1. Einleitung

Tief verwurzelt in der Musikalität seiner englischen Heimat und ihrer Tradition, in- spiriert von den geistigen Strömungen und ethischen Fragen unserer Zeit, hat er alle Gattungen der Musik durch sein umfang­reiches kompositorisches Schaffen gefördert und bereichert, […]1 Am 12. Mai 1962 wurde im Auditorium maximum der Uni­ver­ sität Hamburg der Hansische Goethe-Preis der Stiftung F. V. S. zu Ham­burg für das Jahr 1961 überreicht. Anstelle einer Dankesrede führte Brit­ten gemeinsam mit seinem Lebensgefährten Lieder von Haydn, Goethe-Vertonungen­ von Schubert und Wolf sowie seine eigenen Sechs Hölderlin-Fragmente­ auf. Der Preis, der ähnlich dem amerikanischen Aspen Award, dessen erster Träger Britten 1964 war, „der Förderung übernationaler Gesinnung und humanitärer­ Bestrebungen gewidmet“2 ist und Persönlichkeiten auszeichnet, die „mit ihrem Lebenswerk und mit der Kraft ihrer Persönlichkeit über die Grenzen­ ihres Va- terlandes hinaus den Gedanken der Solidarität aller Menschen auf der Erde vor- bildlich ausgestrahlt haben“,3 rührt an Brittens künstlerisches Selbst­verständnis, wie er es in seiner Dankesrede für Aspen dargelegt hat.4 Die Würdigung durch den Rektor der Universität, Professor Dr. Rudolf Sie­verts, erwähnt insbesondere Brittens Neigung und Talent, für Amateure und junge Menschen zu komponie- ren, sowie die Inspiration durch ausführende Künst­ler, Solisten wie Chöre und Orchester, als Beweis, „wie sehr Britten aus dem kon­kreten Humanum seiner mitmenschlichen Begegnungen angeregt wird und mit seinem Werk wieder die- sem dient“,5 und gibt einen Überblick über Brittens Opern und die menschli- chen Tragödien, die sie darstellen.6 Britten formuliert in seiner Rede für Aspen, die Aufgabe des Künstlers als Teil der Gesellschaft sei es, “to speak to or for his fellow human beings”.7 Er stellt den Künstler da­mit ins Spannungsfeld zwischen

1 Verleihung des Hansischen Goethe-Preises 1961 durch die Universität Hamburg an Ben- jamin Britten (Hamburg: Stiftung F.V.S., 1962), S. 17. 2 Zit. nach Susanne Hornfeck, Der Hansische Goethe-Preis 1949–1999 (Hamburg: Alf- red Toepfer Stiftung F.V.S., 1999), S. 179. 3 Verleihung des Hansischen Goethe-Preises 1961, S. 7. 4 Benjamin Britten, On Receiving the First Aspen Award (London: Faber Music, 1978). 5 Verleihung des Hansischen Goethe-Preises 1961, S. 14/15. 6 Ebd., S. 10–12. 7 Britten, On Receiving the First Aspen Award, S. 12.

11 der Pflicht, sich in der Gesellschaft nützlich zu machen, und der Notwendigkeit, künstlerisch wie menschlich unabhängig zu bleiben, um als mahnende Stimme auftreten zu können, die letztlich nur dem eigenen Gewissen verantwortlich ist: “Artists are artists because they have an extra sensitivity – a skin less, perhaps, than other people; and the great ones have an uncomfortable habit of being right about many things, long before their time […]”8 Die Auffassung des Künstlers als eine Art moralischer Instanz war ty­pisch für die dreißiger Jahre, die Britten nachhaltig prägten, und anders als der Dichter W. H. Auden, sein Freund und Mentor in dieser Zeit, gab Britten sie of­fen­sichtlich nie auf.9 Auf Auden läßt sich auch Brittens Bevorzugung der künstlerischen Para­bel gegenüber der direkten politischen Stellungnahme zurückführen,­ 10 eine Einstellung, die gerade auch für seine Vokalwerke für Solostimme­ bezeichnend ist. In ihnen finden sich die zentralen Themen seines Schaffens vereint: der tief- sitzende Pazifismus, konkret die Auseinandersetzung mit verschie­denen Formen menschlicher Gewalt und Unterdrückung, die Frage von Schuld, Reue und Ver- gebung, Liebe, speziell die homophile Liebe, und die Verehrung von Schönheit und Jugend sowie demgegenüber die Ver­gäng­lich­keit des Lebens, die Bedrohung ursprünglicher Unschuld durch Erfahrung und schließlich Nacht, Schlaf und das Unterbewußtsein sowie das Wesen des künstlerischen Schaffens. In seinen Erinnerungen resümiert Diet­rich Fischer-Dieskau: Ben hatte es schwer, mit der Welt fertig zu werden, zeigte das aber bei­leibe niemandem. Um so häufiger herrscht in seiner Musik das Dun­kel vor. Sie spricht von der verschat- teten Seite des Lebens. Das Leiden an der eigenen Person trieb es Ben – vor allem in den Bühnenwerken – immer wieder auszudrücken. Dabei erschließt dieser moralische Aspekt zugleich das Verständnis der Musik. Unaufhörlich suchte er nach der Unschuld. Er haßte Streit, konnte sich aber widerstrebenden Einflüssen gegenüber sehr wohl durchsetzen.11

8 Benjamin Britten, „Freeman of Lowestoft“, Tempo, no. 21 (Autumn 1951), S. 4/5. 9 Siehe Donald Mitchell, Britten and Auden in the Thirties: The Year 1936: The T. S. Eliot Memorial Lectures Delivered at the University of Kent at Canterbury in November 1979 (London: Faber and Faber, 1981), S. 24/25. 10 Ebd., S. 25. Britten bekräftigt seine Bevorzugung der Parabel gegenüber der direk- ten Verarbeitung­ zeitgenössischer Themen in dem Entwurf zu einem Artikel für den Observer von 1963. Abgedruckt in Paul Kildea, ed., Britten on Music (Oxford:­ Oxford University Press, 2003), S. 239. 11 Dietrich Fischer-Dieskau, Nachklang: Ansichten und Erinnerungen (Stuttgart: Deut- sche Verlags­an­stalt, 1987), S. 223.

12 Brittens erklärtes Ziel, mit seinem Publikum zu kommunizieren,12 traf auf eine tiefe, in der Kindheit durch seine Mutter, eine begabte Amateursängerin,­ geweckte Liebe zur menschlichen Stimme, auf der die zentrale Stellung von Vo- kalmusik in seinem Werk gründet. Neben die persönliche Neigung traten eine Reihe äußerer Faktoren – die Lebensgemeinschaft und Konzertpartner­schaft mit Pears, die Gründung der 1946, Aufträge und Freundschaf- ten mit Künstlern. Die vielfältigen Grundlagen für sein rei­ches Opernschaffen, die Britten 1960 in der Zeitschrift Opera zusammenfaßte, las­sen sich auf seine Vokalmusik im allgemeinen übertragen: I have also strong points of view to which I find opera can give expres­sion. I have always been interested in the setting of words (some of my earliest efforts in composition were songs) and Purcell has shown me how wonderfully dramatic the sung English language can be. My in­terest in the human voice has grown, especially in the relation of sound to sense and colour: for me, this interest applies to the English voice in par­ticular, singing our subtle and beautifully inflected language.13 Diese Liebe zur englischen Sprache als „Wurzel“ seines Schaffens14 war ge­paart mit einer tiefen Affinität zur Lyrik, die Britten eigenem Bekunden nach viel las.15 Seiner langjährigen Assistentin Rosamund Strode zufolge hatte er auf Reisen stets eine Anthologie im Gepäck.16 Seine Textwahl war von der Über­zeu­gung bestimmt, “that if the words of a song match the music in sub­tlety of thought and clarity of expression it results in a greater amount of artis­tic satis­faction for the listener”.17 Der hohe Anteil an bedeutender Lyrik in seinem­ Schaffen wird regelmäßig hervorgehoben.18 Professor Sie­verts betont Brittens „seltene Ein- fühlungsgabe auch in die hohe Dichtung des Wortes“ und sein Bestreben,­ „die

12 “If I did not communicate I would consider I had failed.” Murray Schafer, British Com- posers in Interview (London: Faber and Faber, 1963), S. 124. 13 Benjamin Britten, „On Writing English Opera“, Opera, vol. 12 (Januar 1960), S. 7. 14 Benjamin Britten, „Interview with Charles Osborne“, The London Magazine, 3 (Octo- ber 1963), S. 91/92. “In fact, I feel a curiously local composer with strong roots in the English language […]”. 15 Schafer, British Composers in Interview, S. 122. 16 Boris Ford, Introduction, Benjamin Britten’s Poets: The Poetry He Set to Music, edited by Boris Ford, revised edition (Manchester: Carcanet Press, 1996), S. XII. Dieselbe Auskunft hat Frau Strode auch mir erteilt. 17 Benjamin Britten, Foreword to , [edited by Eric Crozier] (London: Bodley Head, 1948), reprint in Britten on Music, S. 78. 18 Siehe z. B. Ford, Introduction, Benjamin Britten’s Poets, S. XI/XII, sowie Peter Porter, „Com­poser and Poet“, The Britten Companion, edited by Christopher Palmer (Lon- don: Faber and Faber, 1984), S. 273.

13 Problematik der Vertonung von Dich­tungen künstlerisch ein­wandfrei zu bewäl- tigen“, was ihn Goethe nahebringe.19 Brittens Werke für Solostimme umfassen siebzehn Zyklen und Samm­lungen, davon fünf mit Orchesterbegleitung, zehn mit Begleitung des Klaviers sowie je einen mit Gitarre und Harfe. Von ihnen werden die postum veröf­fentlichten Quatre chansons françaises von 192820 sowie das von Britten 1968 aus Ju­ gendkompositionen zusammengestellte Tit for Tat21 in der Arbeit nicht disku­ tiert werden. Des weiteren bleiben die fünf unberücksichtigt, eine von Britten nach dem Vor­bild von Henry Purcells Divine Hymns entwickelte mehr- teilige Form für einen bis drei Sänger mit Klavier- oder Harfenbeglei­tung – das dritte zudem mit So­lohorn. Einzellieder sind zu Brittens Lebzeiten nur weni- ge erschienen: „The Birds“ auf einen Text von Hilaire Belloc 1935, Two Ballads („Mother Comfort“ auf einen Text von Mon­tagu Slater und „Under­neath the Abject Willow“ auf einen Text von W. H. Auden) für zwei Stim­men und Kla­vier 1937 sowie „Fish in the unruffled lakes“ auf einen Text von W. H. Auden 1947; sie alle haben keine Opuszahl. Mittler­weile sind aus dem Nachlaß eine ganze Reihe weiterer Lieder veröffentlicht worden, und zwar so­wohl Einzel­ ­kompositionen und Relikte nie ausgeführter größerer Pro­jekte22 als auch Kompositionen,­ die im Zusammenhang mit den Zy­klen entstanden,­ aber in diese nicht aufgenommen wurden (sie stehen ge­wöhnlich im Anhang des ent­sprechenden Werks).

19 Verleihung des Hansischen Goethe-Preises 1961, S. 14. 20 Vertonungen von jeweils zwei Gedichten von Victor Hugo und Paul Verlaine in französi­scher Sprache. 21 Die fünf Lieder auf Texte von Walter de la Mare entstanden zwischen Juni 1928 und Januar 1931. 22 Fish in the Un­ruffled Lakes enthält Vertonungen von Gedichten W. H. Audens, Beware! drei Lieder aus den Jahren 1922 bis 1926, und The Red Cockatoo & Other Songs ver- einigt Lieder aus der Zeit zwischen 1935 und 1960 (nach neuerer Erkenntnis 1962; zur Da­tierung von „Um Mitternacht“ siehe Philip Reed and Mervyn Cooke, eds., Let- ters from a Life: The Selected Letters of Benjamin Britten 1913–1976, vol. 5: 1958–1965 [Woodbridge: Boydell Press, 2010], S. 390). Außerdem erschienen die William-Blake- Vertonung „A Cradle Song: Sleep, Beauty Bright“ für Sopran, Alt und Klavier von 1938, vier der Cabaret Songs, die in den späten dreißiger Jahren auf Texte von Auden entstanden, „Evening“, „Morning“, „Night“ aus This Way to the Tomb von 1944/45, drei Lieder für Tenor, Horn und Klavier aus The Heart of the Matter, einem Edith Sitwells Schaffen gewidmeten Programm, das 1956 im Rahmen des Alde­burgh Festival statt- gefunden und auch das dritte Canticle enthalten hatte, sowie nicht zuletzt das im Zu- sammenhang mit der Serenade entstandene „Now sleeps the crimson petal“ für Te­nor, Horn und Streichorchester.

14 Die Tendenz zur Schaffung größerer, komplexer und gegenüber dem Einzel- lied zu umfangreicheren, differenzierteren Aussagen fähiger Einheiten, die sich hier andeutet, hat Arthur Jacobs in Denis Stevens’ A History of Song zu einer allgemein gefaßten Beobachtung veranlaßt: That Britten should also join so many of his songs in sets or cy­cles, or extend them into ‘Canticles’ is also notable. It is as if the short, isolated song, suitable for musically echoing the gently romantic poetry of former days, was no longer apt for the musical expression of the dif­ferent poetic ideas to which composers of lively minds were now at­tracted.23 Zudem liegt die Annahme nahe, daß das Zykluskonzept den Musikdra­matiker Britten auch deshalb reizte, weil es die Lyrik mit Elementen des Dra­mas ver­ bindet. Die musikalische Vielgestaltigkeit seiner zyklischen Werke er­schließt sich bereits dem flüchtigen Blick. Nur ein einziges seiner Solovokalwerke hat Britten ausdrücklich als Zy­klus bezeichnet: : Symphonic Cycle for High Voice and Orchestra. In Interviews, Programmhefttexten, Briefen et cetera hat er den Begriff jedoch auch für On This Island 24, Les Illuminations25, die Seven Sonnets of Michelange- lo26 und das für Dietrich Fischer-Dieskau geplante Liedprojekt, aus dem später die Songs and Proverbs of William Blake her­vorgingen,27 sowie pauschal für sei- ne Werke für Solostimme (“for Peter Pears I have writ­ten one after another”28) verwendet. Die Serenade­ nannte er „my new piece“29. Pears seiner­ seits bezeichnet im Tage­buch ih­rer Armenienreise von 1965 The Poet’s Echo als Zyklus30 und benutzt den Be­griff vor allem durch­weg in dem Kapitel über die Vokalmusik von Benjamin Britten: A Commentary on His Works from a Group of

23 Arthur Jacobs, „The British Isles“, A History of Song, edited by Denis Stevens (London: Hutchin­son, 1971), S. 177. 24 Benjamin Britten, „Britten Looking Back“, Sunday Telegraph, 17. November 1963, re- print in Britten on Music, S. 252. 25 Letters from a Life: The Selected Letters and Diaries of Benjamin Britten 1913–1976, vol. 2: 1939–1945, edited by Donald Mitchell, Philip Reed [et al.] (London: Faber and Faber, 1991), S. 807, sowie Schafer, British Composers in Interview, S. 121. 26 Schafer, British Composers in Interview, S. 121. 27 „Benjamin Britten: Musician of the Year in Conversation with John Warrack“, Musical America­ , 84 (Dezember 1964), S. 274; reprint in Britten on Music, S. 269. 28 „No Ivory Tower“, Opera News, vol. 33 no. 23 (5. April 1969), reprint in Britten on Music, S. 332. 29 Britten, Letters from a Life, vol. II, S. 1200. 30 Peter Pears, The Travel Diaries of Peter Pears 1936–1978, edited by Philip Reed, Alde- burgh Studies­ in Music, vol. 2 (Woodbridge: Boydell Press, 1995), S. 120.

15 Special­ists.31 Andererseits ver­neinte er – zweifellos im Sinne Brittens – den Zy­ kluscharakter von Winter Words anläßlich der Urauffüh­rung 1953.32 Daß Britten gemeinsam veröffentlichte Lieder als Einheit auffaßte und nicht etwa als Fundus, aus dem sich neue Zusammenstellungen schaffen lie­ßen, verdeutlicht seine eigene Praxis, sie fast immer als Ganzes aufzuführen. Auf­ schlußreich ist in diesem Zusammenhang ein Brief Brittens aus dem Jahr 1944 an den Schriftsteller und Kritiker Edward Sackville-West: What I have been meaning to ask you for ages is – can you think offhand of a good source I can go to for words for a song-cycle? Peter & I have done the Michelangelo until we’re nearly crazy and if the de­mand for re­citals from us continues as it is we’ve got to have a new big work from me for future seasons. Louis MacNeice has done me a lovely song-cycle, but unfortunately it’s for a woman and unless the attitude of society al­ters radically to you know what, Peter can’t possibly sing it! What would be ideal would be some fifteen or twenty very short lyrics, in different metres, with some story to give dramatic impulse running thro’ it. I’ve looked at the Donne love poems, but there’s not enough plot in those, heavenly tho’ they are. The Herbert I want to save for a bit, & any- how they wouldn’t do for the purpose I have in mind. ‘Maud’ I can’t face frankly. Is there an English equivalent of the Heine cycles, or Müller (was it he who wrote the Schubert cycles?)?33 Hier sticht nicht nur ins Auge, wie selbstverständlich Britten nach der Vorlage für einen Zyklus suchte, obwohl auch eine Gruppe einzelner Lieder seinem Zweck entsprochen hätte, sondern auch die enge Verbindung zwischen Kom­ponieren und Konzertieren. Die Mehrzahl der Werke entstand entweder für die eigene Konzerttätigkeit oder für befreundete Interpreten – neben Peter Pears auch So- phie Wyss, Nancy Evans, Dietrich Fischer-Dieskau und Galina Višnevskaja sowie auf der instrumentalen Seite Dennis Brain, Julian Bream, Mstislav Rostropovič und Osian Ellis. Von den siebzehn Zyklen und Samm­lungen wurden nur vier ohne Mitwirkung von Britten und/oder Pears uraufgeführt­ (Les Illuminations,

31 Peter Pears, „The Vocal Music“, Benjamin Britten: A Commentary on His Works from a Group of Spe­cialists, edited by Donald Mitchell and Hans Keller (London: Rockliff, 1952), S. 59–73. 32 Siehe Philip Reed, Mervyn Cooke and Donald Mitchell, eds., Letters from a Life, by Britten, vol. 4: 1952–1957 (Woodbridge: Boydell Press, 2008), S. 186. 33 Britten, Letters from a Life, vol. 3: 1946–1951, edited by Donald Mitchell, Philip Reed and Mervyn Cooke (London: Faber and Faber, 2004), S. 121–123. Die angesprochenen Projekte auf Texte von Louis MacNeice und George Herbert wurden nie verwirk- licht, und auch die Gedichte von Thomas Lovell Beddoes und Frederic Prokosch, die Sackville-West ihm auf seinen Brief hin vorschlug, griff Britten nicht auf (siehe ebd., S. 121).

16 A Charm of Lullabies, The Poet’s Echo, Quatre chansons françaises). Außerdem spielte Britten die ersten Aufführungen derCanticles mit Klavierbegleitung,­ Pears sang alle fünf. Seven Sonnets of Michelangelo, Serenade, A Charm of Lullabies, , Songs and Proverbs of William Blake und Who Are These Children? sind aus- drücklich für eine konkrete Stimmlage konzipiert, also für Tenor, Mezzosopran oder Bariton. Mit Ausnahme von Seven Sonnets of Michelangelo und A Charm of Lullabies dürfte dies eine Frage der Klangfarbe gewesen sein, da im Text nichts auf ein bestimmtes Geschlecht hindeutet. Dagegen ist The Holy Sonnets of John Donne für hohe Stimme bestimmt, obwohl sich zumindest in den Nummern fünf und sechs ein männlicher Sprecher abzeichnet.34 Alle anderen Zyklen sind ebenfalls für hohe Stimme geschrieben, auch wenn die Sechs Hölderlin-Fragmen- te schlicht als „for voice“ bezeichnet sind. Transponierte Ausgaben wurden nicht veröffentlicht. Daß Britten einer Transposition der Zyklen eher ablehnend­ ge- genüberstand, verdeutlicht die Tatsache, daß er Janet Baker zwar die Aufführung einer trans­ponierten Fassung von Winter Words genehmigte, aber betonte, daß er damit nicht wirklich glücklich war.35 Für die Seven Sonnets of Michel­angelo ge- nehmigte er 1954 eine um eine kleine Terz transponierte Aufführung­ durch den französi­schen Bariton Bernard Lefort.36 Zu der daraufhin von seinem Verleger Erwin Stein vorgeschlagenen Veröffentlichung dieser Fas­sung37 kam es jedoch nicht, und 1975 lehnte Britten anläßlich einer Anfrage des Baritons John Shirley- Quirk eine Transposition dieses Zyklus grundsätzlich ab.38 Auf der instrumentalen Ebene läßt sich die Dominanz klavierbegleiteter Zy- klen und die auffällige Konzentration der Orchesterzyklen in den frühen Jah- ren (drei zwischen 1936 und 1943, dann nur noch einer von 1958) einerseits zu

34 Im Autograph steht hingegen Tenor. 35 Britten, Letters from a Life, vol. 6: 1966–1976, edited by Philip Reed and Mervyn Cooke (Woodbridge: Boydell Press, 2012), S. 7. 36 Das geht aus Briefen Bernard Leforts an Erwin Stein von Boosey & Hawkes vom 24. Februar 1954 sowie von Stein an Britten vom 1. März 1954 und 14. November 1954 hervor. Die unveröf­fentlichten Briefe befinden sich in der Boosey & Hawkes Korre­ spondenz der Britten-Pears Li­brary. Lefort und Germaine Tailleferre führten die um eine kleine Terz nach unten transpo­nierte Version der Seven Sonnets of Michelangelo am 13. November 1954 in London auf. Am 15. November erschien eine kurze Be­ sprechung in der Times. 37 Brief von Stein an Britten vom 14. November 1954. 38 Unveröffentlichter Brief von Rosamund Strode an R. A. Fell, Managing Director von Boosey & Hawkes, vom 18. Juni 1975 (im Besitz der Britten-Pears Library, works file zu den Seven Sonnets of Michelangelo).

17 dem wachsenden Erfolg der Recitalpartnerschaft mit Pears in Beziehung setzen,­ für die neue Werke benötigt wurden, wie der Brief an Sackville-West zeigt. An- dererseits wurde Brittens orchestrale Produktion später durch die Opern und Chorwerke wie die Spring Symphonie oder das absorbiert. Die zwei Werke, die aus diesem Rahmen herausfallen, Songs from the Chinese mit Gi­ tarren- und mit Harfenbegleitung, wurden wiederum durch Pears’ regelmäßige Arbeit mit Julian Bream und Osian Ellis inspiriert. An die für das 20. Jahrhundert typischen Vokalwerke mit Kammerensemble, etwa von Ravel, Stravinskij, Schönberg, Webern und Vaughan Williams, knüpfte Britten hingegen nicht an, verwandte allerdings für das dritte Canticle wie für die Sere­ nade ein Solo­horn. Die Bestimmung für den Konzertsaal bedingt die Notwendigkeit der Schaf- fung programmgerechter Einheiten, zumal Brittens Programme stets nur zu ei- nem Teil aus eigenen Werken bestanden. Die Spieldauern der Werke mit einem Begleitinstrument liegen zwischen zehn Minuten für Songs from the Chinese und sechsundzwanzig Minuten für The Holy Sonnets of John Donne, die der Orche­ s­terzyklen zwischen einundzwanzig (Les Illuminations) und siebenund­zwanzig Minuten (Our Hunting Fathers).39 Der Umfang beträgt fünf (Our Hunting Fa- thers, On This Island, A Charm of Lullabies) bis zwölf Lieder (Who Are These Children?). Den Liedgruppen eine umfassende Form und auch einen übergeord­ ne­ten Sinn zu verleihen erscheint unter diesen Umständen naheliegend. Ziel der Arbeit ist es daher, einen Überblick über Brittens vielfältige formale Konzep­ ­ tionen zu gewinnen und einen Beitrag zur Interpretation der Werke zu leisten.

1.1 Überblick über die Literatur Brittens Zyklen für Solostimme ist bisher keine umfassende Studie ge­widmet wor­den. Grundlegend zu dem Thema sind noch immer die Arbeiten von Peter Evans, The Music of Benjamin Britten, erstmals erschienen 1979 und in überar­ beiteter Fassung 1989,40 und Arnold Whittall, The Music of Brit­ten and Tippett:

39 Angaben nach Benjamin Britten: A Catalogue of the Published Works, compiled and edited by Paul Banks [et al.], preface by Donald Mitchell (Aldeburgh: The Britten Estate, 1999), S. 30, 49, 75 und 113. 40 Peter Evans, The Music of Benjamin Britten, revised paperback edition (London: Dent, 1989). Zi­tiert ist im folgenden nach dieser Ausgabe; Seitenangaben beziehen sich jedoch gleicherma­ßen auf die neuere Ausgabe (Oxford: Clarendon Press, 1996).

18 Stu­d­ies in Themes and Techniques von 1982 und in zweiter Auf­lage 1990.41 Hinzu kommt für die Zeit bis zur 1943 komponierten Serenade die Dissertation von Christopher Mark, Early Benjamin Britten: A Study of Stylistic and Technical Evolution.42 Alle drei Arbeiten geben wertvolle Einsichten in die musikali­sche Struktur der Zyklen, können als umfassende analytische Studien – Evans und Whittall be­fassen sich jeweils mit dem Gesamtwerk – allerdings nicht jeden Zy­ klus detail­liert diskutieren. Philip Rup­prechts Britten’s Musical Language43 legt den Schwerpunkt auf die Opern und das War Requiem und streift, abgesehen von einem kurzen Abschnitt über Our Hunting Fathers, die Werke für Solostimme­ nur am Rande. Die einschlägigen Kapitel der Sammel­bände, Benjamin Britten: A Commen­tary on his Works from a Group of Specialists, The Britten Com­panion44 und The Cambridge Companion to Benjamin Britten45, sind als knappe, an ein breites Publikum gerich­tete Einführungen konzipiert. Hier ist aufgrund der per- sönlichen Nähe des Autors zu Britten besonders Pears’ Bei­trag hervor­zuheben.46 Aus Einführungsvorträgen zu einer Reihe von Konzer­ten ist Gra­ham Johnsons Britten, Voice & Piano von 2003 hervorge­gangen.47 Es ist aus der Per­spektive des ausübenden Musikers geschrieben und bietet eine bewußt per­sönliche Ausein- andersetzung mit Brittens Liedern, deren Anmer­kungen zur Musik deskriptiv bleiben. Die für den Liederzyklus wichtige Analyse der Textebene war für die Arbei- ten von Evans, Whittall und Mark nicht relevant. Aber auch Bücher­ wie das von

41 Arnold Whittall, The Music of Britten and Tippett: Studies in Themes and Techniques, second edition (Cambridge: Cambridge University Press, 1990). 42 Christopher Mark, Early Benjamin Britten: A Study of Stylistic and Technical Evolution (New York: Gar­land, 1995). 43 Philip Rupprecht, Britten’s Musical Language (Cambridge: Cambridge University Press, 2001). 44 Den Vokalzyklen sind die Beiträge von Peter Porter, „Composer and Poet“, S. 271– 285, Gra­ham Johnson, „Voice and Piano“, S. 286–307, und Christopher Palmer, „Em- balmer of the Midnight: The Orchestral Song-cycles“, S. 308–328, gewidmet. 45 Ralph Woodward, „Music for Voices“, The Cambridge Companion to Benjamin Brit- ten, edited by Mervyn Cooke (Cambridge: Cambridge University Press, 1999), S. 260–275. 46 Peter Pears, „The Vocal Music“, Benjamin Britten: A Commentary on His Works, ed. by Mitchell and Keller, S. 59–73. 47 Graham Johnson, Britten, Voice & Piano: Lectures on the Vocal Music of Benjamin Britten, Guild­hall School of Music & Drama Research Studies, 2 (Aldershot: Ashgate, 2003).

19 Johnson und Humphrey Carpenters Benjamin Britten: A Biog­raphy48 ver­las­sen sich vornehmlich auf die eigene Interpretation und greifen kaum auf Fachli- teratur zu den vertonten Dichtern zurück. Nun mag das Ver­fahren, die Inter- pretation der Texte auf Fachliteratur zu stützen, die Britten in der Regel nicht kennen konnte, problematisch erscheinen. Konkrete Äußerungen Brit­tens zu seinen Zyklen gibt es jedoch nur sehr wenige, so daß es ohnehin nicht möglich ist, sein Verständnis der Texte zu rekonstruieren. Die Auseinanderset­zung mit den jeweiligen Dichtern und ihrer geistigen Welt sowie mit der Vielfalt­ der mit- unter konträren Interpretationen ist bei der Beschäftigung mit den Lie­dern und der Suche nach schlüssigen Zykluskonzepten jedenfalls oft unge­mein fruchtbar. Daß Interpretation immer bis zu einem gewissen Grade sub­jektiv ist und daß die vielfältigen Perspektiven, aus denen ein Kunstwerk be­trachtet werden kann, Teil seiner Faszination ausmachen, soll damit nicht in Ab­rede gestellt werden. Gerade deshalb schien es wichtig, sie auf eine breitere Basis zu stellen. Wenig überzeugend ist Carpenters Ansatz einer autobiographischen In­ terpretation der Werke, auf die er seine Charakterstudie Brittens stützt. Jede nicht direkt auf Britten selbst bezogene Deutung wird dadurch ausgegrenzt. Besonders ärgerlich ist Carpenters offenkundiges Bestreben, vornehmlich mög- liche Hinweise auf angebliche sexuell begründete Schuldgefühle Brittens zu su- chen. Beispielsweise schließt er aus dem Umstand, daß Britten für „Pa­rade“ aus Les Illuminations musikalisches Material eines unvollendeten älteren Werkes verwandte,49 selbstverständlich und ohne dies im einzelnen zu belegen auf einen autobiographisch gefärbten in­haltlichen Bezug: Britten’s vivid treatment of these words is based on the original version of the Alla Mar- cia incorporated into his string quartet subtitled “Go play, boy, play” in which he had attempted to portray Francis Barton and other schoolboy loves. This hell of grotesque sexuality, Les Illuminations seems to be saying, is where his adolescent crushes have fi- nally brought him.50 Eine Erklärung für den Zyklusschluß, « Départ dans l’affection et le bruit neufs », bleibt er unter diesen Umständen bezeichnenderweise schuldig. Arthur Rim- bauds hermetische Illuminations haben eine Vielzahl höchst unterschied­licher Interpretationen erfahren,51 denen­ Carpenter hier, was legitim ist, seine eigene

48 Humphrey Carpenter, Benjamin Britten: A Biography, paperback edition (London: Faber and Fa­ber, 1993). 49 Siehe Banks [et al.], eds., Benjamin Britten: A Catalogue of the Published Works, S. 16. 50 Carpenter, Britten, S. 138. 51 Zur Interpretation von „Parade“ siehe unten, S. 142/143.

20 Version hinzufügt. Es ist je­doch schade, daß von der faszinierenden und verwir- renden Vielfalt der Auslegungen­ gerade von „Parade“ in seiner ein­dimensionalen Deutung nichts er­halten ist. Problematisch scheint zudem, daß er sich einerseits auf eine Passage beruft, « On les envoie prendre du dos en ville »,52 die zwar in der Literatur zu Rimbaud oft als Anspielung auf Homo­sexualität gewertet wird, bei Britten aber fehlt (was Carpenter auch vermerkt),53 und andererseits auf ein verkürztes, aus verschiedenen Absätzen zusammengestelltes­ Zitat: “‘very sturdy rogues’ who ‘have made use of you and your like’, with their ‘bestial poses and caresses’”54 – der erste Teil ist der Anfang des Ge­dichts und lautet in der von Brit­ten ver­wandten und von Carpenter zitierten Übersetzung Helen Roothams vollstän­dig: “These are very sturdy rogues. Many of them have made use of you and your like.” Der zweite Teil entstammt hingegen erst dem zweiten Absatz: “Chinese, Hottentots, gypsies, simpletons, hyænas, Molochs, old insanities, sin­ ister demons, they alternate popular or maternal tricks with bestial poses and caresses.”55 Zweifelhaft ist auch sein Vorgehen im Falle von The Holy Sonnets of John Donne, deren ver­worfenen Epilog er verkürzt zitiert, um die These zu stützen, es gehe hier um das Fortbestehen der Angst vor Tod und Verdammnis.56 Den von Brit­ten vertonten Ausschnitt aus der Meditation von Donnes „Devotion 17“ reduziert er auf: “Perchance he for whom this Bell tolls, may be so ill, as that he knowes not it tolls for him … And therefore never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee.”57 Ausgelassen hat er dabei Sätze wie “No man is an Iland, intire of it selfe” und “any mans death diminishes me, because I am in­ volved in Mankinde”, 58 die für die Interpretation dieses Epilogs offensichtlich von erheblicher Bedeutung sind.59

52 Zit. nach Rimbaud, Œuvres, sommaire biographique, introduction, notices, relevé de variantes, biblio­graphie et notes par Suzanne Bernard et André Guyaux, nouvelle édi- tion (Paris: Dunod, 1997), S. 261. 53 Siehe unten, S. 149/150. 54 Carpenter, Britten, S. 138. 55 Zit. nach Prose Poems from ‘Les Illuminations’ of Arthur Rimbaud, put into English by Helen Rootham with an introductory essay by Edith Sitwell (London: Faber and Faber, 1932), S. 80. 56 Carpenter, Britten, S. 228. 57 Zit. nach ebd., S. 228. 58 Zit. nach John Donne, Complete Poetry and Selected Prose, ed. by John Hayward (1929; reprint London: Nonesuch Press, 1941), S. 537/538. 59 Für den vollständigen Text von Brittens Epilog siehe unten, S. 291.

21 In den USA sind eine Reihe von Dissertationen zu einzelnen Zyklen ent­ standen. Erwähnenswert sind hier vor allem die Arbeiten von Vicki Pierce Stroeher, Form and Meaning in Benjamin Britten’s Sonnet Cycles60, die sich mit dem Wort-Ton-Verhältnis befaßt, sowie Celeste Mildred Emmons, “Our Hun- ting Fathers” by Benjamin Britten and W. H. Auden: A Musical and Textual Ana- lysis61, und Gail Diane Lewis, Benjamin Britten’s Writing for Horn with Tenor Voice: Serenade­ op. 31, The Heart of the Matter, Nocturne op. 6062, die beide in der musikali­schen Ana­lyse hinsichtlich der Zyklusbildung keine über die Arbeiten von Mark, Evans und Whittall hinausgehenden Erkenntnisse bringen.

1.2 Anmerkungen zu den herangezogenen Quellen Die Bücher, denen Britten seine Texte entnahm, haben sich zu einem großen Teil im Bestand der Britten-Pears Library erhalten. Sie tragen vielfach Markierun- gen, die zu den Zyklen in Verbindung stehen, was von einfachen Anstreichungen bis zu fertig ausgeschriebenen Konzepten reicht. In einer Reihe von Büchern sind einzelne Gedichte im Inhaltsverzeichnis durch Striche, gelegentlich auch Kringel oder Kreuze, gekennzeichnet, was ihren Urheber nicht erkennen läßt. Nicht immer stehen die betreffenden Gedichte mit dem entsprechenden Zyklus in Zusammenhang. Beispielsweise markieren die Kreu­ze im Inhaltsverzeichnis seiner Ausgabe der Collected Poems von Thomas Hardy63 kein einziges der in Winter Words vertonten Gedichte. Mitunter treten ver­schiedene Arten der Mar­ kierung nebeneinander auf, die sowohl auf ver­schie­dene Urheber als auch auf verschiedene Kontexte hindeuten könnten und nicht einmal zeitgleich entstan­ den sein müssen. Außerdem sind in den Vorla­gen zu The Holy Sonnets of John Donne, On This Island und Les Illuminations nur Gedichte aus den fertigen Zy- klen gekennzeichnet, obwohl jeweils mehr Texte vertont wurden, was vermuten läßt, daß die Markierungen hier nicht bei der Auswahl der Gedichte, sondern

60 Vicki Pierce Stroeher, Form and Meaning in Benjamin Britten’s Sonnet Cycles (Doctor of Philos­ophy, University of North Texas, 1994). 61 Celeste Mildred Emmons, ‘Our Hunting Fathers’ by Benjamin Britten and W. H. Au- den: A Musi­cal and Textual Analysis (Doctor of Musical Arts, The University of North Carolina at Greens­boro, 1994). 62 Gail Diane Lewis, Benjamin Britten’s Writing for Horn with Tenor Voice: ‘Serenade’ op. 31, ‘The Heart of the Matter’, ‘Nocturne’ op. 60 (Doctor of Musical Arts, University of Wisconsin-Madison, 1995). 63 The Poetical Works of Thomas Hardy, vol. I: Collected Poems: Lyrical, Nar­ratory, and Reflective (Lon­don: Macmillan, 1923).

22 zu einem späteren Zeitpunkt – beispielsweise im Zusammenhang mit der Ver­ öffentlichung – gemacht wurden. In anderen Fällen sind die Gedichte selbst angekreuzt oder angestrichen. Manchmal verweisen sogar Nummern oder Buchstaben auf die Position des be- treffenden Gedichts im Zyklus. Auch hier handelt es sich immer ausschließ­lich um Gedichte des fertigen Zyklus, selbst wenn weitere Vertonungen ent­standen. Hingegen besteht mit Ausnahme von A Birthday Hansel kein Zusam­menhang zwischen Vertonungen und durch umgefaltete Ecken mar­kierten Sei­ten. Kür- zungen sind gleichfalls vielfach eingetragen – durch Striche oder Klammern –, aber auch hier ist es im Einzelfall durchaus wahrscheinlich, daß die Eintragun- gen erst später in bezug auf die fertige Komposition vorgenommen­ wurden. Von besonderem Interesse sind dagegen die Fälle, in denen Britten auf dem Buchdeckel oder Vorsatzblatt Listen von zur Vertonung in Frage kommenden­ Gedichten angelegt oder eine vorläufige Textfolge notiert hat. Zum Nocturne bestehen zudem separate Aufzeichnun­gen in einem Skizzenbuch – sowohl eine mögliche Textsequenz als auch eine handschriftliche Abschrift der Gedichte (ähnlich verfuhr Britten bei an­deren großen Vokalwerken wie dem War Requi- em). Ebenso existieren ein sepa­rates Skizzenbuch für Brittens letzten Zyklus A Birthday Hansel sowie maschi­nenschriftliche Abschriften der Gedichte dieses Zyklus und der Songs and Pro­verbs of William Blake. Die verschiedenen Stadien, die Brittens Kompositionen durchliefen, hat Rosamund Strode beschrieben: For Benjamin Britten, once he had reached that point of putting something­ down, this involved several distinct stages: (i) the original manu­script composition sketch or draft; (ii) developments from that in order to obtain a performance, e.g. the full score (entirely or mainly autograph),­ vocal/instrumental score, parts, etc. (fair copies often entirely or partially made by a copyist); (iii) revisions (often based on experience­ gained at the first performance), edited copies, printers’ proofs etc. (i.e. interim materials) leading to (iv) the publication of the first edi­tion, avail­able on sale to the public. The text of this would be corrected when re­printed, or it might even be succeeded by (v) a reset second edi­tion.64 Über seine Arbeitsweise an der Kompositionsskizze schreibt sie: The pencil drafts had small corrections made with the help of a rubber; larger unwanted passages were crossed out but usually remained visible. He would use separate bifolia of

64 Rosamund Strode, „Writing and Copying: A Superficial Survey of Benjamin Britten’s Mu­sic“, On Mahler and Britten: Essays in Honour of Donald Mitchell on His Seventieth Birthday, edited by Philip Reed, Aldeburgh Studies in Music, vol. 3 (Woodbridge: Boy- dell Press, 1995), S. 280.

23 paper one at a time (i.e. four pages) and if a whole leaf (two pages) were to be scrapped it was torn away from its twin. A single loose leaf in the middle of a Britten manu­script otherwise consisting of bifolia should send one looking for the ‘missing’ half. Occasionally traces of ink appear on a pencil composition sketch – alter­ations or the addition of small details: the composer’s ink fair copy always matches these, both as to ink colour and in the musical text.65 Reinschriften und Aufführungsmaterial waren grundsätzlich mit Tinte ge­ schrieben.66 Die Kompositionsskizze gibt die Zyklen mithin in ihrer endgültigen Rei­hen­ folge wieder und beinhaltet nicht die verworfenen Kompositionen und Frag­ mente, die zu einer Reihe von ihnen existieren. Gesonderte Skizzen gibt es nur sehr wenige. Ziel meiner Arbeit an den Kompositionsskizzen, die überwiegend­ von Mikrofilmen erfolgte, war die Suche nach Erkenntnissen, die das Ver­ständnis der Zyklen und ihrer Entwicklungsge­schichte erweitern. Es konn­te nicht Sinn dieser Arbeit sein, eine exakte Beschreibung­ der Kompositi­onsskiz­zen zu er- stellen oder über jede Abweichung gegenüber der veröffent­lichten Fassung Re- chenschaft abzulegen. Nur selten betreffen sie den Zusammenhang­ des Ganzen, weshalb die Kompositionsskiz­zen für die Arbeit eine erheblich geringere Rolle spielen werden als die literari­schen Quellen.

65 Ebd., S. 283. 66 Ebd., S. 284.

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