Werder-Stratege Micoud (M.) SCHUMANN / IMAGO SCHUMANN

SPIEGEL-GESPRÄCH „Alle Antennen ausfahren“ Werder Bremens Regisseur Johan Micoud über intelligentes Spiel, den Stilwandel der , die Chef-Rolle bei Bayern München und seine Probleme mit Frankreichs Nationaltrainer

SPIEGEL: Monsieur Micoud, Sie gelten als SPIEGEL: War Santini jemals im Weser- Treffen der Nationalmannschaft, weil der derzeit bester Mittelfeldspieler der Bun- stadion, um Sie bei einem Spiel zu beob- Teamspirit besonders ausgeprägt sei. Wird desliga. Trotzdem sind Sie zum Länder- achten? Ihnen da ein Heimatgefühl vorenthalten? spiel der Franzosen am kommenden Sams- Micoud: Nie. Micoud: Nicht unbedingt. Wenn die Natio- tag gegen Deutschland in Gelsenkirchen SPIEGEL: Also ist der deutsche Fußball in nalmannschaften sich treffen, habe ich zwei nicht eingeladen. Ist die Bundesliga nicht Frankreich nicht populär genug? Tage frei. Diese Zeit nutze auch ich, um gut genug? Micoud: Die Bundesliga kommt in den fran- nach Frankreich zu fahren. Nicht nach Micoud: Doch, natürlich. Die Bundesliga zösischen Medien in der Tat eher am Clairefontaine, wo die Equipe Tricolore hat ein hohes Niveau, und mein Club Wer- Rande vor. Sonntagabends haben wir eine zusammenkommt. Sondern nach Cannes, der Bremen hat, wie ich finde, eines der Fußballshow in Canal plus, sie heißt wo ich zu Hause bin. besten Teams in Deutschland. Warum mich „L’Equipe du Dimanche“. Da läuft über SPIEGEL: Bei der Qualifikation zur Europa- der französische Nationaltrainer Jacques eine Stunde europäischer Spitzenfußball, meisterschaft 2004 hat Frankreich alle acht Santini nicht nominiert, kann ich Ihnen hoch und runter: aus Italien, aus Spanien, Spiele gewonnen. Wurde da der Wille zur auch nicht sagen. Als ich den AC Parma im aus England. Die Bundesliga kommt zum Wiedergutmachung erkennbar, weil die Sommer 2002 verließ, sagte er mir: Wenn Schluss, höchstens zehn Minuten. Sie zei- letzte Weltmeisterschaft mit dem frühen du einen guten Verein findest und dort gut gen die Partien von Bremen und Bayern Ausscheiden zur Schmach geriet? spielst, dann werde ich dich anrufen. Auf München. Micoud: Sicher, die Spieler wollen zeigen, den Anruf warte ich bis heute. SPIEGEL: Von jenen Clubs also, in denen dass die WM nur ein Betriebsunfall war. prominente Franzosen spielen. Ihre Lands- Jetzt muss man aber auch sehen, dass die Das Gespräch führten die Redakteure Jörg Kramer und leute beim FC Bayern, Gegner in der EM-Qualifikation allesamt Michael Wulzinger. und , schwärmen von den leicht zu schlagen waren. Ein Maßstab war

160 der spiegel 46/2003 Sport da schon eher das Testspiel gegen Tsche- wie Sie einer sind, immer kleiner gewor- chien – und das hat Frankreich im Februar den. Wie entziehen Sie sich dem Zugriff in Paris 0:2 verloren. der athletisch immer besser ausgebildeten SPIEGEL: Glauben Sie noch daran, dass Sie Jäger? bei der EM in Portugal spielen werden? Micoud: Den Regisseur der alten Schule, Micoud: Es wird immer schwieriger. Mir der auf dem Platz alle Zeit der Welt hatte, bleiben noch sechs Monate. den gibt es nicht mehr. Dennoch: Mir SPIEGEL: Fehlt Ihnen in Bremen die Bühne reicht der Raum, den ich in der Bundes- Champions League, auf der Sie sich prä- liga vorfinde. Nicht nur die Zerstörer ha- sentieren und empfehlen könnten? ben sich im Fußball fortentwickelt. Ich Micoud: Natürlich wäre es ein Vorteil, wenn selbst habe viel Krafttraining gemacht, für Werder den Weg in die Champions League die Beine, auch für den Oberkörper. geschafft hätte. Aber es ist doch so: Wenn SPIEGEL: Das heißt, den Vormarsch der de- ein Trainer einen Spieler wirklich will, struktiven Kraftmeier bekämpfen die ele- dann schaut er ihn sich auch bei einem ganten Ästheten, indem sie sich selbst zu Meisterschaftsspiel an. robusten Athleten wandeln? Ist das nicht SPIEGEL: Je besser die Mannschaft, in der traurig? Sie spielen, umso größer ist Ihre Chance, Micoud: So schlimm ist es auch nicht. Die auf sich aufmerksam zu machen. Haben körperlichen Anforderungen sind nun mal Sie deshalb die Bremer Club-Führung höher als vor zwölf Jahren, als ich bei AS dafür kritisiert, dass sie es nicht schaffte, Cannes anfing. Aber es gibt auch heute Ihre umworbenen Teamkameraden Ailton Mannschaften, die beispielhaft darin sind,

und Mladen Krstajic über diese Saison hin- wie man das Spektakel immer wieder neu LANG / AFPOLIVER aus an den Verein zu binden? kreiert: Manchester United etwa oder Real Bayern-Profi Ballack Micoud: Ich habe niemanden kritisiert. Ich Madrid. Diese Teams versuchen ständig in „Oh, das ist der Spielgestalter“ war enttäuscht, als ich hörte, dass die bei- Ballbesitz zu sein. Das ist auch bei Werder den – zwei Stützen unseres Teams – nächs- Bremen unser Ziel. Micoud: Nehmen Sie : ten Sommer zu Schalke 04 wechseln wer- SPIEGEL: Mit Ballbesitz ist es aber nicht Wenn er einen Hackentrick macht, dann den. Und ich sage nun mal, was ich denke. getan. Sie bezeichneten einmal Ihre Spiel- nur, weil er damit sein Team in dieser Si- Der Verlust ist bedauerlich, weil wir in die- übersicht als naturgegebenes Talent. Muss- tuation einen Schritt weiterbringt. Es geht ser Saison mit unserer Mannschaft große ten Sie etwa gar nichts dafür tun? ihm nie darum, selbst zu glänzen. Fortschritte gemacht haben. Micoud: Ich hatte im Verlauf meiner Kar- SPIEGEL: Die wahre Schönheit liegt also in SPIEGEL: Sie führen Regie im Spiel von riere immer wieder Mitspieler und Trai- der Effizienz? Werder. Warum ist es oft so spektakulär? ner, die mich darin unterwiesen haben. Ei- Micoud: Meine Reihenfolge lautet: erst die Micoud: Wir betonen das Offensivspiel. ner der wichtigsten war Guy Lacombe. Er Effizienz, dann die Ästhetik. Aber wenn Wenn wir den Ball erobert haben, spielen war Jugendtrainer beim AS Cannes, heu- man die Fähigkeit hat, beides miteinander wir so schnell wie möglich in die Sturm- te ist er Cheftrainer beim FC Sochaux, dem zu verbinden – umso besser. spitze. Dabei ist unser Spielaufbau plan- Gegner von Borussia Dortmund im Uefa- SPIEGEL: Wie viele Künstler verträgt dann voller als im vergangenen Jahr. Wir kom- Pokal. Sie haben mir dieses situative Han- eine Mannschaft? binieren besser: kurz, flach und direkt. Das deln beigebracht. Ich habe die Positionen Micoud: Im besten Fall muss jeder alles kön- trainieren wir intensiv. Letzte Saison waren der Mitspieler und die ganze Umgebung nen: nach vorn spielen, nach hinten arbei- wir einseitig ausgerichtet, der Ball ging schon gecheckt, bevor der Ball mich er- ten. Bei Real Madrid stehen mindestens sofort steil nach vorn. Nun variieren wir reicht. Man muss all seine Antennen immer sieben Künstler auf dem Platz, und sie sind das Tempo, spielen auch mal quer, je nach ausgefahren haben. erfolgreich, weil alle für die Mannschaft Situation. SPIEGEL: Haben Sie diese hohen Ansprüche arbeiten. SPIEGEL: Seit der italienische Startrainer auch als Zuschauer? SPIEGEL: Der Schriftsteller Gabriel García Arrigo Sacchi Ende der achtziger Jahre Micoud: Ich mag das schöne Spiel. Aber Márquez hat auf die Frage, wie man es schaf- beim AC Mailand das offensive Pressing man soll es nicht übertreiben. fe, einen Roman wie „Hundert Jahre Ein- einführte, ist der Raum für Spielgestalter, SPIEGEL: Sie sind kein Romantiker? samkeit“ zu schreiben, geantwortet: „Acht Stunden am Tag auf dem Hin- tern sitzen. Und das zwei Jah- Johan Micoud re lang.“ Ist kunstvoller Fuß- steht seit August 2002 beim Bundesliga- ball letzten Endes auch nur Club Werder Bremen unter Vertrag. Der das Ergebnis von Disziplin? 30-jährige Südfranzose, der 16-mal in der Micoud: Dem Fußballer geht Nationalelf spielte und mit Frankreich es ähnlich wie dem Autor: 2000 Europameister wurde, hatte seinen Was mühelos aussieht, ist die letzten Einsatz in der Equipe Tricolore bei Ernte harter Arbeit. Die Kunst der Weltmeisterschaft im Vorjahr. Seine besteht darin, dass man die Laufbahn begann der torgefährliche Mittel- Anstrengung nicht erkennt. feldstratege – wie auch seine berühmten SPIEGEL: Das gelingt den Fran- Landsleute Zinedine Zidane und Patrick zosen mehrheitlich besser Vieira – in der Fußballschule von AS als den deutschen Kickern. Cannes. Weitere Stationen seiner Karriere Worin besteht das Geheimnis waren der französische Erstligist Girondins der französischen Fußball- Bordeaux (1996 bis 2000) und der italie- schule? nische Serie-A-Club AC Parma (2000 bis Micoud: Im Mittelpunkt der 2002). Ausbildung steht bei uns im-

JÖRG OBERHEIDE mer der Teamgedanke. Wir 161 Sport haben früh verinnerlicht: Nur wer seine dauern des Werder-Sportdirektors Klaus Fähigkeiten mannschaftsdienlich einsetzt, Allofs, auch nach mehr als einem Jahr in bringt sein besonderes Talent wirklich zur Bremen kaum Deutsch. Weigern Sie sich, Geltung. Erst dann, in einer funktionieren- die Sprache zu lernen? den Mannschaft, fallen die herausragenden Micoud: Ich habe Unterricht genommen Spieler richtig auf. und verstehe vieles. Aber die Sprache ist SPIEGEL: Sie meinen, die Trainer lehren die schwierig. Außerdem können in Deutsch- begabten Jungen Bescheidenheit? land alle Englisch. Das ist gewissermaßen Micoud: Das regeln die Spieler mehr unter ein Nachteil: Denn so entfällt die Notwen- sich, als dass es jemand von oben befehlen digkeit für mich, Deutsch zu lernen. müsste. Wenn einer sich offensichtlich SPIEGEL: Sie haben in Bremen schon einen bemüht herauszustechen, dann holen ihn Reporter geohrfeigt und die Taktik des die anderen schnell wieder auf den Boden Trainers kritisiert. Einmal sollen Sie eine zurück. Wir sind so erzogen. Lauftrainingseinheit geschwänzt haben. SPIEGEL: In der Bundesliga beklagen die Müssen Spielmacher-Typen eigentlich im- Trainer dagegen in jüngster Zeit häufig mer auch ein wenig kapriziös sein? PATRICK HERTZOG / AFP HERTZOG PATRICK Nationaltrainer Santini (l.), Star Zidane (M.): „Erst die Effizienz, dann die Ästhetik“ einen Mangel an Gemeinschaftsdenken. Micoud: Als ich das einzige Mal beim Trai- Liegt das auch an der immer kürzeren Ver- ning fehlte, war ich am Bein verletzt. Zwei- weildauer der Spieler in den Vereinen und tens: Mit Boulevardreportern gibt es halt an sprachlichen Barrieren? Bei Werder ste- manchmal Probleme, aber diese Ge- hen Spieler aus zwölf Nationen im Kader. schichte ist vergessen. Und wenn ich, drit- Micoud: Im Fußball gibt es nun mal einen tens, mal etwas sage, denke ich dabei im- Mix der Kulturen wie in kaum einer ande- mer an die Mannschaft. Ich mische mich ren Branche. Aber ist das beklagenswert? ein, wenn ich der Ansicht bin, die Dinge So ergeben sich ganz verschiedene Spiel- laufen in die falsche Richtung. auffassungen. In Bremen zum Beispiel spie- SPIEGEL: In Deutschland scheint es eine len wir derzeit einen lateinischen Fußball: Sehnsucht nach so genannten Chefs auf viele kurze Pässe, technisch hohes Niveau. dem Rasen zu geben. So hat man bei Bay- SPIEGEL: Ist das typisch deutsche Spiel, das ern München den Eindruck, dort solle Mi- der argentinische Weltmeister und heuti- chael Ballack in die Rolle eines Wortführers ge Sportdirektor von Real Madrid, Jorge gedrängt werden, die ihm nicht liegt. Glau- Valdano, einmal als „hart wie Granit“ be- ben Sie, dass er sich unwohl fühlt? zeichnet hat, inzwischen ausgestorben? Micoud: Ich kenne es aus Frankreich so, Micoud: Sie meinen den Stil der hohen, dass eine Mannschaft unter sich ausmacht, weit geschlagenen Pässe und der langen wer den Chef gibt. Oft ist es der Spieler, Sprints? Dieses Stereotyp gilt nicht mehr. der vor der Abwehr spielt – wie früher bei Die vielen Profis aus dem Ausland haben uns der Nationalmannschaftskapitän Di- das Spiel der Deutschen beeinflusst. So ist dier Deschamps. Wenn jedoch auf Ballack es auch in Italien, wo längst nicht mehr von außen Druck aufgebaut wird, dass er nur Wert auf Defensive gelegt wird. Auch den Boss spielen soll, ist das nicht authen- in der Bundesliga gibt es heute mehr Spek- tisch. In Deutschland sagt man leicht: Oh, takel, es fallen mehr Tore als in Spanien. das ist der Spielgestalter, also muss er viel SPIEGEL: Sie lebt von ausländischen Stars, reden. die sich mehr oder weniger eifrig integrie- SPIEGEL: Monsieur Micoud, wir danken Ih- ren. Sie zum Beispiel sprechen, zum Be- nen für dieses Gespräch.

162 der spiegel 46/2003