2

SWR 2 Musikstunde mit Christian Schruff Mittwoch, 26.10.2011 „Brüderlein und Schwesterlein" Musikalische Geschwisterpaare (3): Die Brüder Graun

Ein bisschen war es damals, 1742 am 7. Dezember, so wie heute in Berlin: Als die neue Oper Unter den Linden eröffnet wurde, da war sie noch ein halbes Provisorium: keine Fassade, die Baugerüste standen noch; keine Stühle, man musste auf Holzbänken sitzen; kein Deckengemälde, Zeltplanen verhängten das Dach.

Musikalisch aber war das Projekt von langer Hand vorbereitet: Hofkapellmeister und auch der Konzertmeister, dessen Bruder Johann Gottlieb, dienten Friedrich dem II. schon seit dessen Kronprinzenzeit. Von diesem erfolgreichen sächsischen Brüdergespann in preußischen Diensten ist heute die Rede. Willkommen dazu.

Musik 1: CD 1 Track 1 Carl Heinrich Graun: „Cleopatra & Cesare“ Ouvertüre Concerto Köln Ltg.: René Jacobs HARMONIA MUNDI, HMC 901561.63, LC7045

Die Brüder Johann Gottlieb und Carl Heinrich Graun waren die führenden Köpfe im friderizianischen Musikbetrieb. Beide blieben bis zu ihrem Lebensende in preußischen Diensten und prägten das Gesicht der sogenannten „Berliner Schule“.

Anfang des 18. Jahrhunderts waren die Graun-Brüder in Wahrenbrück geboren worden. Heute liegt das Städtchen bei Bad Liebenwerda in Brandenburg, damals was es sächsisch. Wann genau die Brüder das Licht der Welt erblickten, ist nicht mehr zu recherchieren, denn 1714 vernichtete ein Brand das Kirchenbuch von Wahrenbrück. Johann Gottlieb kam wahrscheinlich 1702 oder 3 als zweiter Sohn eines königlichen 3

Steuereinnehmers auf die Welt, Carl Heinrich folgte ein oder zwei Jahre danach als jüngster Sohn. Nach dem erstem Musikunterricht in Wahrenbrück gingen die Knaben etwa mit zehn Jahren nach Dresden, wurden Kreuzschüler.

Sie kamen also in die Residenzstadt Augusts des Starken, in eine der führenden Musik-Metropolen Europas. Als Kruzianer sangen die jungen Grauns bei vielen Festlichkeiten der Stadt und des Hofes und sie bekamen eine erstklassige Ausbildung. Ein besseres Umfeld für Musik kann man sich kaum vorstellen!

Opernkapellmeister in Dresden war , Konzertmeister war der Vivaldianer . Dieser führende deutsche Geiger wurde auch der Geigenlehrer von .

Musik 2 Pisendel Track 8 3:43 Johann Georg Pisendel: Concerto à 5 da Chiesa in g IV: Allegro Petra Müllejans, Violine Freiburger Barockorchester CARUS, 83.301, LC3989

Johann Gottlieb Graun wuchs zu einem exzellenten Geiger heran. Er hat später noch einige Monate bei in Padua studiert, ist aber zu Pisendels Stil zurück gekehrt, um dem Dresdner Geschmack zu genügen. So will es jedenfalls eine Anekdote wissen.

Schon in der Kreuzschule deutete sich an, was später für alle Zeit so bleiben würde: Johann Gottlieb Graun stand im Schatten seines jüngeren Bruders Carl Heinrich. Der wurde wegen seiner besonders schönen Stimme und seines hervorragenden Gesangs schon bald zum „Extraordinär-Diskantisten“ ausgewählt. Dadurch bekam er eine von zwei städtischen Stellen als „Rathsdiskantist“. 4

Carl Heinrich genoss das, was man heute „Hochbegabten-Förderung“ nennen würde. Neben der Gesangsausbildung lernte er Cellospielen und erhielt Kompositionsunterricht. Aus dieser Zeit stammt vermutlich auch seine Motette „Lasset uns freuen und fröhlich sein“.

*Musik 3 Track 13 2:51 Carl Heinrich Graun: „Lasset uns freuen und fröhlich sein“ Basler Madrigalisten, L’arpa festante Ltg: Fritz Näf CPO 777 158-2, LC8492

Als im Juli 1723 in Prag der Habsburger Kaiser Karl VI. zum König von Böhmen gekrönt wurde, da reiste zu dieser pompösen Feier auch August der Starke als König von Polen und Sachsen mit großem Gefolge an. Mit dabei die führenden Musiker seiner Hofkapelle: Jan Dismas Zelenka, der Lautenist Sylvius Leopold Weiss und der Flötist Johann Joachim Quantz. Auch die Graun-Brüder spielten im Orchester mit bei der Fest-Oper von Johann Joseph Fux. Und aus Italien war der Geigenvirtuose Tartini angereist. Hier knüpfte Johann Gottlieb den Kontakt zu seinem späteren Lehrer.

Zu dieser Zeit waren die Grauns schon in Leipzig immatrikuliert, hatten aber noch immer enge Bindungen nach Dresden. Ihre ersten Anstellungen führten sie dann allerdings in verschiedene Richtungen. Der Mittlere Bruder, Johann Gottlieb, wurde Konzertmeister im Herzogtum Merseburg und unterrichtete dort auch den jungen im Violinspiel.

Der Jüngste, Carl Heinrich, startete eine Sängerlaufbahn, erst beim sächsischen Generalfeldmarschall Graf Wackerbarth, danach als Tenor am Hof in -Wolfenbüttel.

5

Und dann kam für beide Preußen ins Spiel. Im Mai 1728 gab Johann Gottlieb Graun gemeinsam mit ein Konzert in Berlin. Die Preußische Königin wollte ihn danach sofort in ihre Dienste nehmen. Doch der Soldatenkönig verhinderte die Anstellung. Für Musik und Musiker wollte er kein Geld ausgeben. Johann Gottlieb Graun ging nach Arolsen zum Prinzen Waldeck.

Aber das Konzert in Berlin hatte Eindruck gemacht. Und als der Kronprinz Friedrich 1732 in Ruppin seine erste kleine eigene Hofhaltung gründete, da wurde Johann Gottlieb Graun das erste Mitglied einer kleinen Kapelle, die Friedrich gegen den Willen seines Vaters trotzig einrichtete.

Musik 4: Track 5 (4:57) Johann Gottlieb Graun: Trio G-Dur I. Adagio Les Amis de Philippe CPO, 999 623-2, LC8492

Die Gründung dieser kleinen Hofmusik des Kronprinzen Friedrich war überhaupt nur möglich geworden, weil Friedrich geheiratet hatte und damit zumindest einen Wunsch seines Vaters, des Soldatenkönigs, erfüllt hatte. Friedrichs Braut stammte aus dem Braunschweiger Geschlecht, und so hatte Carl Heinrich Graun, der am Braunschweiger Hof inzwischen auch als Komponist aufgefallen war, die Hochzeitsoper komponiert.

Ganz sicher hat er sich dafür besonders ins Zeug gelegt, denn immerhin heiratete die Braunschweiger Prinzessin den künftigen König von Preußen. Und der würde, das war bekannt, nicht mehr so musenfeindlich sein, wie der Soldatenkönig.

Tatsächlich hatte Kronprinz Friedrich großen Gefallen an Grauns Oper gefunden. Und er hat Carl Heinrich Graun auch mehrfach nach Ruppin eingeladen. Doch bis auch der jüngste Graun in die Kapelle des Kronprinzen wechseln durfte, dauerte es noch drei Jahre. 6

1736 bezog der 24jährige Kronprinz Friedrich Schloß Rheinsberg. Seine Kapelle war inzwischen gewachsen. Kurz vorher war auch Carl Heinrich Graun dazu gekommen, als Kapellmeister. Aus Böhmen waren die Brüder Benda dazugekommen, 1738 wurde Carl Philipp Emanuel Bach dort Cembalist. Eine junge Riege von Avantgarde-Musikern hatte der junge und Musik liebende Kronprinz um sich geschart.

Friedrich selbst beschreibt in einem Brief diese frühe Zeit: „Es wird täglich von 4 bis 7 musiziert, ... Graun verrichtet Wunder. Ich lasse meine Querflöte quietschen.“ Und im Nachhinein beschreibt Johann Joachim Quantz, der damals noch nicht dabei war, dass die Kapelle in Rheinsberg „in einer Verfassung gestanden, die jeden Componisten und Concertisten reizen und ihm vollkommen Genüge leisten“ könne.

Musik 5: Tracks 1 – 3 7:27 Johann Gottlieb Graun: Sinfonia F-Dur Ensemble barock a.c.c.u.t. NCA, 60131-215, LC05057

Die Rheinsberger Hofkapelle ist der Grundstock für die Kapelle, die nach Friedrichs Thronbesteigung noch vergrößert wurde – und heute in der Staatskapelle Berlin noch immer fortbesteht.

Von nun an hatten die beiden Graun-Brüder die wichtigsten Ämter in der Preußischen Hofmusik inne: Carl Heinrich, der Jüngere, ist Hofkapellmeister. Er muss pro Jahr zwei neue Opern auf die Bühne bringen und die Aufführungen leiten. Johann Gottlieb, der Ältere, ist Konzertmeister. Er muss sich um die Instrumentalmusik kümmern, schreibt Sinfonien, Konzerte und Kammermusik und bildet den Kapellnachwuchs mit aus.

Gleich zu Beginn seines Königtums ließ Friedrich ein Opernhaus errichten. In Dresden hatte er als 16jähriger die Hofoper des sächsischen Königs erlebt. Das hatte seinen Geschmack geprägt. So etwas wollte er nun auch 7 für Berlin haben. Seinen Kapellmeister Graun schickte er auf eine achtmonatige „Einkaufstour“, um in Italien ein Sängerensemble zusammen zu stellen.

Wichtigster Sänger in Berlin war der Kastrat Porporino, später kam der legendäre Carestini an die preußische Hofoper. Der König verstand selbst viel von Musik. Und das machte das Leben für seine Musiker nicht gerade einfach. Graun musste viele Arien ein zweites oder drittes Mal komponieren, bis der König zufrieden war. Eine Anekdote erzählt zwar, dass Carl Heinrich Graun, den König im Opernhaus in die Schranken gewiesen habe – mit den Worten: „Hier bin ich der König“ – aber ob sie wahr ist?

Wahr ist auf jeden Fall, dass Friedrich den Sängern nicht zu viele Freiheiten im Auszieren gestattete. Er hat sogar für Porporino in einer Arie eigenhändig die Verzierung ausgeschrieben, die er hören wollte...

Musik 6: CD I, Track 6 10:02 Carl Heinrich Graun: aus „Demofoonte“ „Misero pargoletto“ Cecilia Bartoli, Mezzo-Sopran Il Giardino Armonico Ltg: Giovanni Antonini DECCA, 478 1521, LC00171

Getreu dem Motto „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ bestimmte beinahe an jedem Hof-Opernhaus der Geschmack des Königs, was gespielt wurde. Der Geschmack Friedrichs des Großen war durch das Erlebnis der sächsischen Hof-Oper unter Johann Adolph Hasse geprägt worden. Mehrfach versuchte Friedrich, den sächsischen Hofkapellmeister abzuwerben. Doch ohne Erfolg.

In den Brüdern Graun hatte er aber zwei sächsische Musiker, die in Dresden ausgebildet worden waren. Johann Gottlieb hatte der Berliner Hofkapelle eine Disziplin nach Dresdner Muster anerzogen. Und Carl 8

Heinrich Graun schrieb für Friedrich 26 Opern nach dem Modell der „ seria“. Der einzige andere Komponist, der in Berlin in der Oper aufgeführt wurde, war übrigens Johann Adolph Hasse.

Während anderswo Neuerungen in den Opern Einzug hielten, wurde die Berliner Oper zunehmend zu einem Reservat für die strenge und starre Opera seria. Friedrich II. versuchte sich auch als Librettist. Für „Montezuma“ hat er die Vorlage in französischer Prosa verfasst und darin den Azteken-König als aufgeklärten Herrscher dargestellt. Das eigentliche wurde dann von einem italienischen Librettisten in italienischen Versen abgefasst.

In den engen vom König gesetzten Grenze hatte Carl Heinrich Graun einen Stil entwickelt, der zwar weniger Orchesterfarben bietet als etwa das Mannheimer Orchester bald entwickeln würde, aber er hat eine eigene, wenn man will „Berliner“ Mischung gefunden aus melodiösem Stil und noch barockem, gelegentlich kontrapunktischen Satz. Grauns größte Fantasie aber zeigt sich in den Rezitativen. Grauns musikalischer Sprachfluss wurde bis hin zu Beethoven ein Vorbild.

Musik 7: 9931177 A CD II / 14 & 15 4:22 Carl Heinrich Graun: aus „Montezuma“ Rezitativ und Arie des Montezuma (2. Akt, 7. Szene) Florin Cezar Ouatu – Countertenor (Montezuma) Kammerakademie Potsdam Ltg: Sergio Azzolini RBB-Produktion! (ARD-weites Senderecht!) Live Mitschnitt 23/24.6.2010 Schlosstheater Neues Palais

Ein Jahr nach der „Montezuma“-Premiere ließ Friedrich der Große sein Heer in Schlesien einmarschieren. Der Siebenjährige Krieg begann – und die Oper wurde geschlossen.

9

Der Krieg führte zu einer Neuorientierung im Schaffen Carl Heinrich Grauns: „Auf hohen Befehl“ komponierte er zum Beispiel nach einer siegreichen Schlacht der Preußen sein „Te Deum“. Dieser „hohe Befehl“ dürfte wohl kaum vom Preußenkönig selbst gekommen sein. Geistliche Musik ist für diesen König nie geschrieben worden.

*Musik 8: Track 4 02:32 Carl Heinrich Graun: Te Deum IV: Tu Rex gloriae Basler Madrigalisten L’arpa festante Ltg: Fritz Näf CPO, 777 158-2, LC 8492

Vieles spricht für die jüngste Schwester Friedrichs als Auftraggeberin des „Te Deum“, Prinzessin Amalia – wie Friedrich auch eine große Musikliebhaberin und Komponistin. In ihrer Musiksammlung ist das „Te Deum“ sogar mit dem Titelblatt von Grauns Hand überliefert.

Bei einem großen Teil der Werke der Brüder Graun, kann man nicht klären, ob sie von Carl Heinrich oder Johann Gottlieb stammen. Die Handschriften in Berlin tragen nur selten ihre Vornamen. Und je weiter entfernt von Berlin ein Werk überliefert ist, desto weniger scheint überhaupt bekannt gewesen zu sein, dass es zwei Grauns gegeben hat. Carl Heinrich, der jüngste, hat den älteren Bruder Johann Gottlieb eben immer überstrahlt.

Und mit einem Werk ist er sogar lange über seinen frühen Tod hinaus bekannt geblieben. Carl Heinrich Grauns Passionsoratorium „“ – sein vielleicht empfindsamstes Werk – war bis weit in 19. Jahrhundert die Passionsmusik.

10

Musik 9: 9921770 CD II, Track 10 4:30 Carl Heinrich Graun: Der Tod Jesu - Choral: „Ihr Augen weinet“ , Lívia Ágh, Sopran Christoph Genz, Tenor Klaus Häger, Bariton MDR Rundfunkchor, MDR Sinfonieorchester Ltg.: QUERSTAND, 0412, LC03722