ist, dass EVP und schonen Sie uns bitte mit diesem „Rot gleich Braun“ und SPE für 2009 einen geschätzten polnischen Kollegen als „Links gleich Rechts“! Solche Gleichsetzungen haben gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Präsidenten keinen Bestand. des Europäischen Parlaments auf den Schild heben. (B) Das sollte auch der Deutsche Bundestag begrüßen. Es (D) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert zeigt auf der anderen Seite, dass es in Europa auch neue Winkelmeier [fraktionslos]) Konflikte zwischen den Parteien gibt. Ich zitiere mit Ge- nehmigung der Frau Präsidentin. Der inoffizielle Vorsit- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zende der Europäischen Volkspartei, , er- Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer, SPD- klärte: Die Wiederwahl Berlusconis ist eine gute Fraktion. Nachricht für die konservative Parteienfamilie in Europa. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Buh!)

Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Die Wiederwahl von Silvio Berlusconi ist eine schlechte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachricht für alle europäischen, föderalistischen Demo- Heute ist ein erfreulicher Tag für Europa. Das zeigt sich kraten. an dem europäischen Geist, in dem die Debatte über die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon geführt wird. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist allerdings eine beschämende Stunde, wenn durch die Rede von Herrn Nitzsche in diesem Haus der Ich habe bisher nicht geglaubt, dass es für europäi- Geist von NPD-Gedankengut Einzug gehalten hat; das sche Christdemokraten eine gute Nachricht sein kann, müssen wir gemeinsam feststellen. dass wirtschaftliche und politische Macht in einem Nachbarstaat in einer Hand vereint werden und dass eine (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Pressekonzentration im öffentlichen und privaten Be- bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und reich stattfindet, wie sie mit unserer Verfassung unver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des einbar wäre. Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wer den Begriff „deutsche Christen“ verwendet und nicht weiß, dass die Deutschen Christen der Teil der Ich habe mir auch nicht vorstellen können, dass die Be- evangelischen Kirche waren, der sich bei den Nazis an- schimpfung und Delegitimierung von unabhängigen Ge- gebiedert, sich ihnen unterworfen hat – im Gegensatz richten jetzt zu einer Partei gehört, die Mitglied der zur Bekennenden Kirche, die Widerstand leistete –, der christdemokratischen Parteienfamilie in Europa ist. Das 16476 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Axel Schäfer (Bochum) (A) ist für die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge- (C) diesem Hause schlichtweg inakzeptabel. setzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion der Linken mit den restlichen Stimmen des (Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hauses angenommen. [CDU/CSU]: Völlig unnötig!) Ich sage auch: Für uns ist heute – Kurt Beck hat zu Dritte Beratung Recht darauf hingewiesen –, da wir den Vertrag von Lis- sabon ratifizieren, ein stolzer Tag, weil ein Teil unserer und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass nach geschichtlichen Identität – besser: unserer Visionen – zur Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes zur Annahme dieses Wirklichkeit wird. Fast auf den Tag genau vor 63 Jahren Gesetzentwurfs die Zustimmung von zwei Dritteln der haben amerikanische Soldaten das KZ Buchenwald in Mitglieder des Bundestages erforderlich ist. Das sind der Nähe von Weimar befreit. In diesem KZ haben de- mindestens 408 Stimmen. Es ist namentliche Abstim- mokratische Sozialisten, einige Liberale und fortschritt- mung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und liche Konservative – auch die gab es – ein Manifest ver- Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – abschiedet, in dem sie gesagt haben: „Wir wollen die Ich eröffne die Abstimmung. Vereinigten Staaten von Europa. Für Deutschland ist es Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine nach diesem Krieg das Wichtigste, dass wir eine Freund- Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der schaft mit unseren französischen und polnischen Nach- Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- barn haben.“ Das gelingt ein Stück besser mit der Wirk- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu lichkeit dieses Vertrages, den wir heute ratifizieren. beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung (Beifall bei der SPD) wird Ihnen später mitgeteilt. Es ist gut, dass in dieser Woche zuerst der polnische Wir setzen die Beratungen fort. Wir kommen nun zur Sejmmarschall hier war und dass heute der französische Abstimmung über den von der Fraktion Die Linke einge- Außenminister, Bernard Kouchner, anwesend ist. Mit brachten Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes. ihm gemeinsam – ich freue mich, dass er hier ist – habe Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- ich fünf Jahre lang im Europäischen Parlament diese Ar- lung auf Drucksache 16/8913, den Gesetzentwurf der beit leisten können. Herzlich willkommen! Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7375 abzulehnen. Die Fraktion Die Linke verlangt namentliche Abstim- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, der CDU/CSU) die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Ich eröffne die (B) Abstimmung. (D) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stimmen diesem Vertrag heute aus voller Überzeugung Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine zu, weil er die Staatsräson gemäß unserem Grundgesetz, Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der die in der Präambel niedergelegt ist, auf der europäi- Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- schen Ebene Wirklichkeit werden lässt, wonach wir führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu Deutsche gleichberechtigt in einem vereinten Europa beginnen.1) dem Frieden der Welt dienen. Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der beiden bereits (Beifall bei der SPD) durchgeführten namentlichen Abstimmungen unterbre- che ich die Sitzung. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- (Unterbrechung von 11.43 bis 11.51 Uhr) wurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Grundgeset- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zes, Art. 23, 45 und 93. Der Innenausschuss empfiehlt in Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8912, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/8488 anzuneh- Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift- men. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- Linke auf Drucksache 16/8924 vor, über den wir zuerst mung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zur Ände- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ände- rung des Grundgesetzes bekannt, Drucksachen 16/8488 rungsantrag ist bei Zustimmung der Linken mit den rest- und 16/8912: Abgegebene Stimmen 577. Mit Ja haben ge- lichen Stimmen des Hauses abgelehnt. stimmt 520, mit Nein haben gestimmt 8, Enthaltungen 49. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- 1) Ergebnis Seite 16479 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16477

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Endgültiges Ergebnis Reinhard Grindel Dr. Eva Möllring (C) Abgegebene Stimmen: 576; Hermann Gröhe Volkmar Uwe Vogel davon Michael Grosse-Brömer Dr. Gerd Müller Andrea Astrid Voßhoff Markus Grübel Hildegard Müller Gerhard Wächter ja: 519 Carsten Müller Marco Wanderwitz nein: 8 Monika Grütters (Braunschweig) enthalten: 49 Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Stefan Müller (Erlangen) Guttenberg Bernward Müller (Gera) Peter Weiß (Emmendingen) Ja Holger Haibach (Bremen) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Ursula Heinen Ingo Wellenreuther CDU/CSU Uda Carmen Freia Heller Franz Obermeier Karl-Georg Wellmann Michael Hennrich Annette Widmann-Mauz Jürgen Herrmann Klaus-Peter Willsch Rita Pawelski Elisabeth Winkelmeier- Ernst Hinsken Ulrich Petzold Becker Dorothee Bär Dr. Joachim Pfeiffer Wolfgang Zöller Thomas Bareiß Robert Hochbaum Sibylle Pfeiffer Willi Zylajew Franz-Josef Holzenkamp Dr. Wolf Bauer Joachim Hörster SPD Günter Baumann Anette Hübinger Dr. Lale Akgün Ernst-Reinhard Beck Hubert Hüppe Daniela Raab (Reutlingen) Gregor Amann Susanne Jaffke-Witt Gerd Andres Dr. Peter Jahr Hans Raidel Dr. Dr. Hans-Heinrich Jordan Dr. Ingrid Arndt-Brauer Dr. Peter Rauen (Konstanz) (Neuruppin) Bartholomäus Kalb (Potsdam) Doris Barnett Hans-Werner Kammer Dr. Hans-Peter Bartels Steffen Kampeter Franz Romer Wolfgang Börnsen Johannes Röring (Bönstrup) Sören Bartol Bernhard Kaster Kurt J. Rossmanith Sabine Bätzing Michael Brand Siegfried Kauder (Villingen- Dr. Norbert Röttgen Schwenningen) Dr. Christian Ruck Dr. Volker Kauder (Weiden) Klaus Uwe Benneter (B) Monika Brüning Eckart von Klaeden Peter Rzepka Dr. (D) Julia Klöckner Anita Schäfer (Saalstadt) Cajus Caesar Hermann-Josef Scharf (Heidelberg) Kristina Köhler (Wiesbaden) Dr. Wolfgang Schäuble Manfred Kolbe Dr. Annette Schavan Kurt Bodewig Norbert Königshofen Dr. Thomas Dörflinger Dr. Karl Schiewerling Marie-Luise Dött Hartmut Koschyk Norbert Schindler Dr. Maria Eichhorn Thomas Kossendey Georg Schirmbeck Willi Brase Dr. Stephan Eisel (Lübeck) Christian Schmidt (Fürth) (Hildesheim) Dr. Günter Krings Andreas Schmidt (Mülheim) Dr. Hans Georg Faust Dr. Martina Krogmann (Berlin) Dr. Hermann Kues Dr. Andreas Schockenhoff Ingrid Fischbach Dr. Karl A. Lamers Dr. Ole Schröder Dr. Michael Bürsch Hartwig Fischer (Göttingen) (Heidelberg) Bernhard Schulte-Drüggelte Dirk Fischer () Andreas G. Lämmel Uwe Schummer Marion Caspers-Merk Dr. Dr. Norbert Lammert Wilhelm Josef Sebastian Dr. Klaus-Peter Flosbach Dr. Herta Däubler-Gmelin Herbert Frankenhauser Kurt Segner Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Max Lehmer Bernd Siebert Dr. Carl-Christian Dressel (Hof) Elvira Drobinski-Weiß Erich G. Fritz Eduard Lintner Johannes Singhammer Garrelt Duin Jochen-Konrad Fromme Dr. Klaus W. Lippold Detlef Dzembritzki Dr. Michael Fuchs Christian Freiherr von Stetten Hans-Joachim Fuchtel Dr. Michael Luther Siegmund Ehrmann Dr. Jürgen Gehb (Altötting) Andreas Storm Wolfgang Meckelburg Max Straubinger Dr. h. c. Dr. (Heilbronn) Petra Ernstberger Dr. Angela Merkel Lena Strothmann Karin Evers-Meyer Ralf Göbel (Hamm) Michael Stübgen Annette Faße Josef Göppel Hans Peter Thul Elke Ferner Dr. Wolfgang Götzer Dr. h. c. Hans Michelbach Ute Granold Philipp Mißfelder Dr. Hans-Peter Uhl Rainer Fornahl 16478 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Gabriele Frechen Lothar Mark Dr. Peter Struck Michael Link (Heilbronn) (C) Peter Friedrich Joachim Stünker Markus Löning Dr. Rainer Tabillion Horst Meierhofer Jörg Tauss Patrick Meinhardt Günter Gloser Dr. h. c. Jan Mücke Renate Gradistanac Petra Merkel (Berlin) Jörn Thießen Burkhardt Müller-Sönksen Angelika Graf (Rosenheim) Ulrike Merten Franz Thönnes Dirk Niebel Dieter Grasedieck Dr. Matthias Miersch Rüdiger Veit Detlef Parr Ursula Mogg Simone Violka Marko Mühlstein Jörg Vogelsänger Gisela Piltz Gabriele Groneberg Detlef Müller (Chemnitz) Dr. Marlies Volkmer Jörg Rohde Achim Großmann Michael Müller (Düsseldorf) Hedi Wegener Frank Schäffler Wolfgang Grotthaus Gesine Multhaupt Andreas Weigel Dr. Konrad Schily Wolfgang Gunkel Franz Müntefering Petra Weis Marina Schuster Hans-Joachim Hacker Dr. Rolf Mützenich Gunter Weißgerber Dr. Bettina Hagedorn Dr. Klaus Hagemann (Wiesloch) Dr. Rainer Stinner Alfred Hartenbach Holger Ortel Dr. Carl-Ludwig Thiele Michael Hartmann Heinz Paula Lydia Westrich Florian Toncar (Wackernheim) Johannes Pflug Dr. Christoph Waitz Nina Hauer Joachim Poß Andrea Wicklein Dr. Guido Westerwelle Christoph Pries Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Claudia Winterstein Dr. Reinhold Hemker Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Dieter Wiefelspütz Dr. Rolf Hempelmann Engelbert Wistuba Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Dr. Barbara Hendricks Dr. Sascha Raabe Dr. Wolfgang Wodarg Mechthild Rawert Waltraud Wolff Petra Heß (Cottbus) (Wolmirstedt) BÜNDNIS 90/ Gabriele Hiller-Ohm Maik Reichel Heidi Wright DIE GRÜNEN Stephan Hilsberg Gerold Reichenbach Manfred Zöllmer (Essen) Dr. Carola Reimann Marieluise Beck (Bremen) Brigitte Zypries Gerd Höfer Christel Riemann- Volker Beck (Köln) (Wismar) Hanewinckel Cornelia Behm FDP Frank Hofmann (Volkach) Birgitt Bender Eike Hovermann Sönke Rix Jens Ackermann (B) Klaas Hübner René Röspel Dr. Karl Addicks Ekin Deligöz (D) Christel Humme Dr. Dr. Thea Dückert Brunhilde Irber Karin Roth (Esslingen) Daniel Bahr (Münster) Dr. Uschi Eid Johannes Jung (Karlsruhe) Michael Roth (Heringen) Hans-Josef Fell Rainer Brüderle Johannes Kahrs Marlene Rupprecht Katrin Göring-Eckardt Ulrich Kasparick (Tuchenbach) Britta Haßelmann Dr. h. c. Susanne Kastner Anton Schaaf Patrick Döring Bettina Herlitzius Axel Schäfer (Bochum) Mechthild Dyckmans Winfried Hermann Bernd Scheelen Jörg van Essen Peter Hettlich Hans-Ulrich Klose Ulrike Flach Priska Hinz (Herborn) Astrid Klug Bärbel Höhn Dr. Bärbel Kofler Dr. Frank Schmidt Paul K. Friedhoff Thilo Hoppe (Aachen) Horst Friedrich (Bayreuth) Ute Koczy Fritz Rudolf Körper Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. Edmund Peter Geisen Sylvia Kotting-Uhl Karin Kortmann Heinz Schmitt (Landau) Hans-Michael Goldmann Rolf Kramer Miriam Gruß Renate Künast Anette Kramme Joachim Günther (Plauen) Markus Kurth Ernst Kranz (Spandau) Dr. Christel Happach-Kasan Undine Kurth (Quedlinburg) Nicolette Kressl Heinz-Peter Haustein Volker Kröning Anna Lührmann Dr. Hans-Ulrich Krüger Dr. Angelica Schwall-Düren Birgit Homburger Nicole Maisch Angelika Krüger-Leißner Dr. Martin Schwanholz Dr. Werner Hoyer Jerzy Montag Jürgen Kucharczyk Michael Kauch Kerstin Müller (Köln) Helga Kühn-Mengel Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Heinrich L. Kolb Ute Kumpf Wolfgang Spanier Hellmut Königshaus Dr. Uwe Küster Dr. Margrit Spielmann Gudrun Kopp Brigitte Pothmer Christine Lambrecht Jörg-Otto Spiller Jürgen Koppelin (Augsburg) Christian Lange (Backnang) Dr. Ditmar Staffelt Heinz Lanfermann Dr. Dieter Steinecke Christine Scheel Waltraud Lehn Andreas Steppuhn Harald Leibrecht Irmingard Schewe-Gerigk Helga Lopez Ina Lenke Dr. Gerhard Schick Gabriele Lösekrug-Möller Rolf Stöckel Sabine Leutheusser- Dirk Manzewski Christoph Strässer Schnarrenberger Rainder Steenblock Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16479

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) DIE LINKE Wolfgang Gehrcke (C) Dr. Wolfgang Strengmann- Lutz Heilmann Heike Hänsel Elke Reinke Kuhn Hans-Kurt Hill Paul Schäfer (Köln) Cornelia Hirsch Hans-Christian Ströbele fraktionslos Volker Schneider Dr. Harald Terpe Inge Höger (Saarbrücken) Henry Nitzsche Dr. Barbara Höll Jürgen Trittin Dr. Herbert Schui Wolfgang Wieland Ulla Jelpke Dr. Ilja Seifert Josef Philip Winkler Enthaltung Dr. Lukrezia Jochimsen Dr. Hakki Keskin Dr. Petra Sitte Dr. Kirsten Tackmann DIE LINKE DIE LINKE Monika Knoche Dr. Axel Troost Frank Spieth Hüseyin-Kenan Aydin Alexander Ulrich Dr. Katrin Kunert Jörn Wunderlich Oskar Lafontaine Nein Sabine Zimmermann Dr. Lothar Bisky Michael Leutert CDU/CSU Ulla Lötzer Eva Bulling-Schröter Dr. Gesine Lötzsch BÜNDNIS 90/ Alexander Dobrindt Dr. Martina Bunge Ulrich Maurer DIE GRÜNEN Dr. Peter Gauweiler Kornelia Möller Dr. Paul Lehrieder Dr. Diether Dehm Kersten Naumann Dr. Georg Nüßlein Werner Dreibus Wolfgang Nešković fraktionslos Marion Seib Dr. Dagmar Enkelmann Dr. Norman Paech Willy Wimmer (Neuss) Klaus Ernst Gert Winkelmeier

Gemäß § 48 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung stelle ich Das von den Schriftführerinnen und Schriftführern er- fest, dass die nach Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes er- mittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den forderliche Zweidrittelmehrheit, das heißt mindestens Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des 408 Jastimmen, erreicht ist. Der Gesetzentwurf ist ange- Grundgesetzes, Drucksachen 16/7375 und 16/8913, lautet: nommen. Abgegebene Stimmen 572. Mit Ja haben gestimmt 53, mit (B) Nein haben gestimmt 515, Enthaltungen 4. Der Gesetzent- (D) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP wurf ist damit in zweiter Beratung abgelehnt. Damit ent- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Endgültiges Ergebnis Heike Hänsel Elke Reinke Nein Abgegebene Stimmen: 572; Lutz Heilmann Paul Schäfer (Köln) davon Hans-Kurt Hill Vol ker Sc hne i de r CDU/CSU Cornelia Hirsch (Saarbrücken) ja: 53 Ulrich Adam Inge Höger Dr. Herbert Schui Ilse Aigner nein: 515 Dr. Barbara Höll Dr. Ilja Seifert enthalten: 4 Peter Altmaier Ulla Jelpke Dr. Petra Sitte Dorothee Bär Dr. Lukrezia Jochimsen Frank Spieth Thomas Bareiß Ja Dr. Hakki Keskin Dr. Kirsten Tackmann Norbert Barthle Katja Kipping Dr. Axel Troost Dr. Wolf Bauer DIE LINKE Monika Knoche Alexander Ulrich Günter Baumann Hüseyin-Kenan Aydin Jan Korte Jörn Wunderlich Ernst-Reinhard Beck Dr. Dietmar Bartsch Katrin Kunert Sabine Zimmermann (Reutlingen) Karin Binder Oskar Lafontaine Veronika Bellmann Dr. Lothar Bisky Michael Leutert BÜNDNIS 90/ Dr. Christoph Bergner Heidrun Bluhm Ulla Lötzer DIE GRÜNEN Renate Blank Dr. Gesine Lötzsch Eva Bulling-Schröter Sylvia Kotting-Uhl Peter Bleser Ulrich Maurer Dr. Martina Bunge Dr. Wolfgang Strengmann- Antje Blumenthal Kornelia Möller Roland Claus Kuhn Jochen Borchert Dr. Diether Dehm Kersten Naumann Wolfgang Börnsen Wolfgang Nešković (Bönstrup) Werner Dreibus Fraktionslose Abgeordnete Dr. Dagmar Enkelmann Dr. Norman Paech Wolfgang Bosbach Klaus Ernst Petra Pau Henry Nitzsche Michael Brand Wolfgang Gehrcke Bodo Ramelow Gert Winkelmeier Helmut Brandt 16480 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Dr. Ralf Brauksiepe Siegfried Kauder (Villingen- Kurt J. Rossmanith Sören Bartol (C) Monika Brüning Schwenningen) Dr. Norbert Röttgen Sabine Bätzing Georg Brunnhuber Volker Kauder Dr. Christian Ruck Dirk Becker Cajus Caesar Eckart von Klaeden Albert Rupprecht (Weiden) Uwe Beckmeyer Gitta Connemann Julia Klöckner Peter Rzepka Klaus Uwe Benneter Leo Dautzenberg Jens Koeppen Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Axel Berg Hubert Deittert Kristina Köhler (Wiesbaden) Hermann-Josef Scharf Ute Berg Alexander Dobrindt Manfred Kolbe Dr. Wolfgang Schäuble Lothar Binding (Heidelberg) Thomas Dörflinger Norbert Königshofen Dr. Annette Schavan Volker Blumentritt Marie-Luise Dött Dr. Rolf Koschorrek Dr. Andreas Scheuer Kurt Bodewig Maria Eichhorn Hartmut Koschyk Karl Schiewerling Gerd Bollmann Dr. Stephan Eisel Thomas Kossendey Norbert Schindler Dr. Gerhard Botz Anke Eymer (Lübeck) Michael Kretschmer Georg Schirmbeck Willi Brase Ilse Falk Gunther Krichbaum Bernd Schmidbauer Bernhard Brinkmann Dr. Hans Georg Faust Dr. Günter Krings Christian Schmidt (Fürth) (Hildesheim) Enak Ferlemann Dr. Martina Krogmann Andreas Schmidt (Mülheim) Edelgard Bulmahn Ingrid Fischbach Dr. Hermann Kues Ingo Schmitt (Berlin) Ulla Burchardt Hartwig Fischer (Göttingen) Dr. Karl A. Lamers Dr. Andreas Schockenhoff Martin Burkert Dirk Fischer (Hamburg) (Heidelberg) Dr. Ole Schröder Dr. Michael Bürsch Dr. Maria Flachsbarth Andreas G. Lämmel Bernhard Schulte-Drüggelte Christian Carstensen Uwe Schummer Klaus-Peter Flosbach Dr. Norbert Lammert Marion Caspers-Merk Wilhelm Josef Sebastian Herbert Frankenhauser Helmut Lamp Dr. Peter Danckert Horst Seehofer Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Max Lehmer Dr. Herta Däubler-Gmelin Kurt Segner (Hof) Paul Lehrieder Karl Diller Marion Seib Erich G. Fritz Ingbert Liebing Dr. Carl-Christian Dressel Eduard Lintner Bernd Siebert Elvira Drobinski-Weiß Jochen-Konrad Fromme Thomas Silberhorn Dr. Michael Fuchs Dr. Klaus W. Lippold Garrelt Duin Patricia Lips Johannes Singhammer Detlef Dzembritzki Hans-Joachim Fuchtel Jens Spahn Dr. Jürgen Gehb Dr. Michael Luther Sebastian Edathy Stephan Mayer (Altötting) Christian Freiherr von Stetten Norbert Geis Siegmund Ehrmann Wolfgang Meckelburg Gero Storjohann Hans Eichel Eberhard Gienger Dr. Michael Meister Andreas Storm Dr. h. c. Gernot Erler Michael Glos Dr. Angela Merkel Max Straubinger Petra Ernstberger Ralf Göbel Laurenz Meyer (Hamm) Thomas Strobl (Heilbronn) Annette Faße Josef Göppel Maria Michalk Lena Strothmann Elke Ferner (B) Dr. Wolfgang Götzer (D) Dr. h. c. Hans Michelbach Michael Stübgen Gabriele Fograscher Ute Granold Philipp Mißfelder Hans Peter Thul Rainer Fornahl Reinhard Grindel Dr. Eva Möllring Antje Tillmann Gabriele Frechen Hermann Gröhe Marlene Mortler Dr. Hans-Peter Uhl Peter Friedrich Michael Grosse-Brömer Dr. Gerd Müller Arnold Vaatz Sigmar Gabriel Markus Grübel Hildegard Müller Volkmar Uwe Vogel Martin Gerster Manfred Grund Carsten Müller Andrea Astrid Voßhoff Günter Gloser Monika Grütters (Braunschweig) Gerhard Wächter Renate Gradistanac Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Stefan Müller (Erlangen) Marco Wanderwitz Angelika Graf (Rosenheim) Guttenberg Bernward Müller (Gera) Kai Wegner Dieter Grasedieck Holger Haibach Bernd Neumann (Bremen) Marcus Weinberg Monika Griefahn Ursula Heinen Michaela Noll Peter Weiß (Emmendingen) Kerstin Griese Uda Carmen Freia Heller Dr. Georg Nüßlein Gerald Weiß (Groß-Gerau) Gabriele Groneberg Michael Hennrich Franz Obermeier Ingo Wellenreuther Achim Großmann Jürgen Herrmann Eduard Oswald Karl-Georg Wellmann Wolfgang Grotthaus Bernd Heynemann Henning Otte Annette Widmann-Mauz Wolfgang Gunkel Ernst Hinsken Rita Pawelski Klaus-Peter Willsch Hans-Joachim Hacker Peter Hintze Ulrich Petzold Elisabeth Winkelmeier- Bettina Hagedorn Robert Hochbaum Dr. Joachim Pfeiffer Becker Klaus Hagemann Franz-Josef Holzenkamp Sibylle Pfeiffer Wolfgang Zöller Alfred Hartenbach Joachim Hörster Beatrix Philipp Willi Zylajew Michael Hartmann Anette Hübinger Ronald Pofalla (Wackernheim) Hubert Hüppe Ruprecht Polenz SPD Nina Hauer Susanne Jaffke-Witt Daniela Raab Dr. Lale Akgün Hubertus Heil Dr. Peter Jahr Thomas Rachel Gregor Amann Dr. Reinhold Hemker Dr. Hans-Heinrich Jordan Hans Raidel Gerd Andres Rolf Hempelmann Dr. Franz Josef Jung Dr. Peter Ramsauer Niels Annen Dr. Barbara Hendricks Andreas Jung (Konstanz) Peter Rauen Ingrid Arndt-Brauer Gustav Herzog Bartholomäus Kalb Eckhardt Rehberg Rainer Arnold Petra Heß Hans-Werner Kammer Katherina Reiche (Potsdam) Ernst Bahr (Neuruppin) Gabriele Hiller-Ohm Steffen Kampeter Klaus Riegert Doris Barnett Stephan Hilsberg Alois Karl Franz Romer Dr. Hans-Peter Bartels Petra Hinz (Essen) Bernhard Kaster Johannes Röring Klaus Barthel Gerd Höfer Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16481

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Iris Hoffmann (Wismar) Gerold Reichenbach Engelbert Wistuba Christoph Waitz (C) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Carola Reimann Dr. Wolfgang Wodarg Dr. Guido Westerwelle Eike Hovermann Christel Riemann- Waltraud Wolff Dr. Claudia Winterstein Klaas Hübner Hanewinckel (Wolmirstedt) Dr. Volker Wissing Christel Humme Walter Riester Heidi Wright Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Brunhilde Irber Sönke Rix Uta Zapf Martin Zeil Johannes Jung (Karlsruhe) René Röspel Manfred Zöllmer Josip Juratovic Dr. Ernst Dieter Rossmann Brigitte Zypries BÜNDNIS 90/ Johannes Kahrs Karin Roth (Esslingen) DIE GRÜNEN Ulrich Kasparick Michael Roth (Heringen) FDP Kerstin Andreae Dr. h. c. Susanne Kastner Ortwin Runde Marieluise Beck (Bremen) Ulrich Kelber Marlene Rupprecht Jens Ackermann Volker Beck (Köln) Christian Kleiminger (Tuchenbach) Dr. Karl Addicks Cornelia Behm Hans-Ulrich Klose Anton Schaaf Christian Ahrendt Birgitt Bender Astrid Klug Axel Schäfer (Bochum) Daniel Bahr (Münster) Alexander Bonde Dr. Bärbel Kofler Bernd Scheelen Uwe Barth Ekin Deligöz Walter Kolbow Marianne Schieder Rainer Brüderle Dr. Thea Dückert Fritz Rudolf Körper Otto Schily Angelika Brunkhorst Dr. Uschi Eid Karin Kortmann Dr. Frank Schmidt Ernst Burgbacher Hans-Josef Fell Rolf Kramer Ulla Schmidt (Aachen) Patrick Döring Kai Gehring Anette Kramme Silvia Schmidt (Eisleben) Mechthild Dyckmans Katrin Göring-Eckardt Ernst Kranz Heinz Schmitt (Landau) Jörg van Essen Britta Haßelmann Nicolette Kressl Olaf Scholz Ulrike Flach Bettina Herlitzius Volker Kröning Ottmar Schreiner Otto Fricke Peter Hettlich Dr. Hans-Ulrich Krüger Reinhard Schultz Paul K. Friedhoff Priska Hinz (Herborn) Angelika Krüger-Leißner (Everswinkel) Horst Friedrich (Bayreuth) Dr. Anton Hofreiter Jürgen Kucharczyk Swen Schulz (Spandau) Dr. Edmund Peter Geisen Bärbel Höhn Helga Kühn-Mengel Ewald Schurer Hans-Michael Goldmann Ute Kumpf Frank Schwabe Miriam Gruß Ute Koczy Dr. Uwe Küster Dr. Angelica Schwall-Düren Joachim Günther (Plauen) Fritz Kuhn Christine Lambrecht Dr. Martin Schwanholz Dr. Christel Happach-Kasan Renate Künast Christian Lange (Backnang) Rolf Schwanitz Heinz-Peter Haustein Markus Kurth Dr. Karl Lauterbach Rita Schwarzelühr-Sutter Elke Hoff Undine Kurth (Quedlinburg) Waltraud Lehn Wolfgang Spanier Birgit Homburger Monika Lazar Helga Lopez Dr. Margrit Spielmann Dr. Werner Hoyer Anna Lührmann (B) Gabriele Lösekrug-Möller Jörg-Otto Spiller Michael Kauch Nicole Maisch (D) Dirk Manzewski Dr. Ditmar Staffelt Dr. Heinrich L. Kolb Jerzy Montag Lothar Mark Dieter Steinecke Hellmut Königshaus Kerstin Müller (Köln) Caren Marks Andreas Steppuhn Gudrun Kopp Winfried Nachtwei Katja Mast Ludwig Stiegler Jürgen Koppelin Omid Nouripour Hilde Mattheis Rolf Stöckel Heinz Lanfermann Brigitte Pothmer Markus Meckel Christoph Strässer Sibylle Laurischk Claudia Roth (Augsburg) Petra Merkel (Berlin) Dr. Peter Struck Harald Leibrecht Krista Sager Ulrike Merten Joachim Stünker Ina Lenke Christine Scheel Dr. Matthias Miersch Dr. Rainer Tabillion Sabine Leutheusser- Irmingard Schewe-Gerigk Ursula Mogg Jörg Tauss Schnarrenberger Dr. Gerhard Schick Marko Mühlstein Dr. h. c. Wolfgang Thierse Michael Link (Heilbronn) Grietje Staffelt Detlef Müller (Chemnitz) Jörn Thießen Markus Löning Rainder Steenblock Michael Müller (Düsseldorf) Franz Thönnes Horst Meierhofer Silke Stokar von Neuforn Gesine Multhaupt Rüdiger Veit Patrick Meinhardt Dr. Harald Terpe Franz Müntefering Simone Violka Jan Mücke Jürgen Trittin Dr. Rolf Mützenich Jörg Vogelsänger Burkhardt Müller-Sönksen Wolfgang Wieland Andrea Nahles Dr. Marlies Volkmer Dirk Niebel Josef Philip Winkler Thomas Oppermann Hedi Wegener Detlef Parr Holger Ortel Andreas Weigel Cornelia Pieper Enthaltung Heinz Paula Petra Weis Gisela Piltz Johannes Pflug Gunter Weißgerber Jörg Rohde CDU/CSU Joachim Poß Gert Weisskirchen Frank Schäffler Dr. Peter Gauweiler Christoph Pries (Wiesloch) Dr. Konrad Schily Willy Wimmer (Neuss) Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Rainer Wend Marina Schuster Florian Pronold Lydia Westrich Dr. Hermann Otto Solms BÜNDNIS 90/ Dr. Sascha Raabe Dr. Margrit Wetzel Dr. Max Stadler DIE GRÜNEN Mechthild Rawert Andrea Wicklein Dr. Rainer Stinner Steffen Reiche (Cottbus) Heidemarie Wieczorek-Zeul Carl-Ludwig Thiele Winfried Hermann Maik Reichel Dr. Dieter Wiefelspütz Florian Toncar Hans-Christian Ströbele 16482 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt (C) Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8919, Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007. Ich den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/8489 anzuneh- weise darauf hin, dass uns einige Erklärungen nach § 31 men. der Geschäftsordnung vorliegen.1) Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt un- Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt sache 16/8917, den Gesetzentwurf der Bundesregierung für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/8921? – auf Drucksache 16/8300 anzunehmen. Ich weise darauf Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag hin, dass nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit ist bei Zustimmung der Fraktion der Linken mit den rest- Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes zur Annahme dieses lichen Stimmen des Hauses abgelehnt. Gesetzentwurfs jetzt bei der zweiten Beratung und Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- Schlussabstimmung die Zustimmung von zwei Dritteln stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – der Mitglieder des Bundestages erforderlich ist. Das sind Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter mindestens 408 Stimmen. Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Grünen, CDU/CSU, FDP bei Enthaltung der Fraktion Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Die Linke angenommen. Plätze einzunehmen. – Ich eröffne die Abstimmung. Dritte Beratung Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin- Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. ebenfalls mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben. Grünen, CDU/CSU, FDP bei Enthaltung der Fraktion Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp- Die Linke angenommen. fehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Ange- Europäischen Union, Drucksache 16/8917, fort. legenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Fraktion Die Linke mit dem Titel „Intransparenz been- der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer den – Eine lesbare Fassung des Reformvertrags schaf- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt fen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung empfehlung auf Drucksache 16/8920, den Antrag der (B) ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7446 abzulehnen. (D) und CDU/CSU bei Enthaltung der FDP und Gegenstim- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer men der Linken angenommen.2) stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- fehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke Wir kommen nun zur Abstimmung über drei Ent- mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen. schließungsanträge. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- Drucksache 16/8879 zur federführenden Beratung an tion der FDP auf Drucksache 16/8927? – Wer stimmt da- den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- gegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist schen Union und zur Mitberatung an den Rechtsaus- bei Zustimmung der FDP mit den restlichen Stimmen schuss sowie an den Ausschuss für Arbeit und Soziales des Hauses abgelehnt. zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be- Die Linke auf Drucksache 16/8926? – Gegenprobe! – schlossen. Enthaltungen? – Dieser Entschließungsantrag ist bei Zu- Ich würde jetzt gerne noch das Ergebnis der namentli- stimmung der Linken mit den restlichen Stimmen des chen Abstimmung bekannt geben. Hauses abgelehnt. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- GRÜNEN]: Es kommt! – Zuruf von der CDU/ tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8925? – CSU: Herr Fuchtel kommt! – Jörg Tauss Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschließungsan- [SPD]: Ein bisschen schneller, Herr Fuchtel!) trag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, FDP bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung der Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- mung über den Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von Abstimmung über den von den Fraktionen CDU/ Lissabon vom 13. Dezember 2007 bekannt: Abgegebene CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt 515, mit Nein ha- Gesetzentwurf über die Ausweitung und Stärkung der ben gestimmt 58, Enthaltungen 1. Gemäß § 48 Abs. 3 Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angele- unserer Geschäftsordnung stelle ich fest, dass die nach genheiten der Europäischen Union. Der Ausschuss für Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes erforderliche Zweidrittelmehrheit, 1) Anlagen 3 und 4 das heißt mindestens 408 Jastimmen, erreicht ist. Der 2) Anlage 5 Gesetzentwurf ist damit angenommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16483

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Endgültiges Ergebnis Michael Grosse-Brömer Hildegard Müller Marco Wanderwitz (C) Abgegebene Stimmen: 574; Markus Grübel Carsten Müller Kai Wegner davon Manfred Grund (Braunschweig) Marcus Weinberg Monika Grütters Stefan Müller (Erlangen) Peter Weiß (Emmendingen) ja: 515 Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Bernward Müller (Gera) Gerald Weiß (Groß-Gerau) nein: 58 Guttenberg Bernd Neumann (Bremen) Ingo Wellenreuther enthalten: 1 Holger Haibach Michaela Noll Karl-Georg Wellmann Ursula Heinen Franz Obermeier Annette Widmann-Mauz Ja Uda Carmen Freia Heller Eduard Oswald Klaus-Peter Willsch Michael Hennrich Henning Otte Elisabeth Winkelmeier- CDU/CSU Jürgen Herrmann Rita Pawelski Becker Bernd Heynemann Ulrich Petzold Wolfgang Zöller Ulrich Adam Ernst Hinsken Dr. Joachim Pfeiffer Willi Zylajew Ilse Aigner Peter Hintze Sibylle Pfeiffer Peter Altmaier Robert Hochbaum Beatrix Philipp SPD Dorothee Bär Franz-Josef Holzenkamp Ronald Pofalla Dr. Lale Akgün Thomas Bareiß Joachim Hörster Ruprecht Polenz Norbert Barthle Gregor Amann Anette Hübinger Daniela Raab Gerd Andres Dr. Wolf Bauer Hubert Hüppe Thomas Rachel Günter Baumann Niels Annen Susanne Jaffke-Witt Hans Raidel Ingrid Arndt-Brauer Ernst-Reinhard Beck Dr. Peter Jahr Dr. Peter Ramsauer (Reutlingen) Rainer Arnold Dr. Hans-Heinrich Jordan Peter Rauen Veronika Bellmann Ernst Bahr (Neuruppin) Dr. Franz Josef Jung Eckhardt Rehberg Dr. Christoph Bergner Doris Barnett Andreas Jung (Konstanz) Katherina Reiche (Potsdam) Clemens Binninger Dr. Hans-Peter Bartels Bartholomäus Kalb Klaus Riegert Renate Blank Klaus Barthel Hans-Werner Kammer Franz Romer Peter Bleser Sören Bartol Steffen Kampeter Johannes Röring Antje Blumenthal Sabine Bätzing Alois Karl Kurt J. Rossmanith Jochen Borchert Dirk Becker Bernhard Kaster Dr. Norbert Röttgen Wolfgang Börnsen Uwe Beckmeyer Dr. Christian Ruck (Bönstrup) Siegfried Kauder (Villingen- Klaus Uwe Benneter Michael Brand Schwenningen) Albert Rupprecht (Weiden) Dr. Axel Berg Helmut Brandt Volker Kauder Peter Rzepka Ute Berg Dr. Ralf Brauksiepe Eckart von Klaeden Anita Schäfer (Saalstadt) Lothar Binding (Heidelberg) Monika Brüning Julia Klöckner Hermann-Josef Scharf Volker Blumentritt (B) Georg Brunnhuber Jens Koeppen Dr. Wolfgang Schäuble Kurt Bodewig (D) Cajus Caesar Kristina Köhler (Wiesbaden) Dr. Annette Schavan Clemens Bollen Gitta Connemann Manfred Kolbe Dr. Andreas Scheuer Gerd Bollmann Leo Dautzenberg Norbert Königshofen Karl Schiewerling Dr. Gerhard Botz Hubert Deittert Dr. Rolf Koschorrek Norbert Schindler Willi Brase Thomas Dörflinger Hartmut Koschyk Georg Schirmbeck Bernhard Brinkmann Marie-Luise Dött Thomas Kossendey Bernd Schmidbauer (Hildesheim) Maria Eichhorn Gunther Krichbaum Christian Schmidt (Fürth) Edelgard Bulmahn Dr. Stephan Eisel Dr. Günter Krings Andreas Schmidt (Mülheim) Ulla Burchardt Anke Eymer (Lübeck) Dr. Martina Krogmann Ingo Schmitt (Berlin) Martin Burkert Ilse Falk Dr. Hermann Kues Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Michael Bürsch Dr. Hans Georg Faust Dr. Karl A. Lamers Dr. Ole Schröder Christian Carstensen Enak Ferlemann (Heidelberg) Bernhard Schulte-Drüggelte Marion Caspers-Merk Ingrid Fischbach Andreas G. Lämmel Uwe Schummer Dr. Peter Danckert Hartwig Fischer (Göttingen) Dr. Norbert Lammert Wilhelm Josef Sebastian Dr. Herta Däubler-Gmelin Dirk Fischer (Hamburg) Helmut Lamp Horst Seehofer Karl Diller Dr. Maria Flachsbarth Katharina Landgraf Kurt Segner Dr. Carl-Christian Dressel Klaus-Peter Flosbach Dr. Max Lehmer Bernd Siebert Elvira Drobinski-Weiß Dr. Hans-Peter Friedrich Ingbert Liebing Thomas Silberhorn Garrelt Duin (Hof) Eduard Lintner Jens Spahn Detlef Dzembritzki Erich G. Fritz Dr. Klaus W. Lippold Christian Freiherr von Stetten Sebastian Edathy Jochen-Konrad Fromme Patricia Lips Gero Storjohann Siegmund Ehrmann Dr. Michael Fuchs Dr. Michael Luther Andreas Storm Hans Eichel Hans-Joachim Fuchtel Stephan Mayer (Altötting) Max Straubinger Dr. h. c. Gernot Erler Dr. Jürgen Gehb Wolfgang Meckelburg Thomas Strobl (Heilbronn) Petra Ernstberger Norbert Geis Dr. Michael Meister Lena Strothmann Karin Evers-Meyer Eberhard Gienger Dr. Angela Merkel Michael Stübgen Annette Faße Michael Glos Laurenz Meyer (Hamm) Hans Peter Thul Elke Ferner Ralf Göbel Maria Michalk Antje Tillmann Gabriele Fograscher Josef Göppel Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Hans-Peter Uhl Rainer Fornahl Dr. Wolfgang Götzer Philipp Mißfelder Arnold Vaatz Gabriele Frechen Ute Granold Dr. Eva Möllring Volkmar Uwe Vogel Peter Friedrich Reinhard Grindel Marlene Mortler Andrea Astrid Voßhoff Sigmar Gabriel Hermann Gröhe Dr. Gerd Müller Gerhard Wächter Martin Gerster 16484 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Günter Gloser Markus Meckel Dr. Rainer Tabillion Horst Meierhofer (C) Renate Gradistanac Petra Merkel (Berlin) Jörg Tauss Patrick Meinhardt Angelika Graf (Rosenheim) Ulrike Merten Dr. h. c. Wolfgang Thierse Jan Mücke Dieter Grasedieck Dr. Matthias Miersch Jörn Thießen Burkhardt Müller-Sönksen Monika Griefahn Ursula Mogg Franz Thönnes Dirk Niebel Kerstin Griese Marko Mühlstein Rüdiger Veit Detlef Parr Gabriele Groneberg Detlef Müller (Chemnitz) Simone Violka Cornelia Pieper Achim Großmann Michael Müller (Düsseldorf) Jörg Vogelsänger Gisela Piltz Wolfgang Grotthaus Gesine Multhaupt Dr. Marlies Volkmer Jörg Rohde Wolfgang Gunkel Franz Müntefering Hedi Wegener Frank Schäffler Hans-Joachim Hacker Dr. Rolf Mützenich Andreas Weigel Dr. Konrad Schily Bettina Hagedorn Andrea Nahles Petra Weis Marina Schuster Klaus Hagemann Thomas Oppermann Gunter Weißgerber Dr. Hermann Otto Solms Alfred Hartenbach Holger Ortel Gert Weisskirchen Dr. Max Stadler Michael Hartmann Heinz Paula (Wiesloch) Dr. Rainer Stinner (Wackernheim) Johannes Pflug Dr. Rainer Wend Carl-Ludwig Thiele Nina Hauer Joachim Poß Lydia Westrich Florian Toncar Hubertus Heil Christoph Pries Dr. Margrit Wetzel Christoph Waitz Dr. Reinhold Hemker Dr. Wilhelm Priesmeier Andrea Wicklein Dr. Guido Westerwelle Rolf Hempelmann Florian Pronold Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Claudia Winterstein Dr. Barbara Hendricks Dr. Sascha Raabe Dr. Dieter Wiefelspütz Dr. Volker Wissing Gustav Herzog Mechthild Rawert Engelbert Wistuba Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Petra Heß Steffen Reiche (Cottbus) Dr. Wolfgang Wodarg Martin Zeil Gabriele Hiller-Ohm Maik Reichel Waltraud Wolff Stephan Hilsberg Gerold Reichenbach (Wolmirstedt) BÜNDNIS 90/ Petra Hinz (Essen) Dr. Carola Reimann Heidi Wright DIE GRÜNEN Gerd Höfer Christel Riemann- Uta Zapf Iris Hoffmann (Wismar) Hanewinckel Manfred Zöllmer Kerstin Andreae Frank Hofmann (Volkach) Walter Riester Brigitte Zypries Marieluise Beck (Bremen) Eike Hovermann Sönke Rix Volker Beck (Köln) Klaas Hübner René Röspel FDP Cornelia Behm Birgitt Bender Christel Humme Dr. Ernst Dieter Rossmann Jens Ackermann Alexander Bonde Brunhilde Irber Karin Roth (Esslingen) Dr. Karl Addicks Ekin Deligöz Johannes Jung (Karlsruhe) Michael Roth (Heringen) Christian Ahrendt Dr. Thea Dückert Josip Juratovic Ortwin Runde Daniel Bahr (Münster) (B) Dr. Uschi Eid (D) Johannes Kahrs Marlene Rupprecht Uwe Barth Hans-Josef Fell Ulrich Kasparick (Tuchenbach) Rainer Brüderle Kai Gehring Dr. h. c. Susanne Kastner Anton Schaaf Angelika Brunkhorst Katrin Göring-Eckardt Ulrich Kelber Axel Schäfer (Bochum) Ernst Burgbacher Christian Kleiminger Bernd Scheelen Patrick Döring Britta Haßelmann Hans-Ulrich Klose Marianne Schieder Mechthild Dyckmans Bettina Herlitzius Astrid Klug Otto Schily Jörg van Essen Winfried Hermann Dr. Bärbel Kofler Dr. Frank Schmidt Ulrike Flach Peter Hettlich Walter Kolbow Ulla Schmidt (Aachen) Otto Fricke Priska Hinz (Herborn) Fritz Rudolf Körper Silvia Schmidt (Eisleben) Paul K. Friedhoff Bärbel Höhn Karin Kortmann Heinz Schmitt (Landau) Horst Friedrich (Bayreuth) Thilo Hoppe Rolf Kramer Olaf Scholz Dr. Edmund Peter Geisen Ute Koczy Anette Kramme Ottmar Schreiner Hans-Michael Goldmann Sylvia Kotting-Uhl Ernst Kranz Reinhard Schultz Miriam Gruß Fritz Kuhn Nicolette Kressl (Everswinkel) Joachim Günther (Plauen) Renate Künast Volker Kröning Swen Schulz (Spandau) Dr. Christel Happach-Kasan Markus Kurth Dr. Hans-Ulrich Krüger Ewald Schurer Heinz-Peter Haustein Undine Kurth (Quedlinburg) Angelika Krüger-Leißner Frank Schwabe Elke Hoff Monika Lazar Jürgen Kucharczyk Dr. Angelica Schwall-Düren Birgit Homburger Anna Lührmann Helga Kühn-Mengel Dr. Martin Schwanholz Dr. Werner Hoyer Nicole Maisch Ute Kumpf Rolf Schwanitz Michael Kauch Jerzy Montag Dr. Uwe Küster Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Heinrich L. Kolb Kerstin Müller (Köln) Christine Lambrecht Wolfgang Spanier Hellmut Königshaus Winfried Nachtwei Christian Lange (Backnang) Dr. Margrit Spielmann Gudrun Kopp Omid Nouripour Dr. Karl Lauterbach Jörg-Otto Spiller Jürgen Koppelin Brigitte Pothmer Waltraud Lehn Dr. Ditmar Staffelt Heinz Lanfermann Claudia Roth (Augsburg) Helga Lopez Dieter Steinecke Sibylle Laurischk Krista Sager Gabriele Lösekrug-Möller Andreas Steppuhn Harald Leibrecht Christine Scheel Dirk Manzewski Ludwig Stiegler Ina Lenke Irmingard Schewe-Gerigk Lothar Mark Rolf Stöckel Sabine Leutheusser- Dr. Gerhard Schick Caren Marks Christoph Strässer Schnarrenberger Grietje Staffelt Katja Mast Dr. Peter Struck Michael Link (Heilbronn) Rainder Steenblock Hilde Mattheis Joachim Stünker Markus Löning Silke Stokar von Neuforn Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16485

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Dr. Wolfgang Strengmann- DIE LINKE Dr. Lukrezia Jochimsen Dr. Herbert Schui (C) Kuhn Dr. Hakki Keskin Hüseyin-Kenan Aydin Dr. Ilja Seifert Hans-Christian Ströbele Dr. Dietmar Bartsch Katja Kipping Dr. Petra Sitte Dr. Harald Terpe Karin Binder Monika Knoche Frank Spieth Jan Korte Jürgen Trittin Dr. Lothar Bisky Dr. Kirsten Tackmann Heidrun Bluhm Katrin Kunert Dr. Axel Troost Wolfgang Wieland Oskar Lafontaine Josef Philip Winkler Eva Bulling-Schröter Alexander Ulrich Dr. Martina Bunge Michael Leutert Jörn Wunderlich Ulla Lötzer Roland Claus Sabine Zimmermann Nein Dr. Diether Dehm Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Werner Dreibus Fraktionslose Abgeordnete CDU/CSU Dr. Dagmar Enkelmann Kornelia Möller Klaus Ernst Kersten Naumann Henry Nitzsche Alexander Dobrindt Wolfgang Gehrcke Wolfgang Nešković Gert Winkelmeier Herbert Frankenhauser Heike Hänsel Dr. Norman Paech Petra Pau Dr. Peter Gauweiler Lutz Heilmann Enthaltung Bodo Ramelow Paul Lehrieder Hans-Kurt Hill Cornelia Hirsch Elke Reinke Dr. Georg Nüßlein BÜNDNIS 90/ Inge Höger Paul Schäfer (Köln) DIE GRÜNEN Marion Seib Dr. Barbara Höll Vol ker Sc hne i de r Willy Wimmer (Neuss) Ulla Jelpke (Saarbrücken) Dr. Anton Hofreiter

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem 600 000 wieder deutlich überschritten; es ist auch die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zweithöchste Vertragszahl seit der Wiedervereinigung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Unterrichtung durch die Bundesregierung Das ist auch das Ergebnis konsequenter Politik für Berufsbildungsbericht 2008 Wachstum und Beschäftigung. (B) – Drucksache 16/8750 – Wer Wachstum und Beschäftigung fördert, fördert (D) Überweisungsvorschlag: die Zukunftschancen der jungen Generation, kommt Ausschuss für Bildung, Forschung und zu mehr Ausbildungsplätzen. Das ist die zentrale Bot- Technikfolgenabschätzung (f) Sportausschuss schaft des Berufsbildungsberichts 2008. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Die Zahl der neuen Verträge ist somit in den letzten Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zwei Jahren um 75 800 gestiegen, die Zahl der zum Ausschuss für Gesundheit 30. September unversorgten Bewerberinnen und Be- Ausschuss für Tourismus werber gegenüber dem Vorjahr um 41 Prozent auf Haushaltsausschuss 29 100 gesunken. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Willi Brase [SPD]: Das ist gut!) Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das sind die zentralen Zahlen. Ich füge hinzu: Hinter je- der Zahl steckt ein junger Mensch mit seinen Talenten, (Jörg Tauss [SPD]: Wir könnten auch länger!) auch mit seiner Erwartung, am Ende der Schulzeit in die Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Ministe- nächste Phase seiner Bildungsbiografie einsteigen zu rin Dr. Annette Schavan. können und von dieser Gesellschaft eine wirkliche Chance zu bekommen. Deshalb war es richtig, dass wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gemeinsam mit den Sozialpartnern, speziell der Wirt- neten der SPD) schaft, den Ausbildungspakt um weitere drei Jahre ver- längert haben. Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dung und Forschung: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einher mit dieser positiven Bilanz geht übrigens eine Meine Damen und Herren! Der Berufsbildungsbericht Stimmung in den Unternehmen, die dafür gesorgt hat, 2008 zieht Bilanz über 2007. Diese Bilanz zeigt: Dyna- dass man sich in den Unternehmen nicht mehr allein mit mik in der Wirtschaft und Bewegung auf dem Arbeits- der Frage beschäftigt, wie man mehr Ausbildungsplätze markt wirken sich positiv auf den Ausbildungsmarkt schaffen kann, sondern längst auch mit der Frage, wie aus. Mit rund 625 900 neu abgeschlossenen Ausbil- der eigene Fachkräftebedarf in Zukunft gedeckt wer- dungsverträgen zum Stichtag 30. September 2007 den kann. Das betrifft vor allem hochinnovative Unter- wurde nicht nur erstmals seit 2001 die Marke von nehmen, das betrifft aber auch das Handwerk in 16486 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) Deutschland. Alle spüren, wie wichtig es ist, jetzt wirk- duale Ausbildung, ist das Flaggschiff unseres Bildungs- (C) lich jedem Jugendlichen eine Chance zu geben und Aus- systems. bildung für alle zu ermöglichen, weil der Fachkräftebe- darf schon in wenigen Jahren deutlich ansteigen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Wir haben in Deutschland eine im europäischen Ver- gleich sehr niedrige Jugendarbeitslosigkeit, weil wir be- Die Gründe hierfür sind: Eine hohe Zahl von Arbeitneh- rufliche Bildung und diese Art der Fachkräfteausbildung mern wird in Rente gehen. Darüber hinaus ist bereits haben. Das ist beste Vorbeugung gegen Jugendarbeitslo- deutlich ein Rückgang der Zahl der Schulabsolventen er- sigkeit. kennbar. Schon in diesem Jahr werden rund 33 000 we- niger Schülerinnen und Schüler die Schule verlassen als (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) im vergangenen Jahr. Die Gleichwertigkeit muss sich auch im Zugang zu Die Bevölkerungsentwicklung und die anhaltende weiteren Phasen der Bildungsbiografie erweisen. Des- Dynamik in der Wirtschaft führten zu erhöhtem Fach- halb gibt es ein Aufstiegsstipendium und eine Regelung kräftebedarf. Das wird auch in diesem Jahr die Chancen des Hochschulzugangs für diejenigen, die qualifiziert der Schulabsolventen weiter erhöhen, einen Ausbil- aus der beruflichen Bildung kommen, die Meister oder dungsplatz zu bekommen. Techniker sind. Das ist der nächste wichtige Schritt, um die Gleichwertigkeit noch einmal deutlich zu konkreti- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) sieren. Klar ist aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen: Jeder weiß, wir haben strukturschwache Regionen, Es gibt nach wie vor Problembereiche, um die wir uns in denen Ausbildungskapazitäten nicht in dem erforder- mit unserer modernen Berufsbildungspolitik kümmern. lichen Maße vorhanden sind. Dies mache ich an einer Zahl deutlich: Alleine in den neuen Bundesländern sind Erster Problembereich sind die Altbewerber. Bis ins seit 1998 150 000 Ausbildungsplätze seitens des Bun- letzte Jahr hinein ist feststellbar: Die Hälfte, exakt des finanziert worden. 52 Prozent all derer, die sich um einen Ausbildungsplatz bewerben, haben dies bereits mehrfach getan. Deshalb (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ist es richtig gewesen, dass wir im Rahmen der Qualifi- neten der SPD) zierungsinitiative der Bundesregierung hier mit der Ein- führung eines Ausbildungsbonus und der Erhöhung der Bedingung für duale Ausbildung ist natürlich, dass sozialpädagogischen Ausbildungshilfen einen besonde- die strukturellen Voraussetzungen gegeben sind. Davon (B) ren Akzent setzen. Wir tragen somit an dieser wichtigen können wir nicht überall ausgehen. Deshalb war es rich- (D) Schnittstelle Sorge dafür, dass bis zum Jahre 2010 – das tig, Jobstarter und anderes auf den Weg zu bringen, um ist das Ziel der Bundesregierung – jeder dieser Jugendli- klarzumachen: Zukunftschancen der jungen Generation chen eine Chance auf reguläre Ausbildung bekommt. müssen in allen Regionen Deutschlands vorhanden sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Bereits in diesem Sommer können erste Verträge abge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schlossen werden. Frau Ministerin, der Kollege Seifert würde gerne eine Der zweite Problembereich liegt an der Schnittstelle Zwischenfrage stellen. Schule/Ausbildung. Wir kennen die immer wieder geäu- ßerten Hinweise auf mangelnde Ausbildungsreife. Es Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- ist wichtig, an der Schnittstelle, am Übergang von der dung und Forschung: Schule in die Ausbildung, Jugendliche über unsere ver- Bitte schön. schiedenen Institutionen und institutionellen Hilfen auch ein Stück zu begleiten. Ich nenne das Stichwort Ausbil- dungspaten. Diese tragen Sorge dafür, dass diejenigen, Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): die noch nicht genügend vorbereitet sind oder die sich Frau Ministerin, Sie haben vier Problemfelder be- noch nicht darüber im Klaren sind, was auf sie zukommt, nannt und nicht erwähnt, dass Menschen mit Behinde- davon überzeugt werden, dass Aufstieg durch Bildung rungen und andere benachteiligte Gruppen sehr große geschieht, vor dem Aufstieg der Einstieg steht und der Schwierigkeiten haben, einen Ausbildungsplatz zu fin- Einstieg eigene Anstrengungen verlangt. So muss die den. Und wenn sie einen Ausbildungsplatz finden, dann Begleitung von Jugendlichen aussehen. finden sie höchstens einen Sonderausbildungsplatz, was dazu führt, dass die Übernahmemöglichkeiten wesent- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lich geringer sind. Wieso sehen Sie es nicht als Schwer- punkt Ihrer zukünftigen Arbeit an, dass dort etwas geän- Der dritte Problembereich ist die Durchlässigkeit. dert werden muss? Auch hier haben wir in der Qualifizierungsinitiative kon- krete Initiativen ergriffen. Wir sagen aus Überzeugung: Berufliche Bildung und Allgemeinbildung sind gleich- Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- wertig. Wir sagen aus Überzeugung vor allem mit Blick dung und Forschung: auf andere europäische Länder: Berufliche Bildung, also Ich war ja noch nicht fertig. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16487

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Sie haben teilung des Ministeriums heißt es: künftig nur noch Da- (C) gesagt, das wäre Ihr letzter Punkt!) ten, Trends, Bewertungen – Schluss. Wir sind sehr froh darüber. Denn wir haben schon vor zwei Jahren hier an- Ich hatte vier Punkte genannt und war bei den struktur- gemerkt, dass es enorm wichtig ist, einen kurzen, präg- schwachen Regionen. Natürlich gibt es daneben eine nanten und knackigen Berufsbildungsbericht zu bekom- Menge weiterer Einzelprobleme, zum Beispiel die Frage men, und dass das ein wirklich guter Beitrag wäre. des Übergangs von sonderpädagogischen Einrichtungen Deswegen freuen wir uns, wenn das im Jahre 2009 in entsprechende Einrichtungen der beruflichen Bildung. – auch als eine Maßnahme des Bürokratieabbaus – end- Hier gibt es vor allem im Bereich der freien Träger eine lich Realität wird. Menge erfolgreiche Initiativen. Ich bin davon überzeugt, dass in Bezug auf den Fachkräftebedarf alle Möglichkei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ten ausgeschöpft werden müssen. Unsere Förderpro- der CDU/CSU) gramme schließen das ein. Es handelt sich also nicht um einen Schwerpunkt, der neu gesetzt werden muss, son- Man darf ja am Beginn seiner Rede auch einmal etwas dern um einen, der, wenn Sie sich die Zuschusspolitik Positives sagen. anschauen, schon immer gesetzt war. Dies wurde natür- (Jörg Tauss [SPD]: Die ganze Zeit!) lich regional unterschiedlich genutzt. Es ist unbestritten, dass Menschen mit Behinderungen Probleme hinsicht- Der Berufsbildungsbericht nämlich ist ein deutliches lich ihrer beruflichen Perspektiven haben. In diesem Zu- Alarmsignal. Wenn Sie, Frau Ministerin, sagen, dass wir sammenhang erinnere ich an die Abgaben und die Abga- mit 626 000 Ausbildungsverhältnissen, einem Plus von benpolitik. Zahlt man eine Abgabe, wenn man eine 50 000, seit 2001 zum ersten Mal wieder die 600 000er- bestimmte Quote nicht erreicht, oder ist es nicht wichti- Grenze überschritten haben, dann ist das von den Zahlen ger, zu sagen, die Abgabe ist der leichtere Weg gegen- her richtig. Aber man muss auch hinter die Zahlen über der tatsächlichen Bereitschaft, Menschen mit schauen. Behinderungen einzustellen? Dazu steht die Bundes- regierung. Es gibt eine Menge Initiativen, das zu fördern (Jörg Tauss [SPD]: Klar!) und entsprechende Strukturen aufzubauen. Das ist unbe- Wir müssen uns klarmachen, dass in diesem Jahr zuerst stritten, und da besteht sicherlich auch Konsens in die- einmal ein Aufwuchs in Höhe von 29 000 bei den außer- sem Hause. betrieblichen Ausbildungsplätzen stattgefunden hat. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) heißt, kein Aufwuchs in unserer Hauptförderlinie, son- dern ein Plus bei den außerbetrieblichen Ausbildungs- Meine Damen und Herren, in der Berufsbildungspoli- plätzen. Der restliche Aufwuchs kommt in allererster (B) tik müssen wir neben dem, was wir national tun, was wir Linie in den Ländern Nordrhein-Westfalen – plus 14 Pro- (D) jetzt in der Qualifizierungsinitiative umgesetzt haben zent –, Baden-Württemberg – plus 16 Prozent – und Nie- und was wir dabei sind, mit Blick auf „Dual mit Wahl“ dersachsen zustande; in der Summe sind das umzusetzen, vor allem die europäische Arbeit – Berufs- 28 000 Ausbildungsplätze. Der Aufwuchs ist also in den bildungs-PISA – in den Blick nehmen. Wir müssen in Ländern zu verzeichnen, in denen es bereits ein intelli- den nächsten Jahren erreichen – das ist für den gemein- gentes Ausbildungsbonussystem gibt. Damit ist das samen Bildungsraum Europa wichtig –, dass das, wovon auch ein Erfolg der jeweiligen Landesregierung. Dem wir hier überzeugt sind, in Europa entsprechend Aner- geneigten Beobachter wird dabei wahrscheinlich nicht kennung findet. Wir wollen, dass Auszubildende einen entgangen sein, dass in all diesen Ländern liberale Wirt- Teil ihrer Ausbildung in einem anderen Land absolvie- schafts- oder Innovationsminister in der Verantwortung ren können. Wir wollen, dass das, was in Deutschland stehen. Flaggschiff des Bildungssystems ist, auch im europäi- schen Vergleich die Anerkennung findet, die es braucht. (Beifall bei der FDP – Lachen bei Abgeordne- Deshalb halte ich es für richtig, dass wir uns in Deutsch- ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE land auf das europäische Berufsbildungs-PISA einlassen GRÜNEN) und uns aktiv und offensiv an dem europäischen Qualifi- Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, in allerers- kationsrahmen und analog einem Qualifikationsrahmen ter Linie müssen wir der Wirtschaft und dem Handwerk in Deutschland beteiligen. dafür danken, Vielen Dank. (Gudrun Kopp [FDP]: Richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dass trotz des Abbaus von Arbeitsplätzen ein deutlicher Aufwuchs bei den Ausbildungsplätzen erreicht werden Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: konnte. Dies ist ein dankenswerter Einsatz. Der Mittel- Ich gebe das Wort dem Kollegen Patrick Meinhardt, stand steht zu seinem Wort. FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Patrick Meinhardt (FDP): Handlungsnotwendigkeiten gibt es einige. Im dritten Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Jahr unserer Initiative steuern wir auf mehr als Herren! Uns liegt wieder einmal ein Bericht vor, aller- 50 Prozent Altbewerber zu, 385 000 in absoluten Zah- dings zum letzten Mal in dieser Form. In der Pressemit- len. Anders formuliert: Im dritten Jahr der Altbewerber- 16488 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Patrick Meinhardt (A) misere kommt jetzt der erste Akt der Bundesregierung (Beifall bei der FDP) (C) mit dem sogenannten Ausbildungsbonus. Wir dürfen einen zweiten großen Block nicht aus dem Ich sage ausdrücklich: Der Ausbildungsbonus ist Fokus verlieren, nämlich die vorbereitende Ausbil- grundsätzlich eine gute Idee. Er muss aber intelligent an- dungsberatung, die unglaublich wichtig ist. Die Abbre- gepackt werden. Wir alle haben gestern wieder die Kritik cherquote bei der Ausbildung beträgt im Moment des ZDH-Generalsekretärs vernehmen können, und zwar 25 Prozent; sie ist in diesem Bereich eine der höchsten in Bezug auf die Justierung der Zielgruppe der Altbe- Quoten. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass wir werber. Er sagt ganz klar: höchstens Realschulabschluss, zu einer vorbereitenden und richtig justierenden Ausbil- zwei Jahre ohne Ausbildungsplatz und lernbeeinträchtigt dungsberatung kommen. Denn jeder Cent, der hier rich- oder sozial benachteiligt. In Baden-Württemberg haben tig angelegt ist, wird am Schluss gespart. Mit einer guten wir sogar gesagt: höchstens Hauptschulabschluss. Aber Beratung kann man den Jugendlichen eine gute Perspek- was macht die Bundesregierung daraus? tive geben. (Jörg Tauss [SPD]: Was Besseres!) Es ist wichtig, die Flexibilisierung voranzutreiben. Das bedeutet eine große Vielfalt von Ausbildungsberu- Ich glaube nicht, dass das die richtige Zielrichtung ist; fen. Wir müssen es hinbekommen – das Modell „Dual vielmehr müssen wir näher justieren und besser bestim- mit Wahl“ ist schon angesprochen worden –, dass wir im men. Sie machen daraus: ein Jahr ohne Ausbildungsplatz Rahmen einer intelligenten Modularisierung – Grund- und Realschulnote Vier; damit sei man ein schlechter module, Kernmodule, Spezialmodule – zu einer flexible- Schüler, wenn man diese Note in Deutsch oder in Mathe ren Vorgehensweise kommen. Das heißt aber definitiv hat. Das heißt, mit der Note Ausreichend ist man nach nicht, dass wir eine Atomisierung der Ausbildung wol- dieser Definition jemand, der zu den Altbewerbern zäh- len. Wir wollen aber auch keine Zentralisierung auf Teu- len kann. Darüber hinaus stellt man die Entscheidung fel komm raus in Richtung auf immer weniger Ausbil- vor Ort der Flexibilität der Arbeitsagenturen frei. Ich dungsberufe. Wir brauchen hier eine gewisse glaube, dass das der falsche Weg ist. Bandbreite. In dem Berichtszeitraum haben wir gemerkt, (Jörg Tauss [SPD]: Was habt ihr denn gegen dass die Dynamik bei Berufen mit einer zweijährigen Flexibilität?) Ausbildungsdauer letztendlich dazu führt, dass es für diejenigen, die einen Hauptschulabschluss haben, wieder – Nein, Herr Tauss, ich glaube, dass das wirklich der fal- eine größere Perspektive gibt. sche Weg ist. Denn wir müssen genau beschreiben, wen wir mit einer solchen Maßnahme erreichen wollen. Schauen wir uns einmal die Steigungsraten bei den Berufen mit einer zweijährigen Ausbildungsdauer an: (B) (D) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Priska Fachlagerist plus 33 Prozent, Maschinen- und Anlagen- Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- führer plus 33 Prozent, Teilezurichter plus 16 Prozent, NEN]) Verkäufer plus 15 Prozent. Warum haben wir es denn in Baden-Württemberg – das (René Röspel [SPD]: Alles keine Zukunfts- ist ja immerhin unser beider Land – von 2005 auf 2006 berufe!) geschafft, die Zahl der Altbewerber von 2 700 auf 700 zu reduzieren? All diese Berufe mit einer zweijährigen Ausbildungs- dauer bieten den Schülern mit einem Hauptschulab- (Jörg Tauss [SPD]: Rein konjunkturell!) schluss eine Perspektive. – Nein. Wir haben es geschafft, weil wir in Baden- (René Röspel [SPD]: Keine Chancen in einer Württemberg einen Ausbildungsbonus eingeführt haben, modernen Gießerei!) der genau dieser Justierung entspricht: ein Jahr Wartezeit und maximal Hauptschulabschluss, aber nicht mit Note Das ist dringend notwendig. Vier. Mit einer so festgelegten Zielgruppe kann man ef- (Beifall bei der FDP) fektiv arbeiten. Wir brauchen eine genaue Zielgruppen- definition. Gibt es sie nicht, können die entsprechenden Wir Liberale sind der Überzeugung – dieser Punkt ist Maßnahmen die Betroffenen nicht erreichen. für uns wichtig –: Die Gleichwertigkeit von beruf- licher und akademischer Ausbildung bedeutet, dass (Beifall bei der FDP) wir alle zu einem Imagewechsel unseren Beitrag leisten Nebenbei bemerkt: Die Bundesregierung braucht für müssen. Eine Ausbildung zu machen, ist etwas Gutes. die Finanzierung dieses Ausbildungsbonus pro Bewer- Diese Botschaft muss man an die jungen Menschen wei- ber zwischen 4 000 und 6 000 Euro. In Niedersachsen tergeben. Ein größerer Stellenwert der beruflichen Aus- werden dafür zwischen 2 500 und 3 000 Euro benötigt. bildung tut unserem Land deswegen gut, weil diejeni- Baden-Württemberg hat die Zahl der Altbewerber um gen, die über die Ausbildung in das Berufsleben 75 Prozent reduziert und zahlt 3 200 Euro aus. Ich weiß eintreten, etwas mitbringen, was unser Land dringend wirklich nicht, warum die Bundesregierung fast den braucht: eine Kultur der Selbstständigkeit. doppelten Betrag pro Auszubildenden braucht. Zwei Vielen Dank. Länder machen es vor, dass es mit ungefähr dem halben Betrag funktionieren kann. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16489

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: von der Hauptschule, sondern möglicherweise auch von (C) Für die SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen Willi anderen Schultypen 14 Tage lang eine Orientierung, was Brase das Wort. Beruflichkeit, Branchenentwicklung in der Region und Perspektiven angeht, gegeben wird und dieses Pro- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gramm gut umgesetzt wird, dann ist dies eine Aufforde- der CDU/CSU) rung, das in Zukunft für alle auf den Weg zu bringen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Willi Brase (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Sitzungswoche haben wir über den Wir diskutieren heute über den Berufsbildungsbericht. Ausbildungsbonus diskutiert. In diesem Zusammen- Ich möchte aber zu Beginn eine Initiative von jungen hang habe ich darauf hingewiesen, dass wir in der Be- Menschen, von Landesschülervertretungen und von jun- nachteiligtenförderung, was die Berufsausbildungsvor- gen Gewerkschaftern erwähnen, die das Grundrecht bereitung angeht, immer noch eine Vielfalt von auf Ausbildung einfordern. Für die SPD-Fraktion ist Maßnahmen haben. Wer sich den Berufsbildungsbericht diese Initiative eine weitere Ermutigung, sich für die genau ansieht, wird feststellen, dass es jede Menge Lan- Schaffung von qualifizierten Ausbildungsplätzen in aus- desprogramme gibt. Wir haben manche ESF-geförderten reichender Zahl einzusetzen. Für uns ist diese Initiative Programme. Wir haben das BVJ und das BGJ bis hin zu Handlungsauftrag; denn die jungen Leute drücken damit den Programmen der Agentur für Arbeit. aus, dass sie auch zukünftig eine qualifizierte Ausbil- Wir halten den Beschluss des Hauptausschusses des dung wollen. Deshalb werden wir uns weiterhin dafür Bundesinstituts für Berufsbildung, eine nationale Bil- einsetzen. dungsinitiative im Sinne eines Schul- und Berufsab- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schlusses für alle zu starten, für absolut richtig; denn er der CDU/CSU) enthält gute Vorschläge. Wir wollen den Lernort Betrieb stärker mit einbeziehen. Dazu gibt es gute konkrete Bei- Die Ministerin, Frau Schavan, hat deutlich auf die spiele. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist; denn Zahlen und die Entwicklung hingewiesen. Ich will sie an mit einer vernünftigen Berufsorientierung und einer ver- einer Stelle etwas ergänzen: Auch wir nehmen positiv nünftigen Berufsvorbereitung stärken wir das Selbst- zur Kenntnis, dass es neben den neuen eingetragenen wertgefühl der jungen Menschen. Wir brauchen ausbil- Ausbildungsverhältnissen im Bereich BBiG und HwO dungsbegleitende Hilfen. Diese weiten wir aus. Wir noch 120 000 junge Leute gibt, die in einer Ausbildung werden Abbrüche vermeiden. Die Antrags- und Durch- nach Landesrecht – und nicht nur zwei Jahre, sondern führungsbestimmungen müssen entrümpelt werden. Ich (B) vielfach auch drei Jahre – tätig sind. Wer sich den Be- glaube, dieser Initiative gebührt der entsprechende Res- (D) rufsbildungsbericht genau anschaut, wird sehen, wie pekt. viele hochqualifizierte Ausbildungen dort durchgeführt werden. Das zählt mit dazu. Man könnte sagen: Wir bie- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ten jährlich in der Bundesrepublik weit über Die duale Ausbildung in der Bundesrepublik 700 000 gute und vernünftige Möglichkeiten für die jun- Deutschland lebt davon, dass wir auf vielen Ebenen eine gen Leute an. Das ist richtig so. gute Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten haben. (Beifall bei der SPD) Es ist richtig, wenn wir sagen: Diese Zusammenarbeit zu hegen und zu pflegen, ist nicht verkehrt. Gerade bei der In der Debatte wird häufig auch die Frage der Ausbil- Neuordnung von Ausbildungsordnungen haben wir über dungsreife angesprochen; das war hier immer Thema Jahrzehnte von dieser guten Zusammenarbeit gelebt. und wird es auch zukünftig bleiben. Die SPD-Fraktion Wenn die Fachverbände gemeinsam Ausbildungsord- sagt: Wir brauchen die Berufsorientierung und Berufs- nungen entwickeln und sie dann im Konsens mit der vorbereitung nicht nur für besonders betroffene Grup- Bundesregierung und dem Verordnungsgeber durchset- pen, wie das derzeit häufig noch der Fall ist, sondern zen, dann war und ist das ein guter Weg. Es ist aber nicht wollen sie für alle. Wir wollen keine Stigmatisierung so gut, wenn der Verordnungsgeber bei der einen oder einzelner Gruppen mehr, die am Ausbildungsmarkt nicht anderen Ausbildungsordnung dieses Prinzip gegen den zurande kommen, sondern für alle in diesem Land eine Willen der Fachverbände verlässt. vernünftige Berufsorientierung. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb ist unsere Bitte an das Wirtschaftsministerium, die Praxis an dieser Stelle etwas zu überprüfen. Die Deshalb halten wir es auch für richtig, dass ein ent- Konsensbildung in der beruflichen Bildung ist ein so ho- sprechendes Programm für Schülerinnen und Schüler hes Gut, dass wir es nicht leichtfertig aufs Spiel setzen mit Mitteln in Höhe von 15 Millionen Euro in Zusam- dürfen. Das wäre der falsche Weg. menhang mit den überbetrieblichen Ausbildungsstellen (Beifall bei der SPD) des Handwerks und der Industrie auf den Weg gebracht wird und dass die gesetzlich vorgesehene Finanzierung Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir, CDU/CSU, von 50 : 50 geregelt ist. Ich sage hier sehr deutlich: SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, haben in der Wenn dieses Programm gut angenommen wird, wenn letzten Legislaturperiode zu diesem Thema einen Ent- jungen Menschen, Schülerinnen und Schülern nicht nur schließungsantrag eingebracht, in dem wir gefordert ha- 16490 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Willi Brase (A) ben, dass da, wo es im Verfahren klemmt, möglicher- nahme und erhält mehr Geld. Diese Zufälligkeit und (C) weise ein Schlichtersystem eingeführt wird. Ich will das diese Vielfalt der Maßnahmen haben wir in einem sym- heute ausdrücklich anmahnen, weil ich glaube, das ist bolischen Projekt aufgelöst. Wir haben sozusagen alles der bessere Weg. in einen Topf geschüttet. Vor Ort soll nun geschaut wer- den, was der einzelne braucht. Das ist Individualisierung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten im positiven Sinne, um den Wünschen der jungen Leute der CDU/CSU) besser gerecht werden zu können. Ausbildungsmärkte sind regionale Märkte. Unser Ziel (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) muss es sein, Partner und Strukturen vor Ort zu stärken sowie das Berufsprinzip beizubehalten. Wir müssen da- Ich glaube, dass dieses Projekt richtig ist. Es wird in drei für sorgen, dass die jungen Leute das erhalten, was sie Regionen Nordrhein-Westfalens durchgeführt. Ich wollen, nämlich eine qualifizierte Ausbildung, die ihre würde mich freuen, wenn wir dieses Projekt bundesweit Beschäftigungsfähigkeit fördert, die einen Einstieg in übernehmen, wenn die Ergebnisse gut sind. den Beruf und eine Zukunftsperspektive bietet. Die berufliche Bildung in Deutschland ist nicht nur In diesem Zusammenhang führen wir auch eine De- dazu da, Versorgung auf den Weg zu bringen. Die Wei- batte über die zweijährige Ausbildung. Wer sich den Be- terentwicklung der beruflichen Bildung, vor allem die rufsbildungsbericht genau anschaut, wird feststellen, qualitative Weiterentwicklung, ist ein Aspekt von Inno- dass einige dieser zweijährigen Ausbildungsgänge in- vation. Und weil das so ist, müssen wir die berufliche zwischen nur noch gerade einmal 10, 15 oder 20 Aus- Bildung nach vorne bringen. bildungsverhältnisse vorweisen. Wenn wir in Richtung „Berufsfamilie“ gehen wollen, was wir bejahen und für Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. richtig halten, dann sollten wir auch die zweijährigen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ausbildungsordnungen überprüfen. Ich glaube, sie sind fehl am Platz und bieten keine vernünftige Zukunftsper- spektive für die jungen Leute. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Nele Hirsch, Frak- (Beifall bei der SPD) tion Die Linke. Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Berufsbildungs- (Beifall bei der LINKEN) bericht – das ist eben schon angesprochen worden – ein Stück weit verändert wird. Wir gehen davon aus, dass die Vorschläge des Hauptausschusses mit diesen Ände- Cornelia Hirsch (DIE LINKE): (B) rungen in Einklang stehen. Der Ausschuss hat gefordert, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) dass der Berufsbildungsbericht einen politischen Teil er- Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesregie- hält, der auch klare politische Aussagen enthalten soll. rung! Mit Ihrer Berufsbildungspolitik schaffen Sie keine Das ist Aufgabe der Bundesregierung; daran sollte man Zukunft, wie Sie hier behauptet haben, Frau Ministerin, nicht vorbeigehen. Inhaltlich sollte er gestrafft und the- sondern zerstören sie. matisch so aufgebaut werden, dass die Schwerpunkte (Willi Brase [SPD]: Das ist Quatsch!) noch deutlicher und noch schneller zu erkennen sind. Außerdem sollte die Präsentation verbessert und damit In erster Linie merken das die betroffenen Jugendli- die Nutzerfreundlichkeit gesteigert werden. In diesem chen. Herr Brase, Sie haben zu Recht darauf hingewie- Sinne sollten wir tätig werden. Die SPD-Fraktion wird sen, dass sie sich das nicht länger gefallen lassen wollen diese Bemühungen unterstützen. und deshalb eine Petition gestartet haben, mit der sie for- dern, dass das Recht auf Ausbildung im Grundgesetz (Beifall bei der SPD) verankert wird. Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Wir bitten (Beifall bei der LINKEN) darum, dass man sich die Initiativen, die in den einzel- nen Regionen im Bereich der beruflichen Bildung auf Am Dienstag wurde die Petition übergeben. Viele Kol- den Weg gebracht wurden und als präventives Handeln leginnen und Kollegen aus diesem Parlament waren da- verstanden werden können, genau anschaut und unter- bei. Mehr als 72 000 Unterschriften sind zusammenge- stützt. Einige Initiativen führen zu einer Verbesserung. kommen. Quer durch alle Fraktionen – mit Ausnahme Ich habe sie hier, im Plenum, schon mehrfach erwähnt. der FDP, die leider nicht vertreten war – wurde gesagt: Ja, das ist ein richtiges und wichtiges Anliegen. In Nordrhein-Westfalen haben wir ein Projekt auf den Weg gebracht, um die Vielfalt der eben angesprochenen Heute diskutieren wir über den Berufsbildungsbericht Maßnahmen im Übergangsbereich ein Stück weit in 2008. Dieser Bericht ist ein deutlicher Beleg dafür, wie den Griff zu bekommen. Häufig ist es so, dass den jun- die Bundesregierung dieses von den Jugendlichen gefor- gen Leuten, die zur Berufsberatung in die Agentur für derte Grundrecht mit ihrer Politik mit Füßen tritt. Wenn Arbeit kommen, ein Angebot gemacht wird, das sie nicht Sie, Herr Kollege Brase, Ihre schönen Worte vom Diens- genau nachvollziehen können. Der eine wird in Richtung tag, die Sie hier wiederholt haben, ernst nehmen würden, Schule – BVJ oder BGJ, das ausläuft – geschickt, der an- dann dürften Sie nicht auf ein „Weiter so!“ setzen, son- dere erhält eine Maßnahme der Agentur für Arbeit, und dern müssten für eine klare Abkehr von der bisherigen der Dritte kommt in eine vom ESF geförderte Maß- Berufsbildungspolitik eintreten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16491

Cornelia Hirsch (A) (Beifall bei der LINKEN – Willi Brase [SPD]: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Das wäre grundverkehrt! Es geht um die jun- Frau Kollegin, der Kollege Hinsken würde gerne eine gen Leute!) Zwischenfrage stellen. Stattdessen hören wir die üblichen hohlen Phrasen: Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt habe sich ent- Cornelia Hirsch (DIE LINKE): spannt, der Ausbildungspakt sei ein Erfolg, und die Bun- Nein, ich möchte sie nicht zulassen. desregierung habe im letzten Jahr neue, innovative Im- pulse auf den Weg gebracht. Alle drei Behauptungen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sind falsch. Alle drei Behauptungen sind auch eine Ver- Nein, sie möchte sie nicht zulassen. alberung der jungen Menschen und der 72 000 Unter- zeichnerinnen und Unterzeichner der Petition für ein (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wie schade! – Grundrecht auf Ausbildung. Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Dann dür- fen Sie bei mir nachher auch keine Zwischen- (Beifall bei der LINKEN) frage stellen!) Lassen Sie mich zunächst auf Ihre erste Behauptung eingehen: auf die angebliche Entspannung auf dem Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Ausbildungsmarkt. Ich kann nur wieder einmal an Sie Ich möchte insbesondere an die Kolleginnen und Kol- appellieren, sich den Berufsbildungsbericht jenseits der legen von SPD und Grünen appellieren – da der Ausbil- Schönfärberei der Bundesregierung einmal genauer an- dungspakt vor allem auf Sie zurückgeht –, endlich zuzu- zusehen und folgende Zahlen zur Kenntnis zu nehmen: geben, dass der Ausbildungspakt für Sie in Wahrheit nur 385 000 Jugendliche in diesem Land tragen den Stempel der Vorwand war, damit Sie sich von Ihrer Forderung Altbewerberin bzw. Altbewerber. Allein im letzten Jahr nach einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage verab- konnten 100 000 Jugendliche ihren Ausbildungswunsch schieden konnten. nicht realisieren. Nur noch 24 Prozent der Betriebe bil- (Beifall bei der LINKEN) den aus. Nicht einmal jeder dritte Jugendliche mit Mi- grationshintergrund findet einen Ausbildungsplatz. Es Sie hatten nicht den Mut, sich den Unternehmen in den kommt zu zusätzlichen Benachteiligungen von Frauen Weg zu stellen und ihre Verantwortung für die Bereit- und – darauf hat mein Kollege Ilja Seifert hingewiesen – stellung von Ausbildungsplätzen einzufordern. Die Ge- von jungen Menschen mit Behinderung. Das ist wahrlich werkschaften beteiligen sich an diesem staatlich legiti- keine Entspannung. Vor allem ist das alles andere als ein mierten Ausbildungsabbau nach wie vor nicht. Sie Grundrecht auf Ausbildung. fordern wie die Linke: weg mit dem Ausbildungspakt (B) und her mit einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage! (D) (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Herr Kollege Brase, wenn Sie die Forderung dieser Petition unterstützen, dann müssen Sie für das politische Ihre dritte Behauptung, die Bundesregierung habe im Ziel eintreten, das die Linke schon seit Jahren verfolgt: letzten Jahr innovative Vorschläge zur Weiterentwick- lung des Berufsbildungssystems vorgelegt, ist eben- (René Röspel [SPD]: Sie gibt es doch noch gar falls falsch. In Ihrer Qualifizierungsinitiative und in den nicht seit Jahren! – Patrick Meinhardt [FDP]: Leitlinien des Innovationskreises sind erstens lediglich Seit Jahren? Euch gibt es doch erst ein Jahr! Ankündigungen ohne jedes Fundament enthalten. Da le- Wie habt ihr eigentlich vorher geheißen?) sen wir von einem Berufsbildungs-PISA, von einer bes- seren Benachteiligtenförderung und von der Öffnung des Alle jungen Menschen müssen das Recht auf ein aus- Zugangs zu Hochschulen auch für die berufliche Bil- wahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen haben. dung. All diese Ziele sind richtig. Wie Sie konkret vor- (Beifall bei der LINKEN – Willi Brase [SPD]: gehen wollen, das sagen Sie aber nicht. Ja, ja! Hättet ihr euch doch in Mecklenburg- (René Röspel [SPD]: Sie jedenfalls werden Vorpommern bloß besser durchgesetzt! In Ber- diese Ziele nie erreichen!) lin habt Ihr das übrigens auch nicht umgesetzt! Was erzählen Sie da eigentlich?) Auf der anderen Seite machen Sie Vorschläge, die eindeutig unsozial sind. Das beste Beispiel ist hier der Ihre zweite Behauptung lautet: Der Ausbildungspakt Ausbildungsbonus, den Sie planen und über den wir in ist ein Erfolg. Auch hierzu sagt die Linke deutlich Nein. der letzten Sitzungswoche diskutiert haben. Das Pro- Richtig ist: Der Ausbildungspakt ist einer der Gründe für blem ist nicht allein, dass die Unternehmen damit für ih- die heutige Misere. Gerade durch diesen Pakt – Herr ren jahrelangen Rückzug aus der Bereitstellung von Tauss, Sie brauchen gar nicht den Kopf zu schütteln – Ausbildungsplätzen auch noch belohnt werden. (Jörg Tauss [SPD]: Doch!) (Willi Brase [SPD]: Sie machen das dort, wo Sie an der Landesregierung beteiligt sind, doch wurde den Betrieben die Legitimation verschafft, sich genauso! Das ist wirklich unglaublich! Was aus ihrer Verantwortung für die Bereitstellung von Aus- soll das denn? So ein Unsinn!) bildungsplätzen zurückzuziehen. Das wird daran deut- lich, dass die Quote der betrieblichen Ausbildung Jahr Nein, es kommt noch ein weiterer Punkt hinzu: Mit der für Jahr gesunken ist. Einführung eines Ausbildungsbonus unterstützen Sie die 16492 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Cornelia Hirsch (A) Schmalspurausbildung. Wenn ein Unternehmer für eine Frau Hirsch, es geht bei der Entscheidung, ob Betriebe (C) dreijährige und für eine zweijährige Ausbildung die glei- ausbilden oder nicht, nicht allein ums Geld. Vielmehr che Prämie erhält, dann wird er sich natürlich für eine muss man sich die Strukturen anschauen. Aus diesem zweijährige Ausbildung entscheiden; das ist ganz klar. Grund ist Ihr ewig gleicher Vorschlag einer Ausbil- Das ist Schmalspurausbildung per Gesetz. Auch dazu dungsplatzumlage nicht das Allheilmittel. Deswegen ha- sagt die Linke Nein. ben wir uns damals anders entschieden. (Beifall bei der LINKEN – Priska Hinz [Her- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN born] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der kann wirklich viel Kritik am Ausbildungsbo- CDU/CSU) nus üben, wenn man das will! Aber das ist ganz sicher die falsche!) Natürlich kann man den Ausbildungspakt kritisie- ren. Auch wir tun das, aber aus anderen Gründen. Es Bei der Petitionsübergabe hat einer der Jugendlichen stimmt nicht, dass mit dem Pakt nichts erreicht wurde. etwas sehr Wichtiges gesagt. Ich möchte ihn hier deshalb Damit wurde etwas erreicht, aber die Ziele sind uns nicht zitieren: Ein Recht auf Ausbildung ist für die Zukunft ambitioniert genug. Man muss nicht nur neue, sondern von uns Jugendlichen sehr wichtig, und die große Mehr- auch zusätzliche Ausbildungsplätze vereinbaren, weil heit der Bevölkerung unterstützt diese Forderung. Ich bisher nicht diejenigen gegengerechnet werden, die weg- verstehe nicht, warum sich nicht auch im Bundestag da- fallen. Das ist unter anderem ein Problem. für eine Mehrheit findet. – Die ehrliche Antwort auf diese Frage wäre, dass die Mehrheit im Bundestag die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Interessen der Unternehmen vertritt und eben nicht die Natürlich müssen in den Ausbildungspakt noch an- Interessen der Mehrheit der Gesellschaft und deshalb dere Unternehmen als die kleinen und mittleren Unter- auch nicht die Interessen der ausbildungsplatzsuchenden nehmen aufgenommen werden, die auch in den letzten Jugendlichen. Jahren dankenswerterweise viele Ausbildungsplätze ge- (Beifall bei der LINKEN) schaffen haben. Man muss auch sagen: Wir stehen des- wegen in diesem Jahr besser da, weil es viele außerbe- Sie haben nicht den Mut, das zuzugeben. Die Linke triebliche Ausbildungsplätze gibt; Herr Meinhardt hat macht bei dieser Politik nicht mit. Wir sagen nicht „Wei- darauf hingewiesen. Das heißt, auch die öffentliche ter so“ und instrumentalisieren die Petition für ein Hand ist eingestiegen. Das ist in diesem Fall nicht Grundrecht auf Ausbildung als ein Ja zur bisherigen Be- schlecht. Trotzdem müssen wir sehen, dass es nicht nur rufsbildungspolitik, sondern wir sehen sie als das, was im dualen System neue Ausbildungsplätze gegeben hat, sie ist, als ein klares Nein zu dem, was bisher in der Be- (B) sondern auch außerbetriebliche Ausbildungsplätze. Wir (D) rufsbildungspolitik passiert ist, und ein klares Nein zu stellen höhere Anforderungen an die Wirtschaft, die im- Ihrer unsozialen Politik. Die Jugendlichen haben unsere mer wieder den Fachkräftemangel beklagt. Ihr müssen Unterstützung. wir klar und deutlich sagen, dass sie ausbilden und für Besten Dank. ihren Nachwuchs sorgen muss. (Beifall bei der LINKEN – Alexander Dob- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rindt [CDU/CSU]: Wieder einmal sehr enttäu- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der schend war das!) CDU/CSU) Ich jedenfalls lasse mir als einer Abgeordneten, die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schon seit 20 Jahren – zunächst in einem Landesparla- Das Wort hat die Kollegin Priska Hinz, Bündnis 90/ ment – Berufsbildungspolitik für die Jugendlichen macht Die Grünen. und die als eine der wenigen und auch im Gegensatz zu Ihnen eine berufliche Ausbildung hat, nicht vorwerfen, Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass mich dieses Thema nicht kümmert. Das brauche ich NEN): mir von Ihnen nicht sagen zu lassen, Frau Hirsch. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tatsächlich eine leichte Verbesserung auf dem Ausbil- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der dungsmarkt, CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Da sitzt so (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mancher auf einem hohen Ross! Da haben Sie recht!) die auch der Konjunktur geschuldet ist; Wir müssen über die Zukunft reden. Das künftige (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wie so Jahr wird als schwierig prognostiziert. Im Berufsbil- vieles andere!) dungsbericht wird damit gerechnet, dass etwa 1 Million das ist sicherlich richtig. Trotzdem dürfen wir uns und junger Menschen inklusive Altbewerber und Schulab- die Jugendlichen nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir brecher einen Ausbildungsplatz suchen werden. Ihnen noch lange nicht über dem Berg sind und dass wir in der steht voraussichtlich ein Angebot von 620 000 Ausbil- Berufsausbildung nach wie vor strukturelle Probleme dungsplätzen gegenüber. Diese Lücke schließt man nicht haben. Es sind nicht nur konjunkturelle Probleme, die mit einem Ausbildungsbonus, der auch noch Mitnahme- verhindern, dass Ausbildungsplätze geschaffen werden. effekte produziert. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16493

Priska Hinz (Herborn) (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) keine klassische duale Ausbildung; aber es ist nach (C) dem Prinzip der dualen Ausbildung – auf das es uns an- Wir müssen das Hauptproblem sehen: Wir haben zu we- kommt – aufgebaut: starke Praxisverschränkung mit the- nig Ausbildungsplätze, und wir haben ein zu großes oretischer Ausbildung. Übergangssystem. 43 Prozent der Jugendlichen landen in einem Schulberufssystem, das keinen Abschluss bie- Viertens. Wir brauchen mehr Produktionsschulen. tet, oder in berufsvorbereitenden Maßnahmen und in Hamburg ist ein super Beispiel: In Hamburg sollen mehr sonstigen Qualifizierungsmaßnahmen, die keinen Ab- Produktionsschulen eingerichtet werden, bei denen das schluss bieten. Was antwortet uns die Regierung auf BVJ und das BGJ integriert werden, also die Berufsvor- unsere Anfrage, was sie gegen diesen Wildwuchs im bereitung in einen Abschluss mündet. Diese Schulen ha- Übergangssystem macht? Sie hat uns geantwortet, dass ben viel höhere Erfolgsquoten. es sich im Übergangssystem um Jugendliche handelt, deren Entwicklungsstand eine erfolgreiche Ausbildung Fünftens. Wir brauchen eine Berufsorientierung, die in einem anerkannten Ausbildungsberuf noch nicht er- nicht nur zwei Wochen in drei verschiedenen Berufsfel- warten lässt. dern bedeutet, wir brauchen eine Berufsorientierung an den allgemeinbildenden Schulen, von Anfang an und Das ist entweder bare Unkenntnis oder Ignoranz oder – am heutigen Girls’ Day kann ich das deutlich sagen – Zynismus. genderorientiert; denn die Frauen haben immer noch das eingeengte Berufswahlspektrum ihrer Mütter und Groß- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mütter im Kopf. Man kann doch nicht sagen, dass 43 Prozent der Jugend- Das sind strukturelle Vorschläge, mit denen wir, wie lichen nicht ausbildungsreif sind. Da müssten Sie eigent- wir glauben, Verbesserungen erreichen können. Spätes- lich nacharbeiten, Frau Schavan. tens wenn der nationale Bildungsbericht vorgelegt wird, – Wir brauchen strukturelle Veränderungen. Das Übergangssystem muss dahin gehend verändert werden, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dass jeder Ausbildungsschritt zu einer anerkannten Qua- Frau Kollegin! lifikation führt, die in einer Ausbildung angerechnet wird. Nur dann werden wir das Problem verringern, dass die jungen Menschen im Schnitt 20 Jahre alt sind, wenn Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sie mit einer Ausbildung beginnen. 20 Jahre – und dann – werden wir dieses Thema wieder auf der Tagesord- reden wir über das G 8 und eine Verkürzung der Studien- nung haben. zeiten! Scheinbar interessiert es uns aber nicht, dass Danke schön. (B) junge Leute erst mit 20 eine Berufsausbildung beginnen. (D) Das ist eine Verschwendung von Lebenszeit, eine De- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) qualifizierung von jungen Leuten, die wir uns sozial und ökonomisch nicht leisten können. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nächster Redner ist der Kollege Uwe Schummer, sowie bei Abgeordneten der SPD) CDU/CSU-Fraktion. Wir Grünen wollen integrierte Maßnahmen statt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und immer nur eins drauf: Ausbildungsbonus, EQJ, neue Be- der SPD) rufsorientierungsprogramme in überbetrieblichen Aus- bildungsstätten. Berufsvorbereitende Maßnahmen müs- Uwe Schummer (CDU/CSU): sen auf jene konzentriert werden, die sie wirklich nötig Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! haben, weil sie noch nicht ausbildungsreif sind. Dazu ge- Grundrecht auf Ausbildung ist ein interessantes hört, dass das Dickicht der Vorbereitungs- und Qualifi- Thema. In unserer Verfassung ist die freie Berufswahl zierungsmaßnahmen von Bund, Ländern, Kommunen festgelegt. Die freie Berufswahl ist ein wirksames und und BA gelichtet wird. Das, Frau Schavan, wäre eine wichtiges Instrument. Ich denke, dass auch die jungen Aufgabe für die Nationale Qualifizierungsinitiative. Menschen, die heute Teilnehmer an dieser Debatte sind, wissen: Es geht hier nicht um Worte, sondern um Taten. Zweitens. Die im Übergangssystem erworbenen Wir müssen zwischen der Politik, den Akteuren in der Kompetenzen müssen zertifiziert und anerkannt werden. Ausbildung, den Sozialpartnern, der Wirtschaft und den Keine Berufsfachschule darf ohne Abschluss enden. Gewerkschaften eine Allianz für Bildung schmieden, da- BVJ, BGJ und wie sie alle heißen führen ins Nirwana, mit Fakten gesetzt und nicht nur Worte gesprochen wer- sie machen die jungen Leute schulmüde und führen den. dazu, dass die jungen Leute keine Lust mehr auf Ausbil- dung haben. Der Berufsbildungsbericht enthält drei Botschaften, die mir heute wichtig sind: Drittens. Alle ausbildungsreifen Jugendlichen müssen eine vollwertige Ausbildung absolvieren können. Wir Erste Botschaft. Die Ausbildung folgt, wenn auch schlagen vor, die duale Ausbildung um öffentlich bereit- zeitversetzt, dem Arbeitsmarkt. Wenn man sich die Jahre gestellte Ausbildungsplätze zu ergänzen, die in einer 2005 und 2008 anschaut, dann stellt man Folgendes fest: stärkeren Kooperation von Berufsschulen, überbetriebli- Im März 2005 hatten wir 5,2 Millionen Arbeitslose. Wir chen Zentren und Betrieben entstehen sollen. Das ist haben darüber diskutiert, ob die 6 Millionen erreicht 16494 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Uwe Schummer (A) werden. Wie reagiert ein Land, Deutschland, das, wie in lassen sein und mehrere erfolglose Bewerbungen ge- (C) der Weimarer Zeit, unweigerlich auf 6 Millionen Ar- schrieben haben, es muss ein zusätzlicher Ausbildungs- beitslosen zumarschiert? Kann man überhaupt noch platz sein, und ein Vermittlungshemmnis gehört auch Vollbeschäftigung erreichen? Im März 2008 hatten wir dazu. – Ich denke, dass auch eine Verrechnung von Ein- 3,5 Millionen Arbeitslose. Das heißt, die Zahl der Ar- stiegsqualifizierung und Ausbildungsbonus – also kein beitslose ist von 2005 bis 2008 um 1,7 Millionen gesun- Entweder-oder – möglich sein muss. ken. (Patrick Meinhardt [FDP]: Aha!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Dies werden wir im parlamentarischen Verfahren ent- sprechend den Kriterien der Arbeitergeber, der Kam- Zum Vergleich: 2005 wurden jeden Tag 2 000 Ar- mern und des DGB gemeinsam verhandeln, um dann mit beitsplätze vernichtet, heute werden unter dem Strich je- dem Ausbildungsbonus ein gutes Konzept aufbauend auf den Tag 1 400 Arbeitsplätze neu geschaffen. Die Zahl dem EQJ zu verabschieden. der Erwerbstätigen beträgt 40 Millionen. Das heißt, im Vergleich zu 2005 ist die Zahl der Erwerbstätigen um Dritte Botschaft. Wir sind noch nicht am Ziel. etwa 1 Million angestiegen. Wir können wieder realis- 1,57 Millionen Schulabgänger bis 29 Jahre sind ohne tisch – wenn auch in die Zukunft gerichtet – über die eine berufliche Qualifizierung. Das ist allerdings eine Vollbeschäftigung diskutieren. Das heißt, die Lage hat Zahl von 2005, die jetzt in den Berufsbildungsbericht sich insgesamt verbessert. aufgenommen worden ist. Jeder Dritte davon hat einen ausländischen Hintergrund. Auch die Zahl der Ausbildungsplätze entwickelt sich so wie die Zahlen auf dem Arbeitsmarkt. Das erkennt Wir müssen auch einmal mit der mystischen Überhö- man an der Zahl der Arbeitslosen bis zu 25 Jahren. Auch hung der Hartz-Arbeitsmarktreformen aufhören. Meine diese Zahl sank, nämlich von 665 000 auf 364 000. Das Erfahrung ist, dass die Berufsberatung kurz- und klein- ist ein Rückgang um 45 Prozent. Wenn man auch die geschossen wurde. Es ist gut, dass wir gemeinsam in der Ausbildungsplätze mitzählt, die nicht besetzt werden Großen Koalition mit der Berufsberatung wieder einen können, haben wir ein Ausbildungsplatzangebot von wichtigen Punkt gesetzt haben. 644 000. Auch das ist ein Spitzenstand seit der deut- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) schen Einheit. Zwei von drei Jugendlichen absolvieren eine duale Ausbildung. 1,5 Millionen Auszubildende be- Das hat die Konsequenz, dass dem aktuellen Berufsbil- finden sich in 500 000 Ausbildungsbetrieben, die sich dungsbericht zufolge die Abbrecherquote – anders, als verantwortlich im Sinne der Verfassung unserer Gesell- es Kollege Meinhardt dem älteren Bericht entnommen (B) schaft für junge Menschen engagieren. 85 Prozent dieser hat – in den letzten Jahren von 25 Prozent auf (D) Ausbildungsplätze stellt der Mittelstand; sie befinden 19,8 Prozent gesunken ist. Das bedeutet in absoluten sich also bei den kleinen und mittleren Unternehmen. Zahlen 45 000 weniger junge Menschen, die eine Aus- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Pa- bildung abbrechen, als noch vor wenigen Jahren. trick Meinhardt [FDP]) Wir brauchen gerade auch für junge Menschen aus- Kluge Unternehmer, die weiter denken als bis zum ländischer Herkunft ein Gutscheinsystem für ausbil- nächsten Golfplatz, wissen, dass sie nicht nur in Maschi- dungsbegleitende Hilfen, damit sie bereits bei der Be- nen, sondern auch in Menschen investieren müssen. werbung Gutscheine für die Sprachförderung und andere Möglichkeiten vorlegen können. Dies wird auch die För- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) derpraxis verbessern. Zweite Botschaft des Berufsbildungsberichtes. Wir Der Berufsbildungsbericht zeigt, dass Arbeitsmarkt schaffen Brücken statt Warteschleifen. Bis 2002 wur- und Ausbildung in Bewegung sind. Die Große Koalition den im von uns kritisierten JUMP-Programm Ersatz- baut Brücken. Wir nähern uns dem Ziel: Arbeit und Aus- maßnahmen finanziert – mit insgesamt 5,2 Milliarden bildung für alle. Euro. Durch Einstiegsqualifizierungen, wie das Sonder- programm EQJ, haben wir jetzt erreicht, dass die Weiter- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) vermittlung bei 75 Prozent liegt, während sie beim JUMP-Programm bei 30 Prozent lag. Das heißt, wir ha- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ben eine erfolgreiche Brücke in den Arbeitsmarkt ge- Ich gebe das Wort dem Kollegen Dieter Grasedieck, baut. Das spart Geld, aber auch Lebenszeit der jungen SPD-Fraktion. Menschen. Ähnlich wie das Sonderprogramm EQJ und andere Dieter Grasedieck (SPD): Einstiegsqualifizierungen wird auch der Ausbildungsbo- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten nus seine Wirkung als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt Damen und Herren! Die Linke bemüht sich konsequent mit Sicherheit erfüllen. Es gibt 385 000 Altbewerber. und krampfhaft darum, die Fakten und die Realität zu Natürlich müssen mit dem Ausbildungsbonus klare Kri- verdrängen und möglichst schnell zu verwischen. Fakt terien verbunden sein – darüber werden wir miteinander sind 640 000 neue Ausbildungsplätze, sprechen, bevor er letztendlich verabschiedet wird –: Man muss länger als zwölf Monate aus der Schule ent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16495

Dieter Grasedieck (A) von denen 76 000 in den letzten zwei Jahren entstanden komplizierter geworden. Deshalb brauchen unsere Ju- (C) sind. Das muss man berücksichtigen, und dafür muss gendlichen zusätzliche Hilfen. Genau das wird im Be- man sich auch einmal bedanken. Daran waren die Hand- rufsbildungsbericht 2008 aufgezeigt. 200 neue Berater werksbetriebe ebenso beteiligt wie die Industriebetriebe. wurden eingestellt. Das ist ein Wert! Die Ministerin Für Einstiegsqualifizierungen wurden 43 000 Plätze zur sprach davon, dass in Zukunft hauptamtliche Ausbil- Verfügung gestellt. Damit werden von der Bundesregie- dungspaten eingestellt werden sollen. Ich führe in rung benachteiligte Jugendliche gefördert. Das ist ein meinem Wahlkreis seit etwa anderthalb Jahren an drei optimales Programm. unterschiedlichen Schulen mit circa 15 vorwiegend eh- renamtlichen Paten wöchentliche Beratungen für Schü- Die Ausbildung für Behinderte wurde bereits ange- ler und Schülerinnen durch. Es handelt sich um Pensio- sprochen. Es gibt Schulen für blinde Menschen, in denen näre und Rentner, die Erfahrung haben. Diese Experten in hervorragender Weise duale Ausbildungen vermittelt aus unterschiedlichsten Gewerken helfen bei Bewer- werden. bungsgesprächen und fahren im Rahmen der wöchentli- Die eigentliche Botschaft des Berufsbildungsberichts chen Betreuung mit den Schülern zu den Betrieben, um 2008 lautet: Wir brauchen einen jeden Jugendlichen für Hilfestellung zu geben; das ist wichtig. Im Berufsbil- die Entwicklung unserer Industrie und unseres Hand- dungsbericht wird ein Ausbau dieses Systems empfoh- werks. len. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Genau deshalb beschäftigt sich der Berufsbildungsbe- Zusammenfassend halte ich fest: Erstens. Zukünftig richt auch mit Problemen. So ist unter anderem festge- müssen unsere Betriebe langfristiger planen; das ist ein stellt worden: Je schlechter das Zeugnis ausfällt und je wichtiger Punkt. Zweitens. Der demografische Wandel älter die Jugendlichen sind, desto schlechter sind die wird den Qualifikationsdruck natürlich noch weiter Möglichkeiten des Einstiegs in einen Ausbildungsplatz erhöhen. Drittens. Die jungen Männer und Frauen brau- oder am Ausbildungsmarkt. Wir wollen aber jedem aus- chen deshalb in den kommenden Jahren eine Ausbil- bildungswilligen Jugendlichen eine Chance bieten. Die dungschance. Nur so können wir unseren Wissensvor- Große Koalition ermöglicht das durch 100 000 zusätzli- sprung erhalten. Mit unserem Bericht sind wir auf dem che Ausbildungsplätze. Auch das muss berücksichtigt richtigen Weg. werden. Herzlichen Dank. Wir brauchen Qualifizierung, weil wir auch in den (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nächsten Jahren Exportweltmeister bleiben wollen. (B) Schon heute ist in vielen Bereichen ein Facharbeiter- (D) mangel zu verzeichnen. Herr Schleyer vom Zentralver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: band des Deutschen Handwerks hat in der vergangenen Das Wort hat der Kollege Alexander Dobrindt von der Woche darauf hingewiesen, dass in den Boombranchen CDU/CSU-Fraktion. Fachkräfte gesucht werden. Wie wir wissen, sinken die (Beifall bei der CDU/CSU) Geburtenraten in Europa. Darauf müssen wir reagieren. Notwendig ist eine langfristige Planung, wie sie der Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Berufsbildungsbericht bietet. In dem einen oder anderen Betrieb vermisse ich allerdings eine langfristige Pla- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nung. Meine Damen und Herren! Als wir vor einigen Monaten über die Ausbildungssituation diskutiert haben, mussten (Beifall des Abg. Willi Brase [SPD]) wir eine dramatische Entwicklung auf dem Ausbildungs- markt feststellen. Viele junge Menschen litten unter Per- In der Industrie sind verstärkt langfristige Planungen spektivlosigkeit. Es handelt sich hier nicht um eine theo- notwendig. Es geht nicht an, dass im Januar Ingenieure, retische Veranstaltung, bei der man Zahlen vergleicht. Techniker oder Facharbeiter entlassen werden und man Wenn man damals junge Menschen im Bundestag emp- im Mai wieder nach ihnen schreit. fangen und gefragt hat: „Wie schaut es bei euch aus? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wer hat denn schon einen Ausbildungsvertrag in der Ta- sche?“, dann musste man nicht selten feststellen, dass Einige Betriebe haben darauf reagiert und planen lang- von 25 Jugendlichen vielleicht nur zwei, drei oder vier fristig. Ein Jahr bevor ein älterer Kollege ausscheidet, einen Ausbildungsvertrag vorweisen konnten. Alle an- wird ein neuer Facharbeiter oder Ingenieur eingestellt. deren hatten kaum etwas vorzuweisen. Man konnte bei Das kommt nicht nur dem Betrieb zugute, sondern auch solchen Gelegenheiten hautnah miterleben, wie depri- demjenigen, der qualifiziert wird. Die Qualifizierung ist mierend es für junge Menschen, die nach der Schule unbedingt notwendig, weil sich auch der Wissensstand einen Platz in der Arbeitswelt suchen, ist, wenn sie fest- verändert. Täglich werden neue Patente angemeldet. Un- stellen müssen, dass ein solcher Platz in dieser Gesell- sere Facharbeiter beherrschen die komplizierte Rege- schaft nicht vorhanden ist. Das ist eine schreckliche lungstechnik zum Beispiel unserer Heizungsanlage im Erfahrung und für junge Menschen nur schwer zu verste- Reichstag oder in Ihrem Auto. Im Zerspanungsbereich hen. ist es ähnlich. Qualifizierte Zerspanungsmechaniker ar- beiten an computergesteuerten Maschinen. Die Arbeit Wir können heute sagen – das ist die wichtigste Bot- unserer Facharbeiter ist theoretischer, komplexer und schaft –, dass sich die Situation auf dem Ausbildungs- 16496 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Alexander Dobrindt (A) markt deutlich entspannt hat. Die Gesichter der jungen einem vollwertigen Arbeitsplatz führt. Wir haben leider (C) Menschen, die wir heute empfangen, sind glücklicher, bis heute nicht alle Berufe überprüfen können. Leider weil viele Erfolg hatten und in diesem Jahr eine Ausbil- Gottes gibt es noch nicht für alle Berufe diese Stufenaus- dung beginnen konnten oder können, die ihnen einen bildung. Daher rege ich an, dass wir gemeinsam dafür Platz in der Arbeitswelt sichert. Liebe Kollegin Hirsch, sorgen, dass es hier schneller vorwärts geht und dass die deswegen habe ich umso weniger Verständnis für Ihre Wirtschaft schneller an die Überprüfung herangeht, so- Anmerkungen. Sie haben mit keinem Wort erwähnt, was dass damit auch schneller mehr Ausbildungsplätze in der Mittelstand und das Handwerk für die jungen Men- Deutschland geschaffen werden. schen leisten, genauso wenig wie das Engagement der Wirtschaft, auf das die Tatsache zurückgeht, dass wir uns (Beifall bei der CDU/CSU) heute über positive Zahlen – seit 2001 wurden erstmals Bevor ich auf die gemeinsame Offensive zu sprechen wieder über 600 000 Ausbildungsverträge geschlossen, komme, mache ich hier noch einen Einschub: Frau das beste Ergebnis seit der Wiedervereinigung – freuen Hirsch, Sie haben den Ausbildungspakt einen großen können. Jedes Jahr geben die deutsche Wirtschaft und Flop genannt. Nein, er ist ein großer Erfolg. 2004 ist er der Mittelstand 30 Milliarden Euro für die Ausbildung gestartet, und 2007 wurde er von der Bundesregierung junger Menschen aus, so viel wie nie zuvor. Gott sei Dank verlängert. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Woher kom- neten der FDP) men die 385 000 Altbewerber?) Wir sagen dazu: Gott sei Dank. Aber Sie haben das alles Inzwischen ist die Zahl der zugesagten neuen Ausbil- nicht erwähnt. Ich danke an dieser Stelle all denjenigen, dungsplätze von 30 000 auf 60 000 verdoppelt worden; die sich hier engagieren. 2006 waren es sogar fast 70 000. Beim EQJ wurde die Die Hälfte der Ausbildungsplätze wird von Unterneh- Zahl der Plätze von 25 000 auf 40 000 fast verdoppelt. men zur Verfügung gestellt, die weniger als 50 Mitarbei- Der einzige Fehler beim Ausbildungspakt ist, dass sich ter haben. Das heißt, der klassische Mittelstand leistet die Gewerkschaften bis heute verweigert haben, mitzu- hier den höchsten Beitrag und übernimmt Verantwor- machen, wenn es darum geht, Ausbildungsplätze für die tung; das ist notwendig. jungen Menschen in Deutschland zu generieren, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Gott sei Dank neten der SPD und der FDP) haben sie sich verweigert! – Willi Brase [SPD]: Haben sie nicht! Das stimmt so nicht!) Leider Gottes sind das genau diejenigen, die Sie eigent- (B) lich gar nicht haben wollen. Diese Leistungsträger in der nachdem Politik und Wirtschaft gemeinsam dazu beige- (D) Gesellschaft, die dafür sorgen, dass junge Menschen tragen haben. eine Ausbildung bekommen, sind diejenigen, die Ihnen mit Ihrer Ideologie nicht in den Kram passen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Abschließend zu der gemeinsamen Qualitätsoffensive im Hinblick auf die überbetrieblichen Bildungsstätten: Meine Damen und Herren, selbstverständlich brau- Jetzt ist wichtig, dass wir die Förderung der frühzeitigen chen wir weitere Anstrengungen. Um die Ausbildungs- Berufsorientierung im Übergang von der Schule ins Be- situation zu verbessern, brauchten wir bessere Rahmen- rufsleben etwas stärker ins Visier nehmen. Wir wissen, bedingungen. Dazu gehörte als Erstes ein modernes dass es in jedem Ausbildungsjahr 20 Prozent Abbrecher Berufsbildungsgesetz und als Zweites eine gemeinsame gibt, weil sich junge Leute leider Gottes mangels Wis- Offensive, die Signale für den Aufschwung setzt. Die sens für einen falschen Ausbildungsplatz entschieden erste Rahmenbedingung, ein Berufsbildungsgesetz, ha- haben. ben wir gemeinsam im Jahre 2005 geschaffen. In dieses Gesetz haben wir wirkungsvolle Instrumente eingebaut, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: etwa die Verbundausbildung, die es Unternehmen, die aufgrund einer hohen Spezialisierung allein nicht in der Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Lage sind, einen jungen Menschen umfassend auszubil- den, erlaubt, diese Ausbildung zusammen mit anderen Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Unternehmen zu leisten. Außerdem haben wir die Stu- Ich komme sofort zum Ende, Herr Präsident. – In der fenausbildung geschaffen, die für theorieschwache Leute Zahl der Altbewerber sind 40 000 Ausbildungsabbrecher eine Ausbildung in zwei Schritten ermöglicht, sodass enthalten. Könnten wir diese Zahl deutlich verringern, auch sie eine Chance auf eine vollwertige Ausbildung indem wir mit dieser Qualitätsoffensive den Übergang und damit auf einen vollwertigen Arbeitsplatz bekom- von der Schule ins Berufsleben besser gestalten, hätten men. wir etwas Gutes für die jungen Menschen und für die An dieser Stelle kann man etwas leicht kritisch an- Ausbildungssituation in diesem Land geleistet. merken: Wir hatten gesagt, alle Ausbildungsberufe Danke schön. müssten daraufhin überprüft werden, ob es eine zweistu- fige Ausbildung geben kann und ob man nach zwei Jah- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ren schon einen Teilerfolg erreichen kann, der auch zu neten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16497

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: denke an das Leistungspunktesystem. Es muss in Europa (C) Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat stärker anerkannt werden, was wir in der deutschen Be- nun der Kollege Jörg Tauss von der SPD-Fraktion das rufsausbildung leisten. Diese Anerkennung beruht auf Wort. Gegenseitigkeit. Das halte ich für wichtig. Aus diesem Grunde warne ich davor, den Empfehlungen der FDP zu (Beifall bei der SPD) folgen, die Ansprüche an das Berufsbildungssystem im- mer weiter herunterzuschrauben. Nein, wir müssen die- Jörg Tauss (SPD): ses System einer hohen Qualifikation aufrechterhalten, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und gerade in Europa, Herren! Auch ich hätte mir ein bisschen mehr Flexibili- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tät bei den Gewerkschaften gewünscht, was den Pakt an- der CDU/CSU) geht. Aber wir sollten es auch nicht geringschätzen. Bei einer ganzen Reihe von Tarifverträgen etwa in Nord- und anschließend können wir uns über weniger qualifi- rhein-Westfalen und in Baden-Württemberg wurde mit zierte Berufsbilder und darüber unterhalten, wie wir in maßgeblicher Unterstützung beider Seiten der Sozial- dem einen oder anderen Fall mit Jugendlichen, die die partner auch für Jugendliche mit schwierigem Hinter- Berufsausbildung nicht bestehen, umgehen. So wird ein grund etwas getan. Ich denke hier nicht zuletzt an die Schuh daraus, aber nicht dadurch, dass wir die Qualifi- kation verringern. chemische Industrie. Insofern würde ich die Kritik nicht so pauschal erheben. Der dritte Punkt, den ich ansprechen will, ist die Durchlässigkeit der beruflichen Bildung in den akademi- (Beifall bei der SPD) schen Bereich. Ich glaube, wir alle sollten uns hier einig Ich komme nun auf das zu sprechen, was die Ministe- sein, dass wir gerade angesichts des demografischen rin als Flaggschiff der beruflichen Bildung bezeichnet Wandels und der Konkurrenz – Ziel: 40 Prozent Abitu- hat. rienten und ähnliches – die Akzeptanz bei Jugendlichen und Eltern für dieses Berufsbildungssystem nur dann (Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Titanic!) steigern, wenn es uns gelingt, mehr Jugendliche mit ei- Die Titanic war ein Passagierdampfer und kein Flagg- ner höheren Qualifikation für diesen Bereich zu interes- sieren. Dazu muss die Leistung, die sie in der berufli- schiff. Über diesen Unterschied können wir uns nachher chen Ausbildung erbracht haben – angefangen von der noch einmal kurz unterhalten. Gesellenausbildung bis hin zum Meisterbrief –, aner- (Heiterkeit bei der SPD sowie des Abg. Paul kannt werden, bei Bedarf auch im Hinblick auf eine Lehrieder [CDU/CSU]) anschließende akademische Karriere. Das ist ein ent- (B) scheidender Punkt für die Zukunft des Berufsbildungs- (D) Ein Flaggschiff muss in der Tat gewartet werden; es systems. kann sonst Rost ansetzen, und auch ein Flaggschiff kann sinken. Das ist völlig klar. Aus diesem Grunde gibt es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten selbstverständlich eine ganze Reihe von Herausforde- der CDU/CSU) rungen für dieses Flaggschiff namens berufliche Bil- Ich glaube, das ist einer der Bereiche, bei dem wir eini- dung. ges tun können. – Oh, Herr Präsident, ich habe nur noch eine Minute und 37 Sekunden Redezeit; eigentlich hätte Ich möchte zunächst einmal eines hervorheben: die ich Stoff für zehn Minuten. Also muss ich noch etwas Konjunkturanfälligkeit dieses Berufsbildungssystems. schneller reden. Das ist einer der Hintergründe für die Zahl von 300 000, liebe Kollegin Hirsch. In konjunkturell schwierigen Zei- Die Diskriminierung ist angesprochen worden, ten nimmt leider die Bereitschaft der Wirtschaft ab, für ebenso die Hochschulen. Lassen wir das einmal weg. die Jugendlichen etwas zu tun, in konjunkturell günsti- Kollege Meinhardt, gen Zeiten nimmt sie wieder zu. – Da dürfen Sie, Kol- (Patrick Meinhardt [FDP]: Hier!) lege Meinhardt, nicht mit den Achseln zucken. Wir müs- sen uns überlegen, wie wir das System zukunftsfest wir haben jetzt die Frage des Bonus rauf- und runterdis- machen. Wir müssen antizyklisch agieren und Fach- kutiert. Ich gebe Ihnen ein Privatissimum und erkläre es kräfte zukunftsgerichtet ausbilden, aber wir dürfen nicht Ihnen noch einmal. Ich weiß gar nicht, was Sie jetzt kurzfristig nur im Rahmen eines Quartals denken und plötzlich gegen Flexibilisierung haben. Wir wollen vor einmal einen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellen Ort Instrumente haben, um Jugendlichen, die in den letz- und ein anderes Mal nicht. ten Jahren keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, die Möglichkeit zu geben, einen zu finden. Da ist es mir im (Beifall bei der SPD – Patrick Meinhardt [FDP]: Prinzip völlig wurscht, welches Zeugnis derjenige oder Eine richtige Besteuerung machen!) diejenige hat, es ist mir völlig wurscht, welchen Schul- abschluss derjenige oder diejenige hat, und es ist mir Der zweite Punkt betrifft die Europafestigkeit. Heute völlig wurscht, welcher Hintergrund ansonsten besteht. Morgen haben wir über den Vertrag von Lissabon und Wir müssen flexibel sein und für diese Jugendlichen, die Europa geredet. Ich bin überzeugt, dass dieses deutsche ein, zwei Jahre und länger vergeblich gesucht haben, et- Berufsbildungssystem, das viele loben, aber leider welt- was tun. Das ist die Herausforderung. weit nur wenige übernommen haben – auch das muss man konstatieren –, europafest gemacht werden muss. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich glaube, dass wir dabei auf dem besten Wege sind. Ich der CDU/CSU) 16498 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Jörg Tauss (A) Kollegin Hirsch, da hilft mir Ihr Wolkenkuckucksheim Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (C) der konservativ-reaktionären Linken überhaupt nicht Drucksache 16/8750 an die in der Tagesordnung aufge- weiter. Sie lassen doch die Jugendlichen im Stich. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – so beschlossen. Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Das ist kein Wolkenkuckucksheim! Das steht in Ihrem Par- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 d, 5 b teiprogramm!) und 5 c sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf: Sie warten, bis irgendwann das Paradies ausgebrochen 35 a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ ist und wir alle für eine Umlage begeistert haben. Wun- CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ derbar, aber dann sind die Jugendlichen möglicherweise DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines schon in Rente. Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN) Verantwortung und Zukunft“ – Sie haben überhaupt noch nicht im Deutschen Bundes- – Drucksache 16/8870 – tag gesessen, als wir die Umlage beschlossen haben. – Überweisungsvorschlag: Nur, sie ist zu meinem großen Bedauern damals an der Innenausschuss (f) rechten Seite des Hauses gescheitert. So war es halt. Sie Auswärtiger Ausschuss hielten nichts davon. Ich halte das für falsch. So hätte Rechtsausschuss Finanzausschuss man Millionen in das System bekommen. Es ist aber so, Haushaltsausschuss wie es ist. Jetzt kann ich das beweinen bis in das Jahr 2050 und bis ich selber mit knapp 100 Jahren in b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Rente bin, oder wir werden konkret und machen jetzt et- Künast, Undine Kurth (Quedlinburg), Ulrike was für die Jugendlichen. Letzteres ist für mich das Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Wichtigere. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Erhalten, was uns erhält – Die UN-Konferen- der CDU/CSU) zen zur biologischen Sicherheit und zum Über- einkommen über die biologische Vielfalt zum Es ist wichtiger, etwas für Hunderttausende zu tun, als Erfolg machen zu labern, zu schwätzen und zu versuchen, Stimmung zu erzeugen. – Drucksache 16/8890 – (B) (D) Herr Friedrich ist nicht mehr da. Dem habe ich Überweisungsvorschlag: Schläge angedroht. Es war gar nicht so gemeint. Jetzt ist Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie er gegangen. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und (Patrick Meinhardt [FDP]: Was? Schläge?) Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung – Ja, ja, ich habe so „watsch, watsch“ gemacht, schon Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung war er weg. – Lieber Kollege Friedrich, ich bedauere das Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union zutiefst. Er hat so auf der BA herumgehackt. Er hat so Haushaltsausschuss getan, als ob zunächst einmal die Berufsberatung eine Qualifikation brauche. Ich will an dieser Stelle sagen: c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Auch ich kritisiere die BA, wir sollten aber die Berufs- Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Sevim beratung und die Bemühungen der Bundesagentur für Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Frak- Arbeit vor Ort nicht in dieser Form diskreditieren. Da tion DIE LINKE gibt es viele engagierte Menschen – auch das sollte man Konzepte der Vermittlung des Wissens zur an der Stelle einmal sagen –, im Übrigen gilt das auch NS-Zeit überprüfen und den veränderten Be- für die Ausbildungsberater der Kommunen. dingungen anpassen (Beifall bei der SPD) – Drucksache 16/8880 – Dieser Berufsbildungsbericht zeigt: Wir haben noch Überweisungsvorschlag: viel zu tun. Wir müssen das System zukunftsfest ma- Ausschuss für Kultur und Medien (f) chen. Ansonsten sind wir auf einem guten Weg. Ich Innenausschuss freue mich, dass fast alle Fraktionen diese Auffassung Ausschuss für Bildung, Forschung und teilen. Die Mosernden lassen wir im Abseits. Wir tun et- Technikfolgenabschätzung was für die Jugendlichen. d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Knoche, Hans-Kurt Hill, Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Konsequente Energiewende statt Militarisie- rung der Energieaußenpolitik Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. – Drucksache 16/8881 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16499

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Überweisungsvorschlag: c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle (C) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Laurischk, Ina Lenke, Miriam Gruß, weiterer Ab- Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss geordneter und der Fraktion der FDP Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Forderung nach einem Bericht der Bundesre- Entwicklung gierung über die Lage der Frauen- und Kin- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union derschutzhäuser 5 b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wer- – Drucksache 16/8889 – ner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Dagmar En- Überweisungsvorschlag: kelmann, weiteren Abgeordneten und der Frak- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Innenausschuss Gesetzes zur Stärkung der Arbeitnehmermit- bestimmung bei Betriebsänderungen Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. – Drucksache 16/7533 – Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Überweisungsvorschlag: die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Finanzausschuss Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 k auf. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu Troost, Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weite- denen keine Aussprache vorgesehen ist. rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Tagesordnungspunkt 36 a: Beschäftigte und Unternehmen vor Ausplün- derung durch Finanzinvestoren schützen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- – Drucksache 16/7526 – schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu Überweisungsvorschlag: dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Finanzausschuss (f) Bärbel Höhn, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordne- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausschuss für Arbeit und Soziales NEN (B) (D) ZP 2 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Ange- EU-Importverbot für illegales Holz durchset- lika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierho- zen fer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP – Drucksachen 16/8052, 16/8876 – Leitlinien für den internationalen Arten- und Berichterstattung: Lebensraumschutz im Rahmen des Überein- Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich Jordan kommens über die biologische Vielfalt Dr. Gerhard Botz Dr. Christel Happach-Kasan – Drucksache 16/8878 – Dr. Kirsten Tackmann Überweisungsvorschlag: Cornelia Behm Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Rechtsausschuss Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie lung auf Drucksache 16/8876, den Antrag der Fraktion Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8052 abzu- Verbraucherschutz lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-Frak- Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, tion angenommen. Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Tagesordnungspunkt 36 b: Gleiche Rechte gleiche Pflichten – Benachteili- Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- gungen von Lebenspartnerschaften abbauen ausschusses (6. Ausschuss) – Drucksache 16/8875 – Übersicht 10 über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- Innenausschuss gericht Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 16/8791 – 16500 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- Tagesordnungspunkt 36 g: (C) genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegen- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- stimmen von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.1) ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 36 c: Sammelübersicht 393 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Drucksache 16/8766 – richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- zu der Streitsache vor dem Bundesverfas- gen? – Sammelübersicht 393 ist mit den Stimmen aller sungsgericht 2 BvE 1/08 Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. – Drucksache 16/8911 – Tagesordnungspunkt 36 h: Berichterstattung: Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung, in dem Verfahren 2 BvE 1/08 eine Stel- Sammelübersicht 394 zu Petitionen lungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Martin Morlok als Prozessbevollmächtig- – Drucksache 16/8767 – ten zu bestellen. Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den gen? – Sammelübersicht 394 ist mit den Stimmen der Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion bei Gegenstim- bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und men der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- Tagesordnungspunkt 36 i: titionsausschusses. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Tagesordnungspunkt 36 d: ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 395 zu Petitionen ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/8768 – (B) Sammelübersicht 390 zu Petitionen (D) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- – Drucksache 16/8763 – gen? – Sammelübersicht 395 ist mit den Stimmen der Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Ge- gen? – Sammelübersicht 390 ist einstimmig angenom- genstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion men. Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 36 e: Tagesordnungspunkt 36 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 391 zu Petitionen Sammelübersicht 396 zu Petitionen – Drucksache 16/8764 – – Drucksache 16/8769 – Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- gen? – Sammelübersicht 391 ist bei Enthaltung der Frak- hält sich? – Sammelübersicht 396 ist mit den Stimmen tion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des übri- der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion gen Hauses angenommen. der FDP und Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Tagesordnungspunkt 36 f: Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Tagesordnungspunkt 36 k: ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 392 zu Petitionen ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/8765 – Sammelübersicht 397 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- – Drucksache 16/8770 – gen? – Sammelübersicht 392 ist einstimmig angenom- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- men. gen? – Sammelübersicht 397 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Opposi- 1) Anlage 6 tionsfraktionen angenommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16501

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: ben, dass die Eigentumsordnung bzw. die Rechtsord- (C) nung Deutschlands solche Fälle nicht verhindern kann. Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Wenn die Anteilseigner sagen: „Wir schließen den Be- schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- trieb, unabhängig von der Gewinnsituation“, dann ist das mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Rege- eben so beschlossen, dann werden die Entlassungen aus- lung des Statusrechts der Beamtinnen und gesprochen, und viele Menschen verlieren ihre Arbeits- Beamten in den Ländern (Beamtenstatusge- plätze. Für die Linke steht diese Wirtschafts- und setz – BeamtStG) Rechtsordnung nicht in Übereinstimmung mit dem – Drucksachen 16/4027, 16/4038, 16/7508, 16/8189, Art. 14 des Grundgesetzes, der die Sozialpflichtigkeit 16/8910 – des Eigentums verlangt. Berichterstatter ist der Abgeordnete Jörg van Essen. (Beifall bei der LINKEN) Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Das Eigentum ist nach dem Willen der Mütter und Väter ist nicht der Fall. des Grundgesetzes sozialpflichtig. Dabei haben die Vä- Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Vermitt- ter und Mütter des Grundgesetzes nicht in erster Linie an lungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Ge- ein Häuschen gedacht, sicherlich auch nicht in erster schäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundes- Linie an Grund und Boden – im Zusammenhang mit tag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Neubaumaßnahmen werden ab und zu solche Fragestel- lungen aufgeworfen –; wir sind der Überzeugung, dass Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ver- sie in erster Linie an das Betriebsvermögen gedacht ha- mittlungsausschusses auf Drucksache 16/8910? – Ge- ben, weil mit dem Besitz von Betriebsvermögen die Ver- genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- fügungsmacht über das Schicksal vieler Menschen ver- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und bunden ist. Diese Verfügungsmacht muss im sozialen der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Sinne gehandhabt werden; sie darf nicht im Sinne von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Gewinnmaximierung und Maximierung des Aktienkur- Linke angenommen. ses gehandhabt werden. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 a auf: (Beifall bei der LINKEN) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wer- Genau darum geht es bei unserem Gesetzentwurf. ner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Hüseyin-Kenan Aydin, weiteren Abgeordneten und der Fraktion Ich wünsche mir, dass der Ministerpräsident des Lan- DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset- des Nordrhein-Westfalen jetzt zuhört – vielleicht hört ja (B) zes zur Stärkung der Interessen der Beschäf- ein Referent zu –; denn nachdem ich heute Morgen gele- (D) tigten bei Massenentlassungen trotz Gewinn- sen habe, dass er den Spuren der Linksfraktion folgt – so steigerungen die Analyse aus den Kreisen der CDU –, – Drucksache 16/8448 – (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist ein Überweisungsvorschlag: soziales Land!) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss deshalb beim Arbeitslosengeld und bei der Rente Kor- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie rekturen vorschlägt, würde ich es natürlich auch begrü- ßen, wenn er erkennen würde, dass nach dem Fall Nokia Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die auch er verpflichtet wäre, eine Initiative zu ergreifen, da- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen mit nicht immer willkürlich über die Köpfe von Tausen- Widerspruch. Dann ist so beschlossen. den von Arbeitnehmern hinweg entschieden werden Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- kann. ner das Wort dem Kollegen Oskar Lafontaine von der (Beifall bei der LINKEN) Fraktion Die Linke. Auf diese Fragen muss man entweder Antworten ge- (Beifall bei der LINKEN) ben, oder man kann mit den Schultern zucken und sagen: Mich interessiert das alles nicht; solange ich meinen Ar- Oskar Lafontaine (DIE LINKE): beitsplatz habe, ist doch alles in Butter. – Wir sind der Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Auffassung, dass wir, nachdem sich die gesellschaftli- ren! Wir legen Ihnen einen Gesetzentwurf zu einem chen Bedingungen gewandelt haben, verpflichtet sind, Thema vor, das viele Menschen in Deutschland beschäf- hier etwas zu tun. tigt. Die Frage, um die es geht, ist einfach zu formulie- ren: „Wieso“, fragen sich viele Bürgerinnen und Bürger, Im rheinischen Kapitalismus wäre all das noch nicht „ist es zulässig, Entlassungen auszusprechen, wenn in möglich gewesen. Nach meinen Beobachtungen war es dem Betrieb, in dem die Entlassungen ausgesprochen so, dass zu der damaligen Zeit gesellschaftlicher Kon- werden, ordentliche Gewinne erwirtschaftet werden?“ sens darüber bestand, dass, wenn ordentliche Gewinne ausgeschüttet werden, keine Massenentlassungen ausge- Sie kennen viele Fälle dieser Art. Der letzte Fall, der sprochen werden. Vielleicht gibt es das eine oder andere Deutschland bewegt hat, war der Fall Nokia. Da ging die Gegenbeispiel, aber der gesellschaftliche Konsens war Belegschaft auf die Straße und musste wiederum erle- damals ein ganz, ganz anderer. Damals hat sich noch 16502 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Oskar Lafontaine (A) kein Manager hingestellt und gesagt: Profit, Profit, Profit – Dazu kann man Ja oder Nein sagen, meine sehr ver- (C) das sei seine einzige Philosophie. Der Betreffende ist ja ehrten Damen und Herren. Wir werden mit Vergnügen hinterher auch kläglich gescheitert. Damals war es noch beobachten – wahrscheinlich mit etwas traurigem Ver- klar, dass Unternehmerschaft auch soziale Verantwor- gnügen –, wie hier abgestimmt werden wird. Hier geht tung voraussetzt. es ja um eine ganz entscheidende Frage, die viele Bürge- rinnen und Bürger interessiert. Wir sagen: Betriebs- Wenn heute mit dem Betriebsvermögen nicht mehr in eigentum ist nicht nur Eigentum der Anteilseigner. dem sozialen Sinn, den unser Grundgesetz vorschreibt, Betriebseigentum ist immer auch Eigentum der Beleg- umgegangen wird, dann sind wir verpflichtet, Regelun- schaften; denn ohne die Belegschaften wäre dieses gen aufzustellen, um das Prinzip der Sozialpflichtigkeit Eigentum überhaupt nicht entstanden. Diesen Stand- des Eigentums auch im Betrieb durchzusetzen. punkt vertreten wir im Unterschied zu den anderen Frak- (Beifall bei der LINKEN) tionen in diesem Hause. Das kann man nun auf dreierlei Wegen tun: (Beifall bei der LINKEN) Erstens kann man das tun, indem man die individuel- Wenn das Betriebseigentum letztendlich von den Arbeit- len Rechte der Arbeitnehmer stärkt. Dazu kann man Ja nehmerinnen und Arbeitnehmern erwirtschaftet und ge- oder Nein sagen. Die Vorschläge, die wir Ihnen hier un- schaffen worden ist, dann kann das Eigentumsrecht nicht terbreiten, sind auch mit den Gewerkschaften abge- so gehandhabt werden, dass die Existenzgrundlage der stimmt. Das sage ich, um einer bestimmten Fraktion hier Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem Feder- im Hause das Nein etwas schwerer zu machen. Wir er- strich ausgelöscht wird, indem sie in die Arbeitslosigkeit warten natürlich dieses Nein, weil wir ja wissen, wie ab- entlassen werden. gestimmt wird. Ich hoffe auch, dass Herr Rüttgers zuhört (Zuruf von der FDP: Volkseigentum!) und dass noch einmal eine Initiative von seiner Seite kommt. Wir fordern also eine Stärkung der individuellen Wir wollen deshalb, dass der Bundestag eine andere ge- Rechte der Arbeitnehmer, die darauf hinausläuft, dass setzliche Regelung erlässt. dann, wenn Gewinne erwirtschaftet oder ausgewiesen werden, Kündigungen nicht möglich, sondern rechtsun- (Beifall bei der LINKEN) wirksam sind. Das ist der erste Vorschlag, den wir Ihnen Meine sehr geehrten Damen und Herren, nun könnte machen, um Art. 14 des Grundgesetzes endlich einmal der eine oder andere sagen – darauf möchte ich gerade Wirklichkeit werden zu lassen. noch eingehen –: Ja, aber die Konstruktion, dass solche Entscheidungen gegen die Arbeitnehmerstimmen im (B) (Beifall bei der LINKEN) (D) Aufsichtsrat nicht getroffen werden können, kann man Eine zweite Möglichkeit ist natürlich, die Rechte des vor der jetzigen Rechtsprechung des Verfassungsgerich- Betriebsrates zu stärken. Er soll bei entsprechenden Vor- tes angreifen, da sie nach unserer Wahrnehmung nicht haben der Betriebsführung ein größeres Mitwirkungs- zugleich die Eigentumsgarantie und die Sozialbindungs- recht haben. Wir haben Ihnen dazu Vorschläge gemacht. pflicht des Eigentums im Grundgesetz reflektiert. An- Wir hängen nicht an diesen Vorschlägen, falls sich der sonsten hätten ja alle Urteile zum Betriebsvermögen an- eine oder andere daran festbeißt. Ich weiß ja, wie man ders ausfallen müssen. – Das könnte man einwenden. Entscheidungen ausweicht. Uns geht es vielmehr darum, Aber damit solche Spitzfindigkeiten hier überhaupt nicht die Rechte des Betriebsrates zu stärken; denn der Be- Platz greifen, kündige ich an, dass meine Fraktion dem- triebsrat kann in dem einen oder anderen Fall, wenn nächst einen Gesetzentwurf zur paritätischen Mitbestim- seine Rechte durch den Gesetzgeber gestärkt werden, mung für Unternehmen, die regionale und überregionale entsprechende Entscheidungen von Betrieben verhin- gesellschaftliche Bedeutung haben, einbringen wird. dern. Deshalb plädieren wir für die Stärkung der Rechte Dann freuen wir uns wieder auf die namentliche Abstim- des Betriebsrates. mung zu diesem wirklich strukturverändernden Gesetz- (Beifall bei der LINKEN) entwurf, den wir im Shareholder-Value-Kapitalismus für dringend geboten halten. Dritte Möglichkeit: Da natürlich die wesentlichen Entscheidungen, also auch die über Betriebsschließun- (Beifall bei der LINKEN) gen, im Aufsichtsrat getroffen werden, haben wir – ich Meine sehr geehrten Damen und Herren, für uns geht will Ihnen jetzt nicht den ganzen Katalog vorlesen – Ih- es hier um Sinn und Geist des Grundgesetzes. Nach un- nen als Drittes vorgeschlagen, dass für den Fall einer serer festen Überzeugung untersagt der Art. 14 des Stilllegung oder eines Verkaufs von Betrieben oder Be- Grundgesetzes, bei Gewinnen in einem Unternehmen so triebsteilen ein qualifiziertes Mitbestimmungsrecht der einfach einmal Betriebsteile zu schließen oder ganze Be- Beschäftigten, also der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- legschaften zu verkaufen. nehmer, im Gesetz verankert werden muss. Der ent- scheidende Punkt dabei ist, dass dann, wenn der Betrieb (Beifall bei der LINKEN) Gewinne erwirtschaftet, nicht einfach gegen den Willen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Betriebsteile Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: verkauft oder Betriebe geschlossen werden können. Das Wort hat der Kollege Franz Romer von der CDU/ (Beifall bei der LINKEN) CSU-Fraktion. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16503

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. ternehmen und die Sicherung von Arbeitsplätzen nicht (C) Katja Mast [SPD] – Dirk Niebel [FDP]: Du einzuschränken. hast den Metzger ja doch aufgenommen!) (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Sehr deprimierend!) Franz Romer (CDU/CSU): Ich sage nichts dazu. – Sehr geehrter Herr Präsident! Unsere Arbeiter und Angestellten sind auf Welt- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sind uns in niveau. Aber soll denn in Zukunft jeder einzelne Mitar- diesem Hause sicherlich einig, dass Arbeitsplatzabbau beiter festlegen, wo Millionenbeträge investiert werden stets zu bedauern ist und dass sich Fälle wie Nokia mög- und wo nicht? Sollen dann die Vorstände in der Wirt- lichst nicht wiederholen dürfen. Nun kann man darüber schaft ganz abgeschafft werden? Wie sollen Belegschaf- streiten, wie wir auf diese Fälle reagieren sollen und ten beurteilen, ob ein Geschäft langfristig ein Unterneh- welche Schlussfolgerungen wir ziehen. Über den Weg men schädigt oder sich an nur kurzfristig orientierten der Linken sprechen wir heute, einen Weg, der rück- Anlegerinteressen ausrichtet? Wie soll der Arbeitneh- wärtsgewandt ist, der alle Unternehmen unter General- mervertreter beurteilen, ob es sich um ein besonders ris- verdacht stellt und die Arbeitnehmermitbestimmung zur kantes und lediglich auf kurzfristigen Gewinn abzielen- Vertreibung von Investoren missbrauchen will. des Geschäft handelt? Die Wirtschaftswelt ist heute so komplex, dass auch die gesamte Finanzwelt in Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU) land mit all ihrem Fachwissen die Bankenkrise nicht Meine Damen und Herren von den Linken, wir wer- verhindern konnte. Und dann will die Linke den Arbeit- den mit unserer Mehrheit Ihren drei Gesetzentwürfen ein nehmervertretern die Beurteilung von Unternehmens- Ende bereiten und damit wieder einmal eines Ihrer popu- strategien aufbürden. listischen Vorhaben entlarven. (Zurufe von der Linken) (Zurufe von der Linken) Meine Damen und Herren, das bestehende Aktien- Deutschland ist nicht das Land des Turbokapitalis- recht und das Betriebsverfassungsgesetz haben sich be- mus. Viele Unternehmen, Vorstände und Aufsichtsräte währt. nehmen ihre soziale Verantwortung wahr und sichern da- mit den Erhalt der sozialen Marktwirtschaft und den (Beifall bei der CDU/CSU) Wohlstand in unserem Land. Bei der Diskussion um die- Eine weitere Einschränkung der Unternehmer durch das ses Thema muss der Grundsatz gelten: Nicht gegen die Betriebsverfassungsgesetz, wie die Linke es vorschlägt, Wirtschaft, sondern mit der Wirtschaft. Die Linken ver- ist absurd. Eine Änderung des Aktienrechts in der Form, lassen mit ihren Vorschlägen diesen Weg. dass der Aufsichtsrat in die Geschäftsführung des Vor- (D) (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stands eingreift, schießt weit über das Ziel hinaus. Wie sollen bei einer derartigen Zusammensetzung deutscher Wenn Unternehmen in Deutschland Entlassungen Aufsichtsräte überhaupt ausländische Investoren ange- verkünden, ist die Betroffenheit groß. Ich glaube, wir lockt werden? können davon ausgehen, dass die übergroße Mehrheit al- ler Unternehmer lieber ihre Arbeitskräfte behält, wert- Eine Arbeitnehmerbeteiligung, die wesentliche Teile volle Fachkräfte nicht verlieren will und gerne neue hin- der Geschäftsführung blockieren kann, fördert nicht ge- zugewinnt. Leider muss man die Bedingungen, unter rade die Bereitschaft, in deutsche Aktiengesellschaften denen deutsche Unternehmen arbeiten und ausländische zu investieren. Unternehmen in Deutschland investieren, immer im in- ternationalen Wettbewerb sehen. Dieser Realität sollten (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: So ist es!) sich auch die Linken stellen. Wir haben in Deutschland eine der besten Regelungen (Beifall bei der CDU/CSU) zur Arbeitnehmermitbestimmung der Welt. Dies ist posi- tiv für unsere Arbeitnehmer und fördert in der Regel im- Auf der einen Seite wollen wir ins Ausland exportie- mer auch das Wohl der Unternehmen. Eine zu große ren. Auf der anderen Seite müssen wir Investoren in un- Ausweitung schadet dem Standort Deutschland im inter- ser Land holen. Diese Investoren können auch Risiko- nationalen Vergleich und nützt gleichzeitig den Arbeit- und Beteiligungsfonds sein. Wir begrüßen diese Investo- nehmern wenig. Außerdem sollten wir in Deutschland ren im Land, weil sie auch in zukunftsweisende und be- die unternehmerische Freiheit nicht so stark einschrän- sonders risikoreiche Projekte investieren. Bitte verstehen ken, dass niemand mehr das Risiko und die Verantwor- Sie mich nicht falsch: Ich bin für Arbeitnehmerrechte tung einer Unternehmensgründung auf sich nehmen will. und Mitbestimmung. (Widerspruch bei der Linken) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- wie bei der FDP) Ich selbst war jahrelang Betriebsrat und Betriebsratsvor- sitzender. Ich frage mich, was die Linke mit diesen Anträgen bezweckt, außer einer Schlagzeile. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ralf Brauk- siepe [CDU/CSU], zur LINKEN gewandt: (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das können wir Hört euch das mal an!) Ihnen sagen!) Es kommt aber darauf an, bei der Wahrung realistischer Arbeitsplätze sichert sie damit nicht; neue schafft sie mit Arbeitnehmerrechte die positive Entwicklung von Un- derlei Vorschlägen erst recht nicht. 16504 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: An der Ernsthaftigkeit der Vorschläge der Linken (C) Herr Kollege Romer, erlauben Sie eine Zwischen- muss man immer wieder aufs Neue zweifeln, so auch frage des Kollegen Ernst? hier. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Franz Romer (CDU/CSU): Katja Mast [SPD]) Nein. Die Linke zeigt uns hier wieder den konsequenten Weg (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Dagmar En- zur Verstaatlichung der Wirtschaft. kelmann [DIE LINKE]: So von Bayer zu (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Bayer!) Statt auf die Wirtschaft zu schimpfen, Ich habe Vertrauen in die deutschen Unternehmen und ihre Beschäftigten. Ich habe selbst als Betriebsrats- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wer hat denn vorsitzender ein Unternehmen durch schwierige Zeiten auf die Wirtschaft geschimpft?) begleitet. sollten wir uns gemeinsam auf unsere Stärken konzen- (Werner Dreibus [DIE LINKE]: Die können trieren. das doch gar nicht beurteilen, haben Sie ge- Herzlichen Dank. sagt!) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ralf Brauk- Sowohl die Investoren als auch die Mitarbeiter waren siepe [CDU/CSU]: Gut, dass es bei der IG Me- immer bereit, miteinander am Erfolg des Unternehmens tall auch noch solche Leute gibt!) zu arbeiten und in schweren Zeiten für das Unternehmen und die Arbeitsplätze zusammenzustehen. Ich selbst Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: habe aber auch erlebt, wie überzogene Gewerkschafts- Das Wort hat der Kollege Heinz-Peter Haustein von forderungen gegen den erklärten Willen der Belegschaft der FDP-Fraktion. die Existenz ganzer Betriebe gefährdeten. (Beifall bei der FDP) (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU], zu Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE] gewandt: Er ist IG-Metall-Mitglied, Herr Lafontaine!) Heinz-Peter Haustein (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Verantwortungsvolles Handeln beider Seiten ist die Be- Damen und Herren! Was hat eine Fata Morgana mit ei- dingung für das Fortbestehen der sozialen Marktwirt- nem Antrag der Linken gemeinsam? Beide sind Luft- (B) schaft und damit unseres Wohlstandes. schlösser. (D) Wir bemühen uns ständig, die Bedingungen für Un- (Beifall des Abg. Jörg Rohde [FDP]) ternehmen zu verbessern, damit sie dem internationalen Es ist ein Trugschluss, was Sie von der Linken uns stän- Druck standhalten und ihre Arbeitsplätze sichern kön- dig präsentieren. nen. Die Unternehmensteuerreform war ein weiterer Schritt. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na, na, na!) Wir dürfen Investoren nicht abschrecken. Auch wenn Sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass wir eine globali- wir versuchen müssen, jeden Arbeitsplatz in Deutsch- sierte Welt haben land zu halten, muss uns klar sein, dass zu unseren (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Doch!) Preisen im Bildungsland Deutschland langfristig nur hochspezialisierte Arbeitsplätze mit hohen Ausbildungs- und dass wir mit dieser Globalisierung leben müssen, ob standards zu halten sind. Nokia ist ein Beispiel dafür, es uns gefällt oder nicht. Das ist eine Tatsache. dass die Globalisierung uns zwar recht gute Exportzah- (Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD]) len in der Hochtechnologie sichert, aber auch mit sich bringt, dass einfachere Produkte nicht mehr in Deutsch- Wir nutzen die Vorteile der Globalisierung. Aber wenn land hergestellt werden können. Sie wissen alle, dass es es einmal nicht so gut läuft, dann wird sie verteufelt. So nach Nokia keinen weiteren Hersteller gibt, der Mobil- kann man es nicht machen, liebe Kollegen von der Lin- telefone in Deutschland produziert. ken. Ich sage noch einmal: Die Schlussfolgerung aus der (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der Abwanderung eines Unternehmens kann nicht sein, für LINKEN) alle anderen in Deutschland produzierenden Unterneh- Ein Blick nach China zeigt: Die Chinesen kupfern men die Bedingungen noch weiter zu verschärfen. den Transrapid ab und bauen sogar die Nussknacker aus (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Doch!) dem Erzgebirge nach. Damit vernichten wir Arbeitsplätze, und die internatio- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Aber mit nalen Investoren suchen sich günstigere Wirtschafts- schlechteren Farben!) standorte. Dafür bekommen sie von uns noch 167 Millionen Euro Entwicklungshilfe. (Zuruf von der LINKEN: Das ist doch Unsinn!) (Jörg Rohde [FDP]: Pfui!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16505

Heinz-Peter Haustein (A) Wenn es nicht so traurig und ernst wäre, könnte man da- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Os- (C) rüber lachen. kar Lafontaine [DIE LINKE]: Wir wollen Bier!) Was wir machen können, ist, in diesem unserem Land alles dafür zu tun, dass die Mittelschicht, die Handwer- Letztendlich führt das, was Sie wollen, zur Planwirt- ker und die Gewerbetreibenden einen guten Nährboden schaft. Dagegen müssen wir uns wehren, liebe Freunde. vorfinden, hier Arbeitsplätze schaffen und keine Entlas- Was von links gewollt wird, kann nicht das Ziel für un- sungen durchführen. ser Land sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) So herum kann es nur gehen. Wir müssen aufpassen, dass diese Sandmännchenstra- tegie, nämlich den Menschen Sand in die Augen zu Liebe Freunde von der CDU/CSU, Sie haben leider streuen und immer nur Halbwahrheiten zu verbreiten, mit Ihrer Mittelstandspolitik dazu beigetragen, dass Ar- nicht langsam gefährlich wird. Zu diesem Schluss muss beitsplätze vernichtet werden. man kommen, wenn man sich die Wahlergebnisse in manchen Bundesländern anschaut. (Beifall bei der FDP – Paul Lehrieder [CDU/ CSU]: Nein!) (Beifall bei der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sehr gefährlich!) Sie sonnen sich in dem Argument, dass die Zahl der Ar- beitslosen zurückgegangen ist. Ich sage Ihnen dazu: Hät- Sie haben eben von Massenentlassungen gesprochen. ten Sie die sogenannten Reformen im Bereich der Mehr- Die Abwicklung der DDR war die größte Massenentlas- wertsteuer und der Unternehmensteuer sowie die sung der Geschichte. Sie war Folge der vorausgegange- Kürzung der Pendlerpauschale – und was Sie sonst noch nen Misswirtschaft und der sozialistischen Planwirt- angerichtet haben – nicht durchgeführt, dann hätten wir schaft. vielleicht nur noch 2 Millionen Arbeitslose. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Treu- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wir haben den Ar- hand! – Gegenruf des Abg. Jan Mücke [FDP]: beitslosenversicherungsbeitrag gesenkt!) Immer alles auf die Treuhand schieben! Sie haben einen Misthaufen hinterlassen!) Das müssen Sie sich schon sagen lassen. So ist es gelaufen. Auch die Freiheit bedeutet uns sehr (Beifall bei der FDP) viel. Das Schlimmste an der ganzen Sache ist aber, liebe Liebe Freunde, denken Sie immer daran: Fata (B) Freunde, dass Sie mit dieser Politik die Wähler der Lin- Morgana ist gleich Linke. (D) ken zutreiben. In diesem Sinne: Ein herzliches Glückauf aus dem (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Jetzt Erzgebirge! schießen Sie aber ein bisschen über das Ziel (Beifall bei der FDP) hinaus!) Wenn Sie, Herr Lafontaine, sagen, dass Sie die Doktrin Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: des Kommunistischen Manifestes in Ihr Parteiprogramm Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme von der aufnehmen wollen – das wundert mich im Übrigen nicht –, SPD-Fraktion. dann ist doch klar, wohin das führt. (Beifall bei der SPD) (Jan Mücke [FDP]: Das ist wenigstens ehrlich!) Anette Kramme (SPD): Man kann sich ausrechnen, dass das zu einer sozialis- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und tischen Planwirtschaft und zur Staatswirtschaft führt. Kollegen! Es ist ein Skandal, was bei Nokia passiert ist. Wir haben diese Politik im Osten erlebt. Ich will Ihnen Ich sage ganz klar: Es ist auch ein Skandal, was bei AEG sagen, was das letzten Endes bedeutet. Eine Planwirt- passiert ist. Man kann noch eine ganze Reihe von Unter- schaft kann nur dort existieren, wo sie abgeschottet wird, nehmen aufzählen, die unsäglich gehandelt haben. Auch wo man ringsherum Stacheldraht legt und eine Mauer ich wünsche mir, dass Arbeitgeber ihre Personalpolitik baut. mit mehr sozialer Verantwortung betreiben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der FDP – Jan Mücke [FDP]: Nicht einmal da hat es funktioniert!) Es ist erforderlich, dass eine Rückbesinnung stattfin- det. Da kann man als Sozialdemokrat bzw. Sozialdemo- Planwirtschaft heißt auch Mangelwirtschaft. Jeder, kratin sogar Alfred Herrhausen zitieren: der in der DDR gelebt hat, kann sich daran erinnern: Wenn es zwei- oder dreimal im Jahr Bananen gab, dann An dem Tag, an dem die Manager vergessen, dass hat man so viel bekommen, wie man Kinder hatte. Wenn eine Unternehmung nicht weiter bestehen kann, es eine Woche warm war, war das Bier ausverkauft. wenn die Gesellschaft ihre Nützlichkeit nicht mehr Wenn im Winter eine Woche Kälte herrschte, dann empfindet oder ihr Gebaren als unmoralisch be- wurde der Strom knapp. Das bedeutet Planwirtschaft. trachtet, wird die Unternehmung zu sterben begin- Wollen Sie das allen Ernstes, Herr Lafontaine? nen. 16506 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Anette Kramme (A) Mit Ihren Vorschlägen, die Sie da unterbreiten, lösen schaftlichen oder juristischen Sachverständigen hinzuzu- (C) Sie bei mir Mitleid für die Arbeitgeber aus. Sie lassen ziehen. nämlich die Regelungen, die Sie vorsehen, nicht nur für solche Unternehmen gelten, sondern Sie wollen, dass (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Nur diese Regelungen schlechthin und generell gelten. Sie mit Zustimmung des Arbeitgebers!) haben einen Leitspruch für sich. Dieser Leitspruch heißt: Kann man sich dann nicht einigen, soll es nach gel- Veränderung beginnt mit Opposition. Ich finde diesen tendem Recht die Einigungsstelle geben. Da gibt es Spruch nicht schlecht. Er bietet viele Auslegungsmög- Spielereien. Man einigt sich nicht auf diejenigen, die die lichkeiten. Aber, meine sehr geehrten Damen und Her- Einigungsstelle besetzen sollen. Man einigt sich nicht ren von der Linken, Träume kann man erst dann ver- darauf, wie groß die Einigungsstelle sein soll. Bis das wirklichen, wenn man sich entschließt, aus ihnen gerichtliche Verfahren abgeschlossen ist, dauert es dann aufzuwachen. Sie landen wieder in den Zeiten der Kol- im Schnitt drei bis sechs Monate. lektivierung und der Verstaatlichung. Ich bin mir sicher, Sie alle kennen den Dichter Majakowski. Der hätte Ih- Neu bei Ihnen ist: Im Interessenausgleich, der jetzt nen an den Kopf geworfen: Die Heimat des Sowjetvol- eine Betriebsvereinbarung sein soll, soll es wiederum kes soll auch die Heimat der Vernunft sein. Auflagen geben können – mit ebenfalls relativ unkalku- lierbaren Auswirkungen für den Arbeitgeber, beispiels- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie der weise ein Kündigungsverbot für ein, zwei Jahre oder Abg. Undine Kurth [Quedlinburg] [BÜND- was auch immer. Damit hört das aber immer noch nicht NIS 90/DIE GRÜNEN]) auf; wir befinden uns bereits in einem ziemlich langen Planspiel. Der Arbeitgeber geht, wenn all das abge- Machen wir einen Beispielsfall! Überlegen wir uns schlossen ist, auf den Betriebsrat zu und sagt: Jetzt höre einfach, welche Folgen diese Regelungen beispielsweise ich dich zu den Kündigungen an. – Der Betriebsrat nutzt für ein fiktives Unternehmen mit 110 Beschäftigten ha- sein neues Widerspruchsrecht nach § 102 des Betriebs- ben, das 30 Kündigungen durchführen will. Nehmen wir verfassungsgesetzes, nach dem die Kündigungen der Zu- zunächst einmal § 92 a des Betriebsverfassungsgesetzes, stimmung des Betriebsrates bedürfen. Wieder fängt das den Sie ändern wollen; § 92 a ist im Übrigen unter SPD- Geplänkel von vorne an. Wieder wird es Streit über die Regierung, unter Rot-Grün, eingeführt worden. Es soll Einsetzung der Einigungsstelle geben. Ein monatelanges möglich sein, dass Arbeitnehmer Vorschläge zur Be- Gerichtsverfahren wird folgen. Irgendwann gibt es dann schäftigungssicherung unterbreiten. Es ist gesetzlich eine Einigungsstelle, die entscheidet. festgelegt, dass der Arbeitgeber diese mit ihnen erörtern muss. Es ist festgelegt, dass in einigen Fällen sogar Die Frage ist: Überstehen die Unternehmen das tat- (B) schriftliche Begründungen dafür abgegeben werden sächlich? Ist es nicht vielmehr so, dass ganz leicht eine (D) müssen. Es ist möglich, mit Zustimmung des Arbeitge- Situation entstehen kann, die dazu führt, dass das Unter- bers, die allerdings grundsätzlich erteilt werden muss, ei- nehmen letztlich in der Insolvenz landet? nen Sachverständigen hinzuziehen. (Zurufe von der LINKEN) Was Sie jetzt vorschlagen, ist absurd. Jeder Betriebs- Meine Damen und Herren von der Linken, ich weiß, rat hat ohne Einschaltung des Arbeitgebers das Recht, dass die unternehmerische Freiheit nicht unbedingt eine ohne vorherige Kostenkontrolle ein Gutachten in Auf- Herzensangelegenheit von Ihnen ist. In gewissem Maße trag zu geben. Für solche Gutachten gibt es Standardkos- kann man das sogar verstehen, aber man kann sie nun ten. In Nordbayern würden sie sich auf etwa 5 000 bis einmal nicht vollständig ignorieren. Das, was Sie hier 25 000 Euro belaufen. Dann besteht die Möglichkeit, vorlegen, ist eine Ausgeburt, ist die Krönung des Popu- eine Einigungsstelle zu diesem Thema einzuberufen; lismus. Dieser Antrag ist für Ihre Klientel geschrieben. beispielsweise dazu: In den nächsten fünf Jahren dürfen Sie rechnen gar nicht damit, dass es jemals zu einer Um- keine Kündigungen ausgesprochen werden. Eine solche setzung kommt. Einigungsstelle verursacht natürlich ihrerseits Kosten. Die kann man für Nordbayern mit etwa 7 000 bis Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 10 000 Euro pro Tag beziffern. Unter Umständen muss solch eine Einigungsstelle selber noch einmal einen wirt- Frau Kollegin Kramme, würden Sie dem Herrn Ernst schaftlichen Sachverständigen, der neutral ist, einschal- jetzt eine Zwischenfrage gewähren? ten. Es kann zu völlig unkalkulierbaren Ergebnissen für Unternehmen kommen. Anette Kramme (SPD): Nein, dem Herrn Ernst nicht. Aber damit hört das Ganze nicht auf. Der Arbeitgeber kommt mit seiner Planung auf den Betriebsrat zu, sagt Überlegen wir uns spannende Alternativen, über die also: 30 Kündigungen soll es geben. – Dann greift der man diskutieren kann: Warum soll es nicht möglich sein, Standard, der Betriebsräten viele Handlungsmöglichkei- im Bereich der Unternehmensmitbestimmung à la VW- ten, aber auch Missbrauchsmöglichkeiten bietet, der aber Gesetz erhöhte Grenzen für die Zustimmung festzuset- in dieser Form in Ordnung ist. Es erfolgt zunächst eine zen, beispielsweise wenn es um die Unternehmensverla- Informationsphase. Dann gibt es den Interessenaus- gerung geht? Oder: Nutzen wir die Möglichkeiten, die gleich. Dann gibt es den Sozialplan. Der Betriebsrat hat die Gewerkschaften selbst geschaffen haben – Beispiel: das Recht, in jeder Phase des Verfahrens einen wirt- Sozialtarifverträge. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16507

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: konzentrieren, was wir zeitnah umsetzen können. Sie (C) Frau Kollegin Kramme, jetzt würde der Kollege Drei- können uns in wunderbarer Weise unterstützen. Es ist er- bus gerne eine Zwischenfrage stellen. forderlich, dass wir einen Mindestlohn in Deutschland bekommen. Vor wenigen Tagen ist mir der Arbeitsver- Anette Kramme (SPD): trag eines Leiharbeitnehmers vorgelegt worden. Er ar- beitet in Bayern, im Umfeld der Großstädte Nürnberg Wenn es der Kollege Dreibus ist, gestatte ich das und Erlangen. In diesem Vertrag steht, dass der Leih- selbstverständlich. arbeiter 3 Euro die Stunde bekommt. Ich habe auch seine (Heiterkeit bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Lohnabrechnungen gesehen. Sein monatlicher Brutto- Zuckerbrot und Peitsche, so lieben wird das! – lohn beträgt 538 Euro. Wir wissen: 15,7 Prozent aller Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Jetzt kriegt Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen würden davon er aber Probleme in seinem Laden!) profitieren, wenn es einen Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro gäbe. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das hätten wir Dann hat der Kollege Dreibus jetzt die Chance, eine schon längst verabschieden können!) Zwischenfrage zu stellen. Hier können wir handeln, und das sollten wir auch tun. Werner Dreibus (DIE LINKE): (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Haben Sie Frau Kollegin Kramme, ich habe nur eine kleine dem denn zugestimmt? Nein! Sie haben den Frage und möchte damit die Realität wenigstens ein Mindestlohn hier in diesem Hause abgelehnt!) Stück weit wieder in diese Debatte holen. Können Sie Vor wenigen Tagen wurde die Studie des BMAS zur mir erklären, warum die Partei, der Sie angehören, in al- Generation Praktikum veröffentlicht. Es hat sich heraus- len Programmen zwischen dem Godesberger Programm gestellt, dass dies nicht nur ein Problem der Hochschul- und dem Wahlprogramm zur Bundestagwahl 2005 aus- absolventen ist, sondern auch ein Problem der Absolven- drücklich eine Ausweitung der Mitbestimmung auf ten von Berufsausbildungslehrgängen; bei ihnen ist diese Ebene des Betriebsverfassungsgesetzes und auf Ebene Problematik sogar noch stärker ausgeprägt. Hier müssen der Unternehmensverfassung gefordert hat? Wenn das, wir handeln. Denn das, was hier stattfindet, ist ein Miss- was Sie hier vertreten, der Grundposition der SPD ent- brauch der jungen Generation. spricht, was ich mir nicht vorstellen kann, müsste man eigentlich sagen: Wir haben nicht zu wenig Mitbestim- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) mung, sondern offensichtlich jetzt schon zu viel. Jeden- (B) falls gäbe es dann keinen Grund, solche Beschlüsse zu Ein anderer Beschluss des Hamburger SPD-Partei- (D) fassen, wie sie Ihre Partei gefasst hat. tags, den ich vorhin schon einmal am Rande erwähnt habe, ist mir ebenfalls ein Herzensanliegen. Wir wissen, (Beifall bei der LINKEN – Andrea Nahles dass es bei der Leiharbeit viele Missstände gibt. Wir wis- [SPD]: Das ist eine Unterstellung!) sen, dass Leiharbeit als Lohndumpinginstrument einge- setzt wird und dass Tochterunternehmen gegründet wer- Anette Kramme (SPD): den, die nur dazu dienen, geltende Tarifverträge zu Herr Dreibus, Sie wissen, dass wir uneingeschränkt umgehen. Deshalb sollten wir auch in diesem Bereich hinter dem geltenden Betriebsverfassungsgesetz und den unbedingt tätig werden. Meine Damen und Herren, diese Regelungen zur Unternehmensmitbestimmung stehen. Themen müssen für uns Priorität haben. Wir sollten vor Wir haben die Unternehmensmitbestimmung erst kürz- diesen Missständen nicht die Augen verschließen. Hier lich ausgeweitet. können wir handeln, und das werden wir tun. Wie gesagt: Wir stehen nicht am Ende der Debatte. In diesem Sinne: Ganz herzlichen Dank. Sie wissen vielleicht, dass der Hamburger Parteitag die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Einführung neuer Mitbestimmungsrechte für Betriebs- der CDU/CSU) räte bei der Leiharbeit beschlossen hat. Vielleicht haben Sie vorhin nicht genau zugehört. Ich habe von Unterneh- mensmitbestimmung und erhöhten Zustimmungserfor- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dernissen gesprochen. Was ist das anderes als das, was Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Sie jetzt fordern? Kollegen Klaus Ernst.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Und Klaus Ernst (DIE LINKE): wo ist Ihr Vorschlag jetzt?) Frau Kramme, da Sie einer Antwort auf meine Frage – Ich habe gerade einen Vorschlag unterbreitet. ausgewichen sind, indem Sie mich meine Frage gar nicht erst stellen ließen, (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das kriegen die gar nicht mit!) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Stellen Sie Ihre Frage doch jetzt! Los!) Kommen wir zur Sache zurück. Die Ideen, die ich vorgetragen habe, sind spannend. Ich empfehle, darüber möchte ich jetzt auf den Interessenausgleich zu sprechen nachzudenken. Wir sollten uns vor allen Dingen auf das kommen. 16508 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Klaus Ernst (A) Frau Kramme, Sie wissen ganz genau: Das gegenwär- Deutschlands besagt die Rechtsprechung sogar, dass (C) tige Recht ist so gestaltet, dass eine Einigungsstelle, die eine Betriebsänderung bis zu diesem Zeitpunkt zu unter- sich um einen Interessenausgleich bemüht, letztendlich lassen ist. keinen Spruch fällen kann, sodass nach gegenwärtigem Recht immer der Arbeitgeber obsiegt, weil er einfach sa- Man kann durchaus darüber nachdenken, einen Inter- gen kann, dass er keinen Interessenausgleich abschließt. essenausgleich in Form einer Betriebsvereinbarung zu Ein Spruch der Einigungsstelle ist nicht möglich. All die gestalten. In viele Interessenausgleiche werden bei- Märchen, die Sie gerade zum Thema Mitbestimmung er- spielsweise Regelungen über zusätzliche Informationen zählt haben, sollten Sie woanders erzählen. Hier sitzt und Beteiligungsrechte aufgenommen. Sie aber wollen, nämlich der eine oder andere, der weiß, wovon er ausgehend von der betrieblichen Mitbestimmung, tat- spricht. sächlich Eingriffe in das Unternehmensgeschehen vor- nehmen, die über die Unternehmensmitbestimmung weit Frau Kramme, ich habe an Ihrem Vortrag vermisst, hinausgehen. dass Sie die Interessenlage der Arbeitnehmer nicht er- wähnt haben. Sie haben sehr viel darüber gesprochen, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: welche Nachteile die Arbeitgeber hätten, wenn das um- Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer von gesetzt würde, was wir fordern. Diese Nachteile sind al- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. lerdings gewollt. Wir wollen, dass die Arbeitgeber künf- tig den Nachteil haben, eine Betriebsänderung bzw. einen Interessenausgleich nicht mehr einfach beschlie- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ßen zu können, mit dem Ergebnis, das Tausende ihren Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Job verlieren. Wir wollen, dass ein Betriebsrat eine wirk- Frau Kramme, ich hätte gern einmal gewusst, an wen same Möglichkeit bekommt, gegen Entlassungen vorzu- hier im Hause Sie Ihren Appell zur Einführung des Min- gehen. Ich weiß überhaupt nicht – das kann ich wirklich destlohns gerichtet haben. nicht verstehen –, was aus sozialdemokratischer Sicht (Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder dagegen spricht, [CDU/CSU]: An die Grünen!) (Beifall bei der LINKEN) Wenn Sie ihn einführen wollen, dann kann ich Ihnen nur zu sagen: Wenn im Rahmen eines Interessenausgleichs sagen: Sie haben dafür in diesem Hause die Mehrheit. Vorschläge des Betriebsrates behandelt werden, dann (Andreas Steppuhn [SPD]: Aber im Bundesrat kann die Einigungsstelle auch einen Spruch fällen und nicht! – Anette Kramme [SPD]: Das Thema zum Beispiel die Entscheidung treffen: Die Vorschläge haben wir heute Abend noch! Sparen Sie sich (B) des Betriebsrates sind gut und berechtigt; daher sind Ent- Ihre Worte bis 19 Uhr auf!) (D) lassungen ausgeschlossen. – Nach gegenwärtigem Recht ist das nicht möglich. – Liebe Frau Kramme, Sie haben das Thema in dieser Debatte angesprochen, nicht ich. Frau Kramme, offensichtlich kann ich feststellen, dass sich die Sozialdemokratie, für die Sie gesprochen Sie haben hier sehr umfänglich die – wie ich finde, haben, mehr um die Interessen der Arbeitgeber als um richtigen – Regelungen dargestellt, die wir unter Rot- die Interessen der Arbeitnehmer kümmert. Das nehme Grün eingeführt haben. Aber es lässt sich letztlich nicht ich dankbar zur Kenntnis. leugnen, dass diese Regelungen Fälle wie Nokia nicht verhindern konnten. Ein anderer Fall, den ich nicht we- (Beifall bei der LINKEN) niger skandalös finde, weil es sich dabei um ein wirklich florierendes Unternehmen gehandelt hat, das durch Pri- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: vate-Equity-Gesellschaften ausgeplündert worden ist, ist Frau Kollegin Kramme zur Erwiderung, bitte schön. Grohe. (Frank Schäffler [FDP]: Das ist doch Quatsch! Anette Kramme (SPD): Sie haben keine Ahnung!) Herr Ernst, jetzt haben Sie ja doch noch die Möglich- keit bekommen, sich zu äußern. Das hat dazu geführt, dass jeweils Tausende von Ar- beitsplätzen verloren gegangen sind, dass Tausende von (Zurufe von der LINKEN: Zum Glück! – Das Menschen von einem Tag auf den anderen ihre Perspek- war auch wichtig! – Stört Sie das etwa?) tive und ihre Sicherheit verloren haben. Sowohl bei – Darüber sind wir tieftraurig. Nokia als auch bei Grohe hat nicht die wirtschaftliche Lage diese Entlassungen erzwungen. Es ging um Inves- Beim Thema Interessenausgleich muss man differen- titionen und um Profite, die in dieser Situation wichtiger zieren. Die derzeitige Rechtlage sieht wie folgt aus: Ein waren als soziales und wirtschaftliches Verantwortungs- Interessenausgleich regelt das Ob und das Wie einer Be- bewusstsein. triebsänderung. Ich habe Verständnis für die Wut, die dies hervorgeru- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ja!) fen hat. Aber da kann Politik nicht stehen bleiben. Es Der Arbeitgeber muss versuchen, einen Interessenaus- muss darum gehen, diesem Treiben Einhalt zu gebieten. gleich herbeizuführen. Das hat er erst dann getan, wenn Das fängt mit dem Versuch an, den Subventionswettbe- er die Einigungsstelle angerufen hat. In großen Teilen werb, den es über Ländergrenzen hinweg gibt, zu been- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16509

Brigitte Pothmer (A) den. Außerdem muss aufgrund von ehrlichen Analysen Dritte Kategorie: Forderungen, über die wir uns im (C) darüber geredet werden, welche Auswirkungen die Aus- Grundsatz einig sind, deren konkrete Ausgestaltung aber lagerungen für die Unternehmen tatsächlich haben. Ich noch diskutiert werden muss. Ein Beispiel dafür ist die finde wirklich interessant, was das Fraunhofer-Institut in Frage: Sollten Hedgefonds oder Private-Equity-Fonds, einem Gutachten herausgefunden hat. Es hat festgestellt: wenn sie Kredite anfordern, nicht ein Mindestmaß an Die Produktionskosten im Ausland sind häufig nicht ge- Eigenkapital mitbringen müssen? ringer als am Standort Deutschland, wenn man alle Kos- ten zusammenrechnet. Das Argument, es sei überall auf Vierte Kategorie: Forderungen, die aus unserer Sicht der Welt ökonomisch attraktiver zu investieren als in nicht gehen, übrigens nicht nur, weil sie eine Überbüro- Deutschland, ist einfach falsch. kratisierung mit sich bringen. Ein Beispiel ist das Veto- recht, das der Betriebsrat im Aufsichtsrat bekommen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN soll, wenn eine Verlagerung oder ein Verkauf des Be- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) triebs bzw. von Betriebsteilen ansteht. Dieses Gutachten muss zur Pflichtlektüre für jeden Un- (Werner Dreibus [DIE LINKE]: Das steht ternehmensführer werden. Das müssen sie auswendig nicht in unserem Gesetzentwurf!) lernen. Wenn man sie nachts weckt, müssen sie das vor- beten können. – Doch, das steht da. – Diese Regelung hätte zur Folge, dass der Eigentümer nicht mehr derjenige wäre, der im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Unternehmen entscheidet. Das ist letztlich eine Enteig- Jan Mücke [FDP]: Am besten per Gesetz ver- nung auf kaltem Wege. Die Frage ist: Wer trägt eigent- ordnen, das auswendig zu lernen!) lich die Verantwortung, wenn eine solche Situation von Nun weiß auch ich, dass dies allein nicht reicht. Ich den Beschäftigten nicht akzeptiert wird und der Betrieb will an dieser Stelle auch nicht alles abwehren, was von im Anschluss in Konkurs geht? Darüber reden wir im linker Seite kommt. Ich finde es schade, dass Sie in Ih- Ausschuss – das sichere ich Ihnen zu – gerne seriös. rem Gesetzentwurf das Kind mit dem Bade ausschütten. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Heißt das, Wenn Sie die Vorschläge, die Sie in diesem Gesetzent- anders als heute?) wurf formuliert haben, zu Ende denken, dann kann das zugespitzt heißen: Arbeitsplätze werden dort gesichert, Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Dem Statisti- wo die wirtschaftliche Grundlage dafür weggefallen ist. schen Bundesamt zufolge hat Deutschland in den Jahren (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Nein!) 2001 bis 2006 durch Auslagerung 188 000 Arbeitsplätze verloren, im Gegenzug aber 105 000 neue Arbeitsplätze (B) Auf der anderen Seite werden Investitionen dort verhin- gewonnen; das entspricht 56 Prozent. Interessant ist, (D) dert, wo neue Arbeitsplätze entstehen könnten. dass sich diese Arbeitsplätze nicht über alle Qualifika- tionsstufen gleich verteilen: Von den hochqualifizierten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Arbeitsplätzen, die ausgelagert worden sind, sind 94 Pro- Das kann nicht das Ziel einer dynamischen Wirtschafts- zent an anderer Stelle wieder in Deutschland entstanden; politik sein. Nicht immer sind Maximaleingriffe im von den geringqualifizierten Arbeitsplätzen sind es nur Sinne der Beschäftigten wirtschaftspolitisch sinnvoll 37 Prozent. Worauf weist das hin? Wir müssen uns Ge- und richtig. danken darüber machen, wie die Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln zu gestalten sind. Min- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) destens genauso wichtig ist es aber, dass wir die Betrof- Ich will versuchen, die Vorschläge, die Sie machen, in fenen auf eine solche Situation – die wir nicht in jedem vier Kategorien einzuteilen, und ich betone noch einmal: Fall verhindern werden – besser vorbereiten. Das heißt: Ich lehne nicht alles ab. Qualifizierung, Qualifizierung und noch einmal Qualifi- zierung. Das haben wir in der Hand, und darauf sollten Erste Kategorie: bloße Klarstellungen, die aus meiner wir uns konzentrieren. Sicht entbehrlich sind. Das betrifft zum Beispiel Ihren Vorschlag zum Kündigungsschutz. Auch heute können Ich danke Ihnen. Kündigungen nicht ohne wirtschaftliche Begründung ausgesprochen werden; Frau Kramme hat darauf hinge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wiesen. Dass dies zum Teil trotzdem passiert, werden sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie nicht dadurch verhindern, dass Sie eine rechtliche Normierung einfach noch einmal normieren. Das ist Au- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: genwischerei. Damit werden Sie das Problem nicht lö- Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder von der sen. CDU/CSU-Fraktion. Zweite Kategorie: durchaus sinnvolle Vorschläge, die (Beifall bei der CDU/CSU) wir unterstützen können, beispielsweise die Klarstel- lung, wann die Übernahme von Unternehmensteilen eine Betriebsänderung darstellt, die zur Folge haben muss, Paul Lehrieder (CDU/CSU): dass der Betriebsrat einbezogen wird. Das scheint uns Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und eine durchaus sinnvolle Überlegung zu sein; darüber werte Kollegen! Wir haben es heute einmal mehr mit ei- werden wir im Ausschuss reden. ner höchst populistischen Initiative der Linken zu tun. 16510 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Paul Lehrieder (A) (Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN – mittleren Unternehmen; Sie wollen Ihre Regelungen ja (C) Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Rüttgers bereits ab 20 Beschäftige greifen lassen –, deren Be- macht da mit! Pass auf!) triebsinhaber ein hohes persönliches Risiko eingehen. Um die Kredite für ihre Unternehmen bekommen zu Ihre Welt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der können, haften sie mit ihrem privaten Häuschen. Mit al- Linkspartei, ist schwarz-weiß: hier die bösen Hedge- len Schulden unterwerfen sie sich der sofortigen Voll- fonds und Private-Equity-Fonds, dort die guten Betriebs- streckung in das gesamte Vermögen, um das Geld für die räte, die, wenn es nach Ihnen ginge, bei jedem Betriebs- Schaffung von Arbeitsplätzen zu bekommen. Mit die- verkauf das letzte Wort hätten. Wie immer schießen Sie sem Geld, das sie sich bei den Banken holen, bieten sie über das Ziel hinaus, können sich nicht von der Welt der Arbeitsplätze an. volkseigenen Betriebe verabschieden, die sich mit nor- maler Unternehmensplanung einer sozialen Marktwirt- (Zuruf von der FDP: So ist es!) schaft noch nie vertragen haben. Als Dankeschön dafür wollen Sie von der Linkspartei (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Volkseigene Hedge- mit Ihren jetzt vorgelegten Initiativen erreichen, dass fonds! – Heiterkeit bei der LINKEN) diese Unternehmer keine weiteren Entscheidungen mehr – Das schaffen Sie auch noch, Herr Ernst: volkseigene treffen können. Herr Lafontaine, angenommen, ein Teil Hedgefonds! Ihnen traue ich viel zu. Ihrer Gesetzentwürfe würde Gesetzeskraft erlangen, bräuchten wir in wenigen Jahren nicht mehr über das Unter den Bedingungen der Linkspartei werden Un- Thema Arbeitsplatzabbau zu sprechen; denn dann hätten ternehmen, die es sich leisten können, erst recht mit dem wir gar nicht mehr die Möglichkeit, neue Arbeitsplätze Gedanken an Abwanderung spielen. Ein Unternehmer, zu schaffen, weil ein Großteil der potenziellen Arbeitge- der unternehmerisches Risiko auf sich nimmt, kann und ber nicht mehr in Deutschland investieren, sondern das wird sich in unternehmerische Entscheidungen nur in be- Geld gleich in weniger regulierte Volkswirtschaften ste- grenztem Umfang hineinreden lassen; ansonsten wird er cken würde. in weniger regulierte Volkswirtschaften ausweichen. Es gibt ja genügend traurige Beispiele dafür. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Lafontaine, Sie haben vorhin Art. 14 zitiert und Ein paar Sätze noch an Ihre Adresse, Herr Lafontaine: sind zur Sozialpflichtigkeit des Eigentums gelangt. Mit „Kapital ist ein scheues Reh“. geneigter Zustimmung des Herrn Präsidenten möchte ich zitieren. Art. 14 Grundgesetz besteht aus mehreren Ab- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Karl Marx!) sätzen. Abs. 2 beginnt mit dem Satz: „Eigentum ver- (B) – Ich habe befürchtet, dass Sie das kennen. – In einer (D) pflichtet“. In Abs. 1 steht aber unter anderem: „Das globalisierten Welt können Sie das Kapital nicht mit diri- Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.“ Als gistischen Maßnahmen, die Sie hier vorschlagen, halten. vormaliger Finanzminister sollten Sie genug Ahnung von unserer Verfassung haben, um zu wissen, dass das Die Welt, in der wir leben, ist sehr viel komplizierter, Eigentum natürlich nicht nur aus dem Ertrag aufgrund als Sie sie darstellen. Europas Wirtschafts- und Arbeits- körperlicher und geistiger Leistung besteht, sondern welt befindet sich mitten in einem tiefgreifenden Wan- auch das Grundstück, die Betriebsstätten und die Ma- del, der auch Deutschlands Unternehmen seit geraumer schinen umfasst, die der Unternehmer gekauft hat. Auch Zeit erfasst hat. Internationalisierung ist das Stichwort. dieses Eigentum ist gewährleistet, Herr Lafontaine. Großunternehmen fusionieren über die Grenzen hinweg. (Beifall bei der CDU/CSU – Oskar Lafontaine Deutsche Unternehmen wie die MAN Diesel und die Al- [DIE LINKE]: Es geht um das gesamte Be- lianz wandeln sich in europäische Gesellschaften um. – triebsvermögen! Das ist Ihr großer Irrtum! Es Frau Kollegin Pothmer hat darauf hingewiesen, dass wir geht auch um das Vermögen, das die Beleg- ein Stück weit Leidtragende, aber natürlich auch Gewin- schaft aufgebaut hat!) ner dieser Umwandlung sind, nämlich im Hinblick auf die hochqualifizierten Arbeitsplätze. – In den Sog der – Herr Lafontaine, ich bin noch nicht ganz fertig. Hören Wandlung gerät zwangsläufig auch die Mitbestimmung Sie doch einfach einmal geduldig zu! Vielleicht hilft Ih- der Arbeitnehmer. Entwicklungen von solcher Dynamik nen das etwas. und Tragweite erfordern grenzübergreifende Beobach- tung und Regelungen, damit in vielen Jahren Erworbe- Herr Lafontaine, Sie haben vorhin die Forderung auf- nes nicht unter die Räder gerät. gestellt, dass gegen den Willen der Arbeitnehmer kein Betriebsteil verkauft werden kann. So wünschen Sie es Es ist ganz natürlich, dass viele Bürger unter diesen sich. Umständen das Gefühl haben, von einer Entwicklung (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Ja!) überrollt zu werden, die ihnen letztendlich die Kontrolle über das eigene Leben entreißt. Die Angst, vielleicht Sie haben ausgeführt: Der Betrieb ist das Eigentum der morgen auf der Straße zu stehen oder zu sehr viel Belegschaft. – Wem gehören denn dann die Maschinen, schlechteren Bedingungen weiterarbeiten zu müssen, ist das Grundstück und im Übrigen auch die Schulden? verständlicherweise weit verbreitet. Ich kann diese Sor- Herr Lafontaine, ich weiß nicht, wie es bei Ihnen im gen, die die Linksfraktion in diesem Gesetzentwurf an- Saarland ausschaut. Ich kenne bei mir in der Region sehr spricht, durchaus nachvollziehen. Gerade deshalb ist es viele Unternehmen – gerade die KMUs, die kleinen und aber äußerst unverantwortlich, diese Menschen populis- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16511

Paul Lehrieder (A) tisch aus durchsichtigem politischem Eigeninteresse Fonds wachsam zu sein. Bundeskanzlerin Angela Merkel (C) weiterhin zu verunsichern. hat deshalb angemahnt, Kontrollmechanismen – insbe- sondere für das Risikomanagement – zu überprüfen und Hedgefonds und Private-Equity-Fonds werden gerade gegebenenfalls zu verbessern. vonseiten der Linken immer wieder zu Schreckgespens- tern aufgebaut. Nach der Kabinettsklausur in Meseberg wurden Prüf- aufträge an das Finanzministerium und das Wirtschafts- (Zuruf von der Linken: Zu Recht! – Jörg ministerium vergeben, um geeignete Schutzvorkehrun- Rohde [FDP]: Es gibt auch nette Heuschre- gen zu treffen. Nach einem Referentenentwurf des cken!) Wirtschaftsministeriums von Ende Oktober kann die So wird aber gerade der Blick auf Lösungen vernebelt, Bundesregierung künftig ihr Veto einlegen, wenn ein wie sie wirksam und auch im Interesse der Beschäftigten Auslandsinvestor ein deutsches Unternehmen zu mehr in den Griff zu bekommen sind. Die deutsche Wirtschaft als 25 Prozent übernehmen will oder dies bereits getan wird auch in Zukunft ein Stück weit ausländische Kapi- hat. Geschieht der Kauf der Anteile heimlich und wird talgeber benötigen, um bei uns Arbeitsplätze zu schaf- erst später öffentlich, erhält das Ministerium für die Prü- fen. Wir können das nicht alleine erreichen. fung länger Zeit. Im Gesetzentwurf ist ein Zeitraum von drei Monaten vorgesehen. Die Union schlägt vor, die Liebe Freunde von der Linkspartei, Panik war schon Spanne auf bis zu drei Jahre auszudehnen. Entscheidet immer ein schlechter Ratgeber. sich die Regierung für ein Veto, kann sogar die Rückab- (Dirk Niebel [FDP]: Das sind Ihre Freunde?) wicklung der Übernahme angeordnet werden. – In Anführungszeichen. Wie Sie sehen, meine lieben Mitparlamentarier der Linkspartei, tun wir bereits sehr viel, um die Transpa- (Frank Schäffler [FDP]: Wer solche Freunde renz von neuen Anlagearten zu erhöhen, damit Banken, hat, braucht keine Feinde!) Anleger und Aufsichtsbehörden bei Missständen früh- zeitig reagieren können. Sicherlich hat es diese in der Wir dagegen nehmen die Gefahren der zunehmenden weltweiten Vernetzung ernst und sind tätig geworden. Vergangenheit gegeben. Aber sie sind längst nicht so Dem weltweiten Fortschritt können wir in Deutschland massenhaft aufgetreten, dass wir Grundrechte der Unter- nicht unbedacht zusehen – weder durch eine vollkom- nehmerfreiheit einschränken sollten. mene Abschottung des deutschen Finanzmarktes gegen- Die große Mehrheit der Unternehmensführer in über diesen Innovationen noch durch eine Überregulie- Deutschland ist sich ihrer Verantwortung bewusst und (B) rung noch durch eine vollkommene Laisser-faire- nimmt – das habe ich bereits eingangs ausgeführt – ein (D) Haltung, der der Glaube zugrunde liegt, der Kapital- hohes persönliches finanzielles Risiko in Kauf, um Ar- markt werde es schon richten. beitsplätze zu schaffen. An dieser Stelle wäre ein Ap- Die deutsche Wirtschaft wird sich auf Dauer vermehrt plaus gerechtfertigt, liebe Kolleginnen und Kollegen. mit neuen Finanzierungsformen auseinandersetzen müs- (Heiterkeit) sen. Dazu gehört auch die Beteiligungsfinanzierung durch Private Equity. Die Bundesregierung verfolgt da- Sie sind nicht nur für Bilanzzahlen und Aktienkurse ver- bei eine Strategie, die einerseits die positiven Effekte antwortlich, sondern stehen auch für ihre Mitarbeiter von Beteiligungskapital fördern, aber andererseits die und deren Familien ein. Risiken durch neue innovative Finanzinstrumente be- grenzen soll. Hierzu zählt auch das Risikobegrenzungs- Im Übrigen haben die Arbeitnehmervertreter bereits gesetz. Mit diesem Gesetz sollen die Rechte von Unter- jetzt weitgehende Mitspracherechte. Die betriebliche nehmen im Umgang mit Finanzinvestoren – also Mitbestimmung wird – wie schon die Biedenkopf-Kom- Hedgefonds und Beteiligungsgesellschaften – gestärkt mission 1972 in ihrem Sachverständigenbericht festge- werden. Zudem wird der Schutz der Belegschaften ent- stellt hat – durch vier zentrale Zwecke gerechtfertigt: die schieden verbessert. Ihnen gegenüber sind die Unterneh- Menschenwürde, das Verhältnis von Kapital und Arbeit, men ausdrücklich auch dann Rechenschaft schuldig, die Demokratisierung und die Machtbindung. Diese wenn sich die Kontrolle über das betreffende Unterneh- Grundsätze gelten weiter und sind Teil unseres Sozial- men ändert, soweit dadurch nicht Betriebs- und Ge- staatsprinzips. schäftsgeheimnisse des Unternehmens gefährdet werden. Um Gefahren für die Finanzmärkte entgegenzuwirken, Herr Präsident, ich komme zum Ende meiner Ausfüh- soll die laufende Beobachtung und Analyse der mit der rungen. – Wir werden deshalb den Gesetzentwurf der Tätigkeit von Finanzinvestoren verbundenen Risiken Linkspartei schweren Herzens ablehnen müssen, Herr durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf- Lafontaine. Das ist nicht der richtige Weg. Ich glaube, sicht und die Deutsche Bundesbank intensiviert werden. wir machen das in der Großen Koalition besser. Ich wün- sche weiterhin gute Beratungen. Hedgefonds übernehmen zwar Risiken, die ansonsten nicht oder nur schwer verteilt werden könnten, bergen Danke schön. aber auch Gefahren, die wir ernst nehmen. Die Gipfeler- klärung von Heiligendamm hat deshalb die Notwendig- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keit betont, hinsichtlich der weiteren Entwicklung dieser neten der SPD) 16512 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. 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(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU – Oskar Lafontaine (C) Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen [DIE LINKE]: Sie wissen nicht mehr, was in Oskar Lafontaine das Wort. der Christlichen Soziallehre steht! Selbst die FDP war weiter! Im Freiburger Programm stand das noch! Aber das kennt kein Mensch Oskar Lafontaine (DIE LINKE): mehr bei euch!) Herr Präsident, ich möchte lediglich klarstellen, dass wir unterschiedliche Vorstellungen von dem Begriff Ent- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: eignung haben, auf den sich mehrere Redner bezogen haben. Die Redner, die nach mir gesprochen haben, ver- Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von stehen unter Enteignung, wenn die Belegschaft letztlich der FDP-Fraktion. über das Betriebsvermögen mitentscheidet und insoweit (Beifall bei der FDP) die alleinige Verfügung des Anteilseigners über das Be- triebsvermögen außer Kraft gesetzt wird. Wir verstehen Frank Schäffler (FDP): etwas anderes unter Enteignung. Wenn ein Unternehmer eine Fabrik mit Hallen aufbaut und finanziert, dann ge- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und hört sie ihm selbstverständlich. Wenn die Produktion an- Herren! Ich finde, die Kurzintervention von Herrn La- läuft und weitere Hallen dazukommen, dann ist dies fontaine hat eines deutlich gemacht: Die Linke will eine nach unserer Auffassung nicht mehr allein Betriebsver- andere Gesellschaft. mögen des Unternehmers. Wir sind vielmehr der Auffas- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sung, dass hier die Enteignung beginnt, wenn man der neten der CDU/CSU) Belegschaft keine Eigentumsrechte einräumt. Das ist un- sere Auffassung. Es ist völlig klar, dass dies für Sie denk- Sie sind der Wolf im Schafspelz und wollen unser ge- unmöglich ist. wachsenes, marktwirtschaftlich orientiertes System in Deutschland beseitigen. Ihre Ausführungen zu den Ei- (Jörg Rohde [FDP]: Definitiv ist so etwas gentumsrechten sind aus meiner Sicht hanebüchen. Man unmöglich!) kann doch nicht argumentieren, dass man, wenn man ein Unternehmen gründet, nur die Eigentumsrechte für eine – Wir lachen jetzt auch über Sie, weil wir Ihre Position Werkhalle besitzt, und alle weiteren sind sozialisiert. lächerlich finden. – Das zusätzlich geschaffene Betriebs- Das ist der Einstieg in den Sozialismus; den wollen Sie. vermögen gehört nicht nur dem, der am Anfang eine Aber wir wollen ihn nicht. Das sagen wir ganz deutlich. Halle finanziert hat, sondern auch der Belegschaft. Des- (B) halb muss sie an der Entscheidung über dieses Vermögen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) beteiligt werden. Das ist unsere Position. der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Sie benutzen den schlimmen Fall Nokia, um Ihre Po- litik quasi in Gesetzesform zu gießen. Das zeigt, dass Sie Behalten Sie ruhig Ihre Position bei! Ich wünsche Ih- tatsächlich etwas ganz anderes wollen. Nokia ist ein Bei- nen, dass Sie sie noch lange beibehalten. spiel für das Versagen der Industriepolitik in Deutsch- land; das ist das Entscheidende. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP]) Herr Kollege Lehrieder, zur Erwiderung. Sie, meine Damen und Herren von der Großen Koali- tion, haben für schlechte steuerliche und arbeitsmarkt- Paul Lehrieder (CDU/CSU): rechtliche Bedingungen in Deutschland gesorgt. Die Lieber Herr Lafontaine, jetzt staune ich aber. Die Folgen müssen leider die Nokia-Mitarbeiter ausbaden. erste Fabrik ist noch im Eigentum desjenigen, der das Nokia ist zwar im Fokus. Aber durch die Politik der Geld dafür gegeben hat. Wenn er aber sein Geld nicht schwarz-roten Regierung sind an anderer Stelle sogar auf die Bank bringt oder in Aktien investiert, sondern im 5 693 Arbeitsplätze vernichtet worden. Mein Kollege Unternehmen arbeiten lässt und so die Voraussetzung Volker Wissing hat die Bundesregierung gefragt, wie schafft, dass er eine zweite und dritte Fabrik aufbauen viele Arbeitsplätze durch die Einführung des Postmin- kann, und gute und vernünftige Löhne an seine Mitarbei- destlohns vernichtet wurden. Die Bundesregierung hat ter zahlt, soll er nach Ihren Vorstellungen von der Ren- geantwortet: 5 693 Arbeitsplätze sind durch die Einfüh- dite seines Vermögens nicht mehr bzw. nicht mehr aus- rung des Postmindestlohns vernichtet worden. schließlich selber profitieren und alles andere, was er mit (Andrea Nahles [SPD]: Die waren doch vorher seinem Vermögen erwirtschaftet, automatisch teilen? schon pleite! Was sagt die Bundesregierung Das klingt sehr nach Sozialisierung. Das ist nichts ande- denn für einen Mist? – Andreas Steppuhn res – das ist vielleicht der Wunschtraum der Talkshowso- [SPD]: Und um das zu verhindern, kaufen wir zialisten – als eine Planwirtschaft, die wir glücklicher- eine Gewerkschaft!) weise nach 40 Jahren überwunden zu haben glaubten. Gott bewahre uns, dass es so kommt, wie Sie es sich vor- Das ist die Bilanz der Arbeitsmarktpolitik der Großen stellen! Koalition. Danke schön. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16513

Frank Schäffler (A) Davon betroffen sind auch Familien mit Kindern, die Oft sind es aber die gleichen Manager, über die wir hier (C) heute auf der Straße stehen und keine Arbeit haben. Das reden – die FDP hört das nicht gerne –: Einerseits erklä- ist der Skandal, über den wir reden müssen. ren sie öffentlich, wie schädlich Mindestlöhne, aber auch Tariferhöhungen für die deutsche Wirtschaft sind; Ar- (Beifall bei der FDP – Andreas Steppuhn beitsplatzabbau, Massenentlassungen und Millionenge- [SPD]: Das ist doch Schwachsinn!) hälter scheinen aber nicht als schädlich angesehen zu Nach Einführung dieses Mindestlohns sind 30 Unter- werden. Eine reine Fixierung auf den Shareholder-Value, nehmen in die Insolvenz gegangen. 27 gaben ihre Lizenz durch die man das Wohl des Unternehmens aus den Au- zurück. Sie haben das in der Antwort auf die Anfrage gen verliert und die einzelnen Mitarbeiter nur noch als meines Kollegen als Marktaustritt bezeichnet. Das ist Kostenfaktor wahrnimmt, ist höchst schädlich für Unter- zynisch. nehmen; sie darf in Deutschland nicht Maß für unterneh- merisches Handeln werden. (Beifall bei der FDP – Andreas Steppuhn [SPD]: Dafür bleiben bei der Post die Arbeits- (Beifall bei der SPD) plätze erhalten!) Es ist gut, wenn man auf persönliche Erfahrungen zu- Sie haben die Geister gerufen und dürfen sich nun rückgreifen kann. Ich selbst habe vor meiner Wahl in den nicht darüber wundern, dass ein solcher Gesetzentwurf Deutschen Bundestag als Arbeitnehmervertreter einem vorliegt. Sie tragen Mitverantwortung für diese Situa- Aufsichtsrat angehört. Diese Tochtergesellschaft wurde tion. Sie sollten sich an die eigene Nase fassen. an einen Finanzinvestor verkauft. Der Finanzinvestor hat nach dem Verkauf einen Kredit aufgenommen, um den Vielen Dank. Kaufpreis bezahlen zu können. Mittlerweile ist das Un- (Beifall bei der FDP) ternehmen in der Hand eines dritten Finanzinvestors. Darunter haben die Arbeitsplätze gelitten; das Unterneh- men ist ausgeblutet. Es gibt keine übertariflichen Leis- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tungen mehr. Die Anwendung des Tarifvertrages konnte Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege An- gerade noch gewahrt werden. Die Finanzinvestoren dreas Steppuhn. wollten hohe Renditen sehen, während den Beschäftig- (Beifall bei der SPD) ten alle Leistungen genommen wurden und die Tarifver- träge infrage gestellt wurden. Das ist ein Beispiel, zu dem ich sage: So etwas darf es in Deutschland nicht ge- Andreas Steppuhn (SPD): ben. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine liebe Kollegin- (B) (D) nen und Kollegen! In den letzten Wochen und Monaten Dabei geht es nicht nur um die Frage nach der Moral, hat es zu Recht eine sehr kritische Debatte über Stand- sondern auch um die Frage des Anstandes. Offensicht- ortverlegungen, Massenentlassungen und die Höhe der lich haben hier einige das Maß völlig aus den Augen Managergehälter in Deutschland gegeben. Sicherlich hat verloren: Auf der einen Seite werden Rekordgewinne niemand etwas dagegen, dass Managern gute Gehälter vermeldet; auf der anderen Seite werden ganze Standorte gezahlt werden, wenn sie ihre Leistung erbringen. Aller- geschlossen, und das innerhalb weniger Wochen, und dings ist zu hinterfragen, nach welchen Kriterien die zwar bei ein und demselben Unternehmen. Für mich, für Leistung von Managern heute bemessen werden sollte. uns Sozialdemokraten ist es ein Widerspruch, wenn ge- rade große Konzerne Höchstgewinne sowie steigende (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Aktienkurse vermelden und zugleich zulasten der Ar- beitsplätze und Arbeitsbedingungen agieren. Es kann auf Insbesondere die Menschen, deren Arbeitsplätze von Dauer nicht gutgehen, wenn man eine Erwartungshal- den gleichen Unternehmen und Konzernen gestrichen tung einnimmt, bei der eine immer höhere Rendite und wurden, die ihre Manager mit Millionengehältern und eine Gewinnmaximierung im Mittelpunkt stehen. Die Aktienoptionen versehen, haben es verdient, hierauf eine Menschen in den Unternehmen erwarten, dass Gewinne Antwort zu bekommen. Das hat nichts mit Neid zu tun. der Unternehmen in neue Produkte und somit auch in Hier stellt sich die Frage, ob es in Deutschland noch so- neue Arbeitsplätze reinvestiert werden. zial gerecht zugeht. Eine Bemessung der Leistung, die sich allein an Ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten winnsteigerungen bzw. am Aktienkurs orientiert, ist je- der CDU/CSU) denfalls alles andere als gerecht. Wer so agiert, der han- Deshalb wäre es gut, wenn das pure Renditedenken von delt nicht im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft. einer Entwicklung abgelöst würde, bei der wieder mehr (Andrea Nahles [SPD]: Richtig!) in Forschung und Entwicklung und die Qualifizierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern investiert Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen, möchte wird. ich sagen: Niemand hat etwas dagegen, wenn Manager für die von ihnen erbrachten Leistungen und ihre sicher- Es ist gut und richtig, wenn wir in der Politik darüber lich verantwortungsvolle Arbeit ein entsprechendes Ge- nachdenken, wie wir der bisherigen Entwicklung entge- halt erhalten; daran hat kaum jemand etwas auszusetzen. gentreten können. Es ist klar, dass dies nicht einfach ist; aber die Menschen in den Betrieben und den Unterneh- (Andrea Nahles [SPD]: Richtig!) men erwarten von den Politikern, dass sie an dieser 16514 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Andreas Steppuhn (A) Stelle etwas tun. Gerade die Praxis der Bezahlung mit Auch weitere Äußerungen von Ihnen irritieren mich (C) Aktienoptionen könnte nach meiner Meinung begrenzt so sehr, dass ich Sie frage: Wie ist die Regierungspolitik werden. Ein Vorschlag wäre, die Spekulationsfrist zu in Zukunft? Kann man damit rechnen, dass Eigentums- verlängern, um die Fixierung auf den Aktienkurs zu verhältnisse – wir hatten ja einen Disput mit Herrn La- bremsen. fontaine – in Deutschland zukünftig geschützt werden, sodass Investoren nach Deutschland kommen und zu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sätzliche Arbeitsplätze entstehen können? Dass wir noch Dies würde nicht nur zu mehr Gerechtigkeit und Akzep- hohe Arbeitslosenzahlen haben und wir über diese we- tanz unter den Menschen in Deutschland führen. Es wäre gen der statistischen Bereinigungen, die vorgenommen auch aus wirtschaftlichen Gründen richtig, wenn sich worden sind, noch trefflich diskutieren könnten, ist un- Manager auf den langfristigen Erfolg und auf die Verant- bestritten. wortung ihres Unternehmens besännen, anstatt von Re- (Zurufe von der SPD: Frage!) kordgewinn zu Rekordgewinn zu eilen – koste es, was es wolle. Eigentlich müsste Ihre Rede doch in eine andere Rich- tung gehen. Stimmen Sie darin mit mir überein, Herr Es ist aber auch ein Appell an die Betriebsräte und an Kollege? die Aufsichtsräte, im Zusammenhang mit Tarifverhand- lungen – sie haben das Recht dazu – zu hinterfragen, wie Andreas Steppuhn (SPD): sich Managergehälter und Aktienoptionen zusammen- Nein, Herr Rohde, ich stimme nicht mit Ihnen überein setzen und welche Leistung dafür in dem jeweiligen Un- und will vorwegschicken, dass wir nichts gegen Finanz- ternehmen geboten wird. Arbeitnehmerinnen und Ar- investoren und auch nichts gegen andere Investoren ha- beitnehmer zu entlassen oder ihre Löhne zu drücken, ist ben, wenn sie nach Deutschland kommen und vernünftig für mich jedenfalls keine Leistung, die honoriert werden mit den Menschen und den Arbeitsplätzen umgehen. muss. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Im Übrigen sind wir froh darüber, dass die arbeitsmarkt- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: politische Entwicklung in Deutschland so gut ist, dass die Probleme, die wir beispielsweise mit Nokia und an- Herr Kollege, der Applaus gibt mir Gelegenheit, Sie deren Firmen haben, nicht so groß sind, wie sie wären, zu fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen wenn wir eine schlechtere Arbeitsmarktentwicklung hät- Rohde zulassen. ten, wenn auch Schaden angerichtet worden ist. Den- (B) noch ist es richtig, dass wir uns auch mit den Fehlent- (D) Andreas Steppuhn (SPD): wicklungen in der Wirtschaft, die Sie immer verteidigen, Ja, gerne. hier beschäftigen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Auseinandersetzung nicht nur um die Verlegung Bitte schön. des Standorts von Nokia, weg von Bochum, sondern auch die von anderen Firmen macht deutlich, dass wir Jörg Rohde (FDP): darüber nachdenken müssen, wie wir Betriebsräten und Herr Kollege Steppuhn, Sie haben mit Ihrer Rede für Aufsichtsräten gerade hinsichtlich der Standortschlie- genügend Verwirrung bei mir gesorgt, ßungen und der damit verbundenen Massenentlassungen mehr Rechte zuteil werden lassen, damit diese Dinge (Andrea Nahles [SPD]: Das ist doch ein Dau- nicht so oft vorkommen wie in der Vergangenheit. Ich erzustand bei der FDP!) glaube aber nicht, dass es, wie von der Linken gefordert, sodass ich zu einer Nachfrage nahezu genötigt werde. reicht, das Kündigungsschutzgesetz, das Betriebsverfas- Sie haben den Arbeitsplatzabbau usw. bemängelt. Ich sungsgesetz und das Aktienrecht zu verändern, um ei- höre aber in anderen Debatten von Rednern der Koali- nem global agierenden Unternehmen vorzuschreiben, tionsfraktionen, dass wir mehr Arbeitsplätze haben. Ich was zu tun oder zu lassen ist. Wir werden in den Aus- erinnere mich daran, dass gesagt wurde, dass die Metall- schüssen genügend Gelegenheit haben, gemeinsam da- und Elektroindustrie so viele Arbeitsplätze hat wie lange rüber zu beraten, wie wir diesen negativen Beispielen nicht mehr und in diesem Sektor steigende Arbeitsplatz- der vergangenen Monate entgegentreten können. Herr zahlen zu verzeichnen sind. Das wird an anderer Stelle Lafontaine, so oft Sie es auch gerade vor dem 1. Mai als Erfolg Ihrer Regierungspolitik gefeiert. Daher kann versuchen: Es wird Ihnen und der Linkspartei nicht ge- ich den Tenor Ihrer Rede nicht ganz nachvollziehen. lingen, in diesen Fragen in Konkurrenz zur Sozialdemo- kratischen Partei zu treten. Sie haben einige konkrete Gesetzesinitiativen, die Sie (Beifall bei der SPD) planen, zum Beispiel die Begrenzung von Aktienoptio- nen, genannt. Ist das in der Koalition bereits Gegenstand Meine Damen und Herren von der Linken, allerdings von Verhandlungen, zum Beispiel die Begrenzung in glaube ich auch nicht, dass wir die Probleme allein na- dem Bereich, den Sie angesprochen haben, oder sind das tional regeln können; vielmehr müssen wir diese Pro- Ihre eigenen Vorstellungen? bleme auch auf der europäischen und der internationalen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16515

Andreas Steppuhn (A) Ebene angehen. Neben dem Bemühen, soziale Mindest- sefreiheit. Die Achtung der Meinungs- und Pressefrei- (C) standards in Europa heute mehr denn je zu verankern, heit ist als Grundwert verankert in der Allgemeinen muss es das Ziel sein, die Rechte von Betriebsräten und Erklärung der Menschenrechte, der Europäischen Men- von Mitbestimmungsorganen deutlich zu stärken. Des- schenrechtskonvention und im Internationalen Pakt über halb ist für die Bundestagsfraktion der SPD klar, dass bürgerliche und politische Rechte. Zuletzt haben sich die wir die Mitbestimmung von Betriebsräten, Gewerk- VN-Mitgliedstaaten anlässlich des Weltgipfels zur Infor- schaften und Aufsichtsräten auch über nationale Gren- mationsgesellschaft in Tunis im Jahre 2005 zu den Prin- zen hinaus erweitern müssen. Die Interessenvertretun- zipien der Meinungs- und Pressefreiheit bekannt. Zu- gen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dürfen gleich sind das Recht auf freie Meinungsäußerung und nicht nur national, sondern sie müssen insbesondere eu- das Recht auf freie Berichterstattung elementares Kenn- ropäisch und global ausgerichtet werden. Wir sollten zeichen zahlreicher nationalstaatlicher Gesetze, so auch aber auch – das gehört zur Ehrlichkeit dazu – die Kon- an prominenter Stelle in Art. 5 unseres Grundgesetzes. zerne und mittelständischen Unternehmen herausheben, die bewusst am Standort Deutschland festhalten und sich Dennoch müssen wir feststellen, dass in zahlreichen zu qualifizierten Arbeitskräften bekennen. Manch ein Staaten der Welt die Durchsetzung des Rechts auf Mei- Konzern hat, so habe ich mir sagen lassen, mit Standort- nungs- und Pressefreiheit akut bedroht ist. Aber auch die verlagerungen bereits sehr schlechte Erfahrungen ge- Internetzensur wird mehr und mehr Teil staatlicher Re- sammelt. pressionen in autoritären Regimen. Rund einem Drittel der Weltbevölkerung, also etwa 2 Milliarden Menschen, Der Tag der Arbeit, der 1. Mai 2008, steht vor der werden das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht Tür. Ich hoffe, Sie beteiligen sich zahlreich daran. Es ist auf freien Zugang zu unabhängigen Informationen ver- ein guter Anlass, um den Arbeitnehmerinnen und Ar- wehrt, so Amnesty International im September 2007. beitnehmern in Deutschland zu signalisieren – die So- zialdemokraten tun dies –: Wir stehen bei diesen Fragen Die Situation für viele Journalistinnen und Journalis- an eurer Seite und lassen euch nicht allein. Der Wunsch ten weltweit verbessert sich nicht. Es sind erschreckende der Menschen in Deutschland nach mehr sozialer Ge- Zahlen: 100 getötete Journalisten, 900 Verhaftungen, rechtigkeit ist größer als je zuvor. Die Menschen haben 1 500 physische Übergriffe und über 50 Entführungen einen Anspruch darauf, dass wir ihnen Antworten geben, allein im Jahr 2006; und für das Jahr 2007 ist keine Bes- und wir wollen ihnen diese Antworten geben. serung in Sicht. Neben jedem einzelnen persönlichen Vielen Dank. Schicksal, das wir beklagen, ist jeder dieser staatlichen Übergriffe, wo auch immer sie geschehen, ein deutlicher (Beifall bei der SPD) Schlag gegen elementare, verbindende und verbindliche (B) Werte, die in fast allen Staaten dieser Erde auf dem Pa- (D) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: pier Geltung haben. Dazu darf die internationale Staa- Damit schließe ich die Aussprache. tengemeinschaft und dazu dürfen auch wir in diesem Parlament nicht schweigen. Es ist verabredet, den Gesetzentwurf auf Druck- sache 16/8448 an die in der Tagesordnung aufgeführten In unserem Land hat die Pressefreiheit durch die in Ausschüsse zu überweisen. – Wie ich sehe, sind Sie da- der Verfassung artikulierte Werteordnung einen – ich mit einverstanden. Dann ist so beschlossen. habe es schon gesagt – hohen, ja, einen überragenden Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf: Stellenwert; und das ist gut so. Das Bundesverfassungs- gericht hat diesen Charakter in mehreren Entscheidun- Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ gen immer wieder betont und der Pressefreiheit einen CSU und der SPD konstitutiven Beitrag zum Bestehen unserer Verfas- Das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit sungsordnung zugeschrieben. Darauf können wir stolz weltweit durchsetzen und der Internet-Zensur sein. Aber das enthebt uns natürlich nicht unserer alltäg- entgegentreten lichen Verpflichtung, darüber zu wachen, dass die Ver- fassungswirklichkeit in unserem Land diesem Anspruch – Drucksache 16/8871 – auch gerecht wird. Da stimmt es mich immer wieder Überweisungsvorschlag: nachdenklich, dass Eingriffe in dieses Grundrecht auch Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) in unserem Land beklagt werden, Eingriffe gegenüber Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Presseorganen, die im Rahmen ihrer gesetzlichen Befug- nisse arbeiten, die aufklären und damit einen wesentli- Es ist verabredet, hierzu eine Dreiviertelstunde zu de- chen Beitrag zum Funktionieren unseres Gemeinwesens battieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist leisten. das so beschlossen. Es darf deshalb kein Zweifel daran bestehen, dass alle Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Vorwürfe in dieser Richtung lückenlos aufgeklärt wer- Kollegen Christoph Strässer für die SPD-Fraktion. den und dass nötigenfalls Konsequenzen gezogen wer- den müssen. Christoph Strässer (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Der 3. Mai ist alljährlich der Internationale Tag der Pres- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 16516 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Christoph Strässer (A) Denn wir haben nur dann das Recht, bedrohliche Ent- Beispiel China. Natürlich wissen wir, dass viele chinesi- (C) wicklungen in anderen Ländern zu kritisieren, wenn wir sche Medien – auch im Internet – unterdrückt und zen- unser eigenes Haus in Ordnung halten. siert werden. Wenn Weltunternehmen wie Yahoo oder Google, die nicht im chinesischen, sondern in unserem (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Wohl westlichen Rechtskreis beheimatet sind, in vorauseilen- wahr!) dem Gehorsam Zensurmaßnahmen der chinesischen Re- Damit kein Missverständnis entsteht: Natürlich setze gierung nicht nur begleiten, sondern sogar unterstützen ich solche Vorfälle in unserem Land nicht mit dem – das sollten wir sehr deutlich ansprechen –, dann, finde gleich, was anderswo geschieht, wo dieses Grundrecht ich, ist es unsere Pflicht, zu sagen: Liebe Leute, macht insgesamt mit Füßen getreten und für politische Zwecke an dieser Stelle mal einen Punkt! – Wenn wir wollen, missbraucht wird. Im Gegenteil: Der Umstand, dass sol- dass es eine offene Informationsgesellschaft gibt, dann che Vorfälle bei uns aufgegriffen, diskutiert und im poli- müssen solche sozusagen vorbeugenden Zensurmaßnah- tischen Raum erörtert werden, der Umstand, dass die men durch Firmen dieser Art beendet werden. Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden Ich habe einmal etwas überlegt. Wir reden viel über können, beweist das genaue Gegenteil. Er zeigt, dass die Boykott, und hier sind so viele junge Leute. Wenn Sie Pressefreiheit funktioniert. Er zeigt, dass die Presse ihre ein Zeichen setzen wollen, dann boykottieren Sie mal Kontrollfunktion wahrnimmt. Er zeigt, dass das rechts- zwei Tage Yahoo oder Google! – Wir können dann staatliche System in unserem Land an dieser Stelle kom- schauen, ob wir es nicht gemeinsam hinbekommen, dass plett in Ordnung ist. Auch darauf können wir nach solche Zensurmaßnahmen irgendwann einmal der Ver- 60 Jahren Bestehen der Bundesrepublik Deutschland gangenheit angehören. – Das wäre doch mal eine ver- stolz sein. nünftige Idee. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Holger des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP] Haibach [CDU/CSU]) Ich möchte noch auf die zunehmende Bedeutung der Es ist an dieser Stelle viel zu tun. Wir müssen auch neuen Medien eingehen, zu der sich unser Antrag ja bei uns selbst noch eine Menge arbeiten, damit wir auf auch verhält. Ich glaube, dass wir mit veränderten We- den richtigen Weg kommen. Ich möchte mit einem Zitat gen des Informations- und Meinungsaustauschs auch von Albert Camus schließen, dem aus meiner Sicht Hoffnungen auf die zunehmende Durchsetzung der Mei- nichts mehr hinzuzufügen ist. Es lautet: nungs- und Pressefreiheit verbinden dürfen. Mit dem Beginn der Internetkommunikation erwarteten viele, Eine freie Presse kann gut oder schlecht sein, aber dass mit diesem Medium die klassische Zensur außer eine Presse ohne Freiheit kann nur schlecht sein. (B) (D) Kraft gesetzt werden könne, dass autoritäre und repres- Herzlichen Dank. sive Regime in dieser Welt durch das World Wide Web unter inneren und äußeren Druck gesetzt werden könn- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der ten. Ich glaube, das wird sich in Zukunft bestätigen. FDP) Wenn die Informations- und Pressefreiheit der klassi- schen Medien durch den Staat eingeschränkt wird oder Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Presse und Medien durch den Staat gesteuert werden, Der Kollege Florian Toncar spricht jetzt für die FDP- bietet das Internet eine unabhängige Informationsquelle. Fraktion. So erhalten die Bürgerinnen und Bürger ein differenzier- (Beifall bei der FDP) tes Bild ihres eigenen Staates und können dies unter Um- ständen auch infrage stellen. Zugleich eröffnet das Inter- Florian Toncar (FDP): net eine unabhängige Informationsquelle für die Weltöffentlichkeit. Durch E-Mails, durch Chatforen oder Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und durch die sogenannten Blogs, also virtuelle Tagebücher, Herren! Die Meinungs- und Pressefreiheit werden leider in vielen Staaten der Welt eingeschränkt. Dadurch wer- erfahren Menschen außerhalb solcher Regime von Er- eignissen in diesen Staaten, die die Regime selbst der den kritische Stimmen brutal unterdrückt, autoritäre Re- Öffentlichkeit vorenthalten. Ich darf nur erinnern an gierungen können ihre Macht behaupten. Dies verstößt gegen eines der elementaren Menschenrechte, den Kern viele, auch sehr berührende Blogs aus den letzten Jahren aus Afghanistan, aus dem Irak, aber auch schon aus dem der bürgerlichen und politischen Freiheiten. Wo Mei- Bosnien-Konflikt. Sie haben vielen in dieser Welt die nungs- und Pressefreiheit unterdrückt werden, herrscht politische Unfreiheit. Korruption, Machtmissbrauch und Augen für die Situation in diesen Ländern geöffnet. Es kann und darf nicht sein, dass Zensur solches unter- Inkompetenz werden vertuscht, Bürger werden bevor- drückt. mundet. Meinungs- und Pressefreiheit sind essenziell, um Transparenz und eine kritische Öffentlichkeit zu (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der schaffen. Unfreiheit und Gängelung verstoßen nicht nur FDP) gegen die Menschenrechte, sondern sie behindern auch den gesellschaftlichen Fortschritt. Aber bevor wir auf die Internetzensur in anderen Län- dern eingehen, müssen wir – das möchte ich an dieser Deswegen wird jedes Land, das sich Modernisierung Stelle betonen – in unserem eigenen Bereich schauen, und Öffnung auf seine Fahne geschrieben hat, nicht da- was an bestimmten Stellen geschieht. Ich tue das am rum herumkommen, Modernisierung und Öffnung in al- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16517

Florian Toncar (A) len Bereichen nicht nur wirtschaftlich umzusetzen, son- wünschen wir uns von Wirtschaftsunternehmen, die in (C) dern auch bei den politischen und gesellschaftlichen den westlichen Ländern ihren Sitz haben und stärker als Strukturen und Rechten anzupacken; sonst wird das fast jede andere Körperschaft von der Freiheit des Inter- nichts. nets leben, selbstverständlich nicht. Hier muss sich, wie ich glaube, noch einiges ändern. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Wenn Bürger nicht in der Lage sind, Kritik zu äußern SPD) und auf Missstände hinzuweisen, dann wird man eine Gesellschaft nicht modernisieren und verbessern kön- Der Antrag, den die Bundesregierung vorgelegt hat, nen. Das ist ein ganz pragmatischer Grund, nicht der ein- ist im Großen und Ganzen konsensfähig und zeigt ein zige, aber einer, auf den wir immer wieder hinweisen breites Spektrum an Maßnahmen auf. sollten. (Holger Haibach [CDU/CSU]: Das können wir Gerade im Zusammenhang mit der Berichterstattung schon selbst! Dazu brauchen wir nicht die über die Ereignisse jetzt in Tibet haben wir von der chi- Bundesregierung!) nesischen Regierung vorgehalten bekommen, die Be- Herr Kollege Haibach, bevor die Freude zu groß wird, richterstattung in den westlichen Medien sei einseitig lassen Sie mich sagen: Dass er so konsensfähig ist, liegt und falsch gewesen. Darauf muss man schlicht und er- natürlich auch daran, dass in ihm wichtige und entschei- greifend entgegnen: Es mag sein, dass Fehler vorkom- dende Punkte gar nicht angesprochen werden, insbeson- men, aber das liegt hauptsächlich wohl daran, dass die dere nämlich die Rolle, die Deutschland im eigenen Journalisten nicht nach Tibet reisen können und sich die Land in Sachen Pressefreiheit einnimmt. Über die Beur- Lage vor Ort nicht anschauen können. Woher sollen sie teilung von Vorgehensweisen im Ausland herrscht meist es also wissen? sehr schnell Einigkeit, aber die Fehlentwicklungen, die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wir im eigenen Lande in den letzten Jahren erlebt haben, werden nicht angesprochen. Wenn das alles dort so abgelaufen ist, wie es die chinesi- sche Seite darstellt, dann wäre es ja geradezu in ihrem (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Ich sage Interesse, das auch zu zeigen. Dann müsste sie Journalis- nur: BND!) ten und Berichterstatter in das Land hineinlassen, damit Das mag dazu beitragen, dass dieser Antrag konsensfä- sie es uns hier auch darstellen können. hig ist, aber er ist leider nicht vollständig, liebe Kolle- (Zuruf von der FDP: Genau!) ginnen und Kollegen. (B) Mit der Argumentation, die hier vorgebracht wird, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) schneidet sich China, wie ich glaube, ins eigene Fleisch. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Deswegen wäre es mehr als angebracht und günstig, GRÜNEN) wenn die Chinesen die Berichterstattung aus Tibet sofort Auch in Deutschland ist nämlich in Sachen Presse- zulassen würden und nicht erst in absehbarer Zeit. freiheit einiges in Schieflage geraten. Ich möchte nur das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Beispiel der Vorratsdatenspeicherung nennen. Durch das der CDU/CSU – Christoph Strässer [SPD]: entsprechende Gesetz werden gerade Journalisten in be- Wenn Bilder aus Nepal gezeigt werden und ge- sonderer Weise getroffen, weil sie darauf angewiesen sagt wird, die seien aus Tibet, ist das nicht in sind, mit bestimmten Informanten und Quellen vertrau- Ordnung!) lich kommunizieren zu können. Neben repressiven Regierungen zählen Bürgerkriegs- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- parteien zu den größten Feinden der Meinungs- und NEN]: Das sagen Sie einmal dem Herrn Pressefreiheit. Länder wie beispielsweise Kolumbien, Uhrlau!) Irak und Somalia sind ausgesprochen gefährliche Pflas- – Zu dem komme ich auch noch, Herr Kollege Trittin. Er ter für Journalisten. Wir erwarten, dass auch in diesen ist der Nächste. Ländern die Regierungen alles dafür tun, dass Men- schen, die von dort berichten wollen, dies angstfrei und (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE ohne Gefahren für das eigene Leben tun können. GRÜNEN]: Und zu Herrn Wolf mit seinen Onlinedurchsuchungen!) Der Antrag legt zu Recht einen Schwerpunkt auf die Rolle der modernen Medien. Kollege Strässer hat dazu Die Vorratsdatenspeicherung ist mit Sicherheit ein eigentlich schon das Nötige gesagt. Ich stimme Ihnen, klassisches Beispiel dafür, dass in den letzten Monaten Herr Kollege Strässer, ausdrücklich zu, dass das, was bei bei der Gesetzgebungsarbeit viel in die falsche Richtung einigen westlichen IT-Unternehmen geschieht – Sie gelaufen ist. Es gab die Durchsuchung von Redaktions- haben das angesprochen –, die Missbilligung dieses räumen, zum Beispiel im Fall Cicero. Es gab Vorwürfe Hauses finden muss. Man kann das sogar noch konkreti- gegen den BND, dass Journalisten abgehört würden. An- sieren: So gibt es den Fall des chinesischen Internetblog- gesichts dessen, was wir heute lesen konnten, bin ich gers Shi Tao, der, nachdem Yahoo seine Daten an die überrascht und erschrocken darüber, wie wenig Finger- chinesischen Behörden weitergegeben hat, zehn Jahre spitzengefühl und wie wenig Sensibilität offensichtlich Gefängnis bekommen hat. Solche Verhaltensweisen auch Nachrichtendienste aus Rechtsstaaten haben, wenn 16518 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Florian Toncar (A) es um die Überwachung von Personen geht. Das hätte aber ein richtiges und wichtiges. Nehmen wir es uns zu (C) ich nicht für möglich gehalten. Ich kann nur dazu raten, Herzen! in dieser Affäre so schnell wie möglich Klarheit zu (Beifall bei der FDP) schaffen und gegebenenfalls auch personelle Konse- quenzen zu ziehen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Jetzt hat das Wort der Kollege Holger Haibach für die der LINKEN) CDU/CSU-Fraktion. Wir müssen uns klarmachen, dass gewisse Einschrän- (Beifall bei der CDU/CSU) kungen der Pressefreiheit, die wir bei uns hier vorneh- men, von anderen Ländern, die ganz andere, zum Teil Holger Haibach (CDU/CSU): sehr perfide Zielsetzungen haben und eigentlich über- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und haupt keine freie Berichterstattung wollen, zum Anlass Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es spricht für genommen werden, sie uns vorzuhalten. Mit diesen den Deutschen Bundestag, dass man sogar bei solch ei- Maßnahmen, die in einem rechtsstaatlichen Rahmen na- nem Thema noch etwas zu lachen findet. türlich noch einmal anders zu bewerten sind Ich erlaube mir zu dem, was der Kollege Toncar ge- (Christoph Strässer [SPD]: Aha!) sagt hat – selbstverständlich –, werden wir dann konfrontiert und (Christel Riemann-Hanewinckel [SPD]: kommen dadurch in Argumentationsnot. Deswegen Philosoph Toncar!) glaube ich, um zu dem Antrag zurückzukommen, es wäre notwendig gewesen, auch die Verantwortung der – Philosoph Toncar, genau –, den ich ansonsten sehr deutschen Innenpolitik für die Pressefreiheit darzustel- schätze, zwei Bemerkungen. Erstens eine formale Be- len; denn nur, wenn wir hier unser Feld bestellen, kön- merkung: Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass, wenn auf nen wir auch im Ausland glaubwürdig auftreten. einem Antrag „Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD“ steht, das ein Antrag der Bundesregierung sei. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir sind durchaus in der Lage, unsere eigenen Anträge der LINKEN – Christoph Strässer [SPD]: Da zu schreiben. stimme ich zu!) (Zuruf von der FDP: Das muss man dazusa- Ich erwarte natürlich auch – das will ich zum Schluss gen! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE noch bemerken –, dass die Presse selber Pressefreiheit GRÜNEN]: Die Frage ist, was die Regierung (B) lebt. In einigen Fällen kam es in den letzten Monaten lei- davon übrig lässt!) (D) der zu einer Form von vorweggenommener Selbstzen- sur. Ich finde es erstaunlich, wie in manchen europäi- Zweitens. Ich glaube, niemand würde Ihre These be- schen Ländern über den olympischen Fackellauf streiten, Herr Kollege Toncar, dass Glaubwürdigkeit sehr berichtet worden ist. Wir hatten auch eine sehr einge- stark davon abhängt, ob man im eigenen Land das Rich- schränkte Berichterstattung über den Karikaturenstreit. tige tut. Das ist nicht die Frage. Es ist auch sicherlich Insbesondere in den frei zugänglichen Zeitungen haben niemand hier im Raum, der sagen würde, Deutschland wir diese Karikaturen nicht zu Gesicht bekommen. Man ist ein Land, in dem alles in Ordnung ist. Der Unter- mag sich ja von dem Inhalt dieser Karikaturen distanzie- schied – darauf hat der Kollege Christoph Strässer dan- ren; aber dass, wenn die Welt über so etwas streitet, der kenswerterweise hingewiesen – ist jedoch, dass es hier deutsche Zeitungsleser nicht weiß und nicht sehen kann, eine rechtsstaatlich funktionierende Rechtsprechung und worüber gestritten wird, ist eine Form von Selbstzensur, Möglichkeiten gibt, Dinge einzuklagen und politisch zu die kein besonders positives Bild auf die Redaktionen diskutieren. Ich kann uns nur raten, nicht in die Argu- geworfen hat. mentationsfalle hineinzugehen und Dinge gleichzuset- zen, die nichts miteinander zu tun haben. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Problem ist: Das ist bei uns Das waren die Bemerkungen, die ich in diesem Zu- strafbar!) sammenhang gerne vorwegschicken wollte. Dies muss meiner Meinung nach in den Zeitungen und Das Thema „Zensur von Presse und des Internets“ Redaktionen kritischer diskutiert werden. spielt ja in unseren Debatten nicht erst seit gestern eine Rolle. Ich habe mich ein bisschen ins Archiv vergraben Schützen wir die Pressefreiheit bei uns und auch an- und festgestellt, dass der erste Antrag, den ich diesem derswo; denn die Pressefreiheit und die Meinungsfrei- Hohen Hause vorgelegt habe, lautete: „Presse- und Mei- heit sind die zwei gern gesehenen Patentanten der De- nungsfreiheit im Internet weltweit durchsetzen – Journa- mokratie. listen, Menschenrechtsverteidiger und private Internet- (Christoph Strässer [SPD]: Ist auch ein nutzer besser schützen“. Dieser Antrag stammt aus dem Patenonkel dabei?) Jahre 2004. Das erzähle ich nicht, weil der Antrag so toll ist, da er von mir stammt – natürlich ist er gut; das ist gar – Das ist ein Bonmot des bekannten Philosophen Florian keine Frage –, Toncar, (Christoph Strässer [SPD]: Noch ein (Heiterkeit) Philosoph!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16519

Holger Haibach (A) sondern weil heute der Antrag fast komplett wieder so (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (C) geschrieben werden könnte. Ich finde es wirklich bedau- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erlich, dass wir wenig Fortschritt sehen, was Meinungs- und Pressefreiheit betrifft, und dass wir ausgerechnet da, Wir sehen, dass solche Staaten auch nicht davor zu- wo wir eigentlich keinen Fortschritt sehen wollen, näm- rückschrecken, Druck auf andere Staaten und Institutio- lich bei der Zensur des Internets, wesentlich mehr Fort- nen anderer Staaten auszuüben. Wenn der Bundestags- schritte sehen, als es gut und notwendig wäre. präsident für sich die Entscheidung trifft, den Dalai- Lama treffen zu wollen, wenn er kritisiert, dass einer der Ich halte es gerade in diesem Zusammenhang für prominentesten Menschenrechtskritiker in China zu wichtig, klarzumachen, dass es nicht nur darauf an- dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden ist – was ich kommt, dass in einer Verfassung eines Landes eine für besorgniserregend halte in einer Zeit, in der die Presse als frei dargestellt wird, dass sie formal unabhän- Olympischen Spiele unmittelbar bevorstehen und in der gig ist. Es kommt vielmehr darauf an, dass der Geist ei- eigentlich das Versprechen galt, Menschenrechte einzu- ner Gesellschaft stimmt. An zwei sehr bedauerlichen halten und für mehr Menschenrechte zu sorgen –, dann prominenten Beispielen des letzten und dieses Jahres halte ich das für ein beachtliches Zeichen. Ich bin Herrn kann man das sehr deutlich feststellen. Ich erinnere an Lammert wirklich dankbar, dass er an dieser Stelle seine die Ermordung von Hrant Dink und von Anna Polit- Meinung über den Druck der chinesischen Botschaft ge- kowskaja. Diese Ermordungen an sich sind schlimm ge- stellt hat. Ich würde mir wünschen, dass wir alle das tä- nug, aber dass auf diese Ermordungen hin keine ad- ten. äquate Reaktion der jeweiligen Staaten gefolgt ist, dass es eben keine unabhängige Justiz gibt, dass es keine (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem wirkliche Strafverfolgung gegeben hat, ist der eigentli- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) che Skandal. Das müssen wir hier deutlich thematisie- Wenn wir uns ernsthaft fragen, was wir tun können, ren; denn das macht den Unterschied zwischen Ländern, zeigt sich, dass wir durchaus nicht immer so machtlos in denen Presse- und Meinungsfreiheit tatsächlich exis- sind, wie es manchmal aussieht. Natürlich ist es wichtig, tieren, und Ländern, in denen Presse- und Meinungsfrei- in bilateralen Gesprächen auf diejenigen hinzuweisen, heit nur auf dem Papier existieren, aus. die sich für Presse- und Meinungsfreiheit einsetzen und Ein dritter Fall, den man davon sicherlich unterschei- aus diesem Grund im Gefängnis sitzen oder mit Drohun- den muss, sind Länder, in denen Presse- und Meinungs- gen überzogen werden. Aber es ist eben auch wichtig, in freiheit von vornherein nicht vorgesehen sind. Auch das internationalen Gremien – sei es die UNO, der UN-Men- gibt es sehr häufig auf dieser Welt. Aber wir erleben, schenrechtsrat oder auch der Europarat, in dem viele von dass – das müssen wir deutlich sagen – in Ländern, in uns Mitglied sind – unseren Kollegen aus anderen Län- (B) (D) denen das schon einmal etwas anders war, die Entwick- dern deutlich zu machen, dass Presse- und Meinungs- lung leider negativ verläuft. Ich möchte noch einmal das freiheit keine Gefahr für eine Demokratie sind, sondern Beispiel Russland erwähnen. Dort hat es in den letzten im Grunde genommen einer der wichtigsten Bausteine, Jahren viele Entwicklungen in der Gesetzgebung gege- einer der wichtigsten Grundpfeiler einer Demokratie. ben, die leider dazu geführt haben, dass die freie russi- Um das festzustellen, muss man übrigens nicht einmal sche Medienlandschaft, wie es sie während der 90er- zwingend Philosoph sein. Jahre durchaus gegeben hat, heute nicht mehr in dem Maße existiert. Es gibt noch freie Zeitungen; aber die (Christoph Strässer [SPD]: Es schadet aber Monopolisierung des Fernsehens und die Situation zum auch nicht!) Beispiel bei den regionalen Radiostationen stellen ein Insofern glaube ich, dass wir alle dort eine Aufgabe großes Problem dar. haben. Ich denke, dass wir diese Aufgabe auch alle Besonders betroffen sind natürlich die Gruppen, die wahrnehmen sollten. ohnehin am „Rande“ der Gesellschaft angesiedelt sind. Es gibt sicherlich viele Beispiele. Auf der Homepage Damit meine ich Gruppen, die nicht von vornherein von „Reporter ohne Grenzen“ findet man zum Beispiel hoch angesehen sind. Der Kollege Beck hat in Moskau ein Ranking der Länder, in denen Journalisten von Re- die Erfahrung machen können, wie es ist, wenn man ei- pressionen bedroht sind. Auch das Internet, das für uns ner Gruppe, die nicht die Mehrheit der Gesellschaft bil- immer eine Hoffnung bedeutet hat, weil wir dachten, det, angehört und versucht, sich im Sinne dieser Gruppe dass Menschen sich dort wirklich frei entfalten können zu äußern. Das zeigt sehr deutlich, wie eine Gesellschaft und ihre Meinung sagen können – der Kollege Strässer wie die russische tatsächlich aufgestellt ist. Dabei geht hat viel dazu gesagt –, wird immer mehr bedroht. Des- es nicht nur um die Frage, ob man seine Meinung insge- halb glaube ich, dass wir alle gemeinschaftlich aufgefor- samt frei äußern kann. Wenn der russische Patriarch dert sind, hier Anstrengungen zu unternehmen. Alexej II. in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Bezug auf eine Veranstaltung, in der für Jeder hat hier mit einem Zitat geendet. Ich bin zuge- die Rechte von Schwulen, Lesben und Transgender- gebenermaßen kein Philosoph; deswegen ende ich nicht People geworben wird, sagt, das sei, wie Werbung für mit einem eigenen Zitat. Aber wenn man den Geist der Diebstahl zu machen, dann zeigt das sehr deutlich, dass Freiheit einer Gesellschaft beschreiben will, gibt es, wie der Geist der Gesellschaft nicht stimmt. Ich glaube, das ich finde, ein gutes Zitat, das fälschlicherweise meistens ist das Schlimmste, was einer Gesellschaft passieren Voltaire zugeschrieben wird, in Wirklichkeit aber von kann. der sehr klugen englischen Schriftstellerin Evelyn 16520 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Holger Haibach (A) Beatrice Hall stammt, die von 1868 bis 1919 gelebt hat. Jedes neue Medium wurde so in der Vergangenheit (C) Sie lässt eine ihrer Romangestalten sagen: missbraucht: Zeitungen, Radio, Fernsehen. Wieso nicht gleichermaßen das Internet? Der Blogger von heute ist Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Le- nichts anderes als der Verteiler von Handzetteln und ben dafür, dass Sie sie sagen dürfen. Flugschriften aus dem 19. Jahrhundert. Dem ist nichts hinzuzufügen. Was aber sollen wir, können wir tun gegen die welt- Herzlichen Dank. weite Zensur, die Einschränkung oder Nichtgewährung der Pressefreiheit und die Verfolgung derer, die journa- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der listisch arbeiten? Neun Forderungen stellt der Antrag. FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Sie sind sehr pauschal und äußerst deklamatorisch. Die SES 90/DIE GRÜNEN) Bundesregierung soll sich „einsetzen“, in Gesprächen „darauf bestehen“ und „einfordern“. Aber ist damit et- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: was zu erreichen? Unter Punkt 7 wird die Bundesregie- Die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen hat jetzt das rung aufgefordert, Wort für die Fraktion Die Linke. sich für die lückenlose Aufklärung von Überfällen (Beifall bei der LINKEN) und Morden an Journalisten in jenen Ländern ein- zusetzen, in denen eine innerstaatliche Strafverfol- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): gung nicht gewährleistet ist … Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder hat bisher mit einem Zitat geendet; ich fange mit Ich frage: Wie soll so etwas gehandhabt werden? Wel- einem Zitat an: chen politischen Wert in Bezug auf eine Realisierung be- sitzt eine solche Aussage? Nicht ungestraft ist man Journalist. Wir halten das Thema für zu gewichtig, um es im rein Das schrieb 1893 der Theodor Herzl, damals einer der Appellativen zu belassen und es allein mit pauschalen renommiertesten Zeitungskorrespondenten, aus Paris an Forderungen zu unterlegen. Aus diesem Grund werden seine Chefredaktion nach Wien. Er spielte damit auf die wir im weiteren parlamentarischen Verfahren einen Än- vielfältigen Sanktionen gegen inländische und ausländi- derungsantrag einbringen, in dem wir zusätzliche, kon- sche Journalisten an, die in den europäischen Monar- krete Forderungen zum Schutz journalistischer Bericht- chien, aber auch in der Französischen Republik, die doch erstattung, gegen Zensur und für die Ausweitung der die Presse- und Meinungsfreiheit zu ihrem Fundament Presse- und Meinungsfreiheit formulieren wollen. Dazu gemacht hatte, an der Tagesordnung waren. (B) soll auch vor der eigenen Haustür gekehrt werden. (D) „Nicht ungestraft ist man Journalist“, wenn man Jour- (Beifall bei der LINKEN) nalist ist und nicht nur bunte Geschichten verkauft. Das galt damals, und das gilt heute. Denn die Presse- und Beispiele sind – sie sind schon erwähnt worden – der Meinungsfreiheit, dieses hohe Gut, ist nicht den Mächti- Fall des Zeitungsmagazins Cicero, also die Untersu- gen der Politik und der Wirtschaft ein für alle Mal abge- chungsverfahren gegen 17 Journalisten wegen angebli- rungen worden und damit für immer vorhanden, sondern chen Geheimnisverrats, sowie – darauf hinzuweisen, sie muss praktisch jeden Tag und immer wieder aufs liegt uns sehr am Herzen – die Umsetzung der EU-Richt- Neue erkämpft werden. Insofern ist heute ein exemplari- linie zur Vorratsdatenspeicherung durch die Justizminis- scher Tag, an dem wir uns hier mit dem Thema „Presse- terin, die eben keinen besonderen Schutz für die journa- freiheit weltweit“ befassen und sich gleichzeitig unser listische Berichterstattung vorsieht. Das muss sich aus Kontrollgremium mit der BND-Bespitzelung der Spie- unserer Sicht wirklich ändern. geljournalistin Susanne Koelbl befasst. (Beifall bei der LINKEN) Diktaturen kontrollieren brutal, Demokratien sublim – siehe auch jetzt und in Zukunft Berlusconis Italien. Da Wenn man sich diese Punkte ansieht, dann muss man werden wir noch einiges zu beobachten haben. Insofern sagen, dass es insgesamt gesehen keine besonders gute befasst sich der Antrag der Koalitionsfraktionen mit ei- Reverenz für ein Land ist, das überall auf der Welt die nem großen und wichtigen Thema. Achtung der Pressefreiheit einfordert. Die Diagnose der weltweiten Unterdrückung der Ich danke Ihnen. Presse- und Meinungsfreiheit und der Verfolgung von (Beifall bei der LINKEN) Journalistinnen und Journalisten ist erschreckend. Naiv erscheint mir allerdings die Erkenntnis der Antragsteller, dass die Methoden der Medienzensur durch staatliche Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Organe nun auch das Internet erreicht hätten. Warum Volker Beck spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen. sollte ausgerechnet das World Wide Web ein Medium sein, das die politisch und wirtschaftlich Mächtigen Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht für ihre Zwecke, ihre Propaganda, ihre Lügen, ihre Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Drei Manipulationen nutzen und unter Kontrolle bringen wol- Redner vor mir haben mit einem Zitat geendet, eine Red- len? nerin hat mit einem Zitat begonnen. Ich will es halten (Beifall bei der LINKEN) wie die Kollegin Luk Jochimsen: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16521

Volker Beck (Köln) (A) Eine freie Presse kann gut oder schlecht sein, aber Denn wir sind dafür angetreten, dort Demokratie, (C) eine Presse ohne Freiheit kann nur schlecht sein. Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte zu schützen, und wollen nicht das Gegenteil zu verantworten haben. (Holger Haibach [CDU/CSU]: Das hat der Kollege Strässer doch schon gesagt!) Kollege Toncar hat vorhin die Mohammed-Karikatu- Das hat uns der Kollege Camus ren angesprochen. Ich finde, wir sollten ehrlich sein und darüber diskutieren, warum wir in unserem Strafrecht (Heiterkeit bei der SPD) noch § 166 StGB, den alten Blasphemieparagrafen, ha- bzw. der französische Philosoph Camus auf den Weg ge- ben, der Meinungsäußerungen über Religionsgemein- geben. schaften anders behandelt als solche über andere gesell- schaftliche Gruppen. Ich denke, zu einer freien und Dies berührt den Kern der Debatte, auch bei der pluralistischen Gesellschaft gehört es, dass man keine Frage: Was schulden wir uns selbst? Wenn wir die Pres- soziale Gruppe beleidigen darf. Überall muss der gleiche sefreiheit in anderen Ländern anmahnen, dann bedeutet rechtliche Maßstab gelten. Da braucht es kein Sonder- das einerseits, dass wir unsere Journalisten ermahnen recht für Religionsgemeinschaften. müssen, die Verantwortung, die Pressefreiheit beinhaltet, auch auszufüllen. Dies betrifft die Diskussion über (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN China. Es geht nicht an, dass eine freie Presse, obwohl sowie bei Abgeordneten der SPD) sie das sicher darf, falsche Bilder zu Texten über kon- krete Vorfälle liefert. Dazu gehört auch Verantwortung. Die Mohammed-Karikaturen sind letztendlich eine Die Presse muss es mit sich selber ausmachen, dass so strafrechtliche Handlung im Sinne dieser Vorschriften; etwas abgestellt wird. daran besteht kein Zweifel. Der öffentliche Frieden ist gestört. Religiöse Inhalte werden verunglimpft. Ich Der zweite Punkt ist: Wenn wir die Pressefreiheit so meine, das muss eine Demokratie aushalten und das hoch achten, heißt das auch, dass wir in Deutschland muss man gesellschaftlich zurückweisen, aber nicht mit Pressefreiheit in vollem Umfang gewähren müssen. Es der Staatsanwaltschaft und dem Zensorinstrument, son- wurde schon angesprochen: Die aktuelle Nachrichten- dern liberal und als aufgeklärte Bürgergesellschaft. lage sagt, dass es wahrscheinlich nicht nur eine einzelne Journalistin war, die erneut – das ist ja nicht der erste (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Fall – vom Bundesnachrichtendienst überwacht wurde. FDP) Wir müssen klar sagen: Zur Pressefreiheit gehört auch das Zeugnisverweigerungsrecht des Journalisten und da- Kollege Haibach hat Russland bzw. Moskau ange- mit der daraus folgende Informantenschutz. Dieser darf sprochen. Die Versammlungsfreiheit ist so etwas wie die (B) nicht durch technische Mittel unterlaufen werden. Des- Pressefreiheit des kleinen Mannes. Wer keine Zeitung (D) halb ist der Trojaner des Bundes auf dem Computer der drucken kann und kein Geld für Druckerpressen und Spiegel-Redakteurin ein Skandal und ein direkter An- Flugblätter hat, ist darauf angewiesen, dass er seine Mei- griff auf die Pressefreiheit in unserem Land. nung durch Demonstrationen sagen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Heute hat der Interreligiöse Rat der Russischen Föde- bei der FDP und der LINKEN) ration Thomas Hammarberg, den Kommissar für Men- Ich weiß nicht, was beim BND los ist, warum sich das schenrechte des Europarates, aufgefordert, nicht erneut ständig wiederholt. Da braucht es dringend eine Struk- das Demonstrationsrecht für Lesben und Schwule in turreform und vielleicht auch ein bisschen Nachhilfeun- Russland einzufordern, sondern zu akzeptieren, dass die terricht in den Grundlagen von Demokratie und Rechts- erdrückende Mehrheit der Menschen in Russland Homo- staatlichkeit, damit wir mit Fug und Recht auf andere sexualität ablehnt. Das haben die Christen, die Muslime, Länder zeigen und sagen können: Da muss sich einiges die Juden und die Buddhisten in Russland gemeinsam ändern. geäußert. Dazu muss ich sagen: Ich fordere die Führer Wir sollten bei diesen Debatten im Ausschuss darüber der Religionsgemeinschaften in Deutschland, die beiden diskutieren – denn der vorliegende Antrag ist sehr allge- großen Kirchen, den Zentralrat der Juden und den Koor- mein –, an welchen Punkten uns konkret Verantwortung dinierungsrat der Muslime, auf, mit ihren Glaubens- zukommt und ob es tatsächliche Handlungsoptionen für schwestern und -brüdern in Russland darüber zu disku- uns gibt. Ich finde es zum Beispiel ganz wichtig, dass tieren und ihnen klar zu machen: Wenn es darum geht, wir in einem Land wie Afghanistan, in dem wir militä- dass sich jemand artikulieren möchte, darf es keine Rolle risch präsent sind, darauf achten, dass unsere Koopera- spielen, ob ihm die Mehrheit oder nur eine Minderheit tionspartner, zum Beispiel die afghanische Regierung, zustimmt. die Pressefreiheit einhalten. Dass ein 23-jähriger Stu- dent – Sayed Pervez Kambaksh heißt er – aufgrund sei- (Beifall des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/ ner Artikel in einem Blog – er hat über Frauenrechte und DIE GRÜNEN]) den Koran geschrieben – wegen Beleidigung des Pro- Demonstrationsfreiheit bedeutet ja gerade das Recht, pheten zum Tode verurteilt wird, ist ein Skandal. Ich for- Widerspruch zu äußern, und zwar ohne Einschränkung dere die Bundesregierung auf, nicht nachzulassen und durch andere. Das ist die Grundlage der Demokratie und dafür zu sorgen, dass dieses Urteil ohne Wenn und Aber letztendlich die Grundlage aller bürgerlichen und politi- aufgehoben wird. schen Rechte, von der Meinungsfreiheit über die Ver- (Beifall im ganzen Hause) sammlungsfreiheit bis hin zur Pressefreiheit. 16522 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Volker Beck (Köln) (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weil eine real existierende oder fiktive Bedrohungslage (C) und bei der LINKEN) dazu benutzt wird, die Meinungs- und Pressefreiheit als minder schützenswertes Gut einzustufen. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir alle an unsere reli- giösen Führer appellieren würden, sich mit ihren russi- Wie stellt sich die Situation heute dar? Rüttelt ein schen Kollegen auseinanderzusetzen und einen zivilge- Vorgehen gegen Journalisten die Menschen heute noch sellschaftlichen Dialog zu beginnen. In diesem Bereich genauso auf wie damals? Allein in diesem Jahr wurden können wir nämlich nicht alles auf dem Wege von De- weltweit 8 Journalisten getötet und 128 Journalisten, klarationen und Appellen an die Regierung erledigen. 7 Medienassistenten und 63 Onlinedissidenten verhaftet; Wir müssen auch Dialoge führen, um zivilgesellschaft- das ist auf dem aktuellen Barometer der Homepage von lich voranzukommen. „Reporter ohne Grenzen“ nachzulesen. Dort kann man auch nachlesen, dass die Zahl der Angriffe und Bedro- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: hungen mit etwa 1 500 so hoch wie nie zuvor ist. Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. Ich möchte zwei Beispiele nennen, um aufzuzeigen, worum es den Staaten im Frühjahr 2008 geht, wenn sie Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Meinungs- und Pressefreiheit einschränken: Vielen Dank, Frau Präsidentin. Am 22. Januar dieses Jahres – Herr Beck hat es schon (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – erwähnt – wurde der 23-jährige Journalist Sayed Perwiz Christoph Strässer [SPD]: Danke, dass du Kambaksh in Afghanistan zum Tode verurteilt. Grund mich zitiert hast!) war ein Artikel über die Rolle der Frau im Koran. Am 3. April 2008 – das ist der Fall, den Herr Haibach ange- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sprochen hat – wurde in Peking ein Journalist wegen An- Angelika Graf hat jetzt das Wort für die SPD-Frak- stiftung zum Umsturz zu dreieinhalb Jahren Haft verur- tion. teilt. Der Grund: Er hatte mit ausländischen Journalisten über die Olympischen Spiele und die Menschenrechts- (Beifall des Abg. Christoph Strässer [SPD]) situation in China gesprochen. Es sind aber nicht nur Journalisten betroffen. Die Ein- Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): schränkung der Meinungsfreiheit von Minderheiten be- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schäftigt uns bereits seit Jahren. Damit meine ich nicht Zunächst ein Wort zum Kollegen Beck: Der Kollege, nur ethnische Minderheiten, sondern auch Minderheiten den Sie vorhin zitiert haben, hieß nicht Camus, sondern wie Schwule und Lesben, die sich zurzeit in Teilen Euro- (B) (D) Strässer. pas in einer schwierigen Situation befinden. Ich denke (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE auch an die Situation in Vilnius, in Moldawien, wo der GRÜNEN]: Der Strässer hat bei Camus abge- Christopher Street Day verboten ist, in Moskau und in schrieben!) Riga. Auch die Sorge um die Presse- und Meinungsfrei- heit in Russland treibt mich um. Als ich im Dezember Ich kann mich gut daran erinnern, dass im Herbst letzten Jahres als Wahlbeobachterin in Russland tätig 1962, als ich 15 Jahre alt war, die Spiegel-Affäre die Re- war, habe ich gesehen, wie übermächtig dort Meinung publik beschäftigt hat. Wegen eines Artikels zur Atom- gemacht wird und wie heftig dort abweichende Meinun- strategie des Verteidigungsministeriums wurde auf Be- gen unterdrückt werden. treiben des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß das Büro des Spiegel besetzt und die Chef- Einige Beispiele können deutlich machen, worum es redakteure Jacobi und Engels, die verantwortlichen Re- geht: Es geht um Macht, es geht um Kontrolle, und es dakteure Conrad Ahlers und Hans Schmelz sowie der geht darum, Werte zu lenken. Meinungspluralismus und Herausgeber Rudolf Augstein unter dem Vorwurf des die daraus entstehende Kritik am herrschenden System Landesverrates festgenommen. Dieses rigorose Vorge- sollen bereits im Keim erstickt werden, weil freies Den- hen hat damals eine Welle der Empörung im In- und ken und Sprechen und die kritische Betrachtung der Ausland ausgelöst. „Spiegel tot – Freiheit tot“ stand da- Politik an der Macht der Herrschenden rütteln und diese mals auf den Plakaten; daran kann ich mich noch gut er- das staatliche Monopol auf die „eine“ Wahrheit verlie- innern. ren. Auf Antrag der SPD wurde vom 7. bis 9. November Meinungs- und Pressefreiheit sind – das ist in den bis- 1962 eine Bundestagsdebatte zur Aufklärung der Affäre herigen Beiträgen schon deutlich gemacht worden – ein durchgesetzt. Die Verhafteten wurden entlassen, Aug- essenzielles Menschenrecht und eine Grundvorausset- stein allerdings erst nach 103 Tagen, Hans Schmelz nach zung unserer Demokratie. Die Bundesregierung muss 81 Tagen und Conrad Ahlers nach 56 Tagen. Im Novem- diese Themen in ihren Gesprächen mit menschenrechts- ber 1962 trat Franz Josef Strauß zurück. Die Pressefrei- verletzenden Regimen immer wieder ansprechen; das ist heit hat damals einen großen Sieg in Deutschland errun- richtig und unverzichtbar. gen. Aber nicht nur sie sollte in die Pflicht genommen Das ist meine erste persönliche Erinnerung an diesen werden. Aktuell muss, wie ich denke, auch die Position schwierigen und oft auch sehr widersprüchlichen The- des IOC scharf kritisiert werden, weil das IOC es immer menbereich. Er ist widersprüchlich – damals wie heute –, noch ablehnt, sich kritisch mit der schlechten Lage der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16523

Angelika Graf (Rosenheim) (A) Menschenrechte in China im Allgemeinen, aber auch dass sich das Parlamentarische Kontrollgremium mit (C) speziell bei den Tibetern und den Uiguren auseinander- solchen Fällen sehr dezidiert und intensiv beschäftigt. zusetzen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SES 90/DIE GRÜNEN) CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Die Pressefreiheit wird vom IOC nie thematisiert. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat Marco Wanderwitz für die CDU/CSU- China liegt, was sie Pressefreiheit betrifft, auf Fraktion. Platz 163 von insgesamt 169 Ländern, die in der Rang- liste der Reporter ohne Grenzen aufgeführt sind. Außer- (Beifall bei der CDU/CSU) dem sage ich an die Adresse des IOC ganz deutlich: Auch Sportler sind keine meinungslosen Wesen, die ih- Marco Wanderwitz (CDU/CSU): ren demokratischen Background mit dem Überziehen ih- Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! res Trikots abgeben. Ich denke, das Recht auf freie Mei- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich hat man es nungsäußerung gilt auch für sie, auch und erst recht bei als letzter Redner ein bisschen schwer, weil eine ganze der Olympiade in Peking. Menge von dem, was man sagen wollte, schon erwähnt (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ worden ist. Heute fällt es mir ein bisschen leichter, weil CSU und der FDP) sich die Oppositionsfraktionen faktisch nur mit Themen beschäftigt haben, die zumindest nicht direkt Thema des Deutschland belegt auf der Pressefreiheitsskala der Antrags sind. Ich hätte mir schon gewünscht, dass wir Reporter ohne Grenzen übrigens nur Rang 20, direkt von Ihnen ein bisschen mehr zum Kernthema des An- nach Trinidad und Tobago. Das ist zwar nicht der trags hören, sprich: Wie geht man in anderen Staaten der schlechteste Platz – die USA beispielsweise stehen auf Welt mit der Meinungs- und Pressefreiheit um? Platz 48 –, aber Sie werden mir wohl alle zustimmen, wenn ich sage: Es könnte besser sein. Wir sollten uns (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Wir kön- sehr intensiv mit den Gründen für dieses schlechte Ran- nen hier sagen, was wir wollen!) king befassen. Das gilt insbesondere dann, wenn wir Es ist natürlich legitim, sich in diesem Zusammen- gegenüber anderen Ländern mahnend den Zeigefinger hang auch mit Innenpolitik zu beschäftigen. Aber wenn heben. Es ist ein Prinzip unseres Menschenrechtsaus- man hier Dinge miteinander vergleicht, die von ihrer schusses, dass wir dann, wenn wir andere kritisieren, Qualität her überhaupt nicht vergleichbar sind, dann (B) auch auf uns selbst schauen. macht man es sich zumindest ein bisschen einfach. Da- (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der bei muss man sich auch den Vorwurf gefallen lassen, FDP) dass man den Geist des Antrags, bei dem wir auch nach der ersten Lesung noch die Hoffnung haben, dass ihm Ich möchte eines deutlich machen: Bei uns gibt es im die Opposition beitritt, kaputt macht. Gegensatz zu anderen Ländern die Möglichkeit und das Recht, sich gegen Einschränkungen und Übergriffe zur (Beifall bei der CDU/CSU) Wehr zu setzen, vor Gericht, beispielsweise vor dem Ich komme nun zu dem, was der Inhalt des Antrages Bundesverfassungsgericht, und auch überall sonst. Ich ist, nämlich die universelle Geltung des Grundrechts der muss sagen: Ich habe großes Vertrauen in unsere Ge- Meinungs- und Pressefreiheit in der Welt, insbesondere richte. Denn gerade die Vorgänge, die in der Vergangen- im neuen Medium Internet. Das Internet ist ein Medium heit zu beobachten waren, haben gezeigt, dass die Pres- von besonderer Bedeutung. So wie beispielsweise Flug- sefreiheit in unserem Land ein hohes Gut ist. blätter – das ist hier schon richtig gesagt worden – da- Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe mals, als sie aufkamen, von besonderer Bedeutung wa- meinen Redebeitrag mit einer Bemerkung zur Spiegel- ren, ist das Internet jetzt von besonderer Bedeutung. Das Affäre begonnen. Sicherlich werden Sie mir zugestehen, liegt nicht zuletzt daran, weil es schnell und kostengüns- diesen Kreis nun zu schließen. Aus aktuellem Anlass tig Informationen erreichbar und verbreitbar macht. sage ich ganz deutlich: Es reicht nicht aus, wenn sich Die ungehinderte Verbreitung von unzensierten Infor- BND-Chef Uhrlau bei einer monatelang offensichtlich mationen und der freie Zugang dazu ist so etwas wie ein illegal abgehörten und überwachten Spiegel-Journalistin natürlicher Schutzmechanismus gegen Unterdrückung, persönlich entschuldigt. Unfreiheit und Verfolgung, also gegen alles, was Dikta- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten turen ausmacht. Medien werden beispielsweise von der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des NGOs dazu genutzt, schlimme Schicksale, die in Dikta- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) turen leider viel zu oft passieren, aus der Dunkelheit he- rauszuholen und sie ans Licht zu bringen. Medien ma- In Zukunft werden wir uns in diesem Hohen Hause chen es Staatsbürgern in diesen Ländern und natürlich mit der Frage beschäftigen müssen, welche Konsequen- überall in der Welt möglich, sich mit diesen Sachverhal- zen aus diesem Vorfall zu ziehen sind. Ich bin zuver- ten auseinanderzusetzen und in einen politischen Wil- sichtlich, dass wir das gut meistern werden. Ich denke, lensbildungsprozess einzutreten, von dem Demokratie ein gutes Zeichen dafür, wie gut wir das meistern, ist, lebt. Deshalb kann es den demokratischen Staaten nicht 16524 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Marco Wanderwitz (A) egal sein, wie in den Staaten, die nicht unseren demokra- nalistengefängnis der Welt. Gerechtfertigt werden die In- (C) tischen Standards entsprechen, mit Meinungs- und Pres- haftierungen mit einem Artikel des kubanischen sefreiheit umgegangen wird. Daher ist es unser Auftrag, Gesetzbuches, mit dem die angeblich gefährdete Souve- dafür einzutreten, dafür zu kämpfen und dafür zu wer- ränität Kubas gegen angeblich vom Ausland organisierte ben, dass Pressefreiheit international geachtet wird. „imperialistische Unterwanderung“ des Systems ge- schützt werden soll. Tatsächlich wird dieser Artikel be- Kollege Haibach hat beschrieben, dass es Länder gab nutzt, um kubanische Dissidenten und Journalisten mit und gibt, in denen die Presse- und Meinungsfreiheit kein Auslandskontakten grundlos einzusperren. Aktuell sit- Thema ist, und solche, die sich zumindest formal, bei- zen 24 kubanische Journalisten unter unwürdigen, un- spielsweise in ihren Verfassungen, der Pressefreiheit menschlichen Bedingungen Haftstrafen zwischen 14 und verschreiben. So etwa war das in der ehemaligen 27 Jahren ab. DDR. In der Verfassung der ehemaligen DDR stand gar nicht so viel anderes als in Art. 5 des Grundgesetzes. Mit einer kritischen Berichterstattung muss sich Ohne dass ich das kleinreden will, was hier zu innenpoli- Kuba, was das Internet betrifft, nicht auseinandersetzen, tischen Themen gesagt worden ist: Das, was in der Ver- weil es faktisch unmöglich ist, einen frei zugänglichen fassung der DDR stand, und das, was in der DDR Reali- E-Mail-Account zu haben. tät war, war etwas ganz anderes als die Einzelfälle in einer Demokratie, in der die parlamentarische Kontrolle Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: einerseits und die Kontrolle durch die Gerichte anderer- Herr Kollege – – seits funktionieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Florian Toncar [FDP]) Ich habe es schon gesehen; ich bin gleich am Ende meiner Rede. – Selbst die in den Postämtern zugängli- Von den republikweiten Zeitungen bis zum be- chen E-Mail-Accounts – – triebsinternen Blatt lagen in der DDR nahezu alle Publi- kationen bei den Parteien oder waren an das sogenannte (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrates ange- LINKE]: Dann kommen Sie gar nicht mehr hängt. Dieses Presseamt vergab – ich will es einmal so dazu, über den Antrag zu reden!) nennen – eine Gesinnungsakkreditierung und entzog sie auch wieder, und zwar willkürlich. – Herr Kollege, Sie wollen es offensichtlich nicht verste- hen. (Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE] Ich freue mich auf die parlamentarische Beratung (B) unterhält sich mit Abg. Volker Schneider (D) [Saarbrücken] [DIE LINKE] – Holger Hai- – ich sage das insbesondere an die Adresse der Linken bach [CDU/CSU]: Das mag die Frau Jochim- gerichtet –; denn eines ist aus meiner Sicht klar: Sie kön- sen nicht hören!) nen Anträge stellen, wie Sie wollen – Sie werden sich dem Wesensgehalt unseres Antrages nicht verweigern – Ich gebe das den Kollegen vom linken Rand, die sich können. für das Thema nicht so sehr interessieren, gerne noch einmal schriftlich. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Herr Kollege! der FDP) Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Die SED besaß mit 90 Prozent der Druckkapazitäten in der DDR das faktische Monopol über die Printme- Ausflüchte, sich zu verweigern, gibt es nämlich nicht. dien. Die sogenannte Postzeitungsliste der Deutschen (Beifall bei der CDU/CSU) Post der DDR, die das Monopol über den gesamten Ver- trieb von Presseerzeugnissen besaß, wurde genutzt. Un- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: liebsame Publikationen wurden von dieser Liste einfach Ich schließe die Aussprache. gestrichen. Es wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksa- Sie wollen ein aktuelles Beispiel hören? Das können che 16/8871 zur federführenden Beratung an den Aus- Sie gern haben. Kommen wir doch einmal zu dem Land schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe und Kuba, für das Sie sich regelmäßig besonders interessie- zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss sowie ren. Die kubanische Regierung unterhält ähnlich wie in an den Ausschuss für Kultur und Medien zu überweisen. der DDR das Medienmonopol des Staates, was sicher- Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. stellt, dass die freie Meinungsäußerung faktisch nicht Dann ist das so beschlossen. existiert. Die Berichterstattung muss „in Einklang mit den Zielen der sozialistischen Gesellschaft stehen“. Da- Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: mit unterliegt jegliche Information der Kontrolle und Zensur des Staates. Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Klimke, Dr. Christian Ruck, Maria Eichhorn, Kuba ist, wenn man das im Verhältnis zu seiner Be- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der völkerung von 11 Millionen betrachtet, das größte Jour- CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Sascha Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16525

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Raabe, Gregor Amann, Sabine Bätzing, weiterer gen die es im Rahmen der Drogenpolitik vorzugehen gilt (C) Abgeordneter und der Fraktion der SPD und die wir in unserem Antrag aufgegriffen haben: ille- galer Anbau und Produktion von Drogen, illegaler Dro- Nationale und internationale Maßnahmen für genhandel und Drogenschmuggel sowie Drogenkonsum, einen verbesserten Kampf gegen Drogenhan- -missbrauch und -abhängigkeiten. del und -anbau in Entwicklungsländern – Drucksache 16/8776 – Mit dieser Auflistung wird verdeutlicht, dass die Ein- dämmung des Drogenproblems nur erreicht werden Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und kann, wenn sich die internationale Staatengemeinschaft Entwicklung (f) diesen Problemen gemeinsam stellt und mit dafür geeig- Auswärtiger Ausschuss neten Konzepten eine Lösung herbeiführt. Daher ist es Innenausschuss notwendig, die Arbeit der multilateralen Organisationen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu unterstützen. Besonders wichtig ist es in dieser Hin- Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe sicht, dass der internationalen Entwicklungspolitik im Kampf gegen den Drogenanbau endlich ein größeres Ge- Hierzu ist es verabredet, eine Dreiviertelstunde zu de- wicht und eine größere Verantwortung verliehen wird. battieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Mit umfassenden Konzepten der Entwicklungspolitik haben wir Lösungspotenziale bei der Drogenbekämp- Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen fung, die so noch nicht zur Entfaltung kamen. Nur damit Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion das Wort. können wir dem Drogenhandel und der Drogenproduk- tion dauerhaft einen Riegel vorschieben. Der heute de- Dr. Sascha Raabe (SPD): battierte Antrag beinhaltet sowohl nationale als auch in- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- ternationale Maßnahmen für einen verbesserten Kampf gen! Der Weltdrogenbericht 2008 der Vereinten Natio- gegen Drogenhandel und -anbau in Entwicklungslän- nen bestätigt, dass die massive Ausweitung des interna- dern. Ich möchte Ihnen gerne einige dieser Maßnahmen tionalen Drogenanbaus mit Ausnahme des Spezialfalls erläutern. Afghanistan eingedämmt werden konnte. Das ist an sich eine gute Nachricht. Im Zentrum der deutschen Entwicklungszusammen- arbeit im Bereich der Drogenbekämpfung steht das „Pro- Die schlechte Nachricht ist, dass es insbesondere in gramm zur Förderung der entwicklungsorientierten Dro- Schwellen- und Entwicklungsländern weiterhin zum genkontrolle in Entwicklungsländern“, abgekürzt EOD. Drogenanbau und damit zu massiven, teilweise lebens- (B) Wichtig wird es sein, dass wir in diesem ganzheitlichen (D) bedrohlichen Problemen wie Krankheit, Nahrungsmit- Rahmen weitere Alternativen erarbeiten und durchfüh- telknappheit und Kriminalität kommt. Nicht nur das: Die ren, durch die den Menschen vor Ort neue Chancen ge- Auswirkungen von Drogenanbau und -handel können boten werden, unabhängig vom Drogenhandel zu leben. zur Destabilisierung ganzer Länder führen; Kolumbien und Afghanistan sind zwei von vielen traurigen Beispie- Die schon in vielen Ländern erfolgreich erprobte Mi- len dafür. krokreditfinanzierung könnte hierzu eine sinnvolle Ver- Drogen und Entwicklungsprobleme sind eng mit- knüpfung darstellen; denn neben einer nachhaltigen einander verknüpft. Armut und das Fehlen von Alterna- Wirtschaftsförderung in Drogenanbauregionen ist es tiven, den Lebensunterhalt zu bestreiten, zwingen Bau- wichtig und notwendig, den Bauern in den betroffenen ern dazu, Drogen anzubauen. Das ist ein Teufelskreis, Regionen die Chance zu geben, marktfähige Produkte aus dem es ohne Hilfe von außen keinen Ausweg gibt. herzustellen und abzusetzen. Nur so wird es möglich sein, den Drogenanbau zielstrebig und nachhaltig einzu- Der Weg der geschmuggelten Drogen endet nicht sel- grenzen. ten in Europa und damit auch in Deutschland. Insbeson- dere junge Menschen werden durch Drogen suchtkrank (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) und gefährden ihr Leben. Deshalb freut es mich, dass die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Frau Sabine Es ist in dem Zusammenhang notwendig, festzustel- Bätzing, in dieser Debatte reden wird. len, dass das Verbot des Drogenanbaus natürlich auch weiterhin wichtig ist. Das muss man auch verfolgen. Wir haben als deutsche Politiker, insbesondere als Aber nicht die alleinige Vernichtung von Drogenanbau- deutsche Entwicklungspolitiker, nicht nur ein Interesse, flächen sollte im Mittelpunkt dieser Strategie stehen, sondern auch eine große Verantwortung dafür, dem Dro- sondern das sollte nur eine flankierende Maßnahme zu genanbau den Nährboden zu entziehen. Wir müssen den den alternativen Einkommensstrategien sein; denn ge- Menschen in den Entwicklungsländern aus ihrer schein- rade die Vernichtung von Drogenanbauflächen, wie bar ausweglosen Lage helfen. Wir müssen dabei am An- beispielsweise die Vernichtung der Kokapflanze aus der fang der Drogenkette, bei der Produktion, ansetzen. Luft mit entsprechenden Giftstoffen, bringt auch verhee- rende Nebeneffekte mit sich. Nicht selten werden in die- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sem Zusammenhang Ernten von Nahrungspflanzen zer- neten der SPD) stört, guter Ackerboden unfruchtbar gemacht, und es Wie vernetzt und umfangreich die internationale Dro- kommt auch zur Vergiftung der dort lebenden Bauern genproblematik ist, zeigen die drei Hauptelemente, ge- und anderen Menschen. 16526 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Dr. Sascha Raabe (A) Deswegen brauchen wir für eine grundlegende Aus- Ich darf das Beispiel Kolumbien anführen, wo der (C) rottung der Armut und damit auch der Drogenproduktion Drogenanbau zu einem blutigen Bürgerkrieg geführt hat, eine Wirtschaftsförderung, die den Bauern vor Ort die der Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht und Möglichkeit gibt, Lebensmittel wie Kaffee oder Mais Hunderttausenden das Leben gekostet hat. Kolumbien anzubauen. gilt weiterhin als größter Kokainproduzent der Welt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir haben mit der Linkspartei schon oft über den venezolanischen Präsidenten Chávez und auch über die Damit würden wir zwei Fliegen mit einer Klappe schla- kolumbianische Politik gestritten. In den Augen vieler gen: Wir würden den Drogenanbau reduzieren und innerhalb der Linkspartei ist Chávez immer noch ein net- strukturschwache Staaten wieder in die Lage versetzen, ter Sozialpolitiker, der sich jetzt als Friedensengel aktiv unabhängig von Lebensmittelimporten zu werden. Die- in die Vermittlung einer Befreiung von Geiseln der sen Punkt haben wir auch gestern hier in der Debatte be- FARC – einer Terrororganisation, die für die meisten handelt. Die Entwicklungsländer müssen endlich wieder Morde und Entführungen in Kolumbien verantwortlich eine größere Chance haben, sich fair und gerecht am ist – wie der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Welthandel beteiligen zu können. Betancourt bemüht. Dabei hat die Linkspartei immer (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gerne übersehen, dass Präsident Chávez nichts dagegen unternimmt, dass die FARC schon seit Jahren Drogen Wir haben gestern über die Hungeraufstände auf- über die Grenzen Venezuelas schmuggelt. grund der gestiegenen Nahrungsmittelpreise diskutiert. Beim Drogenanbau ist das Problem eigentlich das Glei- (Holger Haibach [CDU/CSU]: Genau so ist che; denn die Bauern produzieren die Drogen ja nicht, es!) weil sie selbst Drogen konsumieren oder weil sie nicht Wenn sich bestätigt, was auf dem Computer eines wissen, dass das schädlich ist, sondern weil sie keine an- FARC-Kommandeurs gefunden wurde, dass nämlich die dere Möglichkeit haben, ihre Familien zu ernähren. Wir venezolanische Regierung die FARC mit 300 Millionen als Industriestaaten tragen mit die Hauptschuld an dieser US-Dollar unterstützt und ihnen Beteiligungen am Öl- Situation; denn wir haben unsere Lebensmittel durch un- geschäft und Waffen aus der eigenen Armee angeboten sere Agrarsubventionen zu Dumpingpreisen in die Le- hat, dann ist es der Gipfel der Heuchelei, wenn sich bensmittelregale in den Entwicklungsländern gebracht, Chávez als Befreier der Geiseln der FARC darstellt und sodass die Bauern dort ihre eigenen Produkte nicht mehr als internationaler Friedensengel feiern lassen will. absetzen konnten, weil sie nicht genug Geld dafür be- kommen haben. (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Aber so ist er!) (B) Sie hatten dann nur zwei Möglichkeiten: Entweder Denn damit konterkariert er die Bemühungen der inter- (D) haben sie ihre Höfe verlassen und die Landwirtschaft nationalen Gemeinschaft im Kampf gegen den Terroris- aufgegeben, oder sie haben, wie in vielen Fällen, Drogen mus und auch die gute deutsche Entwicklungszusam- angebaut, weil sie dafür wenigstens etwas Geld bekom- menarbeit, die gerade in Kolumbien ihren Schwerpunkt men haben, um ihre Familie zu ernähren. Dabei muss al- bewusst auf Krisenprävention, Friedensentwicklung und lerdings auch gesagt werden, dass die Drogenmafia Alternativen zum Drogenanbau legt. immer noch am meisten daran verdient. Dieser Drogen- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Hü- mafia müssen wir das Handwerk legen, damit sie ihr bö- seyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Uribe ses Werk nicht mehr betreiben kann. Wir müssen die auch!) Zölle für Agrarprodukte aus Entwicklungsländern end- lich senken und gleichzeitig unsere handelsverzerrenden Subventionen abschaffen. Das würde gegen Hunger, Ar- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mut und Drogenanbau gleichzeitig helfen. Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Dr. Sascha Raabe (SPD): der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE Lassen Sie uns deswegen den vorliegenden Antrag GRÜNEN]) beschließen und damit einen bescheidenen Beitrag ge- Eine starke indirekte Auswirkung des Drogenpro- gen den Drogenanbau, -handel und -konsum auch bei blems ist auch im Bereich HIV/Aids zu verzeichnen. Wir uns in Deutschland leisten. sehen mit großer Sorge, dass in Afrika der Anteil der in- Vielen Dank. jizierten Drogen immer größer wird. Durch verunrei- nigte Nadeln kommt es dort zu einem großen Problem (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) der HIV/Aids-Ausbreitung. Auch das ist sehr wichtig. Ich möchte zum Schluss noch einen Punkt aufgreifen, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: den ich schon anfangs erwähnt habe, nämlich die sicher- Der Kollege Hellmut Königshaus spricht jetzt für die heitspolitische Dimension. Afghanistan war schon oft FDP-Fraktion. Gegenstand der Debatten. Auch heute steht die Entwick- lung in Afghanistan noch auf der Tagesordnung. Die Hellmut Königshaus (FDP): Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel wird zu diesem Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den An- Thema sprechen. trag, den wir heute beraten, hat, wie ich weiß, unser Kol- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16527

Hellmut Königshaus (A) lege Jürgen Klimke wesentlich mitgeprägt. Er hatte ei- Deshalb müssen wir vor allem den Nachfragemarkt (C) nen Unfall und kann heute nicht bei uns sein, aber ich austrocknen, sowohl hier bei uns als auch in der Euro- grüße ihn von hier aus herzlich, falls er unsere Debatte päischen Union. Dafür haben die Bundesregierung und verfolgt. Komm schnell wieder aufs Fahrrad, Jürgen! die Bundesländer bisher kein wirksames Konzept. Auch Ihr Antrag zeigt insoweit keine weiterführenden Per- (Beifall) spektiven auf. Vielleicht tut das Herr Ruck, der anschlie- Ich will den Antrag aber nicht nur deshalb loben – zu- ßend 14 Minuten reden wird. Aber auch sonst fehlt es an mindest in Teilbereichen; es ist nicht alles gut –, weil er Wegweisungen. Die Koalition stellt in ihrem Antrag mitgewirkt hat, sondern auch deshalb, weil er eine gute durchaus zu Recht fest, dass in manchen Regionen die Grundlage für die Diskussion zu diesem Thema ist. Er Drogenproduktion zurückgedrängt werden konnte. Ins- ist vor allem eine Analyse und eine Fleißarbeit, die ei- besondere in Thailand und Kolumbien, die hier genannt gentlich die Bundesregierung hätte vorlegen müssen. Sie werden, trifft das zu. Das sieht man, wenn man sich die steckt bei diesem Thema eher den Kopf in den Sand. Entwicklung des Mohnanbaus in diesen Ländern an- Vielleicht wird aber Frau Bätzing noch näher darauf ein- schaut. Aber diese Länder sind nun auf die Produktion gehen. synthetischer Drogen umgestiegen, weil sie den Wettbe- werb mit Afghanistan nicht mehr durchhalten. Auch das Der Antrag enthält viel Wichtiges und Richtiges, aber gehört zur Wirklichkeit. Darüber sollte man sprechen. leider auch Unrichtiges. Unrichtig ist vor allem, dass die Bundesregierung pflichtgemäß gelobt wird, und zwar (Monika Knoche [DIE LINKE]: Richtig!) insbesondere für ihre kontinuierliche Arbeit. Die beiden Länder Thailand und Kolumbien stehen (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Ja!) – der Kollege Raabe hat das eben angesprochen – über- haupt nicht mehr im Mittelpunkt unserer Betrachtungen. – Das ist hinsichtlich der Drogenproblematik wohl eher Das ist nicht mehr notwendig; denn die ausufernde Dro- Realsatire, Kollegin Pfeiffer. genindustrie in Afghanistan ist für uns das eigentliche, das strategische Problem. Dort wird mit 8 000 Tonnen (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das kann man im Jahr schon heute weit über den weltweiten Drogen- wohl sagen! – Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: bedarf hinaus produziert. Am Ende der Herrschaft der Oh nein! Hervorragende Arbeit!) Taliban waren es gerade einmal 200 Tonnen. Mit der Kontinuierlich mag die Arbeit zwar sein, aber lobens- Drogenindustrie in Afghanistan müssen wir uns befas- wert ist das alleine nicht, insbesondere dann nicht, wenn sen. Deshalb kann man nicht sagen: Wir befassen uns die Kontinuität im Wesentlichen aus Unterlassungen be- jetzt mit dem Thema Drogen in den Entwicklungslän- dern und heute Abend mit Afghanistan. Beides gehört (B) steht. (D) zusammen und muss gemeinsam betrachtet werden. (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Verklärung der (Beifall bei der FDP – Sibylle Pfeiffer [CDU/ Tatsachen, lieber Kollege Königshaus!) CSU]: Das eine tun und das andere nicht las- Bisher wurde, was dieses Thema angeht, insbesondere sen!) den Entwicklungsländern gegenüber eher auf kleiner In Afghanistan sieht man das ganze Ausmaß der Ka- Flamme gekocht, und dementsprechend nur mit gerin- tastrophe deutlich. Hier ist die Drogenindustrie das zen- gem Erfolg. Wir müssen sehr viel mehr tun, um mit dem trale Problem, nicht nur für die Sicherheit, sondern auch internationalen Drogenhandel fertig zu werden. Das ist für die Entwicklung. Die Drogenmafia konterkariert alle hinreichend bekannt. Wir müssen endlich damit aufhö- Entwicklungsbemühungen und hat alle Bereiche des ren, in erster Linie nur zu analysieren und Konzepte zu Landes – wie wir wissen: bis hin zur Familie des Staats- entwerfen. Vielmehr müssen wir endlich auch handeln präsidenten – durchdrungen. und die Konzepte umsetzen. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) (Sabine Bätzing [SPD]: Das tun wir!) Das ist der Punkt, an dem wir deutlich werden müssen. – Das wollt ihr zwar, aber ihr tut es nicht. Daran fehlt es – bisher jedenfalls – ersichtlich. (Beifall der Abg. Monika Knoche [DIE LINKE]) (Beifall bei der FDP) Die Bauern sind im Übrigen von den Drogenbaronen Das beginnt bereits damit, dass der Schwerpunkt aller abhängig und werden unter Druck gesetzt. Der Terroris- Betrachtungen – übrigens auch im vorliegenden Antrag – mus finanziert sich aus dem Drogenhandel. Durch die bei der Produktion und dem Handel mit Drogen und we- Drogenwirtschaft und die Drogengelder wird jeder ver- niger beim Verbrauch liegt. Das ist aber der Kern des nünftige, korruptionsfreie Politiker verdrängt, weil er gar Problems: Ohne Verbrauch und ohne Nachfrage gäbe es keine Chance hat, sich in der Verwaltung und der Politik keine Produktion und keinen Handel. zu positionieren. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Das stimmt Genau!) leider!) Das ist eine Tatsache im Leben, die wir immer wieder Das sind Tatsachen, denen wir ins Auge sehen müssen. beobachten können. Hier müssen wir etwas tun. 16528 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Hellmut Königshaus (A) Seit 2001 ist die ISAF in Afghanistan und in der Dro- Deswegen ist es richtig, dass wir den Kampf gegen den (C) genbekämpfung tätig. Trotzdem hat sich die Drogenpro- Drogenhandel und den Drogenanbau verstärken. duktion explosionsartig entwickelt. Militante Drogen- banden sichern das Drogengeschäft ab. Wir haben von Es ist auch richtig, dass der Drogenkonsum weltweit Kollegen aus dem iranischen Parlament, beispielsweise zunimmt. Zurzeit nehmen etwa 210 Millionen Menschen vom Vorsitzenden des Sicherheitsausschusses, der hier – etwa 5 Prozent der Weltbevölkerung zwischen 15 und zu Besuch war, gehört, dass allein die iranischen Grenz- 64 Jahren – Drogen, die abhängig machen. 25 Millionen truppen bei dem Versuch, den Drogenhandel zu unter- Menschen nehmen Kokain und Heroin. Davon injizieren binden und den Transit durch den Iran zu stoppen, schon 13,1 Millionen ihren Drogenkonsum direkt mit Spritzen. mehrere Tausend Grenzsoldaten verloren haben. Das Von diesen 13,1 Millionen Menschen leben 78 Prozent zeigt, mit welchen Banden und welcher Militanz wir es in Entwicklungsländern. Das heißt, Drogenkonsum ist dort zu tun haben. nicht nur bei uns eine traurige Wirklichkeit, sondern spielt sich auch in den Entwicklungsländern selbst ab; in Deswegen ist es zwar sehr schön – das klingt auch Afghanistan sterben jährlich 100 000 Menschen an den sehr gut –, wenn wir hier über Ersatzprodukte wie Folgen des Drogenkonsums. Rosenöl sprechen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir repressiv handeln müssen, wenn wir dieses Übel bei Es wurde völlig zu Recht darauf hingewiesen: Die der Wurzel packen wollen. Wir können nicht nur zu- Drogenproduktion destabilisiert Länder und Regionen; schauen und den Briten alles überlassen. Wir müssen uns Kolumbien wurde genannt. Ich nenne Mexiko, wo vor etwas überlegen. Solche Überlegungen fehlen bislang allem die Indianer sehr stark unter den brutalen Drogen- aber, auch in Ihrem Antrag. Sicherlich müssen wir alter- kartellen leiden. Ich nenne Myanmar, wo sich die Mili- native Einkommensquellen schaffen. Aber zuerst müs- tärjunta mit illegaler Abholzung und Drogenanbau fi- sen wir dafür sorgen, dass ein Bauer, der bereit ist, keine nanziert. Ich nenne Afrika, das immer mehr von Drogen mehr anzubauen, nicht unter den Druck der Dro- geänderten Drogenrouten in Mitleidenschaft gezogen genbarone gerät. Diese lassen sich doch nicht von einem wird. Guinea-Bissau ist inzwischen ein internationaler Entwicklungshelfer das Geschäft kaputt machen, nur Drogenumschlagsplatz. Auch das destabilisiert eine weil dieser schön redet. Sie setzen Waffen ein; so sieht ganze Region, nicht nur Teile der nationalen oder loka- die Sache aus. Wir müssen hier endlich aktiv werden und len Bevölkerung. den Tatsachen ins Auge schauen. Afghanistan ist ein klassisches Beispiel für die Gefahr Ich komme zum Schluss. Wir müssen die Richtigen der Destabilisierung, die auch mit unserer Sicherheit et- bekämpfen und das Richtige tun. Hier hilft kein schönes was zu tun hat. Eine Rekordernte folgt auf die andere. Afghanistan ist auch ein typisches Beispiel für die Ver- (B) Reden. Vielmehr müssen wir Tacheles reden. Darum (D) bitte ich die nachfolgenden Redner von der Koalition. quickung von politischen Radikalismen, kriminellen Drogenkartellen und Terroristen. Das ist die eine Front, Ich danke Ihnen. auf der wir unbedingt Erfolge erzielen müssen. (Beifall bei der FDP – Sibylle Pfeiffer [CDU/ Die andere Front – Herr Königshaus, da gebe ich Ih- CSU]: Tacheles reden wir immer!) nen recht – liegt bei uns selbst: 3 Prozent der Europäer konsumieren regelmäßig Kokain. In Ländern wie Spa- nien, die Einfallstor für Drogen aus Südamerika sind, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: steigt die Zahl der Drogenabhängigen rasant an, viel Für die CDU/CSU hat der Kollege Dr. Christian Ruck schneller als im europäischen Durchschnitt. In Deutsch- das Wort. land gibt es 1 300 Drogentote im Jahr; das sind 1 300 zu (Beifall bei der CDU/CSU) viel. Dies ist in der Tat die andere Seite der Medaille. In unserem Antrag antworten wir mit den richtigen Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Maßnahmen auf diese doppelte Verantwortung. In der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor Drogenpolitik geht es darum, den illegalen Anbau und ich Tacheles rede, möchte ich an den Kollegen Klimke die Produktion von Drogen zu bekämpfen; es geht um erinnern, der hoffentlich bald wieder unter uns weilt. Er die Bekämpfung des illegalen Drogenhandels und Dro- hat zahlreiche Auslandsaufenthalte absolviert und maß- genschmuggels sowie um die Eindämmung des Drogen- geblich an der Erarbeitung des vorliegenden Antrages konsums und der Drogenabhängigkeit. Die Botschaft mitgewirkt. Aufgrund seines Fehlens habe ich nun theo- unseres Antrags lautet aber auch: Wir haben keinen retisch 14 Minuten Redezeit, um all das zu erklären, was Grund, zu resignieren. Drogenkontrolle ist möglich; da- der Kollege Königshaus nicht verstanden hat. für gibt es genug Beispiele. Dafür müssen wir nicht nur unsere nationalen Strategien optimieren, sondern auch (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und den Kampf gegen Drogen in der EU, der UNO und den der SPD) anderen Organisationen. Richtig ist, dass der Drogenanbau in den Entwick- Wir haben in unserer EZ seit langem etwas Wichtiges lungsländern die Lebensgrundlage von Millionen Men- etabliert – Kollege Raabe hat schon darauf hingewiesen; schen zerstört; Krankheit, Kriminalität, Terrorismus und es ist der Kern unseres Ansatzes –: die entwicklungs- eine verseuchte Umwelt sind die Folge eines jahrzehnte- orientierte Drogenkontrolle, im Folgenden EOD ge- lang andauernden und noch nicht gelösten Problems. nannt. Herr Königshaus, die EOD-Strategie ist 1981 ent- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16529

Dr. Christian Ruck (A) standen; sie ist allmählich ausgebaut worden. Für die folgreichen Kampf gegen den Drogenanbau. Das ist, (C) Umsetzung wurden seitdem immerhin 200 Millionen glaube ich, das Entscheidende, worin wir uns alle einig Euro ausgegeben. Die EOD beinhaltet im Kern, dass wir sind. nicht nur auf Repression und Eradikation, also Vernich- tung der Pflanzen, auf Saatgutverteilung für neue Pro- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dukte und auf neue Märkte, sondern auf alles setzen Lassen Sie mich auf Afghanistan zurückkommen. müssen. Es handelt sich um einen umfassenden Ansatz, Afghanistan ist eine besondere Herausforderung für uns. der Bildungskonzeptionen, Sicherheitskonzeptionen, Wir haben in Afghanistan besondere Probleme. Dort Gesundheitsmaßnahmen und die Schaffung neuer herrscht eine besonders kritische Situation. Wir als Deut- Märkte für neue Produkte umfasst. Ein umfassender An- sche sind in Afghanistan ganz besonders gefordert. Es satz ist also das Einzige, was hilft. gibt da nichts zu beschönigen. Die Opiumproduktion ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auch im Jahr 2007 wieder um 34 Prozent gestiegen. Der neten der SPD) Gewinn aus den Drogengeschäften beträgt 53 Prozent des afghanischen Bruttoinlandsprodukts. Wenn es nicht Ich weise auf unsere wirklich guten Erfolge in Thai- so traurig wäre, wäre das eine echte Erfolgsgeschichte. land hin, was unser Hearing, das wir durchgeführt haben und das Kollege Klimke – auch die Kollegen der ande- Diese drastischen Zahlen sind umso besorgniserre- ren Parteien waren eingeladen – mit organisiert hat, ge- gender, als wir wissen, dass sich Taliban und al-Qaida zeigt hat. Ich nenne die Bereiche Strafverfolgung und mit Geschäftsleuten verbinden – ähnliche Entwicklun- Stärkung des Rechtssystems. Dort konnten wir die Pro- gen gibt es in Kolumbien und anderswo –, um sich zu re- duktion von Drogen in exorbitantem Maße senken. Das- finanzieren. Auf der anderen Seite steigt auch der private selbe gilt für Pakistan und auch für Peru. Bei diesen Län- Drogenkonsum in Afghanistan durch ein Überangebot dern gibt es ganz konkrete Erfolge. an Opium drastisch an, sodass ganze Generationen im Begriff sind, sich durch ihre Anbauflächen praktisch Jetzt geht es uns um Folgendes: Diesen EOD-Ansatz selbst zu vernichten. Nirgendwo ist es so kompliziert müssen wir in zwei Richtungen ausbauen. Erstens müs- und so facettenreich wie in Afghanistan, den Kampf ge- sen wir ihn stärker international durchsetzen. Wir müs- gen diese wirklich erfolgreiche Produktion zu führen. sen durchsetzen, dass die entwicklungsorientierte Dro- genbekämpfung auch in den EU-Drogenaktionsplan von Ich möchte aber doch darauf hinweisen, dass trotz all 2009 bis 2012 kommt. Das ist eines unserer Hauptanlie- dieser Schreckensmeldungen inzwischen ganze Provin- gen auf internationaler Ebene in diesem gemeinsamen zen wieder heroin- bzw. opiumfrei sind, dass es gelun- Antrag. Das gilt im Übrigen auch für die UNO, die in gen ist, ganze Provinzen vom Opiumanbau zu befreien, (B) diesen Tagen eine ganz wichtige Umstellung ihrer Dro- und zwar durch eine Kombination von drei wichtigen (D) genpolitik vornehmen möchte. Wir wollen uns da ent- Maßnahmen, die gleichzeitig durchgeführt werden müs- wicklungspolitisch einklinken. sen. Herr Königshaus, da sind wir nicht so weit aus- einander. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Erstens. Die Menschen brauchen wirkliche Alterna- tiven. Das kann Rosenöl sein, das kann Getreide sein Aber – da komme ich auf das, was Sascha Raabe – Afghanistan war früher Getreideexporteur; wir haben wegweisend gesagt hat – es gilt zweitens auch, den eine sehr erfolgreiche Zuckerproduktion auf die Beine EOD-Ansatz konzeptionell zu erweitern. Wir müssen gestellt –, das kann vieles sein. Aber es genügt nicht, noch mehr Bereiche in diese Konzeption einbeziehen, einfach zu sagen: Wir machen jetzt in Obst oder in Ro- zum Beispiel die Außenwirtschaft und die Handelspoli- senöl oder in Safran. Vielmehr müssen die Bauern davon tik. Ein gutes Beispiel dafür ist der Blumenanbau in Ko- ausgehen können, dass sie für das, was sie produzieren, lumbien. Fragen der ländlichen Infrastruktur, Fragen des einen anständigen Preis bekommen, dass sie eine Infra- Aufbaus der Verwaltung, des Landmanagements und des struktur haben, die es ihnen ermöglicht, zu den Märkten Schutzes der natürlichen Ressourcen sind ebenfalls zu gelangen, und dass sie ein produktionsfreundliches, wichtig. Wir haben auf unserem Kongress gesehen, wie einigermaßen gesichertes Umfeld haben. sehr der Drogenanbau auch mit Umweltzerstörung ver- bunden ist und wie sehr die Bekämpfung des Drogenan- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie baus mit der Urwaldzerstörung einhergeht. Weiterhin bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE verweise ich auf die Landreform und vieles mehr. Das GRÜNEN) heißt, dass wir den EOD-Ansatz konzeptionell erweitern Zweitens. Wir müssen die Unterstützung der lokalen müssen. Autoritäten und der Menschen auf dem Lande bekom- Da sind wir bei dem Thema von gestern, der ländli- men. Das ist gerade in Afghanistan sehr wichtig, und chen Entwicklung. Ländliche Entwicklung ist ein ent- zwar deswegen, weil sich die Mullahs auch auf den Ko- scheidender Punkt, ran beziehen können. Wir brauchen sie als wichtige, ent- scheidende Bündnispartner im Kampf gegen die Versu- (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Landbesitz!) che der Taliban, Gelände zurückzugewinnen. und zwar nicht nur zur Hunger- und Armutsbekämpfung, Drittens: der Sicherheitssektor. Es ist in der Tat so, nicht nur für den Kampf gegen die Umweltzerstörung, dass man in vielen Gegenden ohne den Schutz vor Re- sondern auch für einen vernünftigen und langfristig er- pression oder Gegenrepression nicht auskommt. Dazu 16530 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Dr. Christian Ruck (A) gehören nicht nur eine funktionierende Polizei und über- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) haupt eine funktionierende Gesetzgebung, sondern auch Monika Knoche spricht jetzt für die Fraktion Die ein funktionierendes Rechtswesen. Es darf niemand un- Linke. geschoren davonkommen, der hier verbrecherisch agiert. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Das ist mit die größte Herausforderung in Afghanistan. Winkelmeier [fraktionslos]) Es ist wahr: Die Korruption erstreckt sich auf die höchs- ten Kreise. Monika Knoche (DIE LINKE): (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Ruck und Herr Königshaus, ich darf sagen: Selten habe Wir müssen – auch von der afghanischen Regierung – ich Rednern Ihrer Fraktion so zustimmend zugehört wie eine größere Entschlossenheit verlangen, auch in ihrem jetzt. Sie haben klare Fakten über den tatsächlichen Zu- eigenen Stall auszumisten, wenn die Drogenmafia im ei- stand des Drogenanbaus, des Drogenhandels und des genen Kabinett vertreten ist. Drogenkonsums benannt, die niemand vom Tisch wi- schen kann. Insofern war das eine gute Voraussetzung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie für eine rationale Debatte über dieses Thema. Dennoch bei Abgeordneten der LINKEN und des muss ich sagen: Meine Schlussfolgerung daraus ist, dass BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hellmut der Krieg gegen Drogen eben doch nicht erfolgreich ist, Königshaus [FDP]: Und was macht ihr jetzt wie in dem Antrag unterstellt wird. dafür, dass die das tun?) Wichtig für die Herangehensweise ist: Es ist nicht aus – Unser Beitrag dazu kann sein, dass wir in Afghanistan der Welt zu schaffen, dass es immer Menschen gibt, die nicht mit einem Flickenteppich von Ansätzen und Me- durch Prohibition nicht davon abzuhalten sind, illegale thoden auftreten; vielmehr sollten wir uns noch stärker Drogen zu konsumieren, und dass das Verbot kriminali- als bisher absprechen, um mit einem einheitlichen Kon- siert, stigmatisiert, ohne den Drang nach Rauschzustän- zept aufzutreten. Das gilt übrigens auch für ein Wirt- den und das Verlangen nach psychotropen Substanzen zu schaftskonzept für ganz Afghanistan. Auch ein solches nehmen. Das ist ein Fakt, der bei Süchtigen ganz deut- Konzept muss einheitlich sein; sonst kann man keine al- lich einen Verlust an Lebensqualität und Gesundheit be- ternative Produktion zustande bringen. wirkt, weil der „war on drugs“ ihnen in dieser Realität nicht hilft. (Hellmut Königshaus [FDP]: Ach so! Jetzt fangen wir bald an!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (B) Wir sollten in diesem Zusammenhang auch darauf (D) achten, die Beziehungen zu unseren Verbündeten noch Das gilt ganz besonders für Heroin, weshalb diese Re- mehr zu pflegen. Das gilt für unsere Beziehungen zu Pa- gierung, um glaubwürdig zu sein, die Heroinsubstitution kistan, zum Iran und auch zu allen Ländern nördlich endlich auf rechtssichere Füße stellen muss. Das ist ihre Afghanistans. Pflicht. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Um auf das, was Sie, Herr Königshaus, gesagt haben, Winkelmeier [fraktionslos]) zurückzukommen: Wir müssen natürlich auch die Defi- zite in Deutschland sehen. Ich weiß, man stellt sich außerhalb des politischen Mainstreams, wenn man dem 30 Jahre währenden Krieg (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gegen Drogen das Scheitern attestiert. Doch auch die Das ist richtig!) Weltdrogenorganisation, UNODC, hat 2007 klare Aus- kunft gegeben: Der weltweit Kokain- und Cannabiskon- Ich war vor einer Woche in einem Heim für frisch entgif- sum ist nicht zurückgegangen. Die globale Heroinnach- tete drogenabhängige Jugendliche. Ich habe die Chefin frage wird von Afghanistan befriedigt. Das Kosovo ist des Hauses, eine Diplom-Psychologin, salopp gefragt: ein zentraler Umschlagplatz dafür. Afrika ist – das ist Was bringt diese Jugendlichen von der Droge ab, was schon seit zehn Jahren erkennbar – zum Transitknoten- können wir tun, damit diese Jugendlichen nicht in Dro- punkt für Kokain und Heroin geworden. Die Zahl der genabhängigkeit geraten und womöglich schlimm en- Süchtigen, die diese neuen Drogen dort konsumieren, den? Die Antwort war ganz klar und einfach: Die Bio- steigt beständig. grafie dieser jungen Leute zeigt, dass sie in ihrer Kindheit daran gelitten haben, zu wenig Zuneigung und Wahr ist auch: Der traditionelle Eigenverbrauch durch zu wenig Geborgenheit zu erhalten. Nutzung von Kokablättern als Arbeitshilfe und für medi- zinische Zwecke – das muss man in diesem Kontext nen- Ich möchte darauf verweisen, dass Drogenbekämp- nen – ist beispielsweise in den Andenländern schon im- fung ein sehr breites Spektrum ist. Wir haben noch mer verbreitet. In den Exportländern ist Drogenanbau schwierige Aufgaben im eigenen Lande zu bewältigen. aber oftmals auch die einzig mögliche Existenzgrund- lage für die bäuerliche Bevölkerung. Sie müssen endlich Vielen Dank. für eine Abschaffung der EU-Agrarsubventionen eintre- ten, um Bäuerinnen und Bauern beim Ausstieg aus der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Ute Drogenwirtschaft tatsächlich hilfreich zu sein. Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ha- ben Sie recht!) (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16531

Monika Knoche (A) Völlig klar ist: Es sind heute die Drogenmafia, War- Ich nehme die Vorschläge in Ihrem Antrag sehr gern (C) lords und Paramilitärs, die den Anbau dieser Pflanzen auf. Wir unterstützen eine ganze Reihe Ihrer Vorschläge, erzwingen, um Profite zu machen, politische Macht aus- zum Beispiel zu alternativen Entwicklungen in den An- zuüben und militärische Operationen genauso wie Waf- bauländern und zur Prävention des Drogenmissbrauchs. fenkäufe zu finanzieren. Es ist ein kriminelles Geflecht Ich finde es auch gut, dass Sie es als eine Möglichkeit entstanden, in dem harte Gewalt ausgeübt wird. ansehen, Landtitel an Bauern zu vergeben, und dass Sie Bildung im Rahmen der Präventionsstrategie erwähnen. Das negativste Beispiel dafür ist der „Plan Colom- Das unterstützen wir ausdrücklich. Auch muss die deut- bia“. Ich stimme den Ausführungen zu Kolumbien – ich sche Entwicklungszusammenarbeit – das ist ein Pro- weiß nicht mehr, wer sie gemacht hat – nicht zu. Der blem, das wir dieser Tage in den Medien verfolgen Plan bedeutet militärisch gestützte Agrarvernichtung konnten – dafür Sorge tragen, dass Teppichknüpferinnen und geht mit schweren ökologischen Schäden einher. in Afghanistan nicht unter so miserablen Arbeitsbedin- Der Einsatz dieser Mittel verunmöglicht einen nachhalti- gungen leiden, dass sie auf Mohnkonsum angewiesen gen ökologischen Anbau. Das ist ein großes Verbrechen sind, um ihre Arbeit verrichten zu können. Das muss gegenüber der bäuerlichen Bevölkerung in diesen Län- deutsche Entwicklungshilfe leisten. dern. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Infolge dieses Antrages wird es zu Ausschussberatungen kommen. Erst die Prohibition – auch das ist historisch richtig – Lassen Sie uns dort eine realistische Bilanz des Krieges hat die Kokainfabriken in den Dschungeln Lateinameri- gegen die Drogen ziehen. Lassen Sie uns auch Expertin- kas entstehen lassen. So ist eine Kulturpflanze zu einer nen und Experten anhören, die uns über die problemati- weltweit gehandelten Droge geworden. schen Auswirkungen der Prohibition – Angesichts dieser Tatsachen und des Befundes, dass 400 bis 500 Milliarden Euro Gewinn erzielt werden, die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: über Korruption und durch Geldwäsche in die Volkswirt- Frau Kollegin! schaften eindringen, kann keine Demokratin und kein Demokrat dem Krieg gegen Drogen Erfolg bescheini- gen, selbst beim besten Willen nicht. Monika Knoche (DIE LINKE): – auf Rechtsstaatlichkeit insbesondere in Form von (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Korruption in verschiedenen Ländern bis hin zu uns Winkelmeier [fraktionslos]) Auskunft geben können, damit wir ein realistisches Bild (B) (D) Ich plädiere also für ein pragmatisches Handeln. Ich davon bekommen, was die Prohibition alles anrichtet. weiß, ein Paradigmenwechsel in der Drogenpolitik ist (Beifall bei der LINKEN) nicht in Sicht. Dennoch: Zum Beispiel der kontrollierte Anbau von Mohn in Afghanistan – ich bin davon über- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zeugt, dass wir dieses Experiment wagen können – Ute Koczy spricht jetzt für die Bündnis 90/Die Grü- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) nen. kann dazu beitragen, den weltweiten Mangel an Schmerzmitteln zu beheben. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Kollegen! Ich begrüße diese Debatte über Drogenanbau Für Kolumbien gilt: Der Export von Tee und Kosmetika und Drogenhandel. Ich halte sie für wichtig. Es ist be- aus Koka wäre ein großer Gewinn für die Volkswirt- zeichnend, dass hier aus den Reihen der Entwicklungs- schaft dort. politiker Vorschläge gemacht werden, die, wie ich glaube, von allen geteilt werden. Uns allen ist ja klar, Es gibt also Möglichkeiten, auf legaler Grundlage den dass zahlreiche Entwicklungsprobleme mit dem Dro- Anbau dieser Kulturpflanzen zu gestatten und so sinn- genanbau und dem Drogenhandel einhergehen. Außer- volle Entwicklungen voranzutreiben. Man darf es nicht dem müssen wir feststellen: Der internationale Drogen- als Teufelswerk abqualifizieren. handel zählt analog zum Menschenhandel zu den extremen Schattenseiten der Globalisierung. Hier muss (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert man einmal einen Punkt machen und fordern, dass dage- Winkelmeier [fraktionslos]) gen auch global vorgegangen wird. Deutschland sollte – das ist mir sehr wichtig – in Russland und in den baltischen Staaten einen maßgebli- Wir wissen doch nur zu gut: Gewinne aus dem Dro- chen Impuls für „harm reduction“ geben; denn dort sind genanbau finanzieren einerseits rivalisierende Gruppen, Spritzdrogenabhängige noch immer die absoluten Out- paramilitärische Organisationen oder kriminelle Banden; laws der Gesellschaft. Sie müssen aus ihrem Elend he- sie destabilisieren Staaten; sie bilden das finanzielle rausgeführt werden. Auch so etwas gehört in bilaterale Rückgrat für viele terroristische Anschläge. Durch den Verhandlungen zwischen Russland und Deutschland. Drogenanbau wird andererseits der Anbau von wirt- schaftlichen Gütern in den betroffenen Ländern verhin- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) dert bzw. eine funktionierende Landwirtschaft ruiniert. 16532 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Ute Koczy (A) Bäuerinnen und Bauern haben kaum eine Chance, sich muss, mit wem man zusammenarbeitet und wie man das (C) gegen die Machtpotenziale, die hinter dem Drogenanbau auseinanderdividiert. stecken, ein Einkommen zu sichern. Das ist der Grund für viele Konflikte. Der Antrag räumt richtigerweise ein, dass die Ver- nichtung von Drogenanbauflächen nicht das Mittel erster Wir sehen es so, dass die Verbindung von Drogenan- Wahl sein darf. Das ist schon einmal ein Fortschritt. Die bau und Konflikten eine ernstzunehmende Gefahr für die Regierungsfraktionen sagen, man wolle in alternative Entwicklung vieler Länder und natürlich auch für Ent- Entwicklungsstrategien investieren. Das ist richtig so. wicklungsprojekte in Ländern wie Afghanistan, Kolum- Repressive Ansätze, wie sie in Kolumbien gefahren wer- bien, Bolivien und anderen darstellt. Wir dürfen aber den, also zero Tolerance, hätte man aber in dem Antrag auch nicht vergessen – das ist auch schon gesagt worden –: weitaus schärfer kritisieren müssen, denn es hat zu kei- Entwicklungsländer sind nicht mehr nur Produzenten, nen Erfolgen geführt. Wenn man dies diskutieren will, sie sind inzwischen auch zunehmend Konsumenten. Wir dann muss man auch klar sagen, dass diese Politik in haben uns, wie ich glaube, noch gar nicht richtig darauf Kolumbien nicht dazu geführt hat, dass der Drogenan- eingestellt, was das bedeutet. Von den weltweit mehr als bau abgeschafft wurde und es zu einer positiven Ent- 200 Millionen Drogenkonsumenten kommt eine zuneh- wicklung gekommen ist. Das muss man einmal klar fest- mend größere Zahl aus Entwicklungsländern. Ge- halten. schätzte 5 bis 10 Prozent der HIV/Aids-Erkrankungen sind Folge von Drogenabhängigkeit. Ich finde das alar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mierend. Wenn man über die Probleme des Drogenanbaus re- det, dann kommt man automatisch auch auf die Situation Vergessen wird in der Diskussion aber häufig auch, in Afghanistan zu sprechen. Hierzu ist bereits einiges ge- dass durch den Aufbau von kriminellen Strukturen und sagt worden. Lassen Sie mich noch einen Punkt ergän- Verkehrswegen für den Drogenhandel auch Nachbarre- zen. Wir müssen auf die Situation in Afghanistan auch gionen destabilisiert werden. Ich denke, darauf muss mit unkonventionellen Methoden reagieren. Auf eine man mit regionalen Konzepten reagieren. solche hat das Europäische Parlament hingewiesen. Es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hat sich im Oktober vergangenen Jahres für den Ankauf von Opium in Afghanistan zu medizinischen Zwecken Wenn man all das verändern will, braucht es eine Po- ausgesprochen und entsprechende Pilotprojekte ange- litik, die übergreifende Ansätze verfolgt. Benötigt wird regt. Ich schlage vor – hierum müssen wir uns alle küm- vor allem Good Governance. Wir brauchen also gute Re- mern –, dass man solche innovativen Ansätze diskutiert gierungen. Man muss einfach festhalten, dass im Augen- und gemeinsam voranbringt. Wir haben nämlich nur (B) blick keines der größeren Drogenanbauländer als eine dann eine Chance, ein Ende des Drogenanbaus in Afgha- (D) stabile Demokratie betrachtet werden kann. nistan zu erreichen, wenn es gelingt, auf innovative und moderne Art und Weise den Sumpf des Drogenanbaus Blicken wir jetzt einmal auf uns selber – das ist ja er- trockenzulegen. freulicherweise von Vertretern aller Fraktionen gemacht worden –: Bemerkenswert ist doch, dass die Nachfrage Danke. hier bei uns existiert. Solange es hier die Möglichkeit gibt, Geld zu verdienen, wird der Drogenanbau in den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Entwicklungsländern weitergehen. Unsere Nachfrage ist die Ursache für den Drogenanbau in den Entwicklungs- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ländern. Auch das meiste Geld aus diesem „Geschäft“ Sabine Bätzing spricht jetzt für die SPD-Fraktion. landet in den Industrieländern. Das muss man doch auch einmal ganz klar sagen. Jenseits der Diskussion, ob eine liberale oder eine repressive Drogenpolitik besser ist Sabine Bätzing (SPD): – dazu haben wir jetzt ja nicht die Zeit –, bleibt eines Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und klar: Man muss hier vor Ort ansetzen. Man kann den Kollegen! Meldungen über Entführungen von Politikern Kampf dort nicht gewinnen, wenn hier nichts passiert. durch Drogenkartelle in Lateinamerika, über Rekordern- Das zusammenzuführen, ist eine Aufgabe der Zukunft. ten von Opium in Afghanistan oder neuerdings über Drogenschmuggel in großem Umfang über Afrika ma- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen jedem deutlich, wie unverändert gefährlich Dro- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten genhandel und Drogenkriminalität heute sind. Deshalb der SPD) machen sich viele Deutsche zu Recht Sorgen. Und nicht nur wir Deutsche machen uns Gedanken. Diese welt- In dem Antrag wird eine Reihe von Vorschlägen ge- weite Bedrohung für die Sicherheit und Gesundheit der macht, die sehr genau diskutiert werden müssen, teil- Bevölkerung beschäftigt auch die internationale Staaten- weise gute Vorschläge, teilweise weniger gute; teilweise gemeinschaft und die internationalen Organisationen, in muss man hinterfragen, was gemeint ist. Fraglich ist denen ich als Drogenbeauftragte der Bundesregierung nämlich, wieso es dazu kommt, dass in vielen Staaten, die deutsche Drogenpolitik vertreten darf. die von uns auch immer unterstützt werden, die Regie- rung in den Drogenanbau so stark involviert ist. Dies Das Büro der Vereinten Nationen zur Drogen- und müssen wir doch zur Kenntnis nehmen. Ich meine, dass Verbrechensbekämpfung, UNODC, beurteilt die Situa- man, wenn man hier ansetzen will, sehr genau hingucken tion wie folgt – ich zitiere –: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16533

Sabine Bätzing (A) Weltweit betrachtet konnte das Drogenproblem in gegen Drogenhandel und -anbau in Entwicklungsländern (C) den vergangenen zehn Jahren einigermaßen stabil ziehen. gehalten werden. Es wurde aber bei weitem nicht gelöst. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hellmut Königshaus [FDP]: Genau! Und wie sehen die Liebe Kolleginnen und Kollegen, was heißt das konkret? – jetzt aus?) Von den weltweit geschätzt 13 Millionen intravenös Drogenkonsumierenden sind nach Angaben der Verein- Als Drogenbeauftragte unterstütze ich die Anliegen ten Nationen nur rund 40 bis 60 Prozent in Behandlung, des vorliegenden gemeinsamen Antrags von daher voll dies übrigens überwiegend in methadongestützter Sub- und ganz. Wenn wir heute diesen Antrag beraten, bezie- stitution. Asien steht mit 54 Prozent aller Heroinkonsu- hen wir als Parlament Stellung zu einem drängenden menten vor enormen Herausforderungen. Aber – auch globalen Problem, über dessen Lösung es weltweit dies haben wir in der Debatte bereits gehört – dringender durchaus unterschiedliche Vorstellungen gibt. Handlungsbedarf besteht auch in Afrika. Durch die Akti- Zwei Herausforderungen müssen wir aber dabei an- vitäten der Drogenmafia und der Drogenkartelle sind die nehmen: afrikanischen Staaten zunehmend gefährdet. Der Grund dafür ist die Verlagerung der Schmuggelrouten für den Erstens. Wie könnte ein verbesserter Kampf gegen Drogenhandel, für das Kokain auf Westafrika und für Drogenhandel und -anbau in Entwicklungsländern aus- das Heroin auf Ostafrika. sehen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir nicht ge- Zweitens. Wie kann dort ein angemessenes Hilfesys- meinsam mit der internationalen Gemeinschaft in diesen tem für die wachsende Zahl von Abhängigen aufgebaut Ländern tätig werden, ist zu befürchten, dass die betrof- werden? fenen afrikanischen Transitländer zu Staaten werden, in Ich möchte von den 16 konkreten Vorschlägen in dem denen eine Drogenwirtschaft aus Geldwäsche und Kor- vorliegenden Antrag vor allem auf die Bedeutung der al- ruption auf- und ausgebaut wird, die staatliche Sicher- ternativen Entwicklungspolitik eingehen; denn die alter- heit gefährdet ist und die Menschen schnell zu Drogen- native Entwicklungspolitik steht an einem Scheideweg. abhängigen werden. Es wird zwar, weltweit betrachtet, viel dafür getan; aber (Hellmut Königshaus [FDP]: Genau! Und was gemessen am Ausmaß des Problems ist das noch viel zu macht ihr jetzt?) wenig. Wie stellt sich die aktuelle Problematik dar? Lassen Für eine wirksame Bekämpfung des Drogenanbaus (B) Sie mich das noch einmal hervorheben: bedarf es einer umfassenden Strategie der alternativen (D) Entwicklung. Damit ist mehr als „eradication“, also die Erstens. Entwicklungsprobleme schaffen Drogenpro- Vernichtung, angesprochen. Die Vernichtung von Dro- bleme. Die Drogenprobleme wiederum hemmen massiv genanbauflächen darf gerade nicht – wir haben es ge- die nachhaltige menschliche und gesellschaftliche Ent- hört – das Mittel erster Wahl sein, insbesondere dann wicklung – ein Teufelskreis. nicht, wenn das Besprühen aus der Luft mit giftigen Substanzen Menschen und Umwelt gefährdet. Die Ver- Zweitens. Die Produktion, der Handel und der Miss- nichtung kann vielmehr eine flankierende Maßnahme al- brauch von Drogen finden heute vor allem in Entwick- ternativer Strategien sein. lungs- und Transformationsländern statt. Eine umfassende Strategie der alternativen Entwick- Drittens. Die Trennung der Problematik in Produk- lung muss im Wortsinne radikal sein, also die Wurzeln, tions-, Transit- und Konsumländer ist mehr und mehr die Ursachen des Drogenproblems beseitigen. Dazu ge- aufgehoben. hören die Förderung der guten Regierungsform, die Viertens. Die Ursachen und Folgen des Drogenmiss- Wirtschaftsförderung, die Bildungspolitik, die Sozial- brauchs, nämlich Armut, Konflikte, HIV/Aids, werden politik und die Bekämpfung der Drogenabhängigkeit so- immer brisanter. wie die Bekämpfung der organisierten Verbrechen. Die vielleicht größte Herausforderung stellt sich (Beifall bei der SPD) durch die zunehmende HIV-Epidemie unter Drogenkon- Der Exekutivdirektor der UNODC hat ein einprägsa- sumenten, die mittlerweile zum größten Teil Heroin inji- mes Bild gefunden. Er hat gesagt: Die Ausrottung der zieren und häufig gemeinsam Spritzbestecke benutzen. Drogenpflanzen funktioniert nur dann, wenn sie mit der Der intravenöse Konsum von Drogen hat erheblich zu- Ausrottung der Armut in den Anbauländern einhergeht. genommen und damit die HIV-/Aidsgefahren drastisch erhöht. Drogenkonsum kann auch zu einer erhöhten (Beifall des Abg. Christian Lange [Backnang] sexuellen Risikobereitschaft führen und verschärft damit [SPD]) noch die Gefahr einer HIV-Infektion. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit verfolgte Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir als poli- dieses Ziel der Nachhaltigkeit schon, als Sustainability, tisch Verantwortliche in Deutschland uns intensiv mit also Nachhaltigkeit, noch kein Modebegriff war. So ver- dem weltweiten Drogenproblem beschäftigen und politi- fügen wir über fast 30 Jahre reichhaltige und vielfältige sche Konsequenzen für die Verbesserung des Kampfes Erfahrung in der Förderung von Alternativen zu 16534 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Sabine Bätzing (A) Drogenanbau und -konsum, die wir vor allem in Asien Überweisungsvorschlag: (C) und Lateinamerika erworben haben. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Neuerdings wird zunehmend unsere Unterstützung in Ausschuss für Bildung, Forschung und einem weiteren Handlungsfeld stark nachgefragt, unsere Technikfolgenabschätzung Kompetenzen in der Prävention, der Beratung, der Be- Haushaltsausschuss handlung, der sozialen Wiedereingliederung sowie im Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie- Bereich der „harm reduction“, der Überlebenshilfen. Das ren, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf ist beispielsweise ein besonderer Wunsch unserer perua- Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. nischen Partner im Rahmen des bevorstehenden bilatera- Dann ist es so beschlossen. len Abkommens im Mai 2008. Der Grund dafür liegt in der Arbeit der Gesellschaft für Technische Zusammenar- Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem beit und anderer Einrichtungen im Bereich der entwick- Kollegen Markus Kurth für Bündnis 90/Die Grünen. lungsorientierten Drogenkontrolle, vor allem in Südost- asien, aber auch in Osteuropa wie in der Ukraine oder Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den baltischen Republiken. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade die neueren Wir haben uns in diesem Haus in der letzten Zeit des Öf- Projekte haben bewiesen, dass die Unterstützung im Prä- teren mit dem Thema bedarfsgerechter Regelsätze insbe- ventions- und im Behandlungsbereich für dauerhafte Lö- sondere für Kinder und Jugendliche beschäftigt. Ich sungen unerlässlich ist. Von daher – damit komme ich meine, es liegen gewichtige Gründe vor, warum wir dies zum Schluss – müssen wir unsere Ansätze und unser wieder tun sollten und warum vor allen Dingen die Re- Know-how noch selbstbewusster vertreten. Gemäß dem gierungsfraktionen mit Nachdruck zum Handeln aufge- Grundsatz „Trial, not error“ sollten wir beim Transfer fordert sind. unserer Erfahrungen und Kompetenzen in andere Länder Der erste Grund. Nach den jüngsten revidierten Daten auch neue Wege erproben. der Bundesagentur für Arbeit lebten im Dezember 2007 in Deutschland 1,85 Millionen, also fast 2 Millionen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kinder unter 15 Jahren in Familien, in denen die Eltern Frau Kollegin! SGB-II-Leistungen bezogen. Dabei sind, wie gesagt, die Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren noch Sabine Bätzing (SPD): nicht einmal berücksichtigt. Die Dimension des Pro- Ich komme zum Schluss. blems verharrt aber auf einem recht hohen Niveau von etwa 1,9 Millionen. An dem Aufschwung haben dem- (B) Es ist deshalb mein Bemühen, bei der im März 2009 (D) anstehenden Neuformulierung der drogenpolitischen nach Familien, die Leistungen nach SGB II beziehen, Grundsätze der Vereinten Nationen zwei Dinge zu errei- und damit deren Kinder nicht nur nicht angemessen teil, chen: dass erstens dem umfassenden entwicklungspoliti- sondern er geht vollständig an ihnen vorbei. Die Dimen- schen Ansatz der Drogenkontrolle ein größeres Gewicht sion des Problems ist somit keineswegs geringer gewor- eingeräumt wird und dass zweitens die für die deutsche den. Das ist ein Skandal, der Sie zum Handeln veranlas- und die europäische entwicklungsorientierte Drogenkon- sen sollte. trolle gültigen Prinzipien so weit wie möglich auch bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – den Vereinten Nationen Eingang finden. Zustimmung bei Abgeordneten der LINKEN) Herzlichen Dank. Das Gleiche gilt insgesamt für die Armutsentwick- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. lung. Die neuesten Daten, die jetzt aus dem Sozio-oeko- Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]) nomischen Panel durchgesickert sind – das ist die beste Datengrundlage, die man im Bereich der Armuts- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: forschung in Deutschland hat –, legen nahe, dass offen- Ich schließe die Aussprache. sichtlich ein Viertel aller Familien mit Kindern unter der Armutsschwelle lebt. Das ist eine für die Gesellschaft, Interfraktionell ist verabredet, die Vorlage auf Druck- wie ich finde, bedrohliche Entwicklung, insbesondere sache 16/8776 an die in der Tagesordnung aufgeführten wenn man bedenkt, dass die Geburtenraten sinken und Ausschüsse zu überweisen. – Damit sind Sie offensicht- dass offensichtlich der Anteil der Kinder, die in Armut lich einverstanden. Dann ist so beschlossen. leben, pro Jahrgang zunimmt. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Der zweite Grund, warum wir uns dringend mit dem Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Thema bedarfsgerechter Regelsätze beschäftigen müs- Kurth, Ekin Deligöz, Britta Haßelmann, weiterer sen, ist der Preisauftrieb. Preisbereinigt sind die Leistun- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ gen beim Arbeitslosengeld II von 2003 bis 2007 ohnehin DIE GRÜNEN um 7 Prozent gesunken. Allein im ersten Quartal 2008 haben wir einen weiteren Auftrieb um 1 Prozent zu ver- Existenzsicherung und Teilhabechancen für zeichnen. Dies ist umso besorgniserregender, als die Kinder und Jugendliche durch bedarfsge- Preise für die Warengruppen, die für die ärmeren Teile rechte Kinderregelsätze gewährleisten der Bevölkerung besonders wichtig sind – zum Beispiel – Drucksache 16/8761 – Nahrungsmittel –, überproportional gestiegen sind. In Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16535

Markus Kurth (A) dem Bereich haben wir eine noch höhere Inflationsrate (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) zu verzeichnen. und bei der LINKEN – Zuruf von der SPD: Da könnt ihr in Hamburg anfangen!) Angesichts der Tatsache – Sie stimmen dem ja auch im Prinzip zu, wenn man mit Ihnen einzeln redet –, dass Auf welchem Niveau diese Debatte von den anderen die Regelsatzanteile, die für Ernährung vorgesehen sind, Ministern im Kabinett der Bundesregierung geführt keinesfalls ausreichen – für unter 14-Jährige beträgt die- wird, möchte ich abschließend mit einem kurzen Zitat ser Anteil 2,64 Euro –, muss uns der aktuelle Preisauf- von unserem Ernährungsminister Horst Seehofer auch trieb doppelt besorgt stimmen. vom gestrigen Tage aufzeigen, der auf die Frage meiner Kollegin Ulrike Höfken nach den gestiegenen Lebens- Nun ist mir selbstverständlich klar, dass allein die Er- mittelpreisen und danach, ob man da nicht die Regel- höhung von Regelsätzen bei weitem keine hinreichende sätze erhöhen müsse, zum Besten gab: Maßnahme ist, um Kinderarmut dauerhaft zu verhin- dern. Wir … haben eine ganze Menge getan – ich erin- nere an den Kinderzuschlag, BAföG und die Ren- Meine Fraktion sieht die Verhinderung von Kinderarmut tenerhöhung … in einem Zusammenspiel von Sozialpolitik, Bildungs- politik, insbesondere frühkindlicher Bildung, und – auch Er fuhr fort: das ist eine notwendige Bedingung – Sicherung der ma- teriellen Existenz. … wissen Sie auch, dass die Bundesregierung das Menschenmögliche auf diesem Feld getan hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: So ist es! – Die Frage ist jetzt – damit komme ich zum dritten und Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) letzten Grund, warum wir uns damit beschäftigen müs- sen –: Was tut die Bundesregierung? Sie tut nichts. Franz – Ich bitte Sie: Wenn das für Sie das Menschenmögliche Müntefering hat im November letzten Jahres in einem ist, dann sieht es für die Leistungen der Großen Koali- Interview in der Süddeutschen Zeitung angekündigt: tion traurig aus. Wir sammeln Erkenntnisse zu den Preisentwicklun- Handeln Sie und versuchen Sie vor allen Dingen, den gen. Ich meine, dass wir vor allem darauf achten Erkenntnisgewinn in Ihrem eigenen Kabinett besser vo- müssen, dass Kinder von Familien mit niedrigen ranzutreiben! Einkommen in Kindertagesstätten und Schulen aus- Vielen Dank. reichendes und gutes Essen bekommen. Das hilft (B) konkret. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Max Straubinger spricht jetzt für die CDU/CSU-Frak- Dem kann man nur zustimmen; da bekomme ich auch tion. Applaus von der SPD-Fraktion. Er sagte dann aber auch noch: Max Straubinger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen schnell entscheiden – ich meine, bis Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der Grü- Mitte November. nen, der letztendlich zum Ziel hat, die Kinderregelsätze (Jörg Rohde [FDP]: Welches Jahr?) anzuheben. Die Grünen meinen in ihrem Antrag – das wurde schon angesprochen –, dass sie zu gering sind. Jetzt haben wir Ende April und es ist noch überhaupt nichts entschieden. Es ist wichtig, darzustellen, dass bei uns die Existenz- sicherung gewährleistet ist und dass die entsprechenden Gestern in der Fragestunde habe ich den zuständigen Sätze in einem bewährten Verfahren, das Sie, Herr Kol- Staatssekretär gefragt, wann die Bundesregierung die an- lege Kurth, und Ihre Partei mit beschlossen haben, über- gekündigten minimalen Maßnahmen – Einschulungs- prüft und immer wieder angepasst werden. hilfe und Essen – angehen möchte. Darauf bekomme ich vom Staatssekretär die Antwort: Natürlich kann man sich über Verfahrensfragen strei- ten. Aber ich glaube, dass diese Bundesregierung einen Im Zusammenhang mit Leistungen für den Schul- großen Beitrag dazu leistet, zu überprüfen, ob es ange- bedarf werden Überlegungen angestellt, ob und ge- messen ist, Regelsätze neu zu bestimmen, oder darüber gebenenfalls wo zusätzliche Hilfen geleistet werden hinaus den Menschen in Deutschland mit vielen flankie- können. Die Überlegungen sind noch nicht abge- renden Maßnahmen zu helfen, dass sie nicht in Armut schlossen. abgleiten, sondern im Gegenteil aus existenziellen Ängs- ten herausgeführt werden. Hier hat diese Bundesregie- Was gibt es denn groß zu überlegen angesichts der Fak- rung bisher eine großartige Arbeit geleistet. ten, die ich eingangs in meiner Rede dargelegt habe? Sie brauchen nicht mehr zu überlegen; Sie müssen handeln, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und zwar sofort. neten der SPD) 16536 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Max Straubinger (A) Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinwei- Hier wird dargelegt, dass Finanzleistungen von den El- (C) sen, dass bei der Bekämpfung von Armutsfallen vor al- tern verantwortungsbewusst eingesetzt werden und für len Dingen entscheidend ist, darauf zu achten, dass Ar- die Kinder verwandt werden. Das führen Sie in Ihrem beitsplätze in Deutschland entstehen und für die Antrag noch weiter aus. Ich begrüße es sehr, Herr Kol- Menschen verfügbar sind. Hier ist ein großer Erfolg die- lege Kurth, dass Sie das so darlegen; denn damit bestäti- ser Bundesregierung zu verzeichnen. Der Abbau von gen Sie, dass diese Bundesregierung auf dem richtigen 1,7 Millionen Arbeitslosen ist ein Beleg dafür. Weg ist. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Beifall bei der CDU/CSU) Reden Sie doch mal über die Kinder!) Die Kollegen von den Grünen beantragen, die Regel- Ein Beleg dafür ist auch, dass viele Langzeitarbeitslose sätze neu zu gestalten. Herr Kollege Kurth, ich bin über- wieder auf dem Arbeitsmarkt Zukunftsperspektiven ha- zeugt, dass den betroffenen Familien in keiner Weise ge- ben. Damit sind auch für ihre Familien und Kinder bes- holfen wäre, wenn wir ein neues Verfahren einführen sere Zukunftschancen erarbeitet worden. Auch das ist würden. ein Erfolg dieser Bundesregierung. (Rolf Stöckel [SPD]: So ist das!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dies würde nämlich einen weitaus größeren Zeitraum in Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU], zum Anspruch nehmen als die Erstellung der Erwerbs- und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Die Verbrauchsstatistik, für die zurzeit die Daten erhoben Fraktion mit den wenigsten Kindern hat hier werden. Ich bin davon überzeugt, dass sich der Regel- die lauteste Klappe!) satz, wenn ein neues Preisgefüge festgestellt würde, zu- gunsten der Familien und vor allem der Kinder verän- Es muss verdeutlicht werden, dass sich nicht nur die dern würde. Situation der Langzeitarbeitslosen verbessert hat, son- dern dass wir es im Rahmen der Hartz-IV-Regelungen (Rolf Stöckel [SPD]: Genauso ist das!) auch geschafft haben, Menschen über geringfügige Be- schäftigungsverhältnisse Hinzuverdienstmöglichkeiten und Herr Kollege Kurth, natürlich kann man sich darüber damit zukünftige finanzielle Chancen zu ermöglichen. streiten, ob die jetzige Einteilung – von 1 bis 14 Jahre Auch das ist ein Erfolg unserer Bundestagsfraktion. und von 15 bis 18 Jahre – gerechtfertigt ist. Man kann sich darüber unterhalten, diesbezüglich zu der Regelung, (Beifall bei der CDU/CSU) die im früheren Sozialhilferecht galt – von 1 bis 6 Jahre, von 7 bis 12 Jahre und von 12 bis 18 Jahre –, zurückzu- (B) Diese Bundesregierung hat einen großen Beitrag zur kehren. Natürlich kann man sich immer wieder trefflich (D) Unterstützung der Familien geleistet, und zwar in vielen darüber streiten, ob diese Parameter richtig gesetzt sind Bereichen. Ich möchte auf die Familienpolitik eingehen: oder nicht. Wir sind zu einem Austausch darüber bereit. Die Betreuungseinrichtungen in Deutschland werden Das Entscheidende ist aber, dass wir eine Politik ma- besser gefördert, wodurch mehr Betreuungsplätze für chen, mit der wir die Familien und insbesondere die Kin- Kinder angeboten werden können. Ich sage bewusst: der in großem Umfang unterstützen. „Chancen für Kinder“ bedeutet nicht nur, einen relativ hohen Regelsatz, also Geldleistungen zu gewähren, son- Hier sind aber nicht nur die Bundesregierung und die- dern in erster Linie bedeutet das, den Kindern Bil- ses Parlament gefordert, sondern auch die Länder. Auch dungschancen zu eröffnen. So wird über die Förderung sie müssen ihren Beitrag leisten. der Betreuungseinrichtungen frühkindliche Bildung ge- (Jörg Rohde [FDP]: Richtig!) fördert. Die Bundesregierung stellt 4 Milliarden Euro zur Verfügung, damit mehr Betreuungsplätze geschaffen Ich kann nur alle auffordern, dem Beispiel Bayerns zu werden können, und stellt sicher, dass die Betreuung von folgen: Die Lernmittelfreiheit ist in Bayern gesichert; guten Fachkräften ausgeübt wird. Das ist ein Erfolg die- das ist nicht überall so. ser Bundesregierung. (Jörg Rohde [FDP]: Und das Büchergeld!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) – Das ist schon längst wieder abgeschafft, Herr Kollege Herr Kollege Kurth, ich möchte in diesem Zusam- Rohde. menhang betonen, dass es wichtig ist, ein Betreuungs- (Jörg Rohde [FDP]: Aber Sie haben es geld einzuführen. Sie bekämpfen das Betreuungsgeld erfunden!) normalerweise und sagen, dass das nichts Gutes sei. Ich bedanke mich deshalb sehr herzlich für Ihren Antrag, in Die Übernahme der Kosten für den Schulweg ist in Bay- dem Sie feststellen – ich darf mit Erlaubnis der Präsiden- ern Selbstverständlichkeit. Das Mittagessen für bedürf- tin zitieren –: tige Kinder wird in Bayern im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe geleistet; auch das ist gesichert. Im Bereich Das weit verbreitete Vorurteil, die materiellen So- der Sonderausstattungen – Taschenrechner und Atlanten zialleistungen würden nicht bei den Kindern an- in Schulen – wurden Regelungen gefunden. Eltern zei- kommen, ist nach dieser – von der Bundesregierung gen sich verantwortlich für Kinder, die unter finanziellen bisher unbeachtet gebliebenen – Untersuchung Gesichtspunkten mit besonderen Benachteiligungen le- nicht haltbar. ben müssen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16537

Max Straubinger (A) Viele Kommunen in Bayern haben sich mittlerweile Die Qualität der schulischen Bildung, das gemeinsame (C) unter dem Stichwort „Kinderfreundliche Kommune“ Aufwachsen mit anderen Kindern und die freie Wahl der entschieden, den Eltern bei Schulbeginn 50 Euro zur Berufsausbildung dürfen nicht von den Einkommensver- Verfügung zu stellen, damit sie zusätzliches Geld haben, hältnissen der Eltern abhängig sein. um den Schulgrundbedarf ihrer Kinder zu decken. Das zeigt sehr deutlich, dass wir viele soziale Leistungen er- (Beifall bei der FDP) bringen. Daran sollten sich einige Länder – das gilt ins- In der Gesetzgebungstheorie haben wir diesen Zu- besondere für ein bestimmtes rot-rot regiertes Land – ein stand erreicht. In der gesellschaftlichen Realität sind wir Beispiel nehmen und uns folgen. davon in vielen Fällen leider noch sehr weit entfernt. Zu (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ralf Brauk- oft – nicht immer – kommt die finanzielle Unterstützung siepe [CDU/CSU]: Ja! Nur Nordrhein-Westfa- nicht beim Kind an, und immer wieder fehlen Angebote len ist noch besser!) der praktischen Hilfe vor Ort, durch die die Kinder und die Eltern bei der Verwirklichung der Chancengleichheit – Nordrhein-Westfalen mag noch besser sein. Aber das unterstützt werden könnten. Im Namen der FDP begrüße ist ja das Schöne am föderalistischen Wettbewerb, dem ich ausdrücklich, dass die Kolleginnen und Kollegen wir offen gegenüberstehen und den wir auch zu gestalten von den Grünen diesen Handlungsbedarf in ihrem heute wissen. zur Beratung anstehenden Antrag unterstreichen. Ich glaube, dass die Bundesregierung in puncto Un- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ terstützung der Familien und insbesondere der Kinder DIE GRÜNEN) bisher vorbildliche Leistungen erbracht hat. Den darin vorgeschlagenen Weg einer Regelsatzerhö- Lassen Sie mich mit Blick auf Bayern noch auf einen hung begrüße ich dagegen ganz und gar nicht. weiteren Aspekt zu sprechen kommen: Ich glaube, dass es großen Vorbildcharakter hat, dass Bayern allen Mi- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Was? Warum grantenkindern, bei denen es notwendig ist, im vorschu- denn das nicht?) lischen Bereich Sprachunterricht angedeihen lässt. Um nicht falsch verstanden zu werden, liebe Kolle- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ginnen und Kollegen auf der linken Seite dieses Hauses: Damit schaffen wir die Grundvoraussetzungen dafür, Ich teile Ihre Auffassung, dass mehr Geld in die Chan- dass Kinder, die aufgrund ihrer Herkunft oder aus ande- cengleichheit unserer Kinder investiert werden muss. ren Gründen sprachlich benachteiligt sind, eine beson- (Beifall des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE]) (B) dere Förderung bekommen, damit sie später, wenn sie (D) auf einer Grundschule oder einer weiterführenden Meine Fraktion und ich sind aber skeptisch, ob eine Er- Schule sind, angemessene Leistungen erbringen können. höhung des Regelsatzes für Kinder der richtige Weg da- Das ist die Grundlage dafür, dass diese Kinder in ihrem hin ist. Wir leben in einem bürokratischen Dschungel et- späteren beruflichen Leben gute Zukunftschancen ha- licher unterschiedlicher Ansprüche von Kindern und ben. unterschiedlicher Leistungen für Kinder. Es gibt zwei verschiedene Sätze beim Kindergeld, je nach Anzahl der In diesem Sinne werden sich die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen weiterhin dafür einset- Kinder, zwei verschiedene Sätze beim ALG II, je nach zen, dass Kinderarmut in Deutschland vermieden wird Alter des Kindes, und dass in Zusammenarbeit mit den Ländern auch zu- (Rolf Stöckel [SPD]: Früher waren es sogar künftig geeignete Unterstützungsleistungen gewährt vier!) werden. drei Sätze beim Mindestunterhalt, ebenso je nach Alter Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. des Kindes, und einen Kinderzuschlag, der auch nicht je- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dem Kind zugutekommt. Dieses Leistungswirrwarr ist neten der SPD) für die FDP keine Bedarfsgerechtigkeit, sondern nichts anderes als eine Ungleichbehandlung unserer Kinder. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der FDP – Rolf Stöckel [SPD]: Na Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Jörg ja! Wollen wir mal nicht übertreiben!) Rohde. Meine Damen und Herren, es macht wenig Sinn, die- (Beifall bei der FDP) sen Dschungel mithilfe einer Regelsatzerhöhung durch- queren zu wollen. Wir müssen diesen Leistungsdschun- Jörg Rohde (FDP): gel lichten. Denn der Sozialstaat ist nur dann sozial, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen wenn sich seine Bestimmungen jeder Bürgerin und je- und Herren! Faire Chancen für jedes Kind – seit langem dem Bürger erschließen. Die Antwort der FDP auf die- ist dies das Credo der FDP. Denn wir alle wissen: Was in ses Problem ist das liberale Bürgergeld. den ersten Jahren schiefgeht, wird meistens nicht mehr (Frank Schäffler [FDP]: Richtig! – Christian aufgeholt. Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt kommt das (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) wieder! Ich habe es geahnt!) 16538 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Jörg Rohde (A) Das leistungsgerechte Bürgergeld fasst steuerfinan- Es orientiert sich an der Grundsicherung im Alter und (C) zierte Transferleistungen zu einem Universaltransfer zu- am derzeitigen Durchschnittssatz für die Langzeitar- sammen, beitslosen. Für Familien mit einem entsprechenden Fa- milieneinkommen gibt es einen Freibetrag in Höhe von (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das nützt aber 8 000 Euro pro Haushaltsmitglied. Wenn man das durch- nur den Besserverdienenden!) rechnet, kommt man im Hinblick auf die Bekämpfung zum Beispiel Arbeitslosengeld II einschließlich der Leis- der Kinderarmut zu einem ganz anderen Ergebnis. Tun tungen für Unterkunft und Heizung, Sozialgeld, Grund- Sie das einmal, Herr Kollege Kurth. sicherung, Sozialhilfe – ohne die Hilfe in besonderen Das ist eine moderne Sozialpolitik, die für faire Chan- Lebenslagen –, Kinderzuschlag und Wohngeld. Das be- cen für jeden steht. Leider muss ich gestehen, dass ich deutet mehr soziale Gerechtigkeit und weniger Sozialbü- nicht daran glaube, die Koalition von diesem Modell rokratie. überzeugen zu können.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Auf keinen Fall! – Herr Kollege Rohde, möchten Sie eine Zwischenfrage Zuruf von der FDP: Das ist bitter!) des Kollegen Kurth zulassen? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jörg Rohde (FDP): Herr Kollege, Sie haben die Gelegenheit, eine Zwi- schenfrage des Kollegen Strengmann-Kuhn zuzulassen Sehr gerne. und vielleicht ihn zu überzeugen.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jörg Rohde (FDP): Bitte schön. Gern.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Verehrter Kollege Rohde, beschleicht Sie nicht viel- Bitte schön. leicht das Gefühl, dass Sie am Thema vorbeireden? (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN): Man muss auch fragen, welche Höhe das Bürgergeld ha- Herr Kollege, Sie haben gesagt, dass das Bürgergeld (B) ben soll. Ich habe gar nicht in Abrede gestellt, dass früh- für Erwachsene 662 Euro betragen soll. Soll es Ihrer (D) kindliche Bildung die Voraussetzung für die langfristige Auffassung nach auch für Kinder 662 Euro betragen, Armutsvermeidung ist. oder wie hoch sollte es sein? Sollte es höher sein als die derzeitigen 208 Euro pro Kind? Welche Größenordnung Unser Antrag setzt sich aber mit der Frage auseinan- stellen Sie sich mit Blick auf das Bürgergeld für Kinder der, ob der Betrag von 208 Euro ausreicht, um ein Kind vor? unter 13 Jahren über die Runden zu bringen. Stimmen Sie mir zu, dass dieser Betrag nicht aus- Jörg Rohde (FDP): reicht, oder nicht? Ich habe eben darauf hingewiesen, dass es für Fami- lien mit einem entsprechenden Familieneinkommen ei- Jörg Rohde (FDP): nen Freibetrag gibt. Wenn es nach mir ginge, sollte auch für jedes Kind ein Betrag von 662 Euro gelten. Man Ich komme zu einem späteren Zeitpunkt zu dem kon- muss jetzt die Einzelanforderungen gegenüberstellen. kreten Vorschlag, den die Grünen gemacht haben, zu- rück. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Oh! – Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Ich möchte Ihnen aber zur Kenntnis geben, dass ich NIS 90/DIE GRÜNEN] nimmt Platz) gerade die Vision der FDP darstelle und beschreibe, wie es insgesamt besser gemacht werden könnte. Denn Sie – Herr Kollege Strengmann-Kuhn, bleiben Sie ruhig wissen: Bei jeder einzelnen der Sozialleistungen, die ich noch ein bisschen stehen, ich bin mit meiner Antwort aufgezählt habe, entsteht natürlich Verwaltungsaufwand. noch nicht fertig. Mir fehlt schon ein wenig Redezeit, Wenn wir diesen Verwaltungsaufwand reduzieren, steht das kann ich Ihnen versichern. für die Leistungen an die Bürger selbstverständlich mehr Geld zur Verfügung. Die Kinder haben einen Bedarf, und der richtet sich genau wie der für Erwachsene nach den heutigen Le- Der nächste Satz in meinem Redemanuskript, werter bensumständen: Man muss gemeinsam das Heizöl be- Kollege Kurth, bezieht sich auf die von der FDP vorge- zahlen, und die Lebenshaltungskosten sind hoch; das ist schlagene Höhe des Bürgergeldes. Nun möchte ich das überhaupt keine Frage. Geheimnis lüften: Aus Sicht der FDP soll das Bürger- geld 662 Euro im Monat betragen. Können Sie denn im heutigen System einen Durch- schnitt dessen, was an staatlichen Transferleistungen (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Was möglich ist, für jedes Kind in Deutschland berechnen? für eine Aufzählung!) Ich habe am Anfang meiner Rede ausgeführt, wie viele Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16539

Jörg Rohde (A) verschiedene Leistungen es gibt. Es ist nahezu undurch- Wir sind davon überzeugt, dass, wenn wir weniger Büro- (C) schaubar. Deswegen wird es schwierig für Sie, nachzu- kratie haben, Etliches davon wieder hereinkommt. Wir weisen, ob das, was heute gezahlt wird, mehr oder weni- stehen zu diesem Konzept. Sie können gerne mit einem ger ist. Ich denke, der von uns vorgeschlagene Betrag eigenen Konzept aufwarten; aber bislang hat keine an- liegt über dem, der heute gezahlt wird. Soweit meine dere Fraktion ein Alternativkonzept vorgelegt. Wir wer- Antwort, Herr Dr. Strengmann-Kuhn. den bei der nächsten Bundestagswahl wieder mit unse- rem Konzept werben. Schwarz-Rot, aber auch jeder andere, der Vorschläge zu Einzeltatbeständen macht, schmückt sich gerne mit (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Bayern kommt Wohltaten und Wahlgeschenken. Zahlreiche hübsche mit einem eigenen Steuerkonzept!) Geschenke kommen bei den Leuten an. Sie können sich feiern lassen. Wir wollen den großen Wurf. Zu einem anderen Punkt. Die Kinder können nicht warten, bis die FDP im Herbst 2009 wieder den politi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schen Kurs der Bundesregierung mitbestimmt. Herr Rohde, Sie haben die Chance auf eine Zwischen- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und frage des Kollegen Müller. der SPD)

Jörg Rohde (FDP): Deshalb verschließen wir uns keiner vernünftigen Lö- sung für eine neue Bedarfsfestsetzung bei den Regelsät- Ich bedanke mich für das Interesse. Gern, Herr Kol- zen. Im Juni wird im Ausschuss für Arbeit und Soziales lege Müller. eine Anhörung zur Höhe der Regelsätze durchgeführt. Lassen Sie uns diese Anhörung abwarten; danach kön- Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): nen wir gegebenenfalls eine Neufestsetzung vornehmen. Vielen Dank, Herr Kollege Rohde, und vielen Dank für Ihre Großzügigkeit, Frau Präsidentin. Die Grünen führen zur Begründung ihrer Forderung nach höheren Regelsätzen für Kinder die Kosten von Herr Kollege Rohde, könnten Sie uns eine ungefähre Bus und Bahn, bildungsbedingte Ausgaben, Schulspei- Vorstellung davon verschaffen, was die von Ihnen vorge- sung, Vereinsbeiträge, Lernmittel, Schulmaterial usw. schlagenen Maßnahmen, inklusive eines entsprechenden an. Werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Bürgergeldes für die Kinder, kosten würden? Wenn Sie ich kann ja nachvollziehen, dass Sie als eine Partei, die den Betrag kennen, frage ich Sie: Können Sie uns erklä- nur in einem einzigen Bundesland mitregiert – auch das ren, wie sich das mit den ständigen Forderungen der (B) erst seit kurzem wieder – und die im Bundestag die (D) FDP nach einem ausgeglichenen Haushalt verträgt? Ih- kleinste Fraktion stellt, jedes Mittel nutzen, um Auf- rer Meinung nach ist die Große Koalition ja schon jetzt merksamkeit auf sich zu lenken. Der Bundestag ist für wenig ambitioniert, einen ausgeglichenen Haushalt vor- diese Fragen allerdings der falsche Ansprechpartner. zulegen. (Rolf Stöckel [SPD]: Das stimmt!) Jörg Rohde (FDP): Bildung ist Ländersache, und das sollte auch so bleiben. Herr Kollege Müller, lassen Sie mich zunächst einmal Nachdem ich die Antworten der Bundesregierung mitbe- sagen, dass ich von Ihnen enttäuscht bin: Sie waren doch kommen habe, Herr Staatssekretär, muss ich sagen: Die- in der letzten Legislaturperiode im Finanzausschuss und ser Hinweis gilt auch für die Bundesregierung. Es ist müssen dort mit dem Steuerkonzept der FDP-Bundes- Aufgabe der Länder, allen Kindern einen gleichberech- tagsfraktion bzw. von Herrn Solms zu tun gehabt haben. tigten Zugang zu Bildung zu ermöglichen und diejenigen Wir haben dieses Konzept – es hat die Form eines Ge- zu unterstützen, die zusätzliche Hilfe nötig haben. Belas- setzentwurfes – in dieser Legislaturperiode aktualisiert. sen Sie diese Aufgabe bei den Ländern; sonst werden Die FDP-Fraktion ist die einzige Fraktion, die einen Ge- sich die Länder aus ihrer Verantwortung schleichen. Für setzentwurf für ein einfaches und gerechtes Steuersys- die Betroffenen würde das bedeuten, dass sie zwischen tem eingebracht hat. den Behörden hin und her geschickt werden. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig! – Rolf Stöckel [SPD]: Einfach und gerecht, das Ich fasse zusammen: Wir brauchen einen unbürokrati- passt nicht zusammen!) schen Sozialtransfer in Form des von den Liberalen vor- geschlagenen Bürgergeldes, ein einfaches und gerechtes Um Ihnen auf die Sprünge zu helfen: Unser Konzept ist Steuersystem, bei dem die Familien im Vordergrund ste- immer noch aktuell. Es wird derzeit im Zusammenhang hen, und finanzstarke Länder und Kommunen, die ihren mit dem nächsten Bundesparteitag der FDP fortgeschrie- grundgesetzlichen Aufgaben im Bildungsbereich nach- ben. Wie wir im Wahlkampf 2005 erläutert haben, belau- kommen können. Lassen Sie uns gemeinsam daran ar- fen sich die Einnahmeausfälle durch die Steuersenkun- beiten! Die Vorschläge der FDP liegen auf dem Tisch. gen auf circa 17 Milliarden Euro. Wir gehen davon aus, dass die Wirtschaft dadurch so sehr in Schwung kommt, Vielen Dank. dass diese nach kurzer Zeit gegenfinanziert sind. (Beifall bei der FDP – Zuruf von der CDU/ (Lachen bei Abgeordneten der SPD) CSU: Die werden nicht besser!) 16540 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: auf eine Reihe von Abschlägen bei Einzelpositionen ver- (C) Jetzt hat der Kollege Rolf Stöckel für die SPD-Frak- zichtet. tion das Wort. Bei allen Empörungskampagnen zum Thema Kinder- armut – im Übrigen werden sie jetzt durch die Empörung Rolf Stöckel (SPD): über die Altersarmut in 20 Jahren abgelöst –: Die Äuße- rungen von Herrn Laumann und die Auffassung Ihrer Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fraktion sind im Hinblick auf die bedarfsgerechten Kin- Lieber Markus Kurth, das Grundanliegen Ihres Antrags derregelsätze nicht sachgerecht und auch nicht seriös. – die Kinderarmut besser zu bekämpfen – teilen wir So- Würde der spezifische Bedarf von Kindern so festgelegt, zialdemokraten ohne Zweifel. Es bleibt wahr: Sie kön- wie in Ihrem Antrag vorgesehen, dann wäre er ebenso nen nicht auf ewig für alles in Haft genommen werden, angreifbar wie die derzeitigen Regelsätze. Die OECD was eine erfolgreiche rot-grüne Regierungskoalition in hat herausgefunden, dass die Ableitungssätze für Kinder den Jahren vor 2005 beschlossen hat. vom Regelsatz für den Haushaltsvorstand im internatio- Aber als ich Ihren Antrag gelesen habe, wurde mir ei- nalen Vergleich fast überall deutlich unter denjenigen in nes klar: Sie machen nicht nur in Hamburg eine Koali- der aktuellen deutschen Regelsatzverordnung liegen. tion mit der CDU – das steht jedem frei –, Sie machen Eine Fortschreibung der Transfers anhand der Preis- auch gemeinsame Sache mit dem Kollegen Laumann, entwicklung lehnen wir klar ab, weil dies nicht nur zu ei- der in NRW Sozialminister ist und schon im Oktober ner ungerechtfertigten Besserstellung der Empfänger 2007 behauptet hat, dass nie wissenschaftliche Erkennt- von Transferleistungen gegenüber den Erwerbstätigen nisse zur Bemessung des Regelsatzes für Kinder vorge- und Rentnern führen würde. Es würde nicht nur der legen hätten. Sie wissen das besser; denn Sie waren Mit- Gleichklang der sozialen Leistungssysteme außer Kraft glied der Koalitionsarbeitsgruppe, die das SGB XII gesetzt werden, es wäre auch aus ökonomischer Sicht reformiert hat. Sie wollen wie Herr Laumann ein neues grober Unfug, weil dadurch natürlich weitere Anreize Expertengremium einberufen, das den tatsächlichen Be- für Preissteigerungen gesetzt würden. darf von Kindern berechnen soll. Weiter stellen Sie fest, die Regelsätze seien weder nachvollziehbar noch trans- Zu Ihrer Forderung, Lernmittel und Schulmaterial als parent. Sachleistungen zu gewähren: Hierfür gibt es eine klare Zuständigkeit der Länder. Ich empfehle Ihnen, in Ham- Ich empfehle Ihnen die Lektüre der Ausschussdruck- burg damit anzufangen. Wir Sozialdemokraten werden sache 16(11)268 aus dem Juni 2006, in der das Bundes- Sie auf jeden Fall nicht daran hindern. ministerium für Arbeit und Soziales eine dezidierte Aus- Wir werden die Bedarfe an einmaligen Leistungen ge- (B) wertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (D) 2003 und die Ableitung der Regelsätze dargelegt hat. Ich nau überprüfen. Wir müssen aber darauf bestehen – dies bin anderer Auffassung als Sie, Herr Kollege Kurth, ich hat auch der Kollege Rohde gerade gesagt –, dass die bin ein entschiedener Gegner einer Rückkehr zum Wa- kommunalen Zuständigkeiten für Angebote wie Musik- renkorbmodell. Das würde das Problem normativer Set- schulen, Sportvereine, Bibliotheken und Kosten der zungen nicht lösen, sondern es noch vergrößern. Das war Schülerbeförderung auch dort umgesetzt werden. Die übrigens der Grund, warum das Warenkorbmodell da- Gewährung zusätzlicher pauschalierter Leistungen als mals abgeschafft worden ist. Sachleistungen wird zurzeit geprüft. Das ist hier gerade auch schon gesagt worden. Im Rahmen der im Fünfjahresrhythmus stattfinden- Wir führen zurzeit unter anderem in der Regierung, den Erhebung bei circa 80 000 Haushalten führt das Sta- aber vor allen Dingen auch unter uns Sozialdemokraten tistische Bundesamt für die Ermittlung der regelsatzrele- Gespräche darüber, wie Kinderarmut ganzheitlich und vanten Verbrauchsausgaben eine Sonderauswertung der zielgerichtet entgegengewirkt werden kann und welche Verbrauchsausgaben der Gruppe der unteren 20 Prozent konzertierten Aktivitäten der staatlichen Ebene und der der Haushalte oberhalb der Gruppe der Sozialhilfebe- gesellschaftlichen Akteure notwendig und realisierbar rechtigten durch. Das ist die Basis der Regelsatzbemes- sind. sung; das wissen Sie. In den Jahren ohne neue EVS wird der Regelsatz ent- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sprechend der aktuellen Rentenerhöhung fortgeschrie- Herr Kollege. ben. Übrigens sollten Sie Ihre Haltung zum Rentenan- passungsgesetz auch deshalb dringend überprüfen. Für Rolf Stöckel (SPD): 2008 bedeutet das nämlich eine Erhöhung der Regel- Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Noch sätze um 1,1 Prozent, und für das Jahr 2009 beträgt die vor der Sommerpause wird der Dritte Armuts- und Erhöhung 2 Prozent, vorausgesetzt, dass es die Auswer- Reichtumsbericht vorgelegt. Nach der Sommerpause er- tung der EVS noch nicht gibt. scheint der nächste Existenzminimumsbericht. Die Bei- Nach SGB XII ist bei Vorliegen der Ergebnisse einer träge der Wohlfahrtsverbände und der Praktiker werden neuen EVS die Regelsatzbemessung zu überprüfen. Das intensiv geprüft. ist auch erfolgt. Für Menschen mit Kurzzeitgedächtnis: Dies geschah nach der letzten EVS durch die Schaffung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: eines gesamtdeutschen Regelsatzes. Gleichzeitig wurde Herr Kollege. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16541

(A) Rolf Stöckel (SPD): somit zum Beispiel Bildungsmöglichkeiten, Schulspei- (C) Wir in unserer Fraktion wollen allerdings eine solide, sung und Einmalzahlungen für Einschulung oder Klas- gerechte und stimmige Basis für die Weiterentwicklung senfahrten mit abdeckt. unserer Grundsicherungssysteme und lehnen deshalb Ih- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert ren Antrag ab. Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Frank Spieth [DIE LINKE]: Passgenau vor der Wir fordern auch seit langem die Anhebung des Kinder- Wahl wurde es erhöht!) regelsatzes im ersten Schritt auf mindestens 300 Euro, eine Erhöhung des Kinderzuschlages sowie die Aufbes- serung des Kindergeldes. Dies wäre eine Grundlage, um Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zu einer bedarfsgerechten und eigenständigen Kinder- Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin grundsicherung in Höhe von 420 Euro zu kommen. Elke Reinke. Unsere Kinder haben das Recht – und dafür muss ein (Beifall bei der LINKEN) Sozialstaat sorgen –, gesund aufzuwachsen, freien Zu- gang zu Bildung zu haben und gleichberechtigt am tägli- Elke Reinke (DIE LINKE): chen Leben teilhaben zu können. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Werte Gäste! Sie werden gehänselt, ausgelacht, gemie- Winkelmeier [fraktionslos]) den: Kinder, die in Armut leben, Kinder, die mit knur- rendem Magen und mit Büchern in Einkaufstüten zur Nur so kann man der Benachteiligung vieler Kinder und Schule müssen – arme Kinder, nicht irgendwo in der den Belastungen der Eltern wirksam entgegentreten. Welt, sondern hier bei uns. Auch das ist Deutschland. Es ist interessant, dass die Grünen nun einiges aus der Ich weiß: Die Wahrheit nehmen Sie nur ungern zur Vergangenheit zurücknehmen wollen. Kenntnis; denn ansonsten hätten Sie schon längst gehan- delt und nicht immer nur neue Ankündigungen gemacht. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Weiterentwickeln!) (Beifall bei der LINKEN) Leider haben sie bisher – wie alle anderen Fraktionen Seit der Einführung von Hartz IV hat sich die Zahl auch – unsere Anträge mit den Forderungen nach einem der armen Kinder auf mehr als 2,6 Millionen verdoppelt. Kinderwarenkorb und zum kinderspezifischen Regelsatz Das ist kein Wunder; denn der Regelsatz für Kinder un- abgelehnt. Ich hoffe, dass ihre plötzliche Einsicht keine (B) ter 14 Jahren liegt bei 208 Euro monatlich, während der (D) Eintagsfliege bleibt. Regelsatz für Kinder ab 14 Jahren 278 Euro pro Monat beträgt. Dieser wird pauschal aus dem Eckregelsatz von Wir unterstützen die im Antrag der Grünen erhobe- 347 Euro für erwachsene Erwerbslose abgeleitet. Basis nen Forderungen. Ich kann es Ihnen jedoch nicht erspa- ist das Verbrauchsverhalten der unteren 20 Prozent der ren, darauf hinzuweisen, dass das, was Sie als „bedarfs- Einpersonenhaushalte. Das sind meist Rentner, und fern und bildungsfeindlich“ bezeichnen, genau seit dem diese wachsen gewöhnlich nicht aus ihren Turnschuhen 1. Januar 2005 gilt: Es ist das von Ihnen gewollte heraus. Hartz-IV-Gesetz. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Es ist verrückt, den Bedarf armer Kinder an dem ar- Winkelmeier [fraktionslos]) mer Rentner zu messen. Das bedeutet für einen Sieben- Sie sind mitverantwortlich dafür, dass 2005 die Regel- jährigen pro Tag 2,64 Euro für Frühstück, Mittagessen, sätze für Schulkinder auf das Niveau von Säuglingen ge- Abendbrot, Getränke und anderes. So will es das Gesetz. senkt wurden. Dass Kinder wachsen, wird seit Ihrem Der Kinderregelsatz reicht weder für eine gesunde, Hartz-IV-Gesetz nicht mehr berücksichtigt. ausgewogene Ernährung noch für Kleidung, Schulmate- Deshalb fordern wir: keine Steuergeschenke an Un- rial, Bibliotheksausweis, Busfahrkarte, Zoobesuch, Teil- ternehmen und Superreiche! Unsere Kinder brauchen nahme am Vereinsleben, Nachhilfe, Musikschule usw. das Geld viel nötiger. Einmalige Leistungen wie in der früheren Sozialhilfe gibt es seit Hartz IV nicht mehr. So fiel auch die Ausstat- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert tung für Schulanfänger weg. Winkelmeier [fraktionslos]) (Rolf Stöckel [SPD]: Sie sind pauschalisiert, Wir werden im Kampf gegen Kinderarmut nicht lo- und es gibt einmalige Leistungen!) ckerlassen und gemeinsam mit Verbänden, Vereinen und Initiativen in einem breiten Bündnis den Druck verstär- Jetzt wissen Sie, warum Die Linke von Armut per Ge- ken und Sie zum Handeln bewegen. setz spricht. Es stellt sich einmal mehr die Frage, für welche Kinder diese Regierung Politik macht. Vielen Dank. Wir brauchen umgehend einen eigenständigen Kin- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert derregelsatz, der die Bedarfe realitätsnah abbildet und Winkelmeier [fraktionslos]) 16542 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zu Ihren Vorschlägen für die Einführung bedarfsge- (C) Die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm hat jetzt das Wort rechter Kinderregelsätze: Sie beschreiben die Situation für die SPD-Fraktion. sehr treffend. Es fehlt aber eine genaue Analyse, was Kinder brauchen und was Eltern für ihre Kinder ausge- ben. Das ist nicht zufriedenstellend. Ich wünsche mir ein Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Bemessungssystem, das die Bedarfe von Kindern abbil- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! det und die nötige Transparenz herstellt. Das ist wichtig, Ich finde es gut, dass wir so engagiert über das Thema damit wir uns nicht regelmäßig darüber streiten, ob es, Kinderarmut debattieren. Es ist richtig, dass in Deutsch- wie Sie es in Ihrem Antrag und hier am Rednerpult be- land zu viele Kinder davon betroffen sind. Mehr als zwei haupten, tatsächlich nur 2,64 Euro pro Tag sind, die Kin- Millionen erhalten Sozialleistungen, weil die Eltern ar- dern bis 14 Jahre für Nahrungsmittel und Getränke im beitslos sind oder nicht genug zum Leben verdienen. Regelsatz zugestanden werden. Das ist so natürlich nicht Arme Kinder sind fast immer Kinder armer Eltern. richtig; denn wir leiten den Kinderregelsatz vom Regel- Aus armen Kindern werden dann allzu oft wieder arme satz für einen alleinstehenden Erwachsenen ab. Dadurch Eltern. Um diesen Teufelskreis aus Armut und mangeln- enthält der Kinderregelsatz Posten, die nicht jedes Kind den Chancen auf Bildung, gesellschaftliche Teilhabe und benötigt, wie Verkehrsdienstleistungen oder Nachrich- gesunde Entwicklung zu durchbrechen, unternehmen tendienste. wir seit Jahren enorme Anstrengungen zur Bekämpfung (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- von Arbeitslosigkeit. Deshalb fordern wir gute Arbeit NEN]: Telefonieren Kinder nicht?) und faire Löhne. Deshalb kämpfen wir gegen Lohndum- ping und für Mindestlöhne. Dieses Geld kann natürlich auch für Nahrungsmittel und Getränke eingesetzt werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Richtig ist: Wir brauchen eine Überarbeitung der Kin- Wir haben dabei Erfolg: 1,5 Millionen Arbeitslose derregelsätze. Die SPD wird in Kürze im Rahmen einer weniger seit 2005. Das kommt auch den Kindern zugute. nationalen Kinderkonferenz Vorschläge präsentieren. Ich Arbeitslosigkeit ist allerdings ungerecht verteilt. kann mir allerdings nicht vorstellen, dass es Überein- stimmung mit Ihren Forderungen unter Punkt 3 Ihres (Lachen bei der LINKEN) Antrags geben wird. Eine Anpassung der Regelsätze an die laufende Preisentwicklung kommt für uns nicht in- So bleiben alleinerziehende Eltern noch viel zu stark von frage. Sie würde eine Ungleichbehandlung gegenüber al- der positiven Arbeitsmarktentwicklung ausgeschlossen. len anderen Einkommensbeziehern bedeuten; denn (B) 655 000 dieser Eltern sind zurzeit langzeitarbeitslos und deren Löhne und Renten sind nicht an die Preisentwick- (D) mit ihren über eine Million Kindern auf staatliche Unter- lung angepasst. stützung angewiesen. Wenn es uns gelänge, diesen El- tern eine vernünftige Perspektive auf dem Arbeitsmarkt (Elke Reinke [DIE LINKE]: Das ist schlimm zu bieten, wären wir ein gewaltiges Stück weiter. Hier genug!) sind aber auch Länder und Kommunen gefordert. Sie müssen endlich ordentliche Betreuungsstrukturen auf- Eine Übernahme der Kosten für Lernmittel, Schülerbe- bauen, damit Eltern guten Gewissens arbeiten gehen förderung und vieles mehr durch den Bund, wie Sie es können. Der Bund hat zur Unterstützung der Länder ein fordern, würde die Länder aus ihrer Verantwortung ent- milliardenschweres Betreuungsausbauprogramm auf den lassen. Das lehnen wir ab. Nur in gemeinsamer, gesamt- Weg gebracht. Das muss nun aber auch bundesweit um- gesellschaftlicher Verantwortung von Bund, Ländern gesetzt werden. und Kommunen werden wir bei der Bekämpfung von Kinderarmut weiter vorankommen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Ich betone den Aspekt der Arbeitslosigkeit so aus- drücklich, weil er, liebe Kolleginnen und Kollegen von Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den Grünen, in Ihrem Antrag überhaupt keine Rolle Ich schließe die Aussprache. spielt. Kinderarmut bekämpfen heißt in Ihrem Antrag vor allem die Einführung bedarfsgerechter Kinderregel- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf sätze. Drucksache 16/8761 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung NEN]: Wir haben noch mehr Anträge, nicht so beschlossen. nur einen! So ein Unsinn!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Die wichtigsten Ursachen für Kinderarmut, nämlich Ar- beitslosigkeit und Armutslöhne der Eltern, vor allem al- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- leinerziehender Eltern, blenden Sie vollkommen aus. regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Das halte ich für sehr bedenklich. zur Erleichterung familiengerichtlicher Maß- nahmen bei Gefährdung des Kindeswohls (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) – Drucksache 16/6815 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16543

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- allein der Entzug des Sorgerechts verstanden. Wir stellen (C) schusses (6. Ausschuss) jetzt durch eine gesetzliche Änderung klar, dass das Ge- richt sehr viel mehr Möglichkeiten hat und dass man – Drucksache 16/8914 – auch mit sehr viel milderen Anordnungen etwas für das Berichterstattung: Kindeswohl tun kann. Wir listen konkret auf, was unter- Abgeordnete Ute Granold halb eines Entzugs des Sorgerechts geschehen kann. Christine Lambrecht Zum Beispiel können Eltern verpflichtet werden, die Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe zu nutzen. Für Jörn Wunderlich manche Eltern mag auch ein Antigewalttraining oder die Jerzy Montag Inanspruchnahme einer Erziehungsberatung eine sinn- volle Maßnahme sein. Hierzu liegt jeweils ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- All das soll künftig möglich sein. Ich meine, dass nen vor. diese Rechtsänderung nicht nur im Interesse der Kinder liegt; denn die Trennung von Kind und Eltern, der Ent- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die zug des Sorgerechts, ist in der Regel die allerletzte Mög- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- lichkeit. Wir wissen, dass diese Möglichkeit unter erzie- derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlos- hungspsychologischen Gesichtspunkten nicht die beste sen. ist; denn das Aufwachsen in einer „schlechten Familie“ Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- ist für Kinder oft besser als ein Leben im Heim. Ziel un- nerin der Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort. serer Maßnahmen ist es, unterstützend zu wirken. Wir wollen nicht kontrollieren. Wir wollen keinesfalls, wie (Beifall bei der SPD) manche Zeitungen vermuteten, die Familie entmachten. Vielmehr wollen wir eine konkrete, frühzeitige Hilfe er- Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: möglichen. Bei manchen ist es nötig, den mahnenden Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zeigefinger der Justiz zu erheben und zu sagen: Ihr Aufgrund zahlreicher Todesfälle bei Kindern, die auf müsst euch jetzt bewegen und etwas für euer Kind tun; Misshandlung und Verwahrlosung zurückgehen, haben sonst wird es kritisch. wir im BMJ darüber nachgedacht, was wir tun können, um in Zukunft Kinder besser zu schützen und solche Ta- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP ten zu verhindern. Wir haben einen Kreis von Praktikern und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aus den Familiengerichten, aus der Kinder- und Jugend- Um nichts anderes geht es: Wir schützen die Kinder, wir (B) hilfe und anderen Institutionen an einen Tisch geholt und helfen den Eltern, wir wollen die Familien stärken. (D) beraten, was wir tun können. Wir haben dem Hohen Hause Vorschläge unterbreitet, die hier diskutiert wurden Die dritte Rechtsänderung betrifft die Überprüfung und die heute verabschiedet werden sollen. der gerichtlichen Entscheidung. Unser Ziel ist es, Fol- gendes zu erreichen: Wenn ein Antrag vom Jugendamt Das Ergebnis unserer Arbeit hat drei Ziele: Wir wol- gestellt wurde und das Gericht eine Entscheidung abge- len erstens gerne, dass die Justiz in Zukunft früher einge- lehnt hat, dann sollen die Richterinnen und Richter nach schaltet werden kann, dass man nicht warten muss, bis drei Monaten noch einmal in die Akte schauen. Dadurch das Sorgerecht zu entziehen ist. Wir wollen zweitens soll das Verhältnis zwischen Gericht und Jugendhilfe ein Richterinnen und Richtern künftig mehr Handlungsmög- bisschen besser werden. Es ist wichtig, deutlich zu ma- lichkeiten geben und ihnen die Chance eröffnen, breitere chen, dass die Jugendhilfe ruhig Anträge stellen kann; Entscheidungen zu treffen. Wir wollen drittens für den auch wenn den Anträgen nicht sofort nachgekommen Fall vorsorgen, dass das Gericht auf Antrag der Jugend- wird, mag das in der Folge geschehen. hilfe keine Anordnung erlässt. Diese drei Ziele erreichen wir durch drei konkrete Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Änderungen des Gesetzes: Frau Zypries, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Erstens. Wir senken die Voraussetzungen für ein Ein- Kollegen Jerzy Montag? greifen des Gerichts. Das Gericht soll in Zukunft schon dann handeln können, wenn das Wohl des Kindes ge- Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: fährdet ist und die Eltern diese Gefahr entweder nicht Bitte schön. abwenden können oder nicht abwenden wollen. Bislang war es zusätzlich nötig, dass man den Eltern ein Erzie- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hungsversagen nachweist. Das war in der Praxis oft Herzlichen Dank, Frau Ministerin. – In Ihren Ausfüh- schwierig und hat die Jugendämter häufig davon abge- rungen haben Sie gerade davon gesprochen, dass es not- halten, die Justiz einzuschalten. Zukünftig soll also al- wendig ist, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass lein der Schutz des Kindes Maßstab für das Eingreifen in Konfliktfällen vor Ort frühzeitig und effektiv einge- der Gerichte sein. griffen wird. Sind Sie bereit, in Ihren Ausführungen zum Die zweite Gesetzesänderung betrifft die Handlungs- Ausdruck zu bringen, dass Gesetzesänderungen des möglichkeiten. Bislang spricht das Gesetz nur von erfor- Bundes nur wenig bewirken können, wenn die Jugend- derlichen Maßnahmen. In der Praxis wurde darunter oft ämter nicht gestärkt werden, wenn die Justiz vor Ort 16544 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Jerzy Montag (A) nicht besser ausgestattet wird und wenn die handelnden Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): (C) Personen nicht besser ausgebildet werden, damit sie wis- Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- sen, wann sie eingreifen dürfen, sodass sie keine Angst gen! Die FDP-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetz- haben müssen, einzugreifen, wenn Verdachtsmomente entwurf zu. Es gab eine intensive Beratung und ein sehr vorliegen? gutes und zielorientiertes erweitertes Berichterstatterge- Ich glaube, dass es wichtig wäre, wenn in dieser De- spräch, das uns deutlich vor Augen geführt hat, wo die batte auch von Ihnen der Appell ausgehen würde, dass tatsächlichen Probleme in der Praxis liegen. Ich darf wir zwar das machen, was wir auf der Bundesebene ma- gleich da anschließen, wo Sie, Frau Ministerin, geendet chen können, dass aber der Erfolg für die Kinder nur ge- haben, nämlich bei der Notwendigkeit der Verzahnung währleistet ist, wenn unterhalb der Bundesebene etwas der Tätigkeit der Familiengerichte, Jugendämter und Ju- geschieht. gendhilfe vor Ort. Genau das ist in dem Entschließungs- antrag der FDP-Bundestagsfraktion angesprochen wor- (Beifall der Abg. Ekin Deligöz [BÜND- den. Ich würde mich vor dem Hintergrund der NIS 90/DIE GRÜNEN]) Ausführungen der Ministerin doch freuen, wenn Sie die- sem Entschließungsantrag zustimmen könnten. Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Wir müssen deutlich machen: Die Änderung des ma- Herr Montag, vielen Dank für die Frage. In der Tat ist teriellen Rechts, des Bürgerlichen Gesetzbuchs, und der das meine Überzeugung, die ich schon mehrfach in In- Durchführung der Verfahren, wie sie jetzt im Gesetz terviews oder in anderen öffentlichen Statements zum über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbar- Ausdruck gebracht habe. Wir ziehen da an einem Strang. keit vorgenommen werden, ist eines; aber was tatsäch- Sie haben völlig recht: Wir können im Moment und hier lich daraus wird, damit vielleicht künftig der eine oder nur die bundesgesetzlichen Voraussetzungen schaffen. andere Fall von Vernachlässigung oder Missbrauch mit Aber es ist erforderlich, dass die Länder, die die Kompe- erheblicher Gefährdung kleinster Kinder bis vielleicht tenz für den Vollzug der Jugendhilfe und die Einrichtung hin zum Tod – Kevin und Lea-Sophie sind nur zwei neuer Gerichte haben, diese Kompetenz nutzen und Fälle und Namen, die uns in Erinnerung sind – vermie- künftig die Voraussetzungen für eine bessere Zusam- den wird, ist das andere. So etwas kann nur vermieden menarbeit der Jugendämter und der Familiengerichte werden, wenn es tatsächlich zu einer erfolgreichen An- schaffen. Das ist ein wichtiger Punkt, um den es uns wendung auch dieser materiell-rechtlichen Änderungen geht; denn wir müssen eine bessere Verzahnung der Ar- kommt. beit zwischen Gerichten und Jugendhilfe erreichen. (Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (B) GRÜNEN] nimmt Platz) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (D) LINKEN) – Die Zwischenfrage gibt mir die Gelegenheit, dazu et- was zu sagen, ohne dass das auf meine Redezeit ange- Es sind einige wenige Schritte, die hier auf der Ebene rechnet wird. Das ist ganz prima. – des Bundesgesetzgebers gegangen werden. Wir gehen sie mit. Mir ist ganz wichtig, dass von der Debatte heute (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hier im Bundestag ganz klar die Botschaft ausgeht, dass NEN]: Wenn Ihnen das hilft! – Abg. Jerzy es nicht darum geht und mit diesen Gesetzesänderungen Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] er- nichts dazu beigetragen wird, die Eltern in ihren Eltern- hebt sich wieder – Heiterkeit) rechten zu schwächen und sie, wie manche Zeitungen Wir hoffen sehr, dass das Gesetz, das Sie heute verab- – unter anderem die FA Z – schreiben, zu entmachten. Es schieden werden, dazu beiträgt. ist eine ganz gefährliche Debatte, die hier in den Medien geführt wird. Dieser müssen wir entgegentreten. Die Man kann sehen, dass es in einigen Ländern schon Botschaft, dass hier im Bundestag ein Gesetz verab- wirkt. Das Land Berlin nämlich hat diese Rechtsände- schiedet wird, das ein einziges Ziel hat, nämlich das Sor- rung zum Anlass genommen, um ein drittes Familienge- gerecht leichter zu entziehen und das möglichst schnell, richt in Berlin einzurichten. Das ist doch eine gute Nach- wäre nicht nur eine falsche Botschaft, sondern auch eine richt, die deutlich macht, dass es funktionieren kann. gefährliche. Dem möchte ich mit meinen Worten hier Bund und Länder, Jugendämter und Justiz, alle können ganz klar entgegentreten. an einem Strang ziehen, und sie müssen an einem Strang ziehen, wenn es darum geht, Kinder in Zukunft besser zu (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des schützen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Diese Debatte ist virtuell; denn diejenigen, die ihre bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Sorge dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie den Teu- NISSES 90/DIE GRÜNEN) fel an die Wand malen, haben sich die Gesetzesänderun- gen, die heute hier beschlossen werden, nicht ange- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schaut. Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der FDP) CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16545

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) Wir greifen das auf, was in der Praxis schon in den Ute Granold (CDU/CSU): (C) letzten Jahren gemacht wurde: Wenn eine Vernachlässi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! gung, eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt, dann Wir entscheiden heute über ein Gesetz, das aufgrund der ist nicht entscheidend, unter welcher Voraussetzung das umfangreichen Beratungen und Abstimmungen im Vor- Verschulden zu beweisen ist. Entscheidend ist vielmehr feld gut geworden ist. Wichtig ist auch, dass es in der Folgendes: Wenn die Eltern nicht gewillt sind, dieser Praxis relativ zügig umgesetzt wird. Wenn es heute ver- Gefährdung entgegenzutreten und ihr abzuhelfen, dann abschiedet wird, dann können wir davon ausgehen, dass muss etwas passieren. Dafür gibt es einen Katalog von es noch vor der Sommerpause in Kraft tritt. Es ist erfreu- Maßnahmen. lich, dass der Rechtsausschuss einstimmig dafür votiert Diese Maßnahmen werden in diesem Gesetz weder hat, dieses Gesetz heute zu beschließen. Das kommt abschließend noch in der zu ergreifenden Reihenfolge nicht so oft vor. aufgezählt. Das begründet eine gewisse Sorge, die im- mer wieder geäußert wird, gerade seitens derjenigen, die In der Bevölkerung gibt es eine – die Kollegen haben sich mit Betreuung, mit Verfahrenspflegschaft oder mit es schon angesprochen – breite, sehr emotional geführte Beratungen beschäftigen. Wichtig ist das Angebot an Diskussion. Man ist teilweise sehr uninformiert; dabei Maßnahmen. Es muss in der jeweiligen Situation ent- spielt die Presse keine unwichtige Rolle. Auf der einen schieden werden, welche Maßnahme, welche Entschei- Seite heißt es in Überschriften „Entmachtung der Eltern“ dung richtig ist, um den Eltern zu helfen und der Gefähr- und auf der anderen Seite „Früher, schneller, präziser“. dung des Kindeswohls entgegenzuwirken. Letzteres ist genau das, was das neue Gesetz regelt. Lei- der gibt es in Deutschland eine zunehmende Zahl von Wir haben die Gefahr gesehen, dass es nur zu einer Kindesvernachlässigungen, Kindesmisshandlungen und Debatte über das Verhältnis zwischen Rechten und Todesfällen. Gerade in diesen Fällen – es sind nicht sehr Pflichten der Eltern auf der einen und dem Wächteramt viele im Verhältnis zu denjenigen, in denen Eltern ihre des Staates auf der anderen Seite kommen wird. Daher Kinder sehr liebevoll und verantwortungsbewusst erzie- haben wir in die Beschlussempfehlung ausdrücklich auf- genommen, dass dieses Gesetzesvorhaben nicht zu einer hen – ist der Staat aufgrund seines Wächteramtes ver- Verschiebung des vom Grundgesetz vorgesehenen Ver- pflichtet, schnellstmöglich einzuschreiten. hältnisses führen wird. In diesem Sinne sollten wir alle Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner jüngsten gemeinsam die vielen Anfragen – eine Aktion standardi- Entscheidung – es ging um die zwangsweise Durchset- sierter Schreiben ist in Gang gesetzt worden – beantwor- zung des Umgangsrechts – sehr klar und deutlich hervor- ten, damit sich keine anderen Eindrücke verfestigen. gehoben, dass Eltern verpflichtet sind – Art. 6 Grundge- Es ist gut, dass als Ergebnis des Berichterstatterge- setz –, ihre Kinder verantwortungsvoll zu erziehen, dass (B) sprächs die besondere Problematik der häuslichen Ge- Eltern aber auch das Recht haben, sich um ihre Kinder (D) walt in die Formulierungen des Gesetzentwurfs aufge- zu kümmern und frei zu entscheiden, wie sie ihrer Erzie- nommen wurde. hungsverantwortung gerecht werden. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jerzy Montag Damit der Staat sein Wächteramt auch ausüben kann, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) haben wir – entsprechend auch der Vereinbarung im Ko- Jetzt ist die Möglichkeit vorgesehen, dass sowohl das alitionsvertrag – eine Expertengruppe eingesetzt, die Erziehungsgespräch als auch der erste Erörterungstermin sich darum bemüht hat, Regelungen zur Kindeswohlge- nur mit einem Elternteil durchgeführt wird. Die in der fährdung zu finden, die praxistauglich sind. Nach den Beschlussempfehlung vorgenommenen Klarstellungen, Vorschlägen aus der Expertengruppe, in der Vertreter wie der neue § 50 a des Gesetzes über die Angelegenhei- vieler Verbände und der Länder beteiligt waren, liegt uns ten der freiwilligen Gerichtsbarkeit zu lesen ist, ist für nun, auch nach Anhörung der Kirchen, ein Gesetzent- die Praxis bestimmt hilfreich. Nach diesen Beratungen wurf zur Abstimmung vor, der sehr sachlich und sehr und den noch erfolgten Veränderungen stimmen wir die- umfassend ist. sem Gesetzentwurf zu. Uns als Union ist sehr wichtig, noch einmal klar da- Es wäre sehr gut, wenn die große Reform der freiwil- rauf hinzuweisen, dass in den allermeisten Fällen die El- ligen Gerichtsbarkeit möglichst schnell käme. Einige tern ihre Erziehungsverantwortung wahrnehmen und die Teilaspekte sind in diesem Gesetzentwurf enthalten. Es Kinder liebevoll betreuen und versorgen. Dabei soll es wäre gut, wenn wir ein Gesetz zur freiwilligen Gerichts- auch bleiben. Diese Klarstellung ist uns sehr wichtig, barkeit „aus einem Guss“ hätten. denn der Staat wird nicht die Kontrolle über alle Fami- Vielen Dank. lien übernehmen. (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Abgeordneten der LINKEN und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich gehe einmal von der bisherigen Praxis aus. Wir haben eine Vorschrift, nach der die Gerichte nur dann eingeschaltet werden, wenn es kein anderes Mittel mehr Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gibt als den Entzug der elterlichen Sorge. Das ist der Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Granold von der schärfste Eingriff in eine Familie, den es überhaupt ge- CDU/CSU-Fraktion. ben kann. Deshalb ist unser Anliegen, Möglichkeiten zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schaffen, um frühzeitig korrigierend einzuschreiten. 16546 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Ute Granold (A) Bisher sprach man von „Erziehungsversagen“. Das letztlich einmütig –: Die wesentlichen Bausteine aus (C) war eine Hemmschwelle, weil das dokumentierte: Die dem neuen Gesetz wollen wir schon jetzt in das FGG Eltern haben etwas falsch gemacht; sie haben versagt. – implantieren. So können die Gerichte frühzeitig reagie- Damit blockiert man jedwede Kooperation mit den Äm- ren und Maßnahmen ergreifen. tern. Um diese Hürde zu nehmen, haben wir gesagt: Die Der frühe erste Termin bietet den Eltern und dem Ju- Kindeswohlgefährdung ist der Maßstab für ein Ein- gendamt die Möglichkeit, den Sachverhalt aufzuklären schreiten. und in einem Erörterungsgespräch herauszufinden, ob es Es wird diskutiert: Was ist das Kindeswohl? Was ist Möglichkeiten der Korrektur gibt. eine Kindeswohlgefährdung? Das körperliche, geistige Was die Gewaltfälle angeht – das ist wichtig –, sind und seelische Wohl der Kinder steht für uns im Vorder- nach der FGG-Anhörung noch Änderungen aufgenom- grund. Die Kinder sollen zu verantwortungsvollen Men- men worden: In Fällen der häuslichen Gewalt ist es si- schen erzogen werden. Sie sollen Stabilität in ihrem Le- cherlich sinnvoll, getrennt anzuhören, um es vor Gericht ben erhalten. Wenn die Gefahr besteht, dass das nicht nicht zu einer Eskalation oder Retraumatisierung kom- gewährleistet ist und das zu einer erheblichen Schädi- men zu lassen. gung des Kindes führt, soll eingeschritten werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Wann ist ein Einschreiten erforderlich? Wie sieht das bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- in der Praxis aus? Es werden die Behörden, die Jugend- NISSES 90/DIE GRÜNEN) ämter, die Gerichte damit befasst. Wenn es eine Tren- nungssituation in der Familie gibt, wenn Gewalt vorhan- Es gibt Entschließungsanträge von den Grünen und den ist, dann schreitet das Jugendamt ein. Wenn sich auch von der FDP. Sie befassen sich mit der Umsetzung. Nachbarn, Ärzte, Kindergarten, Schule, Erzieherinnen Das ist natürlich Ländersache. Die Jugendhilfe muss melden, dann erfolgt das Einschreiten. Man versucht in personell und sachlich besser ausgestattet sein. einem ersten Schritt, gemeinsam mit dem Jugendamt ei- nen Weg zu finden, um die entstandenen Irritationen und (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) die Fehlentwicklungen zu korrigieren. In vielen Fällen Das betrifft aber genauso auch die Familiengerichte. Wir reicht es aus, dass in Kooperation mit dem Jugendamt brauchen mehr Familienrichter. Sie müssen aufgrund der die Fehler bereinigt werden. speziellen und wichtigen Materie natürlich auch entspre- Es gibt aber auch Fälle, in denen die Eltern das nicht chend aus- und fortgebildet werden. All das kostet Geld. Wir müssen in den Ländern dafür werben, dass das be- können oder nicht wollen. In diesen Fällen, so sagen wir, muss in einem zweiten Schritt das Familiengericht ange- nötigte Geld in das System kommt. Wir haben das Ge- setz aber im Vorfeld mit den Ländern, wie ich denke, eng (B) rufen werden. Die Kollegin von der FDP hat im Einzel- (D) abgestimmt. Der Bund macht die Gesetze ja nicht allein. nen ausgeführt, wie das Gesetz aufgegliedert ist. In ei- nem Maßnahmenkatalog, der nicht abschließend ist, Das Familienministerium hat im Bewusstsein der Ver- wird aufgeführt, welche Möglichkeiten für das Gericht antwortung des Bundes im letzten Jahr das Bundespro- gramm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale bestehen, niedrigschwellige Maßnahmen, also solche unterhalb eines Sorgerechtsentzugs, zu ergreifen oder Frühwarnsysteme“ aufgelegt. Es wurde eine zentrale anzubieten, um die Fehlentwicklung zu korrigieren, wo- Stelle eingerichtet. Hier gibt es länderübergreifende Ko- operationen mit dem Bund. Es wurden Plattformen ge- bei das Gericht durchaus auch in einem Elterngespräch darauf hinweisen kann, was möglich ist. bildet und Anregungen zum Aufbau von Frühwarnsyste- men und umfangreiche Informationen gegeben. Ich (Beifall der Abg. Sibylle Laurischk [FDP]) denke, das ist der richtige Weg. Wenn das funktioniert, wird keine Maßnahme ange- Wir gehen damit mit gutem Beispiel voran. So kann ordnet. Wenn das aber nicht möglich ist, muss das Ge- das Gesetz auch wirksam umgesetzt werden und in der richt eine Maßnahme anordnen. Wir sollten auch einmal Praxis greifen. Das allein reicht aber nicht. Wir müssen klarstellen, dass es zunächst ganz behutsam anfangen auch bei uns selbst anfangen. Jeder Einzelne von uns kann – bis hin zu dem letzten Mittel, der Herausnahme muss sensibilisiert werden und den Kindern den ange- des Kindes aus der Familie. messenen Raum im täglichen Leben vor Ort in der Ge- sellschaft geben. Hier zitiere ich die Kanzlerin, die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie jüngst gesagt hat: Wir brauchen wieder eine „Kultur des bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Ekin Hinsehens“. Wir müssen schauen, was in der Nachbar- Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schaft und in der Gemeinde geschieht. Wenn wir sehen, Was nutzt uns eine Vorschrift im materiellen Recht dass Missstände da sind, müssen wir versuchen, zu hel- des BGB, wenn wir nicht auch begleitend das Verfahren fen, nicht in Form von Anzeigen – das wäre ein schlech- im FGG ändern, also beschleunigen; früher erster Ter- ter Weg –, sondern in Form von konstruktiven Maßnah- min, nämlich innerhalb eines Monats; sich mit allen Be- men, die dazu beitragen, dass wir auf einen besseren teiligten an einen Tisch setzen? Sie haben völlig zu Weg kommen; denn die Kinder sind unsere Zukunft. Recht gesagt: Wir sind derzeit auf einer Großbaustelle, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) was die Reform des Verfahrensrechts in Familiensachen angeht. Das reformierte Gesetz wird sicherlich erst Ende Ich bedanke mich an dieser Stelle abschließend für nächsten Jahres in Kraft treten. Das ist noch sehr lange die sehr konstruktive Beratung. Ich würde mir wün- hin. Deshalb haben wir uns entschieden – auch das war schen, dass wir das Gesetz jetzt genauso einvernehmlich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16547

Ute Granold (A) verabschieden, sodass es relativ zügig in Kraft treten fährdung des Wohls des Kindes durch Erziehungsversa- (C) kann. gen der Eltern – durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes Vielen Dank. usw. – oder durch das Verhalten eines Dritten verursacht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie ist, ändert nichts an den Voraussetzungen, die notwendig bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- sind, um in den geschützten Bereich der Familie einzu- NISSES 90/DIE GRÜNEN) greifen. Aus Sicht des Kindes ist es völlig unerheblich, wer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: oder was die Ursache der Gefährdung ist und ob ein el- Das Wort hat jetzt der Kollege Jörn Wunderlich von terliches Erziehungsversagen zugrunde liegt. Hauptsa- der Fraktion Die Linke. che ist, dass die Gefahr schnell und effektiv abgewendet wird, wobei nach wie vor die Kindeswohlgefährdung (Beifall bei der LINKEN) positiv festgestellt werden muss. Materiellrechtlich hat sich da also nichts geändert. Jörn Wunderlich (DIE LINKE): (Joachim Stünker [SPD]: Richtig!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf stärkt die Rechte von Kindern in prozess- Gut ist einerseits, dass das Gericht seine Entschei- rechtlicher Sicht, beschleunigt das Verfahren und ge- dung des Absehens von Maßnahmen nach §§ 1666 bis währleistet die Beteiligung von Kindern. Insoweit ist der 1667 BGB überprüfen soll. So kann sichergestellt wer- Gesetzentwurf überwiegend gut. Es bedarf aber – das ist den, dass bei Nichteinschreiten des Gerichts das Kind ja hier schon mehrfach gesagt worden – weiterer flankie- und die Eltern nicht „unbeobachtet“ bleiben, sondern render Maßnahmen, um den Schutz der Kinder zu ver- eine Warnsituation entsteht. Andererseits dürften sich bessern. bei der Umsetzung im Hinblick auf Arbeitsbelastung der Familiengerichte und bei der Frage der Zuständigkeit der Insbesondere die Quantität und Qualität der Einrich- Gerichte zum Beispiel bei Umzug der betroffenen Fami- tungen der Jugendhilfe müssen verbessert werden. Es lien echte Probleme ergeben. Denn wer ist dann zustän- nützt wenig, die rechtlichen Möglichkeiten im Rahmen dig? Ist es ein neues Verfahren? Da wird es in der Praxis der Jugendhilfe zu erweitern und auszubauen, wenn die erhebliche Probleme geben, aber die Rückmeldungen tatsächlichen Möglichkeiten aufgrund der Gegebenhei- bekommen wir sicherlich. ten nicht auszuschöpfen sind. (Beifall bei der LINKEN) Zu den einzelnen getrennten Anhörungen möchte ich (B) jetzt nichts mehr sagen. Es ist positiv, dass es sich auf (D) Das grundsätzliche Problem bleibt dabei die Überbe- alle Fälle auswirkt, damit Kinder geschützt werden kön- lastung der Familienrichterinnen und -richter und der Ju- nen. gendämter. Damit dem gesetzlich beabsichtigten Hand- lungsprogramm ernsthafte Risiken für die Umsetzung in Fazit: Es ist ein Gesetzentwurf, welchem man zustim- der Praxis nicht entgegenstehen, müssen vor allen Din- men kann, der allerdings auch angesichts des klaren Zu- gen die Familiengerichte und Jugendämter personell so sammenhangs zwischen sozialen Ursachen und Kindes- ausgestattet werden, dass sie den zum Schutz des Kindes vernachlässigung bzw. Misshandlung kein Allheilmittel erforderlichen Mehraufwand leisten und die übrigen ist, der die materiellen Rechtsgrundlagen nicht ändert Verfahren, zum Beispiel zu Scheidung, Unterhalt usw., und dessen Wirksamkeit maßgeblich von der angemes- in angemessener Zeit erledigen können. Hier muss eine senen sachlichen und personellen Ausstattung der Ju- Aufforderung vom Bund an die Länder gehen. Insoweit gendämter und Gerichte abhängt. Das wird ja auch von sind die Entschließungsanträge der Grünen und der FDP vielen Verbänden – beispielhaft sei die Deutsche Kinder- zu unterstützen, welche unseren Forderungen entspre- hilfe genannt – gefordert. chen, insbesondere auch hinsichtlich eines möglichen Insoweit ist meine Fraktion auf die Reaktion aus der Entschleunigungsgrundsatzes; denn es ist ja manchmal Praxis gespannt, die wir mit Sicherheit bis zur Verab- doch zweifelhaft, ob in jedem Fall im ersten Termin schiedung der FGG-Reform vorliegen haben, damit die auch schon Entscheidungen getroffen werden können, Probleme, die sich aus der Umsetzung in der Praxis er- wenn möglicherweise noch Sachaufklärung geboten ist. geben, bei der großen Reform berücksichtigt und abge- Es bringt ja nichts, einen ersten Termin zu machen, um stellt werden können. Es wird sich zeigen, ob die Regie- da nur den zweiten festzulegen. rung Kindeswohl als Propagandamittel einsetzt oder ob Zu den vorgesehenen Änderungen des § 1666 BGB sie es diesmal wirklich ernst meint. – dazu haben wir alle, wie ich denke, nahezu identische Vielen Dank. Post bekommen – lässt sich Folgendes feststellen: Es hat sich an der Konstellation – staatliches Wächteramt und (Beifall bei der LINKEN) Elternrecht – nichts geändert. Es bleibt im Sinne des Kindeswohls eine wechselseitige Verantwortung der El- tern, des näheren sozialen Umfelds als auch des Staates. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Da hat sich nichts geändert. Der Verzicht auf die bisheri- Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz von Bünd- gen Tatbestandsvoraussetzungen, das heißt, dass die Ge- nis 90/Die Grünen. 16548 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): chen. Aber nicht immer ist gut gemeint auch gut ge- (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! macht. Am 19. Dezember 2007 fand hier ein Kindergip- Kinderschutz ist ein brisantes Thema. Wenn es um das fel statt. Wenn ich Sie frage, welche Ergebnisse dieser Wohl der Kinder und um das Verhältnis von Staat und Kindergipfel gebracht hat, dann werden Sie alle stau- Familie geht, gerät man sehr schnell in emotionale De- nend schauen; denn das weiß hier fast niemand. Dabei batten, in emotionale Kreisläufe, die schwer zu durch- wäre das eine Gelegenheit gewesen, verbindliche Maß- brechen sind. Das ist zwar verständlich, aber in der Sa- nahmen über die Zusammenarbeit der Familiengerichte che nicht hilfreich. Deswegen möchte ich vorab mit den Jugendämtern, besonders aber über die Ausstat- begrüßen, dass die parlamentarische Arbeit an dieser tung der Jugendhilfe, über das, was wir alle gemeinsam Gesetzesinitiative sehr sachlich und konstruktiv voran- als Grundlage für die Umsetzung dieses Gesetzes für gegangen ist. Dies hat der Sache genutzt und sie weiter- notwendig halten, zu vereinbaren. Diese Chance wurde gebracht. dort vertan. Es wurde wenig Konkretes beschlossen. Das ist sehr bedauerlich; denn wenn man Chancen schafft, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sollte man sie nutzen. Daraus kann man eigentlich nur Wir Grünen halten die nun vorliegende Fassung ins- schließen: Schlecht gemacht, da Chance nicht genutzt. besondere mit den schon angesprochenen Änderungen, Hier helfen Ihnen auch schöne Sonntagsreden nichts. an denen wir mit beteiligt waren, für einen vernünftigen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beitrag zum Kinderschutz. Das Grundanliegen einer zü- gigen und niedrigschwelligen Einschaltung der Famili- Wir können dem Gesetzentwurf unter den genannten engerichte ist sinnvoll. Auch eine engere Kooperation Voraussetzungen und mit den Änderungen zustimmen. mit der Jugendhilfe wurde vonseiten der Fachleute längst angemahnt. Die Klarstellungen und Präzisierun- Ein Wermutstropfen ist, dass gerade die zentrale He- gen im Gesetz werden die Arbeit verbessern. Ein solcher rausforderung an dieser Stelle nicht angegangen worden Gesetzentwurf sollte jedoch Teil eines umfassenden ist, nämlich Ausbau bzw. Stärkung der Familiengerichte Konzeptes sein. Jede Maßnahme in einem solchen Ge- und der Jugendhilfe. Entgegen häufiger Meinung sage samtkonzept muss sorgfältig und nüchtern abgewogen ich an dieser Stelle: Man muss immer wieder feststellen, werden. Bei diesem einen Punkt ist es uns gelungen. Bei dass die Jugendhilfeeinrichtungen unter den schwierigen vielen weiteren Punkten steht genau das noch aus. Bedingungen, unter denen sie in Deutschland arbeiten, versuchen, das Beste daraus zu machen. Deshalb möchte Auch ich möchte noch etwas zu der Pressebericht- ich mich nicht der pauschalen Kritik an den Jugendhilfe- erstattung vom gestrigen Tage sagen, in der von einer einrichtungen anschließen. Was wir brauchen, wenn wir Entmachtung der Eltern und von einem übergriffigen (B) es mit dem Kinderschutz ernst meinen, ist eine angemes- (D) Staat die Rede ist. Bei allem, was Recht ist: Diese Be- sene personelle und finanzielle Ausstattung in diesem hauptungen gehen eindeutig zu weit. Bereich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deshalb haben wir heute einen Entschließungsantrag sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnar- eingebracht. Ich wünschte mir von den Koalitionsfrak- renberger [FDP]) tionen, dass sie genau an diesem Punkt ein Zeichen set- Das geben dieser Gesetzentwurf und die Debatten hier zen und unserem Antrag zustimmen. nicht her. Dies wurde auch von keinem einzigen Sach- Danke schön. verständigen in der Öffentlichkeit bemängelt. Das zeigt nur, dass die Leute, die das geschrieben haben, relativ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenig Sachkenntnis von dieser rechtlichen Materie ha- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ben. Ganz dramatisch finde ich es, wenn dies mit dem Krippenausbau und der Stärkung der Kinderrechte im Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Grundgesetz in Verbindung gebracht wird. Da hat je- Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt mand ordentlich etwas durcheinandergebracht. Das hat die Kollegin Christine Lambrecht von der SPD-Frak- zeigt, dass gerade bei diesen Themen keine sachliche tion das Wort. Debatte geführt, sondern eine ideologische Schlacht ge- schlagen werden soll. (Beifall bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Christine Lambrecht (SPD): Diese ideologische Schlacht geht auf Kosten der Kinder. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Genau das dürfen wir hier im Deutschen Bundestag Gesetz, das wir heute in zweiter und dritter Lesung be- nicht zulassen. schließen, ist kein Gesetz, das sich an die Mehrheit der Bevölkerung richtet. Es ist ein Gesetz, das sich an ganz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wenige, ausgewählte – in dem Fall leider im negativen bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Sinne – Personen richtet, nämlich an die Eltern, die sich LINKEN) nicht in angemessener Weise um ihre Kinder kümmern. Frau Granold, Sie haben auch über das gesprochen, Deswegen will ich hier, insbesondere vor dem Hinter- was die Kanzlerin gemeint hat. Das, was zur Kultur des grund der Kampagne, die in den letzten Tagen von eini- Hinsehens gesagt worden ist, kann man ja nur unterstrei- gen gefahren wurde, noch einmal in aller Deutlichkeit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16549

Christine Lambrecht (A) sagen: Die absolut überwiegende Mehrheit der Eltern Grund sollen die Hürden gesenkt werden; dann können (C) kümmert sich fürsorglich, liebevoll und verantwortungs- Familiengerichte, auch aufgrund ihrer Kompetenz und voll um ihre Kinder, und für diese Eltern ist das Gesetz ihrer Autorität, früher auf Eltern einwirken. Es soll näm- auch nicht gemacht. lich nicht abgewartet werden, bis das Kind so vernach- lässigt oder misshandelt ist, dass nur noch die elterliche (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Sorge entzogen werden kann, sondern es gilt, Eltern, die bei Abgeordneten der FDP) vielleicht überfordert sind, frühzeitig Hilfemöglichkei- ten aufzuzeigen, damit Kinder in ihren Familien, in ihrer Aber es gibt eben leider auch die anderen Eltern. Die gewohnten Umgebung bei ihren Eltern bleiben können. Namen der betroffenen Kinder sind zum Teil schon ge- nannt worden. Viele sind leider namenlos, weil sie ir- (Beifall der Abg. Sibylle Laurischk [FDP]) gendwo verscharrt werden und, wenn sie gefunden wer- den, erst zugeordnet werden müssen. Es gibt eben viele Das ist Sinn und Zweck dieses Gesetzes. Deswegen Eltern, die sich nicht angemessen um ihre Kinder küm- kann ich nur sagen: Ich finde die Kampagne, die mo- mern. Die schlimmsten Fälle sind die, in denen die Kin- mentan von einigen Zeitungen gefahren wird, nicht nur der dadurch zu Tode kommen. Aber es gibt eben auch irreführend, sondern auch verantwortungslos. Uns allen Kinder, die misshandelt und körperlich oder seelisch geht es nicht darum, Eltern zu entmachten oder uns ein- vernachlässigt werden. In diesen Fällen muss der Staat zumischen; vielmehr geht es uns darum, den Kindern, – Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz sieht vor, dass der Staat deren Eltern sich momentan noch nicht so sehr um ihr über das Wohl der Kinder zu wachen hat – eingreifen. Wohl kümmern, zu helfen, damit sie alle Chancen be- Aus diesem Grund freut es mich, dass es uns gerade bei kommen, die sie verdienen. Deswegen wird diese Kam- einem so sensiblen Thema gelungen ist, alle Fraktionen pagne keinen Erfolg haben; sie hat auch keinen Rückhalt mit ins Boot zu bekommen und ein Gesetz zu schaffen, in der Bevölkerung. Denn klar ist: Der Staat muss sich das die Interessen der Kinder in den Vordergrund stellt. um Kinder kümmern, wenn die eigenen Eltern der Ver- pflichtung nicht nachkommen. Wenn ich lese, was viele Zeitungen schreiben oder auch Initiativen, die uns zum Teil anschreiben, frage ich Vielen Dank. mich, was daran verwerflich sein soll, wenn, nachdem ein Kind grün und blau geschlagen in den Kindergarten (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP gekommen ist, in der Folge Eltern zu einem Erörterungs- und der LINKEN) gespräch, einem Erziehungsgespräch beim Familienge- richt eingeladen werden, bei dem ihnen zum Beispiel Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) (D) vermittelt werden kann, dass es so etwas wie einen Anti- Ich schließe die Aussprache. aggressionskurs gibt. Was ist daran eine unzulässige Ein- mischung des Staates in Erziehung? Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Erleich- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten terung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefähr- der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des dung des Kindeswohls. Der Rechtsausschuss empfiehlt BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8914, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache Wenn im Falle eines Kindes, das über Wochen und 16/6815 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte Monate hinweg nicht die Schule besucht und bei dem zu diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- befürchten steht, dass es den Anschluss verliert, verant- sung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegen- wortungsbewusste Lehrer das melden, weil die Eltern stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da- weder auf Briefe noch auf Anrufe der Schule reagieren, mit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. und dann ein Gespräch stattfindet, in dem den Eltern klargemacht wird, dass Schulpflicht besteht und sie ihr Dritte Beratung Kind in die Schule schicken müssen und dass ihr Kind und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- auch ein Recht auf Bildung hat, was ist daran falsch? stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Was soll daran falsch sein, wenn der Staat so eine Mög- Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- lichkeit aufzeigt? Was ist daran Einmischung? nommen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag geordneten der CDU/CSU) der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8930? – Ge- genstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsan- Ich könnte die Liste der Möglichkeiten, die ein sol- trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen ches Gespräch als Konsequenz hat, noch weiter verlän- die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. gern. Denn es muss nicht immer die elterliche Sorge ent- zogen werden, was jetzt als die einzige Keule dargestellt Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- wird; vielmehr gibt es auch heute schon einen ganzen tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8931? – Katalog von Maßnahmen, die ergriffen werden können, Gegenstimmen? – Der Entschließungsantrag ist mit dem was aber leider bisher noch nicht so der Fall ist. Aus dem gleichen Stimmenverhältnis ebenfalls abgelehnt. 16550 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatz- Krankenkassen sowie Ärzte und Krankenhäuser wollen (C) punkt 4 auf: den Fonds nicht. Die Wissenschaftler halten ihn für eine Missgeburt. Sie von der Koalition, Frau Widmann-Mauz 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel und Frau Reimann, werden wahrscheinlich gleich sagen, Bahr (Münster), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad das sei alles Oppositionsgetöse; alles nehme seinen nor- Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion malen Lauf und es werde alles so kommen, wie es im der FDP Gesetz steht. Gesundheitsfonds stoppen – Beitragsautono- mie der Krankenkassen bewahren Aber was sagen denn die eigenen Koalitionsspitzen? Herr Ramsauer, der diese Reform im Spitzengespräch – Drucksache 16/7737 – mitverhandelt hat, sagt in einer AP-Meldung vom Überweisungsvorschlag: 9. April, dass im Hause Schmidt „bei manchem immer Ausschuss für Gesundheit (f) noch der Geist des Klassenkampfes, der Staatsmedizin Finanzausschuss und des Gesundheitssozialismus“ herrscht. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt Oh!) Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Herr Huber, CSU-Vorsitzender, wirft Frau Schmidt Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion vor, die Umsetzung des Fonds sei eindeutig im Verzug BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die Ministerin habe die Dinge nicht im Griff. Gesundheitsfonds stoppen – Morbiditätsorien- tierten Risikostrukturausgleich einführen (Heinz Lanfermann [FDP]: Stimmt ja auch!) – Drucksache 16/8882 – Herr Beckstein sagt, man frage sich, was die Frau Minis- terin Schmidt in den letzten eineinhalb Jahren eigentlich Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) getan habe. Frau Haderthauer macht den Vorwurf, bei Finanzausschuss der Gesundheitsreform gebe es nur Pannen und Pleiten. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Frau Schmidt wiederum wirft Bayern vor, die von Bay- Ausschuss für Arbeit und Soziales ern durchgesetzten Formulierungen des Gesundheitsre- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die formgesetzes seien Unsinn und könnten nicht funktio- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die nieren. FDP-Fraktion sechs Minuten erhalten soll. Gibt es Wi- Aber auch innerhalb der Koalition gibt es anschei- (B) derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so nend keinen mehr, der den Fonds will; außerhalb der (D) beschlossen. Koalition will ihn ja sowieso keiner. Keine Partei in die- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- sem Bundestag kämpft dafür, dass der Fonds kommt. ner dem Kollegen Daniel Bahr von der FDP-Fraktion Wenn ich die Äußerungen der Koalition richtig sehe, das Wort. wird der Schwarze Peter gegenseitig zugeschoben. Die CDU/CSU meint, verantwortlich für den Fonds sei die (Beifall bei der FDP) SPD. Die SPD sagt, verantwortlich für den Fonds sei die Union. Daniel Bahr (Münster) (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist das nen und Kollegen! Es ist gut ein Jahr her, dass das GKV- in einer Koalition!) WSG vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde. Da sagt Frau Ferner von der SPD: Wir waren nicht dieje- Was haben wir damals im Deutschen Bundestag nicht al- nigen, die in den Verhandlungen darauf bestanden ha- les für Lobeshymnen auf diese Gesundheitsreform ge- ben, dass der Fonds kommt. Das war die Kanzlerin, das hört! Der Gesundheitsfonds sollte das Herzstück dieser war auch Herr Stoiber. – Herr Beckstein von der CSU Reform werden, die Transparenz verbessern sowie die sagt allerdings: Der Gesundheitsfonds war nie ein Lieb- Effizienz und den Wettbewerb im Gesundheitswesen lingskind der CSU. – Herr Lauterbach von der SPD sagt, stärken. die Einführung des Fonds sei nie ein Projekt der SPD ge- In Vorbereitung dieser Rede fiel es mir wirklich wesen. schwer, solche Zitate heute noch von Koalitionsabgeord- (Heiterkeit bei der FDP – Heinz Lanfermann neten oder von Spitzen der Koalition zu finden. Es gibt [FDP]: Ein Waisenkind ist das!) niemanden mehr, der den Gesundheitsfonds und die Ge- sundheitsreform insgesamt mit Nachdruck verteidigt. Wer will denn bei Ihnen in der Koalition überhaupt Man findet nur die schlichte Aussage: Der Gesundheits- noch den Fonds? Wenn keiner von Ihnen den Fonds will, fonds kommt. – Warum er aber kommen soll, kann die dann sollten Sie die Konsequenz daraus ziehen und sa- Koalition in diesen Tagen nicht mehr begründen. gen: Wir stampfen dieses unsinnige, verkorkste Projekt einfach ein. Sie sollten vor die Wählerinnen und Wähler, (Beifall bei der FDP) vor die Öffentlichkeit treten und sagen: Wir haben einen Mittlerweile ist auch Ernüchterung eingetreten. Nach Fehler gemacht. Der Gesundheitsfonds löst die Pro- Umfragen will die Bevölkerung den Fonds nicht. Alle bleme nicht. Wir haben es erkannt und ersparen es der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16551

Daniel Bahr (Münster) (A) Bevölkerung bzw. all denen, die davon abraten, dass wir der Weg in eine staatlich gelenkte Einheitskasse: die (C) diese verkorkste Gesundheitsreform wirklich umsetzen. Bundesanstalt für Gesundheit. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Sie von der Union haben das anscheinend erst jetzt er- DIE GRÜNEN) kannt. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden noch Ihr blaues Wunder erleben, wie konkret das alles vom Gesundheits- Sie werden gleich sagen: Alles läuft nach Plan. – Fakt ministerium ausgestaltet werden wird. Sie sollten jetzt ist, dass das Bundesgesundheitsministerium andauernd die Konsequenz daraus ziehen, anstatt hier Vorentschei- hineinregiert und manipuliert. Der Beirat aus Wissen- dungen zu treffen, die es ganz schwer machen, eine Re- schaftlern beim Bundesversicherungsamt ist aus Protest form in einer anderen Koalition wieder in eine andere zurückgetreten. Die Wissenschaftler beklagten die politi- Richtung zu bringen. sche Einflussnahme des Ministeriums. Die Wünsche, die Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. das Ministerium in Bezug auf die Ausgestaltung der 80 Krankheitsbilder hatte, die die Grundlage für die Um- (Beifall bei der FDP) verteilung im Fonds sind, konnten sie wissenschaftlich nicht mittragen. Ein Gutachten der beiden renommierten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Gesundheitsökonomen Professor Wille und Professor Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Widmann- Wasem zur Umsetzung der Bayern- bzw. Länderklausel Mauz von der CDU/CSU-Fraktion. wurde vom Ministerium brüsk zurückgewiesen, weil man mit den Ergebnissen dieses Gutachtens anscheinend (Beifall bei der CDU/CSU) nicht zufrieden war. Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Wie geht eigentlich das Ministerium angesichts dieser Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! beiden Beispiele mit wissenschaftlichen Erkenntnissen Jetzt haben wir von der FDP gerade gehört, warum der von Gesundheitsökonomen oder anderen Wissenschaft- Fonds nicht kommen darf. Ich will Ihnen einmal ein paar lern um, die gute Ratschläge zur Umsetzung dieser Sätze vorlesen, die wir in diesen Monaten lesen durften: schlecht gemachten Reform geben? Wenn es Ihnen poli- tisch nicht passt, weisen Sie sie einfach zurück. Das ist Der Gesundheitsfonds muss kommen! ein Armutszeugnis. Ihnen scheint es wirklich nur noch Der für 2009 vorgesehene Gesundheitsfonds ist bei um die politische Durchsetzung und Umsetzung einer konsequenter Umsetzung ein wesentlicher Meilen- verkorksten Reform zu gehen und nicht um eine brauch- stein auf dem Weg zur Sicherung der Finanzierung bare Lösung der Probleme, vor denen wir stehen. des Gesundheitswesens … Kommt der Gesund- heitsfonds nicht, ist die flächendeckende, wohnort- (B) (Beifall bei der FDP – Heinz Lanfermann nahe ambulante medizinische Versorgung in der (D) [FDP]: Das haben sie mit den Abgeordneten bisherigen hohen Qualität nicht mehr deutschland- der Union aber genauso gemacht!) weit zu gewährleisten. In den Ländern gibt es keinen mehr, der den Fonds Dieser Gesundheitsfonds bietet die realistische wirklich unterstützt. Die Landesregierungen von Bayern Chance, die chronische Unterfinanzierung im Sys- und Baden-Württemberg sind dagegen. In Bayern hat tem zu beenden und eine Verteilung der Gelder un- sogar die SPD einen Antrag in den Landtag eingebracht, ter Berücksichtigung der tatsächlichen Versor- in dem sie sagt, dass sie den Fonds nicht will. In Baden- gungssituation vorzunehmen. Württemberg haben alle vier Fraktionen – CDU, FDP, Nur wenn dieser zum 1. Januar 2009 wirksam wird, Grüne und SPD – eine gemeinsame Resolution beschlos- ist auch der Solidargedanke der gesetzlichen Kran- sen, die Einführung des Fonds zu verschieben. kenversicherung weiterhin aufrechtzuerhalten. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Dann (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das wird kei- haben Sie die aber nicht richtig gelesen, Herr ner von der FDP gesagt haben!) Kollege! Das steht da nicht drin!) Hierzu gibt es derzeit keine umsetzbare sinnvolle Sachsen und Thüringen – sie dachten einmal, sie seien Alternative. Profiteure des Fonds – sagen mittlerweile: Der Fonds darf so nicht kommen, weil er zu einer enormen Umver- Ich habe zitiert aus der gemeinsamen Erklärung der kas- teilung und Belastung von Sachsen und Thüringen führt. – senärztlichen Vereinigungen Berlin, , Hes- NRW und Niedersachsen haben dieser Reform seinerzeit sen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saar- land, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. im Bundesrat nicht zugestimmt. Auch der Bundesrat will also diesen Fonds und diese Reform so nicht mehr. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Der Kompromiss sollte zwar eine Offenheit für beide Frau Kollegin Widmann-Mauz, erlauben Sie eine Richtungen zulassen; er sollte die Einführung einer Bür- Zwischenfrage des Kollegen Daniel Bahr? gerversicherung oder einer Gesundheitsprämie ermögli- chen. Aber es hat sich doch mehr und mehr herausge- Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): stellt, dass das ein Trugschluss ist. Ein einheitlicher Gerne. Beitragssatz mit einheitlicher Vergütung in Kombination mit einem Einheitsverband der Krankenkassen und ei- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Der hat doch gerade nem Geldzuteilungssystem über den Fonds, all das ist erst geredet!) 16552 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: scher Versorgung führen. Das ist doch heute Fakt. (C) Bitte schön, Herr Bahr. Kranke und ihre Ärzte erhalten durch diesen Finanz- kraftausgleich eine bessere medizinische Perspektive, Daniel Bahr (Münster) (FDP): und das wollen wir in unserem Land doch erreichen. Frau Kollegin Widmann-Mauz, stimmen Sie mir zu, dass diese gemeinsame Erklärung von kassenärztlichen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vereinigungen aus den neuen Bundesländern Frau Kollegin Widmann-Mauz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Birgitt Bender? (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Und anderer! Saarland! Rheinland-Pfalz!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist hier Teamarbeit! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: – und anderer, westlicher Länder; d’accord – zu einem Das dient der Erhellung!) Zeitpunkt verabschiedet wurde, als das Gutachten der Professoren Wille und Wasem noch nicht bekannt war, Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): in dem die Auswirkungen auf die Verteilungswirkung unter den Ländern deutlich wird? Stimmen Sie mir fer- Gerne. ner zu, dass beispielsweise die Länder Sachsen und Thü- ringen, die dachten, Profiteure des Fonds zu sein, mitt- Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lerweile erkannt haben, dass ihnen enorm viel Geld Frau Kollegin Mauz, Sie sagten, dass die Erklärung entzogen wird? Diese Länder haben ihre Meinung an- zugunsten des Gesundheitsfonds seitens der kassenärzt- scheinend geändert. In den letzten Tagen haben wir Äu- lichen Vereinigungen dadurch motiviert sei, dass sie sich ßerungen der in Sachsen und Thüringen zuständigen eine bessere medizinische Versorgung durch mehr finan- Fachminister vernehmen können, die darauf schließen zielle Mittel, die in ihre Länder fließen, versprechen. lassen, dass sie erkannt haben, dass der Fonds für Sach- Glauben Sie, dass den politisch Verantwortlichen in die- sen und Thüringen eine deutliche Verschlechterung der sen Ländern inzwischen klar ist, dass nur dann mehr Versorgung mit sich bringt. Mittel fließen, wenn die Beitragssätze erhöht werden? In Sachsen beispielsweise, wo der Beitragssatz der AOK (Frank Spieth [DIE LINKE]: Die Konvergenz- zurzeit bei 12,9 Prozent liegt, werden sich die Beitrags- klausel war das!) zahler, Arbeitgeber und Versicherte, nach Einführung des Gesundheitsfonds mit einem Beitragssatz von 15,5 Pro- Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): zent konfrontiert sehen. Glauben Sie, dass die Begeiste- Lieber Kollege Bahr, die Erklärung stammt vom rung anhalten wird? 29. Januar dieses Jahres. (B) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die Begeiste- (D) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha!) rung ist überschäumend!) Zu diesem Zeitpunkt war ein Gutachten von Vertretern der Wissenschaft in der Welt, aus dem die Verteilungs- Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): und Belastungswirkung für Baden-Württemberg und an- Liebe Kollegin Bender, auch diesen Ländern ist die dere Länder hervorgeht. Schon damals wurde eine De- Wirkungsweise des neuen Systems bekannt. Sie wissen, batte darüber begonnen, und genau auf diese Debatte hin dass nicht nur ein einheitlicher prozentualer Beitragssatz ist diese Erklärung im Übrigen verfasst worden. Diese vorgesehen ist. Sie wissen durchaus, dass die Möglich- Bundesländer erkennen an, dass – trotz der Konvergenz- keit von Zu- und Abschlägen im Sinne von Zusatzbeiträ- klausel – aufgrund des bundeseinheitlichen Beitragssat- gen und Rückzahlungen besteht. Insbesondere Kassen, zes mehr Mittel in ihre Länder fließen, als an anderer die heute einen unterdurchschnittlichen Beitragssatz auf- Stelle abfließen. Von daher hat sich an dieser Position weisen, werden diese Möglichkeit nutzen. Genau das be- nichts geändert. fürchten andere Kassen. Der Wettbewerb wird dank der erhöhten Transparenz hinsichtlich der Kosten und Leis- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sachsen und tungen nachhaltig gestärkt. Genau das ist ein Aspekt, der Thüringen müssen zahlen!) mit diesem Fonds erreicht werden soll und auch erreicht Da Sie grundsätzlich fragen, was der Fonds bewirken werden wird. soll, will ich die Chance nutzen, Sie an Folgendes zu er- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Deshalb sind innern: Sachsen und Thüringen dagegen!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Jetzt bin ich Es ist doch völlig klar: Zusatzbeiträge sind weniger gespannt!) attraktiv und bei den Versicherten weniger leicht durch- zusetzen; es ist einfacher, den prozentualen Beitragssatz Der bundeseinheitliche Beitragssatz mit der Möglichkeit zu erhöhen. Es ist richtig, dass wir dieses neue System von Zuschlägen und Rückerstattungen bewirkt den vol- einführen. Denn für die Versicherten bietet es mehr len Finanzkraftausgleich zwischen den Bundesländern. Transparenz, größere Vergleichbarkeit und mehr Mög- Damit führt er zu mehr Gerechtigkeit im System. Die lichkeiten. Beiträge fließen nämlich in unterversorgte, weil unter- finanzierte Regionen in Deutschland. Der Status quo ist Führen Sie sich einmal vor Augen, wie genau der doch, dass hohe Arbeitslosigkeit und Strukturschwäche Kostendruck bei den Kassen zu Veränderungen führt: zu in den Regionen automatisch zu schlechterer medizini- Umstrukturierungen in den Verwaltungen, zu mehr Ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16553

Annette Widmann-Mauz (A) tragsvielfalt und mehr Wahlmöglichkeiten für Leistungs- Krankheiten entstehen –, aufgrund medizinischen Fort- (C) erbringer und Versicherte. Der Fonds bietet darüber hi- schritts und aufgrund neuer Leistungen und Kostenstei- naus die Möglichkeit zur temporären Festschreibung der gerungen sind mit und ohne Fonds möglich. Machen Sie Lohnnebenkosten und damit auch des Arbeitgeber- den Menschen nichts vor! Das hat mit dem Fonds näm- anteils. Das ist der Einstieg in die Möglichkeit zur teil- lich überhaupt nichts zu tun. weisen Entkoppelung der Gesundheits- von den Arbeits- kosten. Die Vereinfachung des Beitragseinzugs wird im (Beifall bei der CDU/CSU) Übrigen auch von der Bundesvereinigung der Deutschen Wichtige Etappenziele auf dem Weg zur Einführung Arbeitgeberverbände begrüßt, weil dies in den Unter- des Fonds haben wir noch vor uns, und der Risikostruk- nehmen zur Entbürokratisierung beiträgt. turausgleich, der sich noch in der Diskussion befindet, Ein weiterer Aspekt, der mit dem Fonds verbunden bietet einige Chancen. Es hat doch niemand ernsthaft er- ist, wurde bereits angesprochen: die Einführung des wartet, dass alle Vorschläge – egal, welcher wissen- morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs. Er schaftliche Beirat oder wer auch immer sie einbringt –, kann, was das Verhältnis von Krankenkassen und Versi- welche Krankheiten in diesem System berücksichti- cherten betrifft, zu mehr Gerechtigkeit führen. Kassen, gungsfähig sein sollen, auf allgemeine Zustimmung sto- die viele ältere, multimorbide Kranke versorgen, erhal- ßen würden; das war völlig klar. Unterschiedliche Inte- ten höhere Zuweisungen als Kassen, die viele Junge und ressen bedingen unterschiedliche Reaktionen. Deshalb Gesunde, die keine hohen Kosten verursachen, versi- kommt es sehr darauf an, dass wir zu einer klugen und chern. Diese Möglichkeit bietet der Fonds. Die Chance vor allen Dingen zu einer am Gesetz orientierten Lösung dazu haben wir. kommen. Was die Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Auf- Ich gebe offen zu: Ich finde nicht, dass alle Stand- gaben anbelangt: Eine Steuersäule im System eröffnet punkte, die das Bundesversicherungsamt vertritt, und Perspektiven für mehr Gerechtigkeit und eine zukunfts- alle Vorschläge, die es in der Anhörung gemacht hat, fähige Finanzierung. richtig sind. Ich kann zum Beispiel nicht nachvollziehen, (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dafür brau- warum eine Schwangerschaft eine ausgleichsfähige Krankheit sein soll. Eine Schwangerschaft ist zwar chen Sie den Fonds aber nicht!) schwerwiegend – das stimmt –, und ein Kind kann, auf Der Weg zu diesem neuen Finanzierungssystem ist lang das gesamte Leben hochgerechnet, durchaus kosten- und, wie nicht anders zu erwarten war, schwierig. intensiv sein, aber eine Schwangerschaft ist keine Schließlich geht es in diesem System um 150 Milliarden Krankheit und erst recht keine chronische Krankheit. Euro. Da gibt es viele Interessen. Manche sind berech- (B) (D) tigt, einige subjektiv verständlich, andere objektiv über- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zogen, und manches, was in dieser Diskussion vorge- neten der SPD) schlagen wird, ist schlichtweg nicht seriös. Beim Druckgeschwür, Dekubitus, kann man sicherlich Nun möchte ich auf etwas zu sprechen kommen, wo- von einer Krankheit sprechen; aber diese Krankheit ist mit die FDP vor einigen Wochen begonnen hat und was durch gute Pflege vermeidbar. Ich will nicht, dass wir sie heute wirklich in Perfektion betreibt, nämlich Ihre schlechtes Pflegemanagement, offensichtliche Qualitäts- Rechenakrobatik. Zunächst haben Sie windige Zahlen mängel auch noch belohnen. angeführt und Beitragssatzprognosen ins Parlament ge- tragen. Ich frage mich, wie man ohne entsprechende Da- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tenbasis überhaupt solche Hochrechnungen durchführen Die Entscheidungen darüber müssen bis zum 1. Juli kann. Das, was Sie heute gemacht haben, hat aber alles getroffen sein. In wenigen Tagen bekommt das Bundes- andere übertroffen. Heute mussten Sie sich so sehr ver- versicherungsamt mit Josef Hecken, dem bisherigen renken, dass selbst die Bild-Zeitung Ihre akrobatischen saarländischen Sozialminister, einen neuen Leiter. Er Vorführungen aufgegriffen hat. Sie haben die Dinge wird – da bin ich mir ganz sicher, und da kann auch die nämlich wieder einmal falsch dargestellt, oder Sie sind Opposition beruhigt sein – dieses Verfahren zielgerichtet auf einem Auge blind. vorantreiben. Ich bin mir sicher, dass die Bearbeitung Sie behaupten, in Zukunft würden 22 Millionen Ver- stringent erfolgen wird. sicherte höhere Beiträge zahlen müssen. Diese Zahl ist Weitere Schritte liegen vor uns: Die Insolvenzfähig- zunächst einmal fragwürdig. Sie lässt sich allerdings keit der Kassen muss hergestellt werden. Auch das ist auch andersherum lesen. Denn diese 22 Millionen Versi- eine Folge des Fonds. Es ist doch richtig, auch bei Rech- cherten werden genau diejenigen sein, die in Zukunft die nungslegung und Buchführung endlich Transparenz ein- Chance haben werden, von ihrer Krankenkasse eine zuführen und dafür zu sorgen, dass die Kassen für Ver- Auszahlung zu erhalten. Diesen Effekt berücksichtigen pflichtungen, die sie gegenüber den Beschäftigten Sie nicht. Sie stellen sich auf einem Auge blind. So ist eingegangen sind, endlich entsprechende Rückstellun- keine seriöse Gesundheitspolitik zu machen. gen tätigen müssen. Das hat viel mit solider Haushalts- Außerdem sagen Sie, dass es darüber hinaus noch zu politik zu tun; die muss auch für die Krankenkassen gel- Beitragssatzsteigerungen kommen könnte. Sie müssen ten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Opposition jedoch zugeben: Beitragssatzsteigerungen aufgrund hö- will, dass uns weiterhin Hinterhöfe als Beletage verkauft herer Morbidität – die Menschen werden älter, und und Zusagen ohne Deckung gemacht werden. Unterstüt- 16554 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Annette Widmann-Mauz (A) zen Sie uns deshalb dabei, zu mehr Ehrlichkeit und mehr große Unsicherheit darüber bestehen, wie viel Geld wel- (C) Transparenz in den Kassenfinanzen zu kommen. che Krankenkasse aus dem Fonds bekommt. Deswegen ist es unsicher, ob die Krankenkassen überhaupt eine (Beifall bei der CDU/CSU) Rückzahlung vornehmen werden – auch im Hinblick Wichtig auf dem Weg zur Etablierung des Fonds ist darauf, welche Versicherten sie damit anziehen. Weitere auch die Verwirklichung der Konvergenzphase; diese 22 Millionen sind bei einer Krankenkasse versichert, de- Phase ist ein nötiger Bestandteil des Übergangs zum ren Beitragssatz heute zwischen 14,9 Prozent und Fonds. Jeder von uns weiß, dass es nicht zumutbar wäre, 15,4 Prozent liegt. Zusammen sind das 44 Millionen wenn die Länder, die ein Hochpreissystem haben, von Versicherte. Auf diese habe ich mich bezogen. heute auf morgen sozusagen ins kalte Wasser geworfen würden. Hierüber wird diskutiert. Die erste Anhörung Bisher gibt es lediglich Schätzungen, wie sich der hat stattgefunden. Die weiteren Beratungen finden dieser Beitragssatz entwickeln wird. Doch alle Schätzungen Tage statt. Ich bin mir sicher, dass sich auch an dieser gehen davon aus, dass der Beitragssatz, den Sie für Stelle Lösungen finden lassen, die allen gerecht werden, nächstes Jahr festlegen müssen, zwischen 15,0 Prozent sodass diejenigen, die heute unterversorgt sind – ich und 15,5 Prozent liegen muss. Dies schätzen die Initia- habe eingangs davon gesprochen –, gute, ausreichende tive Neue Soziale Marktwirtschaft, das Institut für Ge- medizinische Versorgung erhalten, und diejenigen, die sundheitsökonomie, die Barmer Ersatzkasse, die Kauf- aufgrund hoher Wirtschaftskraft und hohen Lebensstan- männische Krankenkasse, der Verband der Angestellten- dards andere Versorgungsstrukturen gewohnt sind, diese Krankenkassen, die Techniker Krankenkasse. Viele ha- auch in Zukunft vorfinden. ben sich damit auseinandergesetzt. Sogar Herr Kollege Lauterbach hat gerechnet und gesagt, dass wir einen Bei- tragssatz von 15,5 Prozent haben werden. Darauf habe Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ich mich bezogen. Frau Kollegin, denken Sie an die Zeit! Sie werden in diesem Herbst einen Beitragssatz be- Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): schließen müssen, der deutlich oberhalb von Ich komme zum Schluss. – Wir achten genau darauf, 14,9 Prozent liegen wird. Das wissen Sie in der Koali- dass die Regelungen, die im Gesetz vereinbart werden, tion auch, weil im Gesundheitsministerium schon über- so umgesetzt werden, dass das, was gewollt ist, auch ge- legt wird, wie man diesen Beitragssatzanstieg verhin- macht wird – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das dern kann. Die Ministerin hat doch den Vorschlag gefällt nicht jedem; das können Sie sich denken. Aber es gemacht, dass erstens der Beitrag für die Bezieher von hat sich noch immer ausgezahlt, sehr sorgfältig und Arbeitslosengeld II aus Steuermitteln erhöht werden (B) gründlich vorzugehen. Das gilt auch für den Weg zum soll, damit mehr Geld in die Krankenkassen fließt, und (D) Fonds, der zum 1. Januar nächsten Jahres kommen soll. dass zweitens ein Arzneimittelsparpaket geschnürt wer- den soll, um Einsparungen vorzunehmen, damit dieser Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Beitragssatzanstieg verhindert wird. Das heißt, Sie wis- (Beifall bei der CDU/CSU – Heinz Lanfer- sen schon jetzt, dass der Beitragssatz deutlich steigen mann [FDP]: Das war sehr tapfer, Frau Kolle- wird. Der Fonds wird also insgesamt für die Masse der gin!) Versicherten in Deutschland zu einer deutlichen Bei- tragssteigerung führen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der FDP – Jens Spahn [CDU/ Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen CSU]: Das war so lang wie die Rede!) Daniel Bahr das Wort. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Daniel Bahr (Münster) (FDP): Wenn Sie Zweifel haben: Das waren genau zwei Mi- Frau Kollegin Widmann-Mauz, Sie haben die Bei- nuten und 27 Sekunden. tragssatzentwicklung angesprochen und unterstellt, wir würden nicht seriös argumentieren. Deswegen möchte (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU ich zuerst darauf hinweisen, dass zu Beginn der Legisla- und der FDP) turperiode der durchschnittliche Beitragssatz bei 14,2 Prozent lag. Laut Koalitionsvereinbarung war es Ihr Jetzt hat die Frau Kollegin Widmann-Mauz die Ziel, dass dieser Beitragssatz stabil bleibt oder sogar Chance, drei Minuten lang zu erwidern. sinkt. Er ist mittlerweile auf 14,9 Prozent gestiegen. Von den 50 Millionen Mitgliedern der gesetzlichen Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Krankenkassen, die Beiträge zahlen, sind 22 Millionen Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Lieber Kollege bei einer Kasse versichert, deren Beitragssatz unterhalb Bahr, Sie müssen sich irgendwann einmal entscheiden. des durchschnittlichen Beitragssatzes von 14,9 Prozent Sie können nicht auf der einen Seite sagen, dass wir hö- liegt. Wenn Sie jetzt mit dem Gesundheitsfonds einen here Honorare brauchen, dass die Situation in den Kran- Einheitsbeitragssatz einführen, werden also zumindest kenhäusern verbessert werden muss und dass mehr Geld diese 22 Millionen Versicherten eine deutliche Beitrags- zurückgezahlt werden muss, und auf der anderen Seite satzsteigerung erleben. Angesichts des Zuteilungssys- klarmachen, dass die Beiträge nicht steigen dürfen. Sie tems ist noch nicht klar und wird auch nächstes Jahr können nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16555

Annette Widmann-Mauz (A) Wenn die Honorierung der ambulant tätigen Ärzte – Ich will es versuchen. – Hätten wir keinen Risikostruk- (C) verbessert werden soll – dies wollen wir beide –, dann turausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung, wird dies auch zu Beitragssatzsteigerungen führen, ob es dann würden einige Krankenkassen einen Beitragssatz einen Fonds gibt oder nicht. von 7 Prozent und andere einen Beitragssatz von 24 Prozent erheben. Wenn zukünftig ein umfassender (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich einge- neten der SPD) führt wird – so hoffe ich es –, dann wird der dann gel- Wir können auch Beitragssatzprognosen innerhalb des tende durchschnittliche Beitragssatz der gesetzlichen heutigen Systems abgeben – ohne Fonds. Es werden Krankenversicherung selbstverständlich der Beitragssatz dann genau die gleichen Zahlen herauskommen, wenn sein, der zu erheben ist. Sonst funktioniert das nicht. Das Sie den Durchschnittsbeitrag festlegen. So haben Sie im ist eine ganz schlichte ökonomische Tatsache. Übrigen auch Ihre Berechnungen durchgeführt. Ob Sie in Saarbrücken, Lübeck, Regensburg, Mün- Jetzt komme ich zu den Zahlen. Sie sagen, für chen, am Bodensee oder in Dresden – egal in welcher 22 Millionen Mitglieder gilt heute ein unterdurchschnitt- Region in Deutschland – über die gesetzliche Kranken- licher Beitragssatz, während sie nach Einführung des versicherung diskutieren: Die Bürgerinnen und Bürger Gesundheitsfonds einen höheren Beitragssatz, nämlich haben überhaupt kein Verständnis dafür, dass sie bei den durchschnittlichen bezahlen würden. Es ist völlig identischen Leistungen der Krankenkassen unterschied- klar, dass die Versicherten, die heute einen unterdurch- lich hohe Beiträge zahlen müssen. schnittlichen Beitragssatz zahlen, dann die Chance auf eine Beitragsrückgewähr haben. (Beifall bei der LINKEN) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das wollen wir Mir erklärte in Lübeck kürzlich eine Frau, die bei Aldi einmal sehen!) an der Kasse sitzt, dass sie wegen Arbeitslosigkeit vor einiger Zeit von Sachsen nach Lübeck gezogen ist und Sie sagen, das könnten wir noch nicht genau sagen, nicht verstehen kann, warum sie bei der AOK Sachsen weil noch keine Zahlen über die Höhe der Zuweisungen bisher einen Beitragssatz von 13,8 Prozent zahlen vorliegen. Wie können Sie dann aber überhaupt sagen, musste, während es jetzt bei der AOK Schleswig-Hol- wie viele Millionen Versicherte mehr oder weniger be- stein 16,2 Prozent sind. Ein Bauarbeiter aus Erfurt äu- zahlen werden? Sie kennen doch auch keine Zahlen. ßerte mir gegenüber kürzlich Ähnliches. Er ist wegen Das Gleiche gilt übrigens hinsichtlich der Frage, wel- des Arbeitsplatzes nach Hamburg gezogen. Auch er che Kassen die Chance und das Potenzial haben, Bei- kann nicht verstehen, warum er jetzt bei der IKK in träge zurückzuzahlen. Hamburg 16,2 Prozent Beitrag zahlen muss, weil es vor- (B) her bei der IKK Thüringen nur 13,1 Prozent waren. Nie- (D) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Darüber spre- mand kann begreifen, dass innerhalb der AOK und der chen wir noch einmal!) IKK derartige Beitragssatzunterschiede gelten. Erst Diese Chance ergibt sich ja nicht nur durch die Höhe des recht kann niemand begreifen, warum solche Unter- Beitragssatzes. Sie können auch bessere Leistungen an- schiede von Bundesland zu Bundesland bestehen, ob- bieten. Sie können zum Beispiel Verträge mit Ärzten ab- wohl überall einheitliche Leistungen aus der gesetzli- schließen und höhere Honorare für bessere Qualität ver- chen Krankenversicherung zur Verfügung gestellt einbaren. Wollen wir dies den Menschen vorenthalten? werden. Die Menschen müssen anhand des Preises, anhand der Die FDP will mit ihrem Antrag diese Situation der Zusatzpauschale oder auch anhand der Rückgewähr, ent- unterschiedlichen Beiträge zementieren scheiden können, welche Leistung sie für welches Geld bekommen wollen. Das ist wahre Wahlfreiheit, und das (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wir wollen stärkt den Wettbewerb um die bessere Leistung, um die Wettbewerb!) bessere Qualität. Deshalb ist dieses System richtig. Wir sollten alles tun, damit es funktionieren kann, und nicht und damit einen der wenigen positiven Punkte der letz- den Besitzstandswahrern ständig hinterherlaufen. ten Gesundheitsreform kaputtmachen, (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) nämlich von allen gesetzlich Krankenversicherten in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Deutschland den gleichen Beitragssatz zu erheben. Sie Jetzt hat der Kollege Frank Spieth von der Fraktion will mit der Wiederherstellung der Beitragsautonomie Die Linke das Wort. der Krankenkassen im Kern den Erhalt der unterschiedli- (Beifall bei der LINKEN) chen hohen Beiträge nach Kassenart und Region. Unter der Hand hofft sie, auf diesem Weg auch den neuen Ba- sistarif in der privaten Krankenversicherung stoppen zu Frank Spieth (DIE LINKE): können. Ein Schelm, der sich dabei etwas denkt. Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! (Beifall bei der LINKEN) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Machen Sie es Wir nehmen es der FDP nicht ab, dass ihre Absicht kurz!) die Stärkung der gesetzlichen Krankenkassen ist. 16556 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Frank Spieth (A) (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Frank Spieth (DIE LINKE): (C) Genauso ist es!) Ich komme zum Ende. – Ein Punkt ist mir wichtig: Wir brauchen einen krankheitsorientierten Risikostruk- Wir gehen davon aus, dass es ihr im Wesentlichen um turausgleich; denn ohne diesen Ausgleich werden die die Absicherung der Privilegien der privaten Kranken- Krankenkassen nicht in der Lage sein, gleiche Leistun- versicherung geht. gen in der Krankenversicherung deutschlandweit auf (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber Ihre Ein- Dauer zur Verfügung zu stellen. Sie müssen im Gegen- heitskasse ist der richtige Weg? Das ist Hum- teil erhebliche Zusatzbeiträge von den Versicherten ver- bug!) langen. Das ist unsozial und in keiner Weise akzeptabel. – Herr Bahr, Ihre Zwischenrufe sind sehr verräterisch. – (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ Das lehnt Die Linke ab. CSU]: Erzählen Sie doch mal was über das Gesundheitssystem der DDR! Über die Zwei- Die Linke verfolgt ein anderes Ziel: klassenmedizin und die DDR können Sie uns (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das glauben wir! was erzählen!) Das staatlich gelenkte Einheitskonzept!) – Dass Sie die DDR nicht kapiert haben, machen Sie mit Wir wollen die solidarische und soziale Bürgerinnen- und Ihren Zwischenrufen sehr deutlich. Bürgerversicherung. Wir wollen, dass alle in Deutschland lebenden Menschen von allen Einkunftsarten – also auch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: von Kapital- und Vermögenseinkommen – den gleichen Ich darf eine Zwischenbemerkung machen, Herr Kol- prozentualen Beitrag zahlen. lege Spieth. Wenn Sie von den Bundestagsabgeordneten sprechen, dann sollten Sie „wir“ statt „Sie“ sagen. Sie (Beifall bei der LINKEN – Daniel Bahr [Münster] sind schließlich auch Bundestagsabgeordneter. [FDP]: Also Steuerfinanzierung!) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir wollen auch die Abschaffung der Beitragsbemes- sungsgrenze, Das Wort hat jetzt die Kollegin Carola Reimann von der SPD-Fraktion. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das nennt sich dann Steuern!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

damit auch oberhalb von 3 600 Euro Einkommen Bei- Dr. Carola Reimann (SPD): tragszahlungen erfolgen. Denn jetzt werden die Gutver- (B) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon das (D) dienenden – zum Beispiel Sie als Bundestagsabgeordne- zweite Mal in ganz kurzer Zeit haben wir hier im Haus ter mit einem Einkommen von 7 300 Euro – nur bis zur Gelegenheit, über den Gesundheitsfonds zu diskutieren. Hälfte ihres Einkommens, nämlich den 3 600 Euro, zur Das machen wir natürlich gerne. Allerdings muss ich Beitragszahlung herangezogen. mich über so viel Aufmerksamkeit für ein rein techni- (Zuruf von der SPD: Das trifft alle gesetzlich sches Instrument einer bereits beschlossenen Reform Versicherten!) wundern; Bei einem durchschnittlichen Beitrag von 15 Prozent (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Es ist eben führt dies bei dem Abgeordneten zu einer prozentualen nicht nur Technik!) Beitragsbelastung des Einkommens von 7,5 Prozent. denn nicht mehr und nicht weniger ist der Gesundheits- Das ist gegenüber den Beziehern kleiner und mittlerer fonds. Er ist ein technisches Element und Teil eines Ge- Einkommen nicht mehr zu rechtfertigen. samtpaketes „Gesundheitsreform“, die gut angelaufen (Beifall bei der LINKEN) ist. Vermutlich ist Letzteres der Grund, warum jetzt so gegen den Fonds geschossen wird. Die Gesundheits- Wenn wir eine Bürgerinnen- und Bürgerversicherung reform als Ganze ist Ihnen als Zielscheibe abhanden ge- auf dieser Grundlage beschließen, könnten wir rechne- kommen, weil die Menschen merken, dass diese Reform risch einen Beitragssatz von 8,6 Prozent ermöglichen. zu zahlreichen Verbesserungen geführt hat und dass kei- Wir wollen damit unsoziale Zuzahlungen und Eintritts- nes der Weltuntergangsszenarien, die Sie skizziert ha- gebühren abschaffen und den medizinischen Fortschritt ben, eingetreten ist. Dann bleibt nur der Fonds als Objekt für alle gewährleisten. Deshalb wollen wir die Bürgerin- für wilde Spekulationen. nen- und Bürgerversicherung mit einem Beitragssatz von 10 Prozent für alle einführen. Dabei schreiben Sie dem Fonds immer wieder Wir- kungen zu, die ursächlich überhaupt nicht mit ihm zu- Wenn Sie darauf achten, wer alles aufschreit, dann sammenhängen. Wir hatten gerade eine heiße Debatte merken Sie genau, worum es im Kern geht. Es geht um über die Höhe des Beitragssatzes. Nur so viel dazu: die Zweiklassenmedizin. Maßgeblich für die Beitragssätze sind die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung und (Beifall bei der LINKEN) die Ausgabenentwicklung. Dies hängt wiederum von der demografischen Entwicklung und vom medizinischen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Fortschritt ab. Ein Gesundheitsfonds ändert an diesen Herr Kollege Spieth, kommen Sie bitte zum Schluss. äußeren Faktoren nichts. Deshalb ist es schlichtweg un- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16557

Dr. Carola Reimann (A) redlich, Entwicklungen, die ohnehin eingetreten wären, unweigerlich das Sprichwort mit dem Glashaus und den (C) dem Fonds zuzuschreiben. Dass ein Durchschnitt Steinen in den Sinn. berechnet wird, ohne den morbiditätsorientierten Risiko- strukturausgleich und seine Auswirkungen zu berück- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sichtigen, ist mit Verlaub nichts anderes als eine unter- Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich gut und gerne komplexe Verschleierung der Tatsachen. Das hat Frau auf diese bayerische Extraklausel – oder sollte ich sagen Widmann-Mauz bereits ausgeführt. „Extrawurst“? – verzichten könnte. Nicht, dass ich den Natürlich wird es einen einheitlichen Beitragssatz ge- Bayern das nicht gönnen würde! ben. Das hat aber nicht, wie immer behauptet wird, zur (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die bayerische Folge, dass alle Krankenkassen die Beitragssätze anhe- SPD wird das freuen!) ben werden und dass für alle Versicherten die Beitrags- sätze steigen werden. Versicherte, die heute in einer Doch wenn Versicherte in Sachsen, Thüringen und Kasse mit einem hohen Beitragssatz versichert sind Nordrhein-Westfalen dafür zahlen müssen, dass in Bay- – darüber haben wir gerade einiges gehört –, können von ern beispielsweise die Ärzte höher vergütet werden als einem darunterliegenden einheitlichen Beitragssatz anderswo, sehe ich ein Gerechtigkeitsproblem. Mit die- durchaus profitieren. Aber dieser Fall wird immer ver- ser Meinung stehe ich nicht allein. Die Unionskollegen schwiegen genauso wie die Möglichkeit, die Kranken- aus den betroffenen Ländern sehen das ähnlich. Unser kasse zu wechseln, wenn ein Zusatzbeitrag erhoben solidarisches Gesundheitssystem ist bundesweit ange- wird. legt. Da Ländergrenzen im Nachhinein einzuziehen, ist unweigerlich mit Problemen behaftet. Ich hoffe, dass am Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie Ende auch bei der Konvergenzklausel eine vernünftige sprechen in Ihrem Antrag von einer „Einheitsversiche- und gerechte Lösung gefunden wird. Hierbei sind in ers- rung unter Ausschaltung des Wettbewerbs“. ter Linie die betroffenen unionsregierten Länder gefragt. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dahin lässt Ich denke, gerade unter Parteifreunden sollte eine Eini- sich der Fonds sehr leicht entwickeln!) gung in dieser Frage möglich sein, damit wir diese sehr fachspezifische, für die meisten sehr schwer zugängliche Das klingt natürlich mächtig bedrohlich, hat aber leider Diskussion erfolgreich abschließen können. nichts mit der Wahrheit zu tun. Den einzigen Wettbe- werb, den wir mit dem 100-prozentigen Ausgleich der Danke. Einnahmen und dem Risikostrukturausgleich eindäm- (Beifall bei der SPD) men, ist derjenige um junge, gesunde und gut verdie- (B) nende Versicherte. (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Den haben Sie Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender von der über den Zusatzbeitrag!) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Das ist auch gut so; denn dieser Wettbewerb ist schäd- lich und geht auf Kosten kranker, älterer und sozial Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schwacher Versicherter. Diesen schädlichen Wettbewerb Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol- wollen wir nicht. legin Reimann, Ihrer Verwunderung darüber, dass wir hier über den Gesundheitsfonds diskutieren und die For- (Beifall bei der SPD) derung nach seiner Abschaffung erheben, kann ich ab- Neben dem Thema Beitragssatz wurde auf die Kon- helfen. Als wir im Gesetzgebungsverfahren über den vergenzklausel verwiesen. Leider ist auch hier einiges an Gesundheitsfonds gestritten haben, erschien der Fonds Verwirrung gestiftet worden, dieses Mal nicht vonseiten vor allem als eine überflüssige und unsinnige Konstruk- der FDP, sondern vonseiten der wahlkämpfenden Kolle- tion, die keines der Probleme im Gesundheitswesen löst, ginnen und Kollegen der CSU. Ich will die Gelegenheit weder das Finanzierungsproblem noch das Gerechtig- nutzen und zwei Punkte ganz deutlich machen. Erstens. keitsproblem. Der überflüssige Fonds wurde von einer Das Gutachten von Wasem, Buchner und Wille bean- zerrissenen Koalition beschlossen, die nicht in der Lage standet lediglich die Konvergenzklausel und nicht den war, mehr als eine Reformattrappe hinzubekommen. Fonds an sich. Fonds und Klausel sind zwei verschie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie dene Paar Schuhe. Wer wegen der Kritik an der Klausel des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP]) den Fonds infrage stellt, übersieht oder verschweigt viel- leicht absichtlich, dass dieser problemlos auch ohne Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, Klausel funktioniert. inzwischen zeigt sich aber, dass der Gesundheitsfonds darüber hinaus eine ganze Reihe von Folgewirkungen (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha!) hat, die nicht zu unterschätzen sind. Zweitens. Die beanstandete Klausel wurde von Herrn (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Davor haben Stoiber persönlich durchgesetzt und in seiner Staats- wir aber immer gewarnt!) kanzlei formuliert. Wenn jetzt die CSU-Generalsekretä- rin meint, dafür das Bundesgesundheitsministerium ver- Je tiefer wir in das verkorkste Räderwerk schauen kön- antwortlich machen zu müssen, dann kommt mir nen, desto mehr Probleme werden deutlich. 16558 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Birgitt Bender (A) (Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- here Beiträge zahlen müsse, sagten Sie: Das macht (C) NIS 90/DIE GRÜNEN] und des Abg. Daniel nichts; die Kassen können das Geld wieder ausschütten. Bahr [Münster] [FDP]) Was denn nun? Da ist zum einen die Konvergenzklausel: Hochmö- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Sie haben gende Sachverständige legen uns allen dar, dass sie nicht das immer noch nicht verstanden!) funktioniert. Wenn sie funktionierte, führte sie zu einer massiven Unterfinanzierung des Gesundheitswesens. Wenn es dazu käme, dass der Beitragssatz beispielsweise Wenn man sie vom gröbsten Unsinn befreite, müssten in Sachsen signifikant steigt und die Kassen anschlie- die Versicherten in Sachsen und Thüringen trotzdem für ßend das Geld an die Versicherten zurückzahlen, dann das höhere Versorgungsniveau in Bayern und Baden- müssten die Arbeitgeber immer noch einen höheren Bei- Württemberg zahlen. Großartig! Da wird Freude auf- trag leisten. Das heißt, es käme zu einer Belastung des kommen. Faktors Arbeit auf der Arbeitgeberseite. Erörtern Sie einmal mit den dortigen Verbänden, was das für die Ar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) beitsplätze in Sachsen bedeutet! Es ist auch frühzeitig darauf hingewiesen worden, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass der Zusatzbeitrag, über den sich Frau Widmann- sowie des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP] – Mauz so freut, die Versicherten einseitig belasten wird; Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Frau Bender zunehmend wird auch deutlich, dass dadurch Kassen mit wird mir immer sympathischer!) besonders vielen einkommensschwachen und kinderrei- chen Mitgliedern in besonderer Weise benachteiligt wer- Ich würde diese Debatte an Ihrer Stelle schleunigst be- den. enden. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Richtig!) Tatsächlich ist es doch so: Sie werden der vielen Pro- bleme nicht Herr und nicht Frau. Es geht Ihnen wie dem Das führt nicht zu Wettbewerb, sondern zu Wettbe- Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr werbsverzerrung. loswird. Ein alter Zaubermeister, der beistehen kann, ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie auch nicht in Sicht. Deswegen sollten Sie diesen Hokus- des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP]) pokus einfach beenden. Beim Finanzausgleich haben Sie die Zahl der Krank- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heiten, die berücksichtigt werden sollen, unsinniger- weise auf 50 bis 80 begrenzt. Jetzt zeigt sich, dass dies Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) (D) zu keinen überzeugenden Ergebnissen führt und dass Sie Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat in heftige Auseinandersetzungen darüber geraten. Wir jetzt der Kollege Peter Friedrich von der SPD-Fraktion haben es gerade wieder von Kollegin Widmann-Mauz das Wort. vorgeführt bekommen: Sie sagen sich gegenseitig, wie es sein soll und wie es nicht sein soll. Sie streiten da- (Beifall bei der SPD) rüber wie die Kesselflicker. Ich möchte gerne wissen, wie Sie den Finanzausgleich zustande bekommen wol- Peter Friedrich (SPD): len. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gen! Verehrte Gäste auf der Tribüne! Herr Bahr, Sie ha- Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wir ben vorhin auf eine ganze Reihe von illustren Leuten re- diskutieren über die Inhalte, Frau Kollegin!) kurriert, die angeblich Ihrer Meinung sind. Ich gebe Ihnen offen zu: Ich habe einen Dissens mit der Landtags- Meine Damen und Herren, Sie haben jetzt die Gele- fraktion von Baden-Württemberg. Aber wo ist denn bitte genheit, die Notbremse zu ziehen. Andernfalls wird Ih- schön die mutige Bundesratsinitiative der schwarz-gel- nen, wenn der Einheitsbeitrag festgesetzt werden soll, ben Landesregierung von Baden-Württemberg, die den ein heißer Herbst bevorstehen. Fonds endgültig zu Fall bringt? Wenn Sie den Mund in (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ein Sommer- dieser Richtung aufmachen, dann müssen Sie doch ge- lochthema!) nau an der Stelle ansetzen. Die einen werden sagen, der Beitrag sei zu hoch; die an- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wir sind hier deren werden sagen, er sei zu niedrig. Die Beitragszah- im Bundestag!) lenden werden ausrechnen können, wie viel mehr sie Es ist Scheinmut, der hier vorgetragen wird, aber kein zahlen müssen. Es ist schon ein paar Mal das Stichwort Handlungsmut. Sachsen gefallen: Die Leute, die dort heute einen Beitrag von 12,9 Prozent zahlen, werden in Zukunft mehr zahlen (Beifall bei der SPD) müssen, wenn der Beitrag bei 15,5 Prozent liegt. Das ist genau die gleiche Form von Theaterdonner, die Frau Widmann-Mauz, Sie haben eben gesagt, die kas- wir auch in Bayern wegen der Konvergenzklausel erle- senärztlichen Vereinigungen freuten sich, dass mehr ben. Auch das ist ein Scheingefecht in den bayerischen Geld ins System komme. Als ich Ihnen vorhielt, das be- Erbfolgekriegen, aber das ist nicht wirklich förderlich deute, dass man in dem entsprechenden Bundesland hö- zur Lösung der Frage. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16559

Peter Friedrich (A) (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) NEN]: Jetzt erklären Sie uns mal, warum Sie Herr Kollege Friedrich, erlauben Sie eine Zwischen- für den Gesundheitsfonds sind! Wir sind ganz frage der Kollegin Bender? Ohr!) In Wahrheit agitieren Sie übrigens nicht etwa gegen Peter Friedrich (SPD): den Fonds, weil Sie etwas gegen den Fonds als solchen Ja. hätten, (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da kann ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie beruhigen!) Bitte schön. Ihr Punkt ist ein ganz anderer. Sie agitieren in Wahrheit gegen den Risikostrukturausgleich. Das ist der wahre Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Grund, der dahintersteckt. Herr Kollege Friedrich, da Sie gerade von Töpfen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sprechen: Sie haben neulich die Öffentlichkeit mit dem Vorschlag beschäftigt, alle Zuzahlungen im Gesund- Sie haben das Bild im Kopf, dass Gesundheit eine Ware heitswesen abzuschaffen. Erklären Sie uns doch einmal, ist, deren Preis am Markt gebildet wird. Ihr Bild ist der wie das mit dem Gesundheitsfonds geht und was es mit Wettbewerb, der regiert, aber nicht die Frage, wie es um der Weinsteuer auf sich hat, die Sie dafür einführen wol- Solidarität bestellt ist und was wir machen können, um len. die Versorgung der Patientinnen und Patienten zu opti- mieren. Für Sie ist Risikoselektion ein Wettbewerbs- Peter Friedrich (SPD): instrument. Genau das wollen und werden wir mit diesem Fonds unterbinden. Deswegen brauchen wir ihn Frau Bender, im Gegensatz zu Ihnen habe ich einen auch. komplett gegenfinanzierten Vorschlag auf den Tisch ge- legt. Die Frage der Zuzahlung ist völlig unabhängig vom (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Fonds, genauso wie die Beitragshöhe mit dem Fonds nichts zu tun hat. Ich kann verstehen, dass man immer Der zweite Punkt ist folgender: Wir erleben eine Dis- das gleiche Abziehbildchen nimmt, weil man gerne mit kussion darüber, wie weit die Solidarität im Gesund- allen Wölfen im Gesundheitswesen heulen will; aber heitswesen eigentlich reicht. Die eigentliche Frage, die faktisch haben diese Fragen nichts miteinander zu tun. dahintersteht, wenn wir uns einmal über die technische Ich bin gegen Zuzahlungen im Gesundheitssystem, weil (B) (D) Ebene der Finanzströme erheben, lautet: Wie ist denn die sie dann fällig werden, wenn die Menschen krank sind Versorgungsrealität in Deutschland, und woher kommen und das System brauchen. Deswegen möchte ich, dass die Unterschiede? Ich sage Ihnen ganz offen: Ein solida- wir von den Zuzahlungen wieder wegkommen; denn das risches Gesundheitswesen kann nicht akzeptieren, dass ist keine Finanzierungsgrundlage. wir Landstriche haben, in denen man 50, 60 Kilometer fahren muss, um den ersten Hausarzt zu erreichen, und (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ dass wir andere Regionen haben, wo sich die Ärzte ge- CSU]: Sie sollten die Partei wechseln!) genseitig auf den Marktplätzen, insbesondere in Süd- deutschland, auf den Füßen herumstehen. Das kann nicht – Auch Herr Bahr war sehr wahllos in der Auswahl sei- unser Bild von einem solidarischen Gesundheitswesen ner Verbündeten. – Ich habe einen komplett gegenfinan- sein. zierten Vorschlag vorgelegt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der Fonds ist nicht das Problem. Sie nutzen den Fonds, um all die Kritik, die vorhanden ist, auf einen Aber eine besondere Größe, so finde ich, haben die Punkt zu projizieren, der in Wahrheit nicht das Problem Grünen mit ihrem Antrag an den Tag gelegt. Sie schrei- ist. Die Frage ist, wie wir eine vernünftige Versorgungs- ben, der Fonds löse keine Probleme. Als ob die Unter- steuerung in Deutschland hinbekommen. Die Frage ist, schiede in den Beitragssätzen kein Problem wären. Dazu wie wir Solidarität in diesem System organisieren kön- wurde schon einiges gesagt. Erst sagen Sie, Sie wollten nen. Das erreichen wir mit dieser Reform. Insofern kön- keinen Fonds und dieser müsse gestoppt werden, und nen Sie weiter mit den Wölfen im Gesundheitssystem dann legen Sie uns einen Vorschlag für einen morbidi- heulen. Das Gesetz ist auf dem Weg, und ich warte im- tätsorientierten Risikostrukturausgleich grüner Bauart mer noch gespannt auf die Gesetzesinitiative der vielen auf den Tisch, der faktisch den gleichen 100-prozentigen Landesregierungen im Bundesrat, die angeblich alle ge- Einkommensausgleich durch die Hintertür wieder ein- gen den Fonds sind. führt. Sehr geehrte Frau Bender, Sie hätten das dann vielleicht „grünes Töpfle“ genannt, aber es ist faktisch Danke. exakt das Gleiche. Es ist ein 100-tprozentiger Einkom- mensausgleich, den wir im Sinne der Solidarität in (Beifall bei der SPD – Daniel Bahr [Münster] Deutschland brauchen. Sehen Sie, Sie wünschen, und [FDP]: Die Gesetzesinitiative liegt hier im wir handeln. Bundestag, wo sie hingehört! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Er wandert schon Richtung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Linkspartei!) 16560 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) Ich schließe die Aussprache. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt kei- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/7737 und 16/8882 an die in der Ta- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. ner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Dr. Hermann Kues für die Bundesregierung. sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b so- Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der wie die Zusatzpunkte 5 und 6 auf: Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- 11 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ gend: CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeld- Kinderzuschlag ist nicht nur ein gezieltes Instrument zur gesetzes Bekämpfung der Kinderarmut; er hilft auch und gerade jenen Eltern, deren Einkommen für sie selbst reicht, die – Drucksache 16/8867 – aber nicht genug verdienen, um auch ihre Kinder zu ver- Überweisungsvorschlag: sorgen. Die Folge ist dann, dass diese Familien trotz Ar- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) beit auf Hartz IV angewiesen sind. Der Kinderzuschlag Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ist deshalb auch ein Signal an Mehrkinderfamilien, an Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Alleinerziehende und an Familien im Niedriglohnbe- reich: Arbeiten lohnt sich; man kann es selbst schaffen. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Familie, Senioren, Es hilft nicht, Kinderarmut allein zu beklagen; man Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An- muss sich im Kampf gegen die Kinderarmut auch über trag der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Instrumente unterhalten. Man darf nicht nur auf die Kin- Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der schauen, sondern sollte auch die Eltern in den Blick der Fraktion DIE LINKE nehmen. Wenn man das tut, dann stellt man im Wesentli- Kinderarmut bekämpfen – Kinderzuschlag chen zwei Ursachen für Kinderarmut fest. ausbauen Erste Ursache: Kinder leben in Armut, weil ihre El- – Drucksachen 16/6430, 16/8915 – tern keine Arbeit haben. Wir haben in dieser Legislatur einiges auf den Weg gebracht, Stichwort „Elterngeld“ Berichterstattung: und „Ausbau der Kinderbetreuung“. Damit unterstützen Abgeordnete Ingrid Fischbach (D) (B) wir insbesondere Eltern und Alleinerziehende, die in ih- Wolfgang Spanier Ina Lenke ren verschiedenen Lebenslagen und -phasen mit Kind ei- Elke Reinke nem besonderen Armutsrisiko ausgesetzt sind, und wir Ekin Deligöz schaffen Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, dass sie einem Beruf nachgehen. ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin De- ligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Zweite Ursache – sie ist für mich besonders bedrü- Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/ ckend –: Kinder leben auch deshalb in Armut, weil sie in DIE GRÜNEN kinderreichen Familien aufwachsen, in denen die Eltern Mühe haben, mit knappem Einkommen über die Runden Kinderzuschlag weiterentwickeln – Fürsorge- zu kommen. Hier setzt der Kinderzuschlag an. Er ist eine bedürftigkeit und verdeckte Armut von Er- der entscheidenden Leistungen, um Mehrkinderfamilien werbstätigen mit Kindern verhindern und be- zu erreichen. kämpfen – Drucksache 16/8883 – Den Kinderzuschlag gab es schon bislang; aber das Verfahren zu seiner Beantragung war sehr kompliziert: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Es musste eine Mindesteinkommensgrenze individuell Ausschuss für Arbeit und Soziales berechnet werden. Das Verfahren war dadurch wenig transparent, auch und nicht zuletzt für die Antragsteller. ZP 6 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Wir setzen jetzt ganz klare Einkommensgrenzen: gierung 600 Euro Mindesteinkommen für Alleinerziehende und Bericht über die Auswirkungen des § 6 a des 900 Euro für Paare. Die Eltern können so leicht Bundeskindergeldgesetzes (Kinderzuschlag) erkennen, ob sie für den Kinderzuschlag in Betracht sowie über die gegebenenfalls notwendige Wei- kommen oder nicht. Ein Paar, das 900 Euro zum Lebens- terentwicklung dieser Vorschrift unterhalt beiträgt, und eine Alleinerziehende oder ein – Drucksache 16/4670 – Alleinerziehender, der 600 Euro zum Lebensunterhalt beiträgt – man bezieht nur wegen der Kinder Arbeitslo- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) sengeld II –, werden durch den Kinderzuschlag unab- Rechtsausschuss hängig vom Bezug von Arbeitslosengeld II. Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Eine zweite Änderung betrifft die Abschmelzrate. Ne- Haushaltsausschuss ben der Einkommensgrenze wird auch die Abschmelz- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16561

Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues (A) rate für Einkommen aus Erwerbstätigkeit von 70 auf Ich möchte auch etwas im Hinblick auf den antrag- (C) 50 Prozent gesenkt. Die Eltern können auf diese Art und stellenden Bürger sagen. Schauen Sie sich das einmal an. Weise mehr als bisher von dem selbst erwirtschafteten Einkommen behalten. Dadurch schaffen wir durchge- (Die Rednerin hält ein Schriftstück hoch) hend einen Erwerbsanreiz. Das ist die Mappe, die man als Bürger ausfüllen muss, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) um an den Kinderzuschlag zu kommen. Das Antragsfor- mular allein ist über 30 Seiten lang. Die Bürger wurden, Das Beste: Im Zusammenspiel mit der Wohngeld- nachdem sie diese Anträge abgegeben haben, bitter ent- reform erreichen wir mit dem neuentwickelten Kinder- täuscht. Die folgende Zahl müssen Sie sich leider anhö- zuschlag eine Viertelmillion Kinder. Ab dem 1. Januar ren: 12 Prozent der Antragsteller und Antragstellerinnen 2009 erhalten insgesamt 70 000 Familien mehr Unter- erhielten bisher den Kinderzuschlag. 88 Prozent der An- stützung. Ich finde, das ist eine sehr positive Entwick- tragsteller bekamen nichts. Das heißt, sie haben den An- lung. trag ausgefüllt und bekamen eine Absage. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Als FDP-Politikerin kritisiere ich ganz besonders, neten der SPD – Johannes Singhammer [CDU/ dass 18 Prozent der Gesamtausgaben für Bürokratie ver- CSU]: Ein echter Fortschritt!) wendet werden. Herr Dr. Kues, in Ihrem Gesetzentwurf – Das ist nicht nur ein familienpolitischer Fortschritt. – ich habe ihn natürlich genau durchgelesen – steht: Es Wir erreichen damit gerade Familien im Niedriglohnbe- steigen die Bürokratiekosten von 17 Millionen Euro auf reich. Sie werden auf diese Art und Weise entlastet. 26 Millionen Euro. Sie erzählen uns also, dass alles ein- facher wird und die Leute alles besser verstehen. Die Ich bin mir sicher, dass wir mit unserem Gesamtkon- Bürokratiekosten steigen aber. zept – angefangen bei der Einführung des Elterngeldes und dem Ausbau der Kinderbetreuung für die unter Drei- Bisher – das hat Herr Kues zugeben müssen – gab es jährigen, fortgeführt mit der jetzt vorgelegten, vom Ka- keine Anreize, aus dem Zuschusssystem auszusteigen. binett beschlossenen Weiterentwicklung des Kinderzu- Wenn Eltern mehr Geld verdienten, mussten sie für je- schlags und mit einer im Winter anstehenden klugen den zusätzlich verdienten Euro 70 Prozent abgeben. Wer Staffelung des Kindergeldes – auf dem richtigen Weg hat das gemacht? Wo sind da eigentlich die Arbeitsan- sind, die Kinderarmut in Deutschland so gering wie reize? Wir sind uns alle einig. Deshalb haben Sie gesagt: möglich zu halten. Wir geben damit das klare Signal an Der Staat soll nicht 70 Prozent, sondern 50 Prozent von alle: Arbeiten für die eigene Familie, das lohnt sich. jedem zusätzlich verdienten Euro bekommen. Die Aussage im Evaluierungsbericht des Gesetzes (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) neten der SPD) zum Kinderzuschlag lautet – daran würde ich Sie gern erinnern –: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: In manchen Konstellationen führt zusätzliches Er- Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke von der FDP- werbseinkommen sogar zu einem Rückgang des Fraktion. verfügbaren Einkommens der Familie. (Beifall bei der FDP) Sie haben also ein Gesetz gemacht, durch das die Fa- milien noch weniger Geld haben als vorher; das hat Pro- Ina Lenke (FDP): gnos gesagt und nicht die FDP. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe Die FDP-Bundestagsfraktion bezweifelt, dass das Herrn Dr. Kues recht: Grundsätzlich sind alle Maßnah- Konzept eine gute Balance von Unterstützung und Hilfe men zu begrüßen, die Eltern und ihre Kinder vor zur Selbsthilfe beinhaltet. Hartz IV bewahren. Unserer Meinung nach eignet sich der Kinderzuschlag in der jetzt vorliegenden Form nicht Wir dürfen auch nicht vergessen, was Sie gemacht ha- dazu. Mein ehemaliger Kollege Klaus Haupt hat für die ben, als Sie die Regierung neu bildeten: Sie haben die FDP in Bezug auf den Vorgänger des rot-grünen Geset- falschen politischen Entscheidungen für die Eltern ge- zes zum Kinderzuschlag 2005 erklärt – das ist schon drei troffen. Die Familien haben seit Jahren weniger Geld in Jahre her –: Der Kinderzuschlag ist bürokratisch, seine der Tasche. Das ist auf Ihre Entscheidungen zurückzu- Effekte sind nicht zielgerichtet und verwirrend. Es ist führen: Sie haben die Mehrwertsteuer von 16 auf kaum nachzuvollziehen, wie ein derart schlampig kon- 19 Prozent erhöht. Sie haben die Haushaltskassen belas- struiertes Gesetz als Sozialleistung den Bundestag über- tet. Jetzt plötzlich muss ein Kinderzuschlag kommen, haupt verlassen konnte. damit die Familien einigermaßen bei Kasse sind. (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der (Beifall bei der FDP) SPD) Pampers werden mit 19 Prozent besteuert, der Staat Vor drei Jahren haben Sie genauso protestiert wie heute. bekommt also 19 Prozent des Preises. Eine Packung Das Gesetz war schon damals mit vielen Fehlern, Un- Pampers kostet 12 Euro. Das Produkt ist teurer gewor- klarheiten und viel Bürokratie behaftet; Sie hätten es den: Die Hersteller haben zwar den Preis nicht erhöht, sonst nicht in vielerlei Hinsicht verbessert. Wir haben aber eine Pampers-Windel weniger hineingetan. Da- also damals recht gehabt. durch ist der Preis indirekt erhöht worden. 16562 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Ina Lenke (A) Von den vollmundigen Ankündigungen von Ronald Damit sind auch deren Kinder in besonderer Weise von (C) Pofalla, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ Armut betroffen. Es ist von Herrn Kues zu Recht gesagt CSU, dass er die Besteuerung von all den Dingen, die worden: Das Ziel des Kinderzuschlags ist es, genau an mit Kindern zu tun haben – dazu gehören ja auch Pam- dieser Stelle anzusetzen. Wir setzen damit genau an der pers –, überprüfen und in der Koalition dafür sorgen richtigen Stelle an, indem wir uns bemühen, die Er- will, dass sie nicht mehr mit 19, sondern mit 7 Prozent werbseinkommen von Eltern mit Kindern so aufzusto- besteuert werden, habe ich nie wieder etwas gehört. cken, dass sie nicht mehr auf Leistungen gemäß dem So- zialgesetzbuch angewiesen sind. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wir ha- ben eine Menge geschafft für die Kinder!) Den Kinderzuschlag gibt es nun in Deutschland schon einige Jahre. Im Jahr 2007 haben ihn immerhin – Von Ihnen, Herr Singhammer, habe ich auch nichts ge- 36 000 Familien mit rund 100 000 Kindern erhalten. Er hört. Das heißt, Sie werden das in dieser Koalition nicht hat dort genau das bewirkt, was ich eben gesagt habe: zustande bekommen. Sie haben keine Hilfen mehr gemäß SGB II nötig. Der verbesserte Kinderzuschlag wird 2009 – die Zahl ist eben- Zum Schluss, meine Damen und Herren, will ich falls schon genannt worden – immerhin 106 000 Fami- noch auf einen besonderen Punkt, der mich enorm är- lien, also fast drei Mal so viele, erreichen. Auf diese gert, eingehen. Ich bitte Sie, diese Kritik auch anzuneh- Weise werden 250 000 Kinder keine Leistungen mehr men, weil es hier rein um die Sache geht. Ich kritisiere, gemäß SGB II nötig haben. dass die Bundesregierung soziale Leistungen ausweiten will, ohne das Ergebnis der Prüfung der 145 ehe- und fa- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten milienbezogenen Leistungen abzuwarten. Seit Novem- der CDU/CSU) ber 2006 wird im Ministerium geprüft und geprüft und Die Summen, die gezahlt worden sind, lassen sich geprüft. Die FDP will jetzt endlich wissen, welche der durchaus sehen. Im Jahr 2007 waren es pro Familie historisch gewachsenen Leistungen für Ehe und Familie durchschnittlich immerhin 253 Euro und pro Kind – es handelt sich ja um insgesamt 185 Milliarden Euro durchschnittlich immerhin 91 Euro. Ich glaube, dass da- im Jahr – die Familien wirklich erreichen und ihnen hel- mit erwiesen ist, dass der Kinderzuschlag wirklich ein fen. Erst dann, wenn das Ergebnis vorliegt, sollte man wirksames Instrument ist. neue Leistungsgesetze erlassen. Auch der Deutsche Ge- werkschaftsbund ist von dem von Ihnen eingeführten (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr Kinderzuschlag überhaupt nicht begeistert. richtig!) Ich komme zum Schluss: Der Ausschuss für Familie, Frau Lenke, Sie haben vorhin darauf hingewiesen, (B) Senioren, Frauen und Jugend wird ja eine Anhörung dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einige (D) durchführen. Ich meine, es wäre klug von der Bundesre- Veränderungen am bisherigen Kinderzuschlag vorneh- gierung, vor Verabschiedung des vorgelegten Gesetzes men. Ich glaube, das Parlament ist insgesamt gut bera- erst das Ergebnis der Analyse der 145 ehe- und familien- ten, nicht zu glauben, dass die Gesetze, mit denen be- bezogenen Leistungen abzuwarten und dann gemeinsam stimmte Ziele und bestimmte Wirkungen verfolgt nach besseren Lösungen zu suchen. werden sollen, auf ewig und drei Tage gültig sind. Wir müssen vielmehr immer überprüfen, ob die Ziele, die wir Vielen Dank. angestrebt haben, auch tatsächlich erreicht worden sind. Wir nennen das Evaluation. Das ist mittlerweile auch (Beifall bei der FDP) eine Selbstverständlichkeit.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Ina Lenke [FDP]: Das ist doch nicht neu!) Das Wort hat der Kollege Wolfgang Spanier von der Wenn dann festgestellt wird, dass Dinge nicht so laufen, SPD-Fraktion. wie wir uns das vorgestellt haben, dann ist es unsere selbstverständliche Pflicht, Korrekturen vorzunehmen. (Beifall bei der SPD) Das als Fehler oder sonst etwas zu bezeichnen, bringt uns nicht weiter, es sei denn, man ist im Zustand der All- Wolfgang Spanier (SPD): wissenheit, aber das nehmen Sie sicherlich von sich auch Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es nicht an. ist richtig: Kinderarmut ist Elternarmut. Es ist auch Die entscheidende Hürde war das Mindesteinkom- richtig – das ist hier ebenfalls schon gesagt worden –: men. 53 Prozent der abschlägig beschiedenen Anträge Die beiden wichtigsten Ursachen für Armut der Eltern sind damit begründet worden. Also haben wir genau da sind Arbeitslosigkeit und die sich leider immer weiter die Korrektur vorgenommen und das Mindesteinkom- ausbreitenden Niedriglöhne. Dieser Punkt macht uns in men herabgesenkt. Das wird dazu führen, dass deutlich den letzten Jahren zunehmend Sorge. Bei den Eltern mehr Familien in den Genuss des Kinderzuschlages muss man sicherlich auch noch eine Differenzierung kommen. vornehmen: Besonders die Gruppe der Alleinerziehen- den hat ein weit überdurchschnittliches Armutsrisiko. Eine Hürde ist allerdings nach wie vor da. Mit dem Erwerbseinkommen, dem Kindergeld, dem Wohngeld (Ina Lenke [FDP]: Sie kriegen ja kein Ehe- und dem Kinderzuschlag muss die Hürde der SGB-II- gattensplitting!) Leistungen, die man sonst bekommen könnte, über- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16563

Wolfgang Spanier (A) schritten werden. Hier möchte ich auf eine Gruppe hin- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C) weisen, die ich schon einmal erwähnt habe, nämlich die Eng verschränkt sind Kindergeld und Wohngeld. Alleinerziehenden. Ein „Vorteil“, den sie haben, dass sie Deswegen bin ich persönlich, aber sind sicherlich wir nämlich bei den SGB-II-Leistungen 125 Euro aufgrund Sozialdemokraten alle froh, dass wir morgen in diesem ihres Mehrbedarfes bekommen, erweist sich hier als eine Haus eine deutliche Verbesserung des Wohngeldes be- Hürde. Sie müssen zusammen mit den Leistungen, die schließen werden, weil Kindergeld und Wohngeld eng ich gerade genannt habe, nachweisen, dass sie diese miteinander zusammenhängen. 125 Euro überschreiten. Damit erweist sich diese Rege- lung als „Nachteil“. Wir sollten überprüfen, ob wir Eines ist aber klar: Wir wollen die Wirkung des Kin- hieran im Laufe der Beratungen noch etwas ändern kön- derzuschlages nicht überschätzen. Wenn wir sozusagen nen. das Übel wirklich an der Wurzel packen wollen, wirklich etwas gegen Niedrigeinkommen tun wollen – hier Genauso sollten wir prüfen – das will ich an dieser schaue ich in Richtung CDU/CSU –, dann werden wir Stelle anmerken –, ob der Gedanke der Wahlfreiheit, der um die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns nicht ja in den vorbereitenden Diskussionen und Gesprächen herumkommen. Wir sollten wenigstens bei den acht eine Rolle gespielt hat, nicht doch noch zum Tragen Branchen, die sich tarifvertraglich geeinigt haben, die kommen könnte. Das würde natürlich – das sage ich Allgemeinverbindlichkeit gemeinsam durchsetzen. Da- ganz offen – beträchtliche Mehrkosten bedeuten. mit würden wir 1,5 Millionen Beschäftigten einen ver- nünftigen Lohn verschaffen und somit viel mehr Fami- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: lien als beim Kinderzuschlag aus dem SGB-II-Bezug Herr Kollege Spanier, erlauben Sie eine Zwischen- herausholen. frage der Kollegin Ina Lenke? (Beifall bei der SPD)

Wolfgang Spanier (SPD): Wir müssen aufpassen, dass wir nicht Gefahr laufen, Sehr gerne, Frau Lenke. Stückwerk zu machen. Geld ist wichtig, aber – das will ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen – es ist nicht hin- reichend. Ein ganz entscheidender Faktor ist Bildung, Ina Lenke (FDP): wenn man an ein Gesamtkonzept zur Bekämpfung von Herr Spanier, Sie haben gerade für die Alleinerzie- Kinderarmut geht. henden die verschiedenen Hilfen genannt, nämlich das Kindergeld, den Kinderzuschlag, das Wohngeld und den Damit komme ich zum Vorschlag der Linken. Die zusätzlichen Zuschlag für Alleinerziehende. Das sind Linke schlägt eigentlich keine Veränderung des Kinder- (B) vier Leistungen. Wäre es nicht besser, wenn man das zuschlages vor, sondern im Grunde genommen eine Al- (D) Ganze nach der Evaluierung der 145 Leistungen bündeln ternative. Frau Deligöz hat von diesem Pult aus schon und keine Einzelleistungen mehr zahlen würde? Selbst einmal sehr deutlich und sehr kritisch angemerkt, dass in wir kommen ja schon kaum mit all den Einzelleistungen diesem Antrag offensichtlich etwas durcheinandergeht. – zurecht. Wie soll man das von einer Bürgerin erwarten? Ich wollte Sie jetzt nicht wörtlich zitieren; Sie kann natürlich zu einem Amt gehen, wo es ihr dann (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erläutert wird. Nichtsdestotrotz halte ich das für ein sehr NEN]: Danke schön!) undurchsichtiges System. Vonseiten der Bürger wird in Richtung Politik kritisiert, den Alleinerziehenden werde aber daran erinnern wollte ich doch. nicht geholfen. Deshalb wäre es wirklich besser, solche Was die Linke hier vorschlägt, ist kein Kinderzu- Dinge zu bündeln. Von daher habe ich für die FDP da- schlag, sondern eine Grundsicherung – so weit, so gut – rum gebeten, erst einmal abzuwarten, wie im August die in Höhe von 420 Euro. Sie müssen dabei aber – das ist Evaluierung der 145 Leistungen ausfällt. Können Sie ein Gebot der Redlichkeit – folgenden Zusammenhang mir Ihre Meinung dazu sagen? sehen: Wenn Sie die Grundsicherung so erhöhen und praktisch das Sozialgeld für Kinder verdoppeln, heben Wolfgang Spanier (SPD): Sie das Existenzminimum an. Dann müssen Sie auch Mittlerweile stehe ich den ganz einfachen Bierdeckel- den Steuerfreibetrag für Kinder – nicht eins zu eins, aber lösungen skeptisch gegenüber. in einer annähernd gleichen Größenordnung – erweitern. Das müssen Sie, weil das ein ausdrückliches Gebot des (Beifall von Abgeordneten der SPD – Ina Bundesverfassungsgerichts ist, ob einem das passt oder Lenke [FDP]: Ist doch nicht einfach!) nicht. Aber Sie haben bei Folgendem recht, Frau Lenke: Dass Wenn Sie also für die armen Kinder etwas tun wollen, die 145 Familienleistungen – wie viele sind es denn ge- müssen Sie gleichzeitig etwas für diejenigen Eltern tun, nau? – die über 60 000 Euro im Jahr verdienen; sie profitieren (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: 142!) nämlich in besonderer Weise vom Freibetrag. Konse- quenterweise müssen Sie dann auch an die Eltern den- auf den Prüfstand gestellt werden und deren Wirksam- ken, die unter 60 000 Euro im Jahr verdienen, und eine keit nach einheitlichen Kriterien miteinander verglichen Erhöhung des Kindergeldes in Betracht ziehen. Eine Er- wird, fordern auch wir ein. Hier schaue ich in Richtung höhung des Kindergeldes um 10 Euro kostet 2 Milliar- Regierungsbank. den Euro. Wenn Sie das Kindergeld – ich rede nicht 16564 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Wolfgang Spanier (A) einmal von einer Verdoppelung – nur um 50 Euro erhö- Ihnen damals noch nicht einmal Hartz IV weit genug (C) hen würden, was Sie tun müssten, wären das schon ging. 10 Milliarden Euro. Und damit werden Sie nicht aus- Frau Ministerin von der Leyen kündigte im Sommer kommen. letzten Jahres an, mindestens 500 000 Kinder mit dem Diesen Zusammenhang muss man sehen, bei allem Kinderzuschlag aus der Armut herausholen zu wollen. guten Willen, der vielleicht – oder mit Sicherheit; das Mittlerweile sind es nur noch maximal 250 000 Kinder. will ich Ihnen zugestehen – dahintersteckt. Das müssen Die Bundesregierung will uns weismachen, dass diese Sie machen; darum kommen Sie nicht herum. Absenkung auf 250 000 an der guten Arbeitsmarktsitua- tion liegt, wodurch viele Eltern wieder in Arbeit gekom- Das heißt, wenn Sie davon reden, eine Grundsiche- men seien. rung von 420 Euro einführen zu wollen, dann reden Sie in Wirklichkeit von einer Ausgabensteigerung um 20 und (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: 1,3 Millio- mehr Milliarden Euro pro Jahr. Wie soll man einen sol- nen Arbeitsplätze mehr!) chen Vorschlag nennen? – Nein, das ist einfach Quatsch. (Christel Humme [SPD]: Unlauter!) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das stimmt Wie soll man einen solchen Vorschlag bewerten? Ich doch! Das kann jeder nachlesen!) enthalte mich. Denn stärker als je zuvor boomt der Niedriglohnsektor. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben noch Ge- Das ist eine Tatsache. Ein flächendeckender gesetzlicher legenheit, den Gesetzentwurf intensiv zu beraten. Es Mindestlohn wird von Ihnen immer wieder blockiert. wird auch eine Anhörung geben. Ich glaube, dass wir (Beifall bei der LINKEN – Johannes Singham- über das eine oder andere Thema – ich habe die Allein- mer [CDU/CSU]: 1,3 Millionen Arbeitsplätze erziehenden genannt, die wir besonders im Auge haben; mehr!) aber ich habe auch das Thema Wahlfreiheit genannt – noch sprechen müssen. Ich bin niemand, der nicht auch – Im Niedriglohnsektor zum Teil. die finanziellen Rahmenbedingungen sieht, der sozusa- gen großzügig zusätzliche Wohltaten verteilt. Aber wir (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Nein!) sind uns einig: Wir wollen an dieser Stelle ganz gezielt Gleichzeitig beantragten mehr als 1 Million Men- Menschen helfen, die trotz Erwerbsarbeit für den Unter- schen ergänzendes Arbeitslosengeld II, sogenannte Auf- halt ihrer Kinder nicht aufkommen können. Deswegen stocker. Trotz Arbeit kommen sie aus der Hartz-IV-Falle ist es der Mühe wert, in den anstehenden Gesprächen al- nicht heraus. Zudem wird der maximale Kinderzuschlag (B) les zu versuchen, die Regelungen möglichst optimal zu nicht über 140 Euro hinaus angehoben. So holen Sie die (D) gestalten. Kinder aus der Bedürftigkeit nicht heraus. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. Die Bundeskanzlerin hatte am 28. November 2007 im (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Bundestag versprochen – ich zitiere aus dem Plenarpro- tokoll –: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Deshalb werden wir den Kinderzuschlag erhöhen Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Reinke von der und vereinfachen. Fraktion Die Linke. Gut zwei Wochen nach dem Versprechen der Kanzlerin (Beifall bei der LINKEN) hieß es – ich zitiere aus der Antwort auf unsere Kleine Anfrage –: Elke Reinke (DIE LINKE): Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, den Kin- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! derzuschlag zu erhöhen. Werte Gäste! Es ist ein Hohn, dass die SPD, aber auch Tricksereien und Rechenspielchen bringen keine Lösun- die Grünen uns immer wieder erzählen wollen, sie hätten gen für die Betroffenen. mit Hartz IV nicht die Kinderarmut auf 2,6 Millionen verdoppelt, sondern die verdeckte Armut sichtbar ge- (Beifall bei der LINKEN) macht. Fast die Hälfte aller sogenannten Hartz-IV-Kinder (Kerstin Griese [SPD]: Das haben wir auch!) lebt in Alleinerziehenden-Haushalten. Sie gewinnen durch dieses Gesetz fast nichts. Selbst mit dieser Ände- Auf diese Großtat von SPD und Co, endlich sichtbare rung werden von den zusätzlich erreichten Kindern Armut erleben zu dürfen, hätten Millionen von Kindern höchstens 9 Prozent aus Alleinerziehenden-Haushalten in Deutschland gern verzichtet. stammen. (Beifall bei der LINKEN – Kerstin Griese Vorgesehen ist auch eine Absenkung der Mindestein- [SPD]: Bei dem Thema ist Sarkasmus völlig kommensgrenze für Alleinerziehende auf 600 Euro. Da- unangebracht!) mit wird man Hartz IV nicht umgehen können. Denn der Die Union und die FDP, vor allem diejenigen unter Unterhaltsvorschuss wird angerechnet, aber die Maxi- Ihnen, die soziale Gerechtigkeit immer kurz vor Wahlen malhöhe von 140 Euro nicht angehoben. Kurzum: Wie- wiederentdecken, möchte ich gerne daran erinnern, dass der einmal schauen Alleinerziehende in die Röhre. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16565

Elke Reinke (A) Deshalb fordern wir eine deutliche Erhöhung des (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Immer- (C) Kinderzuschlags, um Hartz IV für erwerbstätige Eltern hin! – Wolfgang Spanier [SPD]: Das ist doch und ihre Kinder zu vermeiden. Für unter 14-Jährige schon mal was!) muss der Zuschlag auf 200 Euro und für über 14-Jährige auf 270 Euro erhöht werden. Meiner Fraktion ist es – Ja, das ist schon mal was. – Das Negative daran ist wichtig, die Maximalhöhe nach dem Alter der Kinder aber, dass Sie Hoffnungen geweckt haben, indem Sie unterschiedlich zu gestalten. Über 14-Jährige dürfen den Menschen versprochen haben, dass 530 000 Kinder nicht in Armut rutschen, nur weil sie spezifische, alters- zusätzlich mit dem Kinderzuschlag erreicht werden sol- bedingte Bedarfe haben. Das vermissen wir auch im ak- len. Jetzt kündigen Sie an, 150 000 Kinder damit zu er- tuellen Antrag der Grünen. reichen. In Ihrem Gesetzentwurf ist aber nur von 120 000 Kindern die Rede, die vom Kinderzuschlag zu- Des Weiteren müssen die Mindesteinkommensgren- sätzlich profitieren werden. Zwischen dem, was Sie an- zen entfallen, damit mehr Familien von der Regelung gekündigt haben, und dem, was jetzt im Gesetzentwurf profitieren. Ergänzend ist das Wohngeld anzuheben, um steht, besteht noch einmal eine Differenz von 30 000. die steigenden Mieten einzubeziehen. Unsere Forderun- Dann kommen Sie und sagen: Wenn wir irgendwann gen sind ein erster Schritt hin zu einer bedarfsorientier- einmal eine Wohngeldreform dazu machen, dann wird ten eigenständigen Kindergrundsicherung von 420 Euro. die Zahl ja wieder steigen. – Aber wir machen doch hier In Verbindung mit einem gesetzlichen Mindestlohn keine Politik von Wenn und Aber. Entweder wir machen könnten so Lebensniveau und Teilhabemöglichkeiten etwas – dann jetzt gleich und sofort –, oder wir machen von Kindern spürbar verbessert werden. es nicht. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der uns vorliegende Gesetzentwurf bekämpft Kinder- Das, was Sie machen, ist die Beschönigung der Tatsa- armut nicht wirklich. Betroffene Gesichter reichen zur chen, damit Ihre Bilanz, die übrigens sehr schlecht ist, Bekämpfung der Kinderarmut nicht aus. Wie schon in einen besseren Eindruck macht. Das nennt man Ver- der Debatte um die Kinderregelsätze gilt: Alle Kinder schleierung der Tatsachen. Und das ist keine ehrliche müssen unabhängig vom sozialen Status der Eltern die Politik. gleichen Entwicklungs- und Teilhabechancen haben. So (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist und bleibt Ihre Reform des Kinderzuschlags im wahrsten Sinne des Wortes ein Armutszeugnis. Versprochen gebrochen – das war eigentlich einmal ein Leitspruch einer anderen Fraktion hier im Bundestag. Vielen Dank. Diese muss ihn jetzt ernst nehmen; denn genau das ma- (B) (D) (Beifall bei der LINKEN) chen Sie. Frau von der Leyen sagte in der Regierungsbefragung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der letzten Sitzungswoche in ihren Antworten, dass sie Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz von gerne mehr gemacht hätte, dies aber leider nicht konnte, Bündnis 90/Die Grünen. weil aufgrund der aktuellen Haushaltslage nicht mehr möglich war. Dieses Argument lasse ich hier nicht gel- ten. Wir haben zurzeit einen Entwurf vorliegen, in dem Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne intensiv Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! über Sinn und Unsinn zu beraten, hoppladihopp Liebe Frau Reinke, was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen 2 Milliarden Euro für eine Rentenerhöhung ausgeben. – ich kann mich da nur wiederholen –, führt dazu, dass Wenn es aber darum geht, den Anspruch auf den Kinder- mehr Kinder in ALG II landen, anstatt herausgeholt zu zuschlag, der insbesondere Familien mit einem niedri- werden. gen Einkommen betrifft und der darauf abzielt, Kinder aus der Armutsfalle herauszuholen, ein wenig auszuwei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten, und Sie dann mit dem Argument der Haushaltslage sowie bei Abgeordneten der SPD) kommen, sollte man Ihnen das nicht durchgehen lassen. Sie haben das Prinzip nicht verstanden. Auch wenn Sie Sie sollten eine konsequente Armutspolitik machen. Das noch so oft falsche Argumente wiederholen, wird es brauchen wir. Dazu sollten Sie stehen und sich nicht hin- nicht richtiger. Es ist falsch und bleibt falsch. Deshalb ter Argumenten verstecken, die Ihnen an anderer Stelle stimmen wir gegen Ihren Antrag. anscheinend wenig bedeuten. Es freut mich aber – das muss ich trotzdem sagen –, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass wir heute nach fast zweieinhalb Jahren des Ankün- Weiterhin hat die Ministerin betont, dass bei den El- digens und des Wartens hier einen Gesetzentwurf der tern sehr wohl eine Erwerbsbereitschaft vorhanden ist Bundesregierung zum Kinderzuschlag vorliegen haben. und dass sie Unterstützung brauchen. Wenn das so ist, (Ina Lenke [FDP]: Zu eurem Kinderzuschlag!) dann könnten Sie durchaus den maximalen Kinderzu- schlag erhöhen, damit die Familien deutlicher über dem Diese Freude vergeht mir allerdings ziemlich schnell, Existenzminimum landen. Außerdem: Wenn Sie wirk- wenn ich mir den Gesetzentwurf genau anschaue. Das lich Menschen aus dem Bezug von ALG-II-Leistungen Positive daran ist, dass es in die richtige Richtung geht. herausholen wollen, dann richten Sie ein Wahlrecht ein. 16566 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Ekin Deligöz (A) Ein Wahlrecht würde das Ganze nicht nur entbürokrati- vorgesehenen Koppelungen, die die Angelegenheit hät- (C) sieren, sondern Chancen schaffen, sodass die Eltern sa- ten verzögern können, erledigt sind. gen könnten: Ich hätte zwar einen Anspruch; ich will diesen ganzen Formularwust im Zusammenhang mit Ich stelle fest: Kinderzuschlag, Elterngeld und Aus- dem ALG II aber nicht mitmachen. – Für sie würde man bau der Kinderbetreuung – Stück für Stück schließen wir die Möglichkeit der freien Wahl schaffen. die Gerechtigkeitslücke bei Familien und Kindern. In keinem anderen Politikbereich haben wir so viel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schwung aufgenommen wie in der Familienpolitik, und das wird auch in Zukunft so bleiben. Es gibt noch weitere Stellschrauben, an denen wir drehen und den Kindergzuschlag über Ihren Entwurf hi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und naus verbessern können. Dazu haben wir heute einen der SPD) Antrag vorgelegt. Darin machen wir Ihnen eine ganze Menge Vorschläge. Den Agenturmeldungen habe ich Das nächste große Vorhaben wird die Erhöhung des heute entnommen, dass sich die Koalition eigentlich Kindergeldes im kommenden Jahr sein. Auch dieses noch gar nicht einig ist und dass einzelne Vorschläge, die Vorhaben werden wir nicht nur anpacken, sondern auch in unserem Antrag stehen, schon jetzt in der Koalition durchsetzen. zur Verhandlungsgrundlage gemacht werden. Das finde (Beifall bei der CDU/CSU – Ina Lenke [FDP]: ich gut. Ich denke, ihr wisst noch nicht, wie viel!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) All das, was wir für Familien ausgeben, muss aber Übernehmen Sie einfach Vorschläge aus unserem An- vorher an Steuergeldern eingenommen werden. trag; dann hätten wir dieses Problem gelöst. (Ina Lenke [FDP]: Deshalb die Erhöhung der Danke schön. Mehrwertsteuer! Das ist logisch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir streben nämlich einen ausgeglichenen Haushalt an. Wir streben ihn nicht nur an, sondern werden ihn auch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: erreichen. Als Nächster hat das Wort der Kollege Johannes Sing- (Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD]) hammer für die CDU/CSU-Fraktion. An dieser Stelle möchte ich auf diejenigen eingehen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die in dem Überbietungswettkampf, was die Ausgaben neten der SPD) für Familien und Kinder betrifft, zu geradezu weltmeis- (B) terlicher Form aufgelaufen sind: die Linken. Was haben (D) Johannes Singhammer (CDU/CSU): sie in den letzten Tagen nicht alles gefordert? Im Zusam- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und menhang mit dem 7. Familienbericht haben sie allein im Herren! Wir wollen, dass 150 000 Kinder und ihre Eltern Familiensektor 19 Milliarden Euro mehr verlangt. In ih- nicht länger arm sind. Wir wollen, dass ab dem rem jetzt vorliegenden Antrag fordern sie die Erhöhung 1. Oktober dieses Jahres bis zu 150 Euro mehr im Monat des Kinderzuschlages. Alle Kinder und Jugendlichen un- an diese Familien und ihre Kinder gezahlt werden. ter 18 Jahren von Eltern mit geringem Einkommen sol- len 420 Euro – dieser Betrag wird als soziokulturelles (Beifall bei der CDU/CSU) Existenzminimum betrachtet – erhalten; der Kollege Wir freuen uns, dass dieses Projekt der Bundesfami- Spanier ist darauf schon eingegangen. Wenn man diese lienministerin von nahezu allen gesellschaftlichen Grup- Ausgaben hochrechnet, kommt man auf etwa 10 Milliar- pen in unserem Land begrüßt und erwartet wird. Die Ge- den Euro; das ist ja eine kleine Summe. Ferner wird ein werkschaften, die Arbeitnehmervertreter zum Beispiel Stufenprogramm zur weiteren Ausdehnung öffentlich fi- begrüßen die Zielrichtung des Kinderzuschlags eindeu- nanzierter Beschäftigung gefordert: 8,4 Milliarden Euro tig, weil mehr Familien unabhängig von Hartz-IV-Leis- mehr. Hartz IV soll geändert werden – auch hier geht es tungen werden. Die Arbeitgeber befürworten den um eine kleinere Summe –: 18 Milliarden Euro mehr. Kinderzuschlag, weil er den Übergang in die Erwerbstä- Wenn man alle Forderungen zusammenzählt, die Sie in tigkeit erleichtert. Die betroffenen Familien mit ihren den letzten Tagen, Wochen und Monaten aufgestellt ha- Kindern – 150 000 an der Zahl – warten sehnsüchtig auf ben, kommt man summa summarum auf die runde den 1. Oktober, weil dann eine Familie nicht mehr des- Summe von 150 Milliarden Euro jährlich. wegen, weil Kinder vorhanden sind, ein Hartz-IV-Fall Nun sagen Sie: Es gibt so viele Reiche in Deutsch- werden kann. land. Denen könnte man dieses Geld in Form von Steu- Das Wichtigste ist: Das Geld ist reserviert. Wir haben ern abnehmen. Ich sage Ihnen: So viele Reiche gibt es in es im Haushalt eingeplant. Die Steuergelder für die Aus- Deutschland nicht, und die wenigen, die es gibt, sind zahlung ab dem 1. Oktober stehen bereit. Das sind Taten schneller aus Deutschland weg, als Sie glauben. statt Worte und keine hohlen Versprechungen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es! (Beifall bei der CDU/CSU) Jawohl!) Ich freue mich, dass das Gesetzgebungsverfahren Diejenigen, die infolge dieser Steuererhöhungsorgien jetzt rechtzeitig begonnen hat und dass alle ursprünglich bluten müssten, wären die Familien mit Kindern, obwohl Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16567

Johannes Singhammer (A) Sie vorgeben, dass sie mehr bekommen sollen. Das Ge- Auf dieser klaren Völkerrechtsgrundlage hat der (C) genteil wird der Fall sein: Diejenigen, die draufzahlen, Deutsche Bundestag zuletzt am 21. Juni 2007 den Be- sind Familien mit Kindern. Das wollen wir nicht. Wir schluss gefasst, die Bundeswehr für ein weiteres Jahr als machen eine solide Politik, auf die sich die Familien ver- Teil der KFOR in das Kosovo zu entsenden. Darin lassen können. wurde festgestellt, dass die Kräfte im Rahmen der Reso- lution 1244 eingesetzt werden können, wenn die konsti- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tutive Zustimmung des Bundestages vorliegt. Diese kon- stitutive Zustimmung sehen wir als nicht mehr gegeben Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: an. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Entgegen dem eindeutigen Gebot, dass Separationen den Drucksachen 16/8867, 16/8883 und 16/4670 an die nur in beiderseitiger Übereinstimmung geschehen dür- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- fen, hat die kosovo-albanische Seite einseitig die staatli- schlagen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das che Unabhängigkeit erklärt. Sie wurde von den deut- so beschlossen. schen und den US-amerikanischen politischen Kräften Tagesordnungspunkt 11 b: Beschlussempfehlung des unterstützt, diesen Völkerrechtsbruch zu vollziehen. Am Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 20. Februar dieses Jahres hat die Bundesregierung den zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel Kosovo als selbstständigen Staat anerkannt und diplo- „Kinderarmut bekämpfen – Kinderzuschlag ausbauen“. matische Beziehungen aufgenommen; dagegen haben Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung wir Linke unseren deutlichen Widerspruch zum Aus- auf Drucksache 16/8915, den Antrag der Fraktion Die druck gebracht. Die Voraussetzungen für die UN-getra- Linke auf Drucksache 16/6430 abzulehnen. Wer stimmt gene KFOR-Präsenz sind de facto entfallen. für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ging es bisher um die Sicherung der Statusverhand- Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit lungen und die Regelung einer Übergangszeit, so geht es den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bünd- jetzt um die Sicherung eines neuen Staates. Das wäre ein nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die völlig anderer und neuer Auftrag. Das Kosovo ist aus Linke angenommen. dem Gesamtterritorium Serbiens herausgelöst worden, Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: ohne dass dieses Gebilde international oder gesamteuro- päisch anerkannt wird, geschweige denn Mitglied der Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika UN ist. Knoche, Paul Schäfer (Köln), Inge Höger, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Zwar gilt die UN-Resolution 1244 formal fort, so- (B) lange der Sicherheitsrat keine neue Resolution be- (D) Unverzüglicher Rückzug der Bundeswehr aus schließt. Es ist aber allgemein bekannt, dass es nach dem dem Kosovo Völkerrecht inhaltlich keine andere Resolution geben kann als eine, durch die die territoriale Integrität Ser- – Drucksache 16/8779 – biens gewahrt wird. Damit ist zwar nicht die Resolu- Überweisungsvorschlag: tion 1244 hinfällig geworden, wohl aber der Schutz- Auswärtiger Ausschuss (f) auftrag, den die KFOR-Truppen unter UN-Mandat zu Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss erfüllen haben. Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. – Mit der einseitigen Staatsgründung des Kosovo sind Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so be- der Verhandlungsprozess und die Statusfrage obsolet ge- schlossen. worden. Genau dies galt es aber militärisch abzusichern. Würde die KFOR weiterhin dem UN-Mandat auf Grund- Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der lage der Resolution 1244 folgen, wie die Regierung be- Kollegin Monika Knoche für die Fraktion Die Linke. hauptet, hätte sie den völkerrechtswidrigen Akt der Se- paration nicht hinnehmen dürfen. (Beifall bei der LINKEN) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Monika Knoche (DIE LINKE): Und was hätte sie dann gemacht?) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Herren und Eine derartige Eskalation kann aber niemand gewollt ha- Damen! Die Linke im Deutschen Bundestag legt hiermit ben. Mithin kann aber nicht mehr die Rede davon sein, den Antrag vor, deutsche Bundeswehrsoldaten unver- dass die KFOR-Truppen heute trotz einer völlig verän- züglich aus dem Kosovo abzuziehen. derten Realität noch ihren ursprünglichen Auftrag erfül- len. Wie begründen wir das? Nach der Unabhängigkeits- erklärung des Kosovo kann man bei realistischer Be- Demnach gibt es gute Argumente, um einen neuen trachtung der Völkerrechtslage nur einen Schluss ziehen: Sicherheitsratsbeschluss und einen neuen Bundestags- Die Truppen haben für ihre Präsenz dort kein tragfähiges beschluss herbeizuführen. Bundestagsmandat mehr. In der den Krieg beendenden (Beifall bei der LINKEN) Resolution des UN-Sicherheitsrates aus dem Jahre 1999 wurden die Souveränität und die territoriale Integrität Dies strebt die Bundesregierung jedoch ganz bewusst der Bundesrepublik Jugoslawien bestätigt. nicht an, weiß sie doch zu genau, dass die UN keine 16568 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Monika Knoche (A) völkerrechtswidrige Separation legitimieren kann und schreibt, dürfte das nichts als bittere Ironie sein. Insofern (C) damit kein UN-Mandat für eine Truppenentsendung vor- ist Ihr Antrag bereits gescheitert. läge. Mit der Schlichtheit dessen, wie Sie sich mit diesem Im Ergebnis setzt die Bundesregierung die deutschen komplexen Themenbereich befassen, brüskieren Sie Soldaten im Kosovo einer nicht gesicherten Rechtslage nicht nur die Soldaten vor Ort und diejenigen, die militä- aus. Das darf aber unter keinen Umständen der Fall sein. risch die Verantwortung tragen – die sind Ihnen ja egal –, Der Deutsche Bundestag hat die Pflicht, diesen Zustand Sie brüskieren auch die zivilen Helfer vor Ort, Sie brüs- zu beenden. Wir bestehen darauf, dass das Parlament kieren die Polizisten vor Ort, Sie brüskieren die Richter diesem Auftrag nachkommt. vor Ort, Sie brüskieren die Verwaltungsbeamten vor Ort – und in der Konsequenz die Menschen im Kosovo, und (Beifall bei der LINKEN) zwar egal welcher Ethnie. Der Bundesregierung ist unsere rechtliche Argumen- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie tation aufgrund der Ausschussberatungen und der bei Abgeordneten der FDP) Plenardebatten bekannt. Bislang weigerte sie sich aber, ihre rechtliche Argumentation in Gänze offenzulegen, Sie sind – das muss man Ihnen zugestehen – in Ihrer mit dem Hinweis, sie gehe von einer Klage der Linken Verweigerungshaltung, in Ihrer Ablehnung, international vor dem Bundesverfassungsgericht aus, weshalb sie un- Verantwortung zu übernehmen, konsequent, aber zy- serem Auskunftsbegehren nicht nachkommen wolle. nisch-konsequent und verantwortungslos. Steht irgendet- was Konstruktives in Ihrem Antrag? Fehlanzeige. Haben Tatsächlich, meine sehr geehrten Herren und Damen, Sie Vorschläge für eine plausible Nachkriegsordnung? wollen wir in dieser Frage alle uns zur Verfügung ste- Fehlanzeige. Zeigen Sie eine europäische Perspektive henden politischen und rechtlichen Möglichkeiten aus- auf? Fehlanzeige. Vor dem Hintergrund Ihres Auftrittes schöpfen. Darüber hinaus hat es die Bundesregierung heute Morgen war so etwas freilich nicht zu erwarten. verabsäumt, dem Bundestag eine Beschlussvorlage zu Haben Sie irgendwelche Vorschläge für die soziale, wirt- unterbreiten, mit der der Bundeswehr auf eindeutig völ- schaftliche, gesellschaftliche Zukunft des Kosovo? Fehl- kerrechtskonforme Weise ein neues Mandat erteilt wird. anzeige. Auch darum ist Ihr Antrag eine Ohrfeige für die Wir sehen daher nur einen gangbaren Weg, nämlich den, Menschen vor Ort. die deutschen Soldaten unverzüglich abzuziehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert der SPD) Winkelmeier [fraktionslos]) Worum geht es im Kosovo? Es geht darum, einen (B) Rechtsstaat aufzubauen, die Infrastruktur aufzubauen. (D) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Unsere Präsenz in Form der EU-Mission ist sinnvoll; Es spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion der Kol- denn es ist wichtig, dass Sicherheit und Stabilität ge- lege Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg. währleistet werden. Dafür trägt die internationale Ge- meinschaft Verantwortung, und dafür tragen auch die Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/ Soldaten der KFOR Verantwortung. Für uns ist das eine CSU): aus der Verantwortung gewachsene Konsequenz. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Über die Resolution 1244 haben wir im Plenum und Herren! Die Union – überraschend ist das wohl nicht – in den Ausschüssen oft genug diskutiert; es wäre müßig, lehnt den Antrag der Linken ab. Auch die enthusiastisch weiter zu diskutieren. Wir sind – das ist richtig – zu un- vorgetragene Begründung des Antrags hat bei der Union terschiedlichen Auffassungen gekommen. Ihre heutige nicht zu einer gegenteiligen Meinungsbildung geführt. Begründung hat eine neue Drehung gebracht; sie hat sich Wir teilen weder die Grundvoraussetzungen, von de- aber letztlich nicht als besonders logisch erwiesen. In der nen Sie in Ihrem Antrag ausgehen, noch – das darf man Resolution 1244 sind keine Aussagen über den endgülti- schon so nennen – die doch sehr schlichten Folgen, die gen Status des Kosovo getroffen. Die Verpflichtung zur entstehen würden. Wir erachten das, was die Linke mit Wahrung der territorialen Integrität, die Sie in Ihrem An- diesem Antrag bezweckt, sogar für außerordentlich trag ansprechen, bezieht sich auf das Übergangsregime, schädlich für die Region. das durch die Resolution 1244 eingesetzt wurde. Die Re- solution 1244 verbietet nicht die Unabhängigkeitserklä- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rung. Die Resolution 1244 verbietet auch nicht die Aner- der SPD) kennung. Wenn man ernsthaft an diese Fragestellung herangeht, dann muss man das einbeziehen, um dann Man muss einmal zu Ende denken, was es bedeuten auch zu der entsprechenden Rechtsgrundlage zu kom- würde, wenn durchgeführt würde, was in diesem Antrag men. Durch die Resolution 1244 werden ein politischer gefordert wird. Dann kämen wir plötzlich in eine ganz Prozess und eine politische Entscheidung gefordert. Das bittere Ironie Ihrer eigenen Überzeugungen. Glauben Sie ist für uns alle ein Prozess gewesen, der auch mit viel denn, dass, würden wir abziehen, in der derzeitigen Si- Bitternis verbunden war. tuation auch nur der Ansatz von Stabilität erreicht wer- den könnte? Man würde sich mit einem solchen Vorge- Hier hat sich die Bundesregierung intensiv einge- hen in die Nähe von Konflikttreiberei begeben. Für bracht – wir müssen konstatieren: in der Konsequenz jemanden wie die Linke, die Pazifismus auf ihre Flagge ohne Erfolg. Gleichzeitig sei aber auch noch einmal da- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16569

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (A) ran erinnert, dass sich insbesondere Wolfgang Ischinger vergangenen Monaten kein Entgegenkommen gezeigt, (C) in besonderer Weise eingebracht hat. irgendetwas zu machen. Von daher bedurfte es auch einer Klärung für die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Menschen innerhalb der Region – Herr Gehrcke, das Herr zu Guttenberg, wollen Sie eine Zwischenfrage kann durch eine abgehobene völkerrechtliche Diskus- des Kollegen Gehrcke zulassen? sion allein nicht gelöst werden –, die gesellschaftlich, so- zial und auch sonst in vielerlei Hinsicht mit dem Rücken Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/ zur Wand stehen. Diese Klärung war notwendig und CSU): wurde in meinen Augen durch die Bundesregierung ge- Von Herrn Gehrcke immer mit Vergnügen. rade im Rahmen des Völkerrechts herbeigeführt. Deswe- gen bleibt die Resolution 1244 für uns auch als Rechts- (Detlef Dzembritzki [SPD]: Sie sollen nicht grundlage für den Einsatz von KFOR entscheidend und lügen!) bestehen. Wie ich es gerade schon gesagt habe: Sie verliert ja Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nicht ihre Gültigkeit. Manchmal kann man jenen, die ei- Bitte schön, Herr Gehrcke. nem offensichtlich auch politisch etwas näher stehen, auch abverlangen, dass sie sich im Sicherheitsrat kon- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): struktiv für eine Folgeresolution einbringen, wenn sie Nein, das meint Kollege von Guttenberg wirklich so, eine solche konsequenterweise wollen. Das kann man wie er es gesagt hat. Wir haben kein anderes Verhältnis gelegentlich auch an die Adresse unserer Partner in Mos- zueinander. kau anbringen. Trotzdem darf eines konstatiert werden: Wir haben (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Jetzt schaden eine völkerrechtliche Grundlage, und es liegt eben kein Sie ihm aber nicht!) völkerrechtswidriges Verhalten vor, aber jede völker- – Man kann ja auch anständig miteinander umgehen, rechtliche Grundlage kann noch stabiler sein, als sie ist. wenn man unterschiedlicher Auffassung ist. Das sollte Demzufolge rufe ich die Bundesregierung auf, hier alle man auch einmal hinnehmen. Kreativität einzusetzen, damit dies wirklich auf ein so starkes Fundament gestellt wird, dass wir uns solche hal- Würden Sie mir erklären, welchen völkerrechtlichen ben Stunden wie heute Abend, während derer man völlig Status die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und ins Absurde abdriftet, ersparen können. (B) Zusammenarbeit in Europa in Helsinki gemäß Ihrer Ar- (D) gumentation hat, in der es wörtlich heißt, dass Verände- Hier wäre sicherlich noch mehr zu leisten. Man kann rungen der Grenzen in Europa nur im gegenseitigen Ein- über völkerrechtliche Verträge nachdenken und über vernehmen und Einverständnis vorzunehmen sind? ähnliche Dinge lang diskutieren, ohne hier noch tiefer zu gehen. Das steht in der Schlussakte. Das ist Völkerrecht. Jetzt bin ich gespannt auf Ihre Antwort. Worum geht es uns? Es geht uns darum, dass wir in der Situation, in der wir uns befinden, nicht in eine Kul- (Beifall bei der LINKEN) tur des Verharrens geraten. Im Kosovo wurden Entschei- dungen getroffen. Jetzt droht die Gefahr, dass man mit Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/ einem ruhigen Blick meint, die Dinge würden sich schon CSU): entsprechend entwickeln. Mit Erklärungen allein kann Die Resolution 1244 ist gesetztes Völkerrecht. Sie man aber jahrhundertelang gewachsene Friktionsfelder kann lediglich durch eine neue Resolution ausgehebelt mit Sicherheit nicht auflösen. Das gelingt nicht. Dazu werden. Herr Kollege Gehrcke, es steht nirgends ge- bedarf es mehr. schrieben, dass die Resolution 1244 an eine auflösende Es bedarf letztlich aller Anstrengungen, eine tragfä- Bedingung gebunden ist. Es steht auch nirgends ge- hige europäische Friedensordnung zu etablieren. Es be- schrieben, dass sie sich von selbst erschöpfen wird. Von darf der Zielsetzung, einen lebensfähigen demokrati- daher ist die Resolution 1244 nach unserer Auffassung schen Staat Kosovo zu etablieren. Auch dabei war die Völkerrecht und keine völkerrechtswidrige Grundlage Entsendung von EULEX ein richtiger Ansatz, um für das, was derzeit passiert. Rechtsstaatlichkeit und damit ein Fundament zu schaf- (Beifall bei der CDU/CSU) fen, dem immense Bedeutung zukommen wird. Das ist die Grundlage, die wir sehen müssen, und das ist Ein weiterer Punkt sind die Sicherheit und das Selbst- der Ansatz, den wir auch verfolgen. bestimmungsrecht aller – ich betone: aller – Bevölke- rungsgruppen. Dabei ist auch die Führung des Kosovo in Es ist aber noch einmal hervorzuheben: Dadurch wer- der Pflicht. In diesem Punkt sind wir manchmal zu leise. den ein politischer Prozess und eine politische Entschei- Wir haben sie in die Pflicht zu nehmen mit Blick auf dung gefordert. Dazu ist es nicht gekommen, weil die organisierte Kriminalität, Minderheitenrechte, die Auf- Positionen verhärtet waren. Auch auf kosovarischer arbeitung der eigenen Vergangenheit und die Zusam- Seite waren die Positionen natürlich nicht immer nur menarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof. leicht darzustellen und insbesondere Serbien hat in den Letzteres gilt auch und in diesen Tagen besonders 16570 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (A) virulent für Serbien. Ich persönlich glaube, dass es falsch (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (C) wäre, ohne Konditionierung Belgrad jetzt das Stabilisie- bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei rungs- und Assoziierungsabkommen zur Unterzeich- der LINKEN) nung vorzulegen. – Das ist meine Meinung, die ich hier zum Ausdruck (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der bringe. – Ob allerdings solche zivilgesellschaftlichen In- SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE itiativen wie der Girls’ Day langfristig Erfolg haben, GRÜNEN) hängt im Kosovo sehr stark von uns bzw. von der EU ab. Hier kommen wir durchaus in eine Grauzone, bei der wir Die Konditionierung ist auch weiterhin notwendig. Wir genau aufpassen müssen. Es hängt nämlich davon ab, ob würden einen ohnehin zähen Prozess weiter aushöhlen, die Rechtsstaatsmission EULEX tatsächlich jetzt im Ko- wenn wir das Ganze lediglich an die Ratifizierung bin- sovo durchgeführt werden kann und ob sie zeitnah um- den würden. gesetzt werden kann. In diesem Zusammenhang gibt es Was bleibt uns noch an glaubwürdigen Argumenten, einige Fragen, und es sieht insgesamt leider nicht gut wenn wir in Europa letztlich nur noch Pappfassaden auf- aus. bauen und keine Hürden mehr aufrechterhalten, die für Kann die EULEX in diesen Tagen im Norden ihre die Gestaltung einer europäischen Zukunft entscheidend Vorbereitungen fortführen, die unterbrochen worden wären? sind? Werden die Zollstationen in Richtung Serbien wie- Vor diesem Hintergrund geht es nicht um einen Ab- der besetzt sein? Wie ist der Übergang von UNMIK zu zug, wie ihn die Linken fordern, sondern um Stabilität EULEX gedacht? Wird es überhaupt eine Ablösung von und Sicherheit, die durch unsere Soldaten gewährleistet UNMIK durch EULEX geben können, oder werden wir werden, und um eine entsprechende Zukunft für das Ko- aus völkerrechtlichen Gründen auf Dauer damit leben sovo. müssen, dass ad infinitum oder jedenfalls auf absehbare Zeit EULEX unter dem Dach von UNMIK erfolgen Vielen Dank. muss? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das alles sind offene Fragen. Dazu gehört auch die neten der SPD) Aufgabenteilung zwischen UNMIK und EULEX. Wir wissen auch nicht, ob der Generalsekretär der Vereinten Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nationen in absehbarer Zeit EULEX den Auftrag ertei- Der Kollege Dr. Rainer Stinner hat jetzt das Wort für len wird. die FDP-Fraktion. Leider muss ich aber auch feststellen, dass ebenso of- (B) (D) (Beifall bei der FDP) fen ist, mit welcher Intensität sich die Europäische Union wie auch die Bundesrepublik Deutschland in den Dr. Rainer Stinner (FDP): letzten Wochen für die Lösung dieser Fragen eingesetzt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! hat. Ich weiß, dass sich vieles in diesem Verhandlungs- Heute – am 24. April 2008 – findet im Kosovo zum ers- prozess der Öffentlichkeit entzieht. Es ist vollkommen ten Mal ein Girls’ Day statt. Auch in Zusammenarbeit richtig, dass über vieles hinter verschlossenen Türen mit der GTZ werden Schülerinnen von 20 Schulen ein- verhandelt wird. Meine Damen und Herren von der Bun- gewiesen. Sie bekommen Einblick in handwerkliche, desregierung, ich frage Sie aber: Was ist seit dem technische und naturwissenschaftliche Arbeitsfelder. 17. Februar, dem Tag der Unabhängigkeitserklärung, im Das ist ein kleiner Beitrag zur Normalität in diesem ge- Hinblick auf die Vorbereitung wirklich geschehen? Die schundenen und zerrissenen Land. Informationen, die wir im Ausschuss bekommen haben, stimmen uns eher bedenklich und lassen uns nicht hof- (Beifall bei der FDP) fen, dass hier alles auf einem guten Weg ist. Wir haben Die zarte Pflanze der Normalität kann aber nur gedei- eher das Gefühl, dass sich die EU im Klein-Klein der hen, wenn in diesem Land ein Mindestmaß an Sicherheit Organisationsfragen ergeht und dass eine große Linie und Stabilität vorhanden ist. Dafür sorgt seit einigen Jah- nicht vorhanden ist. Meine Damen und Herren von der ren erfolgreich KFOR. Aus diesem Grunde müssen wir Bundesregierung, sind Sie eigentlich mit der EULEX-Vor- den Antrag der Linken ablehnen. Ein Rückzug zu die- bereitung zufrieden? Ich sage: EULEX und die EU sind sem Zeitpunkt in dieser fragilen Phase wäre völlig ver- wir und niemand anderes. Daher fordern wir, dass die antwortungslos. Bundesregierung weiter vorangeht. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ Wir werden in diesen Tagen eine weitere Nagelprobe CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE erleben; denn die Serben haben das Ansinnen geäußert, GRÜNEN) eine Kommunalwahl – das ist keine serbische Wahl – im Kosovo durchführen. Das lehnen wir ab. Das wider- Im Kosovo will das auch niemand: weder Serben noch spricht eindeutig der Sicherheitsratsresolution 1244 und Kosovaren. muss daher unterbunden werden. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, die- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) ses Beispiel zeigt leider ein weiteres Mal, dass Ihnen an dem konkreten Wohlergehen der Leute in dieser Region Die Bundesrepublik Deutschland hat – dem haben wir nichts gelegen ist. zugestimmt – das Kosovo anerkannt. Weder wir noch die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16571

Dr. Rainer Stinner (A) Öffentlichkeit haben erwartet, dass damit die Probleme Herr Kollege Gehrcke, Sie haben die Akte von Hel- (C) des Kosovo sofort gelöst sind. Nein, wir haben noch ei- sinki angesprochen. Haben Sie vergessen, dass Herr nen weiten Weg vor uns. Diesen Weg müssen wir gehen. Milošević diese Akte regelrecht verbogen und eine groß- Wir wissen, dass die Umsetzung des Ahtisaari-Plans aus serbische Politik betrieben hat mit dem Ziel, die Autono- völkerrechtlicher Sicht sehr schwierig ist. Herr Kollege, mie des Kosovo kaputt zu machen? Er hat ganz bewusst Sie haben das völlig richtig dargelegt. Wir erwarten, dass Vertreibungspolitik betrieben. Ich will das hier nicht ver- die Bundesregierung bei der Legitimation etwas nach- tiefen, aber das gehört zu diesem Diskurs und erlaubt, den legt, damit wir nicht in der Defensive sind. Wir wollen Weg zu gehen, den der Generalsekretär der UNO mit Hin- gemeinsam das Richtige, aber es muss unterfüttert wer- weis auf die Gültigkeit der Sicherheitsratsresolution 1244 den. aufgezeigt hat. Das ist doch die Kernaussage. Ich möchte die Behauptung, diese Aussage sei fragil, nicht wegräu- Vieles war absehbar. Ich habe seit 18 Monaten einen men. Unter Berücksichtigung der Situation im Kosovo Plan B gefordert. Aber die Bundesregierung hat 18 Mo- bleibe ich aber trotzdem bei der fragilen Aussage, dass nate eher beschwichtigend auf uns eingeredet. Ich kam dies Völkerrecht ist. mir vor wie bei Nina Ruge: Alles wird gut. Aber es ist nicht gut geworden. Nun müssen wir weitergehen. Wir (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Liberale sehen zum heutigen Zeitpunkt keine Alternative BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu einer zivilen und militärischen Präsenz zur Unterstüt- zung des Kosovo. Uns wäre aber wesentlich wohler, Es ist bereits gesagt worden: Natürlich brauchen wir wenn wir eine klarere europäische Strategie erkennen die zivile Mission; sie ist dringend notwendig. An ande- könnten. rer Stelle habe ich schon häufig Vergleiche gezogen, wie groß unsere Bereitschaft ist, dort materielle und perso- Vielen Dank. nelle Leistungen zu erbringen. Herr Dr. Stinner, Sie ha- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ben völlig recht: Wir müssen darauf bestehen, dass diese der CDU/CSU) Leistungen wirklich erbracht werden, damit der Prozess vorangeht.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Entscheidend ist es, die Chancen des Wiederaufbaus Für die SPD spricht der Kollege Detlef Dzembritzki. in diesem Land zu nutzen. Ich habe gerade mit einer Runde von Kolleginnen und Kollegen zusammengeses- (Beifall bei der SPD) sen, die aus Priština zurückgekommen sind. Sie sagten, im Kosovo herrsche Aufbruchstimmung. (B) Detlef Dzembritzki (SPD): (D) Vermittelt vom Bundestag und vom Auswärtigen Amt Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Reden von hatten wir eine hochkarätige Delegation von vier Minis- Herrn Dr. Stinner und Herrn Guttenberg machen deut- tern und drei Abgeordneten zu Besuch. Bei einem Tref- lich, dass wir uns mit einer komplizierten Situation aus- fen habe ich erfreulicherweise die Feststellung machen einanderzusetzen haben, die nicht einfach zu lösen ist. können – es hat zumindest eine große Symbolwirkung –, Man muss hier den Zusammenhang mit dem auseinan- dass ein Minister aus dieser Delegation der türkischen dergefallenen Jugoslawien nach dem Ende des Kalten Minderheit, ein anderer der serbischen Minderheit und Krieges sehen. Die Tragödie, das Bedauerliche und Be- ein Kollege aus dem Parlament der serbischen Minder- drückende bestehen darin, dass ein Land, dem man wäh- heit angehörte. Mir ist klar – ich möchte nicht in Eupho- rend der Zeit des Kalten Krieges Respekt entgegen- rie verfallen –, dass die serbische Minderheit eine Min- brachte und das seinen Bürgern im Vergleich zu anderen derheit in der Minderheit ist; ich habe aber vollen Ostblockstaaten eine gewisse Unabhängigkeit, Wohl- Respekt dafür, dass die Leistung vollbracht wurde, zu stand und Freizügigkeit erhalten konnte, in eine solche zeigen, dass man bereit ist, multiethnisch vertreten zu Situation gekommen ist. sein. Ich habe vollen Respekt davor, dass die Minderheit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in der Minderheit diesen Schritt macht, über den im ei- DIE GRÜNEN) genen Land und in Serbien sicherlich viel diskutiert wird. Die slowenische Präsidentschaft hat darauf hingewie- sen, dass man auf dem Balkan und insbesondere im ehe- (Beifall bei der SPD) maligen Jugoslawien dabei ist, endgültig die Probleme, die seit dem Ende des Kalten Krieges entstanden sind, zu Das sind zumindest Ansätze der Versöhnung. Darauf lösen. Ich finde, es ist durchaus legitim – das tun auch sollten wir den Schwerpunkt unserer Diskussion legen; renommierte Völkerrechtler –, zu fragen, inwieweit das wir brauchen in der Europäischen Union keine aggres- Völkerrecht hier beachtet wird. Aber es ist demaskie- sive Auseinandersetzung, die eine ethnische Trennung rend, dass Sie, meine Damen und Herren von der Lin- befördert, sondern Versöhnung. Wir Deutsche können ken, in Ihrem Antrag nicht einmal den Versuch machen, mit unserer Stellung mitten in Europa einiges einbrin- bei diesem Diskurs auf die verbrecherische Politik gen. Wir werden immer wieder gefragt: Wie habt ihr das Miloševićs hinzuweisen. mit Frankreich und mit Polen gemacht? Es muss doch bei den Potenzialen, die zur Verfügung stehen, möglich (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem sein, dass wir diesen Prozess in der Region selbst und in BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Europäischen Union begleiten. 16572 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Detlef Dzembritzki (A) Sie hätten den serbischen Nachbarn in Europa einen (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ (C) viel größeren Dienst erwiesen, wenn Sie hier im Bundes- DIE GRÜNEN]: Schwierige Aufgabe!) tag betont hätten – ich tue das gerne –, dass die Europäi- es geht aber nicht, dass sich ein Staat, der wie die Bun- sche Union am 28. April durch die Unterzeichnung des desrepublik Deutschland das Kosovo anerkannt hat, wei- Assoziierungsabkommens der serbischen Bevölkerung ter an einer solchen UN-Mission beteiligt. Das wäre ein signalisiert: Ihr gehört zu Europa, wir möchten euch in interessanter Standpunkt. Aber dann müssen Sie sich die Europa haben. Frage gefallen lassen, wie es kommt, dass die Republik (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Serbien mit aller Macht gegen die Unabhängigkeitser- DIE GRÜNEN) klärung des Kosovo wettert – sie wettert auch gegen die Präsenz von EULEX; das ist leider so –, aber zwei Insti- Dies widerspricht natürlich nicht unserer Forderung, tutionen nicht infrage stellt: UNMIK und KFOR. Es ist dass Mladic vor das Kriegsverbrechertribunal in Den im Gegenteil sogar so, dass es regelmäßige gemeinsame Haag geführt werden soll. Das eine ist doch durch das Besprechungen, teilweise sogar gemeinsame Patrouillen andere überhaupt nicht zu erreichen. von der serbischen Armee und KFOR gibt. Ich glaube, wir sollten die Serben vor Ihrem antiserbischen Antrag Wir sollten die Kräfte unterstützen, die bereit sind, in Schutz nehmen. den europäischen Weg zu gehen. Liberalisiert das Visa- regime, damit die jungen Leute kommen und sehen kön- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei nen, wie Freiheit und Demokratie aussehen! Das ist viel der CDU/CSU, der SPD und der FDP) wichtiger als die Diskussion, die Sie uns hier heute Dritte Bemerkung zur Sache selber: Was ist der Kern Abend beschert haben. der derzeitigen internationalen Präsenz im Kosovo, der Vielen Dank. militärischen, der polizeilichen, der zivilen und der justi- ziellen? Es ist nichts anderes als der Versuch, ein Neu- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP aufflammen von Gewalt durch politische Kompromisse und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und den Bau von Brücken zu verhindern. Um nichts an- deres geht es. Es geht unter anderem darum, Gewalt im Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kosovo – natürlich sind das nicht alles Heilige auf der Jürgen Trittin hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die einen und Böse auf der anderen Seite; wir haben noch Grünen. sehr genau in Erinnerung, wer 2004 serbische orthodoxe Klöster angegriffen hat und wie es zu Pogromen gegen Serben gekommen ist – zu verhindern. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Gewalt zu unterbinden, das ist das Kernanliegen des (D) finde, wenn man aus Resolutionen des Sicherheitsrats zi- Plans von Ahtisaari gewesen, und zwar mit der Fest- schreibung von dezidierten Minderheitenrechten, die tiert, sollte man vollständig zitieren. Die Resolu- umzusetzen sind, wenn es eine Unabhängigkeit gibt. Das tion 1244 enthält mit Absicht einen Satz, der besagt, hat die Staatengemeinschaft vom Kosovo verlangt. Sie dass diese Resolution gilt, bis eine politische Regelung hat verlangt, diese Rechte in der Verfassung als Preis für gefunden ist. Jetzt kommen Sie in eine schwierige Situa- die eingeschränkte Souveränität, die die Staatengemein- tion. schaft anerkannt hat, festzuschreiben. Es ging darum, die Herr Gehrcke, Sie haben eben die Schlussakte von Menschen abzusichern. Die große Mehrheit der Serbin- Helsinki zitiert. Stellen Sie sich vor – Ihre Auffassung in nen und Serben wohnt nicht im Norden von Mitrovica, Rechnung gestellt –, die Kosovaren erklärten gegen die sondern sie wohnt über das ganze Gebiet des Kosovo Schlussakte von Helsinki ihre Unabhängigkeit. Damit verstreut. Die Serben betreiben dort Landwirtschaft, sie hätte – das ist Ihre Logik, nicht meine – die Resolu- haben verschiedene Kriege überstanden, sind dort ge- tion 1244 ihre Existenzberechtigung verloren. Was hieße blieben, und sie wollen da bleiben. das? Es hieße, dass ein Verstoß gegen die Schlussakte Die Rechte dieser Menschen dauerhaft institutionell von Helsinki eine Resolution des Sicherheitsrates ein- abzusichern, ist das Anliegen der internationalen Ge- fach aushebeln könnte. meinschaft. Das deckt sich nicht nur mit den Grundsät- zen des Völkerrechts, sondern das findet auch seine Be- (Monika Knoche [DIE LINKE]: So naiv sind gründung in der UN-Resolution 1244, die nach wie vor wir nicht!) gilt, bis wir etwas Besseres haben. Auch ich kann mir Man muss nicht Völkerrechtler sein, um zu erkennen, Besseres vorstellen, aber solange arbeiten wir damit. dass das juristisch äußerst fragwürdig ist. Ich bleibe da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei: Solange der Sicherheitsrat sie nicht aufgehoben hat, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- gilt diese Resolution und damit auch die zu Recht von geordneten der FDP) Ihnen zitierte Ermächtigungsgrundlage des Deutschen Bundestages für die Präsenz der KFOR vor Ort. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem bei der CDU/CSU und der SPD) Kollegen Gehrcke. Zweite Bemerkung: Sie könnten sagen – Sie merken, (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Herr Gehr- ich versuche, mich in Sie hineinzudenken –, cke, muss das sein?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16573

(A) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) Ich bitte um Entschuldigung ob der Zeit, aber das, Zur Erwiderung auf die Kurzintervention hat Jürgen was Kollege Trittin ausgeführt hat, möchte ich natürlich Trittin das Wort. so nicht stehen lassen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das „antiserbisch“ hat gesessen!) Lieber Kollege Gehrcke, Sie sollten einmal in Ihren Antrag schauen. Sie zitieren in Ihrem Antrag die Bun- Zum ersten Punkt. Sowohl die UN-Resolution 1244 desregierung: als auch die Schlussakte von Helsinki gehen davon aus, dass Grenzen im gegenseitigen Einvernehmen verändert Die Kräfte können eingesetzt werden, solange ein werden können. Sonst hätte die Resolution 1244 nicht Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen auf einen notwendigen Verhandlungsprozess Bezug ge- und ein entsprechender Beschluss des NATO-Rates nommen. Dieses gegenseitige Einvernehmen der Betei- … vorliegen. ligten ist nicht hergestellt worden. Deswegen ist meine Auf der Rückseite Ihres Antrags schreiben Sie: Argumentation in Bezug auf die Resolution 1244 und die Schlussakte von Helsinki in sich schlüssig. Sie ste- Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- hen nicht gegeneinander. Es bleibt die Tatsache, dass die rung auf, von einer weiteren Beteiligung der Bun- Resolution 1244 durch einen einseitigen Akt gefährdet deswehr als Teil der K-FOR im Kosovo abzusehen, worden ist. solange nicht die im Beschluss des Bundestages … genannten Voraussetzungen … vorliegen. Zum zweiten Punkt. Die Resolution 1244 ist nicht vom Sicherheitsrat der UNO aufgehoben worden. Des- Das ist der Kern Ihrer Argumentation. wegen gilt die Resolution 1244 fort. Das ist doch lo- Warum diese Voraussetzungen nicht vorliegen, sagen gisch. Nur der Sicherheitsrat kann seine Beschlüsse auf- Sie in der Begründung Ihres Antrags: Mit der Anerken- heben oder verändern. Das hat er nicht gemacht. Aber nung der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo ist der der Kerngehalt der Aufgabe für KFOR, einen Über- Sicherheitsratsresolution 1244 die Grundlage entzogen gangsstatus abzusichern, ist nicht mehr gegeben. Das worden. Sie bestätigen also genau das, was ich gesagt war unsere Argumentation. habe. Sie haben gesagt, die Anerkennung der einseitigen Drittens. Ich habe mit großem Interesse und Vergnü- Unabhängigkeitserklärung des Kosovo sei ein Verstoß gen zur Kenntnis genommen, dass Kollege Guttenberg, gegen die Schlussakte von Helsinki. Darüber, ob Sie da Kollege Stinner und andere die Bundesregierung aufge- recht haben oder nicht, habe ich jetzt gar nichts gesagt; das habe ich im Raum stehen gelassen. (B) fordert haben, nachzubessern, was die völkerrechtliche (D) Argumentation angeht. Ich freue mich, dass Sie selber Ich habe nur eines gesagt: Wenn es so weit ist, dass einsehen, auf welch dünnem Eis Sie sich bewegen. einseitige Verstöße gegen die Schlussakte von Helsinki – nach unserer allgemeinen Auffassung also Verstöße (Beifall bei der LINKEN) gegen das Völkerrecht – ausreichen, einer Sicherheits- Ich bin ganz gespannt, was die Bundesregierung schließ- ratsresolution den Boden zu entziehen, dann muss ich lich vorlegt. Erst wenn das geschehen ist, kann man sich feststellen, dass ich ein ganz anderes Verständnis von in der Substanz auseinandersetzen. Wir müssen das ja Völkerrecht habe. Das, was Sie behaupten, kann nicht nicht erst vor dem Verfassungsgericht austragen. Wenn sein. Der Sicherheitsrat steht über solchen einseitigen, Sie sich der Richtigkeit Ihrer völkerrechtlichen Argu- unilateralen Aktionen. Solange der Sicherheitsrat als mentation so sicher sind, dann geben Sie ein Gutachten Herr des Verfahrens seine Resolution nicht aufgehoben heraus! Damit kann man sich dann auseinandersetzen. hat, so lange gilt diese Resolution. Da nützt auch eine ra- bulistische Interpretation nach Sinn und Verstand gegen Letzter Punkt, damit das endlich einmal abgehakt ist: den Wortlaut der Resolution, die Sie hier vorgelegt ha- Meine Fraktion, ich selber und wir alle haben nie etwas ben, gar nichts. mit Milošević am Hut gehabt. Nächste Bemerkung. Denken Sie bitte noch einmal (Detlef Dzembritzki [SPD]: Doch, doch!) über Folgendes nach: Wie kommt es, dass Sie an dieser – Nein, das haben wir nicht. – Ich finde es einfach unan- Stelle das bestreiten, was Kernbestandteil der Argumen- ständig, wenn man wider besseres Wissen immer wieder tation sowohl einer wichtigen Kraft im Sicherheitsrat, versucht, diesen Vergleich zu ziehen. Milošević verant- nämlich Russlands, als auch der Serben ist? Sie sagen, wortet in einem hohen Maße – das sei noch einmal deut- diese Resolution gilt weiter, wir akzeptieren KFOR, wir lich unterstrichen – die Tragik des serbischen Volkes und akzeptieren die Präsenz von UNMIK, und wir wollen, die Katastrophe in Jugoslawien. Aber auch diejenigen, dass diese Mission dort weiterhin präsent ist. die zu einem Zeitpunkt, an dem alle es nicht wollten, ge- Ich bringe das nicht zusammen. Ich bezeichne Sie ja zündelt haben, um Jugoslawien aufzulösen – da schaue nicht als fünfte Kolonne Moskaus. Ich habe nicht ver- ich auf die FDP –, tragen ebenfalls Verantwortung für standen, warum jemand, der sich für die territoriale Inte- diese Situation. grität Serbiens starkmacht und sagt, da könne es nur eine Danke sehr. Loslösung im gegenseitigen Einvernehmen geben, aus- gerechnet in dieser Frage das zentrale Argument der ser- (Beifall bei der LINKEN) bischen Seite – diese Resolution gilt weiter; nur das, was 16574 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Jürgen Trittin (A) darüber hinaus von Europa gemacht worden ist, ist von Bereits am 11. Mai, bei den serbischen Parlaments- (C) Übel – nicht mitträgt. Darauf habe ich hingewiesen. Ich und Gemeindewahlen, könnten sich also deutsche Solda- finde, Sie sollten sich damit in einer stillen Stunde ganz ten im Norden des Kosovo strafbar machen, weil sie ruhig, ganz sachlich noch einmal auseinandersetzen. dann unter Umständen aufgrund eines nicht mehr rechts- Vielleicht haben die Serben doch recht? gültigen Mandates des Deutschen Bundestages tätig werden. Die Verantwortung dafür liegt jedoch bei der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bundesregierung und der Mehrheit dieses Parlaments. Genau deswegen müssen die deutschen Soldaten abge- Jetzt gebe ich das Wort dem Kollegen Gert Winkel- zogen werden. meier. Vielen Dank. Gert Winkelmeier (fraktionslos): (Beifall bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Für den Vorgesetzten in der Bundeswehr gilt die begrü- ßenswerte Verpflichtung, in Haltung und Pflichterfül- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: lung ein Beispiel zu geben. Dies klingt vielleicht ein we- Das Wort für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin nig altväterlich; gleichwohl ist diese Bestimmung des Ursula Mogg. Soldatengesetzes eine Grundvoraussetzung, um persön- liche und nicht nur formale Autorität zu erwerben. Im Ursula Mogg (SPD): Prinzip hat dieser Grundsatz in allen Lebensbereichen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Gültigkeit, in denen es darauf ankommt, zu überzeugen Kollegen! Ich habe jetzt die Ehre und das Vergnügen, und Menschen zu gewinnen. das letzte Wort zu haben. Zunächst gehe ich auf die Kol- Messe ich hieran nun die rechtswidrige Anerkennung leginnen und Kollegen der Fraktion der Linken ein. Sie des Kosovo – unter Bruch der UN-Resolution 1244 – als haben es heute geschafft, zweimal sehr eindrucksvoll zu unabhängigen Staat durch die Bundesregierung, kann ich belegen, dass Sie nicht dazu in der Lage sind, außen- nur konstatieren: Diese Regierung hat vollständig ver- und sicherheitspolitische Verantwortung zu tragen. sagt. Vollständig! Sie gibt den Soldaten alles andere als (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem ein Beispiel. Mit der von der UNO nicht mandatierten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) EULEX-Mission setzen Sie noch eins drauf. Sie wollen erklärtermaßen Fakten vor Ort schaffen, damit UNMIK Heute Morgen haben wir es bei der Diskussion über den ausgebremst werden kann. Das ist nichts anderes als eine Lissabon-Vertrag erlebt, und Sie zeigen es gerade jetzt (B) Nötigung des UNO-Generalsekretärs. Damit begeben einmal mehr bei der Frage der Stationierung deutscher (D) Sie sich auf das Niveau der derzeitigen Regierung in Soldaten im Kosovo. Priština. Wie diese einzuschätzen ist, daran lässt die für das BMVg erstellte Analyse vom Januar 2007 ja wohl Erlauben Sie mir bitte einen kurzen Rückblick auf die keinerlei Zweifel. Deren Überschrift könnte auch „Der Situation auf dem Balkan seit Mitte der 90er-Jahre, da Mafiastaat“ lauten. dieser Aspekt in der Debatte nur sehr verkürzt vorge- kommen ist. Zunächst gab es eine äußerst schwierige Ist Ihnen eigentlich klar, in welche Situation Sie die Menschenrechtssituation mit Vertreibungen, ethnischen KFOR-Soldaten der Bundeswehr gebracht haben, für de- Säuberungen und Tausenden von Flüchtlingen. Ich erin- ren Auftrag jetzt keinerlei Rechtsgrundlage und auch nere mich daran, dass wir mit Unterstützung der Bundes- kein gültiges Bundestagsmandat mehr existiert? Befehle wehr im Frühjahr 1999 ein Flüchtlingslager mit Zelten dürfen nur unter Beachtung der Regeln des Völkerrechts für 42 000 Menschen aufgebaut haben, die nicht wuss- und der Gesetze erteilt werden. Sie dürfen nicht befolgt ten, wohin sie aufgrund der Vertreibungspolitik von werden, wenn dadurch eine Straftat begangen würde. So Milošević gehen sollten. steht es in den §§ 10 und 11 des Soldatengesetzes. § 10 gilt auch für den Inhaber der Befehls- und Kommando- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo stehen wir gewalt, Herrn Minister Jung. Mit welcher Autorität und heute? Slowenien ist ein unabhängiger Staat und Mit- Legitimität sollen denn unsere Soldaten einem rechts- glied der EU. Kroatien ist ein unabhängiger Staat, ist auf widrig erteilten Auftrag nachkommen, und wie fühlen dem Weg in die EU und hat die Karte für die Mitglied- sie sich wohl dabei, wenn sie damit rechnen müssen, schaft der NATO in der Hand. Montenegro ist unabhän- sich dereinst vor Gericht dafür verantworten zu müssen? gig. Albanien hat eine Einladung bekommen, Mitglied der NATO zu werden, Mazedonien leider noch nicht; das Dies ist keineswegs eine hypothetische Frage. KFOR ist aber nicht den Fähigkeiten Mazedoniens geschuldet, handelt bisher auf der Grundlage von Kapitel VII der sondern das hat, wie wir alle wissen, andere Gründe. Ko- Charta der Vereinten Nationen, das bekanntlich militäri- sovo ist unabhängig, aber wir wissen, dass es noch einen sche Zwangsmaßnahmen einschließt. Wir alle wissen, langen und steinigen Weg zurücklegen muss, bis es eine dass es selbst unter Wahrung des Grundsatzes der Ver- nachhaltige Stabilität erreicht; das ist unbestritten. In hältnismäßigkeit bei der Anwendung von Gewalt zu diesem Zusammenhang bedarf es auch des Hinweises, schweren Körperverletzungen bis hin zu Todesfällen dass wir weiterhin mit Serbien im Gespräch bleiben kommen kann. Straffrei kann in diesem Zusammenhang müssen. Wir hatten gerade heute Nachmittag auf Einla- ein Soldat der KFOR nur ausgehen, wenn er auf einer dung der Friedrich-Ebert-Stiftung ein Gespräch mit dem gesicherten Rechtsgrundlage gehandelt hat. serbischen Außenminister. Da kamen auch all die Fragen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16575

Ursula Mogg (A) auf den Tisch, die sich darum drehen, was noch zu tun Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) ist. Ich schließe die Aussprache. Dies zeigt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Es ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache 16/8779 Linken, dass Ihr Antrag nicht nur unwürdig, sondern an die Ausschüsse zu überweisen, die in der Tagesord- auch ausgesprochen statisch ist. Es handelt sich um eine nung vorgesehen sind. – Damit sind Sie einverstanden. reine Betrachtung von Rechtsfragen. Viele Kolleginnen Dann ist die Überweisung so beschlossen. und Kollegen haben dazu etwas gesagt. Ich möchte des- Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 15 auf: halb festhalten, dass Ihr Antrag ausgesprochen unpoli- tisch ist. Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- regierung (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dritter Bericht der Bundesregierung über Trotzdem vielleicht noch einige kurze Anmerkungen Erfahrungen mit dem Gentechnikgesetz zu den völkerrechtlichen Fragen, auch wenn sie schon angesprochen worden sind. Die UN-Resolution 1244 – Drucksache 16/8155 – sagt nichts über den endgültigen Status des Kosovo. Das Überweisungsvorschlag: sagt nicht nur dieses Parlament, das sagt nicht nur unsere Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Regierung, das sagen auch namhafte Völkerrechtler. Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Der Sicherheitsrat bleibt für die Friedenssicherung in Ausschuss für Gesundheit einer Region im Zweifel auch dann verantwortlich, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wenn sich eine angestrebte Übergangslösung nicht hat Ausschuss für Bildung, Forschung und erreichen lassen. Die Resolution 1244 hat die internatio- Technikfolgenabschätzung nale Zivil- und Sicherheitspräsenz für eine sich immer Es ist vereinbart, hierüber eine halbe Stunde zu disku- automatisch verlängernde Periode eingerichtet, soweit tieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so der Sicherheitsrat nicht anders entscheidet. Das steht un- beschlossen. ter Ziffer 19 der Resolution. Im Original heißt es: „…un- less the Security Council decides otherwise“. Dies bedeu- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem tet mit anderen Worten, dass nur der UN-Sicherheitsrat Kollegen Dr. Max Lehmer für die CDU/CSU-Fraktion. selbst der erwähnten Zivil- und Sicherheitspräsenz die (Beifall bei der CDU/CSU) Legitimation entziehen kann. (B) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): (D) NEN]: Und nicht Monika Knoche!) Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Dritte Bericht der Ich will nicht verschweigen, dass man auch anderer Bundesregierung über Erfahrungen mit dem Gentech- Meinung sein kann. Auch dazu ist hier viel gesagt wor- nikgesetz betrachtet den Zeitraum ab der Vorlage des den. Dass wir uns noch bessere Lösungen vorstellen zweiten Berichts im Juli 2001 bis zum Mai 2007. Das können, sei auch unbestritten. Anfang dieses Jahres verabschiedete Vierte Gesetz zur Lassen Sie uns trotzdem den Versuch unternehmen, Änderung des Gentechnikgesetzes mit seinen Regelun- gemeinsam das zu tun, was die Resolution 1244 von uns gen ist in diesem Bericht ausführlich beschrieben. fordert, nämlich an einer nachhaltigen Befriedung der Nach dem Bericht ist auf allen drei Gebieten des Ein- gesamten Region zu arbeiten. Dazu gehört, dass wir die satzes der Biotechnologie, nämlich der Weißen, der Ro- militärische Mission nicht zu einem Zeitpunkt beenden, ten und der Grünen Gentechnik, ein enormes Wachstum zu dem sie am meisten gebraucht wird. Das ist ganz si- zu verzeichnen. cher nicht im Interesse des Sicherheitsrates und nicht im Interesse der Menschen im Kosovo. Vielleicht sehen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dies ja auch Russland und China so, sonst hätten sie dem Im Jahre 2006 waren mehr als 14 000 Beschäftigte in Sicherheitsrat vermutlich anderslautende Anträge vorge- 495 Firmen tätig, die sich wesentlich oder ausschließlich legt. mit dem Verfahren der Biotechnologie befassen. Heute (Beifall des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD]) sind bereits 30 Prozent der jährlich neu eingeführten pharmazeutischen Wirkstoffe gentechnischen Ur- Der Kollege Trittin hat ja in eine ähnliche Richtung ar- sprungs. Gar 75 Prozent der Unternehmensgründungen gumentiert. entfallen auf den Bereich der Roten Biotechnologie. Deutschland bewegt sich bei der Zahl der Freisetzungs- Lassen Sie uns – darum bitte ich Sie herzlich – ge- anträge im Bereich der Grünen Gentechnik im EU-Ver- meinsam an der Eröffnung von europäischen Perspekti- gleich im oberen Drittel. ven für den jungen europäischen Staat und seine Nach- barn arbeiten. 2007 wurden weltweit GVO von 12 Millionen Land- wirten in 23 Ländern auf rund 115 Millionen Hektar (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ackerfläche angebaut. Das ist eine Steigerung innerhalb der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- eines Jahres, nämlich gegenüber 2006, um 12 Prozent. SES 90/DIE GRÜNEN) Die EU-Länder zusammen haben inzwischen die 16576 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Dr. Max Lehmer (A) 100 000-Hektar-Grenze überschritten. Schätzungen zu- Ich denke, das ist auch einem umfassenden Prüfungs-, (C) folge wird sich die weltweite Anbaufläche von GVO bis Kontroll- und Zulassungsverfahren geschuldet. Leider 2015 auf bis zu 200 Millionen Hektar ausdehnen. ist festzustellen, dass viele Bürger gar nicht wissen, dass vor einer Zulassung für die Freisetzung der Nachweis ei- Laut dem Bericht werden die einzelnen Bereiche der ner völligen Unbedenklichkeit in Bezug auf einen Scha- Gentechnologie von der Bevölkerung sehr unterschied- den oder ein Sicherheitsrisiko für Mensch, Tier und Um- lich bewertet. Während die gesellschaftliche Akzeptanz welt erbracht werden muss. bei der Roten Gentechnik, also dem Einsatz in der Medi- zin, sehr hoch ist, lehnt eine Mehrheit der Bevölkerung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Syl- den Einsatz bei der Produktion von Lebensmitteln und in via Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Landwirtschaft derzeit ab. Warum ist das so, meine NEN]: Das geht ja gar nicht!) Damen und Herren? – Ich denke, es wäre Aufgabe der Biotechnikindustrie, der Forschung, aber auch der Poli- Für eine verantwortungsvolle Beurteilung einer neuen tik gewesen, die Menschen rechtzeitig über diese neue Technologie müssen wir uns auch mit den Potenzialen Technologie zu informieren und aufzuklären, und zwar beschäftigen. Ich weiß, dass die Potenziale unterschied- objektiv und wissenschaftlich fundiert. lich beurteilt werden. Aber ich stütze mich hier auf eine breite wissenschaftliche Übereinstimmung in Europa; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das kann man uneingeschränkt so sagen. Breite Wissen- Dies wurde in der Vergangenheit eindeutig versäumt schaftskreise in Deutschland und Europa sprechen bei und wird leider auch heute noch nicht ausreichend getan. der Biotechnologie von der Schlüsseltechnologie des Stattdessen hat man das Feld den selbsterklärten Geg- 21. Jahrhunderts. Ich darf erinnern: Vor Einführung der nern der Grünen Gentechnik überlassen. Die öffentliche Roten Gentechnik hatten wir eine entsprechende Diskus- Meinungsbildung wird leider oft durch ideologische sion. Wer würde heute noch auf Insulin, Impfstoffe und Angstmacherei bestimmt und meist unter Missachtung eine weitere große Zahl von modernen Medikamenten wissenschaftlicher Erkenntnisse betrieben. Hier rede ich verzichten wollen, die wir inzwischen selbstverständlich aus persönlicher Erfahrung in meiner Region. nutzen? (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sehr leidvoll!) Die Grüne Gentechnik bietet die Möglichkeit der Ver- besserung von Pflanzeneigenschaften für die Produktion Das ist auch der Hintergrund für die Ablehnung von von Lebensmitteln, Rohstoffen und Bioenergie. Ich Freilandversuchen. Diese sind aber gerade für Fragen nenne als Stichworte: verbesserte Nährstoffgehalte, hö- der Sicherheit und für mögliche Auswirkungen auf die here Energiedichte bei Energiepflanzen, erhöhte Wider- Umwelt unverzichtbar. Ich danke in diesem Zusammen- standsfähigkeit gegen klimatischen Stress, Eignung für (B) hang Herrn Bundesminister Seehofer ausdrücklich für wasserarme Standorte – gerade vor dem Hintergrund der (D) die deutliche Stellungnahme zu den gehäuften Feldzer- Klimaveränderungen ein sehr wichtiges Merkmal –, Wi- störungen. Sie ist heute in der Presse erschienen. Darin derstandsfähigkeit gegenüber Schädlingen und Krank- hat er diese Zerstörungen ganz klar als inakzeptabel und heiten und damit die Möglichkeit der Vermeidung großer strafbar verurteilt. Ertrags- und Qualitätsverluste. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber auch die ökologischen Vorteile sind zu nennen: Ich fordere Industrie und auch die amtlichen Fachstel- weniger chemischer Pflanzenschutz, geringerer Energie- len des Bundes und der Länder auf, eine sachliche Infor- bedarf bei modernen Produktionsmethoden und mehr mationsarbeit zu leisten. Ich weiß, dass diese Institutio- Erosionsschutz. Insbesondere im Hinblick auf die aktu- nen seit vielen Jahren valide und hervorragende elle Diskussion über die Welternährungssituation und wissenschaftsbasierte Daten haben. Es liegt eine Viel- den enorm wachsenden Energiebedarf gewinnen die zahl von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus dem Möglichkeiten dieser Technologie täglich an Bedeutung. gesamten Forschungsbereich der Grünen Gentechnik (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bär- einschließlich der wichtigen sicherheitsrelevanten Fra- bel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gestellungen vor, die dazu beitragen könnten, die oft ist ja richtig zynisch, was Sie da sagen!) emotional begründeten Bedenken vieler Menschen zu entkräften und einen sachlichen Umgang mit dieser, wie Die Pflanze als zentraler Organismus – ich arbeite seit ich meine, sehr erfolgversprechenden Technologie zu er- 35 Jahren wissenschaftlich und praktisch mit Pflanzen – möglichen. wird damit mehr als bisher in den Fokus von ökologisch ausgerichteter Nahrungs- und Energieerzeugung ge- Aufklärung und wissenschaftlich basierte Informatio- rückt. Gerade Landwirte in Entwicklungs- und Schwel- nen sind die Voraussetzung für einen angstfreien Um- lenländern profitieren – das wird oft negiert, obwohl es gang mit modernen, zugegebenermaßen komplexen stimmt – von den sozioökonomischen Vorteilen des An- Technologien. Das gilt für alle Technologien, die in die baus genveränderter Pflanzen in großem Maße. Zukunft gerichtet sind. Im Übrigen darf wohl auch da- rauf hingewiesen werden, dass bis heute weltweit kein (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: einziger Schadenfall aufgetreten ist. Die Großgrundbesitzer!) (Beifall des Abg. Peter Bleser [CDU/CSU] Die Zuwachsrate lag hier – auch wenn Sie es nicht wahr- und der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan haben wollen – in 2007 bei 21 Prozent, gerade in [FDP]) schwierig strukturierten Regionen, in Regionen mit aus- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16577

Dr. Max Lehmer (A) geprägter Kleinlandwirtestruktur. In Indien beispiels- Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): (C) weise können die Landwirte, die Bt-Baumwolle anbauen Ich komme zum Ende. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wie Oft wird im Zusammenhang mit der Grünen Gentech- viel Opfer hat es gegeben? – Bärbel Höhn nik vor der Gefahr einer Monopolisierung gewarnt. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie Diese Tendenz ist nicht von der Hand zu weisen. Die die Selbstmorde mitgerechnet? Das ist so zy- Frage ist nur, wie wir dieser Tendenz begegnen. Ich nisch!) meine, dass nur mit einer eigenen, starken nationalen – lesen Sie es nach und regen Sie sich nicht auf; schauen und staatlichen Forschung und einer konsequenten Un- Sie sich die Fakten an –, terstützung unserer überwiegend mittelständisch gepräg- ten Pflanzenzucht in Deutschland dieser unerwünschten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Entwicklung entgegengewirkt werden kann. ihre Erträge um bis zu 50 Prozent steigern. Vielen Dank. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- aber eine selektive Wahrnehmung!) neten der FDP) Wir haben uns mit indischen Landwirten ausgiebig da- rüber unterhalten. Ihr Einkommen liegt im Durchschnitt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: um 250 US-Dollar höher als beim Anbau konventionel- Das Wort hat Dr. Christel Happach-Kasan für die ler Sorten. Die Zahlen in China sind ähnlich. FDP-Fraktion. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Ich glaube (Beifall bei der FDP) nur, was ich selbst gefälscht habe!) – Vielleicht gibt es auch sachlichere Kritik. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundesminister Seehofer hat in den vergangenen Ta- Zu meiner ganz großen Überraschung habe ich einen gen darauf hingewiesen: Die Weltbevölkerung wächst Unterschied im Handeln von Minister Seehofer im Ver- jährlich um 80 Millionen Menschen. gleich zu seiner Vorgängerin festgestellt. Er hat heute (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Dazu brauchen ausdrücklich die Zerstörung von Feldern mit gentech- wir keine Gentechnik!) nisch veränderten Pflanzen verurteilt. Laut Welternährungsorganisation wird der Bedarf an Le- (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das haben wir (B) bensmitteln bis 2030 um 60 Prozent steigen. Geradezu auch! – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: (D) dramatisch ist die Prognose, dass die verfügbare Anbau- Das hat Frau Künast auch immer gemacht!) fläche für Nahrungs- und Energiepflanzen pro Erdenbür- Er hat gesagt: ger sich bis zum Jahre 2040 exakt halbieren wird. Solche Zerstörungen fremden Eigentums sind nicht Wir können also gar nicht umhin, die Leistungsfähig- akzeptabel und als Sachbeschädigung und Haus- keit unserer Kulturpflanzen und damit die Effizienz der friedensbruch strafbar. Landwirtschaft insgesamt entscheidend zu steigern. Hierzu kann die Grüne Gentechnik nicht alles leisten, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) aber einen wesentlichen Beitrag. Wo der Minister recht hat, hat er recht. Ich bedaure, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- weder bei der SPD noch bei den Grünen, noch bei der neten der FDP) Linkspartei ein solches Verständnis von Rechtsstaat vor- Die weltweite Entwicklung verläuft rasant. Wir müs- handen ist. sen uns in Zukunft noch intensiver als bisher mit Pflan- (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der zenzüchtung und Pflanzenforschung beschäftigen, vor SPD – Dr. Matthias Miersch [SPD]: Das ist allem um in einem so wichtigen Bereich nicht den An- eine Frechheit!) schluss zu verlieren und damit abhängig von anderen Ländern zu werden. Es ist geradezu ein Widersinn, gen- Seiner Vorgängerin sind im Übrigen diese Worte nicht technisch veränderte Pflanzen hierzulande nicht verfüt- über die Lippen gekommen. tern zu dürfen, das importierte Fleisch von derart gefüt- Der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht über terten Tieren aber hier zu verspeisen. die Erfahrungen mit dem Gentechnikgesetz zeigt, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und im Bereich der Weißen Biotechnologie entsprechend der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE dem Bericht „Innovationsstandort Deutschland – quo GRÜNEN]: Hätten Sie doch dafür gesorgt, vadis?“ Deutschland eine Führungsrolle einnimmt. Das dass das gekennzeichnet wird!) ist gut so. – Hören Sie doch bitte zu! (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wohl wahr!) Die Grüne Gentechnik nutzt dasselbe Züchtungsver- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: fahren. Dennoch kämpft sie mit Akzeptanzproblemen in Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. der Gesellschaft und auch bei dem zuständigen Minister, 16578 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Dr. Christel Happach-Kasan (A) der jetzt immerhin dem widerrechtlichen Zerstören von Minister Seehofer verurteilt die Zerstörung von gen- (C) Feldern entgegentritt. technisch veränderten Feldern. Heute war zu lesen: Wir brauchen die Revolution auf (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wir auch!) dem Acker. – Das fordert Arend Oetker, der Präsident – Ich habe das von Ihnen, Frau Drobinski-Weiß, noch des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Wir nie gehört. brauchen eine neue grüne Revolution, sagt Professor Joachim von Braun. Er ist Gründungsdirektor des Zen- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: trums für Entwicklungsforschung der Universität Bonn Das wurde doch im Ausschuss behandelt!) und jetzt Direktor des International Food Policy Re- Es gibt Gruppierungen in Deutschland, die das Standort- search Institutes in Washington. Dies ist ein führendes register als Einladung für solche Zerstörungen ansehen. Forschungs- und Beratungsinstitut, das auch von der Deswegen müssen wir die Öffentlichkeit von der Kennt- GTZ unterstützt wird. Er erinnert in seinem Beitrag da- nis dieses Registers ausschließen. ran, dass auch der grünen Revolution mit Widerstand be- gegnet wurde. Ich glaube, wir sollten auf diese Erfah- (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Genau! rung zurückgreifen. Die Menschen wegsperren!) Die grüne Revolution hat viel erreicht. Wir sollten Ansonsten können wir die Zerstörungen nicht verhin- uns daran erinnern. 1950 lebten etwa 2 Milliarden Men- dern. Es wäre ein Schritt zu einer glaubwürdigen Ausge- schen auf der Erde, fast die Hälfte hungerte. Heute leben staltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen für die auf der Erde mehr als 6 Milliarden Menschen, über Hightech-Strategie der Bundesregierung gewesen, hätte 860 Millionen Menschen hungern. Das sind zu viele, sie sich von der Öffentlichkeit des Standortregisters ver- aber weniger als 15 Prozent. Es werden 4 Milliarden abschiedet. Menschen mehr ernährt als 1950. Wer will diesen Erfolg Inzwischen haben zwei Universitäten vor dem Mob kleinreden? Wer hat ein anderes Modell? Wer kann sa- kapituliert, der ihre Versuchsfelder zerstört hat. gen, wie man es anders hätte besser machen können? Niemand von Ihnen kann es. Ich finde es absolut zy- (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist nisch, in welcher Weise Sie auf solche Zahlen reagieren. ja übelst! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie werden immer schlimmer!) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind zynisch!) Es ist ein einmaliger Vorgang, dass der Rektor einer Universität seinem Bauchempfinden den Vorrang gibt – Frau Höhn, das gilt für Sie genauso. vor der Verteidigung der grundgesetzlich geschützten (B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Forschungsfreiheit; so geschehen in Nürtingen-Geislin- (D) der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ gen. Wo kommen wir hin, wenn die Straße bestimmt, DIE GRÜNEN]: Sie sind zynisch!) welche Forschung gemacht wird? Wozu ist das Recht auf Forschungsfreiheit bei uns im Grundgesetz veran- Die Lebensmittelpreise sind weltweit dramatisch ge- kert? stiegen. Die Ursachen sind unterschiedlich – das wissen wir –: Missernten, beispielsweise infolge des Klimawan- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wal- dels, und teilweise die energetische Nutzung von Bio- traud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Überlegen masse. Aber insbesondere ist der erhöhte Lebensstan- Sie sich, was Sie sagen!) dard beispielsweise in China eine Ursache. Wir können – Ich überlege mir sehr gut, was ich sage. Ich habe mit den Chinesen jedoch nicht sagen, beim Reis zu bleiben sehr vielen Gentechnikgegnern diskutiert und festge- und auf das Schnitzel zu verzichten. Sie werden mit dem stellt, dass bei sehr vielen von ihnen schlicht keine Finger auf unsere Teller zeigen. Wir müssen akzeptieren, Grundkenntnisse der Biologie und Botanik vorhanden dass ihr Wohlstand auch ihre Ernährungsgewohnheiten sind. ändert. Das erhöht den Bedarf insbesondere an Futter- mitteln. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja unglaublich!) (Jörg Rohde [FDP]: Und die Preise!) In fast jedem Jahr diskutieren wir darüber, dass Mais Dies bedeutet, dass – wie es die FAO gefordert hat – oder Reis geringfügige Spuren einer gentechnisch verän- verstärkt in die Landwirtschaft und in die Züchtung in- derten Sorte enthält, die in der EU nicht zugelassen ist. vestiert werden muss. Was in der Weißen Gentechnik ge- Selbst wenn eine Sicherheitsprüfung der zuständigen lungen ist, sollte auch in der Grünen Gentechnik gelin- Behörden der USA vorliegt, fordert die in der EU gel- gen. Kollege Lehmer hat die entsprechenden Zahlen hier tende Nulltoleranz, dass diese Partien hier nicht verkauft genannt. Wir haben in Deutschland eine gut aufgestellte werden. Sie werden in der Regel vernichtet. Es geht da- Grundlagenforschung in Instituten und in Unternehmen. bei nicht um Sicherheit; es geht um Prinzipienreiterei. Sie könnte wichtige Beiträge leisten. Sie wird aber aus- Ich frage zum Abschluss: Ist das angesichts des Hun- gebremst – so Arend Oetker – von gesellschaftlichen gers in der Welt verantwortbar? Gruppierungen wie auch von dieser Regierung durch das restriktive Gentechnikgesetz und durch das konkrete Re- (Jörg Rohde [FDP]: Nein! – Bärbel Höhn gierungshandeln. Es gibt zahlreiche Beispiele, die ich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist un- aber jetzt nicht aufführen möchte. glaublich! – Zurufe von der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16579

Dr. Christel Happach-Kasan (A) Entspricht diese Vorgehensweise dem Gebot christlicher konzerne gefunden hat. Ich erlaube mir allerdings, ein (C) Nächstenliebe? Goethe-Zitat anzuschließen: (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist Es reicht nicht, zu wollen, man muss auch tun. jetzt keine Ansprache, oder wie?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Müssen wir nicht dringend Schwellenwerte für solche DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Beimengungen definieren, sodass das Vernichten hoch- LINKEN) wertiger Nahrungsmittel beendet wird? Ich weiß, dass die Bevölkerung so empfindet. Schauen Sie sich die neu- Wir sind nach wie vor der Meinung, dass der von esten Umfragen an! Monsanto vorgelegte Beobachtungsplan für MON810 nicht ausreicht. Deshalb muss der Anbau ausgesetzt wer- den, bis ein effektiver Monitoringplan vorliegt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, wegen Ablaufs Ihrer Zeit müssen Sie (Beifall der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE bitte zum Ende kommen. LINKE]) Der dritte Bericht zum Gentechnikgesetz, über den Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): wir heute debattieren, basiert auf den vor der Novellie- Ich komme zum Ende. – Die Menschen wollen nicht, rung des Gesetzes geltenden Regelungen. Im Bereich dass solche Lebensmittel vernichtet werden. Grüne Gentechnik sind die Erfahrungen recht dürftig. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das liegt nicht nur daran, dass bisher nur der gentech- NEN]: Sie wollen keine Gentechnik!) nisch veränderte Mais MON810 in nennenswertem Um- fang landwirtschaftlich genutzt wird, sondern das liegt Darauf müssen wir reagieren. auch daran, dass wir vielleicht darüber nachdenken müs- sen, ob wir die passenden Instrumente haben, um wirk- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Die Re- lich alle relevanten Erfahrungen zu sammeln und auszu- dezeit ist vorbei!) werten. Wir müssen uns in der EU für Schwellenwerte einsetzen, (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist damit so etwas nicht wieder passiert. wohl war!) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Der Bericht offenbart Handlungsbedarf. Unbefriedi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gend ist es zum Beispiel, dass mit den bisherigen Unter- der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ suchungen die wirtschaftliche Entwicklung bei der Grü- (B) DIE GRÜNEN]: Unglaublich!) nen Gentechnik nicht bewertet werden kann, da diese (D) immer auf den gesamten Bereich der Biotechnologie ab- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zielen; zu der Roten und der Weißen Gentechnologie Die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß hat jetzt das sind ja schon Ausführungen gemacht worden. Wort für die SPD-Fraktion. Sozioökonomische Daten werden derzeit überhaupt (Beifall bei der SPD – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] nicht gesammelt, obwohl dies dringend nottäte. [SPD]: Stell das mal richtig, Elvira!) (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])

Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Der Bedarf an einer Gegenüberstellung des gesell- schaftlichen Nutzens und der Kosten wurde bereits vor Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- zwei Jahren festgestellt, nämlich im Bericht des Büros legen! Liebe Mitglieder der Arbeitsgruppe! für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundes- (Zurufe von der SPD: Oh!) tag: „Grüne Gentechnik – transgene Pflanzen der 2. und 3. Generation“. So eine Analyse könnte die öffentliche „Gentechnik macht nicht satt“, titelt heute die Süddeut- Debatte endlich auf eine sachliche Basis stellen, und sie sche Zeitung. Wir haben über dieses Thema gestern dis- könnte dafür sorgen, angesichts knapper Kassen die fi- kutiert, und nicht einmal die Biotechindustrie behauptet nanziellen Mittel effektiv einzusetzen. mehr, sie könne das Welthungerproblem lösen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) LINKEN – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Mythen sind doch so schön!) Auch das EU-Zulassungsverfahren für GVO-Pflan- zen muss überarbeitet und um sozioökonomische As- Mir scheint, die Grüne Gentechnik, die einmal vorgab, pekte erweitert werden. Das Verfahren muss transparent als Tiger zu starten, ist auf dem besten Wege, als Bett- und demokratisch gestaltet werden. Es geht nicht nur um vorleger zu landen. die Unbedenklichkeit für Gesundheit und Umwelt, son- Bei Minister Seehofer möchte ich mich für die offe- dern es geht auch um die Möglichkeiten und Kosten der nen Worte bedanken, die er am Wochenende und auch Kontrolle neuer GVO-Konstrukte. Entscheidungen auf gestern in der Ernährungsdebatte zur Rolle der Grünen ausschließlich naturwissenschaftlicher Basis blenden Gentechnik und zu den Interessen gewisser Saatgutgroß- politische bzw. demokratische Aspekte aus und tragen 16580 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Elvira Drobinski-Weiß (A) wirtschaftlichen Auswirkungen, Akzeptanz und Kon- feststellt, dass man sich geirrt oder unpräzise argumen- (C) trollmöglichkeiten kaum Rechnung. In diesem Sinne tiert hat. werden wir uns für eine Überarbeitung einsetzen. Ein So gesehen bin ich mit dem vorliegenden Bericht zu- transparentes und allgemein anerkanntes Zulassungsver- frieden; denn er begründet in vielen Passagen die kriti- fahren trägt nicht nur zu einer stärkeren Akzeptanz der schen Positionen der Linken zur Agro-Gentechnik. An- Grünen Gentechnik bei, sondern vermeidet auch jahre- dererseits ist er aber ein Beleg dafür, dass solche lange Diskussionen. Berichte sinnlos sind; denn er stellt Probleme fest, die Ebenso wie an volkswirtschaftlichen Analysen man- vorhersehbar waren und wahrscheinlich ungelöst blei- gelt es bisher an einem Biodiversitätsmonotoring für den ben, weil Einwände wenig Einfluss auf die politischen GVO-Anbau. Ein solches Monitoring ist einfach unver- Entscheidungen haben. zichtbar. Als Gastgeber der Biodiversitätskonferenz im Ich fange mit etwas Positivem an: Auf Seite 16 geht nächsten Monat in Bonn sollten wir mit gutem Beispiel es um den Schwellenwert für gentechnische Verunreini- vorangehen. Dafür werden wir uns einsetzen. Ich bin si- gungen im Saatgut. Die Bundesregierung formuliert die cher, dass wir unseren Koalitionspartner dabei an unse- Absicht, einen möglichst niedrigen Schwellenwert für rer Seite haben. gentechnische Verunreinigungen einzuführen. Das be- (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Da grüßt die Linke. Null Toleranz ist uns gerade beim Saat- passen wir auf!) gut besonders wichtig, weil ökologische Risiken und die Ausbreitungsgefahr hier noch höher sind als beim Ernte- Ich zitiere: gut. Die Zusammenhänge und Wechselwirkungen in (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Flora und Fauna sind ein hochkomplexes System. Winkelmeier [fraktionslos]) Die Erfahrungen im Natur- und Umweltschutz zei- gen uns, dass Auswirkungen menschlicher Ein- Deshalb gilt erst recht beim Saatgut: keine konzern- griffe oft erst nach erheblicher zeitlicher Verzöge- freundlichen Kompromisse. rung spürbar werden. Diese Erfahrung machen wir z. B. lokal im Gewässerschutz und erleben wir glo- (Dr. Karl Addicks [FDP]: Es geht um men- bal im Klimawandel. Viele Entscheidungen haben schenfreundliche Kompromisse! Lassen Sie den Charakter der Abwägung zwischen Chancen/ Ihren Konzernwahn hinter sich!) Nutzen und Risiken. Im Risikomanagement gilt: Je Der Vorsorgegedanke muss Vorrang vor allen ökonomi- höher die Risiken, umso größer die Vorsorge. schen Interessen haben. Deshalb muss der Schwellen- wert mit der technisch möglichen Nachweisgrenze iden- (B) Das ist eine Passage aus der Presseerklärung des Kreis- (D) verbandes der CSU Traunstein vom 10. April 2008, die tisch sein. Das bedeutet, dass gentechnikfreies Saatgut ich zitiere, weil ich finde, dass sie die Problematik auf auch wirklich kein gentechnisch verändertes Material den Punkt bringt. enthält. Die Kosten für diese Untersuchung auf Gentech- nikfreiheit dürfen natürlich nicht der gentechnikfrei pro- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Und sie duzierenden Landwirtschaft aufgehalst werden. hat recht!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Wir werden uns also gemeinsam für effektives Monito- Winkelmeier [fraktionslos]) ring, für eine Überarbeitung der EU-Zulassungsverfah- ren und größtmögliche Vorsorge einsetzen. Ein Fonds der Agro-Gentechnik-Konzerne zum Risiko- ausgleich wäre nach dem Verursacherprinzip aus unserer Vielen Dank. Sicht mehr als gerechtfertigt. (Beifall bei der SPD) Auf den Seiten 20 bis 22 beschäftigt sich der Bericht mit der Arbeit der Zentralen Kommission für Biologi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sche Sicherheit. Hier gilt unsere Kritik vor allen Dingen Die Kollegin Kirsten Tackmann ist jetzt an der Reihe der Zusammensetzung der Kommission. Uns ist die Ver- für die Fraktion Die Linke. tretung der Interessen der gentechnikfrei produzierenden Landwirtschaft besonders wichtig. Sie vertritt nämlich (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert die Interessen der überwiegenden Mehrheit der Bevölke- Winkelmeier [fraktionslos]) rung, die der Agro-Gentechnik entweder kritisch gegen- übersteht oder sie ablehnt. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Das gilt auch für die Umwelt- und Verbraucherver- Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen bände und für die Imkereien. Ihre Position muss aus un- und Kollegen! Solche Berichte wie der jetzt vorliegende serer Sicht in einem breiten gesellschaftlichen Dialog Dritte Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen viel größeres Gewicht bekommen. In der Diskussion mit dem Gentechnikgesetz sind sicherlich sinnvoll. Sie über potenzielle Risiken muss diese Stimme viel deutli- geben Regierung wie Parlament die Gelegenheit, noch cher zu hören sein. einmal über die tatsächlichen Wirkungen von politischen Entscheidungen nachzudenken, sich mit der eigenen Ar- Verwundert hat mich folgender Befund des Berichts: gumentation auseinanderzusetzen, sie noch einmal zu Zwischen 2001 und 2007 wurden fast 60 Prozent der prüfen und gegebenenfalls zu korrigieren, wenn man Freisetzungsanträge von staatlichen Einrichtungen und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16581

Dr. Kirsten Tackmann (A) Universitäten gestellt. – Ich möchte zumindest die Frage Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): (C) in den Raum werfen, ob dieser Umfang des Engage- Ich finde, auch diese Tatsache muss man zur Kenntnis ments staatlicher Einrichtungen wirklich in jedem Fall nehmen. durch gesellschaftliches Interesse gedeckt ist. Oder: In Vielen Dank. welchem Maße werden so Töpfe mit Forschungsgeldern im Interesse der Saatgutkonzerne gefüllt? Wie werden in (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- solchen Fällen eigentlich die Objektivität und die Unab- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gert hängigkeit der Forschung gesichert? Winkelmeier [fraktionslos]) Besonders spannend wird es auf Seite 27. Dort heißt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: es – Zitat –: Jetzt spricht Bärbel Höhn für das Bündnis 90/Die Zugleich ist aber anzuerkennen, dass die vollstän- Grünen. dige Verhinderung der Auskreuzung aus Freiset- zungsflächen praktisch nicht möglich ist. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich würde dem Ministerium für diese ungewohnte Of- Wir reden heute über den Dritten Bericht der Bundesre- fenheit gerne ein Lob aussprechen; denn das ist genau gierung über Erfahrungen mit dem Gentechnikgesetz. unsere Position. Aber Minister Seehofer betont immer Eines ist in der Rede von Herrn Lehmer deutlich gewor- weiter, unablässig, eine Koexistenz, also der störungs- den – das geht aber auch aus dem Bericht der Bundesre- freie parallele Anbau von gentechnisch veränderten gierung hervor –: Die CDU/CSU treibt die Gentechnik Pflanzen und gentechnisch nicht veränderten Pflanzen, in der Landwirtschaft gegen den Willen der Menschen in sei möglich, wenn man nur bestimmte Abstände einhält. diesem Land voran. – Das ist nicht in Ordnung. Dabei ist längst klar, dass die Vielzahl der Ausbreitungs- wege, die das gentechnisch veränderte Pflanzengut neh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) men kann, überhaupt nicht kontrollierbar ist. Das wird Da hilft es auch nicht, dass sich der Minister seit eini- auch im Bericht eingeräumt. ger Zeit kritisch zur Gentechnik äußert. Vielleicht hat er sogar seine persönliche Meinung geändert; das mag sein. Was die fehlenden Konsequenzen angeht, geht es aber Entscheidend ist aber, was er für eine Politik macht. noch weiter. Offensichtlich haben die Bundesländer auf Seine Politik hat sich überhaupt nicht geändert. Probleme bei der Umsetzung des sogenannten verein- fachten Verfahrens aufmerksam gemacht. Auch hier (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: werden aber keine Konsequenzen gezogen. Im Gegen- Gott sei Dank!) (B) (D) teil, mit dem neuen Gesetz werden sie sogar noch ver- Er bereitet der Gentechnik den Weg. Das ist das Pro- schärft. blem, meine Damen und Herren. Auf Seite 36 geht es um in der EU nicht zugelassene (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) genetisch veränderte Pflanzen. Treffend wird die Nullto- leranz für Verunreinigungen mit solchen Pflanzen im Genau diese Politik hat Minister Seehofer in der Bericht als – Zitat – „Importverbot für die betreffende Presse den Spitznamen „Genhofer“ eingebracht. Viel- Lieferung“ bezeichnet. Wir finden, das ist genau richtig, leicht ist er wider Willen ein „Genhofer“. Dennoch ist er weil das eine Risikovorsorge ist. ein „Genhofer“, weil er diese Politik macht. Deshalb werden wir ihn weiter kritisieren.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Macht doch!) Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende. Sehen wir uns einmal die Zahlen an: Im Jahre 2004, dem letzten vollen Regierungsjahr von Rot-Grün, wur- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): den an 13 Orten in Deutschland gentechnisch veränderte Ich komme sofort zum Ende. Pflanzen freigesetzt. Diese Zahl ist mittlerweile drama- tisch nach oben geschossen. 2007 fanden schon Im Hinblick auf die Rede meines Kollegen Lehmer 68 Freisetzungsversuche statt. möchte ich noch darauf hinweisen, dass gerade der Welt- agrarrat, als er die Welternährungsprobleme behandelt (Peter Bleser (CDU/CSU): Ja! Dazu stehen hat, festgestellt hat: Diese Probleme können durch die wir auch! Agro-Gentechnik nicht gelöst werden. Das ist die Folge der Politik von Seehofer. Das ist nicht (Dr. Max Lehmer [CDU/CSU]: Wissen Sie, gut. wer da drin sitzt?) (Beifall des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Er hat sich zur Agro-Gentechnik sehr kritisch geäußert. Der Widerstand der Bevölkerung gegen den Gentech- nikanbau wird immer größer, und zwar zu Recht. Die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zahl der Einwendungen ist seit 2005 dramatisch gestie- Frau Kollegin! gen. 16582 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Bärbel Höhn (A) (Dr. Karl Addicks [FDP]: Kein Wunder! Weil Gerade deshalb ist es zynisch, wenn jetzt Kauder – der (C) Sie den Menschen Angst machen! Sie spielen Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU – oder Happach- mit der Angst der Leute!) Kasan Sie hat sich von 2 000 auf 11 000 mehr als verfünffacht. (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Herr Kauder! Frau Happach-Kasan!) (Dr. Karl Addicks [FDP]: Nichts als Panik- mache!) für die Gentechnik mit dem Argument werben, mit ihr könne man den Hunger auf dieser Erde in den Griff be- Es gilt aber Folgendes, Frau Happach-Kasan: Es kommen. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: stimmt nicht, dass die Zahl der Zerstörungen zugenom- Durch Monsanto werden die Bauern in mehr Abhängig- men hat. Insbesondere nach der Einführung des Stand- keit getrieben. ortregisters, die unter Rot-Grün stattgefunden hat, ist sie zurückgegangen. Betrug die Zahl der Zerstörungen in (Peter Bleser [CDU/CSU]: Alte Feindbilder!) den Jahren 1999 und 2000 noch 15 bzw. 19, so ist sie nach Einführung des Standortregisters auf weniger als 5 Gentechnik ist kein Mittel gegen den Hunger; Gentech- zurückgegangen. Das sollten Sie endlich zur Kenntnis nik verschärft das Problem des Hungers. nehmen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- sowie bei Abgeordneten der SPD) KEN) Dass es Widerstand aus der Bevölkerung gibt, liegt auch Gehen Sie deshalb in sich, meine Damen und Herren! daran, dass die Bevölkerung das Gefühl hat, dass die Schauen Sie, was die Bevölkerung in Bayern will: Sie Gentechnik schleichend eingeführt wird; so wird es ja will keine Gentechnik. Entsprechend sollten Sie Politik gemacht: immer ein bisschen mehr. Renate Künast hat machen! Momentan bewegen Sie sich in die falsche sich gegen die Einführung von MON 810 – das war der Richtung. erste Genmais, der hier in wirtschaftlichem Maßstab an- Vielen Dank. gebaut werden sollte – immer gewehrt. Minister Seeho- fer hat einen schweren Fehler gemacht, als er die Tür (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dazu geöffnet hat. 2006 wurde auf 1 000 Hektar Gen- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) mais angebaut. 2007 waren es schon fast 3 000 Hektar. 2008 wird es wahrscheinlich eine Steigerung um Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: 70 Prozent geben. (B) Matthias Miersch spricht jetzt für die SPD-Fraktion. (D) (Zuruf von der CDU/CSU: Na und?) Es gibt eine Möglichkeit, das zu verhindern – andere Dr. Matthias Miersch (SPD): Länder machen es vor –: Frankreich verbietet MON 810, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Polen verbietet MON 810, Österreich verbietet MON 810. Als Mitglied des Rechtsausschusses will ich das Thema Wir in Deutschland täten gut daran, MON 810 ebenfalls von einer anderen Seite beleuchten. Wir Juristen neigen zu verbieten. ja zur Nüchternheit; Frau Happach-Kasan, ich kann Ih- nen allerdings sagen, dass Ihr Redebeitrag meinen Puls (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN durchaus erhöht hat. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das freut mich!) Schauen wir uns Seehofers Heimat Bayern an: Im Großraum Würzburg wird auf 90 Hektar Genmais ange- Das Niveau, das Sie an den Tag gelegt haben, ist einer baut, in Kitzingen werden neue Genmaissorten freige- Debatte im Deutschen Bundestag nicht würdig. setzt. Ich finde es interessant, was Minister Seehofer im (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Kampf um den CSU-Vorsitz gesagt hat: Er hat den Bür- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gern in Bayern geschrieben, er stehe dem Genmaisanbau mit Zurückhaltung gegenüber, er bezweifle seine Sinn- Dem politischen Gegner zu unterstellen, dass er nicht haftigkeit, und es bestehe Anlass zur Sorge, dass insbe- auf dem Boden des Rechtsstaates steht, ist ein starkes sondere in Gebieten mit einer klein strukturierten Land- Stück; ich weise das für meine Fraktion in aller Ent- wirtschaft wie in Bayern der Anbau von gentechnisch schiedenheit zurück. veränderten Pflanzen zu einer Beeinträchtigung der übri- gen Landwirtschaft führt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Der Minister lässt die Landwirte im Stich, lässt die LINKEN – Markus Löning [FDP]: Wer hat Verbraucher im Stich, lässt die Menschen vor Ort, die denn die Felder kaputtgemacht?) sich gegen den Anbau von Genmais zu Recht wehren, im Stich. Das ist nicht gut. Liebe Frau Happach-Kasan, Sie haben schon bei Ihrer letzten Rede einen Fehlgriff gemacht, als Sie versucht (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- haben, den Träger des Alternativen Nobelpreises zu kri- SES 90/DIE GRÜNEN) minalisieren. Auch das zeigt, wie Sie argumentieren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16583

Dr. Matthias Miersch (A) Schauen wir uns doch die Fakten an! Dann stellen wir Großen Koalition noch einmal überlegen, ob wir wir- (C) fest: Die blühenden Landschaften, die heilbringenden kungsvoll etwas dagegen tun können. Saatgutkonzerne, von denen Sie sprechen, gibt es nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wenn wir auf andere Kontinente, auf andere Länder bli- DIE GRÜNEN) cken, können wir sehen, dass das Gegenteil der Fall ist. Minister Seehofer hat in seiner Analyse dezidiert nicht Wenn wir uns anschauen, welche Verfahren beispiels- nur von der Macht der Saatgutkonzerne gesprochen, weise vor dem Europäischen Patentamt anhängig sind sondern auch von den Erpressungsversuchen und davon, – ich nenne das Stichwort Brokkoli-Patent –, dann stel- dass zum Beispiel in den USA ein einziger Konzern na- len wir fest, dass diese Industrie immer weiter danach hezu das gesamte Saatgutgeschäft beherrscht, und er hat strebt, das zu verwirklichen, was ein Konzernsprecher von der Vernichtung kleinbäuerlicher Existenzen gespro- einmal so formuliert hat: Wir wollen die Ernährung der chen. Sie sollten in Ihrer Fraktion noch einmal ausführ- Bevölkerung vom Ackerbau bis zum Tellerrand steuern. – lich darüber diskutieren. Dies muss im Sinne der Landwirtschaft und im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher verhindert wer- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des den. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: DIE GRÜNEN) Herr Kollege, Frau Happach-Kasan würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, es gibt den Wunsch des Kollegen Leh- Dr. Matthias Miersch (SPD): mer, eine Zwischenfrage zu stellen. Nein, Frau Kollegin Happach-Kasan. Wenn Sie sich hier am Ende für Ihren Ausspruch entschuldigen, dann Dr. Matthias Miersch (SPD): lasse ich zukünftig gerne wieder Zwischenfragen von Ih- Herr Lehmer, selbstverständlich. nen zu. Dies machen wir aber nicht mit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es ist Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): sinnvoll, das zu betrachten, was wir in den einzelnen Würden Sie zum Ersten bitte attestieren, dass in der Ländern, in denen GVO konventionell angebaut wird, vorliegenden Biopatentrichtlinie genau zwischen einer feststellen können: Das Saatgut ist extrem teuer. Das Ur- Erfindung aufgrund einer Erkenntnis aus der Natur und recht der Landwirtschaft, die Wiederverwendung des einer Entdeckung getrennt wird? Wir haben das über das (B) Saatgutes, der sogenannte Nachbau, wird elementar be- BMBF nachprüfen lassen. Ich habe den Antrag gestellt, (D) schnitten, was gerade für Kleinbauern in Staaten der dass das noch einmal festgestellt wird. Würden Sie bitte Dritten Welt teilweise existenzvernichtend ist, was man den Unterschied, der in der jetzt gültigen Biopatentricht- daran sieht, dass es beispielsweise in Indien eine durch- linie festgelegt ist, attestieren? aus nicht geringe Selbstmordquote gibt. Würden Sie zum Zweiten attestieren, dass schon jetzt (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ein Nachbau nur unter besonderen Regeln gemäß dem Richtig! – Dr. Max Lehmer [CDU/CSU]: Aber deutschen Saatgutverkehrsgesetz und der Züchterverord- nicht deswegen!) nung möglich ist? Würden Sie bitte auch bestätigen, dass hierdurch das geistige Eigentum geschützt ist, dass jeder – Sehr wohl deswegen. Wir können uns darüber durch- Nachbau einer Regelung unterliegt und dass das nichts aus auch einmal intensiver austauschen. mit einer Monopolisierung zu tun hat? (Dr. Max Lehmer [CDU/CSU]: Aber gerne!) Dr. Matthias Miersch (SPD): Wir stellen ferner fest, dass diese Saatgutkonzerne da- Sehr verehrter Herr Kollege Lehmer, Sie haben mir ran forschen, die Pflanzen so zu verändern, dass sie nicht freundlicherweise meine Redezeit verlängert. mehr reproduzierbar sind und dass Landwirte darauf an- gewiesen sind, jedes Jahr wieder neues Saatgut zu kau- Zum Ersten. Der Nachbau wird nicht durch das Saat- fen. Daneben stellen wir fest, dass die Abhängigkeit von gutverkehrsgesetz beschränkt, sondern durch das deut- der Saatgutindustrie, dem Pflanzmitteleinsatz und allem, sche Sortenschutzgesetz bzw. das europäische Sorten- was daranhängt, zunimmt, weil weltweit eben nur we- schutzrecht. nige Konzerne diesen Bereich beherrschen. (Dr. Max Lehmer [CDU/CSU]: Das weiß ich!) Lieber Kollege Lehmer, Das steht in dem Kontext, über den wir hier reden. Ich (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Guter Mann!) meine die ewige Erweiterung der Züchterrechte, die dazu führt, dass beispielsweise das Landwirteprivileg, zum Abschluss noch eine Bemerkung, weil ich nicht viel das jahrhundertlang unbeschränkt galt, im Jahre 1991 Redezeit habe. Schauen Sie sich an, welches Werkzeug durch ein internationales Übereinkommen erstmalig ein- der Gentechnikindustrie zur Verfügung steht – das sage geschränkt wurde. ich als Jurist –, nämlich das Patentrecht, das viel weiter- gehender als der nationale bzw. der europäische Sorten- Die Gentechnik geht aber einen Schritt weiter. Es schutz ist. Ich glaube, wir müssen uns auch in dieser wird nämlich gesagt, dass es nicht mehr erlaubnisfrei ist, 16584 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Dr. Matthias Miersch (A) Nachbau zu betreiben, sondern man darf das letztlich Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): (C) nicht mehr. Schauen Sie sich die Anbauverträge an. Hier Verehrter Kollege Miersch, ich hätte von einem Juris- können wir, so glaube ich, nicht mehr von einfachen ten – Sie haben betont, dass Sie Jurist sind – schon er- Verträgen sprechen, sondern das sind Knebelungsver- wartet, dass Sie sich darüber im Klaren sind, dass man träge. Das ist jedenfalls meine Würdigung. die Macht von Konzernen in aller Regel über das Kar- Zum zweiten von Ihnen angesprochenen Punkt, zur tellrecht begrenzt statt über das Verbot einer Züchtungs- Trennschärfe. Schauen wir uns die Verfahren beim Euro- methode oder ihrer Schikanierung. päischen und beim Deutschen Patentamt an. Hinsichtlich Ich hätte von Ihnen auch erwartet, Herr Kollege der Patentierbarkeit dieser Pflanzen hat die von Ihnen Miersch, dass Sie sich darüber im Klaren sind, dass die beschriebene Trennschärfe aus meiner Sicht keine Gül- Biopatentrichtlinie beschlossen ist. Die Tatsache, dass tigkeit. inzwischen auch Pflanzensorten unter das Patentrecht (Dr. Max Lehmer [CDU/CSU]: Ihre Sicht!) fallen, hat auch etwas damit zu tun, dass wir in Europa schlicht nicht schnell genug waren. – Hier geht es um Recht und um Rechtsauslegung. Wenn Sie die Verfahren betrachten, dann werden Sie feststel- Auch ich bin der Meinung, dass unser deutsches Sor- len, dass sich das, was Sie im Moment als Wahrheit vor tenschutzrecht ein sehr viel besseres Instrument für die sich hertreiben, in der Praxis der Patentierbarkeit bzw. Zulassung von Sorten, Genehmigungsverfahren und der Patentabgabe gerade nicht widerspiegelt. Insofern Ähnliches wäre. Wir müssen aber feststellen, dass ein glaube ich, dass wir alle gut beraten sind, wenn wir uns Unternehmen in den USA, wo es kein entsprechend gu- noch einmal sehr genau mit dem Feld befassen. Der tes Sortenschutzrecht gibt, den Weg des Patentrechts be- Grundsatz „Keine Patente auf Leben“ muss in Deutsch- schritten hat. Wir müssen uns dem beugen, weil wir dem land und in Europa gelten. nichts entgegenzusetzen haben. Wir werden das Patent- recht in der Beziehung nicht aushebeln können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Im Übrigen wissen Sie, dass das Patentrecht nichts anderes ist als der Schutz geistigen Eigentums. Ich kann Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mir nicht vorstellen, dass die SPD auf einmal nicht mehr Das war eigentlich schon fast ein schönes Schluss- für den Schutz des geistigen Eigentums eintritt. wort, Herr Kollege. Ich möchte Ihnen außerdem empfehlen, die Universi- tät Hohenheim zu besuchen und mit Professor Martin Dr. Matthias Miersch (SPD): Qaim zu sprechen, der in verschiedenen Erdteilen unter- (B) Ja, Frau Präsidentin, aber ich möchte dem Kollegen sucht hat, wer davon profitiert, dass eine Sorte einen hö- (D) Lehmer abschließend noch eines mit auf den Weg geben, heren Ertrag erbringt. Er hat festgestellt, dass dies auf weil er mich so freundlich gefragt hat. Er hat festgestellt, den einzelnen Erdteilen unterschiedlich ist, dass aber im- dass häufig mangelnde Aufklärung eine Rolle spielt. Ich mer ein Teil des Mehrwertes den Landwirten zugute habe neulich bei einem Besuch in Ihrem Wahlkreis fest- kommt. Insofern sind diese Sorten erfolgreich, sodass in- gestellt, dass eine sehr aktive Bauernschaft gerade für zwischen auf 114 Millionen Hektar von 12 Millionen gentechnikfreie Regionen kämpft. Gerade im Freistaat Landwirten weltweit gentechnisch veränderte Sorten an- Bayern ist mit die größte Zahl gentechnikfreier Regio- gebaut werden. Allein diese Zahlen machen deutlich, nen zu finden. dass das nicht alles Großbauern sind. All den Menschen, mit denen ich gesprochen habe, zu Ich finde es nett, dass Sie sich für die kleinbäuerliche unterstellen, dass sie sich nicht richtig informiert haben, Landwirtschaft einsetzen, aber wir müssen auch zur bevor sie sich für eine gentechnikfreie Region ausge- Kenntnis nehmen, dass es in Deutschland nur noch an sprochen haben, finde ich nicht richtig. Wie ich die Men- wenigen Orten kleinbäuerliche Landwirtschaft gibt. Wir schen in Ihrem Wahlkreis erlebt habe, hätten sie, glaube haben eine bäuerliche Landwirtschaft, je nach Ausbil- ich, verdient, dass auch Sie die Argumente sehr sorgsam dungsgrad dieser Landwirte. In Schleswig-Holstein zum abwägen. Wenn uns das gelingt, dann schaffen wir auch Beispiel gibt es sehr gut ausgebildete Landwirte, die die nächsten Schritte. Wir haben in diesem Bereich noch auch den entsprechenden wirtschaftlichen Erfolg haben, sehr viel zu tun, und ich glaube, wir sollten das gemein- den wir allen unseren Landwirten wünschen. sam angehen im Sinne der Landwirtschaft, und zwar hoffentlich einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die Von daher sollte man die Vision kleinstbäuerlicher wir hier und in den Ländern der Dritten Welt dringend Betriebe à la 19. Jahrhundert nicht zurückbeschwören. brauchen. Diese können nämlich den Aufgaben der Welternährung nicht gerecht werden. Danke. Danke schön. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kol- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: legin Happach-Kasan. Herr Miersch hat das Wort zur Antwort. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16585

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das dauert!) Ich komme jetzt zu den Tagesordnungspunkten 14 a (C) und 14 b: Dr. Matthias Miersch (SPD): a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Bri- – Das dauert nicht lange, weil ich nicht in ein juristi- gitte Pothmer, Birgitt Bender, Dr. Thea Dückert, sches Proseminar mit Ihnen einsteige, liebe Kollegin weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- Happach-Kasan. Aber gestatten Sie mir den Hinweis, NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs dass man im internationalen Verkehr bzw. auch in den eines Gesetzes zur Gewährleistung angemesse- nationalen Regelungen feststellen kann, dass das Kar- ner Arbeitsbedingungen für grenzüberschrei- tellrecht kein ausreichendes Instrumentarium bietet. tend entsandte und für regelmäßig im Inland (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Verbes- beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehme- sern Sie es!) rinnen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz – AEntG) Wenn Sie sich die Rechtsprechung bei der WTO zum Import von gentechnisch verändertem Material nach – Drucksache 16/8758 – Europa anschauen, dann sehen Sie, dass die Regel- Überweisungsvorschlag: mechanismen nicht ausreichend sind. Der Minister hat Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) – aus meiner Sicht: zu Recht – angeprangert, dass sich Rechtsausschuss hier ein elementares Mittel der Menschheit, nämlich die Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nahrung, in den Händen weniger befindet. Wir sind auf- b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte gerufen, dem Einhalt zu gebieten. Pothmer, Birgitt Bender, Dr. Gerhard Schick, wei- Sie haben mir unterstellt, dass ich mich beispiels- teren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS weise mit den Züchtungsbetrieben nicht auseinanderge- 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines setzt habe. Ich befasse mich damit seit neun Jahren in Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes meiner beruflichen Praxis und stelle fest, dass es hier über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedin- große Meinungsunterschiede innerhalb der Züchtungsin- gungen (Erstes Mindestarbeitsbedingungen- dustrie gibt. Viele mittelständische Züchter sehen in der Änderungsgesetz – 1. MiArbGÄndG) Gentechnologie ein großes Risiko für ihre Existenz. Ich finde, gerade Sie sind als Vertreterin der FDP dazu auf- – Drucksache 16/8757 – gerufen, sich die Struktur der Züchtungsindustrie in Überweisungsvorschlag: Deutschland sehr genau anzuschauen. Wollen Sie tat- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) sächlich auf das Feld der Gentechnik setzen, auf dem Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (B) sich augenblicklich weltweit nur wenige Großbetriebe (D) tummeln? Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden der Kollege Der letzte Punkt, den Sie angesprochen haben, betrifft Gerald Weiß, die Kollegin Anette Kramme, der Kollege die Kleinbauern. Die Kleinbauernfrage ist sicherlich von Dirk Niebel, der Kollege Werner Dreibus und die Kolle- elementarer Bedeutung für die Entwicklungsländer; das gin Brigitte Pothmer.1) wollte ich zum Ausdruck bringen. Im Übrigen wünsche Hier wird vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe auf den ich mir, dass wir in Deutschland eine viel stärker bäuer- lich geprägte Landwirtschaft bekommen, keine klein- Drucksachen 16/8758 und 16/8757 an die in der Tages- bäuerliche, aber wieder eine bäuerliche; denn ich glaube, ordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den dass dann das Verhältnis zwischen Verbraucher und bäu- Rechtsausschuss zu überweisen. Sind Sie damit einver- erlichem Betrieb viel intensiver wird. Das wäre ein standen? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisun- Schritt hin zu mehr Nachhaltigkeit und Transparenz bei gen so beschlossen. den Produkten. Man könnte leichter erkennen, was ange- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 17 auf: baut wird. Mir ging es bei den Kleinbauern tatsächlich um die Landwirte in den Entwicklungsländern. Schauen Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Sie sich die Länder an, in denen konventionell GVO an- CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines gebaut werden! Sie werden feststellen, dass genau die Gesetzes über das Verbot der Einfuhr, der Struktur, die der Weltagrarrat als Lösung der Hungersnot Verarbeitung und des Inverkehrbringens von gefordert hat, durch die Gentechnikindustrie zerstört Robbenerzeugnissen (Robbenerzeugnisse-Ver- wird. botsgesetz – RobErzVerbG) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Drucksache 16/8868 – DIE GRÜNEN) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Verbraucherschutz (f) Die Aussprache ist geschlossen. Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Drucksache 16/8155 an die in der Tagesordnung aufge- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 1) Anlage 7 16586 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Hier haben ihre Reden zu Protokoll gegeben die Kol- Tageszeit über diesen sehr wichtigen Punkt in der Ent- (C) leginnen und Kollegen Peter Jahr, Wilhelm Priesmeier, wicklungszusammenarbeit mit unseren Partnerländern, Mechthild Rawert, Christoph Pries, Hans-Michael Gold- und das, obwohl in dieser Woche der Weltmalariatag mann, Eva Bulling-Schröter und Cornelia Behm.1) stattfindet. Ich hätte mich wirklich gefreut, wenn wir darüber zu einer Tageszeit debattiert hätten, zu der man Hier wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf ein bisschen mehr öffentliche Aufmerksamkeit erweckt; Drucksache 16/8868 an die in der Tagesordnung aufge- Phoenix sendet leider nur bis 18 Uhr. Wenn wir früher führten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit ein- debattiert hätten, wäre das der Bedeutung, die diesem verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Thema zukommt, besser gerecht geworden. so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie den Zu- (Beifall bei der FDP – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Ihr satzpunkt 7 auf: wolltet doch zu Protokoll geben!) 16 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten – Nein, das haben wir nie gesagt. Sie haben das gefor- Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, dert; aber wir halten das Thema für wichtig genug, um es Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der eben nicht zu Protokoll zu geben. Fraktion der FDP Herr Raabe, gut, dass Sie mich gerade ansprechen. Gesundheit in Entwicklungsländern Gestern haben Sie sich anlässlich der Aktuellen Stunde hier noch einmal heftig darüber beklagt, dass wir andau- – Drucksachen 16/3209, 16/5378 – ernd darauf herumreiten, dass die Gründung eines Unter- ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle ausschusses gescheitert ist. Ob es Ihnen Verdruss berei- Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, wei- tet oder nicht: Ich werde noch einmal darauf terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ herumreiten; gestern wären mir nämlich fast die Tränen CSU sowie der Abgeordneten Dr. Wolfgang Wo- gekommen. Ich bin wirklich der Auffassung, dass die darg, Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, weiterer Gründung eines Unterausschusses ein sehr wichtiges Abgeordneter und der Fraktion der SPD und richtiges Signal gewesen wäre. Deutschlands globale Verantwortung für die (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Ute Koczy Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten – [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Innovation fördern und Zugang zu Medika- Ich denke, als Abgeordneter hätten Sie die Pflicht ge- menten für alle sichern habt, zu kritisieren, dass Ihr Fraktionskollege Scholz und – Drucksache 16/8884 – Kollege Röttgen die Gründung dieses Unterausschusses (B) (D) Überweisungsvorschlag: mit einem Federstrich zunichte gemacht haben. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Jawohl!) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Zu meinem Bedauern haben Sie gestern noch einmal Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe das Argument vorgebracht, es gebe schon so viele Unter- Ausschuss für Bildung, Forschung und ausschüsse. Wissen Sie, ich rufe die Feuerwehr, wenn es Technikfolgenabschätzung brennt; ich sage nicht nur: Da hinten brennt es ja auch, Haushaltsausschuss und da ist ja schon die Feuerwehr. Ich bin der Auffas- Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren, sung: Man muss die Feuerwehr immer dann rufen, wenn wobei vorgesehen ist, dass die FDP sechs Minuten er- es gerade brennt. Was das Thema Gesundheit in Ent- hält. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir wicklungsländern anbelangt, brennt es, wie ich meine, so. ganz schön. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem So sind wertvolle Jahre vergangen, in denen wir deut- Kollegen Dr. Karl Addicks für die FDP-Fraktion. lich mehr hätten tun können. Die Legislaturperiode ist schon wieder angegraut; wir bewegen uns schon wieder (Beifall bei der FDP) langsam auf Wahlkampfzeiten zu. Ich spreche Sie als Abgeordneten an: Wir müssen deutlich souveräner wer- Dr. Karl Addicks (FDP): den. Wer ist denn der Vertreter des Souveräns: wir oder Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und die Bundesregierung? Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute Abend über Gesundheit in Entwicklungsländern. (Beifall bei der FDP) Dazu haben wir, die FDP-Fraktion, Ende 2006 – da war Lassen Sie mich zum Thema zurückkommen. Wir die Legislaturperiode noch relativ jung – eine Große An- alle wissen, dass Entwicklung ohne Gesundheit nicht frage gestellt. Die Antwort der Bundesregierung haben möglich ist. wir im Mai 2007 erhalten, mit Zahlen aus dem Jahr 2005. Heute – etwa anderthalb Jahre, nachdem wir die (Stephan Hilsberg [SPD]: Ja, er kommt zum Anfrage gestellt haben – sprechen wir zu einer späten Thema zurück!) – Ja, ich komme darauf zurück; das ist heute Abend un- 1) Anlage 8 ser Thema. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16587

Dr. Karl Addicks (A) (Stephan Hilsberg [SPD]: Drei Minuten sind (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) schon rum!) Das denkst du dir so!) Wir kennen den Teufelskreis aus Arbeit und Krank- konnten wir vor zwei Jahren nicht vorhersehen. Allein heit: Krankheit macht arm, und Armut macht krank; das die Diktion, die wir gestern gehört haben, finde ich gut. haben eigentlich alle erkannt. Deswegen beziehen sich Ich glaube nämlich, dass vielleicht wir uns hier den Lu- drei von acht der Millennium Development Goals auf xus eines Verzichts auf Gentechnologie leisten können, die Gesundheit. Damit kommt sehr gut zum Ausdruck, die Menschen in den Entwicklungsländern aber vor dem wie wichtig dieses Thema ist. Hintergrund der Nahrungsmittelkrise überhaupt nicht. Lassen Sie mich im Folgenden kurz auf die Antwor- (Beifall bei der FDP) ten auf die Anfrage eingehen. Wenn man die Antworten durchliest, dann denkt man: Es gibt überhaupt keine Pro- Das, was in diesem Bereich vertretbar ist, muss gemacht bleme; die Bundesregierung eilt von einem Erfolg zum werden. anderen, sie hat alles richtig gemacht, Malaria, Aids und Herr Kollege Wodarg, ich komme kurz auf den An- Tuberkulose sind unter Kontrolle. An manchen Stellen trag zu sprechen. scheint aber durch, dass wir nicht so weit sind, wie wir kommen wollten: Bis 2015 erreichen wir keines der MDGs; Gott sei Dank ist das inzwischen hinreichend be- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kannt. Sie müssten kurz zum Schluss kommen. Ich möchte eine Frage im Detail ansprechen. Wir hat- Dr. Karl Addicks (FDP): ten nach Veränderungen bei der Zahl der Infektionen mit Aids, Malaria, Tuberkulose und Parasitosen gefragt. Die Okay, ich komme zum Schluss. – Lassen Sie mich nur Bundesregierung geht nur auf die drei großen Krankhei- kurz sagen: Den Antrag, den Sie hier stellen, finde ich ten ein; das finde ich nett. Gestatten Sie mir, ein wenig gut. Der Titel – „Deutschlands globale Verantwortung fachlich zu sprechen: Die Parasitosen werden nach mei- für die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten“ – ist ner Ansicht grob unterschätzt; Kollege Wodarg wird sich allerdings etwas überzogen. Deutschland hat eine große meiner Meinung sicherlich anschließen. Auch im ge- Verantwortung. Deutschland war gerade in diesem Be- meinsamen Antrag von CDU/CSU und SPD werden die reich ein bedeutender Forschungsstandort. Das ist Parasitosen angesprochen. Wurmerkrankungen, Amö- Deutschland nicht mehr. Aber gleich die globale Verant- benerkrankungen und andere parasitäre Erkrankungen wortung zu bemühen, ist mir zu viel. sind vor allen Dingen für die Kinder in den Entwick- (B) lungsländern eine ganz schlimme Sache; sie sind zusam- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (D) men mit Aids und Malaria die Haupttodesursache bei Herr Kollege. Kindern. Ich möchte diesen Punkt verlassen und mich einem an- Dr. Karl Addicks (FDP): deren Thema zuwenden. Wir haben heute Morgen – Frau Lassen Sie uns im Ausschuss mit einigen Experten Groneberg ist nicht da – über ein weiteres wichtiges noch häufig über dieses Thema sprechen. Thema bei der GTZ gesprochen: sanitäre Hygiene in den Entwicklungsländern. Ich wünsche mir, dass wir dazu Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. demnächst auch einmal ein Expertengespräch im Aus- (Beifall bei der FDP) schuss führen, so wie das, das wir gestern mit Herrn Kilian über Malaria geführt haben. Das fand ich richtig Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: toll und informativ. Ich wünsche mir, dass wir viel öfter solche Expertengespräche anstatt der ewig langen Anhö- Sibylle Pfeiffer hat das Wort für die CDU/CSU-Frak- rungen durchführen, für die wir zweieinhalb bis drei tion. Stunden brauchen. Ich halte die Expertengespräche für (Beifall bei der CDU/CSU) effektiver. Wir haben in der Anfrage auch nach dem Golden Rice Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): gefragt. Wir haben gerade eine sehr interessante Debatte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zur Grünen Gentechnik gehabt. Das BMZ hat übrigens Entwicklungspolitik ist ein Querschnittsthema. Dies ist damals keinen Bedarf für die Grüne Gentechnik gese- spätestens jetzt den Initiatoren des vorliegenden Antrags hen. Gestern haben wir hier die Bundesministerin ge- bewusst geworden. Es war nicht strittig, dass etwas un- hört. Sie hat von der „grünen Biotechnologie“ gespro- ternommen werden muss. Es ging um verschiedene An- chen. sichten, wie das Problem der vernachlässigten Krankhei- ten angegangen werden kann, und zwar im Sinne der (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Menschen in den Entwicklungsländern. Berücksichti- Ich finde es interessant, dass das Kind jetzt unter diesem gung finden mussten die Anmerkungen der Bereiche neuen Namen wieder erscheint. Die Nahrungsmittel- Forschung, Gesundheit und vor allen Dingen Haushalt. krise, die wir jetzt haben – auch die Grünen sollten da- Letztendlich ist es doch gelungen, rechtzeitig im Vorfeld rüber noch einmal nachdenken; aber für sie ist das dog- der Tagung der Intergovernmental Working Group on matisch besetzt –, Public Health, Innovation and Intellectual Property, die 16588 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Sibylle Pfeiffer (A) in den nächsten Tagen in Genf stattfindet, diesen Antrag Andererseits können die Menschen in den Entwick- (C) zur Debatte hier im Plenum zu stellen. lungsländern nicht warten; die Medikamente sind für sie lebensnotwendig. Diese Menschen brauchen sie sofort. Heute weiß man, dass in Entwicklungsländern Krank- Hier kommt die Frage der Patentrechte ins Spiel. Das heiten nicht nur die Folge der Armut sind, sondern auch diesbezügliche Dilemma hat die ehemalige Hohe Kom- deren Ursache. Es besteht ein regelrechter Teufelskreis. missarin der Vereinten Nationen Mary Robinson, die im Menschen werden krank, weil sie arm sind, und kranke Übrigen auch in unserem Ausschuss war, treffend be- Menschen werden arm. Wir dürfen unser Augenmerk schrieben – ich zitiere –: nicht nur auf HIV/Aids richten. Die Entwicklungsländer leiden unter den sogenannten vernachlässigten Armuts- Die Patentrechte der pharmazeutischen Industrie, krankheiten wie zum Beispiel Schlafkrankheit, Lepra, die unerlässlich sind für die Forschung und Ent- Flussblindheit usw. „Vernachlässigt“ werden diese wicklung neuer Wirkstoffe, und die Rechte von Krankheiten deshalb genannt, weil es keine oder nicht Menschen mit lebensbedrohenden Krankheiten auf ausreichend Medikamente für deren Bekämpfung gibt. angemessene Behandlung können in Konflikt gera- Eine Milliarde Menschen, also ein Sechstel der Mensch- ten. Das TRIPS-Abkommen war ein wichtiges Zei- heit, leidet an armutsbedingten Tropenkrankheiten. Für chen, dass zwischen dem Schutz des geistigen diese Krankheiten gibt es keine oder nur veraltete Medi- Eigentums und den Erfordernissen der Gesund- kamente. Ich finde es nicht hinnehmbar, dass gängige heitsfürsorge in den Entwicklungsländern ein Aus- Medikamente zum Beispiel gegen Tuberkulose 50 Jahre gleich gesucht werden muss. alt sind. Das Beispiel Tuberkulose steht stellvertretend In der Verantwortung stehen also mehrere Akteure. für die Grundproblematik. Nur 10 Prozent der Investitio- Die Pharmaindustrie ist aufgefordert, ihren Beitrag zu nen für Gesundheit fließen in die Bekämpfung von leisten, dass neue und bessere Medikamente zur Be- Krankheiten, unter denen 90 Prozent der Menschen lei- kämpfung dieser Krankheiten auf den Markt kommen. den. Diese 90 Prozent leben nun einmal in Entwick- Nationale und internationale Maßnahmen sind nötig. Die lungsländern. Weltgesundheitsorganisation WHO weist darauf hin, Das beantwortet auch die Frage, warum wir – das Par- dass nach Möglichkeiten gesucht werden muss, wie für lament, die Entwicklungspolitiker – gefordert sind. Wir diese Medikamente die Kosten für Forschung und Ent- können in diesem Fall nicht sagen, der Markt werde das wicklung vom Produktionspreis für Entwicklungsländer abgekoppelt werden können. schon regulieren. Die Armen verfügen nicht über die nö- tige Kaufkraft. Übrigens haben auch wir in Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dafür gesorgt, dass es nicht primär vom Geldbeutel ab- neten der SPD) (B) hängt, ob jemand sein Medikament bekommt oder nicht. (D) In diesem Zusammenhang verweise ich auch darauf, Und wieder: Die Entwicklungsländer selbst stehen in dass wir die Entwicklungsländer beraten, wie sie ihre ei- der Verantwortung, damit die Bevölkerung ausreichend genen sozialen Sicherungssysteme aufbauen können. mit Medikamenten versorgt werden kann. Laut Welt- Dies ist für die politische Stabilität in diesen Ländern un- bank gelangen von 100 US-Dollar, die von öffentlicher abdingbar. Hand für Medikamente ausgegeben werden, nur Medi- kamente im Wert von 12 US-Dollar tatsächlich zu den Ich halte nichts davon, in Kategorien von zwei feind- Patienten. Der Grund: Ineffizienz und Korruption. lichen Lagern zu denken oder diese gar gegeneinander auszuspielen – auf der einen Seite die Pharmaindustrie Ein weiteres großes Problem, das ich hier nur an- und auf der anderen Seite die verschiedenen nationalen schneiden kann, ist das fehlende medizinische Personal und internationalen Organisationen. Die Pharmaseite in den Entwicklungsländern. Dieses Problem haben wir sieht die Notwendigkeit des Handelns. Es gibt Spenden- an dieser Stelle schon des Öfteren diskutiert. programme der forschenden Pharmaindustrie, die einen Auf einen Punkt möchte ich noch besonders einge- anerkanntermaßen positiven Einfluss auf die Medika- hen: Gesundheit ist mehr als nur Medikamente. Gesund- mentenversorgung bei Krankheiten in den Entwick- heit hat etwas mit Bildung, mit Ernährung, mit Tradition lungsländern haben. Aber Forschung ist teuer, und es ist und vor allem mit Gleichberechtigung zu tun. Die Beant- legitim, dass wirtschaftlich gedacht und gehandelt wird, wortung der Großen Anfrage der FDP-Fraktion macht zum einen, um die Kosten zu decken, und zum anderen, deutlich: Das Thema Gesundheit ist für die derzeitige um Geld für weitere Forschung zu verdienen. Regierung ein Schwerpunktthema. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Karl Addicks [FDP]: War es für uns vor neten der SPD) zwei Jahren schon!) Man produziert zunächst für den Markt, wo man et- Wir Entwicklungspolitiker unterstützen diese dabei nach was verdienen kann. Es ist nun einmal eine Tatsache, unseren Möglichkeiten, im Übrigen ohne Unteraus- dass nur ein geringer Prozentsatz von den Entwicklun- schuss, lieber Kollege Addicks. gen der Pharmaindustrie am Ende tatsächlich auf den Markt kommt. Selbstverständlich sind das wirtschaftli- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – che Risiken, und selbstverständlich hängen daran auch Dr. Karl Addicks [FDP]: Was sagen die Haus- zahlreiche Arbeitsplätze. hälter?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16589

Sibylle Pfeiffer (A) – Die machen mit; die machen immer mit. – Die deut- ahmerpräparate zu verhindern. Millionen von Indern und (C) sche Entwicklungszusammenarbeit hat im Gesundheits- Inderinnen und Afrikanern und Afrikanerinnen wären bereich – auch dank der Bundeskanzlerin Angela Merkel – zum Tode verurteilt! zu wesentlichen Erfolgen beigetragen. In Heiligendamm Unfassbar ist, dass EU-Handelskommissar Man- wurden die Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose delson diese menschenverachtende Politik auch noch ak- und Malaria sowie die Stärkung der Gesundheitssysteme tiv vorantreibt. Im vergangenen Herbst drohte er im Pa- auf die Agenda gesetzt. tentstreit offen dem thailändischen Ministerpräsidenten (Dr. Karl Addicks [FDP]: Und der Finanz- mit Konsequenzen, um die Interessen der Pharmagigan- minister? Was sagt der dazu?) ten durchzudrücken. Das ist völlig inakzeptabel. Das „Aktionsbündnis gegen Aids“ fordert deshalb vollkom- – Der wird dem folgen, weil wir diese Verpflichtungen men zu Recht: Leben vor Pharmaprofit! eingegangen sind. Schon der letzte Haushalt war ein Be- weis dafür, dass wir diesen Verpflichtungen nachkom- Wir von der Linken erwarten, dass die Bundesregie- men – logischerweise sehr zum Erstaunen vor allen Din- rung die in ihrer Antwort auf die vorliegende Große An- gen der Opposition. frage angedeutete Kritik an dem Vorgehen der Pharma- konzerne wesentlich deutlicher als bisher zum Ausdruck Die G-8-Staaten haben – liebe Kollegen, lassen Sie bringt. mich das zuletzt noch erwähnen – 44 Milliarden Euro zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Mala- Das zweite Problem: Die auf lukrative Märkte ausge- ria sowie zur Stärkung der Gesundheitssysteme zuge- richtete Pharmaforschung kümmert sich völlig unzurei- sagt. Deutschland wird hierzu bis 2015 insgesamt chend um die Krankheiten der Armen. Laut Oxfam sind 4 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Auf diese Tat- zwischen 1999 und 2004 nur drei neue Medikamente zur sache, liebe Kolleginnen und Kollegen und vor allen Bekämpfung der „armen“ Infektionskrankheiten auf den Dingen lieber Karl Addicks, wollte ich noch einmal hin- Markt gekommen. gewiesen haben. (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Der hat mir Danke schön. nicht zugehört!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Deshalb wollen wir, dass die Industrienationen konzen- bei Abgeordneten der FDP) triert und steuernd tätig werden, damit endlich auch Me- dikamente gegen Ebola oder die Flusskrankheit entwi- Vizepräsidentin : ckelt werden. Nächster Redner ist der Kollege Hüseyin Aydin für Drittes Problem: kein funktionsfähiges Gesundheits- (B) (D) die Fraktion Die Linke. system. In vielen Ländern fehlt es an Anlaufstellen für (Beifall bei der LINKEN) die Kranken. In weiten Bereichen gibt es keine Kranken- häuser, Polikliniken oder Praxen. Deshalb kommt die Hilfe schlicht nicht bei den Betroffenen und Bedürftigen Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): an. Wenn der Bundestag, wie im vergangenen Monat Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! einstimmig beschlossen, die Stärkung der sozialen Si- Im letzten Jahr starben rund 5 Millionen Menschen an cherungssysteme in den Vordergrund rücken will, muss Aids, Tuberkulose oder Malaria, die große Mehrzahl da- die Etablierung tragfähiger Gesundheitssysteme in die- von in der Dritten Welt. Es ist deshalb begrüßenswert, ses Vorhaben eingebunden werden. dass die Bundesregierung die Mittel für den Globalen Fonds zur Bekämpfung dieser Krankheiten aufgestockt Viertes Problem: die Abwanderung medizinischer hat. Fachkräfte. Seit 1980 sind rund 60 Prozent der in Ghana ausgebildeten Ärzte und Ärztinnen sowie Pflegekräfte (Zuruf von der FDP: Es ist begrüßenswert, ins Ausland gegangen. Hauptgrund ist die schlechte Be- dass wir die Anfrage gestellt haben!) zahlung im Heimatland. Die Organisation Ärzte ohne Ich füge hinzu: Sie werden nicht ausreichen, um sämtli- Grenzen fordert deshalb finanzielle Unterstützung, ins- che Probleme in den kommenden Jahren zu bewältigen. besondere wegen der Lohnkosten für das medizinische Deswegen müssen mehr Mittel organisiert werden. Personal in den Partnerländern der Entwicklungszusam- menarbeit. Das wäre über eine entsprechende Budget- Was ist zu tun, damit dieses Geld zu einer nachhalti- hilfe problemlos zu machen. Gleichzeitig müssen die gen Verbesserung der Gesundheitslage in den Entwick- Industrienationen endlich damit aufhören, die qualifi- lungsländern beiträgt? Das Kernproblem ist der Zugang zierten Fachkräfte aus ihren Heimatländern abzuwerben. zu erschwinglichen Medikamenten. Mehr als Diese Fachkräfte werden händeringend im eigenen Land 33 Millionen Menschen haben den tödlichen HI-Virus benötigt! im Körper. Doch nicht einmal ein Drittel von ihnen hat Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten. Der (Dr. Karl Addicks [FDP]: Illusionisten!) Hauptgrund: Sie haben nicht genug Geld. Lassen Sie mich noch eines anmerken. Natürlich ist Es ist unerträglich, dass viele Firmen aus Profitgier die Verbesserung der Gesundheitslage auch eine Frage diesen Zustand fortschreiben wollen. Die Pharmagigan- des Massenbewusstseins. Jeden Tag infizieren sich ten haben in Indien Patentanträge auf wichtige Aidsme- 2 000 Menschen aufs Neue mit Aids, zumeist auf dikamente gestellt, um den Export preisgünstiger Nach- sexuellem Wege. Es ist gut, dass die Bundesregierung in 16590 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Hüseyin-Kenan Aydin (A) ihrer vorliegenden Antwort die Prüderie der katholi- Die Situation sieht so aus, dass die Forschung bei uns (C) schen Kirche als ein „hohes Risiko“ kritisiert. Hoffen – das kann man an den Zahlen, die ich zu Anfang wir, dass der Vatikan endlich zur gleichen Einsicht nannte, erkennen – natürlich in den Bereichen besonders kommt. intensiv betrieben wird, wo Ergebnisse, die wirtschaft- lich verwertbar sind, herauskommen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kollege, ich muss Sie auf Ihre Redezeit auf- Geschäft ist Geschäft!) merksam machen. Wir müssen Anreize für Forscher und für diejenigen, die Medikamente herstellen, schaffen. Es geht hier nicht um Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): ein reines Spendengeschäft, sondern hier soll und muss Zum vorliegenden Antrag der Koalition ist zu sagen, natürlich Geld verdient werden. Die Frage ist allerdings, dass in ihm sehr viele gut gemeinte Forderungen aufge- welche Anreize wir setzen. Nachdem wir laufend neue stellt sind. Aber es fehlt weitgehend eine Konkretisie- Medikamente entwickeln, zum Beispiel gegen Haaraus- rung. Deshalb werden wir uns im Rahmen der Aus- fall, der als Krankheit angesehen wird, oder sogar schussberatungen konstruktiv in die Debatte einbringen potenzsteigernde Mittel für Frauen erforschen, und hoffen, dass einige unserer Vorschläge in Ihren An- trag Eingang finden. (Zuruf von der CDU/CSU: Das gibt es auch schon?) Vielen Dank. weil es bei den entsprechenden Medikamenten für Män- (Beifall bei der LINKEN) ner schon einen heftigen Konkurrenzkampf auf dem Markt gibt, müssen wir uns nun endlich einmal auf den Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Weg machen und neue Anreize setzen, die dazu führen, Nun hat der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg für die dass den Menschen geholfen wird, von denen ich gerade SPD-Fraktion das Wort. gesprochen habe. (Hellmut Königshaus [FDP]: Jetzt geht es wie- (Beifall bei der SPD) der um die Gesundheit und weniger um die Revolution!) Wir haben neben dem Patentrecht durchaus die Mög- lichkeit, andere Instrumente zu installieren. Erst einmal können wir dafür sorgen, dass schon existierende Arz- Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): neimittel dorthin gelangen, wo sie gebraucht werden. (B) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den Für viele Erkrankungen gibt es ja schon Medikamente. (D) letzten 30 Jahren ist viel geforscht worden und viel Diese sind aber zu teuer. Bei den Medikamenten gegen Neues entdeckt worden. So sind etwa eineinhalbtausend HIV/Aids haben wir gesehen, dass wir es, wenn wir uns neue Wirkstoffe entdeckt worden; das sind sehr viele. einig sind und ein weltweiter Proteststurm entsteht, da- Davon entfielen auf tropische Erkrankungen und auf die für sorgen können, dass die Pharmaindustrie ihre Preise Tuberkulose ganze 21 Wirkstoffe. Wenn man sich nun senkt. Die Pharmaindustrie musste hier mitmachen, weil die Verteilung der Krankheitslast auf der Welt ansieht, sie es psychologisch gar nicht vertreten konnte, anders dann stellt man fest, dass etwa eine Milliarde Menschen zu handeln. Die Pharmavertreter wären rausgeschmissen an tropischen Erkrankungen wie Malaria sowie an Tu- worden, wenn die Firmen die frühere Preispolitik bei berkulose leiden. HIV/Aids-Erkrankungen sind bei die- HIV/Aids-Medikamenten weitergeführt hätten. Wir ser Zahl noch gar nicht dabei. Die genannten Erkrankun- müssen diesen Druck weiterhin aufrechterhalten. gen verlaufen zum größten Teil tödlich. Jedes Jahr sterben nur an Tuberkulose und Malaria etwa drei Mil- In den Gebieten, wo die Patienten kein Geld haben lionen Menschen. Auch bei dieser Zahl sind die Aids- und sich teure Medikamente nicht leisten können, müs- Toten nicht dabei. sen die Preise niedriger liegen. Hier soll und darf nicht versucht werden, das große Geld zu verdienen. Die Tuberkulosemedikamente wurden in der Tat nicht verändert. Es gibt kaum neue Medikamente, aber es gibt (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: eine wachsende Zahl von Resistenzen. Tuberkulose ist Genau so ist es!) überwiegend eine Erkrankung der armen Menschen. Es Dagegen können bei uns der Wettbewerb und die Preise verhält sich hierbei genau wie bei den anderen Erkran- ganz anders gestaltet werden. Hier bieten sich vielfältige kungen, um die es hier geht. Ich nenne zum Beispiel die Möglichkeiten. Chagas-Krankheit, Wurmerkrankungen, die Leish- maniose, das Dengue-Fieber, aber auch die Schlafkrank- In der Vergangenheit hat es schon gute Beispiele ge- heit und verschiedene Trypanosom-Erkrankungen. Diese geben: So wurden in den letzten Jahren neu entwickelte Erkrankungen sind bei uns völlig unbekannt, bei den Medikamente gegen Malaria mit großem Erfolg verfüg- meisten jedenfalls. Aber sie sind das tägliche Leid der bar gemacht. Daher ist bei Malaria in vielen Ländern Menschen in den warmen Ländern, in den armen Län- eine deutlich rückläufige Zahl an Erkrankungen zu ver- dern, in den Entwicklungsländern. Es kommen Krank- zeichnen. In vielen Ländern gibt es sehr gute Strategien. heiten dazu, die wir kennen, bei denen allerdings den Man verteilt zum Beispiel Moskitonetze, die imprägniert Menschen kaum Heilungsmöglichkeiten angeboten wer- sind, aber auch günstige neue Malariamedikamente. Das den; sie werden vielmehr damit allein gelassen. ist durch Public-Private Partnerships oder durch Ent- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16591

Dr. Wolfgang Wodarg (A) wicklungsgemeinschaften möglich geworden. Nichtregie- der Maßgabe, dass die Ergebnisse von allen Ländern (C) rungsorganisationen haben sich engagiert und gemeinsam ohne Patente, ohne Monopole frei genutzt werden kön- mit pharmazeutischen Unternehmen und Forschungs- nen. instituten Verbünde gegründet haben, um zu günstigen Nach dem Gutachten, das die Regierungsverhand- Produkten zu kommen, die patentfrei sind und damit lungsgruppe mit dem komplizierten Namen – Frau Pfeif- nachgebaut werden können. Eine Malariatherapie in fer hat das sehr schön ausgesprochen – im Mai in Genf Ghana kostet 1 Euro. Bei uns kosten allein die Medika- verhandeln wird, belaufen sich die Kosten für die For- mente für eine Malariatherapie etwa 60 bis 70 Euro. Das schung etwa auf ein Fünftel dessen, was wir bezahlen, ist ein Unterschied. Dies ist die Differenz, um die es uns wenn wir Forschung und Entwicklung indirekt über Pa- geht! Wir müssen uns anstrengen, dass so etwas nicht tente und über hohe Monopolpreise finanzieren würden. nur bei Malaria der Fall ist. Das heißt, es geht erheblich günstiger, und es nimmt nie- (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Aber Malaria- mand Schaden. Im Gegenteil: Die Forschungsergebnisse medikamente werden schon in Afrika herge- kommen vielen Menschen schneller zugute. Von daher stellt!) wäre ein solcher Forschungsfonds das Richtige. Da ha- ben die Haushälter bei uns im Haus gemeckert. Sie ha- Wir brauchen gute Preissysteme. Dazu gehört auch, ben gefragt, woher sie das Geld nehmen sollten. Aber, dass das, was die Welthandelsorganisation durch das liebe Haushälter – falls hier welche unter uns sind –, TRIPS-Abkommen möglich gemacht hat, ausgenutzt (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Keiner!) werden darf, dass arme Länder auch patentgeschützte Medikamente nachbauen dürfen. das ist kurzsichtig. Wir müssen es schaffen, kostengüns- tig Medikamente zu entwickeln und sie zur Verfügung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu stellen. Es kann sein, dass wir erst einmal in For- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schung investieren müssen, dass es anfangs ein bisschen CDU/CSU) mehr kostet. Aber wir sparen doch hinterher dadurch, Es kann nicht sein, dass Menschen sterben, weil Patent- dass wir die Medikamente – das Beispiel Malaria habe monopole ihnen die Medikamente vorenthalten. ich genannt – sehr viel billiger zur Verfügung stellen können. Das heißt, es ist ein kostengünstiger Weg. Mein Das geschieht auch; das ist aber immer wieder sehr Appell an die Haushälter lautet, hier mitzumachen. schwer. In Thailand haben wir einen monatelangen Kampf gesehen. Thailand hat zum ersten Mal von die- (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Si- sem Recht Gebrauch gemacht. Ich meine, damit muss bylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Da wirst du schei- man vernünftiger umgehen, und die Möglichkeiten der tern!) (B) Ausnahmeregelungen nach dem TRIPS müssen mehr Wir wollen, dass sich die Forschung in Deutschland (D) genutzt werden. Es gibt außerdem die Möglichkeit, dass mit diesem Thema intensiver befasst. Mit den Instituten, der Abschluss von Lizenzverträgen erleichtert wird. Es die wir in Deutschland haben, auch den Regierungsinsti- gibt Organisationen, die an bedürftige Länder Lizenzver- tuten und den Instituten, die sich mit tropischen Krank- träge vermitteln. Hierzu wurden bereits Vorschläge von heiten beschäftigen, werden wir in einen Dialog treten der pharmazeutischen Industrie vorgelegt. Man muss se- und mit ihnen bereden, was sie tun können, um in der hen, wie das konkret umgesetzt wird. Hierüber können Forschung weiterzukommen. Ich habe schon vernom- wir uns ja unterhalten und entsprechende Fragen in den men, dass es dort ein großes Interesse gibt. Natürlich Ausschusssitzungen stellen. wollen Forscher sinnvolle Dinge erforschen. Natürlich wollen sie helfen. Natürlich wollen sie Fragen beantwor- Wir brauchen aber auch Anreize für die Erforschung ten, welche die Menschen bewegen. Von daher bin ich von neuen Medikamenten. Es gibt viele schwere tropi- sehr zuversichtlich, dass wir da gute Voraussetzungen sche Erkrankungen. Einige habe ich bereits genannt. haben. Auch gegen das Dengue-Fieber, das sich in vielen Teilen dieser Welt epidemisch ausbreitet, haben wir keine Me- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dikamente. Es gibt keine Impfung, keinen Schutz, keine Herr Kollege, darf ich Sie an die Redezeit erinnern. Medikamente. Die Menschen sterben daran. Ich meine, dass wir hier sehr viel intensiver forschen müssen. For- schungsanreize dürfen nicht nur über Patente gegeben Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): werden. Wir brauchen Geld, einen Fonds als Finanzie- Wir müssen klare Pläne machen. Wir müssen festle- rungsinstrument, für den die Staaten dieser Welt Geld gen, was wir priorisieren wollen, und dann sehen, was zusammensammeln, damit zum Beispiel nach Maßgabe wir schaffen können. Das werden wir im Dialog klären. der WHO bedarfsgerecht geforscht werden kann. So ge- Ich freue mich auf die zahlreichen Gespräche, die wir in schieht es beim Global Fund, um Therapien zu finanzie- den befassten Ausschüssen – das sind ja sehr viele – zu ren. diesem Thema führen werden. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Herzlichen Dank für die gute Zusammenarbeit bei der Erstellung dieses Antrags. Ich hoffe, er nutzt den Men- Die WHO stellt fest, wo Forschung nötig ist. Um schen, für die er gedacht ist. diese Forschung können sich dann Forschungsunterneh- Danke schön. men oder aber auch Pharmaunternehmen bewerben. Diese Forschung soll öffentlich finanziert werden mit (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 16592 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Dr. Wolfgang Wodarg (A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Da bedarf es schon Initiativen aus der Zivilgesell- (C) Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin schaft in Form von Product-Development-Partnerships Ute Koczy für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. wie zum Beispiel der „Drugs for Neglected Diseases Ini- tiative“, die das Thema auf die Agenda bringt. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Kann Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und man das mal auf Deutsch sagen?) Kollegen! Dies ist eine Woche, in der Krankheiten und – Ein bisschen Übung, Herr Kollege Fischer! Denn wir Gesundheit in Entwicklungsländern ein echtes Thema werden dieses Thema in den Ausschüssen haben. Da sind. Am Dienstag gab es den Report „Forschungszwerg können wir schon einmal üben, wie man mit Initiativen Deutschland“ von Ärzte ohne Grenzen. Gestern gab es umgeht, die global arbeiten und Medikamente gegen einen parlamentarischen Abend zum Thema der ver- vernachlässigte Krankheiten auf den Markt bringen. – nachlässigten Krankheiten. Heute haben wir die Diskus- Dieser Initiative haben wir zwei Malariamedikamente zu sion über die Kleine Anfrage der FDP verdanken, die alle wichtigen Parameter erfüllen: Sie sind hitzebeständig, einfach zu dosieren und nicht paten- (Zurufe von der FDP: Große!) tiert. Ich denke, das muss man den Privatinitiativen als – oh, Entschuldigung, stimmt; darauf haben Sie lange Erfolg attestieren. gewartet –, also über die Große Anfrage der FDP; außer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem liegt ein Antrag der schwarz-roten Koalition vor. und bei der SPD sowie der Abg. Sibylle Pfeif- Morgen ist der Weltmalariatag. Da muss es doch gelin- fer [CDU/CSU]) gen, den vernachlässigten Krankheiten und der Situation in Entwicklungsländern größte Aufmerksamkeit zu ver- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfrak- schaffen. tionen, Sie haben in Ihrem Antrag „Deutschlands glo- bale Verantwortung für die Bekämpfung vernachlässig- Das ist auch notwendig. Denn in dem Report „For- ter Krankheiten“ den wichtigen Beitrag der Product- schungszwerg Deutschland“ kann man nachlesen, dass Development-Partnerships betont. Das unterstütze ich sich die öffentliche Forschung in Deutschland kaum für voll und ganz. Es ist aber trotzdem verwunderlich, dass tropische Armutskrankheiten engagiert hat. 2007 – das man in der Großen Anfrage nachlesen kann, dass in die- war ja erst letztes Jahr – wurden nur 9 Millionen Euro in sem Bereich nur wenig getan wird. Kollege Addicks hat die Malariaforschung investiert. schon darauf hingewiesen: Wenn man nachfragt, was ge- (Hellmut Königshaus [FDP]: Unglaublich!) gen Aids, Malaria, Tuberkulose und andere seltene In- (B) fektionskrankheiten getan wird, stellt man fest, dass es (D) Das ist ein Witz angesichts der Größe des Problems und keine Antworten zu den anderen Krankheiten als den der finanziellen Möglichkeiten Deutschlands, und zwar drei großen gibt. Das zeigt doch ganz deutlich, dass hier ein schlechter Witz. viel zu wenig Engagement vorherrscht. Vernachlässigte Krankheiten wie Malaria und Tuber- Die Antwort auf Frage 53, in der es um mögliche An- kulose tragen wesentlich zur Armut in Entwicklungslän- reize für die Forschung geht, ist nichtssagend und dürf- dern bei. Den großen Ankündigungen hier müssen jetzt tig. Da muss ich mich schon fragen, ob die Bundesregie- auch Taten folgen. rung die neuen Ideen und die neuen Modelle zur Forschungsförderung überhaupt zur Kenntnis genom- (Hellmut Königshaus [FDP]: Finde ich auch!) men hat. Da besteht ein klarer Widerspruch zwischen dem vorliegenden Antrag Die Bundesregierung sollte den morgigen Weltmalaria- tag zum Anlass nehmen, mit mehr Geld und mehr For- (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Der Antrag ist noch schung zu Malaria die Entwicklungsländer im Kampf nicht beschlossen!) gegen Armut zu unterstützen. und den Antworten der Bundesregierung auf die Große (Dr. Karl Addicks [FDP]: Und die Verwen- Anfrage. Wenn es gelingt, diese Diskrepanz zu schlie- dung zu kontrollieren!) ßen, dann ist es ein Fortschritt. – Auch das. (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Stimmen Sie zu! Dann ist es gut!) Die Pharmaunternehmen haben – das wurde bereits Wenn dies aber nicht passiert und es nur bei hohlen Re- vom Kollegen Wodarg angesprochen – aus wirtschaftli- den bleibt, dann ist das eindeutig zu wenig. chen Erwägungen heraus nämlich kaum Interesse, Geld in die Erforschung von Impfstoffen gegen Armutskrank- Wir Grüne treten dafür ein, dass der Zugang zu Medi- heiten zu stecken. Das ist ein klares Versagen der Phar- kamenten möglichst frei gestaltet werden muss. Open maindustrie. Aber dass sich die öffentliche Forschung in Access ist hier das Stichwort. Es geht darum, dass die den reichen Gebernationen ebenso wenig darum schert, Entwicklungsländer Zugang zu Informationen haben, ist, gelinde gesagt, ein Skandal. die sie benötigen, um ihre Armutskrankheiten wirksam bekämpfen zu können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Danke. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16593

Ute Koczy (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unabhängig davon, welches Szenario man zugrunde (C) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und legt, kann man sagen: Über die Bevölkerungsentwick- der SPD) lung besteht ziemliche Klarheit. Bis zum Jahre 2050 wird der Anteil der unter 20-Jährigen an der deutschen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bevölkerung von heute 20 Prozent auf 15 Prozent sin- Ich schließe nun die Aussprache. ken. Der Anteil der über 60-Jährigen wird von heute 25 Prozent auf 40 Prozent steigen. Die Gesamtbevölke- Zum Zusatzpunkt 7 wird interfraktionell die Überwei- rung wird von 82,4 Millionen auf etwa 75 Millionen zu- sung der Vorlage auf Drucksache 16/8884 an die in der rückgehen. Bereits 2030 werden 29 Prozent der Bevöl- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. kerung älter als 65 Jahre sein. Das ist eine Steigerung im Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Vergleich zu heute um fast 40 Prozent: von 16 Millionen Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. auf 22,1 Millionen Menschen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf: Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Bundesrepu- blik Deutschland, sondern ganz Europa. Die Gruppe der Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus über 55-Jährigen wird 2020 die größte Altersgruppe Brähmig, Bernward Müller (Gera), Dr. Hans-Pe- sein, und die Ruhestandsphase wird dank einer längeren ter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und Lebenserwartung durchschnittlich 20 Jahre betragen. der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- neten Annette Faße, Renate Gradistanac, Bettina Ich muss auf noch folgende Tatsache verweisen: Die Hagedorn, weiterer Abgeordneter und der Frak- Altersgruppe der 49- bis 74-Jährigen hat einen Anteil an tion der SPD der bundesrepublikanischen Bevölkerung von 29 Pro- zent. Im Tourismusbereich macht der Anteil dieser Al- Chancen des demographischen Wandels im tersgruppe jedoch 48 Prozent aus. Ich meine, dass es Tourismus nutzen deshalb angebracht ist, gerade diese Herausforderungen, – Drucksache 16/8777 – die ich vorhin angesprochen habe, zu sehen und ihnen zu Überweisungsvorschlag: begegnen. Ausschuss für Tourismus (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Frau Bundesministerin von der Leyen hat bereits vor Ausschuss für Arbeit und Soziales knapp einem Jahr, als sie ihre Studie „Wirtschaftsfaktor Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Alter“ vorgestellt hat, deutlich gemacht, dass der Touris- Ausschuss für Gesundheit mus zu den Wachstumsbereichen dieser Entwicklung ge- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung hören wird. Danach sollen die Konsumausgaben für Rei- (B) sen von heute anteilig 13 Prozent auf 16 Prozent steigen. (D) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Das sind Chancen, die es zu nutzen gilt. Die Bundesini- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre tiative „Wirtschaftsfaktor Alter“ verbindet die Senioren-, dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfah- die Wirtschafts- und die Verbraucherpolitik miteinander. ren. Sie zielt auf die Verbesserung der Lebensqualität älterer Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Menschen wie auch auf die Stärkung von Wirtschafts- ner dem Beauftragten der Bundesregierung für Touris- wachstum und Beschäftigung. mus, dem Kollegen Ernst Hinsken, das Wort. Zur Lebensqualität gehört heute selbstverständlich (Beifall bei der CDU/CSU) das Reisen. Zu Wirtschaftswachstum und Beschäftigung trägt die Tourismuswirtschaft immer mehr bei. 2,8 Mil- lionen Mitbürgerinnen und Mitbürger sind in der Bun- Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung desrepublik Deutschland im vor- und nachgelagerten für Tourismus: Bereich der Tourismuswirtschaft beschäftigt. Über Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 3 Millionen können es in den kommenden Jahren wer- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der demogra- den. Ich bin fest davon überzeugt: Wenn die Rahmenbe- fische Wandel gehört zu den wichtigsten strategischen dingungen stimmen, werden wir das auch erreichen. Herausforderungen für die Tourismuspolitik der kom- menden Jahre. Das haben wir bereits im Tourismuspoli- Der Tourismus ist – auch so sollte man es sehen und tischen Bericht der Bundesregierung vom 13. Februar erkennen – auf vielen Gebieten Vorreiter. Ältere Men- dieses Jahres deutlich gemacht. Das wird auch ein schen sind als Pauschalreisekunden schon heute über- Schwerpunkt der tourismuspolitischen Leitlinien der proportional vertreten. Die deutschen Seniorinnen und Bundesregierung sein, die wir demnächst auflegen wol- Senioren gehören zu den reisefreudigsten der ganzen len. Welt. Mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen wollen (Kurt Segner [CDU/CSU]: Sehr gut!) wir uns dieser Aufgabe stellen und die Chancen nutzen. Ich bin glücklich und froh darüber. Die wirtschaftliche Wir müssen dies deswegen tun, weil die ältere Genera- Lage und vor allen Dingen das über das ganze Leben Er- tion über eine enorme Nachfragekraft verfügt. Jeder sparte sind die Grundlage dafür, dass man dem nach- dritte Euro, der heute in Deutschland ausgegeben wird, kommen kann. stammt aus dem Portemonnaie eines Menschen über 60 Jahren. (Beifall bei der CDU/CSU) 16594 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken (A) Die 50- bis 75-Jährigen buchen bereits heute fast die stellen, was die künftig größere Zahl älterer Reisender (C) Hälfte aller Pauschalreisen, obwohl, wie ich schon sagte, wünscht und braucht. ihr Bevölkerungsanteil unter 30 Prozent liegt. Die Ur- laubs- und Reiseintensität der 60- bis 69-Jährigen ist in Wie es im Eckpunktepapier zur gestern vom Bundes- den vergangenen Jahren am stärksten gewachsen. Sie kabinett beschlossenen Initiative „Wirtschaftsfaktor Al- liegt heute bei 75 Prozent, das heißt über dem Durch- ter“ heißt, gehören die Tourismusbranche, die Gesund- schnitt der Bevölkerung der Erwachsenen in Deutsch- heitsbranche wie auch die Bereiche Freizeit, Kultur und land. Ein Vergleich dazu: 1972 machten nur rund Unterhaltung zu den Wirtschaftsbereichen, für die der 41 Prozent dieser Altersgruppe eine Urlaubsreise. Wie demografische Wandel in besonderem Maße zusätzliche hat sich das alles in den letzten 35, 36 Jahren zum Posi- Potenziale, aber auch neue Herausforderungen bereit- tiven gewandelt und verändert! Ich meine, bei dieser hält. Gelegenheit auch sagen zu müssen, dass es bei den über (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Re- 70-Jährigen immerhin bereits 60 Prozent sind, die noch nate Gradistanac [SPD]) jedes Jahr eine Urlaubsreise von mindestens fünf Tagen Dauer unternehmen. Dieser Trend wird sich fortsetzen. Deshalb haben wir vonseiten des Bundeswirtschafts- ministeriums einen Forschungsauftrag ausgeschrieben. Eine wichtige Zielgruppe und ein Trendthema ist: In den kommenden Monaten werden die Auswirkungen Großeltern reisen mit Enkeln. Die Zahl der Reisen von des demografischen Wandels auf den Tourismus konkret älteren Personen mit Kindern – das ist besonders wich- untersucht und aus den Ergebnissen Schlussfolgerungen tig; das betone ich gerne, weil ich selbst mehrere Enkel für die Tourismuspolitik gezogen. Es gilt, aus den verän- zu Hause habe – derten Kundenstrukturen Konsequenzen zu ziehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Re- Ich möchte darauf verweisen, dass die Potenziale nate Gradistanac [SPD]: Dafür kann er doch – das gilt vor allem für den Inlandstourismus – nur er- nichts!) schlossen werden können, wenn sich das Angebot auf – selbstverständlich kann ich dafür etwas; denn ich die Vielfalt einstellt, die mit der generellen Individuali- musste selbst Kinder zeugen, damit ich überhaupt Opa sierung der Reisewünsche einhergeht; denn mit zuneh- werden konnte, verehrte Frau Gradistanac; damit Sie das mendem Alter werden die Menschen nicht gesünder. wissen – Dem gilt es, soweit irgendwie möglich, Rechnung zu tra- gen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (B) (D) steigt laut F.U.R.-Reiseanalyse von 13 Prozent im Jahr Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern. 2006 auf 18 Prozent im Jahr 2015. Fast die Hälfte aller mit Enkeln reisenden Großeltern wählten im Jahr 2006 Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung ein Reiseziel in Deutschland und gaben mit durch- für Tourismus: schnittlich 719 Euro fast 200 Euro mehr als die Familie Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich bin der festen im Allgemeinen aus. Überzeugung: Wenn es uns gelingt, alle mitzunehmen, Es gibt schon heute viele Angebote der Tourismus- dann wird für die Zielgruppe Senioren, älter werdende branche für die „Best Ager“. Das Projekt „Alpine Well- Menschen in der Bundesrepublik Deutschland auf dem ness“ identifiziert die Generation 50 plus als Hauptziel- Sektor Tourismus viel getan. Wir sind dazu bereit. Wir gruppe für Gesundheits- und Wellnesskonzepte im haben schon einige Weichenstellungen vorgenommen. Alpenraum. Ausgeglichenheit und innere Harmonie Auf diesem Weg wollen wir weiter vorangehen. heißt das übergeordnete Ziel. Herzlichen Dank. Meine Damen und Herren, bei dieser Gelegenheit (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) möchte ich natürlich einige wenige Worte zum Thema Barrierefreiheit sagen, obwohl uns dieses Thema so- wieso im Laufe dieses Jahres im Tourismusausschuss Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: des Bundestages oder auch im Bundeswirtschaftsminis- Nächster Redner ist der Kollege Jens Ackermann für terium mehr und mehr auf den Nägeln brennen wird. die FDP-Fraktion. Aus Untersuchungen ist bekannt: Barrierefreiheit ist für 10 Prozent der Bevölkerung unentbehrlich, für (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Uda Car- 40 Prozent der Bevölkerung notwendig und für men Freia Heller [CDU/CSU]) 100 Prozent der Bevölkerung komfortabel. Jens Ackermann (FDP): (Kurt Segner [CDU/CSU]: So ist es!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen Barrierefreie Tourismusangebote sind für alle Menschen und Kollegen! Wir behandeln heute ein in der Tat wichti- mit einer höheren Qualität und höherem Komfort ver- ges Thema. Ich bin sehr froh, dass die Große Koalition bunden. Als Tourismusbeauftragter der Bundesregierung mit einem positiven Ansatz an die Herausforderungen möchte ich darauf verweisen, dass die Tourismusbran- herangeht. Das ist bei der Großen Koalition nicht immer che ein Vorreiter sein sollte, wenn es darum geht, festzu- so. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16595

Jens Ackermann (A) (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der Aufgrund der Mehrwertsteuererhöhung und der gestie- (C) CDU/CSU) genen Energiekosten haben unsere Rentnerinnen und Rentner jetzt weniger in der Tasche als vorher. Das wirkt Auch die FDP stellt in ihrem Tourismuskonzept die sich natürlich auch auf ihr Reiseverhalten aus. Chancen des Tourismus in einer älter werdenden Gesell- schaft in den Mittelpunkt. Wir leben in einem wunder- Was die zukünftige Rentnergeneration betrifft, mache schönen Land mit wunderschönen Regionen, mit kultu- ich mir auch um unsere ostdeutschen Mitbürger Sorgen. rellen Höhepunkten und netten Menschen. Heute Denn gerade nach der Wiedervereinigung kam es zu ei- Morgen haben wir gehört, was das Wichtigste ist: Wir le- nem Bruch, auch in der Erwerbstätigkeit. Sie konnten ben in einem geeinten und freien Europa seit 60 Jahren nicht mehr in die Rentenkassen einzahlen. In Zukunft in Frieden. Das sind gute Aussichten für den Tourismus werden wir vor dem Problem stehen, dass das Renten- in unserer Heimat. niveau auch im Osten niedriger sein wird. Diese Heraus- forderungen müssen wir bewältigen. Drei Herausforderungen des demografischen Wandels lassen sich benennen: Meine Damen und Herren, früher galt der Satz „Wohlstand für alle!“ von Ludwig Erhard. Heute ist es Erstens. Ältere Menschen werden immer agiler. Sie leider so, dass unsere Rentnerinnen und Rentner auf- sind es gewohnt, zu reisen, und sie wollen reisen. Wir grund der Politik der Großen Koalition in Zukunft weni- stellen schon heute fest, dass Deutschland gerade für äl- ger Geld in der Tasche haben werden. Die FDP-Fraktion tere Touristen eine beliebte Urlaubsregion ist. Die Nach- bedauert das sehr. frage bei älteren Menschen wird steigen, und die Ange- bote werden nachziehen. (Beifall bei der FDP) Zweitens. Ältere Menschen haben ein stetig wachsen- Einen Aspekt, um den es auch gestern in der sehr inte- des Bedürfnis nach Kultur und dem Besuch schöner Re- ressanten Anhörung im Tourismusausschuss ging, gionen. Insbesondere Nahdestinationen bieten sich für möchte ich noch ansprechen: den grenzüberschreitenden viele kleine Reisen an. Mitteldeutschland oder der Tourismus. Das ist ein Punkt, der Touristen interessiert, Schwarzwald werden davon sicherlich profitieren. wenn sie grenzüberschreitend in Hotels oder Gaststätten einkehren. Im vereinten Europa brauchen wir natürlich (Ernst Burgbacher [FDP]: Schwarzwald ist auch eine einheitliche Besteuerung. Sonst wäre das ein gut! – Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Nachteil für unsere heimische Wirtschaft und insbeson- Und die Küste!) dere für den Mittelstand. Wenn die Mehrwertsteuersätze Drittens. Ältere Menschen achten auf ihre Gesund- unterschiedlich hoch sind, ist das ein Nachteil. Dann ge- (B) heit. Sie wollen fit und mobil bleiben. Das ist eine hen die Leute natürlich ein paar Kilometer über die (D) Chance für den Gesundheitstourismus. Auch er wird Grenze, um Geld zu sparen. Das dürfen wir dieser Bran- profitieren. che, die Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze schafft, natürlich nicht antun. (Ernst Burgbacher [FDP]: Richtig!) (Beifall bei der FDP) Gleichwohl sollten wir nicht nur die agilen und fitten Rentnerinnen und Rentner im Auge haben. Wir müssen Liebe Kolleginnen und Kollegen, der demografische uns auch auf die konzentrieren, die nicht ohne Ein- Wandel wird kommen, und er wird neue Impulse setzen. schränkungen reisen können, weil sie körperlich benach- Darauf wird die Tourismuswirtschaft reagieren. Aber teiligt sind. Barrierefreiheit ist eine Selbstverständlich- auch die Politik ist gefordert. Wir müssen die Rahmen- keit und wird auch in Zukunft notwendig sein. bedingungen richtig setzen. Ich freue mich auf die Bera- tungen im Ausschuss. Meine Damen und Herren, ich möchte einen, wie ich finde, wichtigen Satz aus dem Antrag zitieren. Auf (Beifall bei der FDP) Seite 2 in der Mitte steht: Es wird – Zitat – wesentlich davon abhängen, wie sich die frei ver- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: fügbaren Einkommen von Seniorinnen und Senio- Nun hat die Kollegin Renate Gradistanac für die ren in Zukunft entwickeln. SPD-Fraktion das Wort. Es wird also darauf ankommen, was unsere Rentnerin- (Beifall bei der SPD) nen und Rentner im Portemonnaie haben. Renate Gradistanac (SPD): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Ernst Burgbacher Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen [FDP]: Sehr richtig! Mehr netto vom Brutto!) und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor zwei Wochen warnte der frühere Bundespräsident Die Große Koalition hat die Renten erhöht. Für die Roman Herzog in der Bild-Zeitung vor der sogenannten jetzigen Rentner ist das Plus von 1,1 Prozent gut. Aber Rentnerdemokratie. Er sagte unter anderem – ich zitiere mit dieser Rentenerhöhung gibt man zu wenig und ihn –: nimmt zu viel. Das könnte am Ende in die Richtung gehen, dass (Beifall bei der FDP) die Älteren die Jüngeren ausplündern. 16596 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Renate Gradistanac (A) Damit hat er eine skurrile Debatte neu entfacht. Zum laub in fast allen Teilen der Welt. Das kann auch für das (C) wiederholten Male wurde schlagzeilenträchtig die greise Reisen im Alter bedeuten, dass wir uns sowohl für In- Republik heraufbeschworen. Auf einmal war wieder von landsreisen als auch für weltweites Reisen entscheiden. der Altenrepublik die Rede, so Meinhard Miegel, und Der internationale Wettbewerb um die jungen Alten ist Roman Herzog sprach von verfassungswidrigen Staats- in vollem Gange. quoten als möglicher Konsequenz des demografischen Die Chancen annehmen und gestalten, so lautet, wie Wandels. wir im Tourismusausschuss immer sagen, die Devise der Meine sehr verehrten Damen und Herren, solche De- Zukunft. Wir verkennen nicht, dass die Herausforderun- batten spalten unsere Gesellschaft. Sie schüren Angst gen für die Branche groß sind: Je kleiner der Betrieb, und Generationenneid. Sie bringen uns nicht wirklich desto schwieriger wird es, die eigene Nische bei den sich voran. Solche Äußerungen sind auch falsch. Gerade wir zunehmend ausdifferenzierenden Bedürfnissen der Rei- Tourismuspolitikerinnen und Tourismuspolitiker wissen senden zu finden und sie marktgerecht zu besetzen. Na- um die Chancen, die der demografische Wandel für den türlich macht die Ausrichtung auf neue Zielgruppen we- Tourismus bringt. der vor den Reiseunternehmen noch vor Hotelwirtschaft und Gastronomie halt. Viele Firmen müssen investieren, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) um altersgerechtes Komfortreisen zu ermöglichen. Der TAB-Bericht „Zukunftstrends im Tourismus“ belegt (Kurt Segner [CDU/CSU]: So ist es!) dies nachdrücklich. Die Branche muss die Chancen al- lerdings nutzen. In einer Studie des Deutschen Seminars Es ist nötig, die Qualifikation der Arbeitnehmerinnen für Tourismus wird von einem gegenwärtigen Reise- und Arbeitnehmer zu stärken, vor allem sie gerecht zu potenzial der Generation 50 plus von rund 28 Millionen bezahlen. Da haben wir einen Dissens mit dem Touris- ausgegangen, Tendenz steigend. musbeauftragten. Wir plädieren ja für Mindestlöhne, weil gerade die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Nicht nur das: Personen über 50 sind vor allem mobi- dieser Branche bei der Bezahlung sehr zu leiden haben. ler, gesünder und reiselustiger als die Generation unserer Eltern. Seit Jahren steigt die Quote der über 55-Jährigen, (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie die erwerbstätig sind. Im Jahr 2004 lag sie bei 45 Pro- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE zent. Dadurch haben manche auch mehr Geld. So ist zu GRÜNEN) erwarten, dass die Reiseintensität der Bevölkerung ins- Unser guter Antrag – ich habe den Eindruck, dass es gesamt nicht abnehmen wird, ganz im Gegenteil. darüber in diesem Hause keinen Dissens gibt – ist als Die Studie des Familienministeriums – Sie haben sie Ansporn gedacht, offensiv und vor allem gemeinsam zu (B) erwähnt, Herr Tourismusbeauftragter – mit dem Titel handeln. Für die Bundespolitik bedeutet das – das ist der (D) „Wirtschaftsmotor Alter“ hat vergangenen Sommer zu- erste Punkt in unserem Antrag –, dass wir ein Leitbild tage gebracht: Im Jahr 2035 werden die über 50-Jährigen für den Deutschlandtourismus brauchen. Ich bin froh, knapp 60 Prozent der Ausgaben am Gesamtkonsum täti- dass sich unser Koalitionspartner auf die Festschreibung gen. Der Anteil der über 65-Jährigen wird von 18 Pro- dieses Leitbildes eingelassen hat. zent auf 26 Prozent steigen. Fazit: Die über 50-Jährigen (Beifall der Abg. Uda Carmen Freia Heller sind die Zielgruppe der Zukunft. Neben den Gesund- [CDU/CSU]) heitsausgaben werden sich die Tourismusausgaben der Älteren erheblich erhöhen. Für uns in der SPD ist es selbstverständlich, dass sich der Bund strategisch festlegen muss. Dass die Länder Wir können schon heute beobachten, dass die soge- und Kommunen dann mitmachen, halten wir für selbst- nannten Best Agers – es gibt ja wunderbare Namen – zu- verständlich. Dieses Leitbild ist die Grundlage, anhand nehmend mit ihren Enkeln reisen. So wird aus der neuen derer man sich weiter prozesshaft entwickeln kann. Reisegeneration schnell ein neues Modell des Generatio- nenreisens. Die Alten leben also nicht, wie Roman Her- (Abgeordnete der CDU/CSU betreten den zog gesagt hat, gegen die Jungen, sondern mit ihnen. Plenarsaal) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Kurt Seg- – Es ist ja toll, dass die CDU/CSU jetzt noch so viel Zu- ner [CDU/CSU]) wachs bekommt. Deutschland ist kein Mikrokosmos, in dem die älter (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Zu dieser werdende Gesellschaft isoliert auftritt. Bis zum Jahr Zeit schicken wir nur die Besten! – Michael 2030 wird sich die Zahl der über 65-Jährigen in der Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir sind die Europäischen Union um circa 40 Millionen erhöhen. Niedersachsen!) Nicht zuletzt die Nachfrage nach Wellness- und Gesund- Es ist bekannt: Der Tourismus ist sowohl Querschnitts- heitsreisen wird in die Höhe schnellen. Der demografi- thema als auch Querschnittsaufgabe. Unterschiedliche sche Wandel ist ein Phänomen, das auch den Deutsch- Politikbereiche müssen sich einbringen. Beispielhaft landtourismus ganz schön auf Trab bringen wird. nenne ich die Wirtschaftspolitik, die Verkehrspolitik, die Wir müssen dieses enorme Potenzial allerdings nut- Umweltpolitik, die Verbraucherschutzpolitik und die Ar- zen, dürfen die Chancen nicht verstreichen lassen. beitsmarktpolitik. Es ist für uns selbstverständlich, dass Schließlich sind wir Deutschen mehrsprachig orientiert, die Ministerin für Senioren bei einem Programm zur wir sind Reiseweltmeister, wir verbringen unseren Ur- Wirtschaftskraft von Senioren auch die Tourismusbran- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16597

Renate Gradistanac (A) che berücksichtigt. Das ist so selbstverständlich, dass ich (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Bettina ist (C) das hier eigentlich kaum zu erwähnen brauche. wirklich ein schöner Name! Vor 30 Jahren hatte ich auch mal so schöne dunkle Haare!) Eine weitere wichtige Forderung in unserem Antrag bezieht sich auf die Forschung. Wir wollen qualifizierte Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Daten zum demografischen Wandel, bei denen es um die zukünftige Vermögens- und Einkommensentwicklung Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen geht, da diese natürlich Auswirkungen auf den Touris- und Herren! Neben dem Klimawandel ist der demografi- mus hat. Ich stelle heute fest: Wir fordern, und Herr Hin- sche Wandel eines unserer großen Zukunftsthemen. sken marschiert. Das Forschungsvorhaben ist schon auf Was bedeutet der demografische Wandel für den Tou- dem Weg. rismus und für die Tourismuswirtschaft? Wie in dem An- trag der Koalitionsfraktionen richtig dargestellt, steigt Die Anforderungen an alle Akteure lassen sich auf der Anteil der älteren Reisenden. Aber auch ihre An- den Punkt bringen: gute qualifizierte und zielgruppen- sprüche und ihre Bedürfnisse werden sich ändern. Durch spezifische Angebote unterbreiten und diese in Deutsch- diesen Wandel sind Weichenstellungen der Politik, aber land, aber auch in Europa, in Asien und trotz des schwa- auch der Akteure der Tourismuswirtschaft erforderlich. chen Dollars auch in den USA bewerben. Wir wollen alle Seniorinnen und Senioren für den Deutschlandtou- Grundlage des Reisens ist die Mobilität, und zwar die rismus begeistern. Die Deutsche Zentrale für Tourismus eigene körperliche Mobilität, aber auch die Mobilität, ist unser nationaler und internationaler Botschafter. Frau die unsere Gesellschaft und unsere Umwelt zulassen. Hedorfer und ihr Team leisten eine hervorragende Ar- Davon wird abhängen, wer zukünftig noch reisen kann. beit. Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen bedan- Welche Anforderungen muss eine umweltschonende ken. touristische Infrastruktur erfüllen? Sind die Leistungsträ- Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwei Aspekte haben ger der Transportsysteme und der touristischen Zielge- wir in unserem vorliegenden Antrag aus gutem Grund biete darauf vorbereitet? Diese Themen kommen in Ih- ausgelassen. rem Antrag nur unter „ferner liefen“ vor. Aber genau das sind die Fragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Barrierefreier Tourismus ist nicht nur an das Alter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und an den Strukturwandel in unserer Gesellschaft ge- bunden; Barrierefreiheit bedeutet Teilhabe. Diese He- Die demografischen Veränderungen unserer Gesell- rausforderung ist so groß und von so großer Bedeutung, schaft werden die touristischen Märkte der Zukunft er- dass wir uns ihr in einem zweiten Antrag widmen wol- heblich beeinflussen. Das ist offensichtlich. Es ist auch (B) (D) len, den wir im Laufe des Jahres einbringen. offensichtlich, dass viele Leistungsträger der Branche das bisher nicht erkannt haben. Die Studie, die Ihrem Beim zweiten Aspekt geht es um die Bedürfnisse und Antrag zugrunde liegt, weist darauf hin, dass die zukünf- wachsenden Ansprüche pflegebedürftiger Menschen und tig reisende Seniorengeneration eine andere ist als die ihrer pflegenden Angehörigen. Auch hier muss es spe- heutige. Sie sind reiseerfahren, haben einen hohen Mobi- zielle Angebote geben. Die Tourismusunternehmen ha- litätsanspruch und nicht unerhebliche Konsumerwartun- ben sich darauf einzustellen. Es gibt schon gute Bei- gen. Diese Reisegeneration für den Deutschlandtouris- spiele dafür. Jetzt will ich einfach einmal lobend das mus zu gewinnen, ist nicht ganz einfach. Hotel am Kurpark in Bad Herrenalb im Schwarzwald er- wähnen. Wenn unsere Tourismuswirtschaft weiterhin expan- dieren will, dann muss noch viel passieren. Die Senioren Meine Damen und Herren, es passiert viel Richtiges von heute fragen besonders nach Angeboten mit Ent- und Gutes im Tourismus. Viele Akteure haben sich auf spannung, Natur und Kultur. Auch gesundheitsfördernde die neuen Alten eingestellt. Denjenigen, die sich auf den Aktivitäten und Wellness bekommen einen immer höhe- Weg gemacht haben, danke ich. Sie dienen uns als posi- ren Stellenwert. Fernreisen werden heute auch wegen tive Pioniere. gesundheitlicher Risiken von Senioren weniger nachge- fragt. Gerade diese Chance für den Deutschlandtouris- Allen anderen möchte ich als ehemalige Sportlehrerin mus gilt es zu erkennen und vor allen Dingen auszu- den Satz aus dem Volksmund zurufen: Gehe keinen Me- bauen. ter zurück, allenfalls, um Anlauf für weitere Ziele zu nehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vielen Dank für Ihr Zuhören. Vermarktung und Produktherstellung müssen deshalb (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Ge- auf alle Altersgruppen abgestimmt werden. Kenntnisse org Schirmbeck [CDU/CSU]: Das mit den Pi- über Bedürfnisse, Ansprüche und Wünsche der Senioren onieren sollte man streichen!) gilt es zu erkunden und bei der Angebotsgestaltung zu berücksichtigen. Mit der zunehmenden Alterung der Ge- sellschaft wird die Zahl der Menschen, die nicht mehr Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Auto fahren können und wollen, zunehmen. Auch wer- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die den Reiseregionen, um die Natur und damit auch ihren Kollegin Bettina Herlitzius das Wort. Erholungswert zu schützen, zukünftig den Pkw-Verkehr 16598 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Bettina Herlitzius (A) stärker einschränken. Die heutigen Umweltzonen sind (Beifall bei der LINKEN) (C) ein Anfang. Dabei gilt es, die richtigen politischen Weichen zu Dorothée Menzner (DIE LINKE): stellen, damit touristische Regionen mehr Hilfestellung Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- zur Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs anbieten und legen! Es handelt sich hier um einen Präzedenzfall. Der eine zufriedenstellende nachhaltige Mobilität für Men- Europäische Gerichtshof hat am 23. Oktober 2007 das schen aller Altersstufen gewährleisten. VW-Gesetz beanstandet, in dem für den Volkswagen- konzern ein besonderes Mitspracherecht der Belegschaft Aber auch der Aspekt der Barrierefreiheit ist wichtig festgeschrieben ist. und muss berücksichtigt werden. Bei Barrierefreiheit geht es nicht nur um Mobilität und Unterbringung; sie Nach unserer Auffassung wird durch dieses EuGH- Urteil das Recht der Mitgliedstaaten auf die Gestaltung muss sich vielmehr auf alle Dienstleistungen des Touris- der Sozialordnung hinsichtlich Unternehmensverfassung musbereiches erstrecken. Unkomplizierter Gepäcktrans- und Mitbestimmung in rechtlich nicht akzeptabler Weise port, lesbare Reiseinformationen und vieles mehr gehö- eingeschränkt, und zwar unter Berufung auf die Kapital- ren dazu. Es muss eine komplette Reisekette von Tür zu verkehrsfreiheit. Aber das steht hier leider nicht zur De- Tür sein, die für jeden nutzbar ist. batte. Wir haben ein großes Thema vor uns. Es ist wichtig, Die Bundesregierung hat das Urteil einfach hinge- dass wir es richtig angehen. Denn der Seniorenreise- nommen. Doch all jene, denen die Befreiung des Kapi- markt kann ein Wachstumsmotor und ein Hoffnungsträ- tals von jedweder Einschränkung über alles geht, haben ger der Tourismuswirtschaft werden. Er hat aber nur sofort reagiert und die Losung „Der EuGH hat das dann eine Zukunft, wenn er nachhaltig und barrierefrei VW-Gesetz gekippt“ ausgegeben. Die Porsche-Familie, gestaltet wird. Lassen Sie uns daran arbeiten. die im VW-Konzern die Aktienmehrheit übernehmen Danke. will, ließ umgehend erklären, nichts sei überflüssiger als ein VW-Gesetz. Das liegt sicherlich im Interesse ihres (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN uneingeschränkten Schaltens und Waltens im Konzern. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Belegschaften der VW-Standorte, die IG Metall und die meisten Menschen in Niedersachsen sehen das aller- dings anders. Delegationen aus allen Werken haben das Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: heute in Hamburg vor der Hauptversammlung sehr deut- Der Kollege Ilja Seifert hat seine Rede zu Protokoll lich gemacht. gegeben.1) Damit schließe ich die Aussprache zu diesem (B) Tagesordnungspunkt. In Niedersachsen hängen von den Arbeitsplätzen im (D) Konzern und bei den Zulieferern rund 1 Million Men- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf schen ab. Mit großer Sorge verfolgen die, wie Entschei- Drucksache 16/8777 an die in der Tagesordnung aufge- dungen der Eigner frei verkehrenden Kapitals um sich führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- greifen, Werke zu schließen, Arbeitsplätze in Niedrig- verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die lohnländer zu verlegen und mit diesem Druckmittel Ta- Überweisung so beschlossen. rifverträge auszuhöhlen. Um die Interessen der Beschäf- tigten zu wahren und denen, die das VW-Gesetz ganz Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 18 auf: gekippt sehen wollen, ein „So nicht“ zuzurufen, legen Erste Beratung des von den Abgeordneten wir diesen Gesetzentwurf vor, Dorothée Menzner, Dr. Diether Dehm, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Dr. Barbara Höll, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei- und zwar ungeachtet unserer grundsätzlichen Kritik am nes Gesetzes zur Änderung des VW-Gesetzes EuGH-Urteil. – Drucksache 16/8449 – Es handelt sich um ein Gesetz, das die Mitbestim- Überweisungsvorschlag: mungsrechte der Belegschaft und den öffentlichen Ein- Rechtsausschuss (f) fluss so weit, wie es nach dem Urteil möglich ist, auf- Finanzausschuss rechterhält. Dementsprechend wird in unserem Entwurf Ausschuss für Wirtschaft und Technologie in Übereinstimmung mit dem Urteil des EuGH die Ausschuss für Arbeit und Soziales Stimmrechtsbeschränkung aufgehoben, § 2. Es bleibt Auch hier ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung aber bei dem Quorum von über vier Fünfteln bei beson- für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei ders bedeutenden Beschlüssen der Hauptversammlung die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich der Aktionäre, § 4 Abs. 3. Dieses Quorum hatte der höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so ver- EuGH nur im Zusammenhang mit der Stimmrechtsbe- fahren. schränkung infrage gestellt. Diese soll aber nach unse- rem Gesetzentwurf aufgehoben werden. Außerdem Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- bleibt es bei der Mehrheit von zwei Dritteln im Auf- nerin der Kollegin Dorothée Menzner für die Fraktion sichtsrat bei der Entscheidung über Betriebsgründungen Die Linke das Wort. und -verlegungen. Hinsichtlich der Entsendung von Vertreterinnen und 1) Anlage 9 Vertretern der öffentlichen Eigentümer in den Aufsichts- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16599

Dorothée Menzner (A) rat hat der EuGH nicht die aktuelle Zahl beanstandet. Er (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) hat allein darauf abgestellt, dass es nach dem Wortlaut neten der SPD) des Gesetzes möglich wäre, dass die Bundesrepublik Deutschland im Falle, dass sie wieder Aktien hielte – und Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): sei es nur eine einzige –, Aufsichtsratsmitglieder entsen- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den könnte. Dann wären es vier Personen. Auch im VW- Frau Kollegin Menzner, das Problem beginnt schon mit Gesetz dürfe nämlich die allgemeine aktienrechtliche Ihrer Präsenz hier im Plenum: Alle Anwesenden außer Höchstgrenze für den Umfang der Delegierung nicht die Vertreter Ihrer Fraktion sind Niedersachsen. Ich un- überschritten werden. Außerdem müsse innerhalb der terstelle Ihnen keinen schlechten Willen; aber VW hat Delegationsregelung nach dem gehaltenen Kapitalanteil jahrzehntelang extrem gut ohne die Linken gelebt und differenziert werden. Das wird durch den geänderten § 4 sich positiv entwickelt. Wenn Sie hier über das Trabi- Abs. 1 unseres Gesetzentwurfs eingehalten. Bei der von Gesetz gesprochen hätten, wäre das okay gewesen. Las- uns gewählten differenzierten Ausgestaltung des Dele- sen Sie sich aber bitte nicht allzu sehr auf das Thema gationsrechts ergäbe sich, dass das Land Niedersachsen VW ein! mit seinem gegenwärtigen Kapitalanteil sogar drei Per- sonen in den Aufsichtsrat delegieren könnte. (Beifall bei der CDU/CSU – Georg Schirm- beck [CDU/CSU]: Von VW verstehen wir Frau Zypries hat angekündigt – das begrüßen wir –, mehr!) im Laufe des Jahres ebenfalls den Entwurf eines neuen VW-Gesetzes einzubringen. Nicht wenige setzen darauf Ihr Entwurf hat wie so häufig zwei besondere Eigen- große Hoffnungen. Aber die heutige Hauptversammlung schaften: Erstens. Er ist überflüssig. Zweitens. Er ist po- in Hamburg hat gezeigt: Die Zeit drängt. Deshalb ist un- pulistisch. Sie haben sich fast verplappert: Passend zur ser Gesetzentwurf auch als Signal an die Ministerin zu Jahreshauptversammlung bringen Sie einen Schaufens- verstehen. Oder müssen wir ihre Ankündigung als Wahl- terantrag ein. Eventuell hat das auch mit irgendwelchen kampfgeklingel verstehen? Wahlkampfvorbereitungen zu tun. Die weitergehenden Ziele der Ausgestaltung der Un- Ihr Entwurf ist überflüssig, weil Frau Zypries, wie Sie ternehmensverfassung sowie des Schutzes vor Betriebs- selbst sagten, schon lange einen Entwurf in Arbeit hat. verlagerungen und Unternehmensübernahmen durch Fi- Die Bundeskanzlerin hat klar gesagt: Das bisherige VW- nanzinvestoren und andere Heuschrecken müssten nach Gesetz wird nicht ersatzlos gestrichen; es wird eine ge- unserer Auffassung allerdings generell und nicht in ei- setzliche Anschlussregelung geben. nem speziellen Gesetz für ein Unternehmen geregelt (Beifall bei der CDU/CSU) (B) werden. Das ist nur ein Hilfsmittel. Da fast alle Fraktio- (D) nen ihr Entsetzen im Fall Nokia geäußert haben, bin ich Alle, auch Sie, wissen: Es wird eine Neuregelung auf guten Mutes, dass wir hier zu einem gemeinsamen An- Grundlage des EuGH-Urteils geben. Trotzdem legen Sie satz kommen. Unseren Ansatz legen wir heute vor. einen Gesetzentwurf vor und behaupten, es geschehe nichts, jedenfalls werde nicht schnell genug gehandelt. Nicht zuletzt sollten wir uns hin und wieder an die Gründe für die Schaffung des VW-Gesetzes erinnern. Neben der Überflüssigkeit kommt ein wenig Populis- Sie sind heute so aktuell wie damals. mus durch, auch wenn Ihre beiden Fraktionsvorsitzen- den, die das noch viel besser verkörpern, nicht anwesend (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sind. Das KdF-Wagenwerk wurde aus den von den Nazis ge- (Beifall des Abg. Jochen-Konrad Fromme raubten Geldern der Gewerkschaften und der kleinen [CDU/CSU]) KdF-Wagensparer finanziert sowie von Zwangsarbeitern unter großen Opfern aufgebaut. Nach dem Krieg wurde Der Entwurf spielt nämlich mit den Sorgen der Men- Volkswagen ursächlich durch die harte Arbeit der Be- schen. schäftigten schnell zu dem, was wir heute kennen, näm- (Dorothée Menzner [DIE LINKE]: Können lich zum größten Automobilkonzern in Europa und zu ei- wir uns mal über die Sache unterhalten?) nem der führenden Konzerne weltweit. Auch die heutige Erfolgsgeschichte beruht auf der Leistung der Arbeitneh- – Ja, gerne. Ich komme noch darauf; ich habe noch acht merinnen und Arbeitnehmer. Weder die öffentliche Mit- Minuten Redezeit. Bleiben Sie ganz ruhig! bestimmung noch die betriebliche Mitbestimmung ha- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD – ben ein Hindernis dargestellt, sondern waren hilfreich Dorothée Menzner [DIE LINKE]: Ich habe für die Entwicklung des Konzerns. Zeit!) Danke. Es ist schon ein starkes Stück, dass Sie in der Begrün- (Beifall bei der LINKEN) dung Ihres Antrags ein Szenario erfinden, in dem Volks- wagen in Wolfsburg mit dem „Nokia-Werk in Bochum“ verglichen wird. Damit beleidigen Sie alle, die über Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Jahrzehnte dieses Unternehmen erfolgreich gemacht ha- Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Mi- ben, insbesondere das Land Niedersachsen, das – auch in chael Grosse-Brömer das Wort. den letzten Jahren – dafür gesorgt hat, dass die Stabilität 16600 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Michael Grosse-Brömer (A) bei VW sehr groß ist. Überlegen Sie also ein wenig, was pekt vor dem höchsten europäischen Gericht gebietet es (C) Sie in der Begründung Ihrer Anträge schreiben! meines Erachtens, die von der Bundesjustizministerin schon angekündigte Umsetzung des Urteils zu vollzie- (Beifall bei der CDU/CSU) hen. Dabei sollten erstens die Entscheidung des EuGH Immer wieder – wir haben das heute Morgen kurz und zweitens die besondere Entstehungsgeschichte und nach 9 Uhr gehört – scheint Ihre verblendete, linke Euro- Bedeutung von Volkswagen beachten werden. pafeindlichkeit durch. Wir haben das bei der Ratifikation des Lissabon-Vertrages erleben müssen. Das Justizministerium hat das EuGH-Urteil sorgfältig analysiert. Nach Ansicht des BMJ ist es nicht erforder- (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist lich, die seit 1960 verbriefte Sperrminorität von 20 Pro- nicht wahr! Das wird auch nicht wahrer, wenn zent für Niedersachsen zu verändern. Ein nach den Sie es wiederholen!) Grundsätzen des EuGH-Urteils abgespecktes, neues VW-Gesetz ist nach Ansicht der Justizministerin auch – Ich erkläre Ihnen das gleich; vielleicht haben Sie es mit dieser 20-Prozent-Klausel europafest. Dazu gibt es nicht verstanden. im Übrigen auch eine Patronatserklärung des Bundes ge- (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Viel- genüber dem Land Niedersachsen, die schon aus dem leicht haben Sie es nicht verstanden!) Jahr 1960 datiert. Mit der Novelle soll nun ausdrücklich nur das vom EuGH beanstandete Zusammenspiel aus Ich könnte sagen: Ich würde mich gern intellektuell mit Höchststimmrechten und Mehrheitserfordernis abge- Ihnen duellieren; aber ich sehe, dass Sie unbewaffnet schafft werden. Es besteht also kein Anlass, die Kompe- sind. tenz des Ministeriums in dieser Hinsicht in Zweifel zu (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und ziehen, jedenfalls nach meiner Auffassung. Wenn ich Sie der SPD) recht verstanden habe, machen selbst Sie das nicht. Der Punkt ist folgender: Auch mich hat das EuGH- Angesichts der aktuellen Erfolge von Volkswagen Urteil nicht fasziniert. Trotzdem kann man nicht behaup- sollte man auch über die berühmte Devise „never change ten – wie Sie dies tun –, hier gehe es um das Urteil eines a winning team“ nachdenken. Man kann auch sagen: Gerichts, das man nicht ernst nehmen könne. Unqualifi- Lasst uns doch nicht in ein funktionierendes, erfolgrei- zierte Schelte europäischer Gerichte ist nicht die richtige ches Unternehmen eingreifen. Ich habe mir die Zahlen Antwort auf das von Ihnen zitierte Urteil. Es ist üble Po- heraussuchen lassen: 2007 hat Volkswagen 6,2 Millio- lemik, wenn Sie das EuGH quasi als Rechtsbrecher und nen Kraftfahrzeuge ausgeliefert. Weltweit wurden im die Mitgliedstaaten als dessen haltlose Vasallen darstel- ersten Quartal 2008 1,57 Millionen Autos verkauft. Das len. Es bleibt nur die spannende Frage, ob Sie das aus ist ein Rekord in der Firmengeschichte. Der Marktanteil (B) Dummheit tun oder ob Sie sich bewusst wahrheitswidrig in Deutschland liegt bei 32,2 Prozent. Das ist ein tolles (D) äußern. Ergebnis für VW, und das alles ist bislang ohne die (Beifall bei der CDU/CSU – Georg Schirm- Linke zustande gekommen. Hiervon profitieren nicht nur beck [CDU/CSU]: Sie sollten sich entschuldi- die jetzigen bei VW angestellten Arbeitnehmer, die si- gen, und zwar sofort!) cherlich Sorgen haben – darauf komme ich gleich noch –, sondern auch die, die in den nächsten Jahren direkt bei Sie beziehen sich auf Art. 295 EG-Vertrag. Wenn Sie VW oder bei der Zulieferindustrie hinzukommen wer- ehrlich wären und ein wenig mit dem europarechtswis- den. senschaftlichen Diskurs vertraut wären, wüssten Sie, dass es dazu sehr unterschiedliche Auffassungen gibt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Auch in diesem Punkt ist Ihre Argumentation unschlüs- sig. So eindeutig, wie Sie behaupten, ist der Aussagege- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der halt des Art. 295 EG-Vertrag nicht. Es gibt eine Menge Kollegin Menzner? anderer Punkte, die dabei zu berücksichtigen sind. Allein Ihre europafeindliche Argumentation und die bei diesem Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Punkt deutlich werdende Ahnungslosigkeit machen es Ja, gerne. uns unmöglich, diesem Entwurf zuzustimmen. Es geht – Sie haben es angesprochen – um das Urteil Dorothée Menzner (DIE LINKE): vom 23. Oktober. Der Bundesgesetzgeber hat dadurch Herr Kollege, Sie haben eben gesagt: Never change a den Auftrag, das VW-Gesetz anzupassen. Der Gerichts- winning team. hof hat nämlich zum einen erklärt, dass die Stimmrechts- beschränkung nach § 2 Abs. 1 VW-Gesetz in Verbin- (Zuruf von der FDP: Er hat nicht Sie gemeint!) dung mit den besonderen Mehrheitserfordernissen nach § 4 Abs. 3 VW-Gesetz mit dem Grundsatz der Freiheit Sie haben die Zahlen genannt. Sie waren so weit korrekt. des Kapitalverkehrs nach Art. 56 EG-Vertrag unverein- Ihnen – Sie sind aus Niedersachsen – ist sicherlich nicht bar ist. Zum anderen sollen auch die Entsenderechte eu- verborgen geblieben, dass es im Moment Versuche gibt, roparechtswidrig sein. in diesem winning team etwas zu verändern: Porsche hat angekündigt, die Mehrheit zu übernehmen, es gab heute Genau da sollten wir uns am EuGH orientieren; das in der Hauptversammlung Satzungsänderungsanträge. ist doch gar keine Frage. Da sind wir wahrscheinlich auch nicht auseinander. Ich sage Ihnen nur: Das wird oh- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Wo ist nehin passieren, ohne dass Sie etwas dazu tun. Der Res- denn die Frage?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16601

Dorothée Menzner (A) Natürlich ist einiges im Gange. Deshalb könnte eine Entscheidung des EuGH orientierte Anpassung des VW- (C) schnelle Vorlage eines angepassten VW-Gesetzes sicher- Gesetzes für vorzugswürdig. Einer solchen Umsetzung lich manche Unruhe, die dem Konzern und Niedersach- wäre durch die Streichung der Regelung über die Stimm- sen nicht guttut, vermeiden. rechtsbeschränkung in § 2 VW-Gesetz sowie der Rege- lung hinsichtlich der Entsenderechte Genüge getan. Aus Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): meiner Sicht könnten die übrigen Bestimmungen des Liebe Frau Kollegin, wir sind uns darin einig, dass es VW-Gesetzes dann unverändert bestehen bleiben. Unsicherheiten gibt und dass man die Sorgen der Mitar- Ich will zum Abschluss darauf hinweisen: Das VW- beiter von VW ernst nehmen soll. Im Übrigen gibt es Gesetz wird es wohl weiterhin geben; das ist jedenfalls keine Bestrebungen, die Mehrheit zu bekommen, son- mein Wunsch. Die Bundesregierung hat die Absicht, dern soweit ich weiß, gibt es ein Unternehmen, das dieses Gesetz in abgespeckter Form bestehen zu lassen. schon die Mehrheit hat. Es geht im vorliegenden Fall Deswegen ist Ihr Gesetzentwurf in der Sache überflüssig auch ein Stück weit um Niedersachsen. und in den weitesten Teilen der Begründung falsch. Im Wenn es um die Menschen geht, dann muss ich Sie Ergebnis kann ich den von der Linksfraktion vorgelegten zumindest in der Hinsicht enttäuschen, wenn Sie der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des VW-Gesetzes Auffassung sein sollten, dass Ihr Antrag, den Sie hier mit voller Überzeugung ablehnen. Ich empfehle das vorgelegt haben, mit der darin enthaltenen Begründung auch dem Rest des Hauses. Ich erwarte hoffnungsfroh die Sorgen der Menschen minimiert. Ich nehme gerne den fundierten Entwurf der Bundesjustizministerin. zur Kenntnis, dass das Ihr Anliegen war, aber der Inhalt Ich danke sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. dieses Antrags ist dafür völlig ungeeignet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Thema neten der SPD) verfehlt!)

Ich will gleich noch nähere Auskunft dazu geben. Ich Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: glaube, es ist klüger, wenn wir rechtlich fundiert Wert Nun hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die darauf legen, dass das Land Niedersachsen weiterhin in Kollegin Thea Dückert das Wort. erheblichem Maße für die Stabilität des Unternehmens und damit auch für die Mitarbeiter sorgen kann, zum Wohle Niedersachsens und damit im Prinzip auch zum Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wohle Deutschlands und Europas; denn es gibt auch Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und noch einige andere Standorte, wo VW ebenso erfolg- Kollegen! Wir, Bündnis 90/Die Grünen, unterstützen das (B) reich ist. Anliegen, hier ein europakonformes VW-Gesetz zu dis- (D) kutieren, vorzubereiten und umzusetzen. Ich hätte mir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bei dem Beitrag des Kollegen aus Niedersachsen schon neten der SPD) gewünscht, dass weniger juristische Arroganz zur Auf- Deswegen möchte ich gerne mit Ihnen daran arbeiten, führung gebracht wird. dass die Ängste und die Sorgen der Mitarbeiter von VW (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ abgebaut werden können. Ich bestreite nur, dass das mit CSU) Ihrem Antrag möglich ist. Ich will zum letzten Punkt kommen. Die Entschei- Das muss ich ehrlich sagen. dung des EuGH hat das Gefühl der Unsicherheit hinter- Sie von der Bundesregierung haben es bisher nicht lassen; Sie haben das angesprochen. Die Demonstratio- zustande gebracht, einen Vorschlag zu machen, weil na- nen heute in Hamburg sind ein Beleg dafür; das ist gar türlich juristische Fragen zu klären sind. Das muss man keine Frage. Wir müssen die Menschen mit ihren Sorgen sorgfältig tun. Wir können es uns nicht leisten, noch ein- ernst nehmen und sie davon überzeugen, dass Volkswa- mal so etwas vom EuGH ins Stammbuch geschrieben zu gen mit einem angepassten VW-Gesetz Garant für Be- bekommen, wie es beim VW-Gesetz der Fall gewesen schäftigung und Wachstum bleiben wird. Die Ängste aus ist. Das ist völlig klar. politisch durchsichtigen Motiven aber noch zu schüren, ist der falsche Weg. Ich weiß gar nicht, ob Sie das woll- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ich ten, aber lesen Sie sich Ihren Antrag durch. Wenn Sie habe den EuGH nicht beschimpft!) Horrorszenarien an die Wand malen, dann sagen wir: Die lange Erfolgsgeschichte von Volkswagen ist direkt Dass Sie einen solchen Vorschlag noch nicht gemacht mit dem VW-Gesetz verknüpft, das die AG seit 1960 be- haben, liegt auch daran, dass Sie in der Bundesregierung gleitet hat. Im Übrigen ist Volkswagen deshalb – jeden- mit sich selber noch längst nicht im Reinen sind. Um das falls aus meiner Sicht – mit BMW oder mit Mercedes- zu erkennen, müssen wir uns nur einmal anschauen, was Benz nicht vergleichbar. Bei Volkswagen wollte man uns die Union hier tagtäglich vorführt: Herr Glos ist ge- stets keine so große Dominanz und weniger Aktionäre; gen ein VW-Gesetz. Herr Oettinger ist gegen ein vielmehr wollte man eine Art Volksaktie. VW-Gesetz. Herr Wulff ist natürlich für ein VW-Gesetz; schließlich will er sich als Industriekapitän in Nieder- Die unzähligen Arbeitnehmer, die die Stabilität des sachsen herausstellen. Sie wissen doch überhaupt noch Konzerns mit erarbeitet haben, und auch unzählige Ak- nicht, in welche Richtung Sie wollen. Dennoch verbrei- tionäre haben von der guten Entwicklung dieses Unter- ten Sie sich hier in Arroganz. Das ist diesem Thema nehmens profitiert. Ich halte deshalb eine eng an der nicht angemessen. 16602 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

Dr. Thea Dückert (A) In der Diskussion hat sich ein anderes Problem offen- zen. Jetzt aber sind Sie erst einmal in der Pflicht, dem (C) bart. Das Ganze ist ebenfalls eine sehr bizarre Auffüh- Parlament etwas vorzulegen und nicht nur zu reden. rung; sie wird uns von der FDP präsentiert. Auf der einen Seite unterstützt der niedersächsische Wirtschafts- Danke schön. minister Hirche, FDP, ein solches Vorhaben; jedenfalls (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hat das Ministerpräsident Wulff, CDU, in der Debatte zum Ausdruck gebracht, als er für Herrn Hirche gespro- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: chen hat. Auf der anderen Seite hat Herr Brüderle in der Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege letzten Woche in der Welt eine große ordnungspolitische Garrelt Duin für die SPD-Fraktion. Philippika geschrieben. Seine Qualifizierung dort lau- tete: gewissenlose Klientelpolitik. Diese will er offenbar (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sturmfest seinem Parteikollegen Minister Hirche anlasten. Auch und erdverwachsen! Er ist ein ordentlicher das sorgt für viel Verwirrung in der politischen Debatte. Niedersachse!) Unter dem Strich ist eines klar – das wissen alle; es ist vorhin deutlich dargestellt worden –: VW in Niedersach- Garrelt Duin (SPD): sen hat eine besondere Historie. Davon abgeleitet, gibt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! es eine besondere politische Verantwortung, die die Re- Ich beginne mit einem Zitat aus der Zeit, das vom VW- gierungen ernst nehmen müssen. Das ist ein Grund da- Gesamtbetriebsratsvorsitzenden Bernd Osterloh stammt: für, dass es für Niedersachsen sinnvoll ist, eine – natür- Beim Zeitunglesen beschleicht mich oft das Gefühl, lich EuGH-konforme – Fortführung dieses Gesetzes dass es zwei Volkswagen-Konzerne geben müsse: vorzubereiten. Aber Sie stehen in der Pflicht, diesen Ent- hier den modernen Global Player, der im Jahr 2007 wurf dann hier auch zur Debatte zu stellen, damit wir die Marke von 6 Millionen Fahrzeugen geknackt uns damit auseinandersetzen können. – Das ist der eine und einen Vorsteuer-Gewinn von über 6,5 Milliar- Punkt. den Euro erwirtschaftet hat, da einen rückständigen, Der andere Punkt: Wir diskutieren hier vor dem Hin- in der niedersächsischen Provinz gefangenen Ko- tergrund einer aktuellen politischen Diskussion – deswe- loss, der sich mühsam über Wasser hält. Aber gen halte ich den Vergleich mit Nokia nicht für an den – so Osterloh weiter – Haaren herbeigezogen – und wissen, dass Standortverla- gerungen, die über die Interessen der Beschäftigten und es gibt nur einen Volkswagen-Konzern – und der ist der Standorte hinweggehen, nicht weiterhin zugelassen anders, als die medialen Zerrbilder ihn darstellen. werden können. Man wäre doch, ehrlich gesagt, etwas VW ist heute ein hochprofitabler und erfolgreicher (B) dumm, wenn man in Niedersachsen so etwas zuließe, zu- Fahrzeughersteller, der enorme Flexibilität mit ho- (D) mal andere Möglichkeiten bestehen. her Stabilität verbindet. Ich glaube, dass Osterloh mit den Worten Flexibilität (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dafür und Stabilität genau das beschreibt, was den VW-Kon- sorgt doch das Land!) zern bis heute ausmacht und auch in Zukunft ausmachen Noch ein Wort zu Porsche und der Unruhe, die ent- muss. standen ist: Ich teile nicht das Feindbild, das dort gegen- Dass dies so ist, ist in der Tat das Ergebnis eines VW- über Porsche aufgebaut wird, weil Porsche letzten Endes Gesetzes aus dem Jahr 1960, das sich bewährt hat. Kon- den Heuschrecken, vor denen Angst bestand, die Tür vor zernführung und Belegschaft konnten auf dieser Grund- der Nase zugeschlagen hat. lage erfolgreich arbeiten und in sehr kritischen Situatio- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: VW nen Alternativen zu Massenentlassungen entwickeln. Im freut sich über Porsches Beteiligung!) Laufe der Jahre haben sich sehr zukunftsfähige, von an- deren sehr aufmerksam beobachtete und zum Teil ko- Porsche hat hier Sicherheit hineingebracht. Aber das pierte Arbeits- und Tarifmodelle sowie eine beständige Verhalten der Porsche AG hat im letzten Jahr auch Un- Zukunftssicherung des Unternehmens entwickelt. Es ruhe in die Belegschaft hineingebracht, die sich die war immer eine Balance zwischen Wettbewerbsfähigkeit Frage stellen musste, wie es mit VW weitergehen werde. und ausreichend viel Beschäftigung. In diesem Zusammenhang brächte natürlich ein VW-Ge- Im Übrigen bin ich der Meinung – dies habe ich seiner- setz für Niedersachsen mehr Sicherheit. zeit auch schon im Europäischen Parlament vertreten –, Ich komme zum Schluss und sage hier ganz deutlich dass der freie Kapitalverkehr durch das VW-Gesetz nie an die Adresse der Bundesregierung und vor allem der wirklich behindert worden ist. Die Realität zeigt sehr Regierungsfraktionen: Klären Sie das Problem miteinan- deutlich, dass dies nicht der Fall gewesen ist. der und agieren Sie hier nicht so populistisch, wie es (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Herr Wulff in Niedersachsen auch gern tut. Genau!) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die Kanz- Allein, der EuGH ist aus zumindest juristisch nachvoll- lerin hat ein klares Wort gesprochen!) ziehbaren Gründen zu seiner Entscheidung gekommen. Wir sind ganz dicht bei Ihnen. Wir wollen eine europa- Bezüglich der Frage, ob man den EuGH kritisieren konforme Lösung, auch wenn sie nicht ganz einfach ist. darf oder nicht, will ich mich schlichtweg den Worten Wir werden uns zu gegebener Zeit damit auseinanderset- anschließen, die heute Morgen der Ministerpräsident von Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16603

Garrelt Duin (A) Rheinland-Pfalz zu diesem Thema gefunden hat. Natür- (Beifall bei der SPD) (C) lich hat man Respekt vor der Entscheidung des höchsten europäischen Gerichts. Das steht gar nicht zur Diskus- Setzen Sie sich also in Ihrer Fraktion durch! sion. Ich glaube aber, es ist schon erlaubt, über manche Entscheidungen, die dort getroffen werden, zu debattie- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das machen ren, insbesondere dann, wenn dort eine Abwägung zwi- wir!) schen Bürgerrechten und Kapitalfreiheit vorgenommen Sagen Sie dem Kollegen Glos, dass er nicht auf Zeit wird. Das sollten wir schon in aller Deutlichkeit kritisie- spielen soll, sondern dass wir Klarheit brauchen. Dann ren; wir sollten klarmachen, dass das nicht in unserem können wir gemeinsam an einem Strang ziehen. Das ist Sinne ist. das Entscheidende. Man darf nicht vergessen – das ist schon von meinen Ich glaube in der Tat, dass wir auf dem richtigen Weg Vorrednern gesagt worden –, dass Gegenstand des Ur- sind, indem wir ein EU-konformes Gesetz erarbeiten. teils des EuGH nicht das VW-Gesetz insgesamt war, Gleichwohl ist und bleibt es Bestandteil dieses VW-Ge- sondern dass es hier um einzelne Regelungen wie Ent- setzes – als Niedersachse will ich darauf noch einmal senderechte, Stimmrechtsbeschränkungen und das er- hinweisen –, dass das Land seine Mitwirkungsrechte si- höhte Mehrheitserfordernis ging. Nach dem EuGH ver- chern muss. Das Land Niedersachsen hätte nun aber sei- stoßen also das Entsenderecht sowie das Zusammenspiel nen Anteil, wie wir das immer wieder gefordert haben, von Stimmrechtsbeschränkungen und erhöhtem Mehr- schon vor zwei Jahren deutlich erhöhen müssen. Damals heitserfordernis gegen den im europäischen Recht veran- kosteten VW-Aktien nicht einmal ein Drittel des heuti- kerten freien Kapitalverkehr. Es ist jetzt unsere Aufgabe, gen Kurswertes. Dieses Versäumnis rächt sich jetzt. Das ein neues, EU-konformes VW-Gesetz auf den Weg zu Engagement des Ministerpräsidenten steht insbesondere bringen und somit die Entscheidung des EuGH in natio- vor dem Hintergrund, dass sein Wirtschaftsminister von nales Recht umzusetzen. den Liberalen mehrfach den Verkauf der Landesanteile Ich schließe mich den Worten von Herrn Grosse-Brö- gefordert hat, auf tönernen Füßen. mer, dass der Entwurf der Linkspartei dem von mir ge- rade formulierten Anspruch nur unzureichend gerecht (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Das ist wird, innerlich an. Ich bin davon überzeugt, dass der jetzt ja Kleinkram! – Georg Schirmbeck Entwurf, der im Hause von Brigitte Zypries, unserer [CDU/CSU]: Aber Herr Duin, wir Niedersach- Bundesjustizministerin, ausgearbeitet worden ist und sen müssen doch zusammenhalten! Sie können jetzt auf den Weg gebracht werden wird, der Entschei- uns doch jetzt nicht auseinanderreden!) dung des EuGH gerecht wird und wir dieser Lösung fol- – Wenn Sie sich da einig sind, ist ja alles wunderbar. (B) gen sollten. (D) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sagen Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einfach: Die Linie stimmt!) der CDU/CSU) Ich werde jedenfalls mit Interesse die zu Protokoll gege- Im Übrigen – das ist ja zumal aus sozialdemokratischer bene Rede von Herrn Brüderle zu diesem Thema lesen. Sicht nicht ganz unwichtig – findet dieser Entwurf auch Ich bin mir nicht sicher, ob die FDP mit uns Niedersach- die Zustimmung des VW-Gesamtbetriebsrates. sen wirklich an einem Strang ziehen wird. Die Sicherung von Standorten und Arbeitsplätzen bei VW ist von großer Bedeutung. An der Produktion dort (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wir hängen zahlreiche Arbeitsplätze, nicht nur in den Wer- gemeinsam!) ken – das ist schon gesagt worden –, sondern auch bei Ich glaube – ich will es noch einmal betonen –, der Ge- den Zulieferern. setzentwurf, der auf dem Weg ist, ist die richtige Ant- Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der heutigen wort auf die Entscheidung des EuGH. Lassen Sie uns ge- Hauptversammlung ist eines deutlich geworden: Die Be- meinsam daran arbeiten, dass er so schnell wie möglich schäftigten bei VW erwarten ein klares Bekenntnis der im Interesse der Beschäftigten von Volkswagen und des Politik zu den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. gesamten Konzerns Realität wird. Die Zeiten, die VW Ich bin davon überzeugt, dass der Gesetzentwurf, der vor sich hat – das hat man heute in Hamburg wieder sich auf dem Weg befindet, dieses Bekenntnis zum Aus- deutlich gesehen –, werden schwierig genug. Deswegen druck bringt. Ich würde mir wünschen, dass die Bundes- ist es aus unserer Sicht dringend notwendig, dass ein kanzlerin und die gesamte CDU/CSU-Fraktion EU-konformes Gesetz Realität wird. Lassen Sie es uns gemeinsam machen. Der Gesetzentwurf der Linkspartei (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Die gesamte ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Der Gesetz- Landesgruppe Niedersachsen!) entwurf der Bundesjustizministerin wird ein solcher sein. – nicht nur die Landesgruppe, sondern die gesamte CDU/CSU-Fraktion – diesem Entwurf uneingeschränkt Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. zustimmen; der Redner von der CDU/CSU hat diese Ab- sicht ja heute zum Ausdruck gebracht. Dann können wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nämlich sehr schnell zur Tat schreiten und wieder die Si- der CDU/CSU – Georg Schirmbeck [CDU/ cherheit und Stabilität schaffen, die die Beschäftigten zu CSU]: Bis auf kleine Schwächen war es eine Recht von uns erwarten. gute Rede!) 16604 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (C) Der Kollege Rainer Brüderle hat seine Rede zu Pro- NIS 90/DIE GRÜNEN tokoll gegeben.1) Damit schließe ich die Aussprache zu Fonds Ökowandel – Neues Wirtschaften mit diesem Tagesordnungspunkt. altem Geld – Der grüne Fonds aus den Rück- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- stellungen der Atomwirtschaft wurfs auf Drucksache 16/8449 an die in der Tagesord- – Drucksache 16/8220 – nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) ist die Überweisung so beschlossen. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Finanzausschuss Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Haushaltsausschuss Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Auch hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes ihre Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Joachim Pfeiffer, zu dem Abkommen vom 15. Dezember 2003 Rolf Hempelmann, Christoph Pries, Gudrun Kopp, über Politischen Dialog und Zusammenarbeit Hans-Kurt Hill und Hans-Josef Fell.3) zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der An- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf dengemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten Drucksache 16/8220 an die in der Tagesordnung aufge- (Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru und führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage Venezuela) andererseits federführend beim Ausschuss für Wirtschaft und Tech- nologie beraten werden soll. Sind Sie damit einverstan- – Drucksache 16/8654 – den? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überwei- Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- sung so beschlossen. gen Ausschusses (3. Ausschuss) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: – Drucksache 16/8908 – Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Berichterstattung: (18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- Abgeordnete Eduard Lintner nung Lothar Mark Dr. Werner Hoyer Technikfolgenabschätzung (TA) Wolfgang Gehrcke (B) Kerstin Müller (Köln) Industrielle stoffliche Nutzung nachwachsen- (D) der Rohstoffe Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kol- Sachstandsbericht zum Monitoring „Nach- leginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: wachsende Rohstoffe“ Eduard Lintner, Lothar Mark, Marina Schuster, Heike – Drucksache 16/7247 – Hänsel und Thilo Hoppe.2) Überweisungsvorschlag: Damit kommen wir gleich zur Abstimmung. Der Aus- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) wärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Rechtsausschuss lung auf Drucksache 16/8908, den Gesetzentwurf der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Bundesregierung auf Drucksache 16/8654 anzunehmen. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Ausschuss für Bildung, Forschung und wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Technikfolgenabschätzung Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Entwicklung FDP-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re- Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. den zu Protokoll gegeben: Professor Dr. Heinz Riesen- huber, Andrea Wicklein, Waltraud Wolff, Dr. Christel Dritte Beratung Happach-Kasan, Ulla Lötzer und Sylvia Kotting-Uhl.4) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Drucksache 16/7247 an die in der Tagesordnung aufge- Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe auch dazu ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zwei- keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so be- ten Beratung angenommen. schlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Jo- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- sef Fell, Dr. Gerhard Schick, Sylvia Kotting-Uhl, richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz

1) Anlage 10 3) Anlage 12 2) Anlage 11 4) Anlage 13 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16605

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Damit kommen wir zu den Tagesordnungspunk- (C) Antrag der Abgeordneten Dr. Christel Happach- ten25a und 25b: Kasan, Hans-Michael Goldmann, Jens Acker- mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute der FDP Koczy, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Fischartenschutz fördern – vordringliche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Maßnahmen für ein Kormoranmanagement Entwicklung in Afghanistan – Strategien für – Drucksachen 16/3098, 16/8218 – eine wirkungsvolle Aufbauarbeit kohärent Berichterstattung: umsetzen Abgeordnete Josef Göppel – Drucksache 16/8887 – Christoph Pries Angelika Brunkhorst Überweisungsvorschlag: Eva Bulling-Schröter Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Undine Kurth (Quedlinburg) Auswärtiger Ausschuss Die Kolleginnen und Kollegen Josef Göppel, Chris- Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe toph Pries, Dr. Christel Happach-Kasan, Eva Bulling- Schröter und Undine Kurth haben ihre Reden zu Proto- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika koll gegeben.1) Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt DIE LINKE in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8218, Afghanistan eine Chance für legalen lizenzier- den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3098 ten Mohnanbau geben – Drogenmafia wirk- abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- sam bekämpfen lung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- schlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Frak- – Drucksache 16/7525 – tionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen Überweisungsvorschlag: gegen die Stimmen der Fraktion der FDP bei Enthaltung Auswärtiger Ausschuss (f) der Fraktion Die Linke angenommen. Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 24 auf: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (B) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (D) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jel- Entwicklung pke, Diana Golze, Jörn Wunderlich, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE Auch hier wurde vereinbart, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Für die Rücknahme der Vorbehaltserklärung Eckart von Klaeden, Detlef Dzembritzki, Harald Leib- zur UN-Kinderrechtskonvention und eine – hier- recht, Heike Hänsel und Ute Koczy.3) von unabhängige – effektive Umsetzung der Kinderrechte im Asyl- und Aufenthaltsrecht Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen – Drucksache 16/8885 – auf den Drucksachen 16/8887 und 16/7525 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Überweisungsvorschlag: Sind Sie damit einverstanden? – Jawohl. Dann sind die Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Überweisungen so beschlossen. Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Damit sind wir am Ende unserer heutigen Tagesord- nung. – Ich sehe, Sie sind erleichtert ob der späten Zeit. Die Kolleginnen und Kollegen Johannes Singham- mer, Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Miriam Gruß, (Peter Hintze [CDU/CSU]: Nein, enttäuscht, Ulla Jelpke und Ekin Deligöz haben ihre Reden zu Pro- Frau Präsidentin!) tokoll gegeben.2) Ich wünsche Ihnen deshalb einen schönen Abend. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8885 an die in der Tagesordnung aufge- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- destages auf morgen, Freitag, 25. April 2008, 9 Uhr, ein. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Die Sitzung ist geschlossen. so beschlossen. (Schluss: 22.37 Uhr) 1) Anlage 14 2) Anlage 15 3) Anlage 16

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16607

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 entschuldigt bis Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) einschließlich

Steinbach, Erika CDU/CSU 24.04.2008 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Teuchner, Jella SPD 24.04.2008

Albach, Peter CDU/CSU 24.04.2008 Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 24.04.2008

Bierwirth, Petra SPD 24.04.2008 Anlage 2 Brähmig, Klaus CDU/CSU 24.04.2008 Antwort Bülow, Marco SPD 24.04.2008 der Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl auf die Frage des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dağdelen, Sevim DIE LINKE 24.04.2008 NEN) (156. Sitzung, Drucksache 16/8841, Frage 31): Dörmann, Martin SPD 24.04.2008 Wie viele bankaufsichtsrechtliche oder allgemeinauf- sichtsrechtliche Prüfberichte über die Kreditanstalt für Wie- deraufbau Bankengruppe (KfW) hat das Bundesministerium Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 24.04.2008 der Finanzen dem Verwaltungsrat der KfW seit 2000 vorge- Land), Axel E. legt, und was spricht dagegen, dass sich die KfW freiwillig der Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf- sicht (BaFin) unterstellt? Freitag, Dagmar SPD 24.04.2008 Das BMF übt über die KfW die Rechtsaufsicht gemäß Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 24.04.2008 § 12 KfW-Gesetz aus. Es hat dem Verwaltungsrat der KfW keine Prüfberichte oder Ähnliches vorgelegt, da Gleicke, Iris SPD 24.04.2008 die Rechtsaufsicht nicht durch den Verwaltungsrat wahr- (B) genommen wird. Die europarechtliche Bankenrichtlinie (D) Götz, Peter CDU/CSU 24.04.2008 RL 2006/48/EG bestimmt, dass es sich bei der KfW nicht um ein Kreditinstitut handelt. Die KfW ist daher kraft europäischen Rechts von der Regelung des nationa- Golze, Diana DIE LINKE 24.04.2008 len Kreditwesengesetzes (KWG) ausgenommen. Ent- sprechende europäische Regelungen gelten auch für ein- Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 24.04.2008 zelne andere Institute in den Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel die französische „Caisse des depot et consigna- Hajduk, Anja BÜNDNIS 90/ 24.04.2008 tions“. DIE GRÜNEN

Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 24.04.2008 Anlage 3

Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 24.04.2008 Erklärung nach § 31 GO DIE GRÜNEN der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sylvia Kotting- Ibrügger, Lothar SPD 24.04.2008 Uhl, Ute Koczy, Hans-Josef Fell, Peter Hettlich, Dr. Harald Terpe, Thilo Hoppe und Monika Klimke, Jürgen CDU/CSU 24.04.2008 Lazar (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 24.04.2008 eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 (Tagesordnungspunkt 3 a) Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 24.04.2008 DIE GRÜNEN Wir werden trotz einiger schwerwiegender Bedenken gegen einzelne Passagen des Vertragstextes dem Vertrag insgesamt zustimmen. Denn dieser Vertrag ist ein deutli- Schmidt (Nürnberg), SPD 24.04.2008 cher Fortschritt gegenüber dem Status quo. Für einen Renate besseren Vertrag oder gar eine europäische Verfassung gibt es derzeit leider keine Mehrheiten. Den Vertrag Schneider (Erfurt), SPD 24.04.2008 scheitern zu lassen hieße weiterzumachen mit den alten, Carsten von allen als unzulänglich bezeichneten Verträgen. 16608 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Zu den Stärken des Vertragswerkes zählen für uns die Diese gemeinsame Zukunft muss getragen sein von (C) folgenden Aspekte: Stärkung der nationalen Parlamente einer hohen Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger ge- und des EU-Parlamentes; soziale Verantwortung und So- genüber den europäischen Institutionen und ihrer Hand- lidarität; nachhaltige Entwicklung und Klimaschutz; un- lungen und Werte. Fehlende Akzeptanz führt zu einem bedingte Friedensverpflichtung; Anerkennung des UN- Größerwerden von Distanz zwischen Bürgern und denje- Völkerrechtes und der Menschenrechte; mehr Bürgerbe- nigen, die in deren Namen Macht ausüben. teiligung und Grundrechtecharta. Das zur Abstimmung stehende Gesetz zum Vertrag Im krassen Widerspruch zu den Friedenszielen der von Lissabon vom 13. Dezember 2007 weist leider er- EU stehen der Artikel zur Verbesserung der militäri- hebliche Mängel auf und wird deswegen bei den Bürgern schen Fähigkeiten, zu der sich die Unterzeichnerstaaten zu erheblichen Akzeptanzproblemen führen. Die Kom- verpflichten, und die vertraglich festgelegte Einrichtung petenzausweitung auf zahlreiche Politikfelder wie Wirt- einer neuen Rüstungsagentur. Beides hat in einem ver- schaftspolitik, Sozialpolitik, Gesundheitspolitik, Arbeits- fassungsähnlichen Vertragswerk nichts zu suchen. Auch recht, Zugang von Staatsangehörigen aus Drittstaaten das Fortbestehen des Euratom-Vertrages, der mit dem zum Arbeitsmarkt, Zuwanderung, Asyl, Industrie, For- neuen Vertrag überholt ist und zudem dem Nachhaltig- schung, Energie, Daseinsvorsorge, Katastrophenschutz, keitsprinzip eklatant widerspricht, ist zu kritisieren. Sport, Verwaltungsförderung, Tourismus, Aufbau eines Europäischen Auswärtigen Dienstes und vieles mehr Mit der Zustimmung zum Vertrag verbinden wir fol- ohne klare Kompetenzabgrenzung ist äußerst kritisch zu gende Erwartungen: Die EU muss Vorreiterin im Kampf sehen. Obwohl ein Großteil dieser Aufgaben ausreichend gegen Klimawandel werden und sich zu einer sozialen, von den Mitgliedstaaten erledigt wird und auch weiterhin ökologischen und wirklich friedenstiftenden EU entwi- erledigt werden könnte, wird eine Kompetenzverlage- ckeln, das heißt, sie sollte die Fähigkeiten zur zivilen rung bzw. -teilverlagerung auf die europäische Ebene Krisenprävention und zum Friedensaufbau verbessern festgeschrieben. Die fehlende Kompetenzabgrenzung wird und eine gemeinsame Friedens- und Außenpolitik entwi- zu einer weiteren Zentralisierungsdynamik der EU füh- ckeln; die Entscheidungsstrukturen für mehr Transpa- ren. renz und demokratische Beteiligung verbessern und das Parlament weiter stärken. Verstärkt wird diese Zentralisierungsdynamik da- durch, dass der Vertrag von Lissabon über das bisherige Dass dies auf der Grundlage eines neuen Vertrages EU-Recht hinaus Vorrang vor dem Recht der Mitglied- besser gelingen könnte als mit dessen Scheitern bewegt staaten, einschließlich der nationalen Verfassungen und uns zur Zustimmung. der in ihnen zum Ausdruck kommenden demokratisch- rechtsstaatlichen Ordnungssysteme, postuliert. Das Grund- (B) (D) gesetz steht damit zur Disposition der europäischen Or- Anlage 4 gane. Erklärungen nach § 31 GO Das in dem Vertrag von Lissabon festgeschriebene Prinzip der strikten gleichberechtigten Rotation zwi- zu den namentlichen Abstimmungen: schen Mitgliedstaaten bei der Besetzung der Kommis- sion führt dazu, dass Deutschland als größter Mitglied- – Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von staat periodisch nicht mehr in der Kommission vertreten Lissabon vom 13. Dezember 2007 sein wird. Dies ist umso bedauerlicher, als die Kommis- – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des sion einen erheblichen Zugewinn an Kompetenzen er- Grundgesetzes (Art. 23, 45 und 93) fährt. – Entwurf eines Gesetzes über die Ausweitung Die im Vertrag von Lissabon festgeschriebene Aus- und Stärkung der Rechte des Bundestages weitung der Beschlussfassung im Rat mit qualifizierter und des Bundesrates in Angelegenheiten der Mehrheit entzieht weitere Politikbereiche den Entschei- Europäischen Union dungsbefugnissen der Mitgliedstaaten, weil es auf deren Stimme nach dem Abschied vom Konsensprinzip zuguns- (Tagesordnungspunkt 3 a bis c) ten von Mehrheitsentscheidungen nicht mehr ankommt. Die eigenständige Kompetenz, auch zukünftig in immer weiteren Politikbereichen zum Mehrheitsprinzip überzu- Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Ich bin der festen gehen, reduziert zusätzlich die Entscheidungsbefugnisse Überzeugung, dass es aufgrund der besonderen histori- der nationalen Parlamente. schen Erfahrungen und der enormen zukünftigen He- rausforderungen zu einer möglichst engen Zusammenar- Die Tatsache, dass mittels einer Subsidiaritätskontrolle beit von Staaten innerhalb Europas keine Alternative gibt. durch nationale Parlamente die Einhaltung des Subsidia- Eine Europäische Union, aufgebaut auf den christlichen ritätsprinzips gewährleistet werden soll, ist ausdrücklich Werten, den Grundsätzen der sozialen Markwirtschaft, zu begrüßen. Dass dies in der praktischen Ausübung auf- dem Prinzip des Föderalismus und der kommunalen grund der knappen Fristen, der Quoren und der lediglich Selbstverwaltung, wird in einem hohen Maße zum Wohle daraus resultierenden Verpflichtung des Urhebers des aller Bürgerinnen und Bürger beitragen und könnte ein Rechtaktes, diesen zu überprüfen und seine Entscheidung tragfähiges Konzept für eine gemeinsame Zukunft Euro- zu begründen, kaum praktische Bedeutung haben wird, pas darstellen. ist bedauerlich. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16609

(A) In der Gesamtschau ist festzuhalten, dass der Vertrag rechtsstaatlichen Ordnungssysteme postuliert. Das Grund- (C) von Lissabon in der vorliegenden Form durch die Verla- gesetz steht damit zur Disposition der europäischen Or- gerung von Zuständigkeiten an die EU und durch die gane. Überführung von Entscheidungen weg von der Einstim- migkeit zur qualifizierten Mehrheit zu einer Schwä- Das in dem Vertrag von Lissabon festgeschriebene chung der nationalen Parlamente führt. Unbestritten ist Prinzip der strikten gleichberechtigten Rotation zwi- allerdings, dass der Vertrag gegenüber den bestehenden schen Mitgliedstaaten bei der Besetzung der Kommis- Verträgen auch Vorteile bietet. Die Europäische Union sion führt dazu, dass Deutschland als größter Mitglied- sollte sich allerdings in ihrem politischen Handeln auf staat periodisch nicht mehr in der Kommission vertreten diejenigen Aufgaben konzentrieren, die nur auf der euro- sein wird. Dies ist umso bedauerlicher, da die Kommis- päischen Ebene gelöst werden können. Der Vertrag von sion einen erheblichen Zugewinn an Kompetenzen er- Lissabon stellt dies nicht sicher. fährt. In Abwägung aller Argumente komme ich zu der Die im Vertrag von Lissabon festgeschriebene Aus- Überzeugung, dass der vorliegende Verfassungsvertrag weitung der Beschlussfassung im Rat mit qualifizierter gravierende Mängel aufweist. Deswegen kann ich die- Mehrheit entzieht weitere Politikbereiche den Entschei- sem Vertrag nicht zustimmen. dungsbefugnissen der Mitgliedstaaten, weil es auf deren Stimme nach dem Abschied vom Konsensprinzip zu- Herbert Frankenhauser (CDU/CSU): Ich bin der gunsten von Mehrheitsentscheidungen nicht mehr an- festen Überzeugung, dass es aufgrund der besonderen kommt. Die eigenständige Kompetenz, auch zukünftig historischen Erfahrungen und der enormen zukünftigen in immer weiteren Politikbereichen zum Mehrheitsprin- Herausforderungen zu einer möglichst engen Zusammen- zip überzugehen, reduziert zusätzlich die Entscheidungs- arbeit von Staaten innerhalb Europas keine Alternative befugnisse der nationalen Parlamente. gibt. Eine Europäische Union, aufgebaut auf den christli- Die Tatsache, dass mittels einer Subsidiaritätskon- chen Werten, den Grundsätzen der sozialen Marktwirt- trolle durch nationale Parlamente die Einhaltung des schaft, dem Prinzip des Föderalismus und der kommuna- Subsidiaritätsprinzips gewährleistet werden soll, ist aus- len Selbstverwaltung, wird in einem hohen Maße zum drücklich zu begrüßen. Dass dies in der praktischen Aus- Wohle aller Bürgerinnen und Bürger beitragen und übung aufgrund der knappen Fristen, der Quoren und der könnte ein tragfähiges Konzept für eine gemeinsame Zu- lediglich daraus resultierenden Verpflichtung des Urhe- kunft Europas darstellen. bers des Rechtaktes, diesen zu überprüfen und seine Ent- Diese gemeinsame Zukunft muss getragen sein von scheidung zu begründen, kaum praktische Bedeutung (B) einer hohen Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger ge- haben wird, ist bedauerlich. (D) genüber den europäischen Institutionen und ihren Hand- In der Gesamtschau ist festzuhalten, dass der Vertrag lungen und Werten. Fehlende Akzeptanz führt zu einem von Lissabon in der vorliegenden Form durch die Verla- Größerwerden von Distanz zwischen Bürgern und denje- gerung von Zuständigkeiten an die EU und durch die nigen, die in deren Namen Macht ausüben. Überführung von Entscheidungen weg von der Einstim- Das zur Abstimmung stehende Gesetz zum Vertrag migkeit zur qualifizierten Mehrheit zu einer Schwä- von Lissabon vom 13. Dezember 2007 weist leider er- chung der nationalen Parlamente führt. hebliche Mängel auf und wird deswegen bei den Bür- gern zu erheblichen Akzeptanzproblemen führen. Unbestritten ist allerdings, dass der Vertrag gegenüber den bestehenden Verträgen auch Vorteile bietet. Die Kompetenzausweitung auf zahlreiche Politikfel- der wie Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Gesundheits- Die Europäische Union sollte sich allerdings in ihrem politik, Arbeitsrecht, Zugang von Staatsangehörigen aus politischen Handeln auf diejenigen Aufgaben konzen- Drittstaaten zum Arbeitsmarkt, Zuwanderung, Asyl, In- trieren, die nur auf der europäischen Ebene gelöst wer- dustrie, Forschung, Energie, Daseinsvorsorge, Katastro- den können. Der Vertrag von Lissabon stellt dies nicht phenschutz, Sport, Verwaltungsförderung, Tourismus, sicher. Aufbau eines Europäischen Auswärtigen Dienstes und vieles mehr ohne klare Kompetenzabgrenzung ist äu- In Abwägung aller Argumente komme ich zu der ßerst kritisch zu sehen. Überzeugung, dass der vorliegende Verfassungsvertrag gravierende Mängel aufweist. Deswegen kann ich die- Obwohl ein Großteil dieser Aufgaben ausreichend sem Vertrag nicht zustimmen. von den Mitgliedstaaten erledigt wird und auch weiterhin erledigt werden könnte, wird eine Kompetenz(teil)verla- gerung auf die europäische Ebene festgeschrieben. Die Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU): Nach dem Schei- fehlende Kompetenzabgrenzung wird zu einer weiteren tern des EU-Verfassungsvertrages erklärte die Bundes- Zentralisierungsdynamik der EU führen. kanzlerin, dass für die zukünftige Integrationspolitik der Europäischen Gemeinschaft „ein Weniger ein Mehr“ Verstärkt wird diese Zentralisierungsdynamik da- sein werde. Dieser Vorgabe hätte entsprochen werden durch, dass der Vertrag von Lissabon über das bisherige können, wenn dem von den Regierungschefs als Ersatz EU-Recht hinaus Vorrang vor dem Recht der Mitglied- für den Verfassungsvertrag beschlossenen Lissabon- staaten einschließlich der nationalen Verfassungen und vertrag seitens des Deutschen Bundestages folgende der in ihnen zum Ausdruck kommenden demokratisch- Klarstellung vorgegeben worden wäre: 16610 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) 1. Dieser Vertrag führt nicht zum Übergang der Kom- gericht und überträgt die Kompetenz zur verbindlichen (C) petenzhoheit (Kompetenz-Kompetenz) von den Mit- Entscheidung aller das Verhältnis zwischen Europäi- gliedstaaten auf die Europäische Union. Deshalb behält scher Union und Mitgliedstaaten betreffenden Kompe- für die Bundesrepublik Deutschland das Bundesverfas- tenzfragen dem Gerichtshof der Europäischen Union. sungsgericht die Zuständigkeit, darüber zu entscheiden, Die letztentscheidende „Kompetenz-Kompetenz“ – ins- ob ein Rechtsakt der Europäischen Union die Grenzen besondere für den Schutz der Grundrechte – liegt daher der von den Mitgliedstaaten in den Verträgen erteilten künftig nicht mehr in Karlsruhe, sondern in Luxemburg. Ermächtigung überschritten hat. Deshalb kann auch das im Lissabon-Vertrag beschrie- bene „Subsidiaritätsprinzip“ die Kompetenzfülle der Eu- 2. Dieser Vertrag bewirkt nicht, dass die Europäische ropäischen Union nicht wirksam begrenzen; auch über Union den Status eines Bundesstaates erhält; sie bleibt die Tragweite dieses „Subsidiaritätsprinzips“ entscheidet ein Staatenverbund. der ausschließlich den EU-Vertragszielen verpflichtete 3. Dieser Vertrag darf nicht so ausgelegt werden, dass EU-Gerichtshof und nicht mehr das Bundesverfassungs- die Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland ihre gericht. Selbst das Verhältnis des EU-Gerichtshofes zum Staatlichkeit, wie sie nach dem Grundgesetz der Bundes- Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straß- republik Deutschland vorgegeben ist, verlieren. burg, bei dem Bundesbürger nach jahrelanger Verfah- rensdauer noch Schutz vor Willkürakten europäischer 4. Eigenmittelbeschlüsse nach Art. 311 des Vertrages Institutionen erstreiten könnten, ist völlig ungeklärt. über die Arbeitsweise der Europäischen Union bedürfen in Deutschland der Zustimmung in Form eines Zustim- III. Mit der vorbehaltlosen Zustimmung zum Vertrag mungsgesetzes. von Lissabon überschreitet der Bundestag die Grenzen der Integrationsermächtigung, die Art. 23 Abs. l GG for- Da die Abgabe einer solchen Erklärung innerhalb der muliert, und verstößt zugleich gegen unabänderliche regierenden Großen Koalition nicht durchgesetzt werden Verfassungsprinzipien im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG. konnte, kann ich aus folgenden Gründen weder dem Ver- Zu den unabänderlichen Verfassungsprinzipien gehört trag von Lissabon noch den Begleitgesetzen zustimmen: nämlich die souveräne Staatlichkeit der Bundesrepublik I. Während der Vertrag von Maastricht die Gemein- Deutschland. Diese wird aufgegeben, wenn – wie dies same Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Zu- im Vertrag von Lissabon geschieht – die Kompetenz- sammenarbeit in den Bereichen Innere Sicherheit und Kompetenz für die letztverbindliche Entscheidung über Justizpolitik als „zweite und dritte Säule“ zwar unter das den Umfang der Kompetenzen auf eine übernationale Dach der Europäischen Union stellte, aber nicht verge- Instanz übertragen wird. Eine solche Entscheidung meinschaftete, sondern auf der Ebene der „intergouver- könnte nur das Volk kraft seiner verfassunggebenden (B) (D) nementalen“ Kooperation beließ, erhebt der Vertrag von Gewalt – durch Volksabstimmung – treffen, nicht aber Lissabon die Europäische Union zur Rechtspersönlich- der verfassungsgebundene Gesetzgeber. keit auf der Ebene des Völkerrechts und vergemein- IV. Zu den unabänderlichen Verfassungsprinzipien schaftet die bisherige „dritte Säule“. Die Außen- und Si- der Bundesrepublik Deutschland und der deutschen Län- cherheitspolitik einschließlich der Verteidigungspolitik und der Durchführung militärischer Missionen, insbe- der gehört das Demokratieprinzip: Alle Staatsgewalt sondere „Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewälti- muss vom Volke ausgehen. Auch dieses Prinzip wird gung“ und militärische Terrorismusbekämpfung in Dritt- durch den Vertrag von Lissabon verletzt. Das Bundes- staaten, gehören nach dem neuen Vertrag ebenso zu den verfassungsgericht hatte im Maastricht-Urteil entschie- Aufgaben der Europäischen Union wie Terrorismusbe- den, dass im europäischen Staatenverbund nur dann eine kämpfung im Innern, Asyl- und Einwanderungspolitik, hinreichende demokratische Legitimation gegeben sei, Angleichung von Rechtsvorschriften im Zivilrecht und wenn diese maßgeblich von den Völkern der Mitglied- Erlass von „Mindestvorschriften“ im Strafrecht oder staaten ausgehe und wenn auf der Ebene der Mitglied- Strafverfolgung durch Staatsanwaltschaft und Polizei. staaten den Parlamenten Entscheidungsbefugnisse von Durch diese vorbehaltslose Konzentration von Macht hinreichendem substanziellen Gewicht verblieben. Bei- wird der europäische Staatenbund in einen kontinentalen des ist nach dem Vertrag von Lissabon nicht mehr der Zentralstaat verwandelt. Fall: Die Entscheidungsbefugnisse der nationalen Parla- mente werden ausgehöhlt, und die auf europäischer II. Diese neue Europäische Union des Vertrages von Ebene getroffenen Entscheidungen können nicht mehr Lissabon beansprucht über das bisherige EU-Recht hi- hinreichend von den Völkern der Mitgliedstaaten – über naus, dass ihr Recht – nicht nur ihr im Vertrag von Lissa- deren Regierungsvertreter im Rat – legitimiert werden, bon formuliertes faktisches „Verfassungsrecht“, sondern weil es auf deren Stimme nach dem Abschied vom Kon- auch jede Richtlinie und Verordnung – Vorrang vor dem sensprinzip zugunsten von Mehrheitsentscheidungen Recht der Mitgliedstaaten, einschließlich deren Verfas- nicht mehr ankommt. Durch die Entleerung der Hoheits- sungsrecht, hat. Damit ist für die Deutschen der letztver- gewalt der Bundesrepublik Deutschland wird vor allem bindliche Schutz des Grundgesetzes und der Schutz der auch das Grundrecht jedes Bürgers aus Art. 38 GG ver- Länderverfassungen durch die deutsche Exekutive und letzt, durch seine Teilnahme an der Bundestagswahl an die deutsche Gerichtsbarkeit zur Disposition gestellt be- der demokratischen Legitimation der regierenden Ho- ziehungsweise beseitigt. Die vorbehaltlose Zustimmung heitsgewalt mitzuwirken und die Träger dieser Hoheits- zu diesem Vertrage entmachtet nicht nur die gewählte gewalt nicht nur wählen, sondern auch abwählen zu kön- Volksvertretung, sondern auch das Bundesverfassungs- nen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16611

(A) V. Dieser Verlust an demokratischer Legitimation druck verfochten werden wird. Denn die parlamentari- (C) wird durch die dem Europäischen Parlament zuerkann- sche Minderheit führt nicht selbst den Prozess; die Pro- ten zusätzlichen Mitentscheidungsrechte nicht annä- zessführung obliegt nach § 3 V des Begleitgesetzes dem hernd kompensiert. Eine europäische Demokratie könnte Bundestag, der seinerseits durch den Bundestagspräsi- nur von einem europäischen Staatsvolk ausgehen, das denten handelt. Dadurch wird der positiv zu beurteilende auf der Basis der demokratischen Gleichheit ein Parla- Minderheitenschutz in der Praxis erheblich relativiert. ment wählt, welches nach Wahlverfahren und Entschei- dungszuständigkeiten im Unterschied zum Europäischen Parlament diesen Namen wirklich verdient. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich bin der festen Über- zeugung, dass es aufgrund der besonderen historischen VI. Im Übrigen sind auch die Begleitgesetze mit dem Erfahrungen und der enormen zukünftigen Herausforde- Demokratieprinzip unvereinbar: rungen zu einer möglichst engen Zusammenarbeit von Staaten innerhalb Europas keine Alternative gibt. Eine a.) Nach Art. 48 Abs. 7 EUV i.d.F. des Vertrages von Europäische Union, aufgebaut auf den christlichen Wer- Lissabon kann der Europäische Rat beschließen, zur ten, den Grundsätzen der sozialen Markwirtschaft, dem Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit überzugehen, Prinzip des Föderalismus und der kommunalen Selbst- wo bisher nach den Verträgen Einstimmigkeit vorgese- verwaltung, wird in einem hohen Maße zum Wohle aller hen ist. Ein solcher Beschluss kann die noch verbliebe- Bürgerinnen und Bürger beitragen und könnte ein tragfä- nen Einflussmöglichkeiten der nationalen Parlamente higes Konzept für eine gemeinsame Zukunft Europas nochmals erheblich mindern. Der Sache nach geht es bei darstellen. Beschlüssen nach Art. 48 Abs. 7 EUV um Änderungen der EU-Verträge, für die normalerweise ein Zustim- Diese gemeinsame Zukunft muss getragen sein von mungsgesetz erforderlich ist und die hier im vereinfach- einer hohen Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger ge- ten Verfahren („Brückenklausel“) beschlossen werden. genüber den europäischen Institutionen und ihren Hand- Die Rechte der nationalen Parlamente werden dabei lungen und Werten. Fehlende Akzeptanz führt zu einem durch das Recht zur Ablehnung der Initiative insofern Größerwerden von Distanz zwischen Bürgern und denje- noch gewahrt. Dieses nach dem Vertrag dem Bundestag nigen, die in deren Namen Macht ausüben. zustehende Recht wird aber durch das Ausführungsge- setz weitgehend beseitigt, denn in Bezug auf viele Mate- Das zur Abstimmung stehende Gesetz zum Vertrag rien ist nach diesem Gesetz die Ablehnung des Bundes- von Lissabon vom 13. Dezember 2007 weist leider er- tages unbeachtlich, wenn der Bundesrat anderer hebliche Mängel auf und wird deswegen bei den Bür- Auffassung ist. Dies ist umso gravierender, als sich die gern zu erheblichen Akzeptanzproblemen führen. (B) im Wege der ,Brückenklausel beschlossenen Vertragsän- (D) derungen innerstaatlich als Verfassungsänderungen aus- Die Kompetenzausweitung auf zahlreiche Politikfel- wirken. Dass solche Änderungen ohne Zustimmung und der wie Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Gesundheits- sogar gegen den erklärten Willen des Bundestages statt- politik, Arbeitsrecht, Zugang von Staatsangehörigen aus finden können, ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Drittstaaten zum Arbeitsmarkt, Zuwanderung, Asyl, In- dustrie, Forschung, Energie, Daseinsvorsorge, Katastro- b.) Politisch ist es sicherlich zu begrüßen, dass die phenschutz, Sport, Verwaltungsförderung, Tourismus, Rechte der parlamentarischen Minderheit gesichert wer- Aufbau eines Europäischen Auswärtigen Dienstes und den sollen, indem ein Viertel der Mitglieder des Bundes- vieles mehr ohne klare Kompetenzabgrenzung ist äu- tages eine Subsidiaritätsklage initiieren kann. Dieses be- ßerst kritisch zu sehen. Obwohl ein Großteil dieser Auf- rechtigte Anliegen wird jedoch in verfassungswidriger gaben ausreichend von den Mitgliedstaaten erledigt wird und perplexer Weise verwirklicht: Eine Minderheit kann und auch weiterhin erledigt werden könnte, wird eine den Bundestag verpflichten, Klage zu erheben, obwohl Kompetenz(teil)verlagerung auf die europäische Ebene die große Mehrheit dies nicht will. Die Klage wird also festgeschrieben. Die fehlende Kompetenzabgrenzung nicht – wie es im Rahmen unserer verfassungsrechtli- wird zu einer weiteren Zentralisierungsdynamik der EU chen Organklage geregelt ist – von der Minderheit erho- führen. ben, sondern vom gesamten Bundestag gegen seinen Willen. Dies ist mit dem demokratischen Mehrheitsprin- Verstärkt wird diese Zentralisierungsdynamik da- zip nicht vereinbar und verstößt auch gegen das Prinzip durch, dass der Vertrag von Lissabon über das bisherige der repräsentativen Demokratie. Das Volk wird vom EU-Recht hinaus Vorrang vor dem Recht der Mitglied- Bundestag im Ganzen nach Maßgabe des Mehrheitsprin- staaten einschließlich der nationalen Verfassungen und zips repräsentiert. Wenn der Wille einer parlamentari- der in ihnen zum Ausdruck kommenden demokratisch- schen Minderheit nach außen als der Wille des Parla- rechtsstaatlichen Ordnungssysteme postuliert. Das ments dargestellt wird, verstößt dies gegen das Grundgesetz steht damit zur Disposition der europäi- demokratische Repräsentationsprinzip. Da das Demo- schen Organe. kratieprinzip zu den nach Art. 79 III GG unabänderli- chen Verfassungsprinzipien gehört, nützt es auch nichts, Das in dem Vertrag von Lissabon festgeschriebene daß Art. 23 GG entsprechend geändert werden soll. Prinzip der strikten gleichberechtigten Rotation zwi- schen Mitgliedstaaten bei der Besetzung der Kommis- Außerdem führt diese Regelung dazu, dass auf der an- sion führt dazu, dass Deutschland als größter Mitglied- deren Seite im Verfahren vor dem EU-Gerichtshof der staat periodisch nicht mehr in der Kommission vertreten Wille der parlamentarischen Minderheit nicht mit Nach- sein wird. Dies ist umso bedauerlicher, da die Kommis- 16612 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) sion einen erheblichen Zugewinn an Kompetenzen er- gern zu erheblichen Akzeptanzproblemen führen. Die (C) fährt. Kompetenzausweitung auf zahlreiche Politikfelder wie Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Gesundheitspolitik, Ar- Die im Vertrag von Lissabon festgeschriebene Aus- beitsrecht, Zugang von Staatsangehörigen aus Drittstaa- weitung der Beschlussfassung im Rat mit qualifizierter ten zum Arbeitsmarkt, Zuwanderung, Asyl, Industrie, Mehrheit entzieht weitere Politikbereiche den Entschei- Forschung, Energie, Daseinsvorsorge, Katastrophen- dungsbefugnissen der Mitgliedstaaten, weil es auf deren schutz, Sport, Verwaltungsförderung, Tourismus, Auf- Stimme nach dem Abschied vom Konsensprinzip zu- bau eines Europäischen Auswärtigen Dienstes und vieles gunsten von Mehrheitsentscheidungen nicht mehr an- mehr ohne klare Kompetenzabgrenzung ist äußerst kri- kommt. Die eigenständige Kompetenz, auch zukünftig tisch zu sehen. Obwohl ein Großteil dieser Aufgaben in immer weiteren Politikbereichen zum Mehrheitsprin- ausreichend von den Mitgliedstaaten erledigt wird und zip überzugehen, reduziert zusätzlich die Entscheidungs- auch weiterhin erledigt werden könnte, wird eine Kom- befugnisse der nationalen Parlamente. petenz(teil)verlagerung auf die europäische Ebene fest- Die Tatsache, dass mittels einer Subsidiaritätskon- geschrieben. Die fehlende Kompetenzabgrenzung wird trolle durch nationale Parlamente die Einhaltung des zu einer weiteren Zentralisierungsdynamik der EU füh- Subsidiaritätsprinzips gewährleistet werden soll, ist aus- ren. drücklich zu begrüßen. Dass dies in der praktischen Aus- Verstärkt wird diese Zentralisierungsdynamik da- übung aufgrund der knappen Fristen, der Quoren und der durch, dass der Vertrag von Lissabon über das bisherige lediglich daraus resultierenden Verpflichtung des Urhe- EU Recht hinaus Vorrang vor dem Recht der Mitglied- bers des Rechtaktes, diesen zu überprüfen und seine Ent- staaten, einschließlich der nationalen Verfassungen und scheidung zu begründen, kaum praktische Bedeutung der in ihnen zum Ausdruck kommenden demokratisch- haben wird, ist bedauerlich. rechtsstaatlichen Ordnungssysteme postuliert. Das In der Gesamtschau ist festzuhalten, dass der Vertrag Grundgesetz steht damit zur Disposition der europäi- von Lissabon in der vorliegenden Form durch die Verla- schen Organe. gerung von Zuständigkeiten an die EU und durch die Überführung von Entscheidungen weg von der Einstim- Das in dem Vertrag von Lissabon festgeschriebene migkeit zur qualifizierten Mehrheit zu einer Schwä- Prinzip der strikten gleichberechtigten Rotation zwi- chung der nationalen Parlamente führt. schen Mitgliedstaaten bei der Besetzung der Kommis- sion führt dazu, dass Deutschland als größter Mitglied- Unbestritten ist allerdings, dass der Vertrag gegenüber staat periodisch nicht mehr in der Kommission vertreten den bestehenden Verträgen auch Vorteile bietet. sein wird. Dies ist umso bedauerlicher, da die Kommis- sion einen erheblichen Zugewinn an Kompetenzen er- (B) Die Europäische Union sollte sich allerdings in ihrem (D) fährt. politischen Handeln auf diejenigen Aufgaben konzen- trieren, die nur auf der europäischen Ebene gelöst wer- Die im Vertrag von Lissabon festgeschriebene Aus- den können. Der Vertrag von Lissabon stellt dies nicht weitung der Beschlussfassung im Rat mit qualifizierter sicher. Mehrheit entzieht weitere Politikbereiche den Entschei- In Abwägung aller Argumente komme ich zu der dungsbefugnissen der Mitgliedstaaten, weil es auf deren Überzeugung, dass der vorliegende Verfassungsvertrag Stimme nach dem Abschied vom Konsensprinzip gravierende Mängel aufweist. Deswegen kann ich die- zugunsten von Mehrheitsentscheidungen nicht mehr an- sem Vertrag nicht zustimmen! kommt. Die eigenständige Kompetenz, auch zukünftig in immer weiteren Politikbereichen zum Mehrheitsprin- zip überzugehen, reduziert zusätzlich die Entscheidungs- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Aufgrund der be- befugnisse der nationalen Parlamente. sonderen historischen Erfahrungen und der enormen zu- künftigen Herausforderungen gibt es zu einer möglichst Die Tatsache, dass mittels einer Subsidiaritätskon- engen Zusammenarbeit von Staaten innerhalb Europas trolle durch nationale Parlamente die Einhaltung des keine Alternative. Eine Europäische Union, aufgebaut Subsidiaritätsprinzips gewährleistet werden soll, ist aus- auf den christlichen Werten, den Grundsätzen der sozia- drücklich zu begrüßen. Dass dies in der praktischen Aus- len Markwirtschaft, dem Prinzip des Föderalismus und übung aufgrund der knappen Fristen, der Quoren und der der kommunalen Selbstverwaltung, wird in einem hohen lediglich daraus resultierenden Verpflichtung des Urhe- Maße zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger beitra- bers des Rechtsaktes, diesen zu überprüfen und seine gen und kann ein tragfähiges Konzept für eine gemein- Entscheidung zu begründen, kaum praktische Bedeutung same Zukunft Europas darstellen. haben wird, ist bedauerlich. Voraussetzung dafür ist eine hohe Akzeptanz der Bür- In der Gesamtschau ist festzuhalten, dass der Vertrag gerinnen und Bürger gegenüber den europäischen Insti- von Lissabon in der vorliegenden Form durch die Verla- tutionen und ihren Handlungen und Werten. Die Distanz gerung von Zuständigkeiten an die EU und durch die zwischen Bürgern und denjenigen, die in deren Namen Überführung von Entscheidungen weg von der Einstim- Macht ausüben, darf sich nicht weiter vergrößern. migkeit zur qualifizierten Mehrheit zu einer Schwä- chung der nationalen Parlamente führt. Das zur Abstimmung stehende Gesetz zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 weist leider er- Unbestritten ist allerdings, dass der Vertrag gegenüber hebliche Mängel auf und wird deswegen bei den Bür- den bestehenden Verträgen auch Vorteile bietet. Die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16613

(A) Europäische Union sollte sich allerdings, in ihrem politi- schlechter und was besser, wenn die Verträge angenom- (C) schen Handeln auf diejenigen Aufgaben konzentrieren, men werden? die nur auf der europäischen Ebene gelöst werden kön- nen. Der Vertrag von Lissabon stellt dies nicht sicher. Und da sieht das Ergebnis anders aus. Viele der kriti- sierten Inhalte sind schon heute auch nicht besser gere- Ein Parlamentsbeteiligungsgesetz, wie von mir be- gelt, sondern finden sich seit langem in geltenden EU- reits bei der Abstimmung über den Europäischen Verfas- Verträgen und der Praxis. Die Verträge bringen sogar sungsentwurf eingefordert, wurde lediglich durch eine wesentliche Verbesserungen, wie die Grundrechtecharta abgeschwächte Vereinbarung ersetzt. Ein Gesetz, das die und erheblich mehr Rechte für das EU-Parlament und Mitwirkung des Deutschen Bundestages umfassend si- die nationalen Parlamente. Und die Todesstrafe wird chert – und damit die demokratische Rückbindung euro- durch die EU-Verträge nun wirklich nicht in Deutsch- päischer Entscheidungen –, existiert bisher nicht. Ob land eingeführt und das kann auch in Zukunft nicht pas- diese Mängel über den Zeitablauf zu beheben sind, wird sieren. sich zeigen. Ich bedauere, dass meine Fraktion mich und die weiteren Kritiker überstimmt hat. 1. Kaum verständliche und unübersichtliche Vertrags- texte Marion Seib (CDU/CSU): Auch nach genauem Stu- Richtig ist, dass die vorgelegte Fassung der Verträge dium des Antrags der Fraktionen CDU/CSU und SPD auch für Juristen schwer lesbar und kaum verständlich für die 59. Sitzung des Ausschusses für die Angelegen- ist. Auch ist alles sehr unübersichtlich. Erst spät, erst in heiten der Europäischen Union zu TOP 5a muss ich fest- diesen Tagen wurde eine konsolidierte Fassung online stellen, dass mit dem Vertrag von Lissabon zentrale gestellt. Das ist bedauerlich und zu kritisieren, weil da- Strukturen geschaffen werden, die ich als überzeugte Fö- mit die Diskussion über den Text unnötig erschwert deralistin nicht gutheißen kann. Der Antrag beinhaltet wurde. nach meiner Auffassung leider nicht die notwendige Verbindlichkeit zur Sicherung der Subsidiarität. Dies 2. Verträge sind keine Verfassung entmachtet unser nationales Parlament. Der Vertrag ist keine Verfassung. Damit ist die Es werden Strukturen geschaffen, die auch bei wech- Rechtsqualität auch eine andere. Ich war und bin der selnden politischen Mehrheiten Bestand haben und so Meinung, dass über eine EU-Verfassung eine Volksab- gut wie unmöglich rückgängig zu machen sein werden. stimmung in allen Ländern der EU stattfinden sollte. Die Als Beispiel sei nur die unterschiedliche Stimmenge- Notwendigkeit einer Legitimation durch eine Volksab- wichtung der Sitze im Europäischen Parlament genannt. stimmung sehe ich beim jetzigen Vertragsbündel weni- Dass Fragen der Daseinsvorsorge nur europäisch zu lö- (B) ger zwingend als bei der EU-Verfassung. Trotzdem wäre (D) sen sein werden, wage ich ebenfalls zu bezweifeln. ich dafür, auch hierüber die Völker in einem Referen- Seit Jahrzehnten bin ich als überzeugte Föderalistin dum entscheiden zu lassen. Dass dies nicht geschieht, tätig. Ich bin überzeugt, dass unsere Demokratie auch kritisiere ich. deshalb so stabil ist, weil viele Entscheidungen durch den föderalen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland 3. Bessere Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundesta- von den unterschiedlichsten Ebenen und Entscheidungs- ges trägern getroffen werden und deshalb einen einbinden- den Charakter haben. Wenn ich nun an dieser Stelle a. Ich habe damals gefordert, dass die EU-Verfassung meine tiefe Überzeugung aufgeben soll, würde ich nicht verabschiedet werden sollte, ohne dass vorher die meine bisherige Tätigkeit zur Stärkung des Föderalismus Mitwirkung des Bundestages bei der zukünftigen Recht- krass entwerten. setzung in Europa umfassend und vollständig durch Ge- setz geregelt wird. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Diese Forderung ist inzwischen erfüllt. Der Bundes- NEN): Der Vertrag von Lissabon ist in der Substanz mit tag hat ein solches Gesetz rechtzeitig verabschiedet, das dem Verfassungsvertrag weitgehend identisch. Kritik, auch deutliche Verbesserungen für die Mitwirkungsmög- wie sie beispielsweise von attac und der französischen lichkeit des Bundestages gegenüber dem bisherigen Linken an Teilen der EU-Verfassung 2005 geäußert Stand enthält. wurde, ist nach wie vor schwerwiegend und in einigen Danach wirken Bundestag sowie Bundesrat in Ange- Punkten berechtigt. Dazu gehört, dass die Staaten Euro- legenheiten der Europäischen Union mit. Die Bundesre- pas zur militärischen Aufrüstung verpflichtet, militäri- gierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend sche Missionen ohne UN-Mandat nicht generell ausge- und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten. Sie schlossen und viele Elemente einer neoliberalen gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung für Europa fest- ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäi- schrieben werden. schen Union und muss die Stellungnahmen bei ihren Ver- Es wäre sicher besser, die Verträge sähen anders aus. handlungen berücksichtigen. Die Bundesregierung muss Vieles wäre noch wünschenswert. Allerdings sollte eine im Rat sogar einen Parlamentsvorbehalt einlegen, wenn Beurteilung der EU-Verträge sich nicht nur am Wün- der Beschluss des Bundestages in seinen wesentlichen schenswerten orientieren, sondern am Vergleich mit der Belangen nicht durchsetzbar ist. In einer weitreichenden heutigen Rechts- und Vertragslage, also: Was wird Vereinbarung über die Zusammenarbeit von Bundestag 16614 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) und Bundesregierung in Angelegenheiten der Europäi- Kommission auffordern, einen Rechtsetzungsakt vorzu- (C) schen Union werden diese Rechte konkretisiert. Damit legen (Art. 192, 2 EGV). hat der Bundestag mehr Möglichkeiten als bisher, sich frühzeitig einzuschalten und auf die europäische Recht- Mit der EU-Bürgerinitiative wird erstmals ein direkt- setzung Einfluss zu nehmen, eine Verbesserung des bis- demokratisches Element in die EU eingeführt. Damit herigen Rechtszustandes. können 1 Million EU-Bürger und -bürgerinnen die Kom- mission einladen, zu einem bestimmten Bereich einen b. Die Verträge schaffen noch das Recht auf Subsidia- Gesetzesvorschlag vorzulegen. ritätskontrolle, die Subsidiaritätsrüge und die Subsidiari- tätsklage. 6. Bindung an VN-Charta Es stimmt nicht, dass die Verträge die VN-Charta aus- 4. Mehr soziale Rechte als im Grundgesetz hebeln. Im Gegenteil, durch den Vertrag wird die EU In der Grundrechtecharta ist zum ersten Mal in der ausdrücklich auf die „Wahrung der Grundsätze der Geschichte der Europäischen Union in einem einzigen Charta der Vereinten Nationen“ festgelegt. Damit muss Text die Gesamtheit der bürgerlichen, politischen, wirt- die EU „internationale Streitigkeiten durch friedliche schaftlichen und sozialen Rechte der europäischen Bür- Mittel so beizulegen, dass der Weltfriede, die internatio- ger sowie aller im Hoheitsgebiet der Union lebenden nale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet Personen zusammengefasst. werden“ (Artikel 2 Absatz 3 UN-Charta). Es ist keineswegs so, dass Grundrechtecharta und Ver- In Artikel 2 (5) EUV wird festgeschrieben: träge ausschließlich eine neoliberale Wirtschaftsordnung „In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und festschreiben und damit Errungenschaften des Grundge- fördert die Union ihre Werte und Interessen und trägt setzes aufgeben werden. Ganz im Gegenteil enthalten die zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger bei. Sie leistet Verträge Forderungen nach sozialer Gestaltung und nach einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhalti- sozialer Gerechtigkeit, die über das hinausgehen, was im ger Entwicklung, Solidarität, insbesondere zur Wahrung Grundgesetz steht. der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.“ Richtig ist, die Verträge enthalten die Festschreibung Damit werden nicht nur zivile und militärische Fähig- des „Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit keiten auf eine Stufe gestellt, sondern auch die gesamte freiem Wettbewerb“, aber auch das Bekenntnis, die EU Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik an wirkt auf „eine in hohem Maße wettbewerbsfähige so- die Charta der Vereinten Nationen gebunden. ziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und so- (B) zialen Fortschritt abzielt“ … „Sie bekämpft soziale Aus- 7. Aufrüstungsverpflichtung (D) grenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung Gegen die Bestimmung des Art. 28a EUV (3), wo- von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den nach sich die Mitgliedstaaten „verpflichten (…), ihre mi- Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Sie litärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ und fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen eine „Agentur für die Bereiche Entwicklung der Vertei- Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mit- digungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüs- gliedstaaten“ (Art. 2, Abs. 3 EUV). Und nach der sozia- tung Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und mi- len Querschnittsklausel müssen alle Rechtsakte künftig litärische Fähigkeiten“ einzurichten, habe ich erhebliche auf ihre Sozialverträglichkeit hin überprüft werden Bedenken. Als das noch im Entwurf zu einer EU-Verfas- (Art. 5a AEUV): „Bei der Festlegung und Durchführung sung stand, war ich darüber empört und habe ich mich ihrer Politik und ihrer Maßnahmen trägt die Union den heftig dagegen gewandt, weil eine solche Aufgabe in ei- Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung ei- ner Verfassung auch wegen des hohen Symbolgehalts nes hohen Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleis- nichts zu suchen hat und auch politisch abzulehnen ist. tung eines angemessenen sozialen Schutzes, mit der Be- Nun steht es nicht mehr in einer Verfassung, sondern in kämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem einem Vertrag. Ich halte es gleichwohl weiter für falsch hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und nicht vertretbar. und des Gesundheitsschutzes Rechnung.“ Allerdings bildet diese Bestimmung nur die Realität nach, denn die Agentur wurde bereits im Jahr 2004 auf 5. Mehr Mitwirkungsrechte für EU-Parlament der rechtlichen Grundlage des bestehenden EU-Vertrags eingerichtet und wird also nicht mit dem Vertrag von Die Verträge machen die EU demokratischer, transpa- Lissabon neu geschaffen. Sie ist die Nachfolgeorganisa- renter und effizienter. So wird das bisherige „Mitent- tion der Beschaffungsagentur OCCAR, der Westeuropäi- scheidungsverfahren“ zum ordentlichen Gesetzgebungs- schen Rüstungsorganisation WEAG und der Westeuro- verfahren in der EU. Das heißt, dass das EU-Parlament päischen Rüstungsgruppe WEAO. und der Ministerrat in 95 Prozent der Europäischen Ge- setzgebung zum gleichberechtigten Gesetzgeber werden. Eine ,Aufrüstungsverpflichtung“ wurde bisher nie Das EU-Parlament kann in Zukunft hierbei nicht nur daraus hergeleitet und sollte auch in Zukunft daraus nicht über das abstimmen, was die EU-Kommission vorgelegt entnommen werden. Die „Verbesserung“ wurde bisher hat, sie kann gravierende Änderungen bewirken. Auch eher als Effektivierung angesehen. Umfang und Ausstat- heute schon können die Mitgliedstaaten und das EP die tung der Streitkräfte sowie die Höhe der Militäretats wer- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16615

(A) den weiterhin im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten Aus diesen Gründen werde ich die Gesetzentwürfe (C) bleiben. Außerdem wird jede Regierung für sich in An- nicht ablehnen. spruch nehmen, dass sie bereits in der Vergangenheit ihre militärischen Fähigkeiten „schrittweise“ verbessert habe und dies auch in Zukunft „schrittweise“ tun werde. Anlage 5 Ich halte diese Bestimmung gleichwohl weiter für po- Erklärung litisch falsch und nicht für vertretbar. des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über 8. Keine Einführung der Todesstrafe die Nr. 2 der Beschlussempfehlung des Aus- schusses für die Angelegenheiten der Europäi- Die Europäische Menschenrechtskonvention wird schen Union zu dem Entwurf eines Gesetzes übernommen. Sie stammt aus dem Jahr 1950. Seit den zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 50er-Jahren ist sie in der Bundesrepublik bereits in Kraft (Tagesordnungspunkt 3 a, Drucksache 16/8917) und unmittelbar geltendes Recht, also überhaupt nicht neu. Sie enthält viele wichtige Garantien von Menschen- Ich erkläre im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die und Verfahrensrechten. Sie lässt tatsächlich unter be- Grünen, dass unser Votum „Nein“ lautet. stimmten Umständen die Todesstrafe zu. Dies war der Kompromiss zu diesem Punkt, der damals zum Zeit- punkt der Erarbeitung der EMRK, als es in mehr Län- Anlage 6 dern noch die Todesstrafe gab, erreicht werden konnte. Erklärung Dies war jedoch für andere Staaten wie die Bundesrepu- blik inakzeptabel. Daher sind dann in der Folge zwei Zu- des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND- satzprotokolle zur EMRK verfasst worden, mit denen NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über die Todesstrafe unter allen Bedingungen abgeschafft die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses wird. Dabei handelt es sich um das 6. und das 13. Zu- Übersicht 10 über die dem Deutschen Bundes- satzprotokoll. Deutschland und eine Zahl der Europa- tag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundes- ratsmitglieder haben diese beiden Protokolle unterzeich- verfassungsgericht (Tagesordnungspunkt 36 b, net und ratifiziert. Damit haben sie sich zu einem Drucksache 16/8791) höheren Schutz verpflichtet, als von der EMRK vorgese- hen. Durch Art. 102 Grundgesetz ist die Todesstrafe ab- Ich erkläre im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die geschafft. Eine Wiedereinführung wäre nicht nur mit Grünen, dass unser Votum „Ja“ lautet. (B) diesem Artikel, sondern auch mit Art. 1 Grundgesetz (D) nicht zu vereinbaren. Anlage 7 Resümee: Zu Protokoll gegebene Reden Durch den Vertrag von Lissabon wird die bisherige zur Beratung Rechts- und Vertragslage und die daraus entwickelte po- – Entwurf eines Gesetzes zur Gewährleistung litische Praxis in Deutschland nicht wesentlich ver- angemessener Arbeitsbedingungen für grenz- schlechtert. Die geltenden EU-Verträge von Maastricht überschreitend entsandte und für regelmä- bis Nizza sind nicht besser, sondern in einigen Punkten ßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer wesentlich schlechter, weil die sozialen Rechte bei ihnen und Arbeitnehmerinnen (Arbeitnehmer- noch viel mehr hinten anstehen, weil sie keine Grund- Entsendegesetz – AEntG) rechtecharta und weit geringere Rechte für das Europäi- sche Parlament enthalten. Militärische Aufrüstung und – Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Ände- gemeinsame Militäreinsätze der EU-Staaten finden nach rung des Gesetzes über die Festsetzung von geltendem Vertragsrecht genauso statt, wie sie nach dem Mindestarbeitsbedingungen (Erstes Min- Lissabon-Vertrag stattfinden können. Das geltende Ver- destarbeitsbedingungen-Änderungsgesetz – tragsrecht verhindert offensichtlich nicht einmal die Be- 1. MiArbGÄndG) teiligung an Angriffskriegen ohne UN-Mandat, wie sich (Tagesordnungspunkte 14 a und b) an der Teilnahme einzelner EU-Staaten am Irakkrieg zeigt. Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Der einge- Eine durchaus wünschenswerte Verbesserung des brachte Gesetzesentwurf lässt sich nur durch die Opposi- Vertrages von Lissabon ist nicht in Sicht. Neue Verhand- tionsrolle der Grünen erklären. Man muss konstatieren, lungen würden eher zu einer Reduzierung der sozialen dass ihr Ideenreichtum anscheinend leider erschöpft ist. Rechte führen. Das Grundgesetz wird durch die Verträge Der vorgelegte Text ist eine schlichte Kopie des Refe- in seinem wesentlichen Gehalt nicht abgeschafft, vor al- rentenentwurfes aus dem Hause des Bundesarbeitsminis- lem die Grundrechtsgarantien bleiben voll und einklag- ters Scholz. Es ist schön, dass die Arbeit der Bundesre- bar in Kraft. Das gilt auch für das allgemeine Völker- gierung so genau von den Grünen verfolgt wird, aber wir recht. Militärische Einsätze der Bundeswehr bedürfen halten den Sachverhalt für so wichtig, dass wir ihn auch weiterhin der Zustimmung des Bundestages. innerhalb der Koalitionsfraktionen und im Rahmen des 16616 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) normalen und sorgfältigen Gesetzgebungsverfahrens be- Tarifausschuss zu befassen. Innerhalb von drei Monaten (C) arbeiten werden. nach Veröffentlichung des Antrages im Bundesanzeiger gibt der Tarifausschuss zu dem Antrag sein Votum ab. Die Grünen müssten das wissen, da sie ja in der letz- Stimmt der Tarifausschuss der Allgemeinverbindlich- ten Legislaturperiode selbst an der Regierung waren. In keitserklärung zu, gilt der Mindestlohn für alle In- oder diesem Zusammenhang verblüfft auch die plötzliche Ausländer. Gibt der Tarifausschuss innerhalb der Frist Eile. Unter Rot-Grün hat man sich bei der Frage von kein Votum über den Antrag ab, kann das Mindestlohn- Mindestlohnstrukturen bekanntlich nicht so viel vorge- Verordnungsverfahren durchgeführt werden. Ein Min- nommen, um bei diesem Thema inhaltlich voranzukom- destlohn-Verordnungsverfahren kann auch durchgeführt men. Wir wollen das besser machen, weswegen wir uns werden, wenn der Tarifausschuss mit drei zu drei ab- sehr intensiv mit der Problematik, die dem Bestreben der stimmt oder die Allgemeinverbindlicherklärung mit Koalition zugrunde liegt, beschäftigten. Nicht über- zwei zu vier abgelehnt hat. Die entsprechenden Verord- stürzt, dafür mit Sorgfalt. Der Referentenentwurf und nungen werden auf Vorschlag des BMAS vom Bundes- damit der von den Grünen vorgelegte Text ist dabei nur kabinett erlassen. der erste gute Entwurf, der im parlamentarischen Verfah- ren noch „ausreifen“ muss. Für den Fall konkurrierender Tarifverträge in einer Was ist die Grundlage für die von uns geplanten Än- Branche werden dem Verordnungsgeber durch Gesetz derungen? Wir haben bereits im Koalitionsvertrag fest- Kriterien vorgegeben, die eine an den Sachgründen des gehalten, dass es generell Handlungsbedarf bei der Gesetzeszwecks ausgerichtete Entscheidung sicherstel- Lohnfindung gibt. Wir wissen, dass es Probleme in man- len. Ferner wird entsprechend den Vorgaben des europäi- chen Branchen und Regionen gibt: Billiglohnkonkurrenz schen Rechts im Gesetzestext klargestellt, dass die Min- aus dem Ausland, Dumpinglöhne, ruinöse Konkurrenz destlohntarifverträge ausnahmslos für alle in- und aus- für arbeitsintensive mittelständische Betriebe. Dabei ha- ländischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindlich ben wir uns das Ziel gesetzt, den Arbeitnehmern Sicher- sind. Die Kontrolle soll wie bisher durch die Behörden heit zu geben und gleichzeitig Arbeitsplätze nicht zu ge- der Zollverwaltung erfolgen. fährden. Das zweite und nachrangige Instrument ist die Aktua- Die Koalition hat deswegen Mitte des letzten Jahres lisierung des Mindestarbeitsbedingungengesetzes von beschlossen, dass wir die unbestreitbar vorhandenen 1952 zu einem Gesetz für Mindestlöhne für bestimmte Probleme durch zwei Instrumente eindämmen möchten. Bereiche. Dabei geht die Koalition von der Beobachtung Über der Idee steht generell der Gedanke: Vorfahrt für aus, dass es zunehmend Wirtschaftszweige oder einzelne die Tarifparteien! Die Tarifparteien, Gewerkschaften und Regionen gibt, in denen es entweder keine Tarifverträge (B) Arbeitgeberverbände sind die entscheidenden Akteure gibt oder eine Tarifbindung nur für eine Minderheit der (D) auf diesem Feld. Der Staat sollte sich im Sinne der Sub- Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber besteht. Um in die- sidiarität aus der Lohnfindung heraushalten und nur für sen Bereichen Mindestlöhne zu setzen, wird das Gesetz die notwendigen Rahmenbedingungen sorgen. Das ma- über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen chen wir mit dem sogenannten Entsendegesetz und der aus dem Jahr 1952 gangbar gemacht und auf aktuellen Aktualisierung des Mindestarbeitsbedingungengesetzes Stand gebracht. von 1952 zu einem Gesetz für Mindestlöhne für be- Es ist vorgesehen, dass ein Hauptausschuss dauerhaft stimmte Bereiche. eingerichtet wird. Es ist seine Aufgabe festzustellen, ob Worum geht es bei diesen Instrumenten? Vorrangig Mindestlöhne als Mindestarbeitsbedingungen festgesetzt greift das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Wie es schon werden müssen. Ein Fachausschuss wird jeweils für die für den Bau umgesetzt wurde, so wurde beispielsweise betroffene Branche gebildet. Er legt fest, wie hoch der das Entsendegesetz auf die Gebäudereiniger ausgewei- Mindestlohn im konkreten Fall sein soll. tet. Dies haben wir auf den ausdrücklichen Wunsch der Die Zusammensetzung und Verfahren von Haupt- und Tarifparteien, der Arbeitgeber und Gewerkschaften, in Fachausschuss werden modernisiert und entbürokrati- die Wege geleitet. Die Koalition hat nun zudem verein- siert, um schnelle und sachgerechte Lösungen zu ermög- bart, dass Branchen mit einer Tarifbindung von mindes- lichen. Der Hauptausschuss setzt sich aus sechs unabhän- tens 50 Prozent das Angebot erhalten, in das Arbeitneh- gigen Experten zusammen, die in der Lage sind, mer-Entsendegesetz aufgenommen zu werden und umfassend die ökonomischen und sozialen Auswirkun- tarifliche Mindestlöhne zu vereinbaren. Voraussetzung gen von Mindestarbeitsbedingungen einzuschätzen. ist ein gemeinsamer Antrag von Tarifvertragsparteien Hinzu kommt ein unparteiischer Vorsitzender mit Stimm- der betreffenden Branche bis zum Stichtag 31. März recht, der von den Mitgliedern des Hauptausschusses be- 2008. Dies ist geschehen. Das Gesetzgebungsverfahren stimmt wird. Erfolgt keine Einigung auf einen Vorsitzen- zur Aufnahme dieser Branchen wurde nach Ablauf des den, erfolgt die Benennung durch das Bundeskabinett auf Stichtages unverzüglich eingeleitet. Eine spätere Auf- Vorschlag des BMAS. Die Fachausschüsse als Gremien nahme von Branchen wird hierdurch aber nicht ausge- der betroffenen Branchen werden so zusammengesetzt, schlossen. dass sich divergierende Einzelinteressen nicht blockieren Zudem gilt: Wird im Geltungsbereich des Arbeitneh- und zu einem guten Ergebnis führen. Jeder Fachaus- mer-Entsendegesetzes von einer Branche erstmals ein schuss besteht aus sechs Beisitzern, die je zur Hälfte den Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarif- Kreisen der beteiligten Arbeitnehmer und Arbeitgeber vertrages gestellt, so ist mit diesem Antrag zunächst der angehören. Hinzu kommt ein unparteiischer Vorsitzender Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16617

(A) mit Stimmrecht, der von beiden Seiten bestimmt wird. für Arbeitnehmer. Ja, wir treten ein für faire Wettbe- (C) Bei Nichteinigung bestimmt den Vorsitzenden das Bun- werbsbedingungen für die Unternehmen. Ja, wir möch- deskabinett auf Vorschlag des BMAS. Den von einem ten auf diese Art die Befriedungsfunktion der Tarifauto- Fachausschuss vorgeschlagener Mindestlohn kann auf nomie bewahren. Ja, wir wollen eine Regelung für den Vorschlag das BMAS durch eine entsprechende Verord- Fall konkurrierender Tarifabschlüsse finden. Ja, wir glau- nung des Bundeskabinetts festgesetzt werden. ben, dass die Relevanz des tarifschließenden Arbeitge- berverbandes und der Organisationsgrad der tarifschlie- Außerhalb von Tarifverträgen sind die Vorgaben der ßenden Gewerkschaft hier ein wichtiges Kriterium ist. Ja, Verordnung für alle in- und ausländischen Arbeitnehmer wir begrüßen, dass fiskalische Interessen des Staates Be- zwingend und unabdingbar. Für die Konkurrenz zu be- achtung finden sollten. Ja, wir wollen, dass in Vollzeit stehenden Tarifverträgen werden durch Gesetz Kriterien beschäftigte Arbeitnehmer für ihren Lebensunterhalt für eine Vorrangentscheidung vorgegeben, die eine an ohne ergänzende Hartz-IV-Leistungen auskommen kön- den Sachgründen des Gesetzeszwecks ausgerichtete Ent- nen. Ja, wir wollen, dass der Gesetzgeber Mindestlöhne scheidung sicherstellen. Eine Diskriminierung von In- für solche Branchen festlegen kann, in denen es weniger und Ausländern findet nicht statt. als 50 Prozent tarifgebundene Mitarbeiter gibt. Ganz generell liegt das Augenmerk der Koalition aber All dies ist uns Sozialdemokraten schon seit langem auf der Förderung und Verstärkung des derzeitigen Auf- ein Anliegen. schwungs – denn wirtschaftliches Wachstum kann ent- scheidend zu der Verhinderung von niedrigen Löhnen Die Grünen können beruhigt sein: All dies wird von beitragen. uns auch schon seit einiger Zeit gesetzgeberisch voran- getrieben. Schon am 18. Juni 2007 hat der Koalitions- Denn es gilt: Wenn es mehr Wachstum gibt, dann gibt ausschuss vereinbart, das AEntG und das Mindestar- es mehr Arbeit! Wenn es mehr Arbeit gibt, dann gibt es beitsbedingungsgesetz zu novellieren. Schon auf der bessere Löhne! Kabinettsklausur in Meseberg am 23./24. August 2007 Unbestreitbar ist das Sozialproduktwachstum im All- hat sich die Bundesregierung dahin gehend verständigt, gemeinen, die Produktivitätszunahme im Besonderen, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz zu erweitern, wenn ein Orientierungswert ersten Ranges für Lohnverhand- die Tarifpartner einen entsprechenden Antrag stellen. lungen. Die Große Koalition darf sich anrechnen, an den Schon am 11. Januar 2008 hat Bundesminister Olaf Verbesserungen dieser Schlüsselgrößen der Volkswirt- Scholz zwei Gesetzesentwürfe in die Ressortabstim- schaft großen Anteil zu haben (siehe beispielsweise das mung gegeben. 25-Milliarden-Programm). Die 1,7 Millionen Arbeitslo- Diese beiden Entwürfe haben die Koalitionsbe- (B) sen weniger im Vergleich zum Jahr 2005 sind da doch schlüsse eins zu eins umgesetzt. Wir halten sie nach wie (D) ein schon schöner Erfolg. Damit verbessern sich die vor für großartig. Sie sind dazu angetan, Mindestlöhne in Rahmenbedingungen für die Integration von Langzeitar- jeder Branche entweder auf der Grundlage des einen beitslosen und für angemessene Löhne. oder des anderen Gesetzes festzulegen. Nochmals – die Ziele sind klar: ausländische Anbieter Mit den Grünen wollen wir für eines unserer Kernan- müssen eingebunden werden; Dumpinglöhne müssen liegen sorgen: menschenwürdige Bezahlung für gute Ar- verhindert werden; es darf kein System entstehen, das beit. Die Grünen haben beim Abschreiben wenigstens Menschen in die Arbeitslosigkeit drängt; wir brauchen Geschmack und ein Auge für Qualität bewiesen. Aber eine praktikable und realitätsnahe Lösung. Sie beweisen leider auch ein schlechtes Gespür für das Timing. Die SPD verteidigt ihre Mindestlohnpläne seit Mehr Spielraum für bessere Löhne und die dargestell- Monaten gegen viele Widerstände. Wir parieren erhobe- ten Änderungen für tarifliche Mindestlöhne – das sind nen Hauptes juristische Tricks, statistische Zahlenspiele- zwei, wie ich finde, ausgezeichnete Stränge, um den reien, Pseudogewerkschaften, konservative Häme und Bürgern in Deutschland zu helfen. andere Störfeuer. Ein Blick auf die aktuellen Entwicklungen bestärkt Anette Kramme (SPD): „Alter Wein in neuen Schläuchen“, so nennt man das, was Sie uns heute prä- uns in diesem Vorgehen. Am 31. März 2008, dem vo- sentieren. Ihre beiden Anträge kommen mir sehr bekannt rübergehend festgesetzten Stichtag, haben insgesamt vor. Seien wir froh, dass wir die Schulbank seit ein paar acht Branchen ihr Interesse an der Aufnahme ins AEntG Jahren hinter uns gelassen haben. Sonst hieße es jetzt: kundgetan. Mit der Zeitarbeit, den Pflegediensten, dem Note Sechs wegen Abschreibens. Ein wohlmeinender Wach- und Sicherheitsgewerbe, der Abfallwirtschaft, Lehrer würde vielleicht noch enttäuscht hinzufügen: Das den industriellen Großwäschereien, der Weiterbildungs- hätte ich nicht von euch gedacht! branche, den forstlichen Dienstleistungen und dem Berg- bau wollen insgesamt rund 1,5 Millionen Beschäftigte Inhaltlich ist an den von Ihnen eingebrachten Entwür- tarifvertragliche Mindestlöhne gesetzlich absichern. fen zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz sowie zum Min- Dies zeigt uns zweierlei: destarbeitsbedingungsgesetz natürlich nichts auszuset- zen. Das BMAS hat, wie üblich, gute Arbeit geleistet. Zum einen haben die Menschen tatsächlich ein Inte- Inhaltlich teilen wir natürlich auch die genannten Forde- resse an Mindestlöhnen. 1,5 Millionen Arbeitnehmer rungen und Ziele: Ja, wir sind für die Schaffung und wollen künftig davon profitieren, und sogar über 70 Pro- Durchsetzung angemessener Mindestarbeitsbedingungen zent der Bevölkerung geben in Umfragen an, dass für sie 16618 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Mindestlöhne eine Frage fundamentaler Gerechtigkeit seit Goethes Zauberlehrling: Die Geister, die man rief, (C) sind. wird man so schnell nicht wieder los. Zum anderen sehen wir auch, dass bisher jeder ein- Das Scholz-Projekt liegt jetzt auf Eis, weil die Union zelne Schritt auf dem Weg zu Mindestlöhnen gemäß den Widerstandskräfte mobilisiert hat. Nachdem sie bei den Koalitionsvereinbarungen gegangen wurde. Ich gehe Postdienstleistern dem Mindestlohn die Tür geöffnet und selbstverständlich davon aus, dass dies auch weiterhin so das Postmonopol mit anderen Mitteln festgeschrieben der Fall sein wird. hat, möchte sie das Kampfthema nicht weiter verfolgen. Deshalb sind jetzt die Grünen in die Bresche gesprungen Dass unser Koalitionspartner hier „zum Jagen getra- und legen die Gesetzentwürfe vor, auf die sich die Re- gen“ werden musste, ist zwar bedauerlich, aber letztlich gierung nicht einigen konnte. Das macht die Sache aber egal. nicht besser. Wir erwarten von der Union Vertragstreue. Wir ver- Wir Liberalen bleiben dabei: Mindestlöhne sind ma- lassen uns auf die Aussage von Herrn Pofalla. Er wird ximaler Unsinn. Wir lehnen eine Ausdehnung des Ar- im Handelsblatt vom 28. Februar 2008 mit den Worten beitnehmer-Entsendegesetzes und Forderungen nach ge- zitiert: setzlichen Mindestlöhnen ab. Die letzte Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes war ein Instrument, um Die Beschlüsse sind in keiner Weise infrage ge- das Monopol der Deutschen Post zu zementieren und un- stellt. Ganz im Gegenteil. Wir werden beide Ele- liebsame Konkurrenz auszuschalten. Ich will noch ein- mente dieses Konzepts umsetzen. Das ist erstens mal daran erinnern: Die Löhne bei den privaten Dienst- die Erweiterung des Entsendegesetzes. Hier geht es leistern sind niedriger, weil die Post nicht 19 Prozent darum, unfairen Lohnwettbewerb aus dem Ausland Mehrwertsteuer zahlen muss. Diesen Wettbewerbsvor- zu verhindern. Und wir werden zweitens das Min- teil können Private gar nicht aufholen. destarbeitsbedingungsgesetz konkretisieren, damit es künftig auch in Branchen mit geringer oder gar Ein Mindestlohn gefährdet Arbeitsplätze, wie wir es keiner Tarifbindung Mindestlöhne geben kann. … ja in der Folge auch bei den Briefdienstleistern gesehen haben. Die Leidtragenden sind diejenigen, die ihre Ar- Wir stehen zu den vernünftigen Beschlüssen des beitsplätze verloren haben, weil sie zu den neuen Min- Koalitionsausschusses in dieser Frage. destlöhnen nicht mehr beschäftigt werden können. Mein Kollege Volker Wissing hat beim Arbeitsministerium Das klingt doch alles sehr vielversprechend. Der Pro- nachgefragt und die kühle Antwort bekommen, dass bei zess der Mindestlohngesetzgebung ist schon seit einiger den Briefdienstleistern seit Januar 57 Unternehmen mit (B) Zeit ins Rollen gekommen. Genau aus diesem Grund rund 5 700 Arbeitsplätzen aufgegeben haben. (D) halte ich eine Zustimmung zu den vorliegenden Anträ- gen heute für obsolet. Wie konnte es so weit kommen? Schwarz-Rot malt immer noch ein Bild des Schreckens: Billiganbieter aus den Beitrittsstaaten überschwemmen das Land und ge- Dirk Niebel (FDP): Arbeitsminister Olaf Scholz will fährden Arbeitsplätze für deutsche Arbeitnehmer. Mindestlöhne. Aber das Angebot an die Branchen, sich in das Entsendegesetz aufnehmen zu lassen, war ein Gern werden andere Länder mit Mindestlöhnen wie Flop. Nach Ablauf der Frist Ende März hatten sich statt Frankreich und Großbritannien als Beispiele für deren der erwarteten zehn bis zwölf Branchen nur sieben mit Notwendigkeit aufgeführt. Dieser Vergleich ist falsch. nur circa 1,43 Millionen Beschäftigten gemeldet. Und in Andere Faktoren wie die unterschiedliche soziale Siche- der Zeitarbeitsbranche sind längst nicht alle Arbeitgeber- rung werden nicht in den Vergleich einbezogen. Wir verbände und Gewerkschaften für gesetzliche Mindest- brauchen in Deutschland keinen Mindestlohn. In löhne, da sie eigene Tarifverträge abgeschlossen haben. Deutschland sorgen die sozialen Sicherungssysteme, ins- Die sollen nun ausgehebelt werden, die Unternehmen besondere das Arbeitslosengeld II, für ein sozio-kultu- werden in Geiselhaft genommen. Diese Branche, die relles Existenzminimum. Das ist der gesetzlich festge- derzeit maßgeblich am Aufschwung bei den sozialversi- legte faktische Mindestlohn, der zum Teil über cherungspflichtigen Beschäftigungen beteiligt ist, würde gesetzlichen Mindestlöhnen in anderen Ländern liegt. bei Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zweifel- Darunter gibt es keine Anreize, einen Job in der legalen los in ihren Wachstumschancen zurückgeworfen. Damit Wirtschaft anzunehmen. Für einfach qualifizierte Ar- sinken auch die Beschäftigungschancen der Arbeitneh- beitslose lohnen sich gering bezahlte Tätigkeiten nicht, mer. weil sie damit kaum mehr verdienen können, als ihnen ohnehin als Transferleistung zusteht. Tarifverträge bringen die unterschiedlichen Interessen der Parteien in Einklang. Das ist mitunter schwierig, wie Wir brauchen mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt erst kürzlich im öffentlichen Dienst und bei der Bahn und nicht noch mehr staatliche Vorgaben. Wenn gesetzli- wieder gezeigt wurde. Aber es ist Aufgabe der Tarifver- che oder tarifliche Mindestlöhne eingeführt werden, tragsparteien, sich zu einigen. Wenn sie bei der Erfül- heißt das, dass eine Tätigkeit oder eine Dienstleistung ei- lung ihrer Aufgabe versagen, ist der Ruf nach dem Staat nen Mindestpreis kostet. Wenn die Leistung diesen Preis keine Alternative. Wer es unterstützt, dass der Staat sich nicht wert ist, wird die Leistung zumindest legal nicht massiv bei der Lohnfindung einmischt, läutet das Ende mehr nachgefragt. Derzeit sind Arbeitskräfte mit gerin- der Tarifautonomie ein. Denn das weiß man spätestens ger Produktivität vom Arbeitsmarkt praktisch ausge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16619

(A) schlossen. Das sind vor allem Geringqualifizierte und Keinem Mann und keiner Frau – es sind vor allem (C) Langzeitarbeitslose. Sie haben kaum Aussichten auf eine Frauen, die zu Armutslöhnen arbeiten – wäre damit ge- neue Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt. Dabei ha- dient, wenn Tariflöhne von 3,50 Euro oder 4 Euro zu ben wir bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Mindestlöhnen erklärt würden. Im Gegenteil: Dann be- Sozialhilfe beschlossen, dass gerade diese Zielgruppe käme Lohndumping auch noch den Segen des Gesetzge- schnellstmöglich und dauerhaft in den ersten Arbeits- bers. markt integriert werden soll. Und seit Hartz IV ist für Deshalb muss – egal wie das Gesetz letztendlich Arbeitslose jede legale Arbeit zumutbar. Dann müssen heißt – an erster Stelle die Festlegung einer allgemeinen aber auch angemessene Arbeitsplätze zur Verfügung ste- Lohnuntergrenze erfolgen. Ein Mindestlohn muss so hen. Das wird mit einer Lohnuntergrenze nicht erreicht. hoch sein, dass er bei einer Vollzeitarbeit für ein aus- Wenn dann kein ausreichendes Einkommen für den kömmliches Einkommen sorgt, das heißt, er muss die Lebensunterhalt erwirtschaftet werden kann, müssen die Existenz sichern. Nur so wird Armut trotz Arbeit wirk- Einkünfte durch Transferleistungen ergänzt werden. Das sam verhindert. ist zum Beispiel die Linie unseres Bürgergeldmodells. Der deutsche Gesetzgeber hat bereits mit der Pfän- Hier erhält der Arbeitnehmer einen direkten Steuerzu- dungsfreigrenze eine Lohnuntergrenze definiert. Sie liegt schuss. Das Mindesteinkommen muss gesichert sein, derzeit bei rund 1 000 Euro. Hätten wir in Deutschland nicht ein Mindestlohn. einen Mindestlohn von 8,44 Euro pro Stunde wie in Frankreich, würde bei einer Vollzeitarbeit – 38,5 Stunden Es gab schon immer Erwerbstätige, deren Einkom- pro Woche – einen Nettolohn ermöglicht, der mindestens men vom Staat ergänzt wurde, zum Beispiel durch So- auf der Höhe der Pfändungsfreigrenze läge. Die Höhe zialhilfe oder Wohngeld. In der Sendung Kontraste des Mindestlohns ist also entscheidend. wurde am 10. April 2008 aus einer Studie des DIW be- richtet, dass viele, die aufgrund der Größe ihrer Bedarfs- Um das zu erkennen, braucht es keine Beratung der gemeinschaft ihre Einkünfte mit Arbeitslosengeld II auf- vorliegenden Gesetzentwürfe hier im Plenum. stocken, gar nicht von einem Mindestlohn von 7,50 Euro Was wir brauchen, ist ein Gesetz, das, erstens, einen profitieren würden. 50 Prozent der 479 000 vollzeitbe- allgemeinverbindlichen gesetzlichen Mindestlohn fest- schäftigten Aufstocker haben einen Stundenlohn von setzt und das, zweitens, den Tarifparteien ermöglicht, neun oder mehr Euro. Insgesamt liegen zwei Drittel der Branchenmindestlöhne abzuschließen, die über dem ge- Aufstocker über 7,50 Euro. Höchstens 15 000 alleinste- setzlichen Mindestlohn liegen. Meine Fraktion hat dazu hende Erwerbstätige können wegen eines zu geringen einen Vorschlag unterbreitet. Dem haben sich bisher alle Stundenlohns nicht von ihrem Vollzeitjob leben. Und im (B) Fraktionen, auch die der Grünen, verweigert. Stattdessen (D) Baugewerbe stocken 42 000 Bauarbeiter trotz Mindest- bringen sie jetzt Gesetzentwürfe ein, mit denen der zweite lohn mit Arbeitslosengeld II auf. Schritt vor dem ersten gemacht werden soll. Die Experten des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts Nur in einem flexiblen Arbeitsmarkt können Unter- des DGB haben auf das Manko dieses Vorgehens aus- nehmen schnell auf neue Wettbewerbsverhältnisse re- drücklich hingewiesen. agieren. Wir brauchen Öffnungsklauseln für betriebliche Bündnisse. Damit sind maßgeschneiderte Lösungen zur Ich zitiere: Sicherung von Arbeitsplätzen und zur Verhinderung von Zu erwarten ist …, dass zahlreiche Lücken bleiben, Arbeitslosigkeit möglich. Wir brauchen eine Wachs- wenn nicht systematisch und flächendeckend für tumspolitik, und wir brauchen einen funktionsfähigen alle in Betracht kommenden Niedriglohnbranchen Niedriglohnsektor. Die Löhne müssen sich an der Pro- Verfahren in Gang gesetzt werden. duktivität orientieren. Darum müssen die wirtschaftli- chen Rahmenbedingungen so gesetzt werden, dass vor- Das Fazit der Wissenschaftler, dem sich auch der handene Arbeitsplätze gesichert und wieder mehr DGB angeschlossen hat, lautet: Arbeitsplätze im Inland geschaffen werden. Die erwartbaren Regelungslücken werden auch in Deutschland dafür sorgen, dass eine universelle Lö- Werner Dreibus (DIE LINKE): Es ist ein legitimes sung im Sinne eines allgemeinen, branchenübergrei- Verfahren, wenn die Opposition die Koalition an ihre ei- fenden Mindestlohns auf der Tagesordnung bleibt. genen Vereinbarungen erinnert und sich dazu auch der Gesetzentwürfe der Regierung bedient. Im konkreten Mit meinen Worten: Die Gesetzentwürfe von Minister Fall springt die grüne Fraktion jedoch zu kurz, viel zu Scholz, die die grüne Fraktion hier zur Debatte stellt, sind nicht auf der Höhe der Zeit. Nur ein gesetzlicher kurz. Denn mit der Umsetzung der beiden Gesetzent- Mindestlohn ist in der Lage, für alle Beschäftigten bei würfe würde das wesentliche Ziel einer Gesetzgebung Vollzeitarbeit Armut zu verhindern und die entspre- für Mindestlöhne gerade nicht erreicht. chende Transparenz und dadurch auch Kontrolle herzu- Wir wollen doch nicht, dass lediglich die untersten stellen. Tariflöhne vom Gesetzgeber zu Mindestlöhnen erklärt werden. Wir wollen, dass Mindestlöhne festgesetzt wer- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den, von denen die Menschen leben können. Davon aber Seit Mitte letzten Jahres läuft bei der großen Koalition ist in den Gesetzentwürfen keine Rede. unter der Regie von Kanzlerin Merkel der Mindestlohn 16620 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) als eine Mischung aus Schmierenkomödie und Trauer- dem Arbeitsministerium eine Grundlage. Darum stellen (C) spiel und entwickelt sich, insbesondere für die Betroffe- wir sie hier zur Debatte. Natürlich ist das nicht eins zu nen, immer mehr zum Drama. eins grüne Mindestlohnpolitik. Wir Grüne setzten – das ist bekannt – auf branchen- und regionalspezifische Min- Im Koalitionsausschuss wurde im Juni 2007 ein Min- destlöhne und auf das britische Modell einer Mindest- destlohnverfahren festgelegt, damit zukünftig auch in lohnkommission. Das kann aber alles im Rahmen der Deutschland Lohndumping effektiv verhindert werden parlamentarischen Beratung diskutiert werden. Lassen kann. Seitdem werden von der Union alle Ansätze zerre- Sie uns also so bald wie möglich die Experten zu den det, zerprüft und blockiert – und die SPD steht offen- Gesetzentwürfen anhören, lassen Sie uns Verbesserun- sichtlich machtlos daneben. Die Gesetzentwürfe für den gen einarbeiten und dann mit einer parlamentarischen Mindestlohn – das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und Mehrheit für Mindestlöhne entscheiden. das Mindestarbeitsbedingungen-Gesetz – aus dem Hause des Arbeitsministers sind bis jetzt an den ideologischen Hürden im Wirtschaftsministerium gescheitert. Glos lässt Scholz beim Mindestlohn am ausgestreckten Arm Anlage 8 verhungern. Und ich befürchte, dass sich die Kräftever- Zu Protokoll gegebene Reden hältnisse in der Koalition auch bis zum nächsten Koali- tionsausschuss nicht ändern werden. zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über das Verbot der Einfuhr, der Verarbeitung und Während Schwarz-Rot den Mindestlohn versenkt, des Inverkehrbringens von Robbenerzeug- entwickelt sich Deutschland immer mehr zum Billig- nissen (Robbenerzeugnisse-Verbotsgesetz – lohnland. Die Länderstudien zum Niedriglohnsektor zei- RobErzVerbG) (Tagesordnungspunkt 17) gen für Deutschland ein niederschmetterndes Ergebnis: 6,5 Millionen Menschen in Deutschland liegen mit ih- rem Verdienst unterhalb der Niedriglohnschwelle, die Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Wir haben uns an dieser Anzahl der Beschäftigten, die weniger als 5 Euro verdie- Stelle wiederholt mit dem Thema Robben und dem Tö- nen, ist von 2004 bis 2006 von 1,5 auf 2 Millionen ange- ten der Jungrobben in der Arktis im März jeden Jahres stiegen. befasst. Im Oktober vergangenen Jahres haben wir dann gemeinsam beschlossen, die Bundesregierung aufzufor- Wenn CDU und CSU glauben, mit einer Niedrig- dern, ein entsprechendes Gesetzesverfahren einzuleiten, lohnstrategie künftig die Abwanderung von Unterneh- um den Handel mit Robbenprodukten zu unterbinden. men verhindern zu können und Arbeitsplätze hier halten Dem entspricht der heutige Antrag. oder schaffen zu können, dann liegen sie falsch. (B) Deutschlands Wirtschaft basiert nach wie vor auf Wis- Ich schätze ein, dass wir mit dem vorliegenden Ge- (D) sen. Von Arbeitsplatzabbau waren überwiegend gering setzantrag heute zunächst einen sehr wichtigen Punkt Qualifizierte betroffen – trotz niedriger Löhne. Bei hö- setzen können: Es wird in Deutschland hoffentlich bald her Qualifizierten sieht das anders aus: Nach Angaben ein Gesetz geben, das den Handel mit Robbenerzeugnis- des Statistischen Bundesamtes wurden zwischen 2001 sen verbietet. Ich empfinde das als ein erfreuliches Er- und 2006 im Dienstleistungsbereich mehr Arbeitsplätze gebnis unserer gemeinsamen Arbeit, ein Erfolg für den für höher Qualifizierte in Deutschland durch Verlagerun- Tierschutz und ein Ergebnis gemeinsamer beharrlicher gen geschaffen als abgebaut. Für eine positive Arbeits- Arbeit zum Schutz der Robben. platzbilanz brauchen wir also in erster Linie gut ausge- Erlauben Sie mir, allen Beteiligten hier an dieser bildete Fachkräfte und eine Infrastruktur, die es attraktiv Stelle zu danken und der Hoffnung Ausdruck zu verlei- macht, hier zu arbeiten und zu leben. Dazu müssen wir hen, dass wir auch bei anderen Themen fraktionsüber- erstens in Bildung investieren, zweitens in Bildung in- greifend so konstruktiv und engagiert zu Lösungen in vestieren und drittens noch mal in Bildung investieren. der Sache kommen können. Mein Dank gilt an dieser Und genau das ist Aufgabe von Politik, und genau hier Stelle der Bundesregierung und dem Landwirtschaftsmi- versagen Union und SPD im Bund wie in den Ländern. nister Seehofer, die unser Anliegen und unseren gemein- Eine wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Strate- samen Antrag vom Oktober 2006 stets unterstützten und gie, die auf Billiglöhne setzt, wird in eine Abwärtsspirale nun praktisch umsetzen werden. Ausdrücklich möchte führen, an deren Ende jede Menge Verlierer stehen, bis ich in meinen Dank auch die Vertreter der kanadischen hin zu den zukünftigen Rentnern, die nach vielen Jahren Staatsregierung einbeziehen. Trotz unterschiedlicher Arbeit zu Armutslöhnen im Alter auf Armutsrenten an- Standpunkte haben wir in der Sache stets sehr wertvolle gewiesen sein werden. Profiteure sind skrupellose Un- Informationen bekommen und in den Anhörungen sehr ternehmer, die ihre unanständige Gewinnkalkulation auf offen zahlreiche Argumente ausgetauscht und – so hoffe Lohndumping aufbauen. Und zahlen muss am Ende der ich – viel voneinander gelernt. Ich freue mich außerdem, Steuerzahler, wenn die Löhne und die Renten, die nicht dass die Frage des Artenschutzes der Robben und ihres zum Leben reichen, aufgestockt werden müssen. Nachwuchses immer eine große Rolle gespielt hat und auch jetzt wieder in den Mittelpunkt rückt. Die Fragen Natürlich sind Mindestlöhne kein Allheilmittel gegen einer nachhaltigen Bestandspflege sind ebenso wie die Armut, aber ein wichtiger Baustein, um zukünftig Armut Fragen zur Sicherung des Lebensraumes der Robben in trotz Arbeit zu verhindern. Streiten Sie also nicht länger der sich klimatisch verändernden Welt wichtige Themen, über das Ob, sondern lassen Sie uns konstruktiv über das die wir in den kommenden Jahren nur gemeinsam lösen Wie diskutieren. Dazu bieten die Gesetzentwürfe aus können. Ich glaube, dieser Ansatz wird auch in Kanada Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16621

(A) bei den Verantwortlichen sehr gut registriert und aner- lich muss man in dieser Welt auch über Bestandsregulie- (C) kannt. Deswegen bin ich mir sicher, dass wir mit diesem rungen von Wildtierbeständen sprechen, wenn das not- Gesetzesvorhaben keine bilateralen Probleme mit unse- wendig erscheint. Das machen wir in Deutschland so, ren Freunden in Übersee riskieren. und das muss man auch anderen Ländern zugestehen. Aber vorher müssen noch einige Fragen gestellt und be- Auch wenn das nationale Handelsverbot für Robben- antwortet werden: erzeugnisse zunächst eine wichtige Zwischenetappe zum Robbenschutz darstellt: Ein nationales Handelsverbot Erstens. Ist die Bestandsregulierung überhaupt not- von Robbenerzeugnissen ist mit Sicherheit kein Schluss- wendig? Gerade bei den Robben gehen da die Meinun- punkt unserer Debatte um die Robben. Die drastischen gen weit auseinander. Während die Kanadier eine Be- Medienbilder über das Robbensterben kamen bisher fast standsreduzierung für unumgänglich halten, sehen wir immer aus Kanada. Bis heute sind Länder wie Russland diese Notwendigkeit nicht. Abhilfe könnten hier unab- oder China kaum in den Blickpunkt und in das Interesse hängige, das heißt allgemein anerkannte Sachverständi- der weltweiten Öffentlichkeit gelangt. Hier gilt es auch gengutachten schaffen. für uns, weiterzumachen und den Teilerfolg für den Schutz der Robben auszuweiten, im Sinne des Tierschut- Zweitens. Wenn eine Bestandsreduzierung notwendig zes und des Arterhalts. sein sollte, muss die Frage nach einem Tötungsverfahren gestellt werden, welches tierartengerecht ist. Hier haben Es ist heute hier ein erster, wenn auch sehr wichtiger uns die Kanadier vermittelt, dass bereits 95 Prozent der Schritt, die Massentötungen junger Robben einzuschrän- Robben nicht mehr erschlagen, sondern geschossen wer- ken und womöglich einmal ganz zu verhindern. Nach den. wie vor setzen wir uns für ein gesamteuropäisches Han- delsverbot ein, die Bundesregierung muss da sozusagen Drittens. Für uns steht immer die Forderung im Mit- „am Ball“ bleiben, und auch wir Parlamentarier werden telpunkt, kein Tier ohne vernünftigen Grund zu töten. darauf achten müssen. Das heißt aus deutscher Sicht, ein Tier nur wegen der Fellgewinnung zu töten, wird diesem Anspruch nicht ge- Denn nur, wenn wir unser eigenes Haus aufgeräumt recht. Das heißt im Umkehrschluss – da sind sich alle haben, werden wir auch ernst genommen, wenn wir Fraktionen des Deutschen Bundestages wahrscheinlich weltweit verstärkte Anstrengungen fordern, das Robben- einig –, dass die Bejagung von Robbenbeständen zur Ei- schlachten einzudämmen oder ganz zu verbieten. Die genversorgung der einheimischen Bevölkerung erlaubt kanadischen Erfahrungen werden dabei sehr nützlich sein muss. sein. Sie sind hilfreich und beispielgebend für Beratun- gen mit den Staaten, in denen Robbentötungen weitest- Wegen der genannten Gründe bin ich froh, dass wir den Gesetzesentwurf heute einbringen, und ich bin mir (B) gehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. (D) Ich schlage vor, dass wir die praktischen kanadischen sicher, dass es nicht das letzte Mal war, dass wir über Erfahrungen nutzen und einbeziehen. Robben im Deutschen Bundestag gesprochen haben. Ich bitte Sie, den vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktio- Die Verbraucher selbst haben eine wichtige Verant- nen von CDU/CSU und SPD wie beantragt zu überwei- wortung. Wo keine Erzeugnisse aus Robben nachgefragt sen und freue mich auf die Gesetzesberatung in den zu- werden, gibt es keinen Handel, und letztendlich werden ständigen Ausschüssen. weniger Tiere allein wegen ihres Fells getötet. Es ist wichtig, die Einfuhr aller Robbenerzeugnisse aus dem Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Wir beraten heute Ausland zu regeln und wenn es geht, wirksam zu unter- in erster Lesung das Robbenerzeugnisse-Verbotsgesetz, binden. Wir sind sicher, dass die Bundesregierung dazu mit dem wir den Import, die Be- und Verarbeitung und rasch bundesgesetzliche Regelungen vorlegen wird. Ich das Inverkehrbringen von Robbenprodukten in Deutsch- erwarte in den kommenden Wochen sehr konstruktive land wirkungsvoll unterbinden wollen. Beratungen in den Ausschüssen und biete Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür ausdrücklich unseren Wir wollen ein Einfuhrverbot für Produkte, die unter Sachverstand an, um zu einem guten Gesetz zu kommen. Inkaufnahme von unvorstellbarem Tierleid auf den Markt kommen. Für diese Produkte werden Tiere er- Meine Rede zum interfraktionellen Antrag am schossen oder erschlagen, und häufig sterben sie nicht 18. Oktober 2006 habe ich mit der Hoffnung geschlos- direkt, sondern sind noch bei Bewusstsein, wenn sie ent- sen, dass ich unseren Kindern und Enkeln wünsche, häutet werden. Robben in freier Wildbahn kennenzulernen und dass ihr Schicksal nicht den ausgestorbenen Auerochsen glei- In Zahlen gesprochen bedeutet dies: Zu kommerziel- chen möge. Mit dem heutigen Tag sind wir dieser meiner len Zwecken werden weltweit knapp 750 000 Robben Hoffnung, die viele Menschen in diesem Land teilen, ei- pro Jahr getötet. Über 90 Prozent dieser Tiere sind zwi- nen bedeutenden Schritt entgegengekommen. Ich freue schen wenigen Wochen und drei Monaten alt. mich, dass sich unsere bisherige Arbeit gelohnt hat und die Bilder über die Gemetzel auf den polaren Eisfeldern Es steht für mich außer Frage: Das Töten von Tieren, nur um ihre Felle kommerziell zu nutzen, ist ethisch vielleicht irgendwann einmal der Vergangenheit angehö- ren werden. durch nichts zu rechtfertigen. Wir müssen uns nicht mehr mit Fellen bekleiden, wie es unsere Vorfahren ge- Gestatten Sie mir auch noch einen Blick in die Zu- tan haben. Gerade die Textilindustrie hat in den letzten kunft, wobei ich ausdrücklich auf die Argumente unserer Jahren bewiesen, dass sie dem gesellschaftlichen Trend kanadischen Freunde eingehen möchte: Selbstverständ- nach ethisch korrekt erzeugter Bekleidung nachkommen 16622 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) kann. Sie bietet heute eine Vielzahl von Stoffen an, die dazu beiträgt, die wirtschaftliche Existenz bestimmter (C) in ihren Eigenschaften und ihrem Aussehen Tierfellen in indigener Gruppen zu sichern. Es ist aber in diesem Zu- nichts nachstehen. Auch in allen anderen Bereichen kön- sammenhang die legitime Frage erlaubt, mit welchen an- nen wir heute auf Technologien zurückgreifen, mit deren deren Maßnahmen sich dieses Ziel möglicherweise auch Hilfe wir den Einsatz von Tierfellen vollständig ersetzen erreichen lässt. Was kann denn ein staatliches Programm können. Unsere ethischen Bedenken gegen den Einsatz kosten, das die wirtschaftlichen Verluste derjenigen von Robbenfellen teilen bereits seit langem sowohl Me- Robbenjäger ausgleicht, die die Jagd aufgeben? Die xiko als auch die USA. Beide Länder haben Einfuhrver- Kosten dafür werden durch den zusätzlichen Imagege- bote für Robbenprodukte erlassen, genauso wie in jüngs- winn Kanadas mehr als kompensiert. ter Zeit auch Belgien und die Niederlande. In der Schweiz verzichten die Kürschner bereits seit 1967 frei- Mir ist bewusst, dass wir von hier aus nicht auf die willig auf die Verarbeitung von Robbenfellen. Leider kanadische Gesetzgebung einwirken können. Wir kön- konnten wir uns in Europa bisher auf keine gemeinsame nen aber dafür sorgen, dass wir in unserem Land eine Position zum Einfuhrverbot von Robbenerzeugnissen klare gesetzliche Regelung für ein Importverbot schaf- verständigen. Ich persönlich hätte mir eine ähnliche Re- fen. Gleichzeitig möchte ich die Gelegenheit nutzen und gelung für Robbenerzeugnisse gewünscht, wie wir sie einen erneuten Appell an die kanadische Regierung und auf EU-Ebene bereits für den Import von Hunde- und ihren Ministerpräsidenten, Stephen Harper, richten: Be- Katzenfellen erarbeitet haben. Ein Importverbot für enden Sie diese archaische Form der Pelzgewinnung! diese Fellarten tritt bekanntlich Ende des Jahres in Kraft. Sie gehört nicht mehr in diese Zeit! Zwar hat der EG-Ministerrat bereits im Jahr 1983 die so- genannte Jungrobbenrichtlinie verabschiedet und damit Über 80 Prozent der Deutschen sprechen sich in Um- die Einfuhr des weißen Pelzes wenige Tage alter Robben fragen für ein striktes Importverbot aller Robbenpro- in die Europäische Gemeinschaft untersagt. Jedoch dukte aus. Diesem Wunsch haben wir uns als Parlamen- mussten wir feststellen, dass dieses Verbot nur kurzfris- tarier nicht verschlossen. Bereits im Herbst 2006 wurde tig dazu beigetragen hat, die Jagd zu begrenzen. Die von den Koalitionspartnern zusammen mit den Fraktio- Jagdsaison beginnt nun eben zwei Wochen später, wenn nen von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP ein Antrag die Babyrobben die in der Jungrobbenrichtlinie vorgege- in den Deutschen Bundestag eingebracht. Mit diesem bene Altersgrenze überschritten haben. wurde die Bundesregierung aufgefordert, sich auf euro- päischer Ebene für ein Einfuhr- und Handelsverbot mit Es ist für uns nicht akzeptabel, dass seit 1996 alleine Produkten aller Robbenarten einzusetzen, und – wenn in Kanada über drei Millionen Sattelrobben geschlachtet keine gemeinsame europäische Position dazu gefunden wurden. Denn wir müssen uns immer wieder vor Augen werden kann – den Import, die Be- und Verarbeitung und (B) führen, worum es im Kern dieser Debatte geht: aus- das Inverkehrbringen von Robbenprodukten in Deutsch- (D) schließlich um die Bedürfnisbefriedigung einer gesell- land effektiv zu unterbinden. Die SPD-Bundestagsfrak- schaftlichen Minderheit, die Handschuhe, Taschen und tion hat im September 2006 zugesagt, dass sie genau Schuhe aus Robbenfelle trägt, um ihre eigene Eitelkeit darauf achten wird, dass die Bundesregierung einen Ge- zu befriedigen. Fellartikel, die auf diese Art als Status- setzentwurf ausarbeitet, der dem Ansinnen des interfrak- symbol zur Schau getragen werden, sind völlig überflüs- tionellen Antrages entspricht. Der von der Regierung im sig. Ich möchte an dieser Stelle insbesondere auf die Februar dieses Jahres vorgelegte Gesetzentwurf ent- Jagdpraktiken der Kanadier eingehen, und zwar deshalb, sprach leider inhaltlich nicht den Vorstellungen der Par- weil Kanada für mehr als ein Drittel der weltweiten Rob- lamentarier. Auch das von der Regierung eingeleitete bentötungen verantwortlich ist, und weil gerade die ka- EU-Notifizierungsverfahren für diesen Regierungsvor- nadische Jägerlobby in den letzten Monaten nichts un- schlag war und ist nicht nachvollziehbar. Nach meinem versucht gelassen hat, deutsche Abgeordnete von der Selbstverständnis haben Bundestagsabgeordnete einen Notwendigkeit der kommerziellen Robbenjagd zu über- klaren Wählerauftrag, und der beinhaltet, Sorge dafür zu zeugen. tragen, dass der Wille der Mehrheit auch umgesetzt wird. Wir sollten uns nicht darauf beschränken, alle poli- Es ist für mich überhaupt nicht nachvollziehbar, dass tischen Ideen und Gesetzesvorhaben vorab von Brüssel eine Regierung Jahr für Jahr die grausamen Praktiken ih- begutachten zu lassen, um sie dann in Deutschland um- rer Jäger vor der Weltgemeinschaft verteidigt, obwohl zusetzen. Einem möglichen Konflikt mit der EU und der doch der Umsatz aus diesem Geschäft nur etwas weniger WTO in dieser Frage sehe ich daher ganz gelassen ent- als 10 Millionen Euro pro Jagdsaison beträgt. gegen. Die Vertreter der kanadischen Jägerlobby verweisen Ich freue mich sehr, dass die Regierungskoalition in persönlichen Gesprächen immer wieder darauf, dass heute einen eigenen Gesetzentwurf vorlegt, der einen ein Jagdverbot die wirtschaftliche Existenz der Inuit und wichtigen Beitrag zum Robbenschutz leistet. Gemein- anderer indigenen Gruppen zerstört. Lassen Sie mich be- sam haben wir in den letzten Wochen viele Bedenken tonen, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf anderer Ministerien, insbesondere die des Bundeswirt- die berechtigten Interessen der traditionell vom Robben- schaftsministeriums, ausgeräumt. fang abhängigen Menschen anerkennen und berücksich- tigen. Gleichzeitig wollen wir aber die moderne und rein Lassen Sie uns nun zügig den Gesetzentwurf durch kommerzielle Jagd auf Robben von der traditionellen die parlamentarischen Beratungen bringen, damit noch Jagd zur Eigenversorgung abgrenzen. Sicherlich kann es vor der Sommerpause ein Robbenschutzgesetz in Kraft sein, dass die Jagd auf Robben in ihrer bisherigen Form tritt, das seinen Namen wirklich verdient. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16623

(A) Mechthild Rawert (SPD): Endlich, endlich legt die Mit der heutigen ersten Lesung des Gesetzentwurfes (C) Bundesregierung den „Gesetzentwurf über das Verbot können wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier end- der Einfuhr, der Verarbeitung und des Inverkehrbringens lich mehr tun, als uns gemeinsam mit Tierschützerinnen von Robbenerzeugnissen“ vor. Darauf haben wir Parla- und Tierschützern über das alljährlich wiederkehrende mentarierinnen und Parlamentarier lange warten müs- Robbentöten zu entsetzen. Die Robbenjäger gehen ja sen. Denn schon vor eineinhalb Jahren haben wir in ei- nicht zimperlich mit den Robben um. Insbesondere in nem interfraktionellen Antrag der Bundesregierung den Kanada werden Robben oft mit Bootshaken, Knüppeln eindeutigen Auftrag für ein „Handelsverbot für Robben- und Hakapiks getötet oder zu töten versucht. Danach felle“ erteilt. Mir ist es unbegreiflich, dass sich Die wird den Robben das Fell abgezogen. Das erfolgt oft Linke diesem Antrag damals nicht anschließen konnte. noch bei lebendigem Leib. Ich erspare Ihnen weitere Vielleicht überdenkt sie heute noch mal ihre Haltung. Einzelheiten. Wir haben die Bilder dieser blutigen Mas- senabschlachtungen von Hunderttausenden von Robben Wir wollten und wollen nach wie vor, dass die Bun- vor Augen. Weit mehr als 90 Prozent der getöteten Tiere desregierung sich auf EU-Ebene für ein europaweites sind Jungtiere im Alter von zwei Wochen bis drei Mona- Einfuhr- und Handelsverbot bei Produkten aller Robben- ten. arten einsetzt. Damals schon hatten wir ein nationales Importverbot von Robbenprodukten gefordert, sollte ein Wir wollen das nationale „Handelsverbot für Robben- europaeinheitliches nicht zustande kommen. Da aber produkte“ aus Gründen des Artenschutzes. Wir wollen dieses Verbot auf europäischer Ebene derzeit nicht abzu- das Verbot aus Tierschutzgründen. Mit diesem Gesetz- sehen ist, beginnen wir heute mit diesem nationalen Ver- entwurf tragen wir Parlamentarierinnen und Parlamenta- bots-Alleingang. rier aber auch der massiven Ablehnung weiter Teile unserer Bevölkerung gegenüber der Robbenjagd Rech- Ich bin überzeugte Europäerin. Deshalb habe ich nung: Eine von der britischen Opinion Research Busi- heute Morgen meine Stimme sowohl für die notwendige ness im Februar 2007 in Deutschland durchgeführte Grundgesetzänderung als auch für den Reformvertrag Meinungsumfrage zeigt, dass 88 Prozent der Befragten der Europäischen Union abgegeben. Dass ich von mei- für ein Verbot der Robbenjagd sind. 81 Prozent der Be- nen Rechten als nationale Parlamentarierin zu nationalen fragten verlangen zudem ein striktes Einfuhrverbot für Alleingängen noch am gleichen Tag Gebrauch machen sämtliche Robbenerzeugnisse. werde, finde ich durchaus erwähnenswert: Die parla- mentarische Demokratie in Deutschland funktioniert Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass die be- also trotz aller Unkenrufe auch weiterhin! schriebenen Grausamkeiten in Einrichtungen wie Schlachthöfen oder Forschungslaboren in Deutschland (B) Es ist aber auch zu ärgerlich: Die Europäische Kom- verboten sind. Selbstverständlich würden sie von uns (D) mission hatte angekündigt, bis Ende 2007 eine Studie Parlamentarierinnen und Parlamentariern auch niemals unter Federführung der Europäischen Behörde für Le- geduldet oder hingenommen werden. bensmittelsicherheit erstellen zu lassen, in der unter an- derem alle vorliegenden wissenschaftlichen Informatio- Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten hö- nen über Tierschutzaspekte bei der Robbenjagd erfasst ren, es gibt noch „Jagd“-Probleme in der CDU/CSU. würden. Auf dieser Grundlage wollte die Kommission Auch wir unterstützen die traditionellen und deswegen dem Europäischen Parlament gegebenenfalls erforderli- ausdrücklich erlaubten Robbentötungen der Inuit – aber che Legislativvorschläge unterbreiten. auch nicht mehr. Ein „Waidmannsheil“ ist hier nicht an- gebracht. Warum sollten wir das brutale Töten von Rob- Die Studie liegt vor: Bestätigt werden die Schmerzen ben hinnehmen? Meine SPD-Fraktion und vor allem und das Leiden der Robben bei ihrer Tötung. Aber es auch ich selber werden die grausamen Robbentötungen passiert nichts. Von einem Einfuhr-, Ausfuhr- und Ver- auf jeden Fall nicht hinnehmen. kaufsverbot von Robbenprodukten ist am Gemein- schaftshimmel unserer 27 Mitgliedstaaten rein gar nichts Die Zeit drängt: Wir müssen, wollen und werden end- zu sehen. Also handeln wir als deutsche Gesetzgeberin lich, endlich handeln! In Deutschland, in Europa gibt es selber. Nach Belgien und den Niederlanden will ich für die Robbenjagd überhaupt keinen Grund. Für Rob- Deutschland auf den dritten Vorreiterplatz für ein natio- benfelle und andere Robbenprodukte gibt es viele andere nales „Handelsverbot für Robbenprodukte“ setzen. Alternativen. Ziel unseres Gesetzentwurfes ist daher das Verbot, Robbenerzeugnisse zu Erwerbszwecken einzu- Denn die Zeit drängt: Weltweit werden jedes Jahr führen, zu be- oder verarbeiten oder in den Verkehr zu circa 750 000 Robben von mindestens 15 unterschiedli- bringen. chen Spezies für kommerzielle Zwecke getötet und ge- häutet. 60 Prozent der Jagd wurden 2006 von Kanada, Ich appelliere an Sie alle: Sorgen Sie gemeinsam mit Grönland und Namibia durchgeführt. In Kanada sind seit uns dafür, dass in Deutschland kein Absatzmarkt für 1996 mehr als 3 Millionen Sattelrobben getötet worden. Robbenerzeugnisse wie zum Beispiel Felle oder Well- Kanadische Gesetze erlauben gezielte Robbentötungen: ness-Produkte mehr existiert! 275 000 Sattelrobben wurden allein in diesem Jahr vom kanadischen Fischerei- und Meeresministerium offiziell Ich appelliere an Sie, meine werten Kolleginnen und zum Töten freigegeben. Ich fordere die Bundesregierung Kollegen: Lassen Sie uns diesen Gesetzentwurf zügig auf, sich auf bilateraler Ebene weiterhin vehement für beraten! Wir wollen das Gesetz doch so schnell wie den Stopp der Robbentötungen einzusetzen. möglich verabschieden. 16624 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Christoph Pries (SPD): Auch in diesem Jahr haben Ich will zwei Argumentationslinien aufgreifen. Auf (C) uns im März wieder die immer gleichen Bilder von der der einen Seite steht der Tierschutz. Robben werden ge- Robbenjagd erreicht. In Kanada werden pro Jahr rund jagt. Und die Jäger töten die Tiere durch Schüsse und lei- 300 000 junge Robben von Pelzjägern auf teilweise der immer noch durch Schläge mit dem Hakapik oder grausame Art und Weise getötet. Viele Tiere sind noch Knüppeln. Im Raum steht dabei der Vorwurf, die Tiere nicht tot, wenn Ihnen das Fell abgezogen wird. Daran würden gehäutet, während sie noch nicht völlig das Be- ändert auch nichts, dass die kanadische Regierung kurz- wusstsein verloren hätten. Kanada weist diese Vorwürfe fristig für die diesjährige Jagdsaison ihre Jagdvorschrif- zurück und betont, man habe inzwischen einen weiteren ten verschärft hat. Schritt eingeführt, um sicherzustellen, dass Robben bei der Häutung tot seien, und zwar durch das Durchtrennen Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzt der Deut- der Schlagader. Das deutet zumindest darauf hin, dass sche Bundestag ein Zeichen: Beim Tierschutz dürfen die kanadische Regierung engere Leitplanken für das Pelzmäntel und Antifaltenmittel kein Hinderungsgrund Vorgehen der Jäger setzt. Diese Leitplanken müssen sein. Gleichzeitig gewährleisten wir durch eine Ausnah- sein, damit das Leid der Tiere auf ein Minimum redu- meregelung in Art. 2 des Gesetzes, dass die traditionelle ziert wird. Und diese Regelungen müssen seitens der Robbenjagd indigener Völker weiterhin möglich ist. Mit Landesbehörden strengstens kontrolliert und von den Jä- der Einbringung des vorliegenden Gesetzentwurfes set- gern eingehalten werden. Robben dürfen nicht ihrem zen wir den fraktionsübergreifenden Beschluss des Leiden überlassen werden und nicht bei lebendigem Deutschen Bundestages vom 19. Oktober 2006 um. Wir Leibe gehäutet werden. Punkt. hatten die Bundesregierung damals aufgefordert, sich auf EU-Ebene für ein gemeinschaftsweit geltendes Ein- Auf der anderen Seite stehen die Argumente der kana- fuhr- und Handelsverbot mit Produkten aller Robbenar- dischen Regierung und der Ureinwohner. Am 7. April ten einzusetzen. Da ein Einfuhrverbot auf EU-Ebene, begrüßte ich zusammen mit Vertretern aller Fraktionen trotz der zu beobachtenden Bewegung in Brüssel, zeit- eine kanadische Delegation, die uns ihre Sicht der Dinge nah nicht realisierbar scheint, wird mit dem vorliegen- darlegte und uns Abgeordneten aber auch Rede und Ant- den Gesetzentwurf nunmehr der Forderung des Bundes- wort stand. Einer der Delegationsteilnehmer war Paul tages auf nationaler Ebene Rechnung getragen: Der Okalik, der Premierminister der Arktisregion Nunavut. Import von Robbenerzeugnissen nach Deutschland so- Okalik ist ein Inuit, ein Angehöriger der Ureinwohner in wie die Be- und Verarbeitung und das Inverkehrbringen Nordkanada. Okalik befürchtet, dass das geplante Han- von Robbenerzeugnissen in Deutschland werden unter- delsverbot für Robbenprodukte seinem Volk einen sagt. schweren Schaden zufügen wird. Ich kenne diese Beden- (B) ken und sie wiegen schwer. Niemand stellt infrage, dass (D) Mit der heutigen ersten Lesung stellen wir sicher, die Inuit weiter Robben für ihre Zwecke jagen und auch dass das Gesetz vor Beginn der nächsten Jagdsaison in wirtschaftlich verwerten dürfen. Dafür enthält das Ge- Kraft tritt. Wir folgen damit Belgien, den Niederlanden setz eine Ausnahmeregelung: Und zwar dürfen Produkte und den USA, die bereits Import- und Handelsverbote nur dann noch nach Deutschland importiert werden, für Robbenerzeugnisse beschlossen haben. Weitere Län- wenn sie von Robben stammen, die in der traditionellen der werden folgen: Österreich, England, Frankreich und Art und Weise der Inuits gejagt und erlegt werden. Italien bereiten zurzeit ähnliche Gesetze vor. Zwischen diesen beiden Dimensionen liegt die kom- Ich hoffe, dass es auf diesem Weg langfristig gelingen merzielle Robbenjagd, die innerhalb eines bestimmten wird, zu einem europaweiten Einfuhr- und Handelsver- Zeitfensters eine Vielzahl von Robben für Pelze und Öle bot für Robbenerzeugnisse zu kommen. erlegt. Es bleibt dadurch bei der traurigen Bilanz, dass bei der jährlichen Robbenjagd viele Tiere unnötig leiden Hans-Michael Goldmann (FDP): Gut eineinhalb müssen. Die Frage ist aber, warum müssen Robben dann Jahre sind seit der letzten Beratung und Beschlussfas- nach wie vor mit Knüppeln oder dem Hakapik brutal er- sung des gemeinsamen Antrages hier im Haus vergan- schlagen werden? Zuzulassen, dass daraus wirtschaftli- gen. Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, und die Kolle- cher Gewinn durch die Vermarktung in Deutschland ge- ginnen und Kollegen aus den Fraktionen der CDU/CSU, zogen wird, ist nicht vertretbar. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben damals überein- stimmend beschlossen: Wenn die EU kein Handelsver- Ein Wort noch zur Frage, wie die Märkte darauf re- bot für Robbenprodukte auf den Weg bringt, dann solle agieren werden. Der überwiegende Teil der Robbenpro- die Bundesregierung ihrerseits auf nationaler Ebene han- dukte wird nach China, Osteuropa und Russland expor- deln. Diesen Entwurf hat die Bundesregierung nun ein- tiert. Dass die Märkte durch dieses deutsche Gesetz gebracht, und diesen Entwurf diskutieren wir heute. insgesamt zusammenbrechen werden, das glaube ich nicht. Für mich ist es aber auch klar, dass es keinen Auch wenn viel Zeit vergangen ist, diese Zeit war grundsätzlichen Unterschied bei der Jagd auf Rehe und notwendig, um die Argumente zu gewichten, zu prüfen Robben gibt – solange die Regeln der ordnungsgemäßen und nun zu entscheiden. Wir reden hier über ein sehr Jagd eingehalten werden. Deshalb gilt es, dies den Kana- emotionales und komplexes Thema, das jedes Jahr er- diern noch einmal deutlich zu machen. Und wenn sie das neut von weltweiten Protesten begleitet wird, wenn die Einhalten dieser Regeln gewährleisten, gibt es keinen Robbenjagd beginnt. Grund mehr für ein Importverbot. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16625

(A) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Bereits seit starben über 200 000 neugeborene Robben im Sankt- (C) den 80er-Jahren wird die brutale und grausame Robben- Lorenz-Golf aufgrund des fehlenden Packeises schon jagd in der deutschen Öffentlichkeit kritisiert. Sicher bevor die Jagd überhaupt begann. können Sie nachempfinden, wie es sich anfühlen muss, die Haut am lebendigen Leibe abgezogen zu bekommen. Schön, dass dieses Gesetz, wenn auch völlig verspä- tet, wenigstens in der nächsten Jagdsaison im Früh- Jetzt, nach 25 Jahren, regt sich endlich die Regierung jahr 2009 greifen wird. und reagiert auf die tierquälerische Abschlachtung der Tiere. Allerdings sehr zögerlich. Eilig scheint es die Bundesregierung nicht gehabt zu haben. Deutschland Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am bildet hier in Sachen Tierschutz eindeutig ein Schluss- 19. Oktober 2006 sprach sich dieses Parlament einstim- licht. Denn die USA und Mexiko verhängten bereits vor mig für ein Verbot der Einfuhr und des Handels mit Rob- Jahren ein Handelsverbot für Robbenprodukte. benprodukten aus. Wir forderten die Bundesregierung auf, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Von dem einstimmig angenommenen Antrag eines Einfuhr- und Handelsverbots von Robbenprodukten Was haben wir gewollt? Wir wollten, dass dem all- nach Deutschland bis zum aktuellen Bundeskabinettsbe- jährlichen Robbenschlachten endlich ein Ende gesetzt schluss sind nun fast zwei Jahre vergangen. Aus diesem wird. Das entspricht auch dem Willen der Bevölkerung. Antrag wurde die Fraktion Die Linke übrigens nach den Denn eine Meinungsumfrage ergab im Jahr 2007, dass vorbereiteten Gesprächen ausgeschlossen. Jetzt liegt ein sich 88 Prozent der Deutschen für ein Verbot der Rob- neuer Antrag der Koalition vor. benjagd aussprechen, 81 Prozent zudem für ein striktes Einfuhrverbot. Auch die Tatsache, dass sich die Europäische Kom- mission bisher immer noch nicht zu dem eigentlichen Wir können die Robbenjagd in Kanada, Norwegen, Ziel – einem Einfuhrverbot auf EU-Ebene – geäußert Grönland oder Namibia nicht verbieten. Aber wir kön- hat, ist ein Armutszeugnis. Diese Verzögerungen sind in- nen durch ein Import- und Handelsverbot den Markt für akzeptabel. Robbenprodukte austrocknen. Ohne Markt kein Produkt. Dem Robbenmord wird so der ökonomische Antrieb ent- Zum einen werden in der Zwischenzeit, bis das Ge- zogen. setz in Kraft tritt, weitere 300 000 Tiere getötet. Davon wird circa 30 000 Tieren der Schädel mit Stangen einge- Genau anderthalb Jahre hat die Bundesregierung ge- schlagen, und wenn sie nicht direkt sterben, wird ihnen braucht, dieses Gesetz vorzulegen. auch am lebendigen Leibe die Haut abgezogen. Der erste Grund für diese lange Frist: Warten auf eine (B) Zum anderen bekommen Länder wie Kanada die europäische Regelung. Sicher macht eine europäische (D) Möglichkeit, sich einen Vorrat an Robbenprodukten zu- Regelung Sinn, denn die Schließung des gesamten euro- zulegen, den sie dann nach Inkrafttreten des Gesetzes päischen Marktes entfaltet eine größere Wirkung als die weiterhin nach Deutschland importieren dürfen. Denn eines einzelnen Landes. Aber schon damals waren ein- nach § 4 Abs. 1 dürfen Robbenprodukte von Tieren, die zelne Nationalstaaten tätig geworden in der Absicht, ent- vor dem Inkrafttreten des Gesetzes getötet wurden, wei- sprechende Signale an die EU zu senden. Deutschland terhin importiert werden. Dadurch wird das Ziel des Ge- sollte dieses Signal verstärken, anstatt in abwartende setzes, dem tierquälerischen Massenabschlachten einen Starre zu verfallen. Riegel vorzuschieben, zumindest vorerst unterlaufen. Der zweite Grund für diese lange Frist waren Diffe- Für 2008 hat die kanadische Regierung 275 000 renzen im Kabinett. Die Bundesregierung scheute offen- Sattelrobben und 8 200 Klappmützenrobben zur Jagd bar vor den Drohungen aus den Robbenjagdländern freigegeben, mit dem Einwand, dass dies zur Erholung – insbesondere Kanada – zurück. Sie fürchtete Schäden der Kabeljaubestände notwendig sei. Wir allerdings für unsere exportorientierte Wirtschaft. Und dass von ka- sagen: Die Ursache für den Zusammenbruch der Ka- nadischer Seite gedroht wurde, konnten wir jüngst miter- beljaubestände liegt in der Überfischung der Meere. leben. Am 7. April bei einem Gespräch von Vertretern Heute gelten 75 Prozent aller weltweit genutzten Fisch- des Agrarausschusses mit einer Delegation aus Kanada bestände als überfischt oder von Überfischung bedroht. wurde von kanadischer Seite wörtlich gesagt, dass ein Robben hingegen bevorzugen häufig für den Men- Robbenerzeugnis-Handelsverbot Auswirkungen auf die schen unbedeutende Meerestiere. Sattelrobben fressen EU haben wird. Diese Drohungen, verbunden mit einem beispielsweise Tintenfische, zu deren Beute auch junger Besuch des Bundestagspräsidenten Dr. Lammert in Kabeljau gehört. Weniger Robben heißt also auch: weni- Nunavut, Kanada, haben offenbar Wirkung gezeigt: An- ger Kabeljau. derthalb Jahre nach dem Bundestagsbeschluss für ein Robbenerzeugnisse-Verbot und zwei Jagdperioden und Bei der Festlegung der Fangquote werden auch an- Hunderttausende tote Robben später haben die Regie- dere Gefahren für die Robbenpopulationen nicht berück- rungsfraktionen zwar einen Gesetzentwurf über das Ver- sichtigt. So ist die globale Erwärmung eine akute Bedro- bot der Einfuhr, der Verarbeitung und des Inverkehrbrin- hung für Robben, da sie auf Packeis angewiesen sind, gens von Robbenerzeugnissen vorgelegt. Aber dieser auf dem sie ihre Jungen zur Welt bringen. Bereits im Entwurf, auf den das Parlament, zahlreiche Tierschutz- Winter 2002 starben 75 Prozent der Jungtiere, weil das organisationen und die interessierte Öffentlichkeit so Eis so dünn war, dass die noch schwimmunfähigen Jung- lange gewartet haben, stellt sich beim näheren Betrach- robben in den ersten Wochen ertrunken sind. Auch 2007 ten als zahnloser Tiger heraus. 16626 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Sicher, jede Verbotsregelung enthält aus gutem Grund für die über 50-Jährigen, solventen und reiselustigen Da- (C) auch Ausnahmen. Aber hier wird doch der gute Grund men und Herren gibt. Das ist die Bevölkerungsgruppe, überstrapaziert. In § 2 Abs. 4 heißt es, dass Robben- die oft reist und auch nicht wenig Geld dafür ausgibt. Die erzeugnisse dann gehandelt werden dürfen, wenn sie von Tourismuswirtschaft stellt sich – völlig losgelöst und un- Tieren stammen, die von indigenen Völkern in deren tra- abhängig von Ihrem Antrag – zunehmend darauf ein, die ditioneller Art und Weise gejagt und erlegt worden sind. einen mehr und die anderen weniger erfolgreich. So ist es Das klingt auf den ersten Blick vertretbar. Aber der Ha- nun einmal in der Marktwirtschaft. Die Linke sieht in der senfuß kommt noch: Dafür bedarf es lediglich einer ent- Tourismuspolitik vor allem die Aufgabe, Reisen für alle sprechenden allgemeinen Bestätigung der zuständigen zu ermöglichen, da Reisemöglichkeiten ein wichtiger Behörde des Herkunftslandes gegenüber dem Agrar- Beitrag zur Erholung, Bildung und Gesundheit sind. ministerium, dass Robbenerzeugnisse aus ihrem Land Viele Menschen, auch Ältere, sind vom Reiseboom aus- dieser Anforderung entsprechen. Das Gesetz will also geschlossen. Ihnen stehen viele Barrieren entgegen. nicht wirklich zwischen aus der Jagd von Inuit stammen- den und kommerziellen Erzeugnissen unterscheiden, Eine Barriere ist das fehlende Einkommen, die zu ge- sondern es will die Länder danach einteilen, ob sie ins- ringe Rente, die wachsende Altersarmut. Es können eben gesamt Inuit-Produkte liefern oder nicht. Das geht völlig nicht alle unbeschwert über das Reisen nachdenken, wie an der Realität vorbei. Außerdem ist es völlig aberwit- zwei Drittel der Gesellschaft. Zudem befinden wir uns zig, darüber auch noch die Herkunftsländer entscheiden mitten in einem Trend, der eine zunehmende Aufspal- zu lassen. tung der Gesellschaft befördert. Die einen haben über Bildung und Arbeitsmöglichkeiten Zugang zu Einkom- Zum Beispiel Kanada: Die diesjährige Quote für Ein- men und vielen kulturellen, wirtschaftlichen und auch geborene (Aboriginals) belief sich auf 4 950, die Ge- touristischen Angeboten. Andere haben diesen Zugang samtquote auf 275 000 Sattelrobben. Dazu kommen nicht und auch kaum Aussichten auf Änderung. Diesen etwa 25 000 Ringelrobben, die aber nicht quotiert sind. Trend zu stoppen und umzukehren, wird schwer. Aber Ringelrobbenfelle sind im Übrigen bisher nie auf dem wir müssen das erreichen! Markt aufgetaucht. Wir brauchen also Angebote für Menschen mit niedri- Wie wollen wir mit diesem Gesetz sicher sein, dass gen Einkommen. Gruppen von über das Einkommen be- zukünftig nur traditionelle Inuit-Fänge hier landen? Und nachteiligten Menschen gibt es in allen Ländern der heißt „traditionell“ wirklich mit Kajak und Harpune ge- Erde. Interessant sind die verschiedenen Ansätze, die es jagt? Wie die kanadische Delegation berichtete, werden von Land zu Land gibt, in diesem Bereich etwas zu tun. dort heute 95 Prozent der Tiere mit Jagdgewehren getö- Hier lohnt der Blick in die westlichen Nachbarländer. tet. Kanada wird voraussichtlich dennoch bestätigen, Der dortige Sozialtourismus, zum Beispiel in Frank- (B) dass seine Robbenprodukte aus Inuit-Jagden stammen. reich, schafft Reisemöglichkeiten für diese Menschen, (D) Unter dem Deckmantel des Schutzes nationaler Minder- und auch die Tourismuswirtschaft partizipiert davon. heiten werden der Tierschutz und der Naturschutz kon- Auch Deutschland wäre gut beraten, endlich aktiv in der terkariert. internationalen Organisation des Sozialtourismus mitzu- wirken. So taugt das Gesetz nichts. Deshalb rate ich dringend zu einer gründlichen Überarbeitung im parlamentari- Weitere Barrieren sind baulicher Art bei Hotels, Gast- schen Verfahren. stätten, Kultureinrichtungen, im ÖPNV und der Infra- struktur. Ich finde es bezeichnend und unakzeptabel, dass zu Fragen des barrierefreien Tourismus in diesem Anlage 9 Antrag der Koalition nichts steht. Wie kann man den de- mografischen Wandel als Chance nutzen wollen und die Zu Protokoll gegebene Rede vielen Barrieren im Tourismus ausblenden? Hier geht es zur Beratung des Antrags: Chancen des demo- nicht um Sonderlösungen für ein paar Behinderte, son- graphischen Wandels im Tourismus nutzen dern um die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen (Tagesordnungspunkt 19) am gesellschaftlichen Leben. Meine Erfahrungen sind, dass Barrierefreiheit letztendlich vielen zugute kommt Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Ja, es gibt einen demo- und zumindest niemanden stört. Rollstuhlgerechte Zu- grafischen Wandel, aber auch diesem können weitere gänge und Wege erfreuen auch ältere Menschen, Eltern folgen, zum Beispiel, wenn die Zahl der Geburten wie- mit Kinderwagen, Reisende mit schwerem Gepäck und der deutlich steigt. Ja, auch in einem weiteren Punkt selbst Kinder mit Drei- oder Laufrad und Jugendliche stimmen wir überein: Man muss sich diesem Wandel auf Skateboards. Ich weiß, dass nicht von einem Tag auf auch im Tourismus stellen, ihn als Chance begreifen, den anderen alle Gebäude, Wege und Verkehrsmittel um- statt ihn zu beklagen. Vieles in dem vorliegenden Antrag gebaut werden können. Ich sehe aber nicht ein, dass zum der Koalition ist nicht falsch. Aber solange Bundesregie- Beispiel für viel Geld nach wie vor ICE-Züge gebaut rung und Koalitionsfraktionen Tourismuspolitik nur be- werden, in denen nur ein einziger Rollstuhlfahrer mitrei- treiben, um einen großen, wichtigen und expandierenden sen kann. Ebensowenig ist einzusehen, dass in denkmal- Wirtschaftsbereich markt- und konkurrenzfähiger zu ma- geschützten Gebäuden die Schaffung von Barrierefrei- chen, wird sie falsche Akzente setzen. heit ausgeschlossen sein soll. Moderne Heizungen und Toiletten, Strom, Brandschutzanlagen und Telefonleitun- Alle umwerben die sogenannten Best Agers, „Silber- gen passen schließlich auch in mittelalterliche Gebäude. haare“ und was es noch so für charmante Bezeichnungen Der Berliner Fernsehturm ist ein typisches Beispiel: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16627

(A) Menschen mit einem Rollator, im Rollstuhl oder mit ei- auf Investoren wirkt und den freien Kapitalverkehr be- (C) nem Blindenbegleithund dürfen auf dieses weltbekannte schränkt. Die Intention der Gerichtsentscheidung ist Berliner Wahrzeichen nicht hinauf. Der Berliner Behin- deutlich. Die Konsequenz daraus kann eigentlich nur dertenverband hat deswegen für den 30. April um lauten: Schaffen wir das VW-Gesetz ab! Es entspricht 11.00 Uhr zu einer Kundgebung am Berliner Fernseh- ganz sicher nicht dem Geist des Richterspruches, mit turm „Wir wollen hinauf!“ aufgerufen. Ich unterstütze wenigen Detailänderungen möglichst viele Beschrän- diese Aktion aus vollem Herzen und hoffe, dass dies kungen aus dem alten Gesetz beizubehalten, auch wenn auch andere Bundestagsabgeordnete aus allen Fraktio- es Bestrebungen in der Bundesregierung gibt, dies zu nen tun. Die Telekom und deren Tochter, die Deutsche tun. Der Ordnungsruf aus Luxemburg hat die Bundesre- Funkturm GmbH, sind als Eigentümer gefordert. Wir gierung nicht zur Vernunft gebracht. Die Protektionisten sollten sie bei der Lösung dieser anspruchsvollen Auf- in der Regierung bauen weiter neue Barrieren um deut- gabe nicht allein lassen. sche Unternehmen. Es ist in meinen Augen Aktionismus, wenn die Koali- Dass die Linken sich auch vor diesen Karren spannen, tion einen tourismuspolitischen Antrag nach dem ande- um beim VW-Konzern ihre Vision von einem Staats- ren vorlegt, um bei den ohnehin boomenden Bereichen sozialismus zu retten, wundert niemanden. Die Linken hinterherzuschwimmen. Erst der Kreuzschifffahrtstou- wollen möglichst viel von den Besonderheiten des VW- rismus, dann die Geschäftsreisenden und nun die Best Gesetzes und der Ausnahmestellung des Unternehmens Agers. Wir brauchen keine Schaufensteranträge, sondern Volkswagens bewahren. Das ist aber der falsche Ansatz. fraktionsübergreifend und unter Mitwirkung eines Tou- Gesetze sollten für alle Unternehmen gleichermaßen gel- rismusministers spürbare Maßnahmen, um allen Men- ten, auch das Aktiengesetz. Für eine Sonderbehandlung schen den Zugang zu und die Nutzung von touristischen und einen Schutz vor den Regeln des Kapitalmarkts gab Angeboten zu ermöglichen. Sicher wird die Zahl der und gibt es keinerlei Berechtigung. Langfristig profitie- Kinder und Jugendlichen in unserem Land kleiner, si- ren auch die Arbeitnehmer am meisten von offenen cher sind weder Menschen mit Behinderungen noch Mi- grantinnen und Migranten die Mehrheit der Bevölke- Märkten. Arbeitsplätze können nicht per Gesetz gesi- rung. Trotzdem ist gerade hier die Politik gefragt. chert werden, sondern nur, wenn ein Unternehmen am Markt erfolgreich ist und Gewinne erwirtschaftet. Volks- An erster Stelle fordern Sie von der Bundesregierung wagen sollte sich gegenüber anderen Autobauern durch „ein Leitbild für den Deutschlandtourismus unter beson- bessere Autos hervortun können, nicht durch Sonderge- derer Berücksichtigung der demographischen Entwick- setze. lung … zu erstellen“. Diese Forderung teilen wir, der Bundestag muss dazu aber andere Prämissen setzen, als Die Linken räumen in ihrem Antrag selbst ein, dass (B) Sie es tun. ihr Ansinnen ordnungspolitische Bedenken hervorruft. (D) Warum sollte bei VW weniger effizient gearbeitet wer- Die Linke hat sich unter dem Titel: „Reisen für alle, den müssen als in anderen Unternehmen? Warum sollten für sozial gerechten, barrierefreien und ökologisch ver- die Autos bei Volkswagen teurer produziert werden als antwortbaren Tourismus“ auf fünf Leitbilder verständigt, nötig? Besonders plastisch wird das an einer Vorschrift die wir gern in die Diskussion – auch um diesen Antrag – im VW-Gesetz, die den Gewerkschaften eine einzig- einbringen möchten. Für uns stehen im Mittelpunkt ers- artige Stellung verschafft: Für jede Entscheidung über tens das Recht auf Tourismus; zweitens die Rechte für einen Produktionsstandort ist eine Zweidrittelmehrheit die im Tourismusgewerbe Beschäftigten; drittens die im Aufsichtsrat nötig. Gegen das Votum der Gewerk- Verbesserung der Barrierefreiheit; viertens die ökologi- schaften kann keine Fabrik geschlossen werden, aber sche Verantwortbarkeit und fünftens der Tourismus im auch keine neue Werkshalle an einem neuen Standort ge- ländlichen Raum. Und: Wenn wir über Leitbilder disku- baut werden. tieren, sollten wir auch den Globalen Ethik-Kodex der Welttourismus-Organisation (UNWTO) sowie die zahl- In der FAZ vom 11. Februar 2008 schreibt Joachim reichen programmatischen Angebote vom Deutschen Jahn, der den Prozess vor Ort verfolgt hat: Tourismusverband, von der Nationalen Koordinierungs- stelle Tourismus – NatKo – und weiteren auf touristi- Wie verhängnisvoll gerade diese Bestimmung ist, schem Gebiet tätigen Vereinen und Verbänden einbezie- hat der Strafprozess um die Korruption von VW- hen. Betriebsräten durch Lust- und Luxusreisen deutlich gemacht. Ob Bernd Pischetsrieder oder Ferdinand Piëch – kein hochkarätiger Zeuge verzichtete im Anlage 10 Schwurgerichtssaal auf den Hinweis, dass sich das Management wegen dieser Vorschrift mit dem Vor- Zu Protokoll gegebene Rede sitzenden des Weltbetriebsrats, Klaus Volkert, habe zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur gutstellen müssen. Änderung des VW-Gesetzes (Tagesordnungs- Die europäischen Richter haben diese Bestimmung des punkt 18) VW-Gesetzes nicht aufgespießt. Sie mag europäischen Bestimmungen nicht entgegenstehen. Sie ist aber ganz Rainer Brüderle (FDP): In seinem Urteil zum VW- offenkundig nicht sinnvoll. Deshalb ist ein klarer Schnitt Gesetz hat der Europäische Gerichtshof im vergangenen fällig. Das System Volkswagen mit dieser Mentalität Herbst bemängelt, dass das VW-Gesetz abschreckend muss ein Ende haben. 16628 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Die Volkswagen AG ist nicht gleicher oder ungleicher in Zentralamerika und CARIFORUM in der Karibik be- (C) als jedes andere Automobilunternehmen in Deutschland. mühen sollte. Als Quelle einer kreativen und leistungsfähigen For- schung und Entwicklung, als Ort einer sich ständig per- Die Intensivierung der Zusammenarbeit ist in höchs- fektionierenden Produktion und als verlässlicher Steuer- tem Maße wünschenswert, weil wir sonst gegenüber den zahler ist die Volkswagen AG genauso schützenswert dynamisch wachsenden wirtschaftlichen Verflechtungen wie kleingewerbliche Werkstätten, mittelständische Zu- zwischen Lateinamerika und China ins Hintertreffen zu lieferunternehmen und andere deutsche Automobilher- geraten drohen. Das wäre vor allem für Deutschland eine steller. Auch für dieses Unternehmen muss deshalb der unangenehme Entwicklung, weil gerade deutsche Fir- Gleichheitsgrundsatz vor dem Gesetz gelten, welcher men in vielen Ländern – wie zum Beispiel Brasilien und das Vertrauen in unsere Rechtsstaatlichkeit schließlich Mexiko – einen erheblichen Teil des nationalen Brutto- begründet. sozialprodukts erwirtschaften. Und natürlich macht auch sein Rohstoffreichtum Lateinamerika höchst attraktiv für Es ist nicht die Aufgabe des Staates, Automobile zu uns und ganz Europa. bauen. Mit den bestehenden allgemeinen Vorschriften des Aktiengesetzes und des Handelsgesetzbuchs unter Hinzu kommt, dass im Hinblick auf multinationale Einhaltung der Satzung der Volkswagen AG ist das Un- Einrichtungen – wie zum Beispiel die UNO – gemein- ternehmen auch in Zukunft ausreichend geschützt. Das same Interessen und Auffassungen bestehen, was für die Ende des VW-Gesetzes ist überfällig. Selten war eine Durchsetzung von Reformvorhaben – wie etwa der Er- Reform so einfach wie hier. Jetzt sollte endlich die Gele- weiterung – des Sicherheitsrats von großem Interesse ist. genheit genutzt werden, das VW-Gesetz abzuschaffen Das reiche gemeinsame kulturelle Erbe und die enge und aus Volkswagen ein normales Unternehmen zu ma- geschichtliche Verflechtung legen es auch nahe, diese chen. Faktoren für den Ausbau der kulturellen und wissen- schaftlichen Zusammenarbeit zu nutzen. Ein Schwer- punkt der deutschen Südamerikapolitik könnte daher Anlage 11 sein, die Zusammenarbeit von Forschungseinrichtungen Zu Protokoll gegebene Reden und Universitäten sowie den kulturellen Austausch zu fördern. zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. Dezember 2003 über Das Abkommen der EU mit der Andengemeinschaft, Politischen Dialog und Zusammenarbeit zwi- das mit dem vorliegenden Gesetz wegen des Austritts schen der Europäischen Gemeinschaft und Venezuelas neu ratifiziert werden muss, ist auf eine um- (B) ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Anden- fassende Zusammenarbeit ausgerichtet. Es ist ein über- (D) gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten (Boli- aus großzügiger, flexibler Rahmen, der eben nicht wirt- vien, Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela) schaftliche Aspekte in den Mittelpunkt stellt, sondern andererseits (Tagesordnungspunkt 21) gleichermaßen dazu auffordert, sich auch um die Wah- rung demokratischer Grundsätze, die Einhaltung der Menschenrechte und allgemeine politische Fragen zu Eduard Lintner (CDU/CDU): Zwar ist der Grund kümmern. für das vorliegende Gesetz ein eher formaler – der Aus- tritt Venezuelas aus der Andengemeinschaft –, aber die Das bedeutet, dass in diesem Rahmen sehr wohl auch Gelegenheit, einmal – wenn auch nur kurz – über unsere über die jüngsten politischen Entwicklungen in zahlrei- Beziehungen zu Lateinamerika im Allgemeinen und zur chen südamerikanischen Staaten gesprochen werden Andengemeinschaft im Besonderen zu sprechen, ist kann. Es ist schließlich auch wichtig, nicht die Dialogfä- hoch willkommen: zum einen deshalb, weil die häufig higkeit mit den aktuell ins Amt gekommenen politischen beschworene „strategische Partnerschaft“ und die vielen Repräsentanten und den exponierten Vertretern der gemeinsamen kulturellen Wurzeln sowie das einigende neuen, häufig populistisch und links orientierten Par- Band gemeinsamer demokratischer Überzeugungen teien und Bewegungen zu verlieren. nicht nur verbal betont, sondern auch mit konkreten poli- tischen Inhalten gefüllt werden müssen, zum anderen, Im Rahmen eines solchen Dialogs sollte es auch da- weil sich in Lateinamerika derzeit ein radikaler politi- rum gehen, die europäischen Erfahrungen mit Demokra- scher Wandel vollzieht, der uns in Europa nicht gleich- tie, Rechtstaat und Menschen- und Bürgerrechten in den gültig sein kann. Auch steht die Reise der Bundeskanzle- südamerikanischen Entwicklungsprozess einzubringen. rin nach Südamerika unmittelbar bevor. Auch der Umgang mit Autonomiemodellen und dem Gedanken der Subsidiarität sowie der kommunalen Es ist also Zeit, dass auch der Deutsche Bundestag Selbstverwaltung könnten deutsche Beiträge zur in den sein Interesse am Geschehen in und um Lateinamerika südamerikanischen Ländern geführten Diskussion über zeigt und bekräftigt. geeignete staatliche Institutionen sein. Zunächst einmal weist das heutige Thema darauf hin, Ziel der Hilfe und des Dialogs kann es auch sein, an dass sich Europa und vor allem auch Deutschland um der Gestaltung der staatlichen Rechtsrahmen mitzuwir- enge, dann aber auch tatsächlich aktiv gepflegte Bezie- ken, die Fähigkeit zu Good Governance zu entwickeln hungen zu den regionalen Zusammenschlüssen Anden- und Methoden zum besseren sozialen Ausgleich in den gemeinschaft CAN und Mercosur in Südamerika, SICA jeweiligen Ländern zu unterstützen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16629

(A) Die heutige kurze Diskussion kann nur der Anfang ei- liegen dabei in der Institutionalisierung eines regelmäßi- (C) ner künftig intensiveren Befassung des Bundestages mit gen politischen Dialoges, in der Kooperation bei der en- dem lateinamerikanischen Subkontinent sein. Das gilt geren regionalen Integration der Andengemeinschaft, in für die EU insgesamt, aber vor allem auch für Deutsch- der Zusammenarbeit im Bereich des Handels zur besse- land im Besonderen. Deutschland gehört auch in dieser ren Integration der Andengemeinschaft in die Weltwirt- Region der Erde zu den besonders angesehenen Part- schaft, in der Kooperation bei der Bekämpfung des ille- nern. Das sollten wir gezielt, entschlossen und verant- galen Handels mit Drogen, Kleinwaffen und leichten wortungsbewusst nutzen. Waffen, sowie der Bekämpfung von Geldwäsche und des Terrorismus, in der Zusammenarbeit im Zollbereich, Lothar Mark (SPD): Der hier zu beratende Gesetz- im Bereich Normen, der technischen Vorschriften und entwurf „Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen Konformitätsbewertung, in der Zusammenarbeit im Be- vom 15. Dezember 2003 über Politischen Dialog und reich Umwelt, Landwirtschaft und Energie, in der Zu- Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemein- sammenarbeit im Bereich der Migration, sowie in der schaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der And- Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft und Finan- engemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten (Bolivien, zen, Wissenschaft und Technik sowie Soziales und Kul- Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela) andererseits“ tur. wird von der SPD-Bundestagsfraktion voll unterstützt. Auf dem dritten Gipfeltreffen der Staats- und Regie- Die Beziehungen zwischen der Andengemeinschaft rungschefs der EU und Lateinamerikas sowie der Kari- und der EU haben bereits eine längere Tradition. Bisher bik in Guadalajara im Jahr 2004 verständigten sich die basierten sie auf dem Kooperationsabkommen von 1993, EU und die Staaten der Andengemeinschaft auf die Be- das dem bereits 1983 unterzeichneten Rahmenabkom- deutung von Assoziierungsabkommen für die regionale men zwischen der damaligen EWG und dem früheren wirtschaftliche Integration. Die Assoziierungsverhand- Andenpakt über wirtschafts- und handelspolitische Zu- lungen wurden im Juni 2007 unter deutscher EU-Rats- sammenarbeit nachfolgte. Anlässlich des zweiten Gip- präsidentschaft aufgenommen. Angestrebt wird ein Ab- feltreffens der Staats- und Regierungschefs von Europa kommen der „vierten Generation“, dessen Zweck es ist, und Lateinamerika sowie der Karibik in Madrid im Jahr die regionale Integration zu stärken und die oben ge- 2002 wurde vereinbart, die biregionale Kooperation wei- nannten Abkommen durch neue Dimensionen zu ergän- ter auszubauen und mit der Andengemeinschaft in Ver- zen. Ziel ist es eine umfassendere – den Politikdialog, handlungen bezüglich eines Abkommens über politi- die Kooperation und den Handel beinhaltende – biregio- schen Dialog und vertiefte Zusammenarbeit zu treten. nale privilegierte Partnerschaft zu schaffen. Diese soll (B) Heute sehen wir mit dem hier behandelten Gesetzent- sich unter anderem auf die Wahrung und Förderung der (D) wurf das Resultat dieser Verhandlungen vor uns. Das Menschenrechte und demokratischen Verhältnisse, auf Abkommen wurde bereits am 15. Dezember 2003 unter- verantwortungsvolles Regieren, auf die Stärkung des zeichnet und liegt nun zur Ratifizierung vor. Das Ver- Multilateralismus, auf die Förderung der intraandinen tragswerk soll das Kooperationsabkommen zwischen der wirtschaftlichen und politischen Integration sowie auf EWG und der Andengemeinschaft aus dem Jahr 1993 er- die schrittweise Errichtung einer Freihandelszone grün- weitern und den Dialogmechanismus auf der Ebene der den. Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf zum Ab- Staats- und Regierungschefs sowie auf der Minister- kommen soll die Voraussetzung für ein solches, noch ab- ebene, der 1996 mit der „Erklärung von Rom“ zwischen zuschließendes, Assoziierungsabkommen einschließlich beiden Regionen institutionalisiert worden ist, weiterent- Freihandelsabkommen geschaffen werden. wickeln. Die Ratifizierung des vorliegenden Abkommens ist Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Abkom- unter anderem auch aus diesem Grund nicht nur für die men sollen die politischen und wirtschaftlichen Bezie- Andengemeinschaft, sondern auch für die EU von gro- hungen zwischen der EU und der Andengemeinschaft ßer Bedeutung. Denn die EU hat ein Interesse an starken, intensiviert und vertieft und die wirtschaftliche, soziale politisch handlungsfähigen Regionen in Weltwirtschaft und kulturelle Entwicklung der Andenstaaten unterstützt und Weltpolitik und an einer Intensivierung der Koope- werden. Der Vertrag beruht auf den Grundsätzen der re- rationsbeziehungen zwischen diesen – eine engere Zu- gionalen Partnerschaft und unterstreicht einen weitge- sammenarbeit zwischen der EU und der Andengemein- henden Wertekonsens, etwa in Bezug auf die Wahrung schaft im Hinblick auf die Vereinten Nationen wäre nur der Grundsätze der Demokratie, die Achtung der Men- eine der vielfältigen Möglichkeiten. Insgesamt ist ein schenrechte, sowie in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip. stärkeres Zusammenrücken der Regionen heute wichti- Ziel ist es, Stabilität und regionale Integration in der An- ger denn je, da sich die große Herausforderung unserer denregion sowie Armutsbekämpfung und nachhaltige Zeit, die sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Ge- Entwicklung zu fördern. staltung der Globalisierung, nicht mehr auf nationaler Zwar enthielt das Abkommen von 1993 bereits die Ebene bewältigen lässt. Akteure im globalen Maßstab Wahrung demokratischer Grundsätze und Einhaltung der können hierbei nur handlungsfähige Regionen sein, die Menschenrechte als wesentliches Element der Zusam- Interessen und Politiken formulieren. Die regionale Inte- menarbeit, mit dem neuen Abkommen wird die Koope- gration und die interregionale Kooperation ist heutzu- ration jedoch nochmals intensiviert und ein Abkommen tage eine der wichtigsten strategischen Antworten auf der „dritten Generation“ geschlossen. Die Schwerpunkte die Globalisierung. 16630 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Die Andengemeinschaft ist in diesem Bereich auf- Neben der wirtschaftlichen Dimension ist jedoch (C) grund ähnlicher Interessen ein prädestinierter Partner für auch die wertebezogene Dimension von erheblicher Be- die EU. Sie ist trotz den in den vergangenen Jahren deutung, denn die biregionale Partnerschaft basiert auf – insbesondere durch den Austritt Venezuelas im Jahr einer hohen Deckung politischer und kultureller Werte. 2006 – deutlich gewordenen ideologischen Differenzen Der Abschluss eines umgreifenden politischen Abkom- zwischen den Mitgliedstaaten noch immer eine der tradi- mens mit der Andengemeinschaft, würde die Regionen tionsreichsten regionalen Organisationen innerhalb La- weiter miteinander verbinden und die Glaubwürdigkeit teinamerikas. Ihr Integrationsvorhaben ist sehr weitrei- der EU in der Beteuerung der Wichtigkeit dieser Partner- chend und entspricht in wesentlichen Elementen den schaft unterstreichen. Denn letztlich ist Lateinamerika europäischen Bestrebungen. Dies zeigt sich beispiels- Europa so zugewandt wie kaum eine andere Region der weise daran, dass die Rechtsvorschriften der Andenge- Welt. Diese Chance sollten wir nicht verspielen, sondern meinschaft direkt, das heißt ohne eine Umsetzung in na- nutzen. Das hier verhandelte Abkommen ist ein wichti- tionales Recht, anwendbar sind und Vorrang vor dem ger Schritt in diese Richtung, denn es geht eben nicht nationalen Recht haben. Trotz der insgesamt recht hohen ausschließlich um wirtschaftliche Kooperation, sondern rechtlichen und institutionellen Ausdifferenzierung der auch um die Umsetzung gemeinsamer politischer und Andengemeinschaft, bleibt diese dennoch oft hinter ih- sozialer Grundwerte. ren Möglichkeiten zurück und befindet sich nicht zuletzt Vor dem Hintergrund der hier aufgezählten Punkte in Konsequenz der ideologischen Differenzen zwischen wird deutlich, wie wichtig es für beide Regionen ist, dass ihren Mitgliedstaaten derzeit in einer schwierigen Phase. die interregionale Zusammenarbeit mit dem vorliegen- Die im Abkommen vorgesehene Kooperation der EU bei den Abkommen weiter vertieft wird. Die in dem Ver- der engeren regionalen Integration der Andengemein- tragswerk angelegte weiterreichende Institutionalisie- schaft und die ebenfalls im Abkommen vorgesehene rung eines regelmäßigen politischen Dialoges zwischen Förderung der intraandinen wirtschaftlichen und politi- der Andengemeinschaft und der EU kann für beide Sei- schen Integration könnten dem Integrationsbündnis ten nur von Vorteil sein. Denn angesichts der Notwen- wichtige neue Impulse verschaffen und zur Konsensfin- digkeit einer Anpassung an die Herausforderung der dung unter den Mitgliedstaaten der Andengemeinschaft Globalisierung können beide Regionen im Umgang mit- beitragen. einander lernen und voneinander profitieren. Der vorlie- gende Gesetzentwurf ermöglicht dies und wird deshalb Diese Möglichkeit sollte unbedingt ergriffen werden, von der SPD-Bundestagsfraktion unterstützt. denn die EU hat ein großes Eigeninteresse an Stabilität und demokratischer Entwicklung in der von großen so- (B) zialen Ungleichheiten geprägten Andenregion – so zum Marina Schuster (FDP): Die FDP-Fraktion stimmt (D) Beispiel im Bereich der Sicherheit sowie der Konflikt- dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Vertiefung prävention und -bewältigung. Das europäische Wirt- der Beziehungen zwischen den Staaten der Andenge- schafts- und Sozialmodell mit seiner Idee von Chancen- meinschaft und der Europäischen Union zu. Es ist richtig gleichheit und Solidarität könnte im Hinblick auf die und wichtig und längst erforderlich, dass Europa in die- sozialen Disparitäten in der Andengemeinschaft ein inte- ser Region eine stärkere Rolle spielt – zur Stabilisierung, ressanter Bezugspunkt sein. Es liegt also im Interesse zur Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beider Seiten, die wirtschaftlichen und politischen Be- und insbesondere auch deshalb, weil Mitbewerber die ziehungen auf gleichberechtigter Ebene weiterzuentwi- Bedeutung der Region längst erkannt haben und wir um ckeln. einiges hinterherlaufen. Es wird höchste Zeit, dies zu än- dern. Zudem gilt es auch die wirtschaftliche Seite der regio- nalen Kooperation nicht gering zu schätzen. Deutsch- Dass die Bundesregierung im Jahre 2008 einen Ge- land als politische Mittelmacht mit einer stark export- setzentwurf zu einem Abkommen einbringt, das bereits wirtschaftlichen Ausrichtung hat ein Interesse, im 2003 geschlossen wurde, gereicht ihr nicht gerade zur Rahmen der EU mit den Staaten der Andengemeinschaft Ehre. Vielmehr macht dies deutlich, dass die Andenge- zu kooperieren. Die deutsche Wirtschaft als Exporteur meinschaft wie andere (latein)amerikanische Regionen eben noch kein echter „strategischer Partner“ ist, wie es von Sekundärgütern benötigt entwickelte Absatzmärkte auch in diesem Abkommen heißt, sondern in Wahrheit in und eine mit entsprechender Kaufkraft ausgestattete der Außenpolitik der Bundesregierung und der EU nach- Nachfrageseite. Nicht zuletzt birgt auch eine Zusammen- rangig behandelt wird. Es ist falsch, diese Region, diesen arbeit mit der Andengemeinschaft im Energiebereich so- Kontinent „links liegen zu lassen“. Der Austritt Vene- wie in der Klima- und Umweltpolitik interessante Per- zuelas aus der Andengemeinschaft im Jahre 2006 ist nur spektiven. Eine engere Kooperation auf diesen Gebieten bedingt eine Entschuldigung. Denn wenn Sie mich fra- wäre folglich auch wirtschaftlich von Vorteil für gen, kann ich dazu nur sagen, dass dieses Abkommen Deutschland und die EU. Dies gilt umso mehr, da Ko- auch vor 2006 längst hätte verabschiedet werden müs- lumbien und Peru bereits mit den USA ein Freihandels- sen. abkommen abgeschlossen haben, wenngleich es im ko- lumbianischen Fall noch nicht ratifiziert ist. Umso Die aktuellen Entwicklungen in der Region stimmen dringlicher scheint es mir deshalb, dass die EU ihr Enga- wenig optimistisch. Das Superwahljahr 2006 hat die po- gement in diesem Bereich nun ebenfalls verstärkt und litische Landkarte massiv verändert – und die Zusam- mehr Präsenz zeigt. menarbeit nicht gerade leichter gemacht. Bolivien, das Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16631

(A) einst als entwicklungspolitisches Musterland galt, ihrer Lateinamerika-Reise im Mai viele Möglichkeiten (C) konnte erst vor kurzem mit großen Mühen eine schwere dazu. Verfassungskrise verhindern. Die Versuche von Vene- zuelas Präsident Hugo Chávez, seinen regionalen Füh- Heike Hänsel (DIE LINKE): Das Abkommen, das rungsanspruch immer wieder deutlich zu machen und mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf ratifiziert wer- ihn auszubauen, tun ihr Übriges, dass die Region nicht den soll, ist längst in Kraft. Dennoch hat die Fraktion Die zur Ruhe kommt. Dabei sind die innenpolitischen He- Linke eine Debatte dazu beantragt. Denn das Abkommen rausforderungen in fast allen Staaten Lateinamerikas gi- diente der Vorbereitung der jetzt anlaufenden Assoziie- gantisch: Massenarmut und die nach wie vor extrem un- rungsverhandlungen zwischen der EU und der Andenge- gleiche Verteilung der Einkommen sind eine permanente meinschaft und hat deshalb aktuelle entwicklungspoliti- Gefahr für den sozialen Frieden und die innere Stabilität sche Brisanz. Und zugleich hat sich seit Abschluss des der lateinamerikanischen Gesellschaften sowie der Abkommens 2003 in der Partnerregion vieles verändert. Nährboden für Kriminalität, Nepotismus und Populis- Die Hegemonie neoliberaler Entwicklungsmodelle, die mus. Die Ineffizienz vieler Verwaltungen und die feh- diesem Abkommen noch zugrunde liegt, ist in Latein- lende Transparenz bei der Regierungsführung bieten amerika mittlerweile massiv infrage gestellt und an vie- weiterhin Anlass zur Sorge. len Punkten erfolgreich aufgebrochen worden – auch im Trotzdem gibt es auch in der derzeit stark variieren- Andenraum. In Bolivien und Ecuador sind im Wider- den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen stand gegen neoliberale Politik breite soziale Bewegun- Landkarte Lateinamerikas Möglichkeiten für deutsche gen herangewachsen und haben schließlich einen politi- und europäische Initiativen. Auch Vertreter der Anden- schen Wandel herbeigeführt. gemeinschaft äußern immer wieder den Wunsch, sich enger an die EU zu binden – auch weil sie nach einem Gestützt auf diese Mobilisierung entwerfen die neuen „dritten Weg“ zwischen einer Dominanz durch Vene- linken Regierungen eine alternative Politik mit dem Ziel zuela einerseits und einer Anbindung an die USA ande- einer größere Teilhabe an politischer Macht und Wohl- rerseits suchen. Hierin liegt unser strategisches Poten- fahrt der bislang davon ausgeschlossenen sozialen zial, durch dessen effektive Nutzung wir unsere Schichten und ethnischen Gruppen und mit dem Ziel, die politischen und wirtschaftlichen Interessen verfolgen demokratische Verfügung über die Reichtümer der Län- können. Politisch heißt das: werben für das Modell des der gegen die Profitinteressen ausländischer Konzerne demokratischen Rechtsstaates und der sozialen Markt- zu verteidigen bzw. überhaupt erst wieder herzustellen. wirtschaft, Eintreten für bürgerliche und soziale Rechte Die Verfassungsprozesse in diesen beiden Andenländern und Anbindung an die EU. Das kann man dann wirklich sind der deutlichste Ausdruck für die Suche nach neuen (B) als „strategisch“ bezeichnen. Wirtschaftlich heißt dies, Grundlagen für das gesellschaftliche Zusammenleben im (D) dass wir deutsche Unternehmen, die in der Region inves- Inneren und für die Beziehungen nach außen. tieren wollen, besser begleiten müssen. Attraktive Ange- Die EU wird deshalb in ihrem Bestreben, mit der bote, insbesondere im Bereich der erneuerbaren Ener- Andengemeinschaft ein Freihandelsabkommen nach gien, sind dabei durchaus vorhanden. dem Muster WTO-plus abzuschließen, auf erheblichen Dass all dies nicht funktioniert, liegt auch daran, dass Widerstand stoßen. Das Abkommen von 2003 ist des- die EU und ihre Mitgliedstaaten, also eine Seite der Ver- halb an vielen Punkten nicht mehr auf der Höhe der Zeit, tragspartner des heute zu beratenden Abkommens, im wenn man nach Lateinamerika schaut. Es spiegelt aller- Hinblick auf diese Region keine wirklich kohärente Poli- dings zugleich die leider nach wie vor gültige neolibe- tik betreiben. Solange einzelne Mitgliedstaaten der EU rale Freihandelspolitik der EU wider, die sich an der unter Verweis auf ihre besonderen „historischen Bezie- Durchsetzung bilateraler WTO-plus-Abkommen orien- hungen“ insbesondere in politischen Fragen aus dem eu- tiert und die wir als Fraktion Die Linke ganz klar ableh- ropäischen Konsens ausscheren, wird Europa nicht wirk- nen: Der spätere Abschluss eines Freihandelsabkom- lich Gewicht in dieser Region bekommen. Hier gilt es, mens ist in dem Abkommen als Ziel formuliert; die innerhalb der EU noch eine Menge an Hausaufgaben zu Partner werden verpflichtet, den Schutz geistiger Eigen- machen. Ich fordere die Bundesregierung auf, hier aktiv tumsrechte nach „den strengsten internationalen Normen tätig zu werden! zu gewähren“; der diskriminierungsfreie Zugang zu Ausschreibungen im öffentlichen Beschaffungswesen Ich verstehe auch nicht, wieso wir national dermaßen wird angestrebt; die Wettbewerbspolitik soll harmoni- bescheidene Ansätze verfolgen. Die Kanzlerin hat letz- siert werden. Spielräume für eine souveräne Strukturpo- tes Jahr Indien besucht und im Zuge dieser Reise ein am- litik in den Andenländern werden durch diese Zielset- bitioniertes Ziel für den bilateralen Handel zwischen zungen massiv infrage gestellt. Deutschland und Indien gesteckt, nämlich eine Verdopp- lung des Handels innerhalb der nächsten fünf Jahre. Ich Alle diese Punkte stehen nun auch auf der Agenda der denke wir sollten den Mut haben, uns selbst solche EU-Kommission für die Verhandlungen über die Asso- Benchmarks zu setzen – mit Blick auf die Andengemein- ziierungsabkommen. An anderer Stelle ist im Abkom- schaft, aber auch mit Blick auf Lateinamerika insgesamt, men von der Stärkung der Privatwirtschaft und von der und zwar wirtschaftlich, politisch und auch in unserer „Stärkung der wirtschaftlichen Beziehungen in Schlüs- Entwicklungszusammenarbeit. Das heute zu verabschie- selbereichen“ wie Wasser und Energie, Öl und Gas die dende Abkommen bietet dazu einen Ansatzpunkt, den Rede. Die Volksbewegung gegen die Wasserprivatisie- die Bundesregierung nutzen sollte. Die Kanzlerin hat bei rung in Cochabamba, die Verstaatlichung der Öl- und 16632 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Gasvorkommen in Bolivien und der Stand der Verfas- Wir verweigern dem Gesetzentwurf zur Ratifizierung (C) sungsprozesse in Bolivien und Ecuador sind über diese des Abkommens unsere Zustimmung und fordern neue kaum verhohlene Absicht der EU, ihren Unternehmen Grundlagen für eine neue Partnerschaft. den Zugang in diese „Schlüsselbereiche“ zu eröffnen, hinweggegangen. Wie überhaupt viele Absichtserklärun- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zum gen aus diesem Abkommen, das ja noch mit den alten fünften Mal findet in wenigen Wochen ein Gipfeltreffen neoliberalen Regierungen abgeschlossen worden ist, der Staats- und Regierungschefs der EU, Lateinamerikas keine praktische Umsetzung mehr finden dürften, wenn und der Karibik statt. Leider beschränkte sich das Ergeb- die Verfassungsprozesse in den Andenländern weiter nis der bisherigen Gipfel zu oft darauf, dass man die ge- voranschreiten. meinsamen Werte der beiden Regionen hochhielt. Viel Auf Solidarität begründete Abkommen zwischen Substanzielles ist bisher noch nicht zustande gekommen. Partnern mit einem Wohlstandsgefälle, wie es zwischen Ursprüngliches Ziel der Gipfel war es, die Beziehungen der EU und den Andenstaaten besteht, sehen für die zwischen den beiden Regionen zu stärken und zu vertie- Fraktion Die Linke jedenfalls anders aus, übrigens auch fen, um „eine strategische Partnerschaft für das 21. Jahr- für die bolivianische Regierung. Diese hat bereits 2007 hundert“ zu schaffen. einen Vorschlag für ein solidarisches, faires Abkommen zwischen EU und Andengemeinschaft vorgelegt, auf den Allein die Tatsache, dass es in Deutschland über vier die EU allerdings in keiner Weise reagiert hat. Ich will Jahre gedauert hat, das Abkommen über politischen Dia- die wichtigsten Elemente deshalb nochmals nennen. log und Zusammenarbeit mit der Andengemeinschaft zu ratifizieren, lässt die Beteuerungen, wie wichtig die Part- Die bolivianische Regierung fordert, die Bedürfnisse nerschaft mit Lateinamerika und der Karibik für die EU der Bevölkerung und der Umwelt über die Interessen der sei, in einem anderen Licht erscheinen. In einem Licht, transnationalen Unternehmen zu stellen, und betont den dass der Wichtigkeit dieser Partnerschaft nicht gerecht Anspruch, ihre nationale Politik in allen Bereichen sou- wird. Aber wir werden vor dem Gipfel auch in diesem verän gestalten zu können. Dazu gehört sowohl die Hause noch Gelegenheit haben, uns hiermit eingehender Möglichkeit, durch staatliche Anreize und Auftragsver- zu beschäftigen. gaben an einheimische Unternehmen gezielte Struktur- politik zu betreiben, als auch das Recht, inländische Assoziationsabkommen mit regionalen Integrations- Märkte für die eigene Landwirtschafts- und Industrie- bündnissen sind ein Instrument, um die „strategische produktion vor dem Verdrängungswettbewerb mit euro- Partnerschaft für das 21. Jahrhundert“ umzusetzen. Im päischen Konkurrenten zu schützen. Juni 2007 haben die EU und die Andengemeinschaft (B) Verhandlungen für ein Assoziationsabkommen aufge- (D) Völlig zu Recht fordert die bolivianische Regierung, nommen. Sie gestalten sich jedoch zäh, ein Abschluss ist den Zugang zu Generika zu garantieren und die Zwangs- nicht in Sicht. Beim Abkommen mit dem Mercosur sieht lizenzen für patentierte Medikamente auszuweiten, um es ähnlich aus. den Bedarf zur Sicherung des öffentlichen Gesundheits- wesens zu decken, und das Verbot der Patentierung von Bei unserer heutigen Debatte geht es jedoch zunächst Pflanzen, Samen, Tieren und Mikroorganismen sowie je- um ein Abkommen über politischen Dialog und Zusam- dem lebendem Material. Vor dem Hintergrund der aktu- menarbeit, das wiederum die Grundlage für ein Assozia- ellen Hungerkrise in vielen Teilen der Welt möchte ich tionsabkommen zwischen der EU und der Andenge- abschließend folgende Formulierung aus dem boliviani- meinschaft bildet. Die Andengemeinschaft setzt sich aus schen Vorschlag hervorheben: vier Staaten zusammen, die erhebliche wirtschaftliche und politische Schwierigkeiten zu lösen haben: In Boli- Die Landwirtschaft kann nicht wie jede andere vien leben 60 Prozent der Bevölkerung in Armut, in Ko- wirtschaftliche Tätigkeit behandelt werden, da von lumbien fast 50 Prozent. In Bolivien und Ecuador wer- ihr die Ernährung und das Leben von Millionen von den neue Verfassungen erarbeitet. Prozesse, die, vor Menschen sowie das Überleben und die Kultur vie- allem in Bolivien, zu starken Spannungen innerhalb der ler Hundert indigener Völker in der Andenregion Gesellschaft führen. In Kolumbien herrscht nach wie vor abhängen. Die Staaten haben das Recht und die ein interner Konflikt. Ein Ende ist nicht in Sicht. Im Verpflichtung, die Souveränität und die Ernäh- März dieses Jahres drohte gar die Regionalisierung des rungssicherung ihrer Bevölkerung zu garantieren Konflikts, nachdem kolumbianische Truppen Mitglieder und das Gemeingut über die Interessen der Agrar- der FARC auf ecuadorianischem Gebiet töteten. wirtschaft zu stellen. In dieser unbeständigen Region kann und muss die Wir haben bereits vor einiger Zeit in einem Antrag EU einen Beitrag zu Stabilität und Entwicklung leisten. gefordert, die Anregungen aus Bolivien in die Asso- Ein künftiges Assoziationsabkommen muss dazu beitra- ziierungsverhandlungen aufzunehmen. Vor dem Hinter- gen, die Demokratien zu konsolidieren, Konflikte zu lö- grund der sich im Andenraum vollziehenden gesell- sen, die regionale Integration zu stärken und die Wirt- schaftlichen Umbrüche wird es immer wichtiger, nicht schaft zu stabilisieren. So kann die EU zur nachhaltigen mit den alten neoliberalen Schablonen auf die Partner Entwicklung der Länder beitragen. Dabei darf nie außer zuzugehen, sondern offen zu sein für alternative Vor- Acht gelassen werden, wem diese Entwicklung vor al- schläge, die von dort kommen. lem zugute kommen muss: den Armen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16633

(A) Ein faires Abkommen muss einen verbesserten Markt- wortung sind, fordern Sie genau das, was Sie selber in (C) zugang für landwirtschaftliche Produkte aus der Anden- der Regierung nicht umgesetzt haben. gemeinschaft schaffen, nicht nur für Rohstoffe sondern Ich erinnere Sie gerne daran, weshalb Sie wahrschein- auch für weiterverarbeitete Produkte. Gleichzeitig muss lich damals der Meinung waren, dass ein externer Fonds aber auch über ökologische und soziale Mindeststan- nicht die beste Lösung ist. Ein Fonds bietet beispiels- dards und Nachhaltigkeitskriterien gesprochen werden, weise keine höhere Sicherheit der Finanzierung. Im Ge- ebenso wie über einen Abbau der den Handel verzerren- genteil. Das Rückstellungssystem der deutschen Ener- den Agrarsubventionen der EU. gieunternehmen durchläuft mehrere Kontrollinstanzen. Diese Öffnung der europäischen Märkte darf aber Zuerst werden die Unterlagen des Kraftwerkbetreibers nicht gleich wieder durch noch umfangreichere Zuge- von einer unabhängigen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ständnisse der anderen Seite bei Investitionen, Dienstleis- begutachtet. Das Ergebnis wird dann durch die zustän- tungen und dem öffentlichen Beschaffungswesen zu- dige Finanzverwaltung erneut und vollständig überprüft. nichte gemacht werden. Nur so kann eine positive Das ist eine Kontrolldichte, die in Umfang und Tiefe je- Außenhandelsbilanz der schwächeren Länder zu deren fi- dem externen Fonds überlegen ist. nanziellen Stabilität beitragen. Und ihnen muss das Recht Die deutsche Rückstellungspraxis ist aber auch sys- zugestanden werden, mit dem Ziel der Ernährungssouve- tembedingt die bessere Lösung. Bei einem Fonds haften ränität ihren Agrarsektor zu schützen – und ebenso den nur die Fondsmittel; bei dem Rückstellsystem stehen die sich noch im Aufbau befindenden Industrie- und Dienst- gesamten Aktiva des Unternehmens für die Erfüllung leistungssektor. Besonders Bolivien wehrt sich gegen Li- der Entsorgungsverpflichtung zur Verfügung und auf- beralisierungsdruck von Seiten der EU. Den Partnerlän- grund bestehender Unternehmensverträge zusätzlich dern muss das Recht zugestanden werden, ihren eigenen noch die Aktiva der Konzernmütter. Außerdem hat mir Entwicklungspfad zu definieren und zu beschreiten. noch niemand beweisen können, dass Geld in staatlicher Hand besser angelegt ist als bei Wirtschaftsunterneh- men; im Gegenteil: Die DDR lässt grüßen. Anlage 12 Aber auch juristisch würde eine Fondslösung auf Zu Protokoll gegebene Reden wackligen Beinen stehen, kommt sie schließlich einer zur Beratung des Antrags: Fonds Ökowandel – Enteignung gleich. Das deutsche Rückstellsystem hinge- Neues Wirtschaften mit altem Geld – Der grüne gen ist bis in die höchsten Instanzen geprüft. So hat der Fonds aus den Rückstellungen der Atomwirt- Europäische Gerichtshof im Dezember 2007 die Rück- schaft (Tagesordnungspunkt 20) stellungspraxis einer eingehenden juristischen, betriebs- (B) sowie volkswirtschaftlichen und steuerrechtlichen Ana- (D) lyse unterzogen und ist zu dem Urteil gekommen, dass Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Die Stilllegung weder eine Vergünstigung im Sinne einer staatlichen und der Rückbau von Kernkraftwerken sowie die Ent- Beihilfe noch ein Wettbewerbsvorteil oder ein Steuerpri- sorgung der radioaktiven Abfälle sind sensible und kom- vileg vorliegt. plexe Themen, die gerne zu populistischer Politik ausge- nutzt werden. Aber schauen wir doch zunächst einmal Das einzige Argument, was mir den Antrag sympa- auf die Fakten. In Deutschland gehört die sach- und thisch macht, ist, dass er bei Annahme den Atomkonsens fachgerechte Beseitigung eines ausgedienten Kernkraft- ins Wanken bringen würde. In Ziffer III 2. der Kernener- werkes zu den wirtschaftlichen Angelegenheiten der Be- gieverständigung vom 14. Juni 2006 ist festgelegt: treiberfirmen. Für diese atomrechtlich vorgeschriebenen Die Bundesregierung wird keine Initiative ergrei- Aufgaben bilden die Energieunternehmen bilanzielle fen, mit der die Nutzung der Kernenergie durch ein- Rückstellungen, um Sorge zu tragen, dass die künftige seitige Maßnahmen diskriminiert wird. Dies gilt Finanzierung sichergestellt ist. Die handelsrechtlich vor- auch für das Steuerrecht geschriebenen Rückstellungen sind grundsätzlich in die Steuerbilanz zu übertragen. Die Finanzierung von Still- Wenn Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, legung und Rückbau sowie Abfallentsorgung hat somit mit diesem Antrag also bezwecken wollen, den soge- wirtschaftliche, atomrechtliche und steuerrechtliche Be- nannten Atomkonsens aufzukündigen, dann haben Sie standteile. meine volle und ganze Unterstützung. Sie wissen, aber wollen es nicht wahrhaben, dass dieser politisch willkür- Aus Sicht der Union gibt es keinen Grund, daran zu lich festgelegte Ausstieg weder umweltpolitisch noch rütteln. Alle Regierungen, auch die rot-grüne, haben bis- wirtschaftspolitisch sinnvoll und schon gar nicht ver- her alle Fondsmodelle zu Recht abgelehnt. Sie von den braucherfreundlich ist. Man kann die Zahlen und Fakten Grünen waren es doch, die mit der SPD einen Gesetzent- drehen und wenden wie man will, es ist unmöglich, alles wurf von Herrmann Scheer, der von 32 weiteren SPD- gleichzeitig zu erreichen: die Klimaschutzziele, die Ver- Abgeordneten unterzeichnet war, zugunsten des soge- sorgungssicherheit, bezahlbaren Strompreis – und dies nannten Atomkonsenses abgelehnt haben. Sie waren es ohne Kern- und Kohlekraftwerke. doch, die 2003 eine entsprechende Forderung der dama- ligen Vizepräsidentin und Kommissarin für Verkehr und Wir können es gerne gemeinsam durchrechnen. Sagen Energie der EU-Kommission, Loyola de Palacio, aus wir einmal, wir schaffen es, den Anteil der erneuerbaren „nuklearwirtschaftlichen und aus übergeordneten Grün- Energien in 2020 auf 30 Prozent zu erhöhen. Damit den“ abgelehnt haben. Nun, da Sie nicht in der Verant- könnte der Anteil der Atomkraft ersetzt werden. Aber 16634 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) was ist mit den anderen 70 Prozent? Über zwei Drittel ganze Welt schaffen. Lassen Sie uns doch die technolo- (C) unseres Strombedarfs werden wir dann immer noch gische Leistungsfähigkeit Deutschlands bei der Stromer- durch schadstoffreiche, fossile Energieträger abdecken zeugung – sei es bei den erneuerbaren Energien, wo wir müssen. sehr gut aufgestellt sind, sei es durch Clean-Coal-Tech- nologie, die vielleicht ab 2020 auch wirtschaftlich zur Schauen wir mal über unsere Landesgrenzen hinaus. Verfügung steht – als auch im Gebäudebereich mit Ein- Während in Deutschland der Ausstiegsbeschluss noch sparungen, Wärmedämmung und anderen Dingen sowie steht, werden in anderen Ländern rund um den Globus, im Transportbereich nutzen. Mit dieser Strategie könn- etwa in Finnland, Frankreich, China und den USA, die ten wir nicht nur in Deutschland Klimaschutz betreiben Laufzeiten von Kernkraftwerken verlängert oder neue und einen weltweiten Beitrag leisten, sondern wir wür- Kernkraftwerke gebaut. Die Welt orientiert sich nicht an den auch noch etwas für die Wettbewerbsfähigkeit unse- demjenigen, der aussteigen will, sondern geht exakt den res Standorts tun sowie Arbeitsplätze und eine gute Zu- umgekehrten Weg. Darum wird für die Union die Kern- kunft für Deutschland schaffen. energie auch künftig im deutschen Energiemix eine ent- scheidende Rolle spielen. Denn wenn wir einen europäi- Energieeinsparungen, ein weitreichender und ausge- schen Binnenmarkt für Strom haben, dann entscheidet wogener Energiemix und der Ausstieg aus dem Ausstieg der Verbraucher, von wem er den Strom bezieht. So kann sind die Schritte auf dem Weg zu einer sicheren, um- es passieren, dass wir eines Tages in großem Umfang weltfreundlichen und bezahlbaren Energieversorgung in Kernenergie aus anderen europäischen Ländern impor- Deutschland. In den ersten beiden Punkten herrscht ja tieren müssen, und dann hätten wir mit Zitronen gehan- weitestgehend Einigkeit. Wenn dieser Antrag der erste delt. Schritt zum Ausstieg aus dem Ausstieg sein sollte, wä- ren wir von der Union gerne bereit, über die Inhalte zu Italien ist dafür ein warnendes Beispiel. Das Land hat sprechen. Da dies aber aller Wahrscheinlichkeit nach 1987 den Ausstieg beschlossen und 1990 den letzten Re- nicht der Fall ist, lehnen wir den Antrag ab. aktor vom Netz genommen. Dafür beziehen die Italiener jetzt rund 14 Prozent ihres Stromverbrauchs aus auslän- dischen Kernkraftwerken. Ein Vorbild, dem Deutschland Rolf Hempelmann (SPD): Wir diskutieren heute ei- nicht folgen sollte. nen Antrag der Grünen, in dem für einen „Fonds Öko- wandel“, für „Neues Wirtschaften mit altem Geld“ plä- Deutschland sollte lieber seine bisherige Vorreiter- diert wird. Kurz gesagt, geht es den Antragstellern rolle fortführen. Wir haben nicht nur die Chance, unsere darum, die von den Betreibern der Kernkraftwerke im nationalen und internationalen Klimaschutzziele zu er- Rahmen ihrer nuklearen Entsorgungsverpflichtungen ge- reichen. Es ist sogar möglich sie zu übertreffen. Wir kön- (B) bildeten Rückstellungen in einen öffentlich kontrollier- (D) nen 45 statt 40 Prozent der Treibhausgase bis 2020 redu- ten Fonds zu überführen, dessen Tätigkeit dann an öko- zieren, wenn wir denn wollen und der eine oder andere logischen, sozialen und ethischen Kriterien auszurichten seine ideologischen Scheuklappen ablegt. Dazu müssen wäre. Einerseits soll auf diese Weise die Finanzierungs- wir nur die politisch willkürliche Verkürzung der Lauf- sicherheit des Systems erhöht werden, und andererseits zeiten der Kernkraftwerke zurücknehmen. Diese Lösung soll nachhaltiges Investment gefördert werden. Beides ist nicht nur umweltfreundlich, sondern auch wirtschaft- klingt durchaus positiv. Problematisch ist allerdings, lich. Kosten in der Größenordnung von 5 Milliarden dass uns kaum schlüssig dargelegt wird, wie insbeson- Euro pro Jahr könnten uns erspart bleiben. Das ist im- dere das erste der beiden genannten Ziele auf der Grund- merhin fast das 6,5-fache des Jahresetats des Bundesum- lage des vorgeschlagenen Fonds sichergestellt werden weltministeriums. soll. Hier machen es sich die Grünen zu leicht. Von den Grünen kommt doch immer die Forderung, Vergegenwärtigen wir uns doch zunächst einmal die mehr für den Verbraucher und den Wettbewerb zu tun. aktuelle Praxis der Rückstellungsbildung: Aktuell wer- Hier wäre es möglich; doch Sie verweigern sich. Für Sie den die Rückstellungen, die sich inzwischen auf rund und für Teile der SPD ist das zwanghafte Festhalten am 30 Milliarden Euro belaufen, durch Passivierung der Ausstieg aus der Kernkraft wichtiger als die Energiever- künftigen Verbindlichkeit in der Handelsbilanz gebildet. braucher, also die Haushalte, die Menschen und die Es wird mithin ein Aufwand verbucht, ohne dass tat- Wirtschaft, in einer Größenordnung von 6 Prozent zu sächlich Mittel aus dem Unternehmen abfließen. Damit entlasten. soll sichergestellt werden, dass die zur Erfüllung der Der Ausstieg aus dem Ausstieg wäre nicht nur wirt- Verpflichtung notwendigen Mittel im Unternehmen ver- schaftlich und umweltfreundlich, sondern auch ein Bei- bleiben und nicht ausgeschüttet werden. Die Folge ist, trag zur Versorgungssicherheit unseres Landes. Denn dass sich in dem jeweiligen Geschäftsjahr der zu ver- wenn wir die erneuerbaren Energien wie geplant massiv steuernde Gewinn mindert und die rückgestellten Mittel ausbauen, wird deren Anteil auf 30 bis 35 Prozent er- zur Innenfinanzierung innerhalb des Konzerns zur Ver- höht. Wenn wir gleichzeitig die Kernenergie weiterlau- fügung stehen. Im Blick über den nationalen Tellerrand fen lassen, liefert diese weitere 30 Prozent. So könnten ist dies ein Finanzierungssystem, das durchaus Anerken- wir in 2020 über zwei Drittel der Stromproduktion na- nung findet. hezu CO -frei und importunabhängig herstellen. 2 Ich denke, wir alle haben insbesondere aufgrund der Mit dieser Entscheidung könnten wir eine Win-win- in den kommenden Jahrzehnten in Deutschland und Eu- Situation nicht nur für Deutschland, sondern für die ropa anstehenden Stilllegungen von Kernkraftwerken Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16635

(A) ein großes Interesse an einem Rückstellungssystem, das zerne für zukünftige Verbindlichkeiten. Diese Rückstel- (C) langfristig sicherstellt, dass die für die Verwertung radio- lungen belaufen sich derzeit auf rund 30 Milliarden Euro aktiver Reststoffe, für die Beseitigung radioaktiver Ab- und unterliegen keiner Zweckbindung. fälle und für die Stilllegung der Atomkraftwerke not- wendigen Mittel im Bedarfsfall auch tatsächlich zur Wenn ich zu Beginn gesagt habe, dass der vorlie- Verfügung stehen. Hier muss das Verursacherprinzip gende Antrag ein wichtiges Thema aufgreift, so möchte gelten, und das bedeutet auch, dass Risiken, die dazu ich einschränken: Die Darstellung ist verkürzt und die führen könnten, dass letztendlich der Bund für die Fi- Forderungen sind Schnellschüsse. Der Antrag erweckt nanzierung der Entsorgung geradezustehen hätte, konse- den Eindruck, als sei das System der Rückstellungen der quent minimiert werden müssen. Insofern und gerade Energiekonzerne in Deutschland unzureichend. auch vor dem Hintergrund, dass sich die Rahmenbedin- Hierzu ist anzumerken: Selbst die EU-Kommission, gungen für die Finanzierung der nuklearen Entsorgung die eher externen Fondsmodellen zuneigt, bezeichnet seit 1976 erheblich verändert haben – Liberalisierung das deutsche System der unternehmensinternen Rück- der deutschen und europäischen Energiemärkte, Aus- stellungen in ihrem Bericht vom 17. Dezember 2007 als stieg aus der Nutzung der Kernenergie –, ist es sicherlich „zur Bereitstellung angemessener Finanzmittel (…) absolut legitim, darüber nachzudenken, wie diese Finan- nachweisbar effizient“. zierungssicherheit weiter erhöht werden kann. Ein weiterer Punkt ist, dass die Einrichtung eines Gerade an dieser Stelle allerdings scheint mir der vor- „Fonds Ökowandel“ erhebliche Auswirkungen hätte. liegende Antrag wenig überzeugend zu sein. Die Konse- Rund 30 Milliarden Euro, die die Energiekonzerne an quenz seiner Umsetzung wäre doch, dass die bislang be- Rückstellungen gebildet haben, müssten an den Fonds reits rückgestellten genauso wie die in Zukunft noch übertragen werden. Dies hätte erhebliche wirtschaftliche angesammelten Mittel komplett in den neu gebildeten Auswirkungen und würde einen massiven Eingriff in die Fonds abfließen würden. Damit aber würden diese Mit- Rechtsposition der betroffenen Energiekonzerne darstel- tel den durch das Atomrecht zur nuklearen Entsorgung len. verpflichteten Energieversorgungsunternehmen entzo- gen und stünden für den eigentlichen Verwendungs- Vor dem Hintergrund der ohnehin schwierigen ener- zweck jedenfalls zunächst einmal nicht mehr zur Verfü- giepolitischen Diskussion halte ich dieses Ansinnen zum gung. Mehr finanzielle Sicherheit für das nukleare jetzigen Zeitpunkt für kontraproduktiv. Die aktuelle Entsorgungssystem bedeutet dies nicht, wohl aber einen Rückstellungspraxis stammt noch aus den 1970er-Jahren. sehr weitreichenden Eingriff in bestehende Rechtsposi- Es steht fest, dass die Liberalisierung der Strommärkte, tionen der betroffenen Unternehmen, der wohl kaum die Privatisierung der deutschen Energieversorgungsun- (B) ohne größere juristische Auseinandersetzungen hinge- ternehmen, der Atomausstieg und die zunehmende Ver- (D) nommen werden würde. flechtung der europäischen Energiewirtschaft die Rah- menbedingungen für die Rückstellungen grundlegend Wir sollten daher an dieser Stelle keine Schnell- verändert haben. Ob und in welcher Form Anpassungen schüsse vornehmen, sondern gründlich darüber nachden- der Rückstellungspraxis notwendig sind, bedarf einer ken, mit welchen konkreten Maßnahmen sich tatsächli- gründlichen und breiten politischen Diskussion und der che Verbesserungen des bestehenden Systems erreichen Abwägung vieler Argumente. lassen. Dabei stehen wir alle in der Pflicht, bei der Frage der nuklearen Entsorgung und deren Finanzierung die Mal so eben mit einem zweiseitigen Antrag 30 Mil- größtmögliche Sorgfalt walten zu lassen. Experimente liarden Euro in einen Fonds zu verschieben, wie dies die wie ein „Fonds Ökowandel“ sind hier kein angemesse- Grünen jetzt fordern, ist sicherlich nicht der richtige ner Ansatz. Weg.

Christoph Pries (SPD): Der vorliegende Antrag von Gudrun Kopp (FDP): Die Grünen liefern hier heute Bündnis 90/Die Grünen greift ein wichtiges Thema auf, wieder einmal den Beweis dafür ab, dass Sie immer ganz welches uns in den kommenden Jahren verstärkt be- genau wissen, wie man es nicht machen sollte. Gerade schäftigen wird. erst haben wir erlebt, wie staatliche und halbstaatliche Banken Milliardenbeträge schlicht verbrannt haben, da Die EU-Kommission geht davon aus, dass bis 2025 wollen Sie schon den nächsten staatlich kontrollierten ein Drittel der Atomkraftwerke in der Europäischen Fonds bilden. Aber mit dem Geld anderer Leute kann Union stillgelegt werden muss. Es besteht darüber Kon- man es ja machen. sens, dass eine ausreichende Finanzierung des Rückbaus von Atomkraftwerken und der Entsorgung der radioakti- Wenn ich Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von ven Abfälle gewährleistet sein muss. Die entsprechend den Grünen, richtig verstehe, wollen Sie den Kernkraft- zurückgestellten Mittel müssen zum gegebenen Zeit- werke betreibenden Unternehmen in Deutschland das punkt verfügbar sein. Geld, das sie – dem Atomgesetz folgend – für Rückbau und Entsorgung von Kernkraftwerken und deren Brenn- Nach dem Verursacherprinzip sind in Deutschland Be- stoffen in Form von Rückstellungen angespart haben, treiber von Atomkraftwerken dazu verpflichtet, die Kos- wegnehmen und unter staatliche Kuratel stellen. Als Be- ten für den Rückbau der Anlagen und die Entsorgung der gründung treibt Sie offenbar die Sorge um, dass die radioaktiven Abfälle sicherzustellen. In Deutschland ge- Rückstellungen im Bedarfsfalle nicht zur Verfügung ste- schieht dies über interne Rückstellungen der Energiekon- hen könnten. Ich sage Ihnen: Wenn es einen sicheren 16636 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Weg gibt, die Atomrückstellungen vor Eintritt des Be- Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Die Atomkonzerne (C) darfsfalles zu verschleudern, dann den, dieses Geld den machen Kasse – mit staatlicher Hilfe. Die Entwicklung Mitgliedern des Umweltausschusses zu überlassen. Im und der Bau von Atomanlagen in Deutschland haben Ernst: Wer angesichts der Ereignisse in den letzten Mo- 120 Milliarden Euro verschlungen. Jeder der maroden naten – Stichworte: West-LB, Bayern-LB, Sachsen-LB, und längst abgeschriebenen Reaktoren wirft bei der KfW – einen Betrag von 28 Milliarden Euro der Kuratel Stromerzeugung jährlich 300 Millionen Euro Gewinn von Umweltpolitikern und Naturschutzverbänden unter- ab. Und: Die Rückstellungen, welche die Energiekon- stellen will, der kann nicht mehr alle Tassen im Schrank zerne bilden müssen, um den Rückbau der Anlagen und haben. die Endlagerung des Strahlenmülls zu finanzieren, sind steuerfrei. Außerdem stehen sie frei zur Verfügung, so- Grundsätzlich aber passt das natürlich zur Linie der lange die Summe in der Bilanz irgendwo auftaucht. Wir Grünen in der Energiepolitik. Langfristiges Ziel scheint reden hier nicht von Peanuts: Mittlerweile haben sich ja auch hier die vollständige staatliche Lenkung jeglicher über 27 Milliarden Euro angesammelt. Da fragt sich der Investitionsentscheidungen zu sein. Dem kämen Sie mit Laie, was die Konzerne mit dem vielen Geld so anfan- einem solchen Konstrukt natürlich ein Stück weit näher. gen. Ein Blick in die Wirtschaftspresse gibt darüber Auf- Auf unsere Unterstützung müssen Sie bei diesem Unter- schluss: RWE, Eon und Co. gehen international auf Ein- fangen allerdings verzichten. kaufstour. Sie sichern sich mit den Steuergeschenken ihr Monopol ab. Und was kaufen sie? Atomkraftwerke im Merkwürdig erscheint mir nur, dass Sie offenbar benachbarten Ausland! Das ist Atomsubvention durch überhaupt nicht zur Kenntnis genommen haben, was die die Hintertür. Die Linke lehnt das ab. jüngste europäische Rechtsprechung zum Thema Kern- energierückstellungen noch einmal verdeutlicht hat. Ge- Nun sagt die Bundesregierung, man könne den Strom- rade erst hat der EuGH die Klagen diverser deutscher bossen nicht in die Buchhaltung hineinreden. Gerade Stadtwerke gegen die gängige Rückstellungspraxis letzt- deshalb ist der Antrag der Grünen zu begrüßen. Schaffen instanzlich zurückgewiesen. Die Kernkraftwerksbetrei- wir den Missbrauch bei den Atomrückstellungen ab und ber halten sich in diesem Bereich an Recht und Gesetz. stellen die Gelder unter öffentliche Aufsicht. Ich möchte Das Einzige, was ihre Rückstellungen von anderen han- an dieser Stelle betonen, dass die Steuergeschenke an die delsrechtlich üblichen Rückstellungen unterscheidet, ist Atomindustrie auch unter der Regierungsbeteiligung der die Höhe dieser Rückstellungen. Diese aber liegt in der Grünen nicht beseitigt wurden. Dass dies jetzt aus der Natur der Sache und wird ja auch von Ihnen als solche Opposition heraus versucht wird, hat doch einen faden nicht beanstandet. Beigeschmack. Interessant ist allerdings auch, dass sich die Ökopartei jetzt als Fondsmanager versucht – eine (B) Kurz und gut: Nicht nur, dass das von Ihnen vorge- Diskussion über die Rolle von Staatsfonds kann hier si- (D) schlagene Verfahren höchst unsinnig ist und den kürzes- cherlich nicht schaden. Ob wir allerdings einen öffentli- ten Weg zu hohen staatlichen Entsorgungslasten bedeu- chen Nachhaltigkeitsfonds auflegen sollten, ist fraglich. ten würde. Nein, mir scheint auch rechtlich dieser Weg Wichtig ist jedoch, dass wir die Rückstellungen, die die überhaupt nicht gangbar zu sein. Sie können nicht ein- Atomwirtschaft zum Atomausstieg bilden muss, der fach rückwirkend in handelsrechtlich gebildete Rück- Macht der Konzerne entziehen. Die Linksfraktion unter- stellungen eingreifen. Nur zur Erinnerung: Diese Rück- stützt den Antrag deshalb. stellungen sind auch in anderen Branchen üblich. Selbst wenn es also rechtlich möglich wäre, was Sie hier vor- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die schlagen: Welches Signal senden Sie denn damit aus? Betreiber von Atomkraftwerken klammern sich an ihren Wenn es politischen Gruppen opportun erscheint, kön- Reaktoren fest wie die Affen an der Banane. Dies hat nen diese Rückstellungen von staatlichen Ad-hoc-Ein- gute Gründe. Zum einen können Sie mit den abgeschrie- griffen betroffen werden und einfach anderen Zwecken benen Reaktoren Milliardengewinne einfahren, da sie zugeführt werden? Mit dem Risiko, dass die staatlichen zugleich vom Stromkunden hohe Strompreise abverlan- Akteure sich ein bisschen verzocken und der Steuerzah- gen. Selbstverständlich denken sie überhaupt nicht da- ler am Ende dafür geradestehen muss? ran, diese Gewinne in Form niedrigerer Strompreise an Nein, dieser Vorschlag ist weder rechtlich noch poli- die Stromkunden weiterzugeben. Wer meint, dass Atom- tisch akzeptabel. Sie merken wahrscheinlich selbst, dass kraftwerke die Strompreise senken, hat die Rechnung Sie sich mit dem Ausstieg aus der Kernenergie ein Ei- ohne die Betreiber gemacht, wofür Millionen Stromrech- gentor geschossen haben, und suchen jetzt verzweifelt nungen die Beweise liefern. nach einer Möglichkeit, aus dieser Nummer wieder he- Die Stromkonzerne haben noch einen zweiten Grund, rauszukommen. Nachdem alle drei energiepolitischen sich an den Atomkraftwerken festzuklammern. Mit den Ziele – Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit Atomrückstellungen haben sie Milliarden Euro an Spiel- und Wirtschaftlichkeit – für die Kernenergie sprechen, geld in der Hand, mit dem sie ihre Marktmacht europa- sind Sie auf der Suche nach neuen Ablehnungsgründen. weit ausbauen können. Das wird Ihnen aber nicht gelingen. Die gegenwärtige Rückstellungspraxis ist nicht zu beanstanden, und sie Woraus leitet sich diese privilegierte Situation für sollte insbesondere nicht zu einer staatlich verordneten RWE, Eon, Vattenfall und EnBW ab? Die Betreiber von Zwangsverwaltung von privatem Geld umgewandelt Atomkraftwerken sind gemäß Atomgesetz als werden. Verursacher für die Verwertung radioaktiver Reststoffe, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16637

(A) Beseitigung radioaktiver Abfälle und die Stilllegung der Fonds sein, dessen Anlagekriterien Orientierungspunkt (C) Atomkraftwerke zuständig. Sie sind verpflichtet, Rück- für andere Marktteilnehmer, insbesondere für Anlegerin- stellungen zu bilden. Interessanterweise liegen der Bun- nen und Anleger sein können. Kernpunkt ist hierbei die desregierung keine Erkenntnisse darüber vor, wie hoch Sicherstellung einer optimalen und immer wieder opti- die Entsorgungskosten sein werden. Solange keine reali- mierten Nachhaltigkeitsstrategie des Fonds, aber auch tätsnahe Schätzung der tatsächlichen Kosten vorliegt, ist eine effiziente Anlagepolitik. Vorbild für nachhaltiges In- die Verpflichtung zur Bildung von Rückstellungen nicht vestment kann nur ein Fonds sein, der sich auch durch umfassend überprüfbar. Die Bundesregierung ist aufge- eine sehr gute Performance auszeichnet. fordert, ihrer Aufsichtspflicht nachzukommen. Der Deutsche Bundestag sollte daher die Bundesre- Sowohl beim Rückbau der Atomanlagen als auch bei gierung auffordern, einen öffentlich kontrollierten Fonds der Endlagerung der Brennelemente handelt es sich um „Ökowandel“ in der Organisationsform einer rechtsfähi- Verbindlichkeiten, die erst in einigen Jahren bis Jahr- gen Stiftung des öffentlichen Rechts zu errichten. zehnten – bei der Endlagerung sogar in mehreren Jahr- Die Energieversorgungsunternehmen sollten verpflich- zehnten – fällig sein werden. Den Gesamtbetrag der tet werden, die für die Entsorgung bereits gebildeten und Rückstellungen, der im Laufe der letzten Jahre von den künftig zu bildenden Rückstellungen in den Fonds „Öko- Betreibergesellschaften angesammelt wurde, beziffert wandel“ einzuzahlen. Grundvoraussetzung muss sein, die Bundesregierung für Ende 2006 auf 27,388 Milliar- dass die Mittel so angelegt sind, dass sie im Entsorgungs- den Euro. Hinzu kommen in den nächsten Jahren noch fall unverzüglich für die gebotenen Maßnahmen einge- zweistellige Milliardenbeträge. setzt werden können. Bei der bisherigen Art und Weise, die für die Stillle- Gesetzlich muss festgelegt werden, dass der Fonds gung von Atomanlagen oder die Entsorgung von Kern- „Ökowandel“ sich an ökologischen, sozialen und ethi- brennstoffen gebildeten Rückstellungen zu verwenden schen Kriterien orientiert, die die Prioritäten der nationa- und anzulegen, ist nicht hinreichend gewährleistet, dass len Nachhaltigkeitsstrategie widerspiegeln. die Mittel im Bedarfsfall auch tatsächlich für den Be- stimmungszweck zur Verfügung stehen. Als 1988 der Die Fondsverwaltung muss neben Nachhaltigkeitskri- Thorium-Hochtemperatur-Reaktor, THTR, in Hamm- terien sachgemäße Kriterien wie zum Beispiel Liquidi- Uentrop nach nur 423 Volllasttagen wegen seiner Sicher- tätsvorhaltung im Entsorgungsfall, Verwaltungskosten und heitsmängel stillgelegt wurde, stand die wirtschaftliche Risikoexposure der Anlage beachten. Leistungsfähigkeit der Betreibergesellschaft infrage. Die Kosten der Stilllegung fielen in unerwarteter Höhe der Von staatlicher Seite – unterstützt durch einen unab- öffentlichen Hand zu, die erhebliche finanzielle Ver- hängigen Nachhaltigkeitsrat – sollte aus den eingereich- (B) (D) pflichtungen übernehmen musste, damit ein geordnetes ten Angeboten das überzeugendste Gesamtkonzept aus- Verfahren zur Stilllegung des THTR eingeleitet werden gewählt und die Einhaltung der Kriterien überwacht konnte. werden. Anders als bei Pensionsrückstellungen, bei denen es Neben dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und stetigen Zu- und Abfluss gibt, ist der Elektrizitätswirt- Reaktorsicherheit des Deutschen Bundestages und den schaft eine enorme Liquiditätsreserve zugewachsen, anerkannten Naturschutzverbänden entsenden auch die über die sie frei verfügen kann, solange der Bestand in Energieversorgungsunternehmen Vertreter in den Stif- der Bilanz nachgewiesen wird. Während andere Unter- tungsrat. Sie sind daher an allen wichtigen Entscheidun- nehmen für die Erhöhung ihres Geschäftskapitals Kre- gen der Stiftung beteiligt. dite aufnehmen müssen, können die Atomkraftwerksbe- treiber auf ihre eigenen steuerfreien Rückstellungen zurückgreifen. Hierdurch entstehen Wettbewerbsverzer- Anlage 13 rungen zum Schaden anderer Unternehmen. Zu Protokoll gegebene Reden Vorbild für die Sicherstellung der Rückstellungen der zur Beratung des Berichts: Technikfolgenab- Atomkraftindustrie könnte der öffentlich kontrollierte schätzung (TA) Stilllegungsfonds und der Entsorgungsfonds in der Schweiz sein. Industrielle stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe Sachstandsbericht zum Monitoring Ein öffentlich kontrollierter Fonds, in dem die Rück- „Nachwachsende Rohstoffe“ (Tagesordnungs- stellungen der Atomwirtschaft für die Entsorgung gebün- punkt 23) delt werden, darf nach dem Beschluss über den Atomaus- stieg in Deutschland nicht wieder in die Atomenergie Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Der Einstieg investieren – auch, da der Neubau von Atomkraftwerken in das Kunststoffzeitalter gelang – was viele heute viel- in Deutschland verboten ist. Damit ergibt sich eine neue leicht überraschen wird – über das Holz. Alles begann Rolle als zentraler Baustein in einer Strategie für nach- vor fast 150 Jahren in den USA mit der industriellen haltiges Investment, für einen solchen Fonds: Ein wichti- Produktion des Biokunststoffs Celluloid auf der Basis ger Schritt für die Verbreitung von nachhaltigem Invest- von Cellulose. ment – auch zur Stärkung des Finanzplatzes Deutschland – kann in Ermangelung einer allgemeingültigen Definition Biokunststoffe, biologisch abbaubare Verpackung, für nachhaltige Geldanlage ein bekannter öffentlicher Bio-Schmierstoffe, Bio-Lacke, Bio-Tenside aus Stärke, 16638 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Zucker, Pflanzenölen und Fasern – nachwachsende Roh- der Verwertung nachwachsender Rohstoffe ab, vor allem (C) stoffe sind heute nicht nur als Energielieferanten für die durch die Konkurrenz um die Nutzung landwirtschaftli- Biospritbranche, sondern ganz besonders als Rohstoff- cher Nutzflächen: Rohstoffpflanzen, Energiepflanzen, lieferanten für die Industrie wieder auf dem Vormarsch Futterpflanzen und Pflanzen für die Nahrungsmittelpro- und wecken neue Hoffnungen für die Zukunft. duktion konkurrieren um die schon heute knappen Flä- chen. Was in Deutschland und anderen Industrieländern Sie haben großes Potenzial vor allem in der Chemie- eher positiv gesehen wird, wird in vielen Entwicklungs- industrie, gelten dabei ebenso wie in der Energiebranche ländern durch steigende Nahrungsmittelpreise oft zur als wichtiger Baustein bei der Schonung fossiler Res- Existenzfrage und stellt durch die Abholzung von Ur- sourcen und beim Klimaschutz. Sie bieten die Chance, wäldern vielerorts alle Anstrengungen für den weltwei- schrittweise die Chemieproduktion umweltfreundlicher ten Klimaschutz infrage. und nachhaltiger zu gestalten und gleichzeitig unabhän- giger von teuren und zunehmend knappen Rohstoffen Wichtig ist, Chancen und Grenzen der stofflichen wie Erdöl zu machen. Sie könnten neue Exportmöglich- Nutzung nachwachsender Rohstoffe in der Industrie keiten für die deutsche Industrie eröffnen. Und für die frühzeitig zu erkennen, um die Entwicklung in die rich- deutsche Landwirtschaft und die ländlichen Gebiete tige Richtung zu steuern und von ihrem Einsatz optimal könnte der erweiterte Anbau nachwachsender Rohstoffe zu profitieren. neue Einkommensquellen und Entwicklungsmöglichkei- ten erschließen. Auf Initiative der Abgeordneten Andrea Wicklein hat der Bundestagsausschuss für Bildung und Forschung Die Bundesregierung fördert deshalb schon seit Jah- deshalb bereits in der letzten Legislaturperiode das Büro ren in vielfältigen Programmen neue Verwendungsmög- für Technikfolgenabschätzung beauftragt, einen Ge- lichkeiten und Verfahren für nachwachsende Rohstoffe samtüberblick über das komplexe Gebiet zu geben, und auf stofflicher Basis, die sich aus Nischen heraus in die Antworten auf Fragen zu finden wie: großen Märkte entwickeln sollen. So fördert das Bun- deslandwirtschaftsministerium mit dem Programm Welche Nutzungskonzepte gibt es aktuell? Welche „Nachwachsende Rohstoffe“ die Entwicklung innovati- langfristigen Perspektiven für den breiteren Einsatz ver Konversionsverfahren und Produkte, Demonstra- nachwachsender Rohstoffe in der Industrie zeichnen sich tionsvorhaben, die Erschließung neuer technischer Ein- ab? Wo liegen die Probleme? Was kann oder muss die satzbereiche, die Zucht von maßgeschneiderten Pflanzen Politik tun, um die Rahmenbedingungen zu verbessern für viele Anwendungsgebiete, die Markteinführung so- und Konflikte zu aufzulösen? Insbesondere war auch zu wie Untersuchungen zur Wirtschaftlichkeit und zu den klären: Wie steht es mit der Wirtschaftlichkeit? Wie sieht ökologischen Auswirkungen des Einsatzes nachwach- (B) die Ökobilanz aus? Wo liegen die Grenzen bei der Flä- (D) sender Rohstoffe. Das Budget von rund 50 Millionen chen- und Nutzungskonkurrenz? Euro in 2008 wird zur Hälfte für Projekte der stofflichen Nutzung eingesetzt. Unter Federführung des BMELV Der inzwischen vorliegende Sachstandsbericht ist steht auch das neue Biomasse-Forschungszentrum in heute unser Thema, und er macht klar: Das Potenzial der zur Förderung der energetischen Nutzung von stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe ist groß. Biomasse. Es wird aber selbst heute noch wenig genutzt. Und es bleiben viele offene Fragen. So werden nachwachsende Das Bundesforschungsministerium fördert die Pflan- Rohstoffe heute nur in wenigen Bereichen in breitem zengenomforschung als Grundlage für Pflanzenzüch- Maße eingesetzt, zum Beispiel in der Papierherstellung tung, Pflanzendesign und Produktinnovationen im Rah- aus Cellulose. Der Einsatz von Bioschmierstoffen und men von GABI und GABI-FUTURE mit dem Ziel, das Biokunststoffen beschränkt sich dagegen nach wie vor enorme Potenzial der Pflanze als Rohstofflieferant und eher auf Nischen. Insgesamt liegt der Marktanteil chemi- Biofabrik der Zukunft umfassend zu erschließen. Die scher Grundstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen erst Förderinitiative BioIndustrie 2021 leistet einen Beitrag bei circa 10 Prozent. Und die Anbaufläche von Pflanzen zur Verwertung der pflanzlichen Inhaltsstoffe. für die stoffliche Nutzung beträgt nur rund ein Fünftel Das Bundesumweltministerium befasst sich vorwie- der Anbaufläche für Energiepflanzen. gend mit der energetischen Nutzung von Pflanzen, mit Neue interessante Einsatzgebiete und eine Auswei- Biomasse-Kraftwerken und Biogas-Anlagen. Das Bun- tung der Produktion zeichnen sich vor allem bei den deswirtschaftsministerium kümmert sich im Rahmen des neuen Werkstoffen ab, speziell bei Verbundwerkstoffen Themas Rohstoffsicherung und -versorgung um die Nut- aus Kunststoffen und Holzfasern und bei weiteren Na- zung nachwachsender Rohstoffe. Die integrierte High- turfaserverstärkten Kunststoffen (NFK). Die Vorteile lie- tech-Strategie der Bundesregierung behandelt in einem gen auf der Hand: Bauteile aus NFK sind steifer, fester, Extra-Kapitel das System Pflanze als Rohstofflieferant leichter und umweltfreundlicher als herkömmliche und Biofabrik der Zukunft. Sie definiert in diesem Be- Kunststoffe. Sie sind schon heute in der Automobilin- reich Innovationsfelder und Innovationsstrategien, legt dustrie – vor allem beim Einsatz im Pkw-Innenraum, den Schwerpunkt dabei jedoch mehr auf die energetische zum Beispiel bei Armaturenbrett oder der Türinnenver- Nutzung. kleidung, aber auch als Unterbodenschutz – wirtschaft- Neben den aufgezeigten Potenzialen zeichnen sich lich konkurrenzfähig und helfen zudem, Kraftstoff zu – angefacht von dem hohen Importbedarf und der Nega- sparen. Weitere Anwendungsfelder und Branchen wer- tivdiskussion beim Biosprit – bereits heute Probleme bei den bald folgen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16639

(A) Bereits diese wenigen Beispiele zeigen: Die Verwer- von grasartiger, feuchter Biomasse, die LCF-Bioraffine- (C) tungsmöglichkeiten bei der stofflichen Nutzung nach- rie auf der Basis von trockener cellulosehaltiger Bio- wachsender Rohstoffe sind wesentlich vielfältiger als bei masse wie Stroh, Holz oder Papierabfällen, die Getreide- der energetischen Nutzung. Ganzpflanzen-Bioraffinerie und das Zwei-Plattformen- Konzept zur Erzeugung und Verarbeitung von Zucker ei- Gerade deshalb ist es wichtig, hier eine Richtschnur nerseits und von Synthesegas andererseits. Der Bericht zu haben, wo die zukunftsträchtigsten Entwicklungen kommt zu dem Schluss, dass für alle diese Systeme noch liegen, wo Forschungsbedarf besteht und wo die Mittel „enormer Entwicklungsbedarf“ in jeder Hinsicht besteht, am effizientesten eingesetzt werden können. egal, ob es die Basiskonzepte, die technischen Umset- Der TAB-Bericht kommt nicht zu einem abschließen- zungsmöglichkeiten, die Auslegung von Demonstra- den Ergebnis, sondern definiert weiteren Forschungsbe- tionsanlagen, die Wirtschaftlichkeit oder die Ökobilan- darf und Handlungsbedarf in vielen Bereichen, um die zen betrifft. Es gibt bundesweit verschiedene Initiativen stoffliche Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen zu in diesem Bereich. Daraus leitet sich ein hoher Abstim- optimieren. mungsbedarf bei der Forschungsförderung und bei der Planung von Pilotanlagen ab. Nicht eindeutig beantwortet werden kann zum Bei- spiel die Frage der Ökobilanz beim Einsatz von Bio- Fortschritte in der Pflanzenzucht und bei den Bioraffi- schmierstoffen, Biokunststoffen und Fasermaterialien, nerien könnten künftig dazu beitragen, die gesamte Che- denn sie fällt je nach betrachtetem Parameter unterschied- mieproduktion unabhängiger von knapper und teurer lich aus. Forschungsbedarf gibt es außerdem hinsichtlich werdenden fossilen Energieträgern wie Erdöl und Erd- der Erschließung neuer Anwendungsmöglichkeiten, bei gas zu machen und auf eine breitere Basis nachwachsen- der Verbesserung der technischen Verarbeitung und bei der Rohstoffe zu stellen. Eine komplette Umstellung von den Industriepflanzen selbst. der Petrochemie zur „Ökochemie“ liegt jedoch aus heu- tiger Sicht jenseits der Horizonte. Ziel muss die Entwicklung von maßgeschneiderten Pflanzen für verschiedene Anwendungsbereiche sein. Selbst wenn dies eines Tages technologisch machbar Für diese maßgeschneiderten „Biofabriken“ muss auch wäre: Dann wird beim Einsatz nachwachsender Roh- der Einsatz von grüner Gentechnik ideologiefrei disku- stoffe vor allem noch die Wirtschaftlichkeit zu prüfen tiert und deren gesellschaftliche Akzeptanz verbessert sein. Das kann aber sinnvoll erst dann geschehen, wenn werden. Ein früherer TAB-Bericht, der die Optionen für man einen Überblick über die Einsatzgebiete, die Kos- transgene Pflanzen der 2. und 3. Generation untersucht, tenstrukturen der Rohstoffe und die Marktaspekte erar- kommt in Bezug auf den Einsatz der Gentechnik für die beitet hat. Ein wichtiger limitierender Faktor bleibt si- Optimierung von Nutzpflanzen für industrielle Anwen- (B) cherlich zudem wegen der großen Nutzungskonkurrenz (D) dungen trotz positiver Beispiele insgesamt noch nicht zu die notwendige Anbaufläche. Schon heute müssen in eindeutigen Ergebnissen. Hier steht die Forschung noch Deutschland rund zwei Drittel des Bedarfs an nachwach- ganz am Anfang und hat noch viele Probleme zu über- senden Rohstoffen für die stoffliche Nutzung importiert winden. Die Gentechniknovelle eröffnet bessere For- werden. schungsmöglichkeiten in diesem Bereich, die es zu nut- zen gilt. Der TAB-Bericht zeigt: Noch befinden wir uns in ei- ner sehr frühen Entwicklungsphase in diesem interessan- Wie eine erfolgreiche Industriepflanzenzüchtung mit ten Innovationsfeld – trotz zahlreicher Aktivitäten zur Hilfe von Gentechnik praktisch aussehen kann, hat Förderung der industriellen stofflichen Nutzung nach- BASF mit der Kartoffelsorte Amflora gezeigt, deren wachsender Rohstoffe in den letzten Jahren. Stärke fast ausschließlich aus Amylopektin und nicht wie bei anderen Sorten aus Amylose besteht. Amflora, Der Bericht ist eine gute Grundlage für die weitere die Stärkekartoffel, soll als nachwachsender Rohstoff ab Diskussion. Er gibt erstmals einen breiten Überblick zu 2008 kommerziell angebaut werden und künftig dazu den aktuellen Einsatzfeldern und zu den langfristigen beitragen, Material, Energie und Kosten bei der Stärke- Chancen, die aus nachwachsenden Rohstoffen entstehen verarbeitung in der Papier-, Klebstoff-, Textil-, Bau- und können – für die Wirtschaft, für die Landwirtschaft, für Kosmetikindustrie zu sparen. Die Sicherheit wird da- Umwelt und Klima. Zugleich wirft der Bericht viele Fra- durch gewährleistet, dass Amflora nur in einem ge- gen auf und gibt zahlreiche Empfehlungen, die jetzt sys- schlossenen Verbundsystem angebaut und ausschließlich tematisch aufgearbeitet werden müssen. im Vertragsanbau produziert wird. Sie wird getrennt von Erst wenn wir in einem Gesamtkonzept wissen, wel- anderen Kartoffeln geerntet und gelagert und ausschließ- che Pflanzen wofür sinnvoll geeignet sein können, wel- lich in technischen Anwendungen eingesetzt. che Eigenschaften – auch unter Verwendung der grünen Zur optimalen industriellen Ausbeute der pflanzli- Gentechnik – sinnvoll hinzugezüchtet werden können, chen Inhaltsstoffe von Industriepflanzen sind darüber hi- wie die Pflanzen optimal verarbeitet werden können, naus innovative Konversionstechnologien und vor allem und welche ökologischen und technologischen Vorteile integrierte Bioraffineriekonzepte unter Einbeziehung der sie bieten: Erst dann können in einer langfristigen Strate- Weißen Biotechnologie notwendig, die sich heute jedoch gie Schritt für Schritt die Elemente einer auch hier nach- weitgehend erst im Versuchsstadium befinden. haltigen Wirtschaft entwickelt werden. Der Bericht untersucht hierzu die vier bekannten Bio- Ein solches Gesamtkonzept, eine solche Gesamtstra- raffineriesysteme: die grüne Bioraffinerie auf der Basis tegie zu entwickeln – das ist eine herausfordernde Auf- 16640 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) gabe für die Bundesregierung, in einer gemeinsamen monstrationsanlagen arbeiten. Immer mehr rücken dabei (C) Anstrengung über die Grenzen der kundigen Ressorts hi- sogenannte Bioraffineriesysteme in den wissenschaftli- naus. chen Fokus, eine neue und komplexe Technologie, mit deren Hilfe nachwachsende Rohstoffe in chemische Andrea Wicklein (SPD): Deutschlands Wirtschaft Grundbausteine umgewandelt werden können. und unser Wohlstand sind zum großen Teil vom Erdöl Um hierbei den aktuellen Stand von Forschung und abhängig, nicht nur bei Energie und Kraftstoffen. Unser Entwicklung zu untersuchen, die Marktchancen und Ein- Alltag wird von Produkten bestimmt, die aus Erdöl pro- satzmöglichkeiten von Biokunststoffen auszuloten und duziert sind. Auch in Autoreifen, Bekleidung oder im die Akzeptanz bei den Verbrauchern zu ermitteln, habe Plastikgehäuse von Handys und Computern steckt Erdöl. ich 2004 die Initiative für den nun vorliegenden TAB-Be- Aktuell importiert Deutschland rund 100 Millionen richt „Industrielle stoffliche Nutzung nachwachsender Tonnen Rohöl. Davon benötigt die chemische Industrie Rohstoffe“ ergriffen. Der Bericht liegt nun vor und bietet etwa 14 Millionen Tonnen zur Herstellung von Kunst- eine hervorragende Grundlage, um hier strategisch voran- stoffen oder von anderen chemischen Erzeugnissen. zukommen. Mit dem TAB-Bericht haben wir eine wich- tige Analyse sowie Daten und Hinweise, um die politi- Aber Erdöl geht langsam zur Neige und wird durch schen Rahmenbedingungen zu prüfen sowie das die steigende weltweite Nachfrage immer teurer. Allein Förderinstrumentarium in den beteiligten Ressorts strate- zwischen 1992 und 2004 haben sich die Importkosten gisch neu auszurichten. Ich unterstütze ausdrücklich die Deutschlands mehr als verdoppelt. Im gleichen Zeitraum Aussage im Bericht, wonach wir nun eine integrierte aber stiegen die Importkosten von Indien um das Fünffa- Strategie für die stoffliche Nutzung nachwachsender che und von China sogar um das Neunzehnfache. Rohstoffe erarbeiten müssen, aus der dann klare und kon- Dieser Verknappungs- und Verteuerungsprozess ist krete Zielvorgaben und Schwerpunkte für die weitere nicht zu stoppen. Wir spüren das aktuell nicht nur an der Forschungsförderung abzuleiten sind. Zapfsäule, sondern mehr und mehr auch bei den Kunst- stoffpreisen auf den Weltmärkten. Doch was ist, wenn Eine Strategie, die wir nicht vorgeben können, son- das Erdöl einmal nicht mehr sprudelt? Die Experten sind dern die im engen Dialog mit Industrie, Landwirtschaft sich zwar noch nicht einig, wann dies genau sein wird. und Forschung entstehen muss. Wenn wir jetzt möglichst Aber klar ist, dass dieser Zeitpunkt in einem überschau- frühzeitig die richtigen Rahmenbedingungen schaffen, baren Zeitraum kommen wird. dann bieten sich in diesem Bereich für den Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland exzellente Per- Darauf müssen wir vorbereitet sein. Deshalb stehen spektiven: für die chemische und verarbeitende Indus- (B) wir langfristig – wie auch alle anderen Länder weltweit – trie, weil dort die neuen Marktpotenziale erschlossen (D) vor der Frage, wie das Erdöl durch andere Rohstoffträ- und exportfähige Zukunftstechnologien entwickelt wer- ger ersetzt werden kann, und zwar zu nachhaltigen Be- den, für die ländlichen Gebiete durch neue Produktions- dingungen und ohne Abholzung der Regenwälder und zu und Einkommensalternativen in einem hochinnovativen vernünftigen Kosten. Zukunftsfeld, und für unsere Hochschulen und Wissen- schaftseinrichtungen, weil dort die wissenschaftlichen Während im Energie- und Kraftstoffbereich das Erdöl und technischen Grundlagen für die stoffliche Nutzung durch andere Energiequellen, wie Wasserkraft, Sonnen- nachwachsender Rohstoffe entstehen. energie oder die Brennstoffzelle nach und nach ersetzbar ist, kommen bei Chemikalien und Chemieprodukten nur Der Markt für chemische Anwendungen aus nach- nachwachsende Rohstoffe infrage. Sie sind die einzige wachsenden Rohstoffen ist riesig. Es gibt eine Vielfalt erneuerbare Rohstoffquelle, in der die für die Chemie von neuen Anwendungsbereichen: In Autoreifen können notwendigen organischen Kohlenstoffverbindungen ent- Werkstoffe auf Stärkebasis die Laufeigenschaften ver- halten sind. bessern und damit Kraftstoff sparen. In Verpackungen Wenn wir unseren heutigen Lebensstandard sichern aus nachwachsenden Rohstoffen bleiben Lebensmittel und verbessern wollen, müssen wir schon heute die länger frisch, und Bekleidung aus nachwachsenden Roh- Grundlagen für die Rohstoffwende in der Chemie „weg stoffen kann noch bessere Trageeigenschaften aufwei- vom Erdöl“ und „hin zu den nachwachsenden Rohstof- sen. fen“ legen. Eine Wende, die gerade Deutschland als Entscheidend ist, die wissenschaftlichen Erkenntnisse Chemiestandort Nummer 1 in Europa und Nummer 4 in des TAB-Berichts nun sorgfältig auszuwerten und die der Welt vor große Herausforderungen stellen wird. Fast richtigen politischen Schlussfolgerungen zu ziehen. 450 000 Beschäftigte zählt unsere Chemiebranche, die Denn die Diskussion über gestiegene Nahrungsmittel- aktuell mehr als 150 Milliarden Euro Umsatz erwirt- preise oder über die Abholzung der Regenwälder zur schaft und dabei zu fast 80 Prozent exportabhängig ist. Produktion von Biokraftstoffen aus Palmöl zeigt: Bio- Zahlreiche Chemieunternehmen sowie Hochschulen masse ist zwar erneuerbar, aber die intensive Nutzung und Forschungseinrichtungen widmen sich deshalb seit der Biomasse kann durchaus auch problematisch für Jahren verstärkt dem Thema der Chemie aus nachwach- Mensch und Umwelt sein. Deshalb wird es im Kern da- senden Rohstoffen. Forschungsnetzwerke sind entstan- rum gehen, die effizientesten und umweltfreundlichsten den, die sowohl Grundlagenforschung betreiben als auch Nutzungsmöglichkeiten der Biomasse zu erkennen und an der technologischen Umsetzung in Pilot- oder De- hierbei strategische Schwerpunkte zu setzen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16641

(A) Die Koalitionsfraktionen sehen die Chancen und achtet werden. Dabei wird explizit auf die Treibhausgas- (C) Potenziale bei der stofflichen Nutzung nachwachsender belastung durch den Anbau hingewiesen. Rohstoffe: Denn mit der Etablierung der Bioraffinerie- technologie zur Produktion von Basis- und Feinchemi- Wir müssen – und ich denke, das ist uns allen in den kalien kann der Rohstoff Biomasse sehr effizient ge- letzten Wochen klargeworden – einige sicher geglaubte nutzt, Ressourcen geschont und die Umwelt entlastet Gewissheiten hinterfragen. Die wichtigste: Die Abschät- werden. Wir werden deshalb in Kürze einen Antrag in zungen über Produktionspotenziale und über Flächen, den Bundestag einbringen, um die Anstrengungen bei auf denen landwirtschaftliche Produktion ausgeweitet Forschung und Entwicklung ressortübergreifend zu bün- werden kann, passen nicht mit den realen Entwicklungen deln und technologische Verfahren zur integrierten Bio- zusammen. Sicher gibt es in Indonesien Brachflächen. massenutzung in Bioraffinerien voranzutreiben. Wir Diese werden nicht genutzt, die Plantagen werden im wollen die Rahmenbedingungen so gestalten, dass Regenwald angelegt. Warum? Weil mit dem Verkauf des Deutschland international im Wettbewerb um die besten Regenwaldholzes der Aufbau der Palmölplantage finan- Technologien und Verfahren an der Spitze bleibt. ziert werden kann. Es gibt also einen ökonomischen An- reiz, mit der Plantage in den Regenwald zu gehen. Hier müssen wir klare Regeln aufstellen. Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Als Sigmar Gabriel am 4. April vor der Bundespressekonferenz den Wir brauchen auch Konzepte, wie wir in Regionen, in Verzicht auf die höhere Beimischungsgrenze E10 erklärt denen die Bauern nur wenige Hektar Land bewirtschaf- hat, da hat er darauf hingewiesen, dass wir zurzeit eine ten, die Produktion verbessern können. Die UNESCO außerordentlich unredliche Debatte über Nahrungskon- hat zu Recht darauf hingewiesen: Mit reiner Technisie- kurrenz und Regenwaldzerstörung durch Biokraftstoffe rung und dem Verweis auf die Gentechnik kommen wir führen und das eigentliche Problem in den Hintergrund hier nicht weiter. In vielen dieser Regionen bietet gerade gerückt wird: Weit über 80 Prozent der Regenwaldzer- der ökologische Landbau bessere Chancen. Wir müssen störung gehen auf das Konto der Futtermittel- und Nah- aber den Zugang zu Produktionsmitteln und den Know- rungsmittelindustrie. Der Anbau von billigen Futtermit- how-Transfer organisieren. teln verdrängt Nahrungsmittel und auch Regenwälder Und nicht zuletzt: Nachhaltige Produktion ist kein und Moore. Und dabei ist Europa der größte Importeur Problem der Biokraftstoffe oder der Regenwälder. Grün- von Soja aus den Regenwäldern und Deutschland der landumbruch führt auch in Deutschland zur Freisetzung größte Importeur in Europa. von im Boden gebundenen Treibhausgasen. Wir brau- Ich bin froh, dass wir in dieser aufgeheizten Diskus- chen die Diskussion über die Agrarpolitik und die land- sion mit dem TAB-Bericht ein unaufgeregtes Papier vor- wirtschaftlichen Produktionsweisen auch in Deutsch- (B) liegen haben, das aber deutlich macht, welches die He- land. Die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik hat (D) rausforderungen sind, vor denen wir stehen. sich bereits gewandelt. Dies müssen wir konsequent fortführen. Wir brauchen eine zielorientierte Politik für Eines muss uns dabei klar sein: Es gibt zwischen der die ländlichen Räume und für eine nachhaltige Land- Herausforderung „Hunger in der Welt“ und der Heraus- wirtschaft. forderung „Klimawandel“ kein entweder/oder und keine erste und zweite Priorität. Allein die Tatsache, dass die Die Nachfrage nach Agrarprodukten wird steigen. Folgen des Klimawandels besonders die Armen treffen Wir brauchen daher eine einheitliche Strategie zur Bio- werden macht dies deutlich. Dennoch ist mittlerweile massenutzung, die auf Effizienz und Nachhaltigkeit aus- auch klar, dass nicht alles, wo Klimaschutz draufsteht gerichtet ist und die vor allem die Lebensmittelproduk- auch dem Klima hilft. tion nicht verdrängt. Dies müssen wir organisieren, der TAB-Bericht bietet dazu wichtige Hinweise. Sowohl die stoffliche als auch die energetische Ver- wendung von Biomasse sind und werden Teil einer Kli- maschutz-Strategie sein. Wir werden aber genau definie- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Der Sach- ren müssen, unter welchen Bedingungen die Biomasse standsbericht zum Monitoring „Nachwachsende Roh- angebaut wird. Im Kern steht dabei, dass die Ernäh- stoffe“ sieht viele Chancen für nachwachsende Roh- rungssicherheit gewahrt bleibt und dass die Verwendung stoffe, aber keinen Durchbruch. In einigen Bereichen der Biomasse zu einer effizienten Vermeidung von wie der Nutzung von Pflanzenölen als Hydrauliköle ist Treibhausgasen führt. in den vergangenen Jahren viel erreicht worden. Der konsequent durchgeführte Vergleich stofflicher Nutzung Die Forderungen des TAB-Berichtes zielen im We- mit energetischer Nutzung erschwert die Lesbarkeit, ist sentlichen auf die Forschung und Entwicklung ab. Dabei aber richtig, denn die Bedeutung der Bereitstellung von geht es zum einen darum die Effizienz zu steigern, die Energieträgern hat dramatisch zugenommen. Ölpreis- technischen Möglichkeiten sowohl der stofflichen als steigerungen ermöglichen energetische Nutzungen nach- auch der energetischen Verwertung der Biomasse zu ver- wachsender Rohstoffe, an die früher nicht einmal ge- bessern, Bioraffineriekonzepte weiterzuentwickeln und dacht werden konnte. Nach wie vor ist Holz der Anbau und Züchtung zu optimieren. Gleichzeitig wird wichtigste nachwachsende Rohstoff in Deutschland, so- eine Begleitforschung mit einer Öko- und Folgenanalyse wohl in der stofflichen wie auch in der energetischen angemahnt. Flächen- und Nutzungskonkurrenzen sollen Verwertung. Dieser Rohstoff ist gut etabliert und erfährt vorausschauend analysiert werden und die Bereitstel- eine ständig steigende Wertschätzung. Es ist richtig, dass lungsbedingungen nachwachsender Rohstoffe sollen be- er aus der Betrachtung des Berichts herausgenommen 16642 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) wurde. Die stoffliche Nutzung nachwachsender Roh- produkte berücksichtigt der Bericht in seiner Bewertung (C) stoffe ist ohne Holz insgesamt von geringer Bedeutung. anders als beispielsweise das Gutachten des SRU und Der Marktanteil bei den chemischen Grundstoffen be- kommt daher auch zu anderen Schlussfolgerungen. Für trägt 10 Prozent. die Erstellung der Ökobilanz ist dies unverzichtbar. Im industriellen, chemisch-technischen Bereich wer- Die Bewertung des ökologischen Nutzens geschieht den etwa 2,7 Millionen Tonnen nachwachsende Rohstoffe in Ökobilanzen, die den gesamten Weg des Rohstoffs genutzt. Pflanzliche Öle machten mit 0,8 Millionen Ton- von seiner Produktion bis zur Entsorgung nach Ge- nen und Stärke mit 0,64 Millionen Tonnen den Hauptteil brauch bewerten. Die Flächeneffizienz der Produktion der stofflich genutzten Rohstoffe für technische Anwen- von nachwachsenden Rohstoffen ist dabei ein wichtiges dungen aus. Die Anbaufläche liegt für nachwachsende Kriterium. Die thermische Verwertung am Ende der Nut- Rohstoffe für die stoffliche Nutzung bei 496 000 Hektar, zung nachwachsender Rohstoffe, ob Faserstoffe, Bio- ist im Vergleich zu 17 Millionen Hektar landwirtschaft- kunststoffe etc. bietet sich an. Sie ist der Kompostierung lich genutzter Fläche also von vergleichsweise geringer überlegen, weil bei der Kompostierung klimaschädliche Bedeutung. Bei der Stärke hat die Kartoffelstärke die Methanemissionen entstehen. Das bedeutet, dass die größte Bedeutung. 3 Millionen Tonnen Kartoffeln werden stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe, gefolgt zur Stärkeproduktion verarbeitet gegenüber 0,9 Tonnen von thermischer Verwertung am Ende der Nutzung, ein Weizen und 0,6 Millionen Tonnen Mais. 640 000 Tonnen wichtiger Baustein für eine positive Ökobilanz ist. Stärke werden in technischen Anwendungen genutzt. Der Bericht ist eine Fundgrube zu allen Themen, die Der Bericht nennt die gentechnische Züchtung als sich mit der stofflichen Nutzung nachwachsender Roh- eine Möglichkeit, nachwachsende Rohstoffe an den stoffe und ihrer ökologischen Bewertung beschäftigen. Zweck der nachfolgenden Verarbeitung anzupassen. Bei Die lange Erarbeitungszeit erweist sich als Nachteil, der Stärkekartoffel Amflora ist genau dies geschehen, weil neuere Entwicklungen und auch die beiden Gutach- dennoch hat sie trotz positiver Gutachten der Behörden ten des Sachverständigenrates für Umweltfragen, SRU, keine Zulassung durch den Agrarministerrat erhalten. „Klimaschutz durch Biomasse“ und des Wissenschaftli- Sie enthält den npt-II-Marker, ein Antibiotikaresistenz- chen Beirats Agrarpolitik, WBA, beim Bundeslandwirt- gen, das eine Resistenz gegenüber dem Antibiotikum schaftsministerium „Nutzung von Biomasse zur Ener- Kanamycin vermittelt. Dieser Marker wurde von der Re- giegewinnung“ nicht berücksichtigt werden konnten. gierung als Begründung für die Ablehnung der Stärke- Die trotz anderer Aufgabenstellung starke Fokussierung kartoffel heranzogen, obwohl die EFSA, die Europäi- auf die energetische Nutzung ist teilweise verwirrend. Es sche Behörde für die Lebensmittelsicherheit, in ihrer ist noch ein erheblicher Forschungsbedarf vorhanden, Stellungnahme vom Mai 2007 dargelegt hat, dass die um die Potenziale der stofflichen Nutzung nachwachsen- (D) (B) Verwendung dieses np-II-Markers in gentechnisch ver- der Rohstoffe auszuschöpfen. änderten Pflanzen nicht die Wirksamkeit von Antibio- tika der Kanamycin-Gruppe beeinträchtigt. Dieses Anti- biotikum ist in Salben und Augentropfen enthalten und Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die industrielle Nutzung wird in der Human- und Tiermedizin als Reserveantibio- nachwachsender Rohstoffe ist nichts Neues, man denke tikum genutzt, nicht jedoch als reguläres Antibiotikum. nur an Holz für die Papierindustrie und Naturfasern für Die EFSA hat ihre Entscheidung damit begründet, dass die Textilindustrie. Neue Aufmerksamkeit haben die ein Transport des Gens von der Pflanzenzelle in ein Bak- nachwachsenden Rohstoffe vor allem durch die Nach- terium extrem unwahrscheinlich ist. Außerdem kommt teile der petrochemischen Industrie erhalten. Gerade vor das np-II-Gen bereits in Bakterien der Darmflora sowie dem Hintergrund des steigenden Energiebedarfes und in der Umwelt vor. Unter natürlichen Bedingungen der Endlichkeit von Erdöl sind wir darauf angewiesen, wurde kein Transport des np-II-Markers nachgewiesen. die Möglichkeiten nachwachsender Rohstoffe besser zu nutzen. Das Beispiel macht deutlich, dass auch gentechnisch verbesserte Pflanzen, die zur Nutzung als Rohstoff in der Hier bedarf es einer Biomassestrategie, die auch die Industrie optimiert wurden, die die Nachhaltigkeit der Konkurrenz mit der energetischen Nutzung berücksich- Industrieproduktion verbessern helfen, rein ideologisch tigt. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen weist in und ohne inhaltliche Begründung ausgegrenzt werden. seinem Sondergutachten „Klimaschutz durch Biomasse“ Die jetzige Bundesregierung ist da nicht besser als ihre darauf hin, dass in langfristiger Perspektive die stoffli- Vorgängerregierung. che Nutzung gegenüber der energetischen bevorzugt bzw. zumindest nicht schlechtergestellt wird, da biogene Die wichtigste Ölpflanze in Deutschland ist der Raps. Rohstoffe den einzigen Ersatz für fossile Rohstoffe zur Er ist inzwischen ein hervorragendes Lebensmittel, das stofflichen Nutzung darstellen. Dagegen ist Energie aus höchsten ernährungsphysiologischen Ansprüchen ge- fossilen Energieträgern auch mit anderen erneuerbaren nügt. Gleichzeitig ist das Rapsöl ein wichtiger nach- Energien zu ersetzen. wachsender Rohstoff für die verschiedensten Anwen- dungszwecke einschließlich der energetischen Nutzung. Abgesehen von diesen – lösbaren – Flächennutzungs- Bei der Produktion von Rapsöl entstehen verschiedene konkurrenzen kann insbesondere die biologische Abbau- hochwertige Kuppelprodukte, wie Pollen beim Raps- barkeit von Produkten aus nachwachsenden Rohstoffen anbau, der wichtig für den Rapshonig ist, Rapsschrot als das ständig anwachsende Problem des langlebigen hochwertiges Eiweißfutter in der Tierhaltung, Glycerin Kunststoffmülls reduzieren. Der Marktanteil chemischer bei der Herstellung von Rapsmethylester. Diese Kuppel- Grundstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen liegt der- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16643

(A) zeit in Deutschland, so die vorliegende Technikfolgen- Die richtige Antwort auf diese dramatischen Entwick- (C) abschätzung, bei circa 10 Prozent. lungen muss sein: Vorrang der Versorgung der heimi- schen Bevölkerung vor Exportorientierung. Schluss mit Die Nutzung nachwachsender Rohstoffe bietet insbe- den Strukturanpassungsprogrammen von IWF und Welt- sondere der heimischen Landwirtschaft eine neue Nut- bank. Keine weitere Handelsliberalisierungen im Rah- zungsmöglichkeit und damit eine wichtige neue wirt- men der Doha-Runde der WTO. Wir brauchen eine sach- schaftliche Perspektive und Verbreiterung der liche Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken Anbaukultur. Mindestens genauso wichtig ist die Nut- der nachwachsenden Rohstoffe, auf deren Nutzung wir zung landwirtschaftlicher Reststoffe. Während bei An- zunehmend angewiesen sein werden. baubiomasse tendenziell Nachteile bei Ozonabbau, Ver- sauerung und Eutrophierung zu verzeichnen sind, so die Der vorliegende Sachstandsbericht zum Monitoring vorliegende Studie, sind bei der Nutzung von Reststof- „Nachwachender Rohstoffe“ zeigt deutlich, dass noch fen hier häufiger Vorteile oder geringere Nachteile fest- erheblicher Forschungsbedarf besteht, einerseits um die zustellen. ökologischen Auswirkungen der einzelnen Nutzungen nachwachsender Rohstoffe besser bewerten zu können, Andererseits gilt es, aus den Fehlern der Vergangen- andererseits um die technischen Verfahren im Sinne der heit zu lernen und nicht undifferenziert auf nachwach- Effizienz und der Naturverträglichkeit optimieren zu sende Rohstoffe zu setzen. Ein verantwortungsbewusster können. Diese Forschung für eine naturverträgliche Nut- Umgang erfordert, die Vor- und Nachteile im Einzelfall zung nachwachsender Rohstoffe muss auch vom Bund zu bewerten und die Wechselwirkungen mit anderen Be- unterstützt werden. reichen nicht aus den Augen zu lassen. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erstens muss im Einzelfall genau geprüft werden, ob Inzwischen ist es ja weitgehend unbestritten, dass wir die Ökobilanz tatsächlich positiv ist. Gerade die Ver- uns aus ökologischen, ökonomischen und vor allem auch nichtung der Regenwälder für die Gewinnung von friedenspolitischen Gründen vom Erdöl als Rohstoff und Palmöl wird verheerende Auswirkungen auf das Klima Energieträger verabschieden müssen. Dieser Abschied und die Biodiversität haben. Aber auch auf bestehenden ist mehr als überfällig. Gerade die ökonomische Bedeu- Ackerflächen können die Intensivierung der landwirt- tung unseres Abhängigkeitsverhältnisses zum Erdöl schaftlichen Nutzung, die Probleme mit der Fruchtfolge zeigt sich derzeit wieder besonders gravierend. Am und dem höheren Bedarf an Düngemitteln oder gar der Dienstag dieser Woche kletterte der Preis für ein Barrel Einsatz von gentechnisch verändertem Material zu mehr Öl der US-Sorte West Texas Intermediate, WTI, erstmals Schaden als Nutzen führen. über die Marke von 118 US-Dollar. Und auch die Kosten (B) für Rohöl aus Ländern der Organisation erdölexportie- (D) Zweitens gibt es eine Flächenkonkurrenz zur Nah- render Länder, Opec, stiegen auf eine neue Rekordmarke rungsmittel- und Futtermittelproduktion. Die Versorgung von 108,93 Dollar. Tendenz weiter steigend. Die Interna- der Menschen mit Grundnahrungsmitteln muss immer tionale Energieagentur schließt auch eine globale Rezes- Vorrang vor der stofflichen oder energetischen Nutzung sion aufgrund der steigenden Ölpreise nicht mehr aus. nachwachsender Rohstoffe haben. Dies ist auch nicht verwunderlich, denn der Rohstoff Erdöl hat zwei Funktionen: Es ist global der wichtigste Die aktuelle Ernährungskrise in manchen Ländern in Primärenergieträger und gleichzeitig Rohstoff für die Lateinamerika und Afrika wird auch durch internationa- Petrochemie. len Finanzmarktspekulationen und das Agieren von IWF und Weltbank begründet. Agrarrohstoffe und Boden sind Doch wie sieht der Umstieg aus? Neben den erneuer- ins Visier kurzfristiger Profitinteressen geraten. Da ist es baren Energien wie zum Beispiel Sonne, Wind und Was- schon zynisch, wenn die Vertreter von IWF und Welt- ser kommt vor allem der Biomasse, den nachwachsen- bank erklären, die Nutzung nachwachsender Rohstoffe den Rohstoffen eine zentrale Bedeutung zu. Biomasse gefährde ihre positive Politik der vergangenen Jahr- wird derzeit mehr oder weniger nur als Energierohstoff zehnte gegenüber den Entwicklungsländern. Es sind ge- verstanden, Biomasse aber kann erheblich mehr. Der nau ihre Strukturanpassungsprogramme und die Han- vorliegende TAB-Bericht zur industriellen stofflichen delsliberalisierungen im Rahmen der WTO, die Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen, über den wir systematisch kleinbäuerliche Existenzen vernichtet und heute diskutieren zeigt, dass Biomasse ein gewaltiges die jetzige Entwicklung hervorgebracht haben. Sie haben Potenzial hat, den klimaschädlichen Erdölverbrauch so- die Entwicklungsländer zu einer Ausrichtung ihrer wohl in der Energiewirtschaft als auch in der chemi- Landwirtschaft auf den Export und zu einer Öffnung ih- schen Industrie zu vermindern. rer Märkte für billigen, subventionierten Import auch Wir sehen uns durch diesen Bericht in unserer Strate- von Agrargütern aus den Industrieländern gezwungen. gie „Weg vom Öl“ bestätigt, nach der bis 2020 ein Vier- Großflächige Monokulturen sogenannter cash crops ver- tel der erdölbasierten Produkte durch solche aus nach- drängen den Anbau für den Eigenbedarf. Anstatt die ei- wachsenden Rohstoffen ersetzt werden sollen. Nicht nur genen Lebensmittel zu produzieren, müssen diese dann die energetischen, sondern vor allem auch die stoffliche zu Weltmarktpreisen gekauft werden. Und hier tummeln Nutzung nachwachsender Rohstoffe hat ein großes öko- sich inzwischen professionelle Anleger, die vor dem logisches und ökonomisches Potenzial. Sie ist neben der Hintergrund des Booms der nachwachsenden Rohstoffe Förderung der Bioenergien ein zentraler Bestandteil des auf steigende Agrarrohstoffe spekulieren. Den Preis da- Umbaus unserer Wirtschaft auf die Nutzung erneuerba- für zahlen die Armen. rer Energie- und Rohstoffquellen. 16644 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Nach dem vorliegenden Bericht des Büros für Tech- hieraus folgenden grundsätzlichen Tötungsverbot sowie (C) nikfolgenabschätzung wird eine stoffliche Nutzung nach- dem Verbot, Nist-, Brut- oder Zufluchtstätten der Natur wachsender Rohstoffe zur Verringerung von Import- zu entnehmen bzw. zu beschädigen, sind nur unter engen abhängigkeiten von fossilen Ressourcen führen und gesetzlichen Voraussetzungen, unter anderem zur Ab- Klima und Umwelt schützen. Die stoffliche Nutzung wendung erheblicher fischereiwirtschaftlicher Schäden nachwachsender Rohstoffe hat darüber hinaus ein be- oder zum Schutz der heimischen Tier- und Pflanzenwelt, achtliches Innovationspotenzial sowohl bei der Entwick- zulässig und können im Einzelfall durch behördliche lung neuer Produkte als auch bei der Entwicklung neuer Ausnahmegenehmigung oder generell durch Rechtsver- Herstellungsverfahren. ordnung zugelassen werden. Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deut- In der „Kleinen Novelle“ zum Bundesnaturschutzge- schen Bundestag erwartet weiter, dass nachwachsende setz, die am 12. Dezember 2007 in Kraft getreten ist, Rohstoffe mittel- bis langfristig eine zentrale Rolle für wurden die wesentlichen Regelungen zum gesetzlichen die Herstellung chemischer Grundstoffe spielen können. Artenschutz neu definiert. Im novellierten BNatSchG Die Verwendung von Erdöl in der chemischen Industrie wurden die sogenannten Zugriffsverbote nach kann durch die Nutzung nachwachsender Rohstoffe in § 42 Abs. 1 neu sortiert. Ganz neu ist die Einschränkung Bioraffinerien fast völlig überflüssig werden. des Verbotes der Störung streng geschützter Tier- und europäischer Vogelarten auf solche Störungen, die den Der Bericht legt dar, dass Bioraffinerien in vielen un- Erhaltungszustand der lokalen Population einer Art ver- tersuchten Bereichen überwiegend ökologische Vorteile schlechtern – nicht nur bezogen auf einzelne Individuen. gegenüber etablierten Verfahren zeigen und gerade den Reststoff verarbeitenden Bioraffinerien große Potenziale Damit haben wir gerade für die Arten, deren Bestand zugesprochen werden, da für ihre Rohstoffversorgung sich erfreulich entwickelt, eine höhere Flexibilität beim keine zusätzliche Anbaufläche notwendig wird. Wir ha- Artenschutz geschaffen. Ein typisches Beispiel – neben ben bereits vor Wochen einen Antrag „Mit Bioraffine- dem Kormoran – ist in Süddeutschland der Biber. Der rien in Deutschland die Biomasse effizienter nutzen und Biber steht für eine sehr erfolgreiche Wiedereinbürge- zusätzliche Ressourcen erschließen“ eingebracht und rung einer Art in Deutschland. Aber wir müssen sehen, hier im Haus auch schon in erster Lesung beraten. Dieser dass er sich so erfolgreich vermehrt, dass es an einigen Antrag steht jetzt in den Ausschüssen zu den Beratungen Stellen Probleme gibt. Deshalb plädiere ich auch hier für an. Flexibilität. Wenn er den Damm von Kläranlagen durch- löchert oder an Straßen herangeht, dann muss es möglich Nehmen Sie den Bericht des Büros für Technikfol- sein, einzelne Exemplare im Sinn der Gesamtpopulation genabschätzung nicht einfach nur zur Kenntnis, sondern wegzunehmen. (B) ziehen Sie auch die notwendigen Konsequenzen. Unter- (D) stützen Sie unseren Antrag zur Förderung von Bioraffi- Ähnlich pragmatisch müssen wir auch mit dem Kor- nieren. Denn wer die Chancen der industriellen stoffli- moran umgehen. Der Kormoran ist seit dem 17. Jahrhun- chen Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen in dert regelmäßiger Wintergast in Bayern. Mit Zunahme Bioraffinieren verkennt, der verspielt große Chancen für der Winterbestände und übersommernder Vögel war es Umwelt und Wirtschaft. nur eine Frage der Zeit, bis sich 1980 mit sieben Brut- paaren die erste bayerische Kormorankolonie am Isma- Nachwachsende Rohstoffe sind ein universeller Roh- ninger Speichersee nördlich von München etablierte. stoff, der natürlich nicht unendlich zur Verfügung steht. Der Brutbestand in Bayern hat in den letzten zehn Jahren Aber eine stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe insgesamt noch leicht zugenommen und liegt aktuell bei bringt keine zusätzliche Konkurrenz um Anbaufläche 581 Brutpaaren (2007). mit Nahrungsmitteln oder Bioenergien mit sich, wenn sich der stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe Gerade in Teichwirtschaften, vor allem in der Satz- im Sinne einer Kaskadennutzung eine energetische Nut- fischproduktion, verursachen Kormorane tatsächlich zung anschließt und vor allem durch Bioraffinerien Rest- Verluste bis zu 70 Prozent. Die Folge: erhebliche, für be- und Abfallstoffe zu wertvollen Rohstoffen umgewandelt troffene Teichwirte in Einzelfällen existenzbedrohende werden. Schäden. Wo Schäden durch Kormorane angenommen werden, können unterschiedliche Methoden zur „Scha- densreduzierung“ zur Anwendung kommen. Dazu zäh- Anlage 14 len Vergrämung durch optische oder akustische Maßnah- men oder der Reduktionsabschuss. Zu Protokoll gegebene Reden Fischartenschutz praktisch umzusetzen, kann aber zur Beratung der Beschlussempfehlung und des auch durch eine Bespannung der Fischteiche als vorbeu- Berichts: Fischartenschutz fördern – vordring- gend wirkende Dauerlösung und andere Maßnahmen am liche Maßnahmen für ein Kormoranmanage- Gewässer erfolgen. Dies hat auch eine europaweite EU- ment (Tagesordnungspunkt 22) Studie ergeben, die unter Mitwirkung der Fischerei und von Anglerverbänden durchgeführt wurde. Bayern hat Josef Göppel (CDU/CSU): Der Kormoran ist durch als erstes Bundesland von der bundesgesetzlichen Er- die EG-Vogelschutzrichtlinie sowie in Umsetzung der mächtigung Gebrauch gemacht und bereits 1996 die so- europarechtlichen Vorgaben durch das Bundesnatur- genannte Kormoran-Verordnung erlassen. Diese Kormo- schutzgesetz besonders geschützt. Ausnahmen von dem ran-Verordnung wurde nach intensiver Diskussion der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16645

(A) Sach- und Rechtslage mit Vertretern der Fischerei und Deutschland für den Förderzeitraum 2007 bis 2013 des (C) des Naturschutzes bereits mehrmals der aktuellen Ent- Europäischen Fischereifonds. Unabhängig von diesen wicklung entsprechend angepasst (zuletzt im Sommer Sachargumenten müssen wir uns immer wieder deutlich letzten Jahres) und ist als Kompromiss zwischen den machen: Der Konflikt zwischen Fischerei und Kormora- verschiedenen Anliegen zu sehen. Im Rahmen dieser nen ist kein neues Phänomen. Bereits 1892 schrieb Al- Verordnung wurden seit 1996 bayernweit jährlich zwi- fred Brehm im sechsten Band seiner „Allgemeinen schen 2 547 und 7 371 Kormorane abgeschossen. Kunde des Tierreichs“ über den Kormoran: Der Bestand wird allerdings rasch durch Zuzug aus Auf den Gewässern des Binnenlandes sind die benachbarten Gebieten wieder aufgefüllt. Vergrämungs- Scharben nicht zu dulden, weil sie dem Fischstande maßnahmen in den Brutkolonien scheinen effektiver zu unserer Fluß- und Landseen unberechenbaren Scha- sein. Bilder von verhungerten Jungvögeln nach der Stö- den zufügen. Ihre Gefräßigkeit übersteigt unsere rung einer Kolonie mitten in der Aufzuchtphase wie im Begriffe. Juli 2005 im Anklamer Stadtbruch in Mecklenburg-Vor- pommern zeigen aber, wie Kormoranmanagement nicht Dieses negative Bild durchzieht auch die weitere Be- geschehen darf. Baden-Württemberg dagegen hat vor ei- schreibung Brehms: nigen Wochen am Bodensee gezeigt, wie es mit einem Die Menge der zu- und abfliegenden Vögel erfüllte einmaligen Eingriff in der Brutphase erfolgreich war. die Luft; ihr wildes Geschrei betäubte die Ohren. Den Antrag der FDP müssen wir ablehnen, da der Die Bäume samt ihrem Laube waren weiß von dem Bundestag bei vielen Punkten der falsche Adressat ist. Unrate, die Luft war verpestet durch die aus dem Etliche Forderungen der FDP zur Abwehr von Kor- Neste herabgefallenen und faulenden Fische. moranschäden wären an die Bundesländer zu richten. Die Frage eines europäischen Aktionsplanes Kormoran Schlechtes Image, kurzes Leben: Entsprechend dem ist zudem in der Europäischen Union derzeit nicht er- damaligen Naturverständnis, das Flora und Fauna nach folgreich durchzusetzen. Bereits im Jahre 2003 hat menschlichen Maßstäben in nützlich und schädlich un- Frankreich eine entsprechende Forderung an die Euro- terteilte, wurde der Kormoran als Nahrungskonkurrent päische Kommission gerichtet. Die Staaten mit den größten des Menschen schonungslos gejagt. Das Ergebnis war, Brutpopulationen, die Niederlande und Dänemark, wei- dass die Bestände in ganz Europa am Ende des 19. Jahr- gern sich – dies im Übrigen seit mehr als einem Jahr- hunderts bis auf wenige Brutpaare in den Niederlanden zehnt –, bei einer Bestandsreduzierung mitzuwirken. und in Polen ausgerottet waren. Auf weitere Punkte ist die Bundesregierung bereits in Erst durch die konsequente Vogelschutzpolitik auf na- (B) ihrer Beantwortung auf die Kleine Anfrage der FDP- tionaler und europäischer Ebene ist der Kormoran seit (D) Fraktion zum gleichen Thema eingegangen. Mitte der 1980er Jahre an unsere Seen und Flüsse zu- rückgekehrt. Heute leben in Deutschland wieder rund 23 000 Brutpaare. Nach einem rasanten Wachstum in Christoph Pries (SPD): Der vorliegende Antrag der den 1980er- und 90er-Jahren, scheinen sich die Bestände FDP-Fraktion fordert ein europaweites Kormoranma- in den letzten Jahren auf diesem Niveau zu stabilisieren. nagement, da die Bestandsvermehrung des Kormorans gravierende Auswirkungen auf die Fischfauna, die Bin- Mit der Rückkehr der Kormorane kehrte aber auch der nen- und Teichwirtschaft habe. Der Antrag ist von den alte Konflikt zurück. Immer vehementer fordern Hobby- Koalitionsfraktionen und von Bündnis 90/Die Grünen und Berufsfischer in den letzten Jahren eine massive Re- im Umweltausschuss zu Recht abgelehnt worden. Ich duktion der Kormoranbestände. Die Vogelschützer leh- möchte die drei wichtigsten Gründe nennen: nen dies vehement ab. Die Argumente der beiden Lager stehen sich unvereinbar gegenüber. Ein Beispiel ist die Erstens. Die FDP folgt einseitig der Argumentation von Brehm angeführte „Gefräßigkeit“ der Kormorane. der Fischerei- und Anglerlobby, die seit Jahren darauf Sie wird heute von der Fischerei für die Schädlichkeit der drängt, die Kormoranbestände europaweit drastisch zu Vögel angeführt: 500 Gramm Fisch und mehr vertilge reduzieren. Die zum Teil erheblich divergierenden An- ein Kormoran täglich. Die Naturschützer bestreiten diese gaben der Vogelschützer werden bewusst ignoriert. Zahlen: 300 Gramm betrage der tägliche Nahrungsbe- Zweitens. Die Forderungen der FDP sind falsch darf. Lediglich während der dreimonatigen Brutzeit oder adressiert. Sie fallen fast ausschließlich in die Kompe- in extremen Kälteperioden könne der Bedarf auf mehr als tenz der Bundesländer. Diese haben bereits heute die 500 Gramm steigen. Diese Verhärtung der Fronten führt Möglichkeit, über Kormoranverordnungen die Bestände immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Vo- zur Abwehr fischereiwirtschaftlicher Schäden oder zur gelschützern und Fischereiinteressen. Erst in der vergan- Abwehr von Schäden an anderen Tierarten zu regulieren. genen Woche kam es am Bodensee anlässlich einer Ver- Neun von 16 Bundesländern machen von dieser Mög- grämungsaktion wieder zu Protesten. lichkeit Gebrauch. Im Jahr 2005 wurden 30 000 Kormo- rane getötet, 2006 waren es noch 12 000. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, Fischereiverbände und Natur- Drittens. Die Forderung der FDP nach einem europäi- schützer an einen Tisch zu bekommen. Alle Versuche, schen Kormoranmanagement ist von uns politisch nicht die divergierenden Interessen von Fischerei und Vogel- gewollt und unrealistisch. Zu diesem Ergebnis kommt schützern auf europäischer (REDCAFE) und nationaler auch das Operationelle Programm der Bundesrepublik Ebene (Kormorankonferenz des Bundesamtes für Natur- 16646 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) schutz 2006) auszugleichen, haben zwar zu guten Ansät- der Kormoranbestand von damals 1 050 Brutpaaren (C) zen, aber noch zu keinem Durchbruch geführt. mehr als verzehnfacht. Aus Sicht der Küstenfischerei wäre eine Reduzierung auf 50 Prozent des Kormoranbe- Trotzdem muss auf diesem Weg weitergegangen wer- standes sinnvoll. Seit 2007 gibt es eine Kormoran-Ver- den. Wir brauchen kein Kormoranmanagement, sondern ordnung, die aber nicht sehr wirkungsvoll ist, da Ab- ein Konfliktmanagement zwischen Hobby- und Berufs- schüsse oder Vergrämungen nur an Binnengewässern fischern auf der einen und Naturschützern auf der ande- erlaubt sind. Die Verluste in der Teichwirtschaft durch ren Seite. Dies war auch eines der zentralen Ergebnisse Kormoranfraß – zum Beispiel Karpfen – betragen etwa des REDCAFE-Reports von 2003. Ein weiteres Ergeb- 70 bis 90 Prozent. nis des REDCAFE-Projektes war übrigens die gemein- same Erkenntnis, dass der massenhafte Abschuss von In Brandenburg und Schleswig-Holstein zeigen Un- Kormoranen ineffektiv sei. Der Kormoran ist ein Teil tersuchungen, dass der Kormoran gern Aal frisst. Für das unseres Ökosystems. Wir müssen lernen mit ihm zu le- Land Brandenburg wird in aktuellen Untersuchungen ein ben. Aalverlust von 77 Tonnen angegeben, gegenüber einer Fangmenge von 100 Tonnen durch die Fischerei. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wir leben in In Nordrhein-Westfalen und Thüringen sind die einer Kulturlandschaft. Verschiedene Tierarten werden Äschenbestände durch den Kormoran extrem reduziert in der vom Menschen geprägten Landschaft begünstigt, worden. Die Äsche ist eine Fischart, die auf der Roten vermehren sich so stark, dass eine Bestandsregulierung Liste steht, und damit zu den gefährdeten Fischarten ge- erforderlich wird. Andere Arten werden benachteiligt, hört. Sie ist für die Berufsfischerei ohne Bedeutung. ihr Lebensraum wird so eingeschränkt, dass wir sie durch besondere Schutzgebietsausweisungen vor dem Die Konferenz des Deutschen Fischereiverbandes Aussterben schützen müssen. Es besteht ein allgemeines e. V. im vergangenen Jahr in Bonn „Kormoran, Wege Einverständnis, dass auch aufgrund des Fehlens von zum europäischen Bestandsmanagement“ hat festgestellt, Wolf und Bär, Raubtieren, die früher einmal bei uns hei- dass die Kormoranbestände in Europa auf ein Niveau an- misch waren, der Mensch Reh-, Rotwild- und Damwild- gestiegen sind, das wichtige Bestandteile der Kulturland- bestände beschränken muss, um im Wald Schäden durch schaft stark beeinträchtigt; dass die Kormoranbestände winterlichen Verbiss zu mindern. zunehmend Schaden an der Fischfauna in Flüssen und Seen, Küstengewässern und künstlichen Gewässern aller Als Anfang der 90er-Jahre der Kormoran wieder bei Art in ganz Europa verursachen; dass viele teichwirt- uns heimisch wurde, hat sich wohl niemand vorstellen schaftlichen Betriebe durch Kormoranbefall ihre Exis- tenzgrundlage verloren haben, dass die Bemühungen der (B) können, dass seine Population einmal so stark anwach- (D) sen würde, dass über eine Regulierung der Kormoranbe- Fischerei zur Hege und Erhaltung gefährdeter Fischarten stände nachgedacht werden musse. Inzwischen wird die zunichtegemacht werden; dass die Maßnahmen zur Si- europäische Population des Kormorans auf rund 700 000 cherung des europäischen Aales ohne eine nachhaltige erwachsene Brutvögel bzw. eine Gesamtzahl von insge- Reduzierung des Fraßdruckes durch Kormoran keinen samt etwa 2 Millionen Vögel geschätzt. Die Zahl der Erfolg haben können; dass lokale Abwehrmaßnahmen Bartvögel in Deutschland wird von der Bundesregierung zur Vergrämung nur zur Schadensminderung bei einzel- – Stand 2005, Bundestagsdrucksache 16/1017 – mit nen Teichwirtschaften geführt haben, ohne einen nach- 45 516 angegeben. Unter Berücksichtigung des noch haltigen Schutz der Fischfauna zu sichern. nicht geschlechtsreifen Nachwuchses resultiert hieraus Die Konferenz fordert von den Bundesländern, die lo- ein Gesamtbestand von etwa 130 000 Vögeln. Es gibt kalen Abwehrmaßnahmen sofort durch Bestandreduzie- keine Artenschutzmaßnahme, die so erfolgreich war wie rende Eingriffe in Brutkolonien zu ergänzen. Sie fordert der Kormoranschutz. Inzwischen ist es an der Zeit, über von der Bundesregierung, sich nachhaltig für ein gesam- eine Regulierung nachzudenken, damit die Artenvielfalt teuropäisches Management des Kormoranbestands ein- in den Gewässern nicht unter dem enormen Fraßdruck zusetzen, und von der Europäischen Union, dafür zu sor- des Kormorans zu leiden hat. Die EU hat inzwischen re- gen, dass die Kormoranbestände in Europa in einem agiert und den Kormoran aus der höchsten Schutzkate- ersten Schritt um 50 Prozent reduziert werden sowie ei- gorie abgestuft. Die Bundesländer haben reagiert und nen europäisch koordinierten Langzeitmanagementplan Kormoran-Verordnungen erlassen. Insgesamt brauchen zu etablieren, der die Kormoranbestände langfristig in wir jedoch einen europäischen Plan für das Kormoran- die Kulturlandschaft integriert, ohne die Natura-2000- management, denn nur so lässt sich der Bestand nachhal- Ziele im Bereich der Fischarten und die Gewässerökolo- tig regulieren. Der Kormoran ist nicht nur für die Arten- gie zu gefährden. vielfalt in den Gewässern, sondern auch für die Fischerei ein Problem. Ein ausgewachsener Kormoran frisst täg- Es werden verschiedene Maßnahmen zur Vergrämung lich etwa 500 Gramm Fisch. Anders als der Graureiher sowie zur Bestandsregulierung diskutiert und angewen- kann er nicht auf Mäuse oder andere Beute ausweichen. det. In jedem Fall ist darauf zu achten, dass Maßnahmen Mecklenburg-Vorpommern ist das Bundesland, das am zur Regulierung im Einklang mit den Bestimmungen meisten unter dem Kormoran zu leiden hat. 85 Prozent des Tierschutzes stehen. Kleine Teichanlagen können der rund 12 000 Kormoranbrutpaare von Mecklenburg- vor dem Kormoran durch weitmaschige Netze aus Stahl- Vorpommern – etwa die Hälfte des deutschen Gesamtbe- drähten geschützt werden. In Mecklenburg-Vorpommern standes – leben an der Ostseeküste. Seit 1982 hat sich wird eine neue, vielversprechende Methode der Vergrä- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16647

(A) mung erprobt: Im Gewässer werden Lautsprecherboxen die Umsetzung der FFH-Richtlinie erschweren, noch das (C) installiert, die eintauchende Kormorane mit Orca-Rufen Erreichen der Zielsetzungen der Europäischen Wasser- beschallen, worauf die Kormorane fliehen und das Ge- rahmenrichtlinie verhindern. Es besteht jedoch die Ge- wässer verlassen. fahr, dass durch den Fokus auf den Kormoran als „Feind“ der Fischbestände und Konkurrent der Fische- In der Schweiz existiert seit 1996 ein sehr gut funktio- reiwirtschaft, der Blick für andere, oftmals in gleichem nierender Kormoran-Wintermanagementplan, der von Rahmen für den Fischrückgang verantwortlichen Fakto- den nationalen Natur- und Vogelschutzorganisationen ren, verloren geht. Was nämlich ebenfalls berücksichtigt mitgetragen wird. Darin wird die Bejagung der Kormo- werden muss, ist die Tatsache, dass der Mensch durch rane an Gewässern geregelt. Mit dem Kormoran-Som- seine gravierenden Eingriffe in Ökosysteme die Fischbe- mermanagementplan 2005 wird geregelt, dass in der ge- stände stark verringert und in machen Fällen sogar aus- samten Schweiz fünf Brutkolonien mit insgesamt gerottet hat. maximal 100 Brutpaaren als Zielgröße definiert sind. Wird diese Kormorananzahl überschritten, tritt ein Kon- Im vergangenen Jahrhundert lag die Hauptgefähr- fliktlösungsausschuss zusammen, der über die Duldung dungsursache für viele Fischarten vor allem in der Ein- dieser Brutkolonien bis zur Eliminierung der Brutvögel leitung von Nähr- und Schadstoffen in die Gewässer. bzw. ihrer Gelege oder die Zerstörung der Lebensräume Und auch die Veränderungen der natürlichen Gewässer- entscheiden kann. beschaffenheit und der Abflussverhältnisse durch was- serbauliche Eingriffe haben ihren Teil dazu beigetragen. Es gibt viele Beispiele für regionale Aktivitäten, die Als Ergebnis sind eine Reihe von Arten oder Lokalvarie- eine Regulierung des Kormorans bezwecken. Es bleibt täten, wie zum Beispiel der Atlantische Stör oder der unverständlich, dass einzelne Naturschutzverbände sehr Deutsche Lachs ausgestorben. viel Engagement dem Schutz des Kormorans und der Ver- hinderung von Regulierungsmaßnahmen widmen, obwohl Dass dies oft vergessen wird, ist am Beispiel der der Kormoran mit seiner beeindruckenden Bestandsent- Äsche besonders gut zu sehen. Für deren Rückgang wird wicklung zu den besonders erfolgreichen Tierarten gehört ja gerne der Kormoran verantwortlich gemacht. Jedoch und andere Arten sehr viel mehr der Fürsorge bedürfen. genau diese Art stellt sehr hohe Ansprüche an die Was- Es wäre wünschenswert, wenn die Verbände insbeson- serqualität und benötigt klares kühles Wasser. Zudem re- dere im Interesse des Fischartenschutzes zu einer gemein- agiert sie empfindlich auf anthropogene Störungen. Die samen Position fänden. Gefährdung der Äschenbestände ist somit in erster Linie auf Gewässerverschmutzung und menschliche Eingriffe Die Fachsprecher von CDU/CSU und SPD haben in zurückzuführen. Der Kormoran stellt nur eine zusätzli- (B) der Abstimmung des Ausschusses aus ihrer fachlichen che Bedrohung dar. (D) Verantwortung heraus dem Antrag der FDP-Bundestags- fraktion zugestimmt. Ähnlich steht es mit dem Aal. Es ist sehr wahrschein- lich, dass der Kormoran auch hier einen Beitrag zur Re- Regionale und nationale Maßnahmen gegen den Kor- duzierung des Bestandes beiträgt. Jedoch spricht in die- moran sind richtig und wichtig, aber ohne eine Koordinie- sem Zusammenhang kaum jemand vom Bau unzähliger rung dieser Maßnahmen in den betroffenen europäischen kleiner Wasserkraftanlagen, die Fisch-Schreddern glei- Ländern, also ohne ein europäisches Kormoranmanage- chen. Gerade Aale, die immer dem Hauptstrom folgen ment, können wir keinen sicheren und dauerhaften Ar- und dadurch beim Abstieg Richtung Meer natürlich tenschutz gewährleisten und Schaden von unseren hei- keine Fischtreppen nutzen, sind davon betroffen. Bevor mischen Gewässern abwenden. hier der Kormoran für die Dezimierung der Aalbestände Ich bitte um Zustimmung zum FDP-Antrag. verantwortlich gemacht wird, sind solche Faktoren also genauer zu hinterfragen. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Die Kormo- Ich denke, darin, dass hier Schutzmaßnahmen getrof- ranbestände haben sich in den letzten Jahrzehnten stark fen werden müssen, sind wir uns einig, nicht nur zum vermehrt. Davon betroffen ist nicht nur Deutschland, Erhalt der Biodiversität, sondern auch um die Existenz sondern auch zahlreiche Nachbarstaaten. Die Tatsache, der Fischereiwirtschaft zu sichern. Jedoch kann der Ab- dass Kormorane eine große Menge an Fisch benötigen, schuss von Kormoranen hier nicht die Lösung sein. Um um ihren Nahrungsbedarf zu decken, ist nicht zu leug- Kormoranpopulationen zu reduzieren, sollte lieber ein nen. Dementsprechend können bei hohem Vorkommen Weg gewählt werden, der ebenfalls arten- und tierschutz- von Kormoranpopulationen auch Fischbestände stark rechtlich zu vertreten ist. Zudem ist es wichtig, die Aus- dezimiert werden. Wenn aber Fischbestände stark beein- wirkungen auf die Ökosysteme möglichst gering zu hal- trächtigt werden, dann kann dies den Fortbestand einzel- ten. ner Populationen mit ihrem spezifischen genetischen Po- Aus diesem Grund sind wir gegen Regulierungsmaß- tenzial akut gefährden. Auch die Fischereiwirtschaft ist nahmen in Schutzgebieten und auch im Grundsatz an davon betroffen. Angelfischer, Teichwirte und Fisch- Gewässern, die nicht wirtschaftlich genutzt werden. Hier züchter sehen sich durch den Rückgang der Fischpopula- muss die natürliche Räuber-Beute-Beziehung wirken tionen in ihrer Existenz bedroht. können. Besonders in Gebieten mit hohem Schutzstatus Wir sehen hier ebenfalls eine Notwendigkeit zum dürfen diesbezüglich keine Eingriffe geschehen. Denn Handeln. Die hohen Kormoranvorkommen dürfen weder der Prozessschutz ist hier dem Artenschutz vorzuziehen. 16648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) Eine der wichtigsten Maßnahmen ist der Schutz der Für Bündnis 90/Die Grünen ist die Bestandsreduktion (C) natürlichen Feinde des Kormorans. Sowohl der Uhu als der Kormorane grundsätzlich weder ökologisch noch auch der Seeadler müssen weiterhin massiv geschützt ethisch begründbar oder verantwortbar. Der Kormoran, Pha- und wiederangesiedelt werden. Auch teilweise Teich- lacrocorax carbo, fällt unter die allgemeinen Schutzbestim- überspannungen haben sich bewährt und sollten finanzi- mungen der Vogelschutzrichtlinie, Richtlinie 79/409/EWG ell gefördert werden, wie dies beispielsweise in Bayern vom 2. April 1979, und das absichtliche Töten oder Fan- der Fall ist. gen, die absichtliche Zerstörung von Nestern oder die Entnahme von Eiern ist grundsätzlich verboten. Nur Und letztlich wird durch das naturnahe Gestalten von „mangels anderweitiger Lösungen“ sind Ausnahmen von Wirtschaftsgewässern nicht nur den Fischbeständen ein diesem Verbot möglich, jedoch dürfen diese Maßnahmen Gefallen getan. Es leistet auch einen Beitrag zur Erhö- den Bestand der Kormorane nicht gefährden – und sie hung der Biodiversität. müssen vor allem begründbar sein. Die Europäische Kommission hat noch 2006 bekräf- Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE tigt, dass sie am Schutzstatus des Kormorans festzuhal- GRÜNEN): Zu Beginn erst einmal Grundsätzliches: Der ten gedenke und ihr keine Gründe bekannt seien, die Kormoran ist nach EU- und Bundesrecht geschützt und eine Änderung notwendig machten. unterliegt daher nicht dem Jagdrecht. Seine Brut-, Rast- Die vorhandenen Instrumente, Konflikte mit Kormo- und Überwinterungsgebiete sind zu schützen. Das hin- ranpopulationen zu bewältigen, sind mehr als ausrei- derte das Regierungspräsidium Freiburg jüngst nicht da- chend. Den von der FDP konstatierten Handlungsbedarf ran, einen grandiosen „Erfolg“ zu vermelden: 50 bis vermögen wir nicht zu erkennen, und das nicht etwa, 70 Prozent der geschätzten 160 bis 200 Eier der einzigen weil wir kurzsichtig wären, sondern weil es ihn nicht bei Radolfzell am Bodensee brütenden Kormorankolo- gibt. nie wurden durch Vergrämung der Brutpaare ausgekühlt und zerstört. Beantragt hatten die Aktion vier Fischerei- Die FDP greift mit ihrem Antrag einseitig in die Aus- vereine. einandersetzungen zwischen Fischern und Naturschüt- zern über die fischereiwirtschaftlichen Schäden durch Experten haben darauf hingewiesen, dass es sich bei den Kormoran zugunsten der Fischer ein; denn der An- dem Brutgebiet im „Radolfzeller Aachried“ nicht nur um trag greift im Wesentlichen ungeprüft die Argumente der ein Naturschutzgebiet, sondern auch um ein EU-Vogel- Fischer nach einem europaweiten Kormoranmanage- schutzgebiet von internationaler Bedeutung handelt. Die ment mit dem Ziel einer Bestandsregulierung auf. Au- hier vorkommenden gefährdeten Rot- und Schwarzmi- ßerdem sollen weitere Maßnahmen zur bundesweiten (B) (D) lane, Rohrweihen, Zwergtaucher und Kolbenenten sind Reduzierung des Kormoranbrutvogelbestandes zugelas- mitten im Brutgeschäft, die Eiablage der meisten Arten sen werden wie die Reduzierung der Zahl der Nistbäume steht kurz bevor. Vor diesem Hintergrund ist die als Kor- und Gelegemanipulationen. Neuansiedlungen oder Neu- moranmanagement deklarierte Aktion weder ethisch gründungen von Kolonien sollen verhindert werden. vertretbar noch rechtens; denn sie verstößt gegen das eu- Auch in Schutzgebieten sollen Eingriffe in bereits beste- ropäische Naturschutzrecht. hende Kolonien ermöglicht werden. Skandalös ist es allerdings auch, dass der vom Natur- Der Antrag und seine Forderungen werden dem Pro- schutzbund Deutschland, NABU, mit Unterstützung der blem nicht gerecht und zeigen wieder einmal, wie wenig Deutschen Umwelthilfe binnen weniger Stunden beim die FDP von ökologischen Zusammenhängen versteht. Verwaltungsgericht Freiburg gestellte Eilantrag auf Sie agiert auch nicht im vermeintlichen Interesse der Fi- Überprüfung der angeordneten Maßnahme – über den scher. Ja, es stimmt. Es gibt fischereiwirtschaftliche Schäden in der Teichwirtschaft und der Fluss- und Seen- das Regierungspräsidium informiert war – ignoriert fischerei. Dennoch zeigen wissenschaftliche Publikatio- wurde. Um vor einer Entscheidung des Gerichts Fakten nen, dass der Stand der fischereibiologisch-ökologischen zu schaffen, wurde die Aktion noch in derselben Nacht Diskussion über die im FDP-Antrag vertretene mono- durchgeführt. Das ist eines Rechtsstaates unwürdig. Die kausale Sicht inzwischen weit hinaus ist. Es ist zu ein- gesetzlich garantierten Rechte der Naturschutzverbände fach gedacht, alles dem Kormoran in die Schuhe bzw. in wurden so durch die baden-württembergische Landesre- den Schnabel zu schieben. Bündnis 90/Die Grünen tre- gierung missachtet. Unsere Fraktion fordert eine lücken- ten dafür ein, dass die naturnahe Bewirtschaftung von lose Aufklärung dieses Vorgangs. Teichen und Seen gefördert wird. Durch Renaturierungs- Leider ist dieser Vorgang nicht ohne Beispiel. Welche maßnahmen und eine Besetzung der Gewässer mit ur- Auswüchse eine Bestandsreduktion der Kormoranpopu- sprünglich dort vorkommenden, heimischen Fischarten lationen erreichen kann, zeigte auch die tierschutzwid- lässt sich der vermeintlichen Kormorangefahr ökolo- rige Tötungsaktion im Anklamer Stadtbruch im Juli gisch, tierschutzgerecht und wirkungsvoll begegnen. 2005, bei der mehr als 6 000(!) Kormorane in ihren Nes- Untersuchungen zeigen, dass fischereiwirtschaftliche tern abgeschossen wurde, das Ganze im Übrigen in der Schäden überwiegend bei intensiv genutzten Fischtei- Amtszeit eines Umweltministers der PDS – so viel zur chen auftreten. In natürlichen Gewässern, an denen sich „ökologischen Kompetenz“ der Linken in Regierungs- die überwiegende Anzahl der Kormorane aufhält und verantwortung. Nahrung sucht, konnten keine nennenswerten, ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16649

(A) schweige denn erhebliche fischereiwirtschaftliche Schä- einkommens im Rahmen von aufenthalts- und asyl- (C) den nachgewiesen werden. rechtlichen Entscheidungen ausschließen. Auch in der neueren Rechtsprechung wird eine unmittelbare Insgesamt brauchen wir für einen nachhaltigen Anwendung von Bestimmungen des Übereinkom- Schutz der Fischbestände eine Wiederherstellung mög- mens mit weitreichenden asyl- und aufenthalts- lichst vieler natürlicher Fluss- und Bachläufe. Rückbau rechtlichen Konsequenzen unter anderem unter von Staustufen und die Renaturierung der Gewässerver- dem Hinweis auf die deutsche Erklärung ausge- läufe und -betten sollten daher im Rahmen der Umset- schlossen. Insofern ist die Erklärung nach wie vor zung der EU-Wasserrahmenrichtlinie so zügig wie mög- von Bedeutung. Ihrer Rücknahme würde das im lich vorgenommen werden. Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel der Begrenzung Die Landesanglerverbände beklagen, dass die Kor- und Steuerung der Migration zuwiderlaufen. Die morane die von ihnen mit finanziellem Aufwand besetz- Bundesländer sind mehrheitlich gegen eine Rück- ten Gewässer leer fischen und so bedrohte Fischarten nahme der Erklärung. Diese waren seinerzeit mit wie Quappe, Äsche und Barbe weiter dezimieren. Genau der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention diese Fische leiden aber mit am meisten durch die Ver- nur einverstanden, weil diese Vorbehaltserklärung bauung der Flüsse. abgegeben wurde. Gegen deren ausdrücklichen Willen sollte die deutsche Erklärung daher nicht zu- Was wir auch unterstützen, ist der regelmäßige Aus- rückgenommen werden. tausch von europäischen Wissenschaftlern über die Be- standsentwicklung der Kormorane. An dieser Stelle muss man aber auch fragen: Was hat Das Kormoranmanagement erfolgt in Landeshoheit. denn die letzte Bundesregierung in Bezug auf die Kin- Daher kann ich an dieser Stelle nur appellieren: Tut dies derrechte zuwege gebracht? Offensichtlich hat es auch aber umso dringlicher: Das Kormoranmanagement soll- damals schon Bedenken gegeben. Sonst stünden wir ten die Länder in enger Abstimmung mit dem behördli- heute ja wohl nicht hier. Wichtiger als endlos wiederkeh- chen und ehrenamtlichen Naturschutz organisieren – und rende Debatten ist ein effektiver Kinderschutz in der nicht unter Umgehung dieses oder gar gegen ihn. Praxis: durch frühzeitige Förderung der elterlichen Er- ziehungskompetenz, konsequente Vorsorge, besonders bei Untersuchungen, und keine Behinderung des Kinder- Anlage 15 schutzes durch überbordenden Datenschutz. Klar ist aber auch: Alle Kinderrechte und staatliche Vorsorge können Zu Protokoll gegebene Reden elterliche Liebe nicht ersetzen. (B) (D) zur Beratung des Antrags: Für die Rücknahme Die Linken stellen hier – wie auch sonst – Anträge der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechts- fürs Schaufenster mit finanziell völlig utopischen Vor- konvention und eine – hiervon unabhängige – stellungen. Damit erreichen sie mit Sicherheit nicht effektive Umsetzung der Kinderrechte im Asyl- mehr für unsere Kinder und Familien! Im Gegenteil: Sie und Aufenthaltsrecht (Tagesordnungspunkt 24) machen Versprechungen, die sie nicht einhalten können. Was nützt es denn den Familien, wenn sie ihnen auf der Johannes Singhammer (CDU/CSU): Wir debattie- einen Seite Unterstützung zusichern und auf der anderen ren heute zum wiederholten Male über ein Thema, das in Seite das Geld wieder aus der Tasche ziehen. Denn ihre den letzten Wochen schon öfter auf der Tagesordnung Vorschläge gehen letztendlich wieder zulasten der Fami- hier im Bundestag stand. Und erneut verlangt die Links- lien. fraktion die Rücknahme der Vorbehalte der Bundesre- gierung gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Es geradezu grotesk, wenn man sich die Zahlen be- trachtet, die sich aus ihren Forderungen ergeben: im Zu- Lassen Sie mich eines an dieser Stelle klar sagen: Wir sammenhang mit der Diskussion des 7. Familienberichts: wollen doch alle das eine: Kindern zu ihrem Recht ver- 19 Milliarden Euro mehr; jetzt einen Antrag, den Kinder- helfen. Jeder gutwillige, jeder anständige, jeder vernünf- schlag auszubauen, der allen Kindern und Jugendlichen tige Mensch in Deutschland will, dass Kinder liebevoll unter 18 Jahren in bestimmten Einkommensbereichen umsorgt aufwachsen, ihre Rechte gewahrt, geschützt und ein soziokulturelles Existenzminimum von mindestens beachtet werden. Niemand will Kinder einem notwendi- 420 Euro monatlich gewährleistet: nach einer vorsichti- gen Schutz entziehen und der Gewalttätigkeiten, Ver- gen Schätzung mindestens 10 Milliarden mehr; ein Stu- nachlässigung, Misshandlung in vorsätzlicher oder nach- fenprogramm zur weiteren Ausdehnung öffentlich finan- lässiger Weise ausliefern. zierter Beschäftigung: 8,4 Milliarden Euro mehr Hartz Bezüglich der Vorbehaltserklärung der Bundesregie- IV ändern: 18 Milliarden Euro mehr. rung zur UN-Kinderrechtskonvention stellt der Bunde- All ihre Forderungen mal schnell zusammengerech- sinnenminister fest, – ich zitiere –: net, komme ich auf die Summe von 150 Milliarden Euro Die deutsche Erklärung zur UN-Kinderrechtskon- mehr im Jahr. Aber wie wollen sie das finanzieren? Die vention ist kein Vorbehalt im völkerrechtlichen Antwort bleiben Sie uns schuldig. So viele Reiche gibt Sinne, sondern soll lediglich denkbare Fehl- oder es in Deutschland überhaupt nicht, welche angeblich die Überinterpretationen bei der Anwendung des Über- Steuererhöhungen bezahlen sollen. Bitter bezahlen wer- 16650 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) den am Ende Familien mit Kindern und Durchschnitts- Deutschland 2005 – 2010“ – NAP – wollen und werden (C) einkommen. wir Deutschland bis zum Jahr 2010 zu einem der kinder- freundlichsten Länder Europas machen. Wir dagegen haben in der Familienpolitik Schritt für Schritt Erfolge erzielt, die den Familien und Kindern in Der Nationale Aktionsplan knüpft an die Sondergene- unserem Land tatsächlich helfen. Keine utopischen und ralversammlung zu Kindern der Vereinten Nationen vom nicht bezahlbaren Versprechungen, sondern sinnvolles 8. bis 10. Mai 2002 in New York – Weltkindergipfel und politisch verantwortliches Handeln ist gefragt. Und 2002 – an. Auf dieser Konferenz wurde unter dem Titel dafür steht die erfolgreiche Politik von CDU und CSU. „A world fit for children“ ein Abschlussdokument ver- Erst heute haben wir die Ausweitung des Kinderzu- abschiedet, das weltweit zur Verbesserung der Lebenssi- schlags auf den Weg gebracht. Nach langen Verhandlun- tuation der Kinder beitragen soll. Wie alle Unterzeich- gen ist dies ein klarer Erfolg der Union, der die Hand- nerstaaten hat sich Deutschland darin verpflichtet, einen lungsfähigkeit der Koalition aufzeigt. Nationalen Aktionsplan mit konkreten termingebunde- nen und messbaren Zielen und Vorhaben zu erstellen. Damit soll die international definierte Zielsetzung auf Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Am nationaler Ebene umgesetzt werden. 20. November 1989 haben die Vereinten Nationen die Kinderrechtskonvention gemeinsam beschlossen. Die Der Nationale Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Bundesrepublik Deutschland hat sie im Jahr 1992 ratifi- Deutschland 2005 – 2010“ ist ein themen- und ressort- ziert. Bei Hinterlegung der Ratifikationsurkunde hat die übergreifender Leitfaden, der von der Bundesregierung Bundesregierung damals fünf Vorbehalte geltend ge- am 16. Februar 2005 im Kabinett verabschiedet wurde. macht, auch weil wir manches in nationalem Recht noch Er ist unter Mitwirkung von Bund, Ländern und Kom- nicht so geregelt hatten, wie es die Konvention vor- munen, der Wissenschaft, Nichtregierungsorganisatio- schreibt. nen und nicht zuletzt von Kindern und Jugendlichen ent- wickelt worden. Diese betrafen das Umgangs- und Sorgerecht, den Rechtsbeistand bei minderschweren Fällen, das Adop- Sechs Handlungsfelder stehen dabei im Mittelpunkt, tionsrecht und Kinder in bewaffneten Konflikten. Diese denen in den kommenden Jahren eine Schlüsselstellung Vorbehalte haben sich erledigt, denn zwischenzeitlich für mehr Kinderfreundlichkeit zukommt. In den Kapi- vorgenommene Änderungen im deutschen Recht haben teln „Chancengerechtigkeit durch Bildung“, „Aufwach- bewirkt, dass nur noch der unter Punkt IV erklärte aus- sen ohne Gewalt“, „Förderung eines gesunden Lebens länderrechtliche Vorbehalt Bestand hat. und gesunder Umweltbedingungen“, „Beteiligung von Kindern und Jugendlichen“, „Entwicklung eines ange- (B) (D) Dieser Vorbehalt unter Punkt IV, der den Status der messenen Lebensstandards für alle Kinder“ und „Inter- unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge regelt, betrifft nationale Verpflichtungen“ werden umfassende und kon- wenige hundert Menschen im Jahr. Es ist mir ein Rätsel krete Arbeitsziele bis 2010 benannt und Strategien für und es schadet dem internationalen Ansehen Deutsch- ihre Durchsetzung beschrieben. lands, dass wir für diese jungen Menschen nicht zu einer besseren Regelung kommen. Die Vereinten Nationen Ein Monitoringverfahren begleitet derzeit die Umset- definieren die Kindheit als Phase zwischen 0 und zung. Ich selbst bin für die Kinderkommission in mehre- 18 Jahren. Im Allgemeinen übernehmen wir diese Defi- ren Arbeitsgruppen daran beteiligt. nition, nur bei diesem Vorbehalt lassen wir die Kindheit Es gilt nun, den NAP auf Bundesebene, aber auch in bei 16 Jahren aufhören. Das geht nicht. den Ländern und vor Ort Schritt für Schritt umzusetzen. Der Bundestag hat die Bundesregierung mehrfach Zentrales Ziel ist dabei neben der allgemeinen Verbesse- aufgefordert, die Vorbehaltserklärung zurückzunehmen. rung der Lebensbedingungen von Kindern auch die For- Leider ist die Mehrheit der Bundesländer gegen eine derung nach der Rücknahme der Vorbehalte zur UN- Rücknahme des Vorbehalts, und die Bundesregierung Kinderrechtskonvention. spricht sich mit Rücksicht auf die Länder gegen die Es ist höchste Zeit, diesen Schritt zu gehen. Gemein- Rücknahme aus. Die Kinderkommission, in die ja jede sam muss es uns endlich gelingen, die letzten Wider- Fraktion ein Mitglied entsendet und die somit überpar- stände gegen diese überfällige Rücknahme der Vorbe- teilich arbeitet, hat wiederholt und zuletzt in meiner Vor- haltserklärung zu brechen: für die Rechte der sitzzeit im November 2006 an die Bundesländer appel- minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge und für unsere liert, einer Rücknahme der Vorbehalte zuzustimmen. Die kinderpolitische Glaubwürdigkeit. Kinderkommission forderte in dieser Stellungnahme die Bundesregierung auf, andernfalls „die Rücknahme ohne Ein letztes Wort zum NAP: Die Aufnahme von Kin- dieses Einvernehmen umgehend zu veranlassen.“ Leider derrechten in die Verfassung wird ausdrücklich ge- ist uns diese überfällige Rücknahme immer noch nicht wünscht. Meine Fraktion hat die Aufnahme von Kinder- gelungen. Es ist höchste Zeit. rechten in die Verfassung einstimmig beschlossen. Die Kinderkommission ist einstimmig dafür. Und wir be- Denn wir machen ja eine gute Politik für Kinder. Die kommen positive Signale aus anderen Fraktionen. Las- Vereinten Nationen bescheinigen uns das auch. Wir spie- sen Sie uns alle dafür kämpfen, dass wir dieses zentrale len weltweit, was Kinder angeht, in der ersten Liga. Mit kinderpolitische Ziel, die Aufnahme der Kinderrechte dem Nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes ins Grundgesetz, schnell erreichen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16651

(A) Miriam Gruß (FDP): Wie so oft diskutieren wir die- gung der Kinderrechtskonvention in gleichem Maße gel- (C) ses wichtige Thema der Rücknahme der Vorbehaltser- ten würde, wenn die Erklärung nicht abgegeben worden klärung zu später Stunde. Unsere Kinder und ihre Rechte wäre. Dies spreche aus Sicht der Bundesregierung für sollten es uns eigentlich wert sein, eine Kernzeitdebatte eine vollständige Rücknahme der Erklärung. Die Bun- zu führen. desregierung sei ebenso wie der Deutsche Bundestag der Auffassung, dass die Erklärung zurückgenommen wer- Erschwerend kommt hinzu, dass wir, allein seit mei- den sollte. Auch stehe das deutsche Recht in Einklang ner Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag – und dies mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen, die sich für ist erst seit 2005! – zum x-ten Male über die Rücknahme die Bundesrepublik Deutschland aus der UN-Kinder- der Vorbehaltserklärung diskutieren, ohne ein Ergebnis rechtskonvention ergäben, sodass eine Änderung des zu erreichen. deutschen Rechts nicht erforderlich sei. In Anbetracht Wir debattieren hier über eine Erklärung, die ansons- dieser Rechtslage besteht daher keine Notwendigkeit, ten die ganze Welt unterschrieben hat. Wobei debattieren länger an der Erklärung festzuhalten. in diesem Falle auch des Guten zuviel ist – schließlich Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung ist nicht nur wurde von vorneherein festgelegt, die Reden zu Proto- rechtlich möglich, sie ist auch politisch geboten. Denn koll zu geben. sie ist geeignet, national wie international bestehende Die Geschichte um die Rücknahme der Vorbehaltser- Zweifel am Willen Deutschlands, die UN-Kinderrechts- klärung ist lang, und wenn man sie genau betrachtet, er- konvention uneingeschränkt durchzusetzen, auszuräu- scheint es vollkommen absurd, dass die Vorbehaltserklä- men. So hat zum Beispiel der UN-Ausschuss für die rung überhaupt noch besteht: Rechte des Kindes in seinen Schlussbemerkungen zum Erstbericht der Bundesregierung 1995 Bedenken hin- Am 5. April 1992, vor über 16 Jahren, trat für die sichtlich der Vereinbarkeit der Vorbehalte mit der Kon- Bundesrepublik Deutschland das „Übereinkommen über vention geäußert. Die Rücknahme der Vorbehaltserklä- die Rechte des Kindes“ vom 20. November 1989 in rung stellt daher ein dringend notwendiges und Kraft. Mit diesem Übereinkommen über die Rechte des überfälliges Signal für ein kinderfreundliches Deutsch- Kindes wurden erstmals völkerrechtlich verbindlich po- land dar. Sie wird die Position der Bundesrepublik litische Bürgerrechte und soziale Menschenrechte for- Deutschland in der Frage des internationalen Menschen- muliert, die ihren Ausdruck in der Festschreibung von rechtsschutzes stärken und helfen, innerhalb und außer- Mindestanforderungen an die Versorgung, den Schutz halb Deutschlands Irritationen zu vermeiden. Die Rück- und die Beteiligung von Kindern am gesellschaftlichen nahme der Vorbehaltserklärung ist darüber hinaus Leben finden. (B) erforderlich, um anderen Staaten nicht Argumente zu lie- (D) Die Bundesregierung begrüßte bei Hinterlegung der fern, ihrerseits Vorbehalte anzubringen. Durch die Rück- Ratifikationsurkunde am 6. März 1992 das Übereinkom- nahme der Erklärung wird sich zudem der Dialog mit men als einen Meilenstein der Entwicklung des Interna- den Kinderrechtsorganisationen, die die Rücknahme seit tionalen Rechts und erklärte, sie werde die Ratifizierung langem fordern, merklich entspannen. des Übereinkommens zum Anlass nehmen, Reformen Ich fordere die Bundesregierung deshalb zum wieder- des innerstaatlichen Rechts in die Wege zu leiten, die holten Male auf, unverzüglich die von der Bundesregie- dem Geist des Übereinkommens entsprechen und die sie rung am 6. März 1992 beim Generalsekretär der Verein- nach Art. 3 Abs. 2 des Übereinkommens für geeignet ten Nationen hinterlegte Erklärung der Bundesrepublik hält, dem Wohlergehen des Kindes zu dienen. Diese bei Deutschland zum Übereinkommen über die Rechte des Hinterlegung der Ratifikationsurkunde abgegebene Er- Kindes, UN-Kinderrechtskonvention, zurückzunehmen klärung enthält ferner Vorbehalte, die sich insbesondere und auf die Länder hinzuwirken, die Voraussetzungen auf das elterliche Sorgerecht, die Anwaltsvertretung so- hierfür zu schaffen. wie weitere Rechte von Kindern im Strafverfahren, auf die Altersgrenze bei Soldaten sowie in Vorbehalt IV auf die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern sowie Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wer das Kindeswohl ernst die Bedingungen ihres Aufenthalts und Unterschiede nimmt, der muss auch sagen: „Gleiche Rechte für alle zwischen In- und Ausländern beziehen. Durch Änderun- Kinder“, und nicht „Weniger Rechte für ausländische gen im Familienrecht und im Lichte des Zusatzproto- Kinder.“ Doch genau diese verkehrte Politik betreiben kolls zur UN-Kinderrechtskonvention über die Beteili- die Bundesregierungen im Schatten der Vorbehalte ge- gung von Kindern in bewaffneten Konflikten ist der gen die UN-Kinderrechtskonvention schon seit deren In- Vorbehalt diesbezüglich obsolet geworden. krafttreten im Jahr 1992. Auch in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Daran hat übrigens auch die Koalition aus SPD und Fraktion der FDP im Deutschen Bundestag erklärte die Grünen nichts geändert, darüber kann auch der wortrei- damalige Bundesregierung, dass es sich bei der anläss- che Antrag der Grünen-Fraktion nicht hinwegtäuschen. lich der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde abgege- Die FDP-Fraktion hat ebenfalls einen Antrag gestellt, benen Erklärung um eine die UN-Kinderrechtskonven- der die Rücknahme des Vorbehaltes fordert. Denn diese tion interpretierende Erklärung handle, die Fehl- oder Vorbehalte hätten sich sozusagen erledigt, die Kinder- Überinterpretationen der Konvention vermeiden solle. rechtskonvention sei in vollem Umfang umgesetzt. Die Die Bundesregierung stellte ferner fest, dass die Ausle- Bundesregierung wiederum argumentiert, der Vorbehalt 16652 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) habe sowieso nur Symbolcharakter. Wenn die Bundesre- immer sinnvoll. Wenn es um die Kinderrechte geht, zie- (C) gierung behauptet, der Vorbehalt habe nur eine Art Sym- hen wir bekanntlich an einem Strang. Auch freut es bolcharakter und könne genauso gut auch bestehen blei- mich, dass Sie die Antwort auf die Große Anfrage mei- ben, ist das eine absolute Irreführung. Denn der vierte ner Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Rücknahme der Vorbehalt, um den es uns hier geht, legitimiert die Be- Vorbehalte so gut nutzen konnten. nachteiligung nicht-deutscher Kinder. Deswegen fordert die Fraktion Die Linke, diesen Vorbehalt endlich aufzu- Nun diskutieren wir hier wahrlich nicht zum ersten geben. Aber wir zeigen mit unserem Antrag auch einen Mal über die Rücknahme der Vorbehaltserklärung. Der Weg, wie ohne Zurücknahme des Vorbehalts die Situa- Deutsche Bundestag hat bereits viermal die Rücknahme tion der betroffenen Kinder ganz konkret verbessert wer- gefordert! den kann. Bekanntermaßen wurden alle diese Beschlüsse nicht Benachteiligt werden vor allem Flüchtlingskinder und umgesetzt. Wir drehen in diesem Haus folglich die x-te Kinder, die keinen legalen Aufenthaltsstatus haben. Un- Runde zum Thema, und es ist zur befürchten, dass wir begleitete minderjährige Flüchtlinge müssen in Deutsch- uns auch weiterhin im Kreis drehen werden. Es ist mei- land ein unwürdiges Verfahren zur Altersfeststellung nes Erachtens nach alles gesagt worden, was man zu die- durchlaufen, und sie gelten schon mit 16 als „asylmün- sem Thema sagen kann. Es bleibt im Kern dabei, dass dig“. Sie werden also wie Erwachsene behandelt und in die Bundesregierung auf die Bundesländer Rücksicht Sammelunterkünften untergebracht. Schon für Erwach- nehmen will. Sie muss dies aber nicht. Die Bundesregie- sene ist diese Form der Unterbringung schlicht unwür- rung ist politisch rücksichtsvoll gegenüber den Bundes- dig. Für Kinder sind solche Massenunterkünfte erst recht ländern, dafür ist sie rücksichtslos gegenüber Flücht- kein Umfeld, in dem sie aufwachsen sollten. Und sogar lingskindern. in Abschiebe- und Zurückweisungshaft werden Kinder Mir scheint überhaupt, dass die Große Koalition ein immer noch genommen, wenn auch in abnehmender gestörtes Verhältnis zu Kinderrechten hat. Vor langer Zahl. Im Asylverfahrens- und Aufenthaltsrecht muss langer Zeit wurde uns Grünen vermittelt, man müsse un- klargestellt werden: die Unterbringung von Kindern in seren Antrag zur Rücknahme der Vorbehalte zurückstel- Massenunterkünften und Gefängnissen muss ausge- len und die Initiative zur Stärkung der Kinderrechte in schlossen sein. Uns ist bewusst, dass es hier auch eine der Verfassung vonseiten der Kinderkommission abwar- starke Mitverantwortung der Länder gibt. Sie sind be- ten. Na, wie lange wollen wir denn darauf warten?! Wie sonders bei den sozial- und jugendhilferechtlichen Rege- viele Geschäftsordnungsanträge müssen wir da wohl lungen und Maßnahmen gefordert, sich an der Konven- (B) noch stellen? Hier sehen wir wieder einmal, dass sich (D) tion und dem absoluten Vorrang des Kindeswohls zu schwarz und rot diametral entgegenstehen. Damit auch orientieren. Ihnen obliegen zum Beispiel die kindge- ja nicht noch ein Riss durch die Koalition geht, muss rechte Unterbringung, ausreichende psychotherapeuti- sich die Kinderkommission des Deutschen Bundestages sche Angebote, die Förderung von persönlichen statt seit mehr als einem halben Jahr in Schweigen hüllen. amtlichen Vormundschaften. Es wäre beschämend, wenn Damit die Große Koalition nicht Farbe bekennen muss, die damit verbundenen Kosten der tatsächliche Grund werden die Anträge nach der ersten Lesung schlicht sind, warum die Länder den ausländerrechtlichen Vorbe- nicht mehr beraten. halt nicht zurücknehmen wollen! Wenn das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen Ich will zum Ende meiner Rede noch einen anderen ist, müssten die entsprechenden Anträge eigentlich ei- Bereich streifen, in dem es nach wie vor keinen Vorrang nem Beschleunigungsgebot unterliegen. des Kindeswohls gibt: Kinder, die unter das Asylbewer- berleistungsgesetz fallen, erhalten nur die medizinische So vorrangig – wie die Bundesregierung immer wie- Notfallversorgung. Das reicht nicht aus. Noch schlim- der beschwichtigt – kann das Kindeswohl aber für sie mer ist es aber für Kinder ohne Aufenthaltsstatus. Ihnen nicht sein, wenn wir in Deutschland in den Asylverfah- wird jeder Anspruch auf medizinische Versorgung ver- ren die 16- und 17-Jährigen wie Volljährige behandeln, wehrt. Das betrifft dann auch Kinder, die hier geboren wenn wir sie in Sammelunterkünfte stecken, wenn wir sind. Kinder ohne Aufenthaltsstatus wachsen hier in völ- ihnen Jugendhilfemaßnahmen verweigern, die ihnen zu- liger Rechtlosigkeit auf. Mit unserem Antrag wollen wir mindest vorübergehend bei der Bewältigung der schlim- dem endlich ein Ende bereiten. Wir wollen, dass Kinder, men Erlebnisse helfen können, wenn ihnen nicht alle egal welcher Nationalität und egal mit welchem Aufent- Leistungen des Gesundheitssystems zustehen und wenn haltsstatus, ihre Rechte, die sich aus der UN-Konvention wir für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ergeben, in vollem Umfang wahrnehmen können. keine Clearing-Stellen haben, die beim Asylverfahren behilflich sind. Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es Werte Bundesregierung: Mir fehlen langsam die freut mich, dass auch sie noch einen Versuch unterneh- Worte. Ich fordere Sie also auf, sich endlich zu entschei- men und die Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinder- den und zu handeln, nicht nur wegen der außenpoliti- rechtskonvention fordern. Wenn man in derart dicken schen und innenpolitischen Glaubwürdigkeit, der betrof- Brettern bohren muss, sind gemeinsame Anstrengungen fenen Kinder wegen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16653

(A) Anlage 16 Gipfel in Bukarest verabschiedete Afghanistan-Strate- (C) gie sieht ebenfalls vor, den afghanischen Institutionen Zu Protokoll gegebene Reden mehr Verantwortung zu übertragen. Ein Beispiel hierfür zur Beratung der Anträge: ist die von Präsident Karzai für den Sommer 2008 ange- kündigte Übernahme des Regionalkommandos Zentrum, – Entwicklung in Afghanistan – Strategien für welches Kabul und die umliegenden Gebiete umfasst, eine wirkungsvolle Aufbauarbeit kohärent durch afghanische Sicherheitskräfte. Bis jedoch die af- umsetzen ghanischen Sicherheitskräfte in der Lage sind, selbst- – Afghanistan eine Chance für legalen lizen- ständig die Sicherheit im ganzen Land zu gewährleisten, zierten Mohnanbau geben – Drogenmafia gibt es zur internationalen Militärpräsenz im Land keine wirksam bekämpfen Alternative. (Tagesordnungspunkt 25 a und b) Darüber hinaus muss der Dialog zu den Nachbarstaa- ten Afghanistans gesucht werden, da sich die Probleme des Landes ohne deren Mitwirkung nicht bzw. nur unzu- Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Nach wie vor ste- reichend lösen lassen. Wichtigster Ansprechpartner in hen wir in Afghanistan vor großen Herausforderungen. diesem Zusammenhang ist Pakistan. Im Grenzgebiet ha- Die Anschläge vom gestrigen Tag, bei denen 13 Men- ben sich Stammesgebiete, die sogenannte Federally Ad- schen, davon zehn afghanische Polizisten, ums Leben ministered Tribal Areas oder auch FATAs, traditionell kamen, zeugen von der immer noch prekären Sicher- jedweder staatlichen Kontrolle entzogen und sind da- heitslage in einigen Teilen des Landes und verdeutlichen durch ein ideales Rückzugsgebiet für die Taliban. Hier umso mehr, wie dringend unser Engagement in Afgha- gilt es, die notwendige Zusammenarbeit beider Staaten nistan gebraucht wird. Zwar konnten wir in den letzten zu forcieren und das positive Beispiel der ersten afgha- Jahren erste Erfolge beim Wiederaufbau und in der Ent- nisch-pakistanischen Friedensjirga fortzuführen. Auch wicklung Afghanistans verbuchen, sei es hinsichtlich der die Entwicklungsarbeit kann dort ihren Beitrag leisten Versorgung der Bevölkerung mit Wasser und Elektrizi- und den Einwohnern des Grenzgebiets Bildungsalterna- tät, der Infrastruktur, der öffentlichen Verwaltung, dem tiven zu den dort ansässigen Koranschulen anbieten und Zugang zu Bildung oder den Freiheits- und Gleichheits- interessante und vor allem legale Einkommensmöglich- rechten. Jedoch bleibt auch die deutsche Entwicklungs- keiten aufzeigen. Neben Pakistan müssen auch die ande- zusammenarbeit bisher leider hinter ihren Möglichkeiten ren Nachbarstaaten in den Prozess der afghanischen Sta- und den Erwartungen der afghanischen Bevölkerung zu- bilisierung eingebunden werden. Dazu gehören die rück. Wir müssen die Entwicklungszusammenarbeit nicht Staaten Zentralasiens und der Iran, in dem derzeit die nur fortführen, sondern weiter ausbauen und auf die bis- (B) zweitgrößte afghanische Flüchtlingsgemeinde lebt. (D) her entwicklungspolitisch vernachlässigten Provinzen ins- besondere im Süden ausdehnen. Ziviler Aufbau, Entwick- Die Flüchtlings- bzw. die Rückkehrerproblematik in lung und militärische Sicherheit sind gemäß unseres Afghanistan ist eine politische, gesellschaftliche und Konzepts der vernetzten Sicherheit untrennbar miteinan- ökonomische Herausforderung, der in der Afghanistan- der verbunden. Sie bedingen einander und müssen des- Debatte bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt halb gleichermaßen von uns vorangetrieben und unter- wurde. Seit 2002 sind circa 5 Millionen afghanische stützt werden, wenn wir verhindern wollen, dass Taliban Flüchtlinge aus Pakistan und dem Iran in ihre Heimat zu- und al-Qaida wieder erstarken und die mühsam errunge- rückgekehrt, weiteren 3,1 Millionen in Flüchtlingslagern nen Fortschritte verloren gehen. Dabei sollten wir vor al- droht die Abschiebung nach Afghanistan. Die Aufnahme lem auf die afghanische Eigenverantwortung – das soge- und Integration der Rückkehrer, die größtenteils ohne nannte Afghan ownership – setzen. Es ist wichtig, dass Schulbildung, Berufsqualifikation und aus vom Krieg sich die Afghanen mit allen Maßnahmen identifizieren besonders betroffenen Regionen sind, verkompliziert können. Planung und Umsetzung sollten in enger Zu- den ohnehin schon schwierigen Aufbauprozess des Lan- sammenarbeit mit den lokalen Autoritäten erfolgen, vor des. allem im ländlichen Raum muss dabei auf hohe Beschäf- tigungseffekte der Entwicklungsmaßnahmen geachtet Schaut man auf die derzeitige Sicherheitslage, so hat werden. Güter und Dienstleistungen für die Entwick- sich diese im Süden und Südosten des Landes weiter lungsmaßnahmen sollten nach Möglichkeit in Afghanis- verschärft. In erster Linie sind dort regierungsfeindliche tan eingekauft werden, um die lokale Wirtschaft zu för- und extremistische Kräfte am Werk, die aufgrund ihrer dern. zahlenmäßigen und waffentechnischen Unterlegenheit die direkte Konfrontation mit den Alliierten scheuen und Es ist ebenso unverzichtbar, den Aufbau staatlicher stattdessen in einem Partisanenkrieg die afghanische Be- Institutionen weiter zu unterstützen. Das gilt insbeson- völkerung tyrannisieren und Staatsbedienstete ermorden. dere für den Aufbau der ANA – der Afghan National Im Norden, wo die Bundeswehr für die Sicherheit in der Army – und für den Aufbau der afghanischen Polizei- Verantwortung steht, ist die Sicherheitslage vergleichs- kräfte, denn die Idee ist ja, die Aufgabe, die wir zurzeit weise stabil. Die dortigen Risiken für die Sicherheit und militärisch wahrnehmen, für Sicherheit zu sorgen, die somit auch für den zivilen Aufbau gehen im Norden wiederum den Aufbau möglich macht, schrittweise an hauptsächlich von der Drogenkriminalität aus. Afghanis- die Afghanen zu übergeben, sodass sie den Aufbau und tan ist der größte Opiumproduzent weltweit und beliefert die Gewährleistung der Sicherheit für diesen Aufbau in 90 Prozent des Weltopiummarktes. Die hohen Gewinne die eigenen Hände nehmen können. Die auf dem NATO- der Drogenökonomie haben außerstaatliche, kriminelle 16654 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) und terroristische Machtsstrukturen etabliert, die in Ge- müssen die finanziellen Mittel und Instrumente des Af- (C) stalt der Korruption in staatliche Institutionen ranken ghanistan-Engagements jedoch besser aufeinander abge- und die Souveränität der Afghanischen Führung unter- stimmt und stärker zweckgebunden vergeben werden. minieren. Darum sollte die Drogenbekämpfung in Af- An dieser Stelle muss ich der pauschalen Forderung der ghanistan zu einem unserer wesentlichen Anliegen wer- Fraktion der Grünen nach einer Erhöhung der zivilen den. Ein solches Unterfangen kann aber nur erfolgreich Hilfsmaßnahmen auf 200 Millionen Euro eine Absage sein, wenn es gelingt, eine drogenfreie Wirtschaft aufzu- erteilen. Wir sind zwar auch der Auffassung, dass es eine bauen und den Bauern Alternativen zum Schlafmohnan- schrittweise Anhebung geben muss. Ich verweise aber bau aufzuzeigen und sie bei diesem Wechsel zu unter- auch darauf, dass wir die afghanische Regierung auch stützen, anstatt – wie es die Linke vorschlägt – den stärker in die Pflicht nehmen müssen, mehr zu tun gegen Schlafmohnanbau auch noch zu legalisieren. Dass der Korruption und Misswirtschaft. Ich denke, die Konfe- eingeschlagene Weg der richtige ist, beweisen die Fort- renz in Paris im Juni 2008 ist hierzu der richtige Ort und schritte, die in den vergangenen Jahren bei der Drogen- der richtige Zeitpunkt. bekämpfung verbucht werden konnten. Hat auch der Drogenanbau – gemessen an ganz Afghanistan – im ver- Sie stellen in Ihrem Antrag weiterhin fest, dass viele gangenen Jahr weiter zugenommen, hat sich andererseits Wegmarken des Afghanistan Compact kaum mehr rea- die Anzahl der drogenfreien Provinzen von 6 auf 13 listisch seien und daher nachgebessert werden müssten. mehr als verdoppelt. Zwar hat in den restlichen 21 Pro- Ja, die Ziele waren ambitioniert, teilweise sehr ambitio- vinzen der Drogenanbau weiter zugenommen, jedoch niert und in der Zeitperspektive vielleicht zu optimis- lässt sich – betrachtet man die Sicherheitslage in den ein- tisch. Ich nenne nur das Beispiel „Entwaffnung der op- zelnen Provinzen – feststellen, dass zwischen Drogenan- positionellen militanten Kräfte“, die bis 2007 bau und Sicherheit eine Verbindung besteht. Je höher die abgeschlossen werden sollte, oder den Justizaufbau, bei Sicherheit, desto größer der Erfolg der Drogenbekämp- dem wir, die internationale Gemeinschaft, gemeinsam fung und umgekehrt. mit der afghanischen Regierung erheblich zulegen müs- sen. Die Tatsache, dass einige der im Afghanistan Com- pact niedergelegten Ziele nicht erreicht wurden, bedeutet Detlef Dzembritzki (SPD): Das Afghanistan-En- für mich, dass diese Themen auf der Konferenz von Pa- gagement der Bundesregierung ist immer dann in den ris angesprochen werden müssen. In einigen Punkten Schlagzeilen, wenn es um die jährlichen Mandatsverlän- muss der Afghanistan Compact eben nachjustiert, müs- gerungen im Herbst geht. Dies liegt vor allem an der Tat- sen Fristen und Ziele verlängert, muss die bisherige Ar- sache, dass der Parlamentsvorbehalt für Auslandsein- beit überprüft und neu ausgerichtet werden. Die Paris- sätze der Bundeswehr gilt, nicht aber für die zivile Seite Konferenz darf keine ausschließliche Pledging-Konfe- (B) unseres Afghanistan-Einsatzes. Dadurch entsteht der renz sein. Sie muss Bilanz ziehen und verbindlicher als (D) Eindruck, wir Parlamentarier seien nur an der militäri- bisher die weitere Umsetzung des Afghanistan Compact schen Seite der Mission interessiert. Doch liegt im zivi- beschließen. Dazu gehört, dass man sich über die not- len Wiederaufbau – hier stimme ich dem Antrag der wendigen personellen, und materiellen Ressourcen ver- Grünen zu – der eigentliche Schlüssel für eine langfristig bindlich verständigen muss, die bis 2011 zum Beispiel wirkende friedliche Entwicklung Afghanistans. Auch für den Aufbau von Polizei, Justiz und Armee, aber auch wir sind der Ansicht, „die Gewichtung von Mitteln und den anderen staatlichen Infrastrukturen zur Daseinvor- Personal kritisch zu hinterfragen und umfassend zu eva- sorge notwendig sind. luieren“, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben. Wir haben im Rahmen der Taskforce Afghanistan, unserer Arbeits- Auch wir setzen uns für eine bessere Koordinierung gruppe der Fraktion, hierzu Vorschläge gemacht und der Hilfe ein, Hier müssen wir auch bestrebt sein, neue werden die Arbeit der Regierung auf diesem Wege auch und unkonventionelle Wege zu gehen und pragmatisch weiter konstruktiv begleiten. Ich lade die Vertreter der zu handeln. Es kann nicht sein, dass es Hilfsangebote Fraktion der Grünen ein, den gemeinsam begonnenen und Leistungen en masse gibt und die Mission daran Diskussionsprozess weiterzuführen und gemeinsam um scheitert, dass Koordinierungsprobleme alles überlagern. die besten Lösungen zu ringen. Dass verstehen weder die Menschen in Afghanistan, die auf einen langfristigen Frieden setzen, noch unsere eige- Der Wiederaufbau Afghanistans stellt sich gleicher- nen Wähler. Ich lade die Kolleginnen und Kollegen der maßen als sicherheits- und entwicklungspolitische He- Fraktion der Grünen zu einem Dialog ein: Lassen Sie rausforderung dar, auch wenn der zivile Beitrag und die uns weiter gemeinsam überlegen, was wir hier tun kön- militärischen Ausgaben bisher noch in keinem ausgewo- nen, um unser Anliegen einer friedlichen Perspektive für genen Verhältnis zueinander stehen, ich begrüße es aus- Afghanistan voranzubringen – auch in puncto bessere drücklich, dass die Bundesregierung ihre Hilfe für das Koordinierung. Zu einer aufrichtigen Prüfung gehört laufende Jahr noch einmal von 100 Millionen – im Jahr aber auch, dass wir festhalten müssen: Ein einfaches 2007 – auf 140 Millionen Euro – im Jahr 2008 – erhöht Mehr an finanzieller Unterstützung wird es nicht brin- hat. Auch andere Partner, allen voran übrigens die USA, gen. Die Mittel müssen gezielt vergeben werden. Auch leisten auf diesem Feld Erhebliches. Nicht zu vergessen hierüber wird in Paris zu reden sein. Die afghanische Re- das bewundernswerte Engagement vieler Nichtregie- gierung muss ihren Beitrag für mehr Verbindlichkeit, Ef- rungsorganisationen, die unter schwierigsten Bedingun- fektivität und Transparenz leisten sowie mit der interna- gen dem Land dabei helfen, in eine friedliche Zukunft zu tionalen Gemeinschaft insbesondere das Krebsgeschwür gehen. Auf der Grundlage einer aufgestockten Hilfe des Drogenproblems angehen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16655

(A) Überhaupt sollten wir das Problem des Staatsaufbaus zipation und Eigenverantwortung der Afghanen. Es muss (C) stärker in den Fokus rücken. Ein funktionierender Staat, oberstes Prinzip aller unserer Bemühungen des afghani- Gewaltenteilung, eine funktionierende Justiz und Polizei schen Wiederaufbaus sein, die Partner vor Ort einzubin- dies alles sind Voraussetzungen, die eine Bekämpfung den, zu fördern, auszubilden und ihnen Stück für Stück des Drogenproblems erst möglich machen. Dabei ist die eigene Verantwortung zu übereignen. Gut bewährt haben scheinbar einfache Lösung, den angebauten Mohn für sich die Projekte des afghanischen Solidaritätspaktes, medizinische Zwecke zu verwenden, ein Vorschlag, mit weil sie eng mit afghanischen regionalen Verantwor- dem wir uns auch beschäftigt haben, der aber aus unserer tungsträgern entwickelt und durchgeführt werden. Neben Sicht nicht zum Ziel führt. Diese Maßnahme würde das der Verbreiterung der Entwicklungsprojekte müssen so- Problem nur verlagern und lediglich zeitlich verschie- genannte Leuchtturmprojekte realisiert werden: Der po- ben. Neben einem kleinen, legalen und staatlich kontrol- sitive Effekt solcher weithin sichtbaren Projekte hat in lierten Markt für Mohn würde der illegale Markt weiter Afghanistan einen nicht zu unterschätzenden Effekt. Das existieren. Es bestünde weiterhin kein Grund, auf alter- Weitererzählen spielt besonders in einem Land mit einer native Produkte umzusteigen. Analphabetenrate von circa 70 Prozent eine wichtige Rolle. Auch der Wiederaufbau einer Moschee oder eines Beim Thema Drogenbekämpfung hilft nur eine lang- Theaters hat dabei eine große Symbol- und Signalwir- fristige Strategie, bei der wir aus den positiven Beispie- kung. len wie Thailand lernen können und – lassen Sie mich das gleich dazusagen – bei dem wir einen sehr langen Die Verwirklichung afghanischer Eigenverantwor- Atem benötigen. Zum Maßnahmenpaket gehört übrigens tung ist das entscheidende Ziel, so auch festgehalten im auch eine Drogenpolitik bei uns. Schließlich werden die Afghanistan Pakt. Da die staatlichen afghanischen Insti- verarbeiteten Opiumprodukte vornehmlich hier in den tutionen wie die Justiz, das Parlament die Schulen und westlichen Industrieländern konsumiert. Wirksam ist al- Universitäten, die Ministerien, die Verwaltung, die Poli- lein eine langfristige Strategie. Ein staatliches Programm zei und Armee trotz einiger beachtlicher Erfolge noch zum legalen Mohnanbau wie von der Linksfraktion ge- nicht aus eigener Kraft tragen, wird Afghanistan auf die- fordert, würde nach unseren Erkenntnissen überhaupt sen Feldern noch für einen längeren Zeitraum auf unsere nichts an den Abhängigkeiten ändern. Schließlich sind Hilfe im zivilen und militärischen Bereich angewiesen viele Bauern durch die Pacht im Voraus bei Drogenbaro- sein. nen enorm verschuldet und somit auf Jahre gezwungen, Opium anzubauen. Es gehört zu einer umfassenden Stra- tegie, die Drogenbarone zu bekämpfen und auch diejeni- Harald Leibrecht (FDP): Die sich selbst tragende gen, die in Verwaltung, Ministerien, im Parlament Kon- Stabilisierung Afghanistans, sodass der internationale (B) takte zu diesen Händlern unterhalten, ihrer Aufgaben zu Terrorismus dort nie wieder Unterschlupf finden kann, (D) entheben. Auch dies werden wir unseren afghanischen bleibt das vorrangige Ziel auch unserer Afghanistan- Partnern auf allen Ebenen immer wieder sagen: Hier Politik. Je schneller der Wiederaufbau Afghanistans vo- sind sie in der Pflicht, mehr zu tun. ranschreitet, desto eher kann auch ernsthaft an eine soge- nannte Exit-Strategie gedacht werden. Es gibt eine enge Verflechtung der Drogenökonomie mit den Taliban. In einigen Regionen, insbesondere in Dass Sicherheit und Wiederaufbau Hand in Hand ge- Helmand, sind die Taliban für die Bauern Erpresser und hen, ist inzwischen eine Binsenweisheit. Dass es in Schutzmacht zugleich. Deshalb gilt es, auch durch mili- Afghanistan – ich rede hier nicht nur über den Süden tärische Präsenz Sicherheit zu schaffen. Die Bauern wer- und Osten – landesweit Gebiete gibt, die nicht frei zu- den dauerhaft nur dann auf den Mohnanbau verzichten gänglich sind, weil dort Warlords, Drogenbarone und können, wenn sie Alternativen haben und wenn sie sich Taliban herrschen, hat natürlich unmittelbare Auswir- sicher sind, dass die internationale Gemeinschaft mittel- kungen auf die Wiederaufbaubemühungen. Umso wich- fristig für Sicherheit sorgt; eine Aufgabe, die langfristig tiger ist es, dass wir die Afghanen in die Lage versetzen, von der afghanischen Polizei übernommen werden zumindest im polizeilichen Bereich schnellstmöglich die muss. Deshalb ist es so wichtig, Justiz, Polizei und Ar- Sicherheit im eigenen Land zu garantieren. Hier kom- mee zügig auszubauen. Ein Großteil der Ausbildung der men wir dann eben auch an jenen Punkt, wo die Bundes- Armee seitens der Vereinigten Staaten läuft übrigens un- regierung endlich handeln muss, wo sie die über die ter dem Mandat Operation Enduring Freedom, über das Jahre hinweg immer neu aufgelegten Versprechen zum wir hier schon häufig kontrovers diskutiert haben. Aufbau der afghanischen Polizei auch erfüllen muss. Die einseitige Vernichtung von Anbauflächen – da Deutschland ist seit 2001 Führungsnation im diesem sind wir uns einig – führt uns nicht weiter. Sie beraubt Bereich. Im Bericht der Bundesregierung aus dem Jahre die Bauern ihrer Existenz und treibt viele von ihnen in 2004 hieß es zu dem Thema noch: Die USA und die Arme der Neo-Taliban. Wir sind bei diesem Thema Deutschland haben mit der Ausbildung des einfachen af- in intensivem Kontakt mit unseren Verbündeten und ghanischen Polizeidienstes landesweit begonnen. – werden uns dafür einsetzen, dass hier ein Umdenkungs- Heute, 2008, beschränkt die Bundesregierung ihre Tätig- prozess bei den Amerikanern einsetzt. keit in diesem Bereich auf die Beratung des afghani- schen Innenministeriums und die Schulung von Füh- Lassen Sie mich zum Schluss einen Punkt ansprechen, rungspersonal. Einzig deutsche Feldjäger, also Soldaten, den auch Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von übernehmen im Norden noch einen kleinen Teil der not- der Fraktion der Grünen, angesprochen haben: die Parti- wendigen Polizeiausbildung an der Basis. Das ist ein- 16656 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) deutig zu wenig. „Keine Sicherheit ohne Wiederaufbau Probleme hin. Ich kann da einen Fortschritt gegenüber (C) und Entwicklung – Kein Wiederaufbau und keine Ent- früheren Verlautbarungen erkennen. So stellen die Grü- wicklung ohne Sicherheit“ – leider gibt es diesen ver- nen endlich auch den früher durch ihre eigenen Reprä- netzten Ansatz nur auf dem Papier, nicht jedoch in der sentanten vehement vertretenen Ansatz der sogenannten Realität. zivil-militärischen Zusammenarbeit und auch die Regio- nalen Wiederaufbauteams – PRTs – in Afghanistan in- Hinzu kommt: Die Zahlen, die die Bundesregierung frage. Das ist mehr als angebracht. Bereits vor anderthalb im Bereich des Polizeiaufbaus immer wieder vollmundig Jahren haben Fachleute von Entwicklungsorganisationen verkündet, sind im Grunde verschwindend klein, wenn in einer Anhörung im Ausschuss für wirtschaftliche Zu- man sie in Relation zur Größe des Landes und im Ge- sammenarbeit und Entwicklung auf die massiven Pro- samtkontext betrachtet. 40 Polizisten schicken wir offi- bleme mit diesem Ansatz hingewiesen. ziell jedes Jahr nach Afghanistan. Ich wiederhole: 40. Hinzu kommt, dass in der Realität immer nur ein Teil da- In Afghanistan sind die negativen Konsequenzen des von vor Ort ist. Ein eindeutiger Hinweis darauf, dass zivil-militärischen Ansatzes im Rahmen von ISAF deut- sich die Bundesregierung mit der Aufgabe der Polizei- lich erkennbar. Aufgrund der engen Anbindung humani- ausbildung in Afghanistan ver- und überschätzt hat, liegt tärer und ziviler Organisationen an die militärischen in der Übertragung dieser Aufgabe auf die europäische Strukturen – Bereitstellung von Infrastruktur, Vermitt- Ebene. Deutschland muss endlich seinen selbst auferleg- lungstätigkeiten, Bereitstellung von Geldern – sind diese ten Verpflichtungen in Afghanistan richtig nachkom- Organisationen für die Bevölkerung häufig nicht mehr men, sonst machen wir uns unglaubwürdig. eindeutig von den militärischen Einheiten zu unterschei- den. Zivile Akteure büßen somit Anerkennung und ihre Wir brauchen in Afghanistan nicht nur sich selbst tra- Neutralität ein und werden selbst zum Ziel von Anschlä- gende Sicherheit, sondern auch einen sich selbst tragen- gen. Als Folge dieser „Infizierung“ ziviler Hilfsprojekte den zivilen Aufbau. Mit unserer Hilfe müssen wir die durch das Militär haben zahlreiche Hilfsorganisationen Afghanen in die Lage versetzten, dass sie zum Beispiel ihre Arbeit nicht mehr oder nur noch stark eingeschränkt Schulen und eine echte Infrastruktur selbst bauen kön- weiterführen können und sich aus Afghanistan bzw. der nen. Wenn im Juni in Paris eine weitere Afghanistan- betreffenden Region zurückziehen müssen. Konferenz stattfinden wird, dann sollte man sich dort noch einmal kritisch mit dem Afghanistan-Compact aus- Die Projekte zivil-militärischer Zusammenarbeit in einandersetzen und prüfen, ob die genannten Ziele wirk- Afghanistan, die Provincial Reconstruction Teams lich realistisch und erreichbar sind. Es ist zwar richtig, – PRT –, werden zudem in ihrem Impact überschätzt. dass mittel- und langfristig die afghanische Regierung Das Ergebnis einer Auswertung von 40 Studien zu PRTs durch das Institut für Entwicklung und Frieden – INEF – (B) die Verantwortung für das Land übernehmen muss, aber (D) wir dürfen uns hinter dem „afghan ownership“ auch der Universität Duisburg-Essen und andere attestiert nicht verstecken. „eine schwache oder gar keine feststellbare Effizienz“ der PRTs im Hinblick auf die Ziele Sicherheit, Stabilisie- Insgesamt gibt es leider immer noch weitaus mehr rung, Institutionenbildung und Wiederaufbau. Die Aus- Fragen als Antworten, was die Aufbauarbeit und die gaben für die zivile und militärische Komponente sind Entwicklung in Afghanistan betrifft. Die Zeit drängt. auch hier einseitig zugunsten des Militärs verteilt – zum Wie sprach Goethe in seinem Faust so treffend? – Der Beispiel beim PRT Kunduz in 2004 im Verhältnis von Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich 5:1. Es gibt bisher keine Analysen, die den Erfolg, der Taten sehn! Indes ihr Komplimente drechselt, kann et- den PRTs immer wieder unterstellt wird, untermauern. was Nützliches geschehn. Insbesondere gibt es keine Evaluierung seitens der Bun- desregierung. Hier unterstützen wir die Forderung der Heike Hänsel (DIE LINKE): Der Krieg gegen Af- Grünen, eine solche vorzulegen. ghanistan, den die Grünen 2001 selbst mit eingeleitet ha- ben, hat nicht zu einer friedlichen Entwicklung des Lan- Je mehr Geld man in den militärischen Bereich inves- des geführt, sondern zu anhaltender Gewalt und der tiert, desto weniger bleibt für die zivile Entwicklung üb- Verstetigung von wirtschaftlichem und sozialem Elend. rig. Allein die USA haben für ihr militärisches Engage- Er hat auch keine breiten gesellschaftlichen Emanzipa- ment in Afghanistan seit 2001 127 Milliarden US-Dollar tionsprozesse in Gang gesetzt, wie unter anderem von ausgegeben. Währenddessen warten die Afghaninnen den Grünen angekündigt, sondern die Menschen in Af- und Afghanen nach einem Bericht der ARD von Ende ghanistan vielfach neuen Bedrohungen ausgesetzt. Zu März auf die Auszahlung eines großen Teils der von den den Taliban – so hat Oxfam jüngst die Wahrnehmung der westlichen Gebern versprochenen zivilen Unterstüt- Afghaninnen und Afghanen im Rahmen der Studie zungsleistungen. Von den versprochenen 25 Milliarden „Communitiy Peacebuilding“ in Afghanistan gemessen US-Dollar sind bislang nur 15 Milliarden tatsächlich in – kommt die Bedrohung durch lokale Warlords, Krimi- Afghanistan angekommen, und davon flossen nelle und Drogendealer, aber auch durch die internatio- 40 Prozent unter anderem in Form von Unternehmens- nalen Truppen selbst. gewinnen und Beratergehältern wieder zurück in die Ge- berländer. Zivile Krisenbearbeitung muss zivil formu- Immerhin – die Grünen reden in ihrem Antrag die Er- liert werden. Zivile Instrumente müssen entsprechend gebnisse der von ihnen ansonsten unterstützten Militär- ausgestattet, oft überhaupt erst entwickelt werden. Zivile mission nicht schön und weisen auf die vielen damit ver- Projekte müssen in zivile Hände gelegt werden, wo die bundenen oder zumindest durch sie nicht gelösten entsprechende Expertise und die langfristige Orientie- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16657

(A) rung für das Erreichen struktureller Veränderungen vor- Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die öf- (C) handen sind und nicht tagesaktuelle Interessen und mili- fentliche Debatte zu Afghanistan verläuft erneut und tärstrategische Überlegungen dominieren. wiederholt in den typischen Bahnen: Die Unionsparteien – vorneweg in bajuwarischer Wahlkampflaune CSU- Für eine effektive Aufbauhilfe wäre wesentlich, dass Landesgruppenchef Ramsauer – diskutieren über eine lokale Akteurinnen und Akteure viel stärker einbezogen Exit-Strategie am Hindukusch. Die SPD fordert im Ein- werden, als das im Rahmen der zivil-militärischen Zu- klang mit dem Bundeswehr-Verband mehr Soldaten für sammenarbeit praktiziert wird bzw. möglich ist. Die un- Afghanistan. Parallel dazu gibt es Nachrichten, dass bei terschiedlichen vorhandenen Interessen müssen sich arti- einer Anschlagsserie im Süden und Südosten Afghanis- kulieren und in einen Austausch gebracht werden. Mehr tans viele Todesopfer zu beklagen sind, darunter viele Partizipation muss organisiert werden. Viel mehr Men- Polizisten. schen müssen in die Suche nach Lösungen für eine zivile Krisenprävention einbezogen werden. Die Meldung der Hilfsorganisation Care Internatio- nal, dass der Mädchenanteil in den Schulen Afghanis- Das ist erstens der Anspruch der UN-Resolution 1325 tans viel zu gering ist, geht dabei völlig unter. Care Inter- für eine stärkere Beteiligung von Frauen auf allen Ebe- national berichtet, dass zwar die Zahl der Schüler in nen der institutionellen Verhütung, Bewältigung und Afghanistan insgesamt steigt, was ich als ein positives Beilegung von Konflikten, den es endlich einzulösen Ergebnis der zivilen Anstrengungen begrüße, jedoch der gilt, und das ist für Die Linke zweitens auch eine Mädchenanteil nicht mitwächst, sondern bei 35 Prozent Schlussfolgerung aus der Oxfam-Studie, derzufolge die konstant verharrt. Hinzu kommt, dass nur 28 Prozent al- – potenziell – gewaltträchtigen Konfliktfelder in Afgha- ler Lehrer in Afghanistan weiblich sind und zumeist nistan so unterschiedlicher Natur sind wie die Wahrneh- auch nur in Städten unterrichten. Viele Eltern in der Isla- mung der Gewaltakteure durch die Bevölkerung. Großes mischen Republik Afghanistan zögern aber, ihre Töchter Konfliktpotenzial wird solchen Auseinandersetzungen von einem Lehrer unterrichten zu lassen, oder schicken zugeschrieben, die auf der lokalen Ebene zum Beispiel ihre Töchter nicht in die Schule, da der Weg zu weit und um den Zugang zu Wasser und Land oder in bzw. zwi- unsicher ist. Bildungsarbeit und Capacity-Building unter schen familiären oder Clan-Strukturen ausgetragen wer- dem Aspekt der Geschlechtergerechtigkeit sind aber aus- den. Zugleich weist Oxfam darauf hin, dass die Afgha- gesprochen wichtig für die Zukunft des Landes und be- ninnen und Afghanen zur Schlichtung von Konflikten dürfen größter Aufmerksamkeit bei unseren Anstrengun- vorzugweise auf traditionelle Schlichtungsformen zu- gen in Afghanistan. Wir brauchen mehr Mädchen in den rückgreifen und sich an ihre lokalen Autoritäten, wie die Schulklassen Afghanistans! Ältestenräte, wenden. Hier müssen wir ansetzen. (B) Ich möchte drei Dinge feststellen: Erstens. Die De- (D) Entwicklung in Afghanistan kann nicht gegen die Af- batte um Afghanistan verengt sich immer wieder auf ghaninnen und Afghanen durchgesetzt werden, sondern eine Debatte über militärische Kapazitäten und Mandats- nur mit ihnen und vor allem durch sie. Das möchte ich grenzen. Zweitens: Nur Schreckensmeldungen aus Af- abschließend anhand unseres Vorschlags erläutern, ghanistan werden in Deutschland wahrgenommen. Drit- Chancen für einen lizenzierten Mohnanbau zu eröffnen. tens. Eine Auseinandersetzung über die Ziele, Kriterien Angesichts immer neuer Rekordernten ist doch offen- und die strategische Ausrichtung der zivilen, insbeson- sichtlich, dass die bisherigen Strategien der Drogenbe- dere der entwicklungspolitischen Aufbauarbeit findet kämpfung, die entweder ganz direkt repressiv ausgerich- nicht statt. tet waren – USA – oder Repression mit Substitution verbanden, wie die der EU, gescheitert sind. Aus dem il- Wir Grünen haben deswegen diesen Antrag in den legalen Drogenanbau speist sich der anhaltende Krieg. Deutschen Bundestag eingebracht. Wir fordern eine öf- fentliche Auseinandersetzung über die entwicklungspo- Deshalb schlägt Die Linke vor, Möglichkeiten zu prü- litischen Möglichkeiten und Ziele und vor allem: Wir fen, den legalen lizenzierten und kontrollierten Anbau fordern einen Wechsel in der Afghanistan-Politik der von Mohn zu medizinischen Zwecken zu fördern, und die- Bundesregierung. Wir müssen weg von der Dominanz sen Anbau in eine Strategie zur diversifizierten regionalen des militärischen – hin zu einer massiven Stärkung der Entwicklung des ländlichen Raums zu integrieren. Es gibt zivilen Aufbau- und Friedensarbeit. Vorbilder für eine solche Maßnahme; darauf verweisen wir in unserem Antrag. Ziel muss sein, die Bäuerinnen und Bau- Dazu gehört die sofortige Aufstockung der deutschen ern aus der Abhängigkeit von Drogendealern und Warlords Beiträge für die zivile Aufbauarbeit auf mindestens zu befreien, ohne sie ihrer wirtschaftlichen Grundlagen zu 200 Millionen Euro in diesem Jahr. Wir fordern die Bun- berauben. desregierung auf, dem Deutschen Bundestag einen Stu- fenplan mit klaren, mess- und überprüfbaren Etappen- Wenn es stimmt, dass das größte Gewaltpotenzial in zielen für die deutsche Aufbauarbeit vorzulegen. Wir Konflikten um lokale ökonomische Ressourcen liegt und fordern auch, einen jährlichen Bericht über die Verwen- in besonderem Maße von den Drogenbaronen ausgeht, dung der entwicklungspolitischen Mittel vorzulegen, wäre der lizenzierte und kontrollierte Mohnanbau in und wir rufen die Bundesregierung auf, dem Parlament meinen Augen eine lokal angepasste Maßnahme, eine bis Ende des Jahres eine Evaluierung der Arbeit der friedliche und sozial nachhaltige Entwicklung in den deutschen Provincial Reconstruction Teams, PRTs, vor- ländlichen Räumen Afghanistans einzuleiten. zulegen. Uns geht es nicht um eine rein quantitative Ver- 16658 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008

(A) besserung der Aufbauarbeit. Im Zentrum steht für uns Strategie zu bestimmen, eine Strategie, die kohärent, (C) die qualitative Verbesserung. transparent und langfristig angelegt ist. Lassen Sie uns über die Strategie und Ziele der Auf- Das heißt aber auch, dass wir nie nachlassen dürfen, bauarbeit in Afghanistan sprechen. Für uns ist es den inneren Problemen und Schwierigkeiten in diesem elementar, dass die afghanische Eigenverantwortung Land unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Wir müssen – Ownership – mit allen Maßnahmen gestärkt wird. Es im entwicklungspolitischen Ausschuss ganz besonders darf nicht länger sein, dass ohne Abstimmung mit und darauf achten, uns regelmäßig über die Lage im Land ohne Beteiligung der Bevölkerung Aufbauarbeit durch- und die Fortschritte zu informieren. Deswegen wollen geführt wird. Es ist richtig und notwendig, bei allen ak- wir auch den jährlichen Bericht, weil die Vergangenheit tuellen Problemen, dass die Afghanen in die Lage ge- lehrt, dass es ein Trugschluss war, zu glauben, die Dinge bracht werden, selbstständig und eigenverantwortlich zu in Afghanistan würden sich zum Guten wenden, auch handeln. Dazu gehört auch, dass stärker als bisher Gel- ohne dass wir unsere eigenen Handlungsansätze immer der der internationalen Gemeinschaft über die afghani- und immer wieder überprüfen. Wenn ich an die Fehler und Mängel in der Polizeiausbildung denke, dann ist sche Regierung umgesetzt werden. Die Stärkung der af- höchste Selbstkritik angesagt. Aber auch in anderen Be- ghanischen Kapazitäten, der weitere systematische reichen des zivilen Aufbaus muss die Lernkurve nach Aufbau effizienter Institutionen dürfen nicht vernachläs- oben zeigen. sigt werden. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass dies vor dem Hintergrund mangelnder Kapazitäten und steigen- Kernpunkte müssen aus unserer Sicht sein: erstens der Korruption eine schwierige und komplizierte Auf- Bildung, Bildung und nochmals Bildung, zweitens lang- gabe ist – und dennoch muss das Fernziel immer im fristig angelegte Frauen- und Geschlechterpolitik, um Blick bleiben: der afghanischen Bevölkerung ihr Land Integration und Gleichstellung voranzubringen – hier ist wieder voll und ganz zurückzugeben. hohe Sensibilität, aber auch Hartnäckigkeit angesagt –, drittens der ökonomische Aufbau des Landes. Deutsch- Viele Fehler sind in den letzten fünf Jahren gemacht land hat hier eine Führungsrolle übernommen. Es gibt worden, wertvolle Zeit ist verstrichen. Eine spürbare mit der Zuckerfabrik in Baghlan gute Ansätze, aber den- Verbesserung der Lebenssituation für weite Teile der Be- noch geschieht insgesamt zu wenig. Daher meine Frage: völkerung in allen Teilen des Landes ist bis heute ausge- Welche Ziele sollen anvisiert werden, und wie können blieben. Warum? Weil die internationale Gemeinschaft die Aufgaben der Zukunft gestaltet werden? Die Bun- ihr Engagement mit überzogenen Erwartungen, man- desregierung lässt eine klare Linie für einen Kurswech- gelnder Einsicht in die afghanischen Strukturen und sel in Afghanistan vermissen. Mit unserem Antrag wird ohne eine einheitliche, kohärente Strategie begonnen klar: Wir Grüne sind die politische Kraft im Deutschen (B) hat. Wir stellen fest: Die internationale Staatengemein- Bundestag, die den Kurswechsel hin zum zivilen Engage- (D) schaft ist aufgerufen, aus ihren Fehlern zu lernen und ment einfordert, definiert und sich kritisch damit ausein- jetzt mit Realismus eine neue entwicklungspolitische andersetzt.

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