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VIELFALT GESTALTEN

Leben ist nicht uniform 2/2019 AUSGABE 36 Wendezeiten die NVA, Bundeswehr Die dieund Militärseelsorge Brücken zumBrücken Feind Kann man im Einsatz schon an Versöhnung denken?

Blond und blauäugig? Soldatin muslimische Eine gibt Denkanstöße EVANGELISCHE KOMMENTARE ZU FRAGEN DER ZEIT 2 nhalt I

04 Wir träumen von einer besseren Welt

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW 06 Editorial

SCHWERPUNKT 23 After Identity? VIELFALT Die identitätspolitische Herausforderung GESTALTEN der Demokratie – ein Blick auf Debatten in den USA 08 Wir verstehen so weit, Von Roger Mielke wie wir lieben Philosophische und theologische 26 Wenn Rechte Recht haben ­Bemerkungen zum Umgang mit könnten ­kultureller und religiöser Diversität Die offene Gesellschaft muss Von Henning Wrogemann die Trennlinie zwischen legitimem Meinungsstreit und Missachtung 11 Je bunter, desto stärker des demokratischen Werte- und Im Wettbewerb um geeignete Mitarbeiter Verfahrenskonsenses im Auge behalten setzt der Arbeitgeber Bundeswehr auf Von Frank Decker ­aktives Diversity-Management Vom Stabselement Chancengerechtigkeit, 30 Wie die Kirche divers wurde Vielfalt und Inklusion Eine systematisch-theologische ­Spurensuche 15 „Bin ich weniger Soldat?“ Von Sarah Jäger Leutnant zur See Nariman ­Hammouti-Reinke über die Sprachen 32 Vielfalt ist nicht schwer ­ihrer Kindheit, Rassismus und das lange Militärische Kultur wird wesentlich Warten auf muslimische Seelsorger durch Vorschriften bestimmt. Aber der Interview: Felix Ehring gesellschaftliche Wandel muss auf allen Ebenen der Organisation mit Leben 19 Wahlverwandt­schaften ­gefüllt werden Zu unserem Titelbild Manche kirchliche Milieus haben eine Von Hartmut Stiffel Begegnung auf Augenhöhe im Nähe zu populistischen Positionen. Aquarium. Quallen schwimmen Trotzdem leben in den Gemeinden seit Millionen Jahren durch die Nächstenliebe und Willkommenskultur Ozeane. Sie stellen keine hohen Von Gert Pickel Ansprüche an ihre Umgebung und sind in ihrer Vielartigkeit Überlebenskünstler. Vielfalt ist effektiv. Vielfalt bedeutet (Über-) Leben. Aber wie fremd darf das Andere sein? Sympathie bedeu- tet auch: Ich mag dich – weil ich mich selbst in dir erkenne. Das gelingt nicht immer. 3 nhalt I INHALT

SICHERHEITSPOLITIK INNERE FÜHRUNG GLAUBENSFRAGEN

38 Frieden hat Partner im BMVg 54 Ethik tut not 64 Armee, das waren die anderen Über die Etablierung eines Dialogs Ein Gespräch zur neuen Ethikvorschrift Mit der Wiedervereinigung änderte sich ­zwischen Ministerialbeamten und Von Walter Linkmann der Blick von zivilen Gemeindemitglie- ­Friedensforscher*innen dern und Soldaten aufeinander Von Claudia Baumgart-Ochse 56 Die persönliche Meinung Von Albrecht Steinhäuser Darf ein Generalmajor sich politisch 40 Strategien sind nicht ­äußern? Ein Zwischenruf 69 „Ich versuche zu bezeugen, dass in Stein gemeißelt Von Arnd Brummer Glauben eine gute Idee ist“ Warum Deutschland mit dem Oberst i. G. Sascha Zierold sagt, wie der gesamtstaatlichen Ansatz 57 Geschichte als Helfer in der Not Glaube seinen Dienst prägt und wie man sicherheitspolitisch mehr Verantwortung und ethische Bremse christlich bleibt, wenn man regelmäßig übernehmen kann und muss Die „Richtlinien zum Traditionsver­ Anschläge erlebt Von Martin Lammert ständnis und zur Traditionspflege“ Interview: Gabriele Meister ­markieren einen Perspektivwechsel Von Uwe Hartmann 72 Kirche unter den Soldaten Die Kapelle im Fliegerhorst Wunstorf FRIEDENSETHIK Von Walter Linkmann

44 Brücken zum Feind BÜCHER Frieden beginnt im Krieg. 73 Impressum Wie sieht ein versöhnungsfördernder Rezensionen zu Auslandseinsatz aus? 74 Querdenker Von Martin Leiner 59 Lütz / van Husen: Die uniforme Individualität Als der Wagen nicht kam 49 Der Zaun zwischen Global Zero und nuklearer Teilhabe steht in Büchel 60 Kayß: Identity, Motivation Zum „Kirchlichen Aktionstag gegen and Memory Atomwaffen“ am 7. Juli 2019 Von Roger Mielke 60 Rink: Können Kriege gerecht sein?

50 Gerechter Frieden 61 Reisner: Robotic Wars verzweifelt gesucht Kirchen als Akteure für gerechten 62 Reller: Die Anfänge der Frieden in Simbabwe: Die Dimension des ­Evangelischen Militärseelsorge christlichen Glaubens ist allgegenwärtig Von Tim Kuschnerus

Das Archiv vergangener ZUR SACHE BW- Magazine und die Linkliste zur aktuellen Ausgabe finden Sie auf der Website der Evangelischen Militärseelsorge unter www.eka.militaerseelsorge.bundeswehr.de > Service > Publikationen > ZUR SACHE BW. Oder scannen Sie mit dem Smartphone diesen QR-Code: „Unser Land hat die Menschenrechte nicht erfunden. Tatsächlich ist es andersherum: Die Menschenrechte haben Amerika erfunden.“

Jimmy Carter 1981 in seiner Abschiedsrede an die Nation Sam Dotson, Polizeichef von St. Louis, stellt sich am 2. Oktober 2016 nach einem neuerlichen Fall von Polizeigewalt­ den Fragen der Bevölkerung. Zwei Beamte­ hatten kurz zuvor einen 14-jährigen Schwarzen mit Schüssen schwer verletzt

Wir träumen von einer besseren Welt 5 6 Schwerpunkt Schwerpunkt ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW

Liebe Leserinnen und Leser! Das Leben ist nicht uniform, sondern immer vielfältig. Das ist keine neue Entwicklung. Vielfalt war immer zu gestalten: Sobald Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, mit unterschiedlichen Lebenswegen und unterschied­lichen Lebensentwürfen zusammenkamen, galt es, damit umzugehen. Nicht nur unsere deutsche Geschichte hat gezeigt, dass der Zwang zur Uniformität häufig dazu führte, Menschen auszugrenzen, abzuschieben, ja: ihr Recht auf Leben zu bestreiten. Es hat Jahrhunderte und viele gewaltsame Auseinandersetzungen gedauert, bis wir gelernt haben, trotz aller Unterschiede in Frieden mit­ einander zu leben. Das ist die Lehre nach zwei deutschen Diktaturen: Vielfalt gehört zum Leben und bereichert die Gesellschaft. In dieser Ausgabe haben wir versucht, einige Aspekte zu beleuchten, wie Vielfalt heutzutage gestaltet werden kann. Gleichzeitig haben wir eine neue Rubrik aufge­ macht, in der wir aus der Vielfalt guter Bücher auf einige besonders gute hinweisen. Bei der Lektüre wünsche ich Ihnen vielfältige Einsichten!

Dr. Dirck Ackermann, Chefredakteur ZUR SACHE BW VIELFALT GESTALTEN

Beim „ABC Disco Ball“ in Jahren den 1970er in Los Angeles tanzen Besucher eines Konzerts der Band Village People zum Lied „YMCA“ 8

CHWERPUNKT S WIR VERSTEHEN

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW SO WEIT, WIE WIR LIEBEN

Philosophische und theologische Bemerkungen zum Umgang mit kultureller und religiöser Diversität Von Henning Wrogemann

as Thema kulturelle Unterschiedliche Konzepte Anders das Bild der Salatschüs- und religiöse Diversität von Verschiedenheit sel: Die Zutaten zum Salat blei­ D ist klärungsbedürftig. Für das Thema Pluralismus wer­ ben erkennbar unterschieden, Wie wird der Begriff Pluralis­ den verschiedene Metaphern ihnen wird aber durch das mus verstanden, wenn Multi­ verwendet. Eine Einwande­ Dressing eine gemeinsame Ge­ kulturalität von den einen als rungsgesellschaft (etwa in den schmacksnote gegeben. Es geht erstrebenswert, von den ande­ USA) wurde als ein Schmelztie- um einen starken Pluralismus ren aber als eher problematisch gel bezeichnet: Die Gesellschaft im Sinne bleibender Verschie­ betrachtet wird? Wie ist ein wird durch (anderskulturelle) denheit. Wie stark aber darf Verstehen des Fremden in sei­ Einwanderer wie die Metallle­ die Verschiedenheit kulturell- ner kulturellen oder religiösen gierung in einem Schmelzkes­ religiöser Einzelgruppen sein? Andersheit überhaupt möglich? sel bereichert, so der Gedanke. Wie stark muss der Kitt sein, Welche theologischen Ressour­ Das Bild deutet Pluralismus in­ den eine Gesellschaft braucht, cen sind vorhanden, die einen des nur schwach als Übergangs- um nicht auseinanderzufallen? konstruktiven Beitrag zum Mit­ phänomen. Die Einwanderer, so Worin besteht dieses Gemein­ einander im Pluralismus be­ die implizite These, werden sich same: Loyalität zum Gesetz? gründen können? schon weitgehend assimilieren. Gemeinsame Amtssprache? Ge­

Woher die Einwanderer der USA kommen (in Prozent)

Afrika 5,4 andere 2,1

Europa 10,1 Asien 30,4

Mittelamerika 8

andere lateinamerikanische Staaten 16,7 Mexiko 27,3 Quelle: The Hamilton Project, Datengrundlage: Bevölkerungserhebung des US-Bureau of Labour Statistics 2017 9 CHWERPUNKT S

Diversität im Schaufenster:­ Fremd ist nur, was man als fremd empfindet

meinsame Werte, und wenn ja, Das Ich als Maßstab welche? Gemeinsame kulturel­ für das Fremde le Umgangsformen? Eine Leit­ Für eine philosophische wie kultur? theologische Verstehenslehre Der jeweilige Pluralismus­ (Hermeneutik) des Fremden begriff hat Auswirkungen auf ist festzuhalten, dass der / das die politischen Vorstellungen Fremde als Relationsbegriff zu darüber, wie Staat und Gesell­ verstehen ist: Fremd ist jemand Prof. Dr. Henning schaft mit der kulturell-religiö­ oder etwas für mich, den oder Wrogemann ist Inhaber sen Fremdheit der anderen um­ das ich als fremd empfinde. Das des Lehrstuhls für Religions­ gehen sollen. Wer aber wird Problem des Fremdverstehens wissenschaft und Interkulturelle von wem als fremd oder anders ist, das Fremde jenseits einer Theologie an der Kirchlichen identifiziert? Vereinnahmungs- oder einer Hochschule Wuppertal / Bethel und Leiter des Instituts für Ausgrenzungshermeneutik in Interkulturelle Theologie seiner Eigenheit zu verstehen. und Interreligiöse Studien Das / der Fremde darf weder als (www.iitis.de) „Wie ich . . .“ vereinnahmt noch

Literaturhinweise Henning Wrogemann, Theologie Interreligiöser Beziehungen. Religionstheologische Denkwege, kultur­ wissenschaftliche Beobachtungen und ein methodischer Neuansatz, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015, 480 Seiten, 40 Euro.

Henning Wrogemann, Muslime und Christen in der Zivilgesellschaft. Religiöse Geltungsansprüche und die Frage der Toleranz aus religions- und missionswissenschaft­ licher Sicht, Evangelisches Verlagshaus, Leipzig 2016, 262 Seiten, 34 Euro. als kindisch, unzivilisiert oder wenn sich die zuerst übersehe­ 10 gar krank ausgegrenzt werden. nen Unterschiede bei näherer Eine gut gemeinte Ideologie Betrachtung als weitaus größer der Gleichheit überspringt das herausstellen als bisher gedacht, Fremde ebenso wie eine abweh­ zu einer inneren Entfremdung rende Essentialisierung, frem­ kommen. Fremdverstehen CHWERPUNKT

S de Kulturen seien nun einmal führt also nicht zu einer Ein­ (und für immer) mit der eige­ heit und unkritischen Harmo­ nen nicht vereinbar. Beide An­ nie, sondern zu einer bestimm­ sätze stimmen darin überein, ten Art von Beziehung in Distanz. das Fremde nach dem Maßstab Das muss so sein, da andern­ des Eigenen („Ganz wie ich ...“, falls sich das Fremde an mich „Ganz anders als ich . . .“) zu ver­ assimiliert oder umgekehrt ich

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW stehen. mich an das Fremde assimiliert Kulturelle und religiöse hätte. In beiden Fällen wäre die Vielfalt zu verstehen, bedarf Eigenständigkeit entweder des daher einer hohen Sensibilität Fremden oder des Eigenen auf­ für diejenigen Urteile, die wir gehoben. zumeist unbewusst vorausset­ der als der unsichtbare und Gott beantwortet die Tötung zen. Methodisch bedeutet dies, Gottesoffenbarung verborgene Gott dem Menschen seines Sohnes am Kreuz nicht das aus meiner Perspektive als vollkommene fremd war, erweist sich darin mit Gewalt, sondern durch die ­Fremde zunächst einmal aus Hermeneutik des Fremden als der vollkommene Hermeneut Auferweckung Christi mit ei­ seinem eigenen Kontext her­ Nach diesen skizzenhaften des Fremden, dass er durch das nem letzten Zeichen seiner gött­ aus zu verstehen. Es bedeutet Bemerkungen einige wenige Christusgeschehen die in der lichen Liebe, die stärker ist als ein aufmerksames Hinhören Hinweise zu einem christlich Welt wirkende Macht der Sün­ der Tod. Die christliche Nächs­ darauf, was Menschen über verantworteten Umgang mit de, also diejenige zerstörerische ten- und Feindesliebe basiert sich selbst an Auskunft zu ge­ kulturell-religiöser Vielfalt als Macht, die Menschen den Sinn auf genau diesem Gottesbild, das ben bereit sind. Diese Informa­ Beitrag zu einer pluralistischen ihres Lebens verfehlen lässt und deshalb im Konzert der ande­ tionen können dann in einem Gesellschaft. Der christliche sich in negativen Phänomenen ren Religionen, Weltanschau­ zweiten Schritt mit dem vergli­ Glaube bekennt, dass sich Gott, wie Lüge, Hass und Gewalt aus­ ungen und Kulturen nicht zu chen werden, was ich von mei­ der Schöpfer der Welt, in einem wirkt, überwindet und Versöh­ relativieren, sondern konstruk­ nem eigenen Kontext her für Menschen, in von Naza­ nung schafft. Der Gott der Liebe tiv zu Gehör zu bringen ist. Der „normal“ halte. Wie in einem reth, dem Sohn Gottes, offen­ lehrt, das Fremde zu verstehen, da Kirchenvater Augustinus mein­ Ping-Pong-Spiel geht die Spi­ bart hat: Im Leben Jesu Christi der Mensch, der nun versteht, wer te einmal sinngemäß: Wir ver­ rale des Verstehens immer hin in der Kraft des Heiligen Geis­ Gott wirklich ist, zu einem neuen stehen soweit, wie wir lieben. und her zwischen dem Frem­ tes, in seiner Verkündigung und Leben befreit wird. Was dies hermeneutisch wie den und dem Eigenen, dem Ei­ seinen Taten, in seinem Tod Genau hier nun setzt der praktisch bedeutet, wäre wei­ genen und dem Fremden, da am Kreuz und seiner Aufer­ Beitrag einer theologisch be­ ter zu bedenken. durch das Mehr an Informatio­ weckung durch Gott offenbart gründeten christlichen Hermeneu- nen sich sowohl das Profil des sich der dreieinige Gott als ein tik und Ethik für eine pluralistische Fremden als auch mein eige­ Gott, der Liebe ist (1. Joh 4,16). Gesellschaft an: Ein christlicher nes Profil immer schärfer ab­ Anders gesagt: Gott zeigt sich Umgang mit religiös-kultureller zeichnet. uns Menschen in der Gestalt, Vielfalt von Menschen besteht Dadurch kann es zu einer in der wir ihn am besten ver­ in einer Nächstenliebe bis hin graduell größeren inneren stehen können, dadurch, dass zu einer Feindesliebe, die die Nähe untereinander kommen, er, Gott, Mensch wird. Herme­ Eigenständigkeit und Fremd­ gleichzeitig kann es aber auch, neutisch gewendet: Der Gott, heit der anderen ernst nimmt.

„Fremde werden hintreten und eure Herden weiden, und Ausländer werden eure Ackerleute und Weingärtner sein.“ Jesaja 61,5 11

JE BUNTER, CHWERPUNKT S DESTO STÄRKER

Im Wettbewerb um geeignete Mitarbeiter setzt der Arbeitgeber Bundeswehr auf aktives Diversity-Management Vom Bundesministerium der Verteidigung, Stabselement Chancengerechtigkeit, Vielfalt und Inklusion

ie Globalisierung macht auch vor den Streitkräften nicht halt. Ob im Stabs­element eingerichtet. Es identifiziert UN-Einsatz in Afghanistan oder in der Grundausbildung in Stetten am und analysiert Hürden auf dem Weg zu einer D kalten Markt: Überall treffen Menschen unterschiedlicher Herkunft und vielfältigeren Bundeswehr und soll Chancen­ Kultur aufeinander. Trotz aller Verschiedenheit müssen sie an einem Strang gerechtigkeit, Vielfalt und Inklusion rahmen­ ziehen – jeder wird gebraucht. Die Akzeptanz von Vielfalt ist kein Selbstzweck, gebend gestalten. Oft wird die Frage gestellt, sondern schlichte Notwendigkeit. Besonders für die Streitkräfte multikultureller warum das Ministerium diesem Thema einen Gesellschaften wie Deutschland. so hohen Stellenwert einräumt. Dieser Beitrag Um Chancengerechtigkeit, Vielfalt und Inklusion in der Bundeswehr zu beschreibt und bewertet die Chancen und He­ fördern, wurde 2015 im Bundesministerium der Verteidigung ein spezielles rausforderungen einer „diversen Bundeswehr“.

Stabsfeldwebel Manfred Faget, der durch einen schweren Motorrad­ unfall den linken Arm verlor, bei den Invictus Games 2018 in Sydney, Australien Im öffentlichen Dienst werden seit vielen Jahren Regelungen, gesetzliche Vor­ Gläubige und Nichtgläubige, Menschen mit 12 schriften sowie Strategien und Konzepte erstellt, die einen positiven Umgang mit und ohne Migrationshintergrund, Menschen gesellschaftlicher Vielfalt fördern. Diese beziehen sich in der Regel auf bestimmte unterschiedlicher sozialer Herkunft, sexueller Merkmale, insbesondere Geschlecht oder ethnische Herkunft. Seit dem Inkraft­ Orientierung und Geschlechtsidentität führen treten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes sind vor allem die Arbeitge­ durch ihre unterschiedlichen Lebenserfahrun­ ber direkt und aktiv gefordert, Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, eth­ gen und Qualifikationen zu innovativeren und CHWERPUNKT

S nischer und kultureller Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, kreativeren Problemlösungsstrategien. Diese Alter, sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität zu verhindern. Erkenntnis muss gezielt in die Arbeitsprozesse Die Bundeswehr misst diesem Punkt besondere Bedeutung zu, was schon eingebunden werden. Denn die Professionali­ durch die im April 2015 erfolgte Einrichtung des unmittelbar zum Ministerium tät, Stärke und damit die Einsatzbereitschaft gehörenden Stabselements Chancengerechtigkeit deutlich wird. Dieses Stabsele­ der Bundeswehr hängen entscheidend davon ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW

Vielfalt ist in vielen Einheiten längst Alltag: ­Soldaten des Wachbataillons im Jahr 2016 an der Marineschule Mürwik

ment war im Mai 2016 um die Themen Vielfalt und Inklusion erweitert worden; ab, ob sie Herausforderungen schnell und in­ im Februar 2017 kam die Ansprechstelle Diskriminierung und Gewalt in der novativ begegnen kann – mit einem breiten Bundeswehr hinzu. Sie hat für alle aktiven und ehemaligen militärischen und Repertoire an Blickwinkeln, Fähigkeiten und zivilen Mitarbeiter ein offenes Ohr, die Diskriminierung, Mobbing, körperli­ Charakteren. cher oder seelischer Gewalt ausgesetzt sind, und unterstützt bei der Aufklärung. Ausdruck findet der Vielfaltsgedanke im Konzept „Vielfalt und Inklusion im Geschäfts­ Jeder neue Blickwinkel ist eine Chance bereich des Bundesministeriums der Vertei­ Dahinter steht, dass die Bundeswehr den Anspruch hat, alle gesellschaftlichen digung“. Das Konzept als Teil einer personal­ Gruppen anzusprechen. Sie versteht Vielfalt ausdrücklich als Chance und will strategischen Gesamtperspektive richtet sich daher für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein offenes, diskriminierungs­ an Bundeswehrangehörige sowie an poten­ freies Umfeld schaffen. Das Ziel eines nachhaltigen Vielfaltsmanagements wurde zielle Bewerberinnen und Bewerber. Danach auch in Grundsatzdokumenten wie dem Weißbuch zur Sicherheitspolitik und verfolgt Diversity-Management die Ziele, die zur Zukunft der Bundeswehr (2016) verankert. Die Arbeit des Stabselements Potenziale zum Nutzen der Organisation zu dient letztlich einem übergeordneten Ziel: der Personalgewinnung und vor allem fördern, die Chancengerechtigkeit zu gewäh­ der Personalbindung und -entwicklung, also der Zukunftsfähigkeit einer ein­ ren, Diskriminierungen vorzubeugen sowie satzbereiten Bundeswehr. weitere Talente für die Bundeswehr zu gewin­ Sie ist bei näherem Hinsehen schon heute so divers wie kein anderer Arbeitge­ nen. Im Mittelpunkt steht dabei das wertschät­ ber: Soldatinnen und Soldaten, zivile Beschäftigte, Junge und Alte, Erfahrene und zende Miteinander, das eng mit der Persön­ weniger Erfahrene, Menschen mit und ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen, lichkeit eines jeden Menschen verbunden ist.

Offizieranwärter Arthur (26) kam als Frau zur Bundeswehr. Im Interview berichtet er von seinem Leben als Transmann in der Truppe: „Die Kameradinnen und Kameraden haben mich sehr schnell als Arthur akzeptiert. Nur ein Vorgesetzter hatte offenbar Angst, dass er gegen Vorschriften verstößt und fragte mich, wie er mich denn anreden soll, wenn ich offiziell noch einen weiblichen Namen habe. Aber das war kein wirkliches Problem. Bei der Bundeswehr redet man sich ja meist mit Nachnamen an.“ Das ganze Interview: www.tinyurl.com/zsbw-arthur 13 CHWERPUNKT S

VIELFALT LÄSST SICH NICHT VERORDNEN – SIE IST EINE HALTUNG UND EINSTELLUNG.

Mehr Homosexuelle outen sich am Arbeitsplatz Personenkreis, mit dem die Befragten am Arbeitsplatz 40% über ihre sexuelle Identität sprechen (2007 / 2017) 30%

Kolleginnen 2007 / 2017 20% Führungskräfte Mitarbeiterinnen 10%

Fehlend zu 100 Prozent: „keine vorhanden“ 0% Quelle: IDA, Hochschule Fresenius, Mit keiner/m Mit wenigen Mit der Hälfte Mit vielen Mit der Mit allen Antidiskriminierungsstelle des Bundes Mehrheit Sicherheit zu gewährleisten, bedeutet heute, Krisen und Konflikte möglichst empirisch erhobener Daten möglich, ein aus­ 14 auf Distanz zu halten, ihnen aktiv vorzubeugen oder ihre Auswirkungen zu sagefähiges Lagebild zu den Kerndimensionen begrenzen. Als verlässliches Instrument einer vorausschauenden Außen- und Alter, ethnische und kulturelle Herkunft, Reli­ Sicherheitspolitik ist die Bundeswehr deshalb auf leistungsbereite, belastbare gion und Weltanschauung, Behinderung oder Menschen angewiesen, die durch ihre Ausbildung und ihr Know-how den Auf­ sexuelle Orientierung und Geschlechtsidenti­ trag der Bundeswehr aktiv mitgestalten wollen und können. tät in der Bundeswehr vorzulegen. CHWERPUNKT

S Bereits bei der Implementierung eines mo­ Arbeitgeber im Kampf um die Talente dernen Diversity-Managements spielt die Par­ Die Talente in unserem Land sind jedoch knapp. Der demografische Wandel tizipation der Beschäftigten in den Prozess eine und die Veränderungsprozesse in der Arbeitswelt verschärfen die Konkurrenz entscheidende Rolle. Die Möglichkeit, persön­ der Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb müssen im Wettbewerb um die liche Wünsche und Vorstellungen einbringen wertvollste Ressource – qualifiziertes Personal – positive Anreize gesetzt wer­ zu können, stärkt zusammen mit der gezielten den. Nur wenn sich die Bundeswehr als attraktiver und vielfältiger Arbeitge­ Entwicklungsförderung der Bundeswehrange­

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW ber erweist, ihre Andersartigkeit im Kampf um die geschicktesten Hände und hörigen die Bindung an den Arbeitgeber und klügsten Köpfe aktiv und vorausschauend einsetzt, ihr Beschäftigungsangebot erhöht die Motivation. Dies wird unterstützt konkurrenzfähig gestaltet und sich im Wettbewerb strategisch gut positioniert, durch dialogbasierte Führungsinstrumente kann sie die Menschen für sich gewinnen. wie z. B. Mitarbeitergespräche und die Mög­ Im Fokus der Bundeswehr steht ein aktives Hinwirken auf einen vorurteils­ lichkeit, direkten Vorgesetzten Feedback geben freien Umgang mit den Beschäftigten. Die soziale Kompetenz erfordert aber auch zu können. Eine regelmäßige Überprüfung einen Perspektivenwechsel, kritische Selbstreflexion und die Notwendigkeit, sich der Zufriedenheit aller Beschäftigten, u. a. im eigener Vorurteile und Stereotype bewusst zu werden. Die Bundeswehr setzt da­ Rahmen von Mitarbeiterbefragungen, wird her auf individuelle Kompetenzförderung der Beschäftigten, familienfreundliche wichtige Hinweise auf bestehende Prozesse Arbeitsbedingungen und Maßnahmen zur Erhaltung der Beschäftigungsfähig­ geben und gleichzeitig Handlungsbedarf für keit. Auch trägt ein solches Arbeitsklima zu einer besseren Arbeitszufriedenheit Weiterentwicklungen aufzeigen. bei und beugt möglichen kraftraubenden Konflikten am Arbeitsplatz vor. Die In den letzten Jahren wurden bereits viele Betonung auf Vielfalt vergrößert darüber hinaus den Kreis an Bewerberinnen Veränderungen in Bezug auf eine vielfältigere und Bewerbern und erleichtert am Ende deren Auswahl. Bundeswehr erreicht. Die bisherigen Ergebnis­ Heterogene Teams bieten der Bundeswehr ebenso Vorteile wie deren Beschäftigten: se zeigen aber auch: Veränderungen geschehen Es werden mehr kreative Vorschläge eingebracht, es kommt häufiger nicht von selbst, sie müssen angestoßen wer­ zu tragfähigeren Problemlösungen und die Teams verfügen über eine breitere den. Vielfalt lässt sich nicht verordnen – sie ist Wissens- und Erfahrungsbasis. eine Haltung und Einstellung. Es bedarf daher Die systematische Förderung alternativer Sichtweisen und Einschätzungen hilft, des nachhaltigen Einsatzes von Einfluss und „Betriebsblindheit“ zu vermeiden, und erleichtert die Reaktion auf Unsicherheiten Überzeugungskraft aller Führungsebenen – und Veränderungen. und es braucht Führungsvorbilder, die den Eine verstärkte Förderung und Nutzung der Potenziale der Beschäftigten – ob in Vielfaltsgedanken leben! Entscheidend sind Uniform oder in Zivil – trägt zur Mitarbeitermotivation bei und damit zur Leistungs­ daher die Menschen. Respektvoller Umgang fähigkeit der Streitkräfte. miteinander, Anerkennung von Vielfalt und Wertschätzung sind die Voraussetzungen für Forschungsgegenstand Vielfalt eine erfolgreiche, zukunftsfähige und einsatz­ Nur auf Basis von Fakten können gezielte Maßnahmen eingeleitet, Entscheidun­ bereite Bundeswehr. gen getroffen und Vorurteile bekämpft werden. Doch stehen häufig noch kei­ ne entsprechenden kausalen Messgrößen zur Verfügung. Das Stabselement hat deshalb die Vielfaltsstudie „Bunt in der Bundeswehr?“ beauftragt. Ziel ist es, die Vielfaltsdimensionen und deren quantitative Ausprägungen im Geschäftsbereich Bundesministerium der Verteidigung, Stabs­ des Verteidigungsministeriums zu erfassen. Ferner werden Meinungen und Ein­ element Chancen­ stellungen erhoben, die Aussagen über den Stand der Vielfalt und Inklusion in gerechtigkeit, Vielfalt der Bundeswehr ermöglichen. Mit dieser Erhebung ist es erstmalig auf der Basis und Inklusion

Inklusion Vielfalt

bedeutet für uns Zugehörigkeit und erteilt jeglicher Form beschreibt die Unterschiede von von Ausgrenzung aufgrund von Geschlecht, Nationalität, Menschen. Ein anderes Wort dafür ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, ist Diversität oder Diversity. Sie kann Be­hi­n­derung, Alter, sexueller Orientierung und auch als „Heterogenität“ beschrieben Geschlechts­identität eine deutliche Absage. In einem werden. Die Vielfalt der Menschen inklusiven Arbeitsumfeld ist es gelebte Normalität, gilt es, als Chance mit eigenem Wert verschieden zu sein. Leistungen, Fähigkeiten und vielfältige zu begreifen, immer da wo Gruppen Kompetenzen werden geschätzt und honoriert, Barrieren mit ihren verschiedenen Talenten und in den Köpfen abgebaut und ein tolerantes Betriebsklima unterschiedlichen Lebenssituationen in Kameradschaft und Kollegialität geschaffen. eingesetzt werden. Quelle: BMVg, P ChgVI 15

„BIN ICH WENIGER CHWERPUNKT S SOLDAT?“

Leutnant zur See Nariman Hammouti-Reinke über die Sprachen ihrer Kindheit, Rassismus in der Truppe und das lange Warten auf muslimische Seelsorger Interview: Felix Ehring

Frau Hammouti, vom Cover Ihres Nariman Hammouti-­ Buches schauen Sie den Leser Reinke hat bereits zwei Auslandseinsätze in ziemlich streng an. Beim Lesen Afghanistan absolviert des Buches machen Sie einen sehr und im Dienst gute sympathischen Eindruck. Warum Kameradschaft erlebt, das Cover? aber auch Ablehnung Es ist ein Debattenbuch und ich pro­ voziere eine Debatte, die längst überfällig ist. Mir geht es um eine Diskussion, die ernsthaft geführt werden soll. Wenn ich da vom Cover lächle, denken Leser viel­ leicht: Nehmen wir sie ernst oder nicht?

Wie oft werden Sie von Kamera- den gefragt, woher Sie oder Ihre Eltern stammen? Von Kameraden selten. Im zivilen Leben aber ständig.

Woher kommt der Unterschied? Das liegt daran, dass wir bei der Bun­ deswehr alle Deutsche sind und uns die

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes twittert unter @ADS_Bund spannende Fakten, etwa dazu, wie Algorithmen bestimmte gesellschaft­ liche Gruppen benachteiligen oder wie nah (oder fern) die Staaten der Europäischen Union einer Geschlechtergleichstellung sind. 16

CHWERPUNKT S ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW

„Ich habe bisher mein Leichentuch mit in den Einsatz genommen“ Nariman Hammouti-Reinke

Leutnant zur See ­Nariman Hammouti- Reinke (40) stieg 2005 in die Feldwebellaufbahn ein und wechselte 2016 in die Offizierslaufbahn. Derzeit dient sie in Nord- Uniform gleichmacht. Wir dienen einer wieso ich Deutsche bin. Das sind Leute, holz. Hammouti-Reinke ist Sache. die ich auf Feiern treffe, auf Empfängen, Vorsitzende des Vereins „Deutscher.Soldat. e. V.“, wenn ich für den Verein Deutscher.Sol­ der sich dafür einsetzt, In Ihrem Buch lassen Sie durchklin- dat. unterwegs bin. dass Vielfalt als normal gen, dass die Fragen nach der Her- und als Chance angese- kunft mittlerweile nerven. Warum? Inwiefern spielt Ihr marokkani- hen wird. Ich unterstelle niemandem latenten­ scher Hintergrund für Sie noch eine Rassismus. Mir geht es darum, ­dieses Rolle, welche Bindungen haben Stereo­typendenken abzuschwächen, Sie noch? dieses: Deutsch ist gleichbedeutend mit Ich habe Familie in Marokko, eine weiß, blond, blauäugig. Ich habe mich Großmutter, eine Menge Tanten, Onkel, früher oft gefragt: Bin ich Deutsche? Bin Cousinen und Cousins. Ich spreche die ich Marokkanerin? Mich ärgert, dass wir Sprache. Ich lebe meine Religion, nicht das Jahr 2019 haben und ich mittlerweile besonders streng, aber ich lebe sie. Und seit 14 Jahren in den Streitkräften diene – ich mag das Essen! und mich immer noch erklären muss,

Top-Arbeitgeber im Bereich Chancengleichheit:

1 Google 2 Fraunhofer-­Gesellschaft 3 Volkswagen 4 Siemens 5 Apple

Nariman Hammouti-Reinke:­ 6 Microsoft Ich diene Deutschland. 7 Bosch Rowohlt, Berlin 2019, 8 BMW Group 256 Seiten, 14,99 Euro. 17

Sie sind in Hannover im Stadtteil Sprechen Sie die Sprachen Sie haben Jahre später, 2017, als Linden groß geworden. Was ist heute noch? Mitglied der Bundesversammlung Linden für Sie, wenn Sie an Ihre Die sind etwas eingerostet, aber wenn den Bundespräsidenten mitge- Kindheit zurückdenken? ich eingeladen werde, neulich zum Bei­ wählt. Am Tag der Wahl kam es CHWERPUNKT

Linden war das Arbeiterviertel. Da­ spiel zu einer Geburtstagsfeier einer laut Ihrem Buch zu einem Dialog S mals haben in bestimmten Straßen nur Freundin, die aus dem Iran stammt, mit Sigmar Gabriel, damals Außen- türkische Familien gelebt, oder nur spa­ dann kann ich mich nach einer Stunde minister. Er sagte: „Übrigens, nische oder italienische. Das Viertel war wieder unterhalten. Frau Reinke, bei mir im Außen- sortiert und man selbst wurde auch ein­ ministerium arbeitet auch eine sortiert. Wie kam es, dass Sie dachten: Marokkanerin.“ Ihre Antwort Die Bundeswehr – das könnte für nach kurzer Pause: „Übrigens, Wer hat einsortiert? mich passen! Herr Gabriel, ich bin Deutsche.“ Die Firmen, bei denen die Leute ge­ Ich komme aus einer sehr promilitä­ Können Sie mal Ihre Gefühlswelt arbeitet haben. Die haben Wohnungen rischen Familie. Mein Vater wollte im­ zu dieser Aussage von Gabriel dort gesucht, wo die Landsleute gewohnt mer, dass meine Brüder was Tolles bei schildern? haben. Wir waren eine marokkanische der Bundeswehr werden – Pilot, General, Von einem Vizekanzler und Außenmi­ Familie, die später eingebürgert wurde. mindestens ein Stern. Mein Vater selbst nister habe ich das nicht erwartet. Dass Marokkanische Familien gab es nicht so war bei den Freiheitskämpfern aktiv, er er mich anschaut, ich trage eine deutsche viele in Hannover. hat sich im Untergrund militärisch aus­ Marineuniform, und dann sagt er das. bilden lassen, um gegen das französische Das hat mich in meiner Grundfestigkeit Von den Nachbarskindern Protektorat in Marokko zu kämpfen. Als und dem Respekt vor ihm und seinem haben Sie Sprachen gelernt, er mit seiner Ausbildung fertig war, war Amt erst mal erschüttert. Dann habe ich schreiben Sie. Marokko zum Glück befreit. gedacht: Jetzt sage ich ihm dazu etwas Ja. Wir waren eng befreundet, ich ganz Klares. habe die Freundinnen immer meine Sie hatten vor der Bundeswehr Schwestern genannt. Eine dieser Schwes­ andere Jobs. Eine Prognose, bitte: Wie viele tern war Filiz. Die stammte aus einer tür­ Ja, aber nichts fand ich so richtig sinn­ Generationen benötigen wir in kischen Familie. Irgendwann hat sie mir voll. Dann habe ich 2001 den Film „Pearl Deutschland noch, bis es nicht mehr gesagt, was Gurke auf Türkisch heißt. Da Harbour“ gesehen, der hat mich beein­ seltsam für Leute ist, dass Deutsche habe ich gesagt: Ist ja lustig, auf Marok­ druckt. Ich fand es toll, wie diese Werte auch schwarz sein können? kanisch heißt es auch so. Auf diese Weise vorgestellt wurden: stolz auf sein Land Ach, Gott, noch ein paar? Ich hoffe, haben wir uns nach und nach die Spra­ zu sein. Etwas für sein Land zu tun, auch nicht mehr so viele. Ich hoffe, meine Ge­ che beigebracht. unter schwersten Bedingungen. Zusam­ neration tut alles dafür, dass wir endlich menhalt, Kameradschaft, füreinander als Deutsche akzeptiert und nicht auf äu­ Sie haben unter anderem Farsi einzustehen. Danach habe ich gesagt: ßerliche Unterschiede reduziert werden – gelernt. Ich gehe zur Bundeswehr! damit es die nächste Generation einfa­ Genau, wir haben damals in einer mo­ cher hat. dernen Hochhaussiedlung mit Einkaufs­ Und dann waren Ihre Sprachkennt- passage gewohnt – das blühende Leben. nisse ein Vorteil. Apropos schwarz: Begriffe wie Wir hatten eine super Wohnung. Damals Ja! Ich hatte nicht die Traumnoten, „farbig“ oder „dunkelhäutig“ stammten die Nachbarn unter uns aus deshalb war das mein Rettungsanker, lehnen einige Fachleute mittler- dem Iran, die über uns aus Afghanistan. wodurch die Bundeswehr Interesse an weile ab, weil sie pejorativ seien. Mit denen habe ich auch gespielt. Und mir hatte. Derzeit gilt der Begriff People of weil die überhaupt kein Deutsch konnten, haben sie mir Farsi und Dari beigebracht.

9 Daimler 10 Audi 11 Airbus 12 Bundeswehr 13 SAP

14 Max-­Planck-­Gesellschaft Quelle: www.arbeitgeber-ranking.de, 15 Deutsche Bahn Befragung von mehr als 50 000 Berufseinsteigern durch die Trendence 16 Adidas Institut GmbH 18

Color / PoC als korrekt. Wie sehen habe das meinem Stabsunteroffizier der nächste kommt bestimmt. Ehrlich Sie das? mitgeteilt. Der hat gleich den Zugführer gesagt habe ich keine Lust, schon wie­ Sprache kann schon sehr verletzend informiert und der den Chef. Der StUffz der eine Woche damit zu verschwenden,

Schwerpunkt Schwerpunkt sein. Ich finde es generell nicht gut, dass hat zu mir gesagt: Wir gehen jetzt zusam­ meine Beerdigung planen zu müssen. Ich man einen Titel für etwas braucht, das men hin und sie zeigen mir den Kamera­ habe bisher mein Leichentuch mit in den scheinbar anders ist. Warum kann man den. So was lassen wir nicht zu. Einsatz genommen und meinem Chef nicht einfach bei jedem davon ausge­ eine Bedienungsanleitung geschrieben. hen, dass er Deutscher ist? Und wenn es Und später? Bei allen anderen wird das ganz selbst­ nicht so ist, kann man ja überrascht da­ Als die AfD im Kommen war, nach verständlich entsprechend ihrer Konfes­ rüber sein. Unsere Nationalfarben sind den Silvestervorkommnissen am Köl­ sion gemacht, warum nicht bei mir? Bin

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW Schwarz-Rot-Gold, nicht Weiß, Blond ner Hauptbahnhof zur Jahreswende ich weniger Soldat? Sind meine islami­ und blauäugig. 2015 / 2016, gab es wirklich schlimme schen Kameradinnen und Kameraden Diskussionen. Ich kann nicht mehr alles weniger wert? In Ihrer Heimatstadt Hannover davon wiedergeben, aber ich musste viele will ein Dreisternegeneral a. D. Diskussionen führen und mich für meine Was sagen Sie zu den Argumenten für die AfD die Bürgermeisterwahl Herkunft rechtfertigen. Ich war damals in dafür, dass sich das verzögert, zum gewinnen. Wie haben Sie die Daun stationiert, das war teilweise nicht Beispiel weil es im Islam die ver- Nachricht aufgenommen? nett. schiedenen Strömungen gibt? Ich habe mich geschämt, fremdge­ Das lasse ich nicht mehr gelten, es schämt. Ein Dreisternegeneral für die Die Bundeswehr will diverser reicht jetzt. Andere muslimische Kame­ AfD ... Wenn man Soldat ist und diese werden. Ist Ihnen bisher eine raden und ich müssen uns überlegen, wie ständigen hetzerischen Äußerungen der Kampagne Ihres Arbeitgebers wir im Einsatz den Ramadan verbringen. AfD wahrnimmt ... Ich habe mich auch aufgefallen, die gezielt Menschen Ich finde nicht, dass das unsere Aufga­ für meinen Berufsstand der Offiziere der mit Migrationshintergrund in den be ist. Wir dienen unserem Land genau­ Bundeswehr geschämt. Mittelpunkt stellt, um die Vielfalt so wie alle anderen Kameraden. Nach all in der Truppe zu zeigen? den Jahren kann man endlich etwas tun, Haben Sie von Kameraden Nein. Man soll uns zeigen, wie wir nicht nur reden. Rassismus erlebt? aussehen. Man muss uns nicht verste­ Ja. cken.

Früher mehr als heute? Weshalb finden Sie es wichtig, Ja. dass es in der Bundeswehr auch muslimische Seelsorger gibt? Wie haben Sie sich verhalten? Wer Beistand im Glauben haben will, Zum ersten Mal war das bei der möchte jemanden, der der eigenen Re­ Grundausbildung. Da bestand quasi der ligion angehört. Natürlich kann mir ein gesamte Speiseplan aus Schweinefleisch. christlicher Pfarrer auch zur Seite stehen Ich griff am Morgen zum Geflügelauf­ und mir Ratschläge geben. Aber er kann schnitt. Der Küchensoldat guckte mich nicht mit mir meine Gebete sprechen. an und sagte zu mir: Bei uns in Deutsch­ Ein Militärpfarrer kann auch meinen El­ land wird gegessen, was auf den Tisch tern nicht den geistlichen Beistand geben, kommt, und das ist vom Schwein. Das falls ich fallen sollte. Er weiß auch nicht hat er ganz ernst gesagt. Ich wollte dann sofort: Wie gehe ich mit der Leiche um? nicht mehr in die Truppenküche und Ich war jetzt länger nicht im Einsatz, aber

Vielfältige Soldaten

15 Prozent der Soldaten 25 Prozent der Soldaten 9 Prozent der Offiziere in der Bundeswehr in der Mannschafts- haben einen Migrations- haben einen laufbahn haben hintergrund (circa) Migrationshinter- einen Migrations­ grund hintergrund

Quelle: BMVg, Befragung von 2015 19 CHWERPUNKT S

Ist Nächstenliebe verpflichtend? Religiöser Dogmatismus steht der Akzeptanz pluraler Lebensformen oft im Wege.

WAHLVERWANDT­ SCHAFTEN

Manche kirchliche Milieus haben eine Nähe zu populistischen Positionen. Trotzdem leben in den Gemeinden Nächstenliebe und Willkommenskultur Von Gert Pickel

Kirchgänger und nicht praktizierende Christen in Westeuropa äußern sich häufiger negativ zu Immigranten und Minderheiten als konfessionslose Erwachsene

Wahrscheinlichkeit, den Satz „Wir sind nicht perfekt, aber unsere Kultur ist anderen überlegen“ zu bejahen:

21% 21% 16% mehr Kirchgänger als mehr Anhänger rechter mehr nicht praktizierende Konfessionslose Ideologien als linker Christen als Konfessionslose Quelle: Pew Research Center (2017) 20

pätestens nach einem Blick auf die 2018 erschienene Studie des New Yorker Pew-Institutes kamen bei der einen oder anderen Leser*in Zwei­ S fel an der Vorstellung auf, Christen seien aufgrund ihrer Mitglied­

Schwerpunkt Schwerpunkt schaft in einer der Nächstenliebe verpflichteten Kirche auch wirklich an­ deren Menschen gegenüber offener und solidarischer als Nichtchristen. In der Pew-Studie kam man sogar zu dem gegenteiligen Schluss, dass Christen Prof. Dr. Gert Pickel ist Professor für Religions- und Kirchensoziologie Migration und Diversity gegenüber kritischer eingestellt sind als Nichtchristen am Institut für Praktische Theologie der 1 und Konfessionslose. Abgesehen davon, dass sich diese Ergebnisse in ande­ Theologischen Fakultät der Universität ren Umfragestudien so nur begrenzt bestätigen lassen, sind solche Schlüsse Leipzig und Mitglied der Akademie der auch zu einfach. Weltreligionen in Hamburg.

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW Christ*innen, wie Konfessionslose oder Mitglieder anderer Religions­ gemeinschaften, sind in der Regel vielfältig – auch in ihren Meinungen und Haltungen. So wirkt das Ergebnis von Pew vor dem Hintergrund der massiven Bereitschaft gerade von Christ*innen, sich in der Flüchtlingshilfe zu engagie­ ren und der explosionsartigen Etablierung von entsprechenden Betreuungs­ formaten im Umfeld von christlichen Kirchen geradezu als „Fake News“. Le­ ben nicht gerade Christ*innen ihre Nächstenliebe mit Blick auf alle pluralen Gruppen der Gesellschaft aus? Nun existieren widersprüchliche Beobachtungen. Nicht wenige Christ*in­ nen stehen Nichtchrist*innen, speziell Muslim*innen, und noch häufiger Menschen mit anderen Geschlechterorientierungen (z. B. Homosexuellen oder Transsexuellen) mit Unverständnis distanziert, wenn nicht gar ablehnend ge­ genüber. Dies gilt speziell, wenn sie konservative Werte vertreten, ein eher dogmatisches Verständnis vom „Christsein“ besitzen und Bibeltexte als nicht interpretierungsbedürftige Fixpunkte ihres Verhaltens ansehen. Die empiri­ der als der Rest der Bevölkerung gegenüberstehen, schen Ergebnisse in Umfragen sind hier eindeutig, religiöser Dogmatismus steht sieht dies beim Rechtspopulismus und seinem Ein­ einer Offenheit zu pluralen Lebensformen jeglicher Art – allerdings in beson­ stellungsgerüst gemischt aus. Solange es Populist*in­ derem Maße modernen sexuellen Lebensformen – oft im Wege. nen gelingt, die von ihnen vertretenen Positionen als populistisch und nicht extremistisch oder radikal dar­ Nächstenliebe und Dogmatismus zustellen, schwindet die Hemmung unter Christ*in­ halten sich die Waage nen und Kirchgängern, sich dem zu verweigern. Die, Dieser Befund gilt nicht nur für Christ*innen, sondern auch für Mitglieder meist dogmatischen, Kirchenmitglieder finden zwar anderer Religionen: Es ist nicht die theologische Andersheit von Religionen, die Rechtspopulist*innen selbst oft nicht besonders gut sondern allein eine dogmatische Auslegung seitens einzelner Religionsmit­ und überzeugend, teilen aber einen Teil der von ihnen glieder, welche eine Nähe zu Vorurteilen, Abwertung und Ablehnung von vertretenen konservativen und teils auch antipluralisti­ Diversität mit sich bringt. Ergebnisse des jüngst erschienen Berlinmonitors schen Werte. Man könnte dieses Verhältnis als eine Art bestätigen dies.2 Als Gesamtergebnis dieser Polarisierung unter Christ*innen Wahlverwandtschaft bezeichnen. So empfindet man die zeigen sich in fast allen Umfragen doch selten statistische Zusammenhänge im Rechtspopulismus überdeutlich formulierte kultu­ in die eine oder andere Richtung. Einfacher gesagt: Beide Gruppen gleichen relle Ablehnung des Islams, die gegen Gleichstellungs­ sich aus oder halten sich die Waage. Christ*innen oder Kirchenmitglieder sind maßnahmen und (aus ihrer Sicht übertriebene) Aus­ damit – zumindest, wenn man sie als homogene Gruppe versteht – nicht weitung von Rechten für Menschen unterschiedlicher besser als andere Menschen. Allerdings sind sie auch nicht schlechter. sexueller Orientierung sowie Gendergleichheit gerich­ Das spiegelt sich in der Haltung zum Rechtspopulismus wider. So wie tete Haltung und eine stark nationalistische Position Christ*innen in der Regel Gewalt und extremistischem Verhalten ablehnen­ als durchaus deckungsgleich mit eigenen Interessen.

Josephine Teske ist Pastorin in der Nordkirche – und Feministin: Auf Instagram postet sie unter @Seligkeitsdinge Beiträge zu ihrem ­undogmatischen Verständnis vom Christsein 21

Dies korrespondiert mit Positionen dogmatischer Christ*innen gegenüber Homosexuellen in Pfarrhäusern. Und war nicht bereits die Frauenordination ein Fehler? Es ist nicht die Religiosität, sondern eine bestimmte Form einer CHWERPUNKT konservativen, dogmatischen christlichen Religiosität, welche zu antipluralis­ S tischen Haltungen und damit einer Wahlverwandtschaft und Nähe zu Rechts­ populist*innen führen kann. Denn natürlich ist nicht jede Christ*in, welche die Bibel als unantastbar und nicht uminterpretierbar ansieht, gleich offen für rechtspopulistische Parolen, nur eben häufiger.3 Als Konsequenz schützt damit der christliche Glaube an sich nicht vor rechtspopulistischen, antiplu­ ralistischen und teilweise antidemokratischen Einstellungen.

Kirchen sind kein geschlossenes Milieu Nimmt man dies auf, dann sind Kirchen in einer modernen Gesellschaft weder ein geschlossenes noch ein homogenes Milieu. Zumindest zwei, wenn nicht sogar mehrere Gruppen mit einem unterschiedlichen Verständnis vom „Christsein“ stehen miteinander im Widerstreit, teilweise in heftiger Ausein­ andersetzung. Dieser Konflikt lagert sich tief in die Gemeinden ein, sind doch beide der oben angesprochenen religiösen Gruppen in den Gemeinden die Aktivposten. Beide Gruppen greifen auf normative und theologische Begrün­ dungen zurück und wollen etwas innerhalb der Kirche erreichen. Damit ist auch klar: Die Auseinandersetzung um eine zunehmende Selbstverständ­ lichkeit von Pluralität, Vielfalt und Diversity wird innerhalb der christlichen Kirchen (nicht nur in Deutschland) heute und in Zukunft noch intensiver geführt werden als in der deutschen Gesamtbevölkerung und vielen weite­ ren europäischen Bevölkerungen. Diskussionen um Gleichstellung, sexuelle Freiheit, Antipluralismus, Natio­ nalismus, Antisemitismus und ethnische Homogenität sind dabei miteinander verzahnt.4 Und es bleibt offen, inwieweit nicht auch die Zugehörigkeit zum Christentum zum Referenzobjekt von Ablehnung werden könnte. Eindeutig ist nur, dass solche Haltungen mit den Grundprinzipien einer liberalen Demo- kratie nicht vereinbar sind. Und man sollte sich überlegen, inwieweit man den Gegnern einer offenen Gesellschaft immer wieder Freiraum und Sichtbarkeit einräumen sollte, sei es in und außerhalb der christlichen Kirchen.

1 Pew Research Institute, Being Christian 2 Gert Pickel / Katrin Reimer-Gordins- 3 Gert Pickel, Religion als Ressource für 4 Oliver Decker, Elmar Brähler (Hrsg.), in Western Europe, Forschungsbericht, kaya / Oliver Decker, Der Berlin­monitor Rechtspopulismus? Zwischen Wahlver- Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme New York 2018, www.pewforum.org 2019. Vernetzte Solidarität – Fragmen- wandtschaften und Fremdzuschreibun- Dynamiken in der Mitte der Gesell- tierte Demokratie, Berlin 2019, speziell gen, in: Sonderheft „Rechtspopulismus schaft, Psychosozial-Verlag, Gießen die S. 35f. und Religion“ der Zeitschrift für Religion, 2018. Gesellschaft und Politik (2 / 2018), S. 277–312.

Diskriminierungserfahrung aufgrund der eigenen Religion (in Prozent)

Muslim*innen Protestant*innen sehr oft 4 < 1 oft 18 2 manchmal 42 11 nie 36 87

Katholik*innen Atheist*innen Quelle: Berlin-Monitor, 1 0 2005 befragte 3 < 1 Berliner ab 14 5 16 Jahren 82 95 22

Militärdekan Dr. Roger Mielke leitet das Evangelische Militärpfarramt Koblenz III am Zentrum CHWERPUNKT

S Innere Führung der Bundeswehr. ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW

Der britische Künstler Chemical X thematisiert wirtschaftliche Ungleichheit in Los Angeles, wo Obdachlose unweit der Filialen von Luxusmarken wie Prada oder Chanel ihr Dasein fristen

Literatur: • Kwame Anthony Appiah, Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit, Hanser Berlin, München 2019, 336 Seiten, 24 Euro.

• Francis Fukuyama, Against Identity Politics. The New Tribalism and the Crisis of Democracy, Foreign Affairs 97, Vol. 5 (Sept/Oct 2018), S. 9 0 –114 .

• Francis Fukuyama, Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, Hoffmann und Campe, Hamburg 2019, 236 Seiten, 22 Euro. 23

AFTER CHWERPUNKT IDENTITY? S

Die identitätspolitische Herausforderung der Demokratie – ein Blick auf Debatten in den USA Von Roger Mielke

uf Diversität zu setzen, ist unverzichtbar, für me an der politischen Ordnung einer demokratischen die Bundeswehr ebenso wie für andere Orga­ Gesellschaft möglich, wenn diese Teilhabe vermittelt A nisationen und Unternehmen. Eine alternde ist über Zugehörigkeit, über geteilte geschichtliche Gesellschaft wird auf die demografischen Entwick­ Erfahrung, über Sprache? lungen nur mit möglichst umfassender Inklusion ant­ Diversität, Inklusion und Partizipation beziehen worten können. Und umgekehrt, aus der Perspektive sich zwar auf Individuen, auf die Chancen und Mög­ der einzelnen Menschen: Inklusion heißt, Individuen lichkeiten von einzelnen Menschen, allerdings sind zu fördern, Teilhabe zu ermöglichen, „capabilities“ um­ die Einzelnen niemals nur soziale Atome. Menschen fassend zu entwickeln. verstehen sich ihrerseits auch über ihre Zugehörig­ Die andere Seite der Demografie heißt Zuwande­ keiten. Identität, also das, was einer ist, braucht im­ rung. Das Wohlstandsgefälle des Alten Europa zu sei­ mer eine soziale, im Kern eine kulturelle Abstützung: nen Nachbarregionen im Süden, aber auch im Osten Familie, Herkunft, Nation, Religion, Fußballverein ist immens und zieht viele Menschen an, die Chancen und so weiter. Aber wie viel davon? Diese Frage ist für suchen. Sie werden – grundsätzlich – gebraucht. Ge­ die Demokratie von hohem Interesse: Braucht Identi­ sellschaftliche Heterogenität wächst damit. Das macht tät Identitätspolitik? Eine identitätspolitische Agenda das Zusammenleben nicht einfacher. Eine hochgradig besagt dann: Um Diversität und Inklusion zu ermög­ arbeitsteilige Gesellschaft ist von Voraussetzungen ab­ lichen, bedarf es einer bewussten Förderung von hängig, die alles andere als trivial sind: Welche Sprache Gruppen, die Zugehörigkeit und Beheimatung bieten. ermöglicht Verständigung? Wie können Praktiken der Wie von selbst richtet sich dann der Fokus gerade auf Bildung und Ausbildung, des Produzierens und Kon­ die Benachteiligten, auf die Angehörigen von Minder­ sumierens, der Disziplinierung und des Zeitregimes heiten, die von einer hegemonialen Mehrheitsgesell­ synchronisiert werden? Und über die unmittelbar öko­ schaft und ihrer „Leitkultur“ an den Rand gedrängt nomischen Zusammenhänge hinaus: Wie ist Teilnah­ werden. Aber: Wie viel Diversität, wie viele geteilte

Ursprünglich stammt der Begriff „Leitkultur“ aus der Landwirtschaft. Der syrische Politikwissen- schaftler Bassam Tibi beschrieb damit 1996 • Yuval Levin, The Fractured Republic: Renewing America’s Social einen westlich-liberalen Wertekanon für eine Contract in the Age of Individualism, Basic Books, New York 2016, pluralistische Gesellschaft. Später sprachen 272 Seiten, 5,69 Euro die CDU-Politiker Jörg Schönbohm (1998) und Friedrich Merz (2000) von einer spezifisch • Mark Lilla, The End of Identity Liberalism, New York Times, „deutschen Leitkultur“. 18. 11. 2016, www.tinyurl.com/lilla-identity www.tinyurl.com/glossar-leitkultur 24

Zugehörigkeiten sind sinnvoll und unterstützungswür­ Francis Fukuyama, inzwischen in Stanford leh­ dig? Die Debatten über Grund und Grenze von Multi­ render Politikwissenschaftler, in Deutschland am ehes­ kulturalität sind auch in Deutschland voll entbrannt, ten durch seinen Essay „Das Ende der Geschichte“ von CHWERPUNKT

S nicht erst nach den Erfahrungen des Jahres 2015. Viel­ 1992 bekannt, gab seinem Buch von 2018 den knap­ leicht kann ein Blick auf die US-amerikanischen Debat­ pen Titel „Identity. The Demand for Dignity and the ten hilfreich sein, in denen die Frage nach den Grenzen Politics of Resentment“. In den Spuren der Diagnose der Diversität inzwischen gerade auch von liberalen Lillas zeichnet Fukuyama die Karriere identitätspoli­ Intellektuellen neu gestellt wird. tischer Politikmuster seit den frühen 1970er Jahren nach. Die Pointe seiner Argumentation liegt darin, dass Protest gegen Campus-Debatten die „Linke“ ihre ursprünglich an der Überwindung

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW Mark Lilla, Politikwissenschaftler an der Columbia ökonomischer Ungleichheit orientierte Politik aufgege­ University in New York und eine der linksliberalen ben habe – zugunsten einer Obsession für die Gleich­ Leitfiguren der US-Feuilletons, proklamierte in einem heitsrechte immer kleinerer Gruppen von Benachtei­ im November 2016, unmittelbar nach dem Triumph ligten. Das sozialpolitisch frei gewordene Terrain sei Donald Trumps in der amerikanischen Präsident­ dann von der „Rechten“ dankbar und unter Nutzung schaftswahl, in der „New York Times“ publizierten der nunmehr eingeübten identitätspolitischen Agenda Essay das Ende des „Identity Liberalism“, eines Libera­ besetzt worden. Die Bezauberung durch „Diversität“ sei lismus, der auf „Diversität“ mehr als auf die gemein­ dann Teil der populistischen Agenda geworden, die sich samen und geteilten Aufgaben nationaler, gemein­ auf die Verteidigung einer tatsächlich oder angeblich wohlbezogener Politik bezogen sei. Lilla analysierte bedrohten „Whiteness“ kapriziert habe. Eine Überwin­ den Wahlsieg Trumps als eine Reaktion derjenigen dung dieser auf der Rechten und der Linken symme­ Bevölkerungsschichten, die sich von den Campus- trisch sich entsprechenden Szenarien sei nur durch Debatten um LGBT-Rechte und ethnische Diversi­ ein neues gemeinwohlorientiertes republikanisches tät auf eine Weise vernachlässigt gefühlt hätten, dass Ethos zu erwarten. die Wahl Trumps als ebenso verzweifelter wie nach­ vollziehbarer Protest verstanden werden müsse. Lilla Individualismus als Erkennungszeichen skizziert einen post-identity liberalism: „Such a liberalism Ganz anders Kwame Anthony Appiah, der an der would concentrate on widening its base by appealing New York University lehrende ghanaisch-britische Phi­ to Americans as Americans and emphasizing the issues losoph, der sich für einen „kosmopolitischen Patrio­ that affect a vast majority of them. It would speak tismus“, so der deutsche Titel eines Buches von 2001, to the nation as a nation of citizens who are in this ausspricht. In sprachlich höchst eleganter, mit tref­ together and must help one another. As for narrower fenden Beispielen und Anekdoten unterlegter Weise issues that are highly charged symbolically and can dekonstruiert Appiah die Identitätsanmutungen und drive potential allies away, especially those touching -zumutungen im Zeitalter populistischer Polarisierung. on sexuality and religion, such a liberalism would work „The Lies that bind“ lautet der einprägsame Titel seines quietly, sensitively and with a proper sense of scale.“ neuen, gerade in deutscher Sprache veröffentlich­ Seitdem ist die Konjunktur der identitätspolitischen ten Buches. Die „Lügen“, die individuelle Spielräu­ Fragestellung im US-Diskurs nicht schwächer gewor­ me und Chancen einzuschränken drohen: Classifica­ den. Zwei Beiträge prominenter Intellektueller sind im tion, Creed, Country, Color, Class, Culture – so die Jahr 2018 erschienen und in diesem Jahr dann auch sechs Kapitelüberschriften. Auf die Kapitel folgt eine ins Deutsche übersetzt worden. Sie entsprechen ein­ „Coda“, in der Appiah für hybride, verflüssigte Identi­ ander spiegelbildlich in ihrer Position und politischen täten eintritt und die Augen zu öffnen versucht für die Empfehlung. mitunter schmerzhaften, aber immer unausweichli­ chen Prozesse der Identitätsarbeit, in denen die Würde

Gründerquote in Deutschland: Migranten liegen vorn (in Prozent)

Insgesamt Migranten

Quelle: KfW-Gründungs- 1,56 1,51 1,48 1,72 2,44 3,46 monitor 2016 ohne Berufsabschluss mit Berufsabschluss mit akademischem Abschluss 25 -

- des Menschen zuerst und zuletzt besteht. In Appiahs Plädoyer werden Diversität und Individualismus zu fundamentalen Merkzeichen eines großzügigen welt­ CHWERPUNKT

bürgerlichen Liberalismus. S Noch eine letzte bemerkenswerte Facette der US-Debatten: Yuval Levin, Gründer des Politmaga­ zins „National Affairs“ und Mitglied des konserva­ tiven Thinktanks „Ethics and Public Policy Center“ (EPPC), diagnostiziert in seinem 2016 erschienenen Buch „The Fractured Republic. Renewing America’s Social Contract in the Age of Individualism“ die tiefe Krise des US-Gesellschaftsmodells: Phänomene wie die Opioid-Krise, Rassismus und eskalierende Gewalt, olitik aufgegeben politische und gesellschaftliche Polarisierung seien Ergebnisse eines Zerfalls der tragenden Institutionen und der demokratischen Versprechen einer Chance auf Teilhabe und gesellschaftlichen Aufstieg. Levin spricht sich als Gegenmittel für eine Stärkung der zivil­ gesellschaftlichen Assoziationen, besonders auch der religiösen communities und Gemeinden aus, die als Bin­ deglied („intermediär“) zwischen Individuen und den politischen Institutionen unverzichtbar seien. Ein Blick auf die US-Szene lehrt, dass am Thema der „Diversität“ auch Grundfragen der politischen Ord­ nung verhandelt werden. Individuelle Lebensent­würfe und Lebenschancen, Überschreitungen scheinbar abgegrenzter Identitäten – dies ist das eine. Das andere ist die Suche nach einer Form von Zugehörigkeit, die alle Bürgerinnen und Bürger des Gemeinwesens um­ greift, vereint und zusammenbindet – weil nur auf diese Weise Freiheit gewahrt werden kann. Das eine nicht ohne das andere. ointe seiner Argumentation liegt darin, dass die die dass darin, liegt Argumentation seiner ointe nomischer U ngleichheit orientierte P Gleichheits die für Obsession einer – zugunsten habe Benachteiligten. von Gruppen kleinerer rechte immer Die P Die „Linke“ ihre„Linke“ ursprünglich an der Überwindung öko

Wie Geflüchtete die deutsche Wirtschaft beeinflussen werden Veränderungen des Bruttoinlandsprodukts (in Prozent)

Brutto-Veränderung BIP Netto-Veränderung BIP (minus Sozialkosten)

+0,86 0,8 +0,54 +0,80 0,4

0

-0,4 -0,66 -0,8 Quelle: DIW Berlin, vorläufige 2020 2025 Berechnungen 26

CHWERPUNKT WENN RECHTE S RECHT HABEN

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW KÖNNTEN

Die offene Gesellschaft muss Wählerverhalten verstehen und Probleme adressieren – und die Trennlinie zwischen legitimem Meinungsstreit und Missachtung des demokratischen Werte- und Verfahrenskonsenses im Auge behalten Von Frank Decker

as unter Populis­ Behauptung der Populisten, sie mus im Allgemei­ und nur sie selbst wüssten, was W nen und Rechts­ der wahre, eigentliche Volks­ populismus im Besonderen zu wille sei, und nur sie würden Wertekonflikte sind im Unterschied verstehen sein soll, darüber diesen vertreten. Daraus wiede­ zu Verteilungskonflikten scheiden sich sowohl im All­ rum wird als weiteres Merkmal moralisch hoch aufgeladen tagssprachgebrauch als auch in insbesondere des rechten Popu­ und als vorletzte oder letzte der Wissenschaft die Geister. In lismus ein Verständnis von Volk „Wahrheitsfragen“ nur bedingt der Wissenschaft werden in der abgeleitet, das dieses als kul­ kompromissfähig. Regel die folgenden drei Merk­ turell oder sogar ethnisch ho­ male genannt: Erstens kenn­ mogene Einheit begreift. Der zeichnet den Populismus die Populismus negiere damit die radikale Kritik an den gesell­ tatsächliche Meinungs- und In­ schaftlichen und politischen teressenvielfalt der Gesellschaft, Eliten, denen der Vorwurf ge­ sei mithin seinem Wesen nach macht wird, dass sie die Interes­ ­„antipluralistisch“. sen und Meinungen des Volkes Gegen alle drei Zuschrei­ systematisch missachteten und bungen lassen sich gewisse Ein­ es hintergingen. Damit verbun­ wände vorbringen, die deut­ den ist als zweites Merkmal die lich machen, dass es sich beim

Wer will (k)einen Führer? Befragte, die sich einen starken Führer wünschen, der sich über Gesetze hinwegsetzt (in Prozent)

Frankreich 77 Türkei 64 Großbritannien 52 Russland 50 USA 35 Quelle: Ipsos Marktforschung Deutschland 22 2019, mehr als 8500 Befragte 27 CHWERPUNKT S

Pro Choice gegen Pro Life: In Washington treffen Zehntausende Demonstranten aufeinander, die für und gegen Abtreibungen auf die Straße gehen (oben). Im Deutschen Bundestag (unten) sind die Zwischentöne meist subtiler, erkennbar etwa am Blick Alice Weidels (AfD) auf Angela Merkel (CDU)

In den USA lässt sich dieser Rigorismus etwa bei den militanten Abtreibungsgegnern beobachten, in Europa bei den „Skeptikern“ der Zuwanderung.

Quiz: Wie populistisch sind Sie? 20 Fragen auf wissenschaftlicher Basis, die Aufschluss geben: https://interaktiv.derbund.ch/2019/ populisten-quiz 28

­Populismus um ein heterogenes In Bezug auf das zweite Populismus ist keine mildere und zum Teil widersprüchli­ Merkmal muss bedacht wer­ Form des Extremismus ches Phänomen handelt. So den, dass es sich bei der – zu­ Auch die These, der Populis­ CHWERPUNKT

S darf zum Beispiel die Anti-Es­ gegebenermaßen anmaßen­ mus sei per se antipluralistisch tablishment-Orientierung nicht den – Berufung auf den wahren und antiliberal (und damit an­ so verstanden werden, als ob Volkswillen auch um eine rhe­ tidemokratisch) greift zu kurz. der Populismus Eliten und das torische Übertreibung han­ Populismus stellt keine milde­ Prinzip der Elitenherrschaft deln könnte. Dass Parteien für re Form des Extremismus dar, als solche ablehne. Einerseits sich reklamieren, sie verträten auch wenn er – wie die AfD in­ stammen populistische Akteu­ die „richtige“ und ihre politi­ zwischen zur Genüge beweist –

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW re häufig selbst aus den Eliten schen Kontrahenten eine „fal­ mit einer extremistischen oder waren, beziehungsweise sche“ Konzeption des Gemein­ Ausrichtung zusammengehen sind, ein Teil der politischen wohls, gehört zu den normalen kann. Die AfD vertritt zum Bei­ Klasse, andererseits geht es ih­ ­Begleiterscheinungen des poli­ spiel in der Wirtschafts- und So­ nen ja gerade darum, die herr­ tischen Wettbewerbs, der ja zialpolitik überwiegend markt­ schenden Eliten zu verdrängen auch dem Ziel dienen soll, kla­ liberale Positionen, was sie von und sich selbst an deren Stelle re Alternativen herauszuarbei­ den meisten ihrer Schwester­ zu setzen. Wo ihnen dieses ge­ ten und dem Wähler eine Wahl parteien in den anderen euro­ lingt, sind sie dann zwangs­ zwischen diesen Alternativen päischen Ländern unterschei­ läufig genötigt, Teile ihrer zu ermöglichen. Wenn man det. Auch in wertebezogenen Herrschafts- oder Systemkritik sich daran erinnert, mit wel­ und gesellschaftspolitischen abzustreifen, was sie bei den ei­ cher Schärfe und ausgrenzen­ Fragen treten die Rechtspo­ genen Anhängern Sympathien den Rhetorik Sozialdemokraten pulisten nicht durchweg an­ kosten könnte. und Union in den 1970er Jah­ tiliberal auf. Geert Wilders ren einander bekämpft haben hat mit der Gleichstellung der („Ihre Republik ist nicht un­ Frau und den Rechten sexuel­ sere Repu­blik“), dann kommt ler Minderheiten ebenso wenig einem der Unterschied zu der ein Problem wie Marine Le Pen. Agitation der heutigen Rechts­ Dass sie diese liberalen Werte populisten nicht besonders gegen die vermeintliche kultu­ groß vor. Dennoch würde nie­ relle Rückständigkeit der mus­ mand bezweifeln, dass es sich limischen Zuwandererbevöl­ bei Helmut Schmidt, Franz kerung „instrumentalisieren“, Josef Strauß und Helmut Kohl mag man als doppelbödig oder um zutiefst überzeugte Demo­ sogar heuchlerisch kritisie­ kraten gehandelt hat. ren, ändert aber nichts an dem Sachverhalt. Was den Linkspo­ Prof. Dr. Frank pulismus betrifft, trifft die Cha­ Decker lehrt Politik- rakterisierung als antipluralis­ wissenschaft an der tisch noch viel weniger zu, steht Universität Bonn. Er befasst sich dieser doch auch in der Zuwan­ seit 25 Jahren mit derungs- und Migrationspolitik Rechtspopulismus. mehrheitlich für offene, liberale Positionen.

Fünf AfD-Zitate aus fünf Jahren „Er [Grenzpolizist] muss den illegalen Grenz­übertritt verhindern, notfalls auch „Ich möchte vor einem Vielvölkerstaat von der Schusswaffe Gebrauch machen. warnen, ich kenne kein Beispiel für So steht es im Gesetz.“ erfolgreiche Vielvölkerstaaten.“ Frauke Petry, 2016 Bernd Lucke, 2014

„Im 21. Jahrhundert trifft der lebensbejahende afrikanische Ausbreitungstyp auf den selbst­ verneinenden europäischen Platzhaltertyp.“ Björn Höcke, 2015 29

Die Entstehung der rechts­ ausgeschaltet werden. Dafür Gerade Letzteres birgt frei­ In der Auseinandersetzung populistischen Parteienfamilie sind – folgt man diesem Ge­ lich ein schwieriges Dilemma. mit dem Rechtspopulismus und der große Zuspruch wer­ dankengang – jegliche, auch Denn grenzt man die Partei­ wird es vor allem darauf an­ CHWERPUNKT den von der Wissenschaft vor illegitime oder illegale, Mittel en oder Akteure, die auf dem kommen, diese Trennlinie zwi­ S allem darauf zurückgeführt, erlaubt. Kriegsfuß mit bestimmten de­ schen legitimem politischem dass wertebezogene, gesell­ mokratischen Prinzipien ste­ Meinungsstreit und Missach­ schafts- und identitätspoliti­ Ursachen verstehen – hen, allein deshalb aus dem tung des demokratischen Wer­ sche Fragen in der heutigen Argumente bedenken politischen Diskurs aus, grenzt te- und Verfahrenskonsenses so Gesellschaft gegenüber den Solange die Herausforderer in man ja nicht nur deren Wäh­ zu ziehen, dass die Herausforde­ klassischen verteilungsbezoge­ der Oppositionsrolle verharren ler gleichzeitig mit aus, sondern rer es sich nicht ohne Not in ei­ nen Auseinandersetzungen an und ihre Unterstützung eine auch diejenigen kritischen bis ner Opferrolle bequem machen Bedeutung gewonnen hätten. bestimmte kritische Schwelle systemoppositionellen Positio­ können. Nur so können die von Hier liegt eine wichtige Erklä­ nicht erreicht, mögen die de­ nen, die bei aller Zuspitzung den Populisten adressierten rung für die gewachsene Pola­ mokratiefeindlichen Gesinnun­ und Übertreibung auf mögli­ Probleme in ihrer tatsächlichen risierung. Wertekonflikte sind gen vielleicht keine ernsthafte cherweise bedenkenswerten Substanz erkannt und politisch im Unterschied zu Verteilungs­ Bedrohung darstellen. Gelan­ Argumenten beruhen. Der an bearbeitet werden. konflikten moralisch hoch auf­ gen die Populisten jedoch selbst die Adresse des linksliberalen geladen und als vorletzte oder an die Macht, dürften sie nicht Mainstreams gerichtete Vor­ letzte „Wahrheitsfragen“ nur zögern, ihren autoritären Nei­ wurf, dass dieser seinerseits bedingt kompromissfähig. In gungen nachzugeben und die Denkverbote errichte und be­ den USA lässt sich dieser Rigo­ Außerkraftsetzung der demo­ stimmte Themen, Positionen rismus etwa bei den militanten kratischen Spielregeln zu be­ oder Sprechweisen aus dem Abtreibungsgegnern beobach­ treiben. Dass solche Befürch­ Meinungsstreit verbannt sehen ten, in Europa bei den „Skep­ tungen keineswegs aus der Luft möchte, hat durchaus Berechti­ tikern“ der Zuwanderung. Wer gegriffen sind, zeigen die Ent­ gung. Das betrifft die Minder­ in der Abtreibung einen Ver­ wicklungen in Ungarn und Po­ heitenpolitiken im Allgemei­ stoß gegen das göttliche Recht len – immerhin beide Mitglie­ nen und die Migrationspolitik sieht oder wer glaubt, dass ein der der Europäischen Union. im Besonderen. Altbundesprä­ Land sich durch die Zuwande­ Um der Gefahr einer demokra­ sident Gauck dürfte mit seiner rung aus fremden Kulturkrei­ tischen Regression vorzubeu­ Forderung nach einer „Erwei­ sen selbst „abschafft“, der wird gen, ist es deshalb wichtig, zum terung der Toleranz in Rich­ denen, die Abtreibungen zu­ einen die Ursachen des popu­ tung rechts“ genau dieses ge­ lassen und die Zuwanderung listischen Wählerprotests zu meint haben – und nicht eine ermöglichen, wenig Toleranz verstehen und durch entspre­ Verschiebung der Grenzlinien entgegenbringen. Der politi­ chende Gegenmaßnahmen an­ zwischen einem noch demokra­ sche Gegner gerät dann leicht zugehen. Zum anderen gilt es, tiekonformen Populismus und zum Feind, dem man die mora­ in der Auseinandersetzung mit einem systemfeindlichen Extre­ lische Integri­tät und damit zu­ den potenziellen Demokratie­ mismus, die manche Kritiker in gleich die demokratische Legi­ feinden die richtigen Rezepte seinen Äußerungen anschlie­ timität grundsätzlich abspricht. zu finden. ßend erblicken wollten. Ein solcher Feind, dem die Legi­ timität abgesprochen wird, ge­ hört dann nicht nur bekämpft, sondern muss am Ende ganz

„Die deutsche Volksgemeinschaft ist krank und leidet unter einem Befall von Schmarotzern und Parasiten, welche dem deutschen Volk das Fleisch von den Knochen fressen.“ „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss Thomas Göbel, 2017 in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.“ Alexander Gauland, 2018 30

CHWERPUNKT WIE DIE KIRCHE S DIVERS WURDE ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW Eine systematisch-theologische Spurensuche Von Sarah Jäger

s war vor einigen Jahren auf dem im Bewusstsein und der Wahrnehmung der Begriffsbestimmung Frankfurter Christopher Street Day, evangelischen Kirche und Theologie in den Im Weiteren wird mit dem Begriff Diver­ E der jährlichen Demonstration für die vergangenen dreißig Jahren soll im Folgen­ sität oder Diversity auf individuelle, so­ Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, den nachgegangen werden. Sprechendes ziale und strukturelle Unterschiede und Transgender, Intersexuellen und queeren Beispiel dafür war etwa der breite und kon­ Gemeinsamkeiten von Menschen und Menschen. Neben dem schwulen Sportver­ troverse Diskussionsprozess, den die Orien­ Gruppen fokussiert. Als Zuschreibungen ein, dem lesbischen Chor und vielen quee­ tierungshilfe des Rates der EKD „Zwischen und Zugehörigkeitsaspekte wirken sie bis ren Bars und Clubs, die mit großen Feier­ Autonomie und Angewiesenheit: Familie in persönliche Identitätsprozesse und un­ wagen unterwegs waren, stehen sie: etwa als verlässliche Gemeinschaft stärken“2 im sere Integrität. Dabei lässt sich zwischen zwanzig Männer und Frauen, die eine riesi­ Jahre 2013 ausgelöst hatte, die das Leitbild ganz verschiedenen Kategorien der Zuord­ ge Regenbogenfahne tragen. Es sind queere der Ehe vorsichtig infrage stellt. nung und Unterscheidung differenzieren: Pfarrer*innen der Evangelischen Kirche in Dies verbindet sich mit der These, dass Geschlecht, sexuelle Identität, aber auch Hessen und Nassau. Sie geben an diesem Diversität im Sinne einer würdigen Aner­ Alter, Behinderung oder ethnische Zuge­ Tag der faktischen Diversität evangelischer kennung von persönlicher Unterschiedlich­ hörigkeit (im Englischen race). Alle diese Kirche ein Gesicht. keit und Vielfalt im göttlichen Geschaffen­ Merkmale sensibilisieren für die geschaffe­ Diese Sichtbarkeit wäre noch vor etwa sein des Menschen wurzelt. ne Unterschiedlichkeit des Menschen. zehn Jahren undenkbar gewesen. 1987 be­ titelte die Theologin ihr Buch zu lesbischen Frauen in der Kirche: „Hät­ test du gedacht, dass wir so viele sind?“1 1 Monika Barz, Herta Leistner, www.tinyurl.com/ekd-gemein- 4 A.a.O., S. 40. Ute Wild, Hättest du gedacht, dass schaft; abgerufen am 22.10.2019. Kirche hat sich schwergetan mit sexueller wir so viele sind? Lesbische Frauen 5 Mit Spannungen leben. Eine Vielfalt, hat sich immer nur zögernd mit in der Kirche, Kreuz Verlag, 3 Denkschrift zu Fragen der Orientierungshilfe des Rates gesellschaftlichen Veränderungen im Be­ 1987. Sexualethik, erarbeitet von einer der Evangelischen Kirche in Kommission der Evangelischen Deutschland zum Thema reich von Geschlecht, Begehren und Sexu­ 2 EKD-Orientierungshilfe „Zwischen Kirche in Deutschland, 2. Aufl. „Homosexualität und Kirche“, alität auseinandergesetzt. Diesem Wandel Autonomie und Gemeinschaft“: Gütersloh 1971, S. 28. EKD Texte 57, Hannover 1996.

Peter Dabrock, et al.: Sarah Jäger: Bundesdeutscher Unverschämt – schön. Protestantismus und Sexualethik: evangelisch und Geschlechterdiskurse 1949–1971. lebensnah, Gütersloher Verlags- Eine Revolution auf leisen Sohlen, haus, Gütersloh 2015, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2020 176 Seiten, 14,99 Euro. (im Erscheinen). 31

Rechtlich wurde der Möglichkeit Schutz verdienten.5 Diese Position wurde in nicht-binärer Geschlechtszugehörigkeit kontroversen Diskursen weiterentwickelt im Jahr 2018 durch den Eintrag „divers“ zur teilweisen Möglichkeit kirchlicher Ehe­ CHWERPUNKT im Geburtenregister Rechnung getragen. schließungen auch für gleichgeschlecht­ S liche Paare. Kirchliche Reaktionen und Im Rahmen von Diversität ganz aktuell Auseinandersetzungen mit Diversität sind die Diskurse um Transsexualität. Die Solche Veränderungsprozesse im Bereich Evangelische Kirche in Hessen und Nassau von Geschlecht und Begehren wurden vom hat dazu im März 2018 eine Broschüre vor­ Protestantismus stets als Herausforderung gelegt, die viele persönliche Erfahrungen erlebt, die Reaktionen darauf waren sehr abbildet und einen Prozess der Auseinan­ unterschiedlich. Drei Veröffentlichungen dersetzung mit diesem bisher kaum be­ sollen exemplarisch in den Blick genom­ leuchteten Thema – Transsexualität und men werden: Kirche – anstoßen möchte. Die Denkschrift zu Fragen der Sexu­ alethik von 1971 – die erste kirchliche Ende gut – alles gut? Auseinandersetzung mit Sexualität im Evangelische Orientierung kann sich, Nachkriegsprotestantismus – setzte sich möchte sie die Möglichkeiten verantwor­ vorsichtig mit Möglichkeiten der Gestal­ teter Entscheidungsfindung ernst nehmen, tung von Sexualität, zumindest auch vor vor konkreter Lebensrealität von Menschen Dr. theol. Sarah Jäger der Ehe, auseinander, indem sie festhielt: in der Gegenwart nicht verschließen. Zu­ ist wissenschaftliche „Daher fällt die Entscheidung in die Verant­ gleich gilt es, Sexualität und Geschlecht­ Mit­arbeiterin an der Forschungsstätte der Evange- wortung der Partner, in welchem Abschnitt lichkeit als Gabe Gottes zu entdecken und lischen Studiengemeinschaft der Entwicklung ihrer Beziehung zur Ehe zu würdigen, die es zu gestalten gilt. Da­ e. V. (FEST) sowie am Institut hin sie den Geschlechtsverkehr aufneh­ bei orientiert sich evangelische Ethik an für Diakoniewissenschaft und men.“3 Die Binarität von Geschlecht und der Bibel in der Gewichtung dessen, „ob sie Diakoniemanagement der das sexuelle Bezogensein von Mann und Christum treibet“ (Martin Luther), und den Kirchlichen Hochschule Wuppertal / Bethel. Frau aufeinander wurden allerdings an kei­ kirchlichen Bekenntnistraditionen in ihrer ner Stelle der Denkschrift infrage gestellt Polyfonie. Beide Orientierungsstränge be­ und Homosexualität als „sexuelle Fehl­ dürfen der steten Hermeneutik und Aktua­ form“4 bezeichnet. lisierung, sind sie selbst doch hochgradig Die Diskurse um Homosexualität als Teil zeitgebunden. In dieser immer neuen Aus­ von Diversität nahmen in den 1990er Jahren legung des Evangeliums und dem Versuch, weiter Fahrt auf. „Mit Spannungen leben. von der Liebe Gottes aus Orientierung auch Eine Orientierungshilfe des Rates der Evan­ in Fragen von Diversity bereitzustellen, ist gelischen Kirche in Deutschland zum The­ Kirche bleibend aufgerufen und auf dem ma ‚Homosexualität und Kirche‘“ von 1996 Weg. stellte zwar Ehe und Familie als Leitbilder in den Mittelpunkt, billigte aber anderen Formen des menschlichen Zusammen­ lebens zu, dass auch hier wichtige Elemente verantworteter Beziehungsgestaltung, wie Treue und Verbindlichkeit, verwirklicht werden können und sie daher Achtung­ und

Kirchliche Trauung oder Segnung Trauung für alle gleichgeschlechtlicher Partnerschaften Segnung im öffentlichen in den evangelischen Landeskirchen Gottesdienst

Nichtöffentliche Segnung der Partnerschaft

Quelle: www.evangelisch.de, Stand: 23.09.2019 32

CHWERPUNKT S ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW

Für Gleichberechtigung: In den Strand von Biarritz malen Künstler vor dem G7-Gipfel 2019 die Konterfeis der teilnehmenden Staatschefs

VIELFALT IST NICHT SCHWER

Militärische Kultur wird wesentlich durch Vorschriften bestimmt. Aber der gesellschaftliche Wandel muss auf allen Ebenen der Organisation mit Leben gefüllt werden Von Hartmut Stiffel

Der Wehrbeauftragte befasste sich 2018 mit 7298 Sachverhalten. Darunter:

Personalangelegenheiten aktiver Soldatinnen und Soldaten 2 611 Disziplinarrecht, Rechtsverstöße 816 Versorgung, Soziales 744 Verwendungsplanung, Beurteilung, Beförderung 725 … … Diversity (darin enthalten): 102 • Frauen in den Streitkräften (Gleichstellungsfragen) 81 • Soldaten mit Migrationshintergrund 5 Quelle: Bericht des Wehrbeauftragten • Sexuelle Vielfalt 5 für das Jahr 2018 33

n der Rückbetrachtung der Diskussionen um die Öffnung aller­ Laufbahnen in den Streitkräften für Frauen erinnere ich mich an die verschiedenen Argumente dafür und dagegen. Es wur­

I CHWERPUNKT den Berichte mit Erfahrungen aus anderen Streitkräften (z. B. Israel) S dagegen zitiert und es wurde mit normativen Grundlagen dafür argumentiert. Wie diese Diskussion entschieden wurde, ist be­ kannt. Heute hat sich die Öffnung für Frauen in den Streitkräften in die Organisationskultur integriert. Vielfalt ist im Grunde weder ein neues noch ein schwieriges Das Gesetz Thema. In der Betrachtung stehen verschiedene Diversitätskate­ Für die Streitkräfte ist der Umgang mit diesen Veränderungen ein­ gorien. Diese sind Alter, Religion, Geschlecht (Gender), ethnische deutig. Im Soldatengesetz regelt der § 12 das Grundverständnis: Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung und Behinderung. Innerhalb der Bundeswehr sind die Bindung an das Grundge­ § 12 SG – Kameradschaft setz – insbesondere die Artikel 1 bis 4 – sowie das Soldatengesetz 1 Der Zusammenhalt der Bundeswehr beruht wesentlich auf und die gültigen Rechtsvorschriften für die zivilen Angehörigen Kameradschaft. der Bundeswehr die Grundlagen des täglichen Miteinanders. 2 Sie verpflichtet alle Soldaten, die Würde, die Ehre und die Rechte Neben den bereits genannten normativen Grundlagen existie­ des Kameraden zu achten und ihm in Not und Gefahr beizustehen. ren die Lebenswelten der einzelnen Menschen mit den dort statt­ 3 Das schließt gegenseitige Anerkennung, Rücksicht und Achtung findenden gesellschaftlichen Entwicklungen. fremder Anschauungen ein. Bestimmte Rechte unterliegen gesellschaftlichen Entwicklun­ gen und sind in der Nachbetrachtung nicht mit den normativen Die zivilen Angehörigen werden über die zentrale Dienstvor­ Grundlagen vereinbar. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der schrift A-2600/1 „Innere Führung. Selbstverständnis und Füh­ § 175 des Strafgesetzbuches (StGB) mit der Strafbarkeit von Ho­ rungskultur“ miteingebunden. Dort heißt es in der lfd. Nr. 641: mosexualität, der in den 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts „Auf der Basis des Soldatinnen- und Soldaten-Gleichbehandlungs- aus dem StGB gestrichen wurde. Gesellschaftliche Entwicklungen gesetzes sollen die Vorgesetzten sicherstellen, dass es bei den waren und sind immer Teil der Organisationskultur der Bundes­ Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr nicht zu Benachteiligun- wehr. In Verbindung mit der damaligen Betrachtung der Thema­ gen aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, tik Homosexualität durch die Gesellschaft wurden homosexuelle der Religion, der Weltanschauung oder der sexuellen Identität für Angehörige der Bundeswehr mit einem Dienstunfähigkeitsverfah­ den militärischen Dienst kommt. Darüber hinaus ist es Aufgabe der ren aus dem Dienst entfernt. Man musste also die sexuelle Orien­ Vorgesetzten sicherzustellen, dass schwerbehinderte Soldatinnen tierung negieren bzw. eine andere als eigene vortäuschen, um im und Soldaten nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden.“ Kameradenkreis akzeptiert zu werden. Ein weiteres Beispiel für gesellschaftliche Veränderung und da­ Weiter heißt es in der lfd. Nr. 502: mit auch für die Bundeswehr ist die Öffnung aller Laufbahnen in „Die zivilen Angehörigen der Bundeswehr müssen sich bewusst sein, den Streitkräften für Frauen nach einem Urteil des Europäischen dass ihr Handeln vielfach die Rechte und Pflichten der Soldatinnen Gerichtshofes im Jahr 2001. Für den zivilen Anteil der Bundeswehr und Soldaten berührt. Damit bestimmen sie die innere Verfassung war dies im Übrigen relativ unproblematisch. Dort waren für Frau­ der Streitkräfte wesentlich mit und sind deshalb gehalten, ihr Han- en alle Laufbahnen seit der Gründung der Bundeswehr geöffnet. deln in gleicher Weise an den Grundsätzen der Inneren Führung auszurichten.“ Ein Ziel der Bundeswehr ist der wertschätzende Umgang mit­ einander – aber auch die Nutzung aller vorhandenen Potenziale im Sinne der Angehörigen der Bundeswehr und zum Nutzen der Organisation zur Erfüllung des durch das Grundgesetz vorgege­ benen Auftrags.

„Warum also nicht neue unkonventionelle Wege gehen? Ein außergewöhnliches Beispiel hierfür hat jüngst die israelische Armee gezeigt. Sie hat autistische Personen eingestellt, um deren besondere Talente bei hochsensiblen Geheimdienstaufgaben etwa bei der Auswertung von Satellitenaufnahmen nutzen zu können. Eine Idee, die auch den Diversity-Gedanken mit Leben füllt.“ Quelle: Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2018 Hartmut Stiffel arbeitet als Geograf in der 34 Zentralen Koordinierungsstelle Interkulturelle Kompetenz am Potenziale nutzen Zentrum Innere Führung. Die immer komplexere und volatile Sicherheitslage erfordert eine stärkere Nutzung der in der Gesellschaft vorhandenen Potenziale. CHWERPUNKT

S Dazu bemüht sich die Bundeswehr, sich als attraktiver Arbeit­ geber in Konkurrenz zur zivilen Arbeitswelt zu präsentieren und zu platzieren. In diesem Rahmen werden vermehrt auch Gruppen angesprochen, die sich die Bundeswehr bisher nicht unbedingt als Arbeitgeber vorstellen konnten. Dies schließt auch Gruppen mit ein, die im Rahmen von Migration seit der Gründung der Bundes­ republik bis heute nach Deutschland kamen. Betrachtet man zum

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW Beispiel die religiöse Vielfalt bis in die 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts, so hat sich dort einiges entwickelt. So sind heute neben Christen z. B. Muslime und Juden in der Bundeswehr zu finden. Diese Religionen benötigen ebenso wie Christen seelsorg­ liche Betreuung. Um vorhandene Seelsorgebedürfnisse abzu­decken und dort attraktiv auftreten zu können, wurde die Zentrale An­ sprechstelle für Soldatinnen und Soldaten anderer Glaubensrich­ tungen (ZASaG) geschaffen. Ein prominenteres Beispiel für die Erschließung von neuen Po­ tenzialen ist die Verpflichtung von Angehörigen des Sikhismus. Dies war in der Presse nachzulesen. „Im Rahmen dieser Charta werden wir Das Ziel aller Bemühungen zum Umgang mit Vielfalt in der 1. eine Organisationskultur pflegen, die von gegenseitigem Respekt Bundeswehr ist die Schaffung eines Klimas der Akzeptanz und und Wertschätzung jeder und jedes Einzelnen geprägt ist. Wir des gegenseitigen Vertrauens zur professionellen Erfüllung des schaffen die Voraussetzungen dafür, dass Vorgesetzte wie Mitar- Auftrags unter der Nutzung aller vorhandenen Potenziale. beiterinnen und Mitarbeiter diese Werte erkennen, teilen und leben. Um dieses Ziel zu dokumentieren und als Zeichen von Trans­ Dabei kommt den Führungskräften bzw. Vorgesetzten eine besonde- parenz unterzeichnete die Bundeswehr im Jahr 2012 die Charta re Verpflichtung zu. der Vielfalt. Die Charta der Vielfalt ist auch ein Verein unter der 2. unsere Personalprozesse überprüfen und sicherstellen, dass diese Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin mit dem Ziel der Stei­ den vielfältigen Fähigkeiten und Talenten aller Mitarbeiterinnen und gerung der Akzeptanz und der Umsetzung von Vielfalt in der Mitarbeiter sowie unserem Leistungsanspruch gerecht werden. Gesellschaft. In der Charta heißt es: 3. die Vielfalt der Gesellschaft innerhalb und außerhalb der Organi- sation anerkennen, die darin liegenden Potenziale wertschätzen und für das Unternehmen oder die Institution gewinnbringend einsetzen. 4. die Umsetzung der Charta zum Thema des internen und externen Dialogs machen. 5. über unsere Aktivitäten und den Fortschritt bei der Förderung der Vielfalt und Wertschätzung jährlich öffentlich Auskunft geben. 6. unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Diversity informie- ren und sie bei der Umsetzung der Charta einbeziehen. Wir sind überzeugt: Gelebte Vielfalt und Wertschätzung die­ ser Vielfalt hat eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft in Deutschland.“ (Quelle: www.tinyurl.com/charta-vielfalt-wortlaut, abgerufen am 22.10.2019).

Beschäftigte mit Migrationshintergrund (in Prozent)

6,4 18,3 14,3 9,2 12,1 16,7 14,2 6,7 9,3 IUD BMVg Heer Luftwaffe Marine ZSanDstBw Streitkräftebasis Personal AIN 35

Legt man die Zentrale Dienstvorschrift A-2600/1 – Innere Füh­ rung – daneben, stellt man fest, dass man sich in den meisten Punkten nicht sicher sein kann, wer quasi von wem „abgeschrie­ CHWERPUNKT ben“ hat. S Die Situation zur Umsetzung des Umgangs mit Vielfalt in der Bundeswehr wird derzeit maßgeblich durch das Element Chan­ cengerechtigkeit, Vielfalt und Inklusion gestaltet. Ein weiterer Teil des Elements ist die Antidiskriminierungsstelle der Bundeswehr.

Nicht nur Regeln, sondern auch ihren Sinn kommunizieren Beim Thema Das Element ist zuständig für die Personalgewinnung und die Konzeptionierung und Umsetzung von Vielfalt auf der strategi­ Quoten schlagen schen Ebene. In den konzeptionellen Überlegungen wird die Um­ setzung von Vielfalt in die Verantwortung der Vorgesetzten gelegt. die Emotionen sehr Dies hat zur Folge, dass der Umgang mit Vielfalt ein Thema un­ ter vielen bleibt. Eine sich permanent ändernde und anpassende schnell sehr hoch. Organisation, getrieben durch innere und äußere Treiber des Wan­ dels, bedarf einer entsprechend angepassten Kommunikation in­ nerhalb des Unternehmens. Dies bedeutet nicht nur, dass einzelne Ziele und Maßnahmen bekannt gegeben werden müssen, sondern auch, dass die Bedeutung für die Angehörigen der Bundeswehr kommuniziert werden muss. Ein Beispiel hierfür ist die Einfüh­ rung muslimischer und jüdischer Seelsorger. Dabei handelt es sich nicht, wie es manchmal angesprochen wird, um eine besondere Behandlung, sondern um die Schließung einer „Fähigkeitslücke“ für einen bestehenden Bedarf. Weiter gehört zur konsequenten Umsetzung der Strategie und Erreichung der gesetzten organisationalen Ziele neben dem Top- down-Approach der Bottom-up-Approach. Nur wenn beide An­ sätze zusammenwirken, können Ziele erfolgreich erreicht werden. Dazu gehört vor allem, dass, wenn Maßnahmen und Ziele entwi­ ckelt, kommuniziert und vorgegeben werden, Fehlverhalten kon­ sequent geahndet wird. Man kann den Umgang mit Vielfalt durchaus als Ergänzung der bestehenden Antidiskriminierungsstrategie vor dem Hinter­ grund einer steigenden Vielfalt verstehen. Vielfalts- oder Diversitymanagement wird in vielen Organisa­ tionen als Teil der Organisationsentwicklung und spezifischer als Teil des Personalmanagements gesehen. Man könnte auch sagen, dass es um die wirtschaftliche und politische Gleichstellung be­ nachteiligter Gruppen und Umgestaltung bzw. Weiterentwicklung vorhandener Strukturen geht.

14,5 14,5 16,3 6,7 20,1

Quelle: Streitkräfteamt, Erhebung von 2015

Bundeswehr insgesamt* Bundeswehr* und BMVg BMI und sein Geschäftsbereich Verwaltung Öffentliche Wirtschaftszweige Sonstige *Zahlen hochgerechnet 36

Zur Weiterentwicklung gehört auch die Kommunikation mit und die Sensibilisierung für Gruppen, die nicht im Fokus stehen. Dazu wird am Zentrum Innere Führung in Koblenz die Zentrale CHWERPUNKT

S Ansprechstelle für den Umgang mit Vielfalt (ZAVi) eingerichtet. Damit soll die Kommunikations- und Vermittlungslücke der Be­ deutung für den Umgang mit Vielfalt geschlossen werden. Hierbei steht nicht die strategische, sondern die Arbeitsebene im Fokus. Vorgesetzte sollen in der Vermittlung der Sinnhaftigkeit des Umgangs mit Vielfalt unterstützt werden. Man könnte es auch Vielfalt aller Truppen nennen.

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW Dabei ist die Verhinderung von Diskriminierung – sowohl ne­ Zusammenfassung: gativer als auch positiver – eine der wichtigsten Tätigkeiten. Beim Für die Angehörigen der Bundeswehr sind Vielfalt und der Um­ Thema Quoten schlagen die Emotionen sehr schnell sehr hoch und gang damit eine Selbstverständlichkeit, die Teil des beruflichen führen dazu, dass eine Gruppe, die in eine Quotenregelung fällt, Selbstverständnisses ist. sehr schnell Ablehnung erfährt. So wurden und werden Frauen Die hohe Kunst besteht darin, die angesprochenen Themen der häufig mit dem Vorurteil eines vermeintlichen Quotenvorteils Vielfalt weder über- noch unterzubetonen. Wandel muss kommu­ konfrontiert. Die damit konfrontierten Frauen reagieren genervt. niziert und gelebt werden. Dabei sind alle Angehörigen „mitzu­ Sie wollen und werden nach Eignung, Leistung und Befähigung nehmen“ – und eben nicht nur das Führungspersonal. betrachtet. Dies bedingt auch den Perspektivwechsel von der strategischen Manchmal bleiben aber immer noch ein paar Fragen im Raum hin zur persönlichen Ebene aller Angehörigen der Bundeswehr, stehen, wie z. B. warum das Element Chancengerechtigkeit, Viel­ um damit möglicherweise einhergehenden sozialen Spannungen falt und Inklusion in naher Zukunft zum vierten Mal in Folge von und Diskriminierungen entschieden entgegenzutreten. einer Frau geleitet wird? Eine Überbetonung bestimmter Aspekte Gelingt es, alle Angehörigen der Bundeswehr zu erreichen, ist kann sehr schnell das Gegenteil der intendierten Wirkung erzeu­ dies ein großer Schritt zur Normalisierung im Umgang mit Viel­ gen, nämlich Ablehnung. falt hin zu einem respektvollen und professionellen Miteinander Ein Beispiel hierfür ist die Thematik Gender, die in der Trup­ im Sinne des Auftrags der Bundeswehr. pe meistens auf ein paar Begriffe reduziert wird: Quote, Gleich­ stellung und Anpassung der Sprache. Die tatsächliche Bedeutung von Gender, vor allem im militärischen Kontext, wird nicht oder nur in Ausnahmefällen vermittelt. Dass Gender im militärischen Kontext Bezüge zur VN-Reso­ lution 1325 aus dem Jahr 2000 hat und dass damit auch Ziele verknüpft sind, die im zivilen Umfeld so keine Rolle spielen, ist wenig bekannt. Ein Beispiel ist die Erhöhung des Frauenanteils in VN-Einsatzkontingenten der jeweiligen Nationen. Gemeint sind alle Organisationen (militärisch und nichtmilitärisch), die im Rah­ men einer VN-Mission tätig sind. Hierzu hat sich Deutschland ebenfalls verpflichtet.

Artikel 3 GG • (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. • (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat • (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechti- politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt gung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benach- bestehender Nachteile hin. teiligt werden. Der britische Premierminister Boris Johnson, Brexit-Befürworter der ersten Stunde (o.); Ortsgrenze von Free Derry, zwischen 1969 bis 1972 selbst ernannte autonome Region Nordirlands und lange Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen (u.) 38 k k iti ol herheitsp i c S FRIEDEN HAT PARTNER IM BMVg ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW

Über die Etablierung eines Dialogs zwischen Ministerialbeamten und Friedensforscher*innen Von Claudia Baumgart-Ochse

enn die Herausgeberinnen und Herausgeber des Friedensgut- W achtens jährlich im Frühsom- mer zur Präsentation des neuen Gutachtens im Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) erscheinen, treffen sie auf gut vor- bereitete Gesprächspartner: Notizen, bunte Anstreichungen und Lesezeichen zieren die Ausdrucke von Stellungnahme und Kapi- Ein deutscher Fallschirmjäger der MINUSMA teln, die vor den Mitarbeitern des BMVg sucht 2018 auf der Strecke zwischen Gao und auf den Tischen liegen. Und entsprechend Gossi in Mali nach Sprengsätzen (IEDs) sachorientiert, detailreich und engagiert ist der Austausch zwischen den Herausgebe- rinnen und Herausgebern der vier beteilig- ten Friedens- und Konfliktforschungsinsti- tute und den Vertretern des BMVg. Ein Austausch, der erst seit wenigen Jahren stattfindet: Was im Sommer 2014 lung Politik des BMVg; zugleich bietet das ter der westliche Staaten und internationale im kleinen Rahmen begann, ist inzwischen Friedensgutachten bei vielen Fragen der Organisationen ihre militärischen, polizei- ein fester und gut besuchter Termin bei der Friedens- und Sicherheitspolitik auch Stoff lichen, diplomatischen und entwicklungs- jährlichen Präsentation des Friedensgut- für Diskussion. politischen Interventionen in Gewaltkon- achtens in Berlin. Überraschen mag beim Sowohl 2018 als auch 2019 war beispiels- flikte bündeln, richte sich in erster Linie Dialog mit den „Verteidigern“, dass bei weise die Stabilisierungspolitik der Bundes- auf die Stärkung staatlicher Sicherheits- vielen Themen durchaus Einigkeit besteht regierung ein zentrales Thema im Friedens- und Verwaltungsorgane. Diese Politik sei zwischen Friedens- und Konfliktforsche- gutachten – und die Forscherinnen und jedoch kontraproduktiv. Denn: Die Belange rinnen und -forschern und den Mitarbei- Forscher zogen eine sehr kritische Bilanz: der Bevölkerung in Konfliktgebieten wür- tern verschiedener Referate aus der Abtei- Die aktuelle Politik der Stabilisierung, un- den zu wenig berücksichtigt. Daher muss 39 k iti ol

Dr. Claudia

Baumgart-Ochse herheitsp

ist wissenschaftliche i c S Mitarbeiterin bei der ­Hessischen Stiftung Friedens- und Konflikt­ forschung (HSFK) und Redaktionsleiterin des Friedensgutachtens.

nach Ansicht der Herausgeberinnen und analysieren den aktuellen Stand des welt- Herausgeber die Stabilisierungspolitik neu weiten Konfliktgeschehens und der Frie- überdacht werden. Ein Stabilisierungsan- dens- und Sicherheitspolitik in fünf jähr- satz, der die Regierung als Partner stärkt, lich wiederkehrenden Themenfeldern: obwohl diese hauptverantwortlich für Bewaffnete Konflikte, Nachhaltiger Frie- bestehende Instabilität ist, könne nicht den, Rüstungsdynamiken, Institutionelle erfolgreich sein. Die Zusammenarbeit mit Friedenssicherung und Transnationale Staaten wie Mali müsse daher neu ausge- Nach Ansicht Sicher­heitsrisiken. In einem sechsten Kapi- handelt und durch eine Zusammenarbeit tel – dem Fokus – wird ein jeweils aktuelles mit der Zivilgesellschaft und mit lokalen der Heraus­ Thema ausführlich untersucht. 2019 war Gemeinschaften ergänzt werden. dies die Krise der globalen Nuklearordnung. geberinnen und Die Stellungnahme der Herausgeberinnen Analysen und Ratschläge und Herausgeber – also der Leitungen der Kontrovers diskutiert wurden bei der Prä- Herausgeber vier Institute – greift die wichtigsten Ergeb- sentation 2019 noch weitere Themen – bei- nisse der Analysen auf und gibt konkrete spielsweise die Beteiligung der Bundeswehr muss die Empfehlungen für die deutsche Politik. an Einsätzen der Vereinten Nationen, die 2019 lautet die zentrale Empfehlung, neue Krisenregionen stabilisieren oder Konflikte Stabilisierungs- Partner für eine innovative und tatkräf- beenden sollen, die aber häufig von Wider- tige Friedenspolitik zu gewinnen – nicht sprüchen und Zielkonflikten gekennzeich- politik neu zuletzt angesichts des Rückzugs der USA net seien; oder die Politik der Bundes­ aus vielen multilateralen Abkommen und regierung im Bereich der Abrüstung und überdacht Verpflichtungen. Deutschland müsse neue Rüstungskontrolle. Das Friedensgutach- strategische Bündnisse schmieden, um zu ten begrüßt ausdrücklich den derzeitigen werden verhindern, dass die Staatengemeinschaft Rüstungsexportstopp nach Saudi-Arabien. auseinanderfällt und internationale Regeln Er müsse eine dauerhafte Abkehr von deut- weiter geschwächt werden. Diese Partner schen Waffenexporten in autoritäre Staa- könnten Staaten sein, mit denen Deutsch- ten und in Spannungsgebiete einleiten. land strategische Allianzen bildet, um kon- Deutschland solle darüber hinaus in der krete Initiativen voranzubringen. Zugleich EU und im Sicherheitsrat der Vereinten gehörten bestehende Partnerschaften auf Nationen (VN) für ein Waffenembargo ge- den Prüfstand – beispielsweise sogenannte gen alle Kriegsparteien im Jemen eintreten Migrations- und Mobilitätspartnerschaften und generell die multilaterale Rüstungs- mit autoritären Regimen, wenn sie selbst kontrolle stärken. zu Repression und Menschenrechtsverlet- Das Friedensgutachten wird seit 1987 zungen beitragen. herausgegeben. 2018 erschien es erstmals Die Herausgeberinnen und Herausgeber in neuer Konzeption und neuer Gestal- stellen das neue Friedensgutachten jeweils tung. Expert*innen-Teams aus den beteilig- nach Erscheinen in Berlin vor: in der Bun- ten Instituten – Bonn International Center despressekonferenz, in den Fraktionen des for Conversion (BICC), Leibniz-Institut Bundestages, in einschlägigen Ministeri- Hessische Stiftung Friedens- und Kon- en, im Bundeskanzleramt und im Bundes­ fliktforschung (HSFK), Institut für Ent- präsidialamt. Das Friedensgutachten kann wicklung und Frieden (INEF) und Institut online unter www.friedensgutachten.de für Friedensforschung und Sicherheits­ kostenlos heruntergeladen werden. politik an der Universität Hamburg (IFSH) – 40 k k iti ol STRATEGIEN herheitsp i c S SIND NICHT IN STEIN ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW GEMEISSELT

Warum Deutschland mit dem gesamtstaatlichen Ansatz sicherheitspolitisch mehr Verantwortung übernehmen kann und muss Von Martin Lammert

ie Welt scheint zunehmend unfriedlicher, rauer zu werden. Ob sie „ … aus den Fugen …“ ge- D raten ist, wie der heutige Bundespräsident und damalige Bundesaußenminister Frank Walter Stein- meier formulierte, liegt sicherlich in den Augen des Betrachters, beziehungsweise des Analytikers. Aller- dings reichen die Konfliktlinien heute in der Tat von Afghanistan bis nach Osteuropa in die Ostukraine, von Syrien, Irak und dem Jemen in einem Krisenbogen entlang der nordafrikanischen Staaten, einschließlich Mali, bis hin zu der aktuellen Frage, wie in Hongkong die Meinungsvielfalt und damit der innere Frieden insgesamt erhalten werden kann. Der Bundesrepublik Deutschland kommt als Mit- telmacht im Herzen Europas eine besondere Ver- antwortung zu, ja, sie muss Verantwortung in die- ser unsicheren Welt übernehmen. Dazu hat sich die Bundesregierung im Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr 2016 verpflichtet: In Syrien: Ein kurdischer Kämpfer schaut Deutschland muss selbstverständlicher und sichtba- 2015 auf die vom IS zurückeroberte Stadt ­Kobane. Im Oktober 2019 haben syrische rer Verantwortung übernehmen – nicht nur in ­Europa, und russische Kräfte Kobane eingenommen sondern weltweit. 41 k iti ol herheitsp i c S

Martin Lammert, Oberstleutnant i. G., ist Dozent für Sicherheitspolitik und Strategie an der Führungs- akademie der Bundeswehr in Hamburg. Zuvor war er bei der NATO in Brüssel tätig und im Verteidigungs­ ministerium Teil der Projekt­ gruppe Weißbuch 2016.

Neben der Tatsache, dass Sicherheitspolitik in Flucht- und Migrationsbewegungen, die inzwischen auch für uns Deutsche Deutschland wieder mehr Beachtung erfahren und spürbar sind und uns verunsichern. zudem strategisches Denken für eine langfristige staat- Der gesamtstaatliche Ansatz im Internationalen Krisenmanagement ist ein liche Daseinsvorsorge als zwingende Notwendigkeit probates Mittel, diese Herausforderungen anzugehen. Reagieren muss aller­ erkannt und anerkannt werden muss, gilt folgender dings stärker in Agieren umgewandelt werden. Dabei geht es längst nicht mehr Befund: Die Bundesregierung muss den gesamtstaat- um die Frage, ob der gesamtstaatliche Ansatz angewandt und umgesetzt wer- lichen Ansatz weiter vorantreiben und diesen in naher den muss, sondern es geht klar und deutlich um die Beantwortung der Frage, Zukunft zu einer Selbstverständlichkeit des Regie- wie ein Mix aus diplomatischen, entwicklungspolitischen und militärischen rungshandelns werden lassen. Mitteln wann, wo und in welchem Umfang fein aufeinander abgestimmt eingesetzt werden kann und muss. Ziel ist es, einen bewaffneten Konflikt zu Es geht nicht ums Ob, sondern ums Wie beenden, die zur Rede stehende Region zu stabilisieren und schließlich dau- Es sind fragile Staaten wie Syrien, Irak oder Mali, in erhafte Stabilität zu schaffen, möglichst mit einem lokalen „Gesicht“. Um das denen Staatlichkeit abnimmt, in denen Staatszerfalls- zu erreichen, muss Krisenfrüherkennung noch eher ansetzen, müssen Krisen kriege wüten, die ganze Regionen destabilisieren und und Konflikte noch stärker als bisher „gelesen“, ja, verstanden werden, um den dort lebenden Menschen die Existenzgrundlagen den zuvor genannten Mix in der geeigneten Dosierung zusammenzusetzen. rauben. Für die Bundesregierung bedeutet das, ihre Die Bundesregierung verfügt über einige Erfahrung im Internationalen krisenpolitischen Aktivitäten und die Entwicklungs- Krisenmanagement (IKM): In Afghanistan, aber auch bei der Bekämpfung zusammenarbeit an den wechselnden Anforderun- der Ebola-Epidemie in Westafrika wurde das Zusammenwirken verschiede- gen auszurichten. Die Auswirkungen der beschriebe- ner Instrumente einer intensiven Probe unterzogen. Im Nahen und Mittleren nen Krisen und Konflikte reichen inzwischen an die Osten arbeiten unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Instrumenten Grenzen Europas heran und setzen das europäische an einem gemeinsamen Ziel: Die Entwicklungszusammenarbeit wirkt sich in Projekt unter Druck. Es sind vor allem die globalen Syrien und den angrenzenden Staaten aus, die Bundeswehr ist auch weiter- 42 k k iti

ol hin aktiv in Jordanien im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat. Das Mandat „Counter Daesh“ des Deutschen Bundestages steht Ende Okto- ber 2019 (nach Redaktionsschluss) zur Verlängerung an. In Mali ergänzen konkrete entwicklungspolitische Maßnahmen und Projekte die europäische herheitsp Ausbildungsmission EUTM Mali, an der auch deutsche Soldaten beteiligt sind. i c S Die Vereinten Nationen sind durch die MINUSMA-Mission prominent in einer gemeinsamen Mission von Soldaten, Polizisten und zivilem Personal vertreten.

Auch Beraten ist militärisches Engagement Gleichzeitig geben die Konzeption der Bundeswehr (KdB) und das neue Fähigkeitsprofil auch die Rückorientierung auf Landes- und Bündnisverteidi- gung, auf klassische, konventionelle Szenarien vor. Trotzdem sind Streitkräfte ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW nicht mehr nur auf den reinen Kampf zu reduzieren. Die Ausbilder- und Beratertätigkeiten machen schließlich heute einen umfangreichen Anteil am militärischen Engagement aus. Dies ist in Afghanistan, Irak, und auch Mali prominent der Fall. Andererseits begleitet militärisch-robustes Engagement häufig die zivilen, gerade die entwicklungspolitischen Instrumente, schafft die Voraussetzungen, dass zahlreiche Nichtregierungsorganisationen ihre Arbeit machen können. Diese sind darauf angewiesen, dass Streitkräfte bei Bedarf die grundlegende und notwendige Sicherheit für ziviles Engagement herstellen. Der Einsatz von Streitkräften verschafft wertvolle Zeit für diploma- tische Lösungen. Er schafft aber auch die Voraussetzungen, damit sich Stabi- lität, Sicherheit, Vertrauen und Entwicklung entfalten und etablieren können. Und ja, es ist richtig: Deutschland übernimmt bereits Verantwortung im internationalen Krisenmanagement. Allerdings: Es dürfte schon ein wenig mehr sein. Deutlicher, sichtbarer, stärker an deutschen sicherheitspolitischen Interessen ausgerichtet. Deutschland muss mehr internationale Verantwor- tung übernehmen, um seiner Relevanz nachzukommen und dadurch auch relevant zu bleiben. Um diese Verantwortungsübernahme, auch in der Füh- rung, wirkungsvoll zu gestalten, müssen das gesamtstaatliche Instrumen- tarium und die Sicherheitsarchitektur so weiterentwickelt werden, dass sie in einem tiefgreifend veränderten Sicherheitsumfeld bestehen können. Die Bundeswehr als eines dieser Instrumente muss über ein umfassendes Fähig- keitsspektrum verfügen, um ihre gleichrangigen Aufgaben erfüllen zu kön- nen – von der Landes- und Bündnisverteidigung über den Heimatschutz bis zum internationalen­ Krisenmanagement und der Ertüchtigung von Partnern.

Von Anfang an alles mitdenken Es ist ein scheinbares Paradoxon, das da lautet: Strategisch zu handeln, be- deutet, unter den Bedingungen des aktuellen und absehbar auch des künfti- gen Sicherheitsumfelds flexibel zu sein. Es handelt sich dabei allerdings nur vordergründig um ein Paradoxon, denn tatsächlich war, ist und wird es einer der zeitlosen Grundsätze strategischen Handelns sein: Strategien sind nicht in Stein gemeißelt, sondern müssen anpassungs- und wandlungsfähig sein, dabei aber immer im Blick behalten, wie sich veränderte Strategien auf die Ziele und die verfügbaren Mittel auswirken. Anders ausgedrückt: Bei aller Flexibilität muss gewährleistet sein, dass Zweck, Ziel und Mittel im Verhältnis stehen. Für Deutschland geht es darum, gesamtstaatlich noch konsequenter und koordinierter zu handeln und den Einsatz von Streitkräften von Beginn an mitzudenken. Ziel ist und bleibt eine vorausschauende Sicherheitspolitik, in der das internationale Krisenmanagement ein wesentlicher Pfeiler ist. Die Herausforderungen unserer Zeit verlangen danach. Wir müssen uns bewusst machen: Für Frieden und Sicherheit gilt es aktiv einzutreten, gilt es selbst­ bewusst und entlang deutscher Interessen Verantwortung zu übernehmen. Das geht am besten mit einem gesamtstaatlichen Ansatz, für den einsatzfähige, gut ausgerüstete, mobile und interoperable Streitkräfte die Voraussetzung sind. Hunderte Afghanen marschieren im Februar 2018 in dem von Unruhen geplagten Distrikt Nad Ali für Frieden. Die Demonstranten fordern die Taliban auf, ihre Kämpfe einzustellen und den Dialog mit der Regierung zu suchen 44 ik th e s

rieden BRÜCKEN ZUM FEIND F

Frieden beginnt im Krieg. Die Wissenschaft entdeckt die Notwendigkeit von Versöhnung – weit über formale Waffenstillstandsabkommen hinaus.

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW Wie sieht ein versöhnungsfördernder Auslandseinsatz aus? Von Martin Leiner

Beschwerlicher Gang: Die serbische Artillerie überkreuzt während des Ersten Weltkriegs auf einer hölzernen Behelfskonstruktion die Save

ersöhnung ist der neue Ansatz zum Thema von Gewalt anerkannt. Ferner ist der Versöhnungs- Frieden. Obwohl seine Wurzeln unter ande- ansatz auch nicht mehr exklusiv religiös, christlich V rem in Deutschland liegen, ist der Versöh- oder jüdisch verwurzelt, sondern wird von Atheisten, nungsansatz hierzulande noch relativ unbekannt und Buddhisten, Muslimen, Baha’i-Hindus, im Grunde wird auch leicht missverstanden. Deshalb erst ein paar von Vertretern aller Religionen mit Begründungen aus Sätze zu diesem neuen, auch für Soldaten bedeutungs- ihrer Tradition vertreten. vollen Ansatz. Anders als frühere Versöhnungsaktivi- täten sieht der neuere Versöhnungsansatz die Zusam- Versöhnung als internationale Aufgabe menarbeit mit Militär und Soldaten als unverzichtbar UN und OSZE sprechen zunehmend von Versöhnung. und sehr vielversprechend an. Militäreinsätze werden Bereits die Agenda for Peace des UN-Generalsekretärs von den meisten Vertretern dieses Ansatzes nicht ab- Boutros Boutros-Ghali von 1992 beschrieb in Grundzü- gelehnt, sondern als Mittel zur Selbstverteidigung, zur gen ein Versöhnungsprogramm als notwendige Akti­ Verhinderung schwerster Menschenrechtsverletzungen vität nach Gewaltkonflikten. Die Generalversammlung und als manchmal nötiger Schritt zur Überwindung der UN hat dann 1999, dem Versöhnungsansatz sehr 45 ik th e s rieden F

Brücke vom Feind – Brücke zum Feind: In Serbien ist man heute noch froh über die Save-Brücke, die die Deutschen im Zweiten Weltkrieg bauten

ähnlich, eine Kultur des Friedens gefordert. Die Dis- forschung in dieser Region. 2020 wird die Weltgesell- kussionen gehen weiter, und es sind Verlautbarungen schaft für Versöhnungsforschung gegründet werden. zur Versöhnung aktuell in Vorbereitung. In Deutschland gibt es bisher erst ein Zentrum für Ver- Die OSZE war immer schon einem relativ integra­ söhnungsforschung, das JCRS in Jena; möglicherweise tiven Ansatz verpflichtet. Sie hat jüngst im Dezem- kommt die Universität Bonn im nächsten Jahr hinzu. ber 2018 in Wien einen Text vorgestellt: „Religion and Security Building in the OSCE Context“, in dem Ver- Was ist Versöhnung? söhnung eine wichtige Rolle spielt. Auch wissenschaft- Der Versöhnungsansatz geht davon aus, dass zahlrei- lich wird Versöhnung als Ansatz weiterentwickelt. che Maßnahmen auf sehr unterschiedlichen Ebenen Universitäten in den USA, in Irland, Großbritannien, nötig sind, um in Krisengebieten die dort herrschen- Südafrika, Japan und Israel forschen seit den 1990er de Kultur, Wirtschaft und Psychologie der Gewalt und Jahren zu Versöhnungsprozessen. 2018 schlossen des Konflikts zu überwinden. Es geht bei Versöhnung in Jena 20 Universitäten aus dem Nahen Osten und darum, Verhandlungen, Sicherheitskräfte, Wirtschaft, Nordafrika eine Allianz zum Aufbau von Versöhnungs- Recht, internationale Akteure, aber auch Erziehung, 46 ik th e Begegnungen zwischen verfeindeten Gruppen, Ent- ­Opposition der Bevölkerung im Südteil der Insel. Ame- s schuldigungen für vergangenes Unrecht, Erinnerungs- rikanische und israelische Forscher bildeten den Begriff orte, Traumatherapien, die Kooperation mit religiösen des „intractable conflict“ (deutsch: „unteilbarer Kon- rieden

F ­Organisationen und ihren Leitern, Wahrheits- und Ver- flikt“), um zu beschreiben, dass Konflikte nicht durch söhnungskommissionen, traditionelle Aktivitäten der Verhandlungen, rechtliche Regelungen und Militär Entwicklungspolitik, Veränderung der Medien und allein gelöst werden können. einiges mehr in einer für den Konflikt passenden ­Weise Positive Erfahrungen mit Versöhnung wurden in zusammenzubringen. Deutschland, Chile, Südafrika, Tschechien, Ruanda und Versöhnung wird deshalb verstanden als Lang- Nordirland gemacht. Deutschland steht für eine lang- zeitprozess mit dem Ziel, beginnend inmitten von jährige Versöhnungspolitik seit dem Zweiten Weltkrieg –

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW Kriegen, Bürgerkriegen, Völkermorden und schwe- insbesondere mit Ländern wie Israel, Frankreich, ren Menschenrechtsverletzungen wie Vertreibungen, Polen und neuerdings auch Griechenland. Im Zusam- Apartheid oder Kolonialismus, „normale“ und wenn menhang der Wiedervereinigung wurde deutlich, dass möglich gute, vertrauensvolle Beziehungen zwischen ohne diese Politik die internationale Zustimmung und den Gruppen und Menschen wiederaufzubauen. Die das Vertrauen in ein starkes und friedfertiges Deutsch- Versöhnung mit dem anderen, mit sich selbst und mit land unmöglich gewesen wären. dem Leben und seinen Grenzen und unwiederbring­ Chile berief 1990 die erste Versöhnungskommissi- lichen Verlusten sind dabei drei Dimensionen, die stets on weltweit und schaffte den Wandel zu Demokratie Hand in Hand gehen. und Menschenrechten unter äußerst schwierigen Rah- menbedingungen. Südafrika stand vor einem Bürger- Aus welchen Erfahrungen entstand krieg und konnte durch die gemeinsame, von Nelson der Versöhnungsansatz? Mandela und Frederik de Klerk geleitete Versöhnungs­ Der Versöhnungsansatz entstand in den 1990er-Jahren. politik der Katastrophe entgehen. Tschechien und die Er zieht die Konsequenzen aus den Erfahrungen seit- Slowakei trennten sich einvernehmlich, wurden 1993 her. Negative Erfahrungen wurden gemacht, als Frie- selbstständige Staaten und gaben der Welt ein Beispiel, densabkommen ohne Bearbeitung der Vergangenheit dass versöhnliche Trennungen Gewaltkonflikte ver- und ohne Veränderung der Kultur scheiterten, selbst hindern. Nach dem Völkermord 1994 gelang es Ruanda wenn UN-Truppen im Land waren. Dies war mit dem durch eine Versöhnungspolitik, das Land zu einem der Arusha-Abkommen von 1993 der Fall, das geradezu sichersten und wirtschaftlich erfolgreichsten in Afrika zum Völkermord an den Tutsi in Ruanda führte. Das zu machen. Der Nordirlandkonflikt, einer der längs- Oslo-Abkommen konnte nicht umgesetzt werden, weil ten Gewaltkonflikte in Europa, konnte durch das Kar­ Teile der israelischen und der palästinensischen Be- freitagsabkommen 1998 beendet werden. Damit sind völkerung nicht bereit waren für den Frieden. Auch wir schon bei den Beispielen. die Wiedervereinigung Zyperns scheiterte an der

Prof. Dr. Martin Leiner ist Professor für Syste- matische Theologie mit Schwerpunkt Ethik an der Universität Jena und leitet das Jena Center for Reconciliation Studies (JCRS). 47 ik th e Amerikanische und israelische Forscher bildeten den s rieden

Begriff des „intractable conflict“ (deutsch: „unteil- F barer Konflikt“), um zu beschreiben, dass Konflikte nicht durch Verhandlungen, rechtliche Regelungen und Militär allein gelöst werden können.

„Er kam als Besatzer und er ging als Freund“ – man positiv den Bau von Brücken und Straßen. Ich Versöhnung zwischen Besatzungsarmee konnte das in Belgrad kurz nach dem Bosnienkrieg und Bevölkerung erfahren, wo man bis heute froh ist über eine Brücke, „Er kam als Besatzer und er ging als Freund“; dieser Satz die die Deutschen im Krieg gebaut haben. Ich hatte steht auf einer Brücke über den Inn in Innsbruck und be- nach der Brücke gefragt, auf der sich die Protestbewe- zieht sich dort auf Marie Émile Antoine Béthouart, den gung gegen die Luftangriffe der NATO gesammelt hatte. leitenden General der französischen Besatzung Tirols Mein Gesprächspartner zeigte mir aber erst eine ande- nach dem Zweiten Weltkrieg. Besatzungen nach einem re Brücke, die 430 Meter lange Save-Brücke, und sagte, Krieg – und erst recht in einem Krieg – können so sie sei so stabil und nützlich für die Stadt und so gut gestaltet werden, dass die Bevölkerung die Besatzer gebaut von den deutschen Besatzern im Zweiten Welt- hasst; sie können aber auch so gestaltet werden, dass krieg. Man habe sie lange „die deutsche Brücke“ ge- Achtung der Bevölkerung und manchmal auch Ver- nannt. Glücklicherweise verzichteten deutsche Solda- trauen und Freundschaft entstehen. Das ist offensicht- ten beim Rückzug 1944 darauf, die Brücke zu sprengen. lich in Tirol gelungen. Ähnlich positiv sprach der Friedensforscher Johan Welches sind die Faktoren, damit eine Besatzung Galtung bei der Feier seines 80. Geburtstages über die die Feindschaft nicht noch schlimmer macht, sondern Straßen, die die Deutschen in Norwegen gebaut ha- Schritte zur Verbesserung der Beziehungen und so- ben. Solche Aussagen erstaunten mich, machen aber mit zur Versöhnung einleitet? Zum einen sind es die auch klar, wie viel von Besatzungsarmeen falsch ge- Bedürfnisse der Bevölkerung. Ein Krieg hat die Be- macht werden kann. Grundbedürfnisse, Infrastruktur, völkerung oft in materielle Notlagen gebracht. Es fehlt Sicherheit der Bevölkerung, Rechtlichkeit, Fairness, an Häusern, Nahrung und Brennmaterial. Brücken Entschuldigung für eigene Irrtümer und Fehler, vor und Verkehrswege sind zerstört. Besatzungsarmeen allem Achtung der Einheimischen sind der Schlüssel haben oft die Möglichkeiten, der Bevölkerung zu hel- für eine versöhnungsfördernde Besatzung, wie auch fen. Wenn Besatzungsarmeen, statt Lebensmittel zu für einen versöhnungsfördernden Auslandseinsatz. konfiszieren, den Menschen in ihrem Überlebenskampf Kasernierung von Soldaten und Kontaktverbote füh- helfen, entstehen erste Brücken von Vertrauen. ren häufig zu Entfremdung, während persönliche Um ein persönliches Beispiel zu nennen: Selbst in Län- Begegnungen, wenn sie möglich sind, in aller Regel dern, in denen die deutsche Wehrmacht im Zweiten Welt- auch zu positiven Beziehungen führen. krieg schwere Kriegsverbrechen begangen hat, erinnert 48 ik th e Reisen nach Auschwitz, Buchenwald, an ehemalige s Kriegsveteranen als Freunde – ein Beispiel aus dem Falklandkrieg Wohnorte von Palästinensern und in Flüchtlingslager Die argentinischen Soldaten, die im Falklandkrieg in der Nähe von Jerusalem führten zu unterschied­ rieden

F kämpften, gingen von völlig falschen Voraussetzun- lichen Reaktionen der jeweils etwa 100 Teilnehmerin- gen aus. Sie dachten, eine ihnen ähnliche Bevölke- nen und Teilnehmer. Eine kleine Minderheit, etwa rung vorzufinden, die sie als Befreier bejubeln würde, ein bis zwei Personen auf beiden Seiten, verweigerten keine Englisch sprechenden Schafzüchter. Aber auch sich der Erfahrung, verließen den Bus oder behaup- die Engländer waren überrascht von den kleinen Pu- teten, dass dies alles nicht wahr sei. Alle übrigen wa- kará-Propellermaschinen, mit denen argentinische ren nach den Erfahrungen überzeugt, dass das Leiden Piloten auf der winzigen Startbahn der Falklandinseln stattfand und sehr schlimm war. Palästinenser wein-

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW landeten – und starteten – und so nah an der Meeres- ten in Auschwitz und etwa 20 Prozent beteiligten sich oberfläche fliegen konnten, dass sie vom Radar nicht sogar an Aktivitäten, die Wirklichkeit des Holocaust in registriert wurden. Nach dem Ende des Krieges gab der palästinensischen Gesellschaft mit Publikatio­nen es Interesse aus dem Vereinigten Königreich, die Ma- zu bezeugen. Bei den Israelis war die Reaktion ähn- schinen und die Piloten näher kennenzulernen, um zu lich, nur weniger expressiv und organisiert. Es gab aber erfahren, wie sie diese beeindruckenden Flüge durch- auch starke Gegenreaktionen von außerhalb. So ver- geführt haben. Auf diese Weise sind Freundschaften leumdete eine Zeitung in Palästina die Reise als von zwischen ehemaligen Feinden entstanden. Die Hoch- zionistischen Organisationen finanziert. Es gab Mord- achtung für den anderen, seinen Mut und seine Leis- drohungen gegen den palästinensischen Professor, der tungen und das positive Interesse am anderen können, seine Lehrtätigkeit eingestellt hat. wie dieses und viele andere Beispiele zeigen, eine Brü- Während eine große Zahl von Teilnehmern des Pro- cke für Versöhnung sein. jekts Empathie mit dem Leiden der anderen Gruppe empfand, hatten viele wenig Hoffnung auf einen Ver- Versöhnung und Empathie – söhnungsprozess im Heiligen Land. Sie fragten eher: ein Forschungsprojekt mit Palästinensern Warum tun die Israelis uns das an, was wir jeden Tag und Israelis erleben, wenn die Juden dies erleben mussten? Oder: Zum Abschluss möchte ich kurz von einem DFG-For- Warum hören die Palästinenser nicht auf mit ihren schungsprojekt berichten, das wir mit Palästinensern Angriffen auf Israelis? Eine sehr große Zahl der Teil- und Israelis in den Jahren 2013 bis 2019 durchgeführt nehmer unterstrich die Zustimmung zur Identität der haben. Wir wollten wissen, ob die Begegnung mit eigenen Gruppe, die durch diese Erfahrungen nicht dem Leiden der anderen Gruppe die Bereitschaft zur gesunken sei. Empathie ist ein guter Schritt. Sie führt Versöhnung fördern kann. Wir wählten Israelis und zu mehr Sympathie, weniger Angst und weniger Hass Palästinenser, weil in beiden Gruppen das Leiden der auf die jeweils andere Gruppe. Aber Empathie allein jeweils anderen Gruppe in der Schulbildung und in der kann noch nicht den Wandel bringen. Versöhnung ist Öffentlichkeit keinen Platz hat. Der Holocaust kommt ein Projekt, das Maßnahmen auf vielen Ebenen ver- in den palästinensischen Lehrplänen genauso wenig langt und bei dem die Regierungen in Palästina und vor wie die Vertreibung der Palästinenser und ihr Lei- Israel sich für den Frieden entscheiden müssen. den in den israelischen.

Empathie ist ein guter Schritt. Sie führt zu mehr Sympathie, weniger Angst und weniger Hass auf die jeweils andere Gruppe. Aber Empathie ­allein kann noch nicht den Wandel bringen. 49 ik th e s

DER ZAUN ZWISCHEN rieden F GLOBAL ZERO UND NUKLEARER TEILHABE STEHT IN BÜCHEL

Zum „Kirchlichen Aktionstag gegen Atomwaffen“ am 7. Juli 2019 Von Roger Mielke

berst Thomas Schneider, der Soldaten der Bundeswehr und ihre Ange- Kommodore des Taktischen Luft- hörigen.“ Aktionskünstler aus Jena hatten O waffengeschwaders 33, war mit zwanzig mit Luft gefüllte Atombomben­ dem Motorrad gekommen und hatte sich attrappen mitgebracht, die zum Abschluss unter die Teilnehmer des „Aktionstages“ des Aktionstages in sich zusammensanken gemischt – ohne Uniform, wie er berichtet, und in Mülltonnen entsorgt wurden. um besser die Stimmung wahrnehmen zu Hinter dem Zaun des Fliegerhorstes können. Zum zweiten Jahrestag der Unter- standen Soldaten und betrachteten das zeichnung des Atomwaffenverbotsvertra- Treiben mit gemischten Gefühlen. Im ver- Militärdekan ges hatte ein Bündnis von Friedensgruppen gangenen Jahr hatten Aktivisten Zäune Dr. Roger Mielke eingeladen und etwa 750 Menschen waren durchschnitten und waren in die Liegen- leitet das Evangelische gekommen. Auf dem Fliegerhorst Büchel in schaft eingedrungen. Oberst Schneider Militärpfarramt Koblenz III am Zentrum Innere Führung der Eifel lagern nach offiziell nicht bestätig- betont im Gespräch: „Die Proteste sind Teil der Bundeswehr. ten Informationen B61-Wasserstoffbomben. einer lebendigen Demokratie. Wir haben Büchel gilt daher schon seit Jahren als ein mit unterschiedlichen Annäherungen das Symbolort des Protestes gegen Atomwaffen gleiche Ziel: dem Frieden zu dienen.“ Mit und auch gegen eine deutsche Sicherheits- 90 Prozent der Protestierenden, besonders politik, die auf nukleare Teilhabe setzt. mit denjenigen aus der Region, stehe man Margot Käßmann, die frühere Rats- in einer guten Verbindung. Problematisch vorsitzende der Evangelischen Kirche in sei es, wenn der Protest militant werde. Ein Deutschland und prominentes Gesicht junger Soldat fragt: „Warum bringen uns einer pazifistischen Friedensethik, pre- die Friedensaktivisten in diese Situation, digte im ökumenischen Gottesdienst zur in der wir vom Hausrecht Gebrauch ma- neutest­amentlichen Bitte aus Lukas 1,79: chen müssen?“ „… und richte unsere Füße auf den Weg des Der Aktionstag führt die Ambivalenzen Friedens“. Gerade wegen der vielfältigen vor Augen: Die Frage der atomaren Bewaff- Krisen der internationalen Ordnung gelte nung wird in Deutschland gegenwärtig es, „sich nicht in eine Verantwortungslosig- wenig diskutiert. „Global Zero“ und nuklea­ keit ‚hineinschläfern‘ zu lassen!“. Vielmehr re Abrüstung scheinen angesichts der Krise sollten die Kirchen in einem breiten gesell- der internationalen Ordnung gegenwär- schaftlichen Bündnis darauf hinarbeiten, tig wenig realistisch. Evangelische Frie- dass die Bundesregierung den Atomwaffen­ densethik wird das Anliegen wachhalten Berichte zum Aktionstag: www.tinyurl.com/zsbw-buechel verbotsvertrag unterzeichne. Käßmann be- müssen. Allerdings: Auch eine pazifis­- www.tinyurl.com/zsbw-aktionstag tonte aber auch: „Wenn wir heute hier gegen tische Friedensethik wird auf die politi­- diese Waffen demonstrieren, ist das keine schen Fragen politische Antworten geben Die Predigt von Margot Käßmann: Demonstration gegen die Soldatinnen und müssen. www.tinyurl.com/zsbw-kaessmann 50 ik th e s rieden F GERECHTER FRIEDEN VERZWEIFELT ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW GESUCHT

Kirchen als Akteure für gerechten Frieden in Simbabwe: Die Dimension des christlichen Glaubens ist allgegenwärtig Von Tim Kuschnerus

ie Männer tragen dunk- Bischofskonferenz ZCBC, der schichte der verfeindeten Brü- der Stimmen bei der Präsi- le Anzüge und glänzen- evangelikale Zusammenschluss der Jakob und Esau aus dem dentschaftswahl im Juli 2018 D de Krawatten oder die EFZ und die Vereinigung der 1. Buch Mose. Daraus leitet er gewonnen zu haben. Hat der unterschiedlichsten Gewänder apostolischen, unabhängigen Wege zur Versöhnung ab, die große Aufwand für das Gebets- kirchlicher Würdenträger. Die afrikanischen Kirchen UDA- später in der Fürbitte vertieft frühstück überhaupt irgendwas Frauen bringen mit bunten, ele- CIZA. Mit dem groß angeleg- werden. Adressaten sind Staats­ gebracht? Vordergründig wohl ganten Kleidern oder dem ro- ten Gebetsfrühstück soll der präsident und Oppositionsfüh- nicht. Kundige Beobachter je- ten Umhang der Gebetsfrauen ab­gebrochene nationale Dialog rer: Rauft euch zusammen, doch vertreten die Ansicht, dass mit weißem Kragen und wei- zwischen Regierung und Oppo- sprecht miteinander, findet allein die Tatsache, dass Regie- ßer Kopfbedeckung Farbe in sition neu belebt werden. Wird endlich Lösungen für unser kri- rung und Opposition gekom- den Saal. Die Klimaanlage hat Staatspräsident Emmerson sengeschütteltes Land! Beendet men sind und einander zuge- das fensterlose riesige Audito- Mnangagwa noch kommen? die Spaltung der Gesellschaft. hört haben, einen großen Erfolg rium des Harare International Oppositionsführer Nelson Cha- Wir brauchen echten Dialog, darstellt. Viele „Strippen“ muss- Convention Center auf frische misa ist immerhin schon da. und zwar nicht nur der Eliten ten gezogen und Kontakte her- 19 Grad heruntergekühlt. Rund Versammelt sind außer den in der Hauptstadt, sondern in gestellt werden, um Vertreter 500 Gäste warten an den run- Kirchen etliche Regierungs- der Breite und landesweit. der beiden Lager in einen Raum den Tischen nun schon fast vertreter sowie Politikerin- Schließlich sickert durch, zu bringen. So wurden Kanäle zwei Stunden, dass das Natio- nen und Politiker aller Partei- dass Präsident Mnangagwa hergestellt, die weiterhin ge- nal Leadership Prayer Breakfast en. Zahlreiche Geschäftsleute, nicht kommt. Er hat seine Ver­ nutzt werden können. Allein endlich anfängt. Die vier gro- Diplomatinnen und Diploma- teidigungsministerin geschickt, schon dies dürfte Aufwand und ßen christlichen Dachverbände ten, UN- und Nichtregierungs- die eine nicht wirklich versöhn- Kosten rechtfertigen. in Simbabwe haben am 6. Feb- organisationen sind eben- lich klingende Rede vorträgt. ruar 2019 in bemerkenswerter falls im Raum. Endlich geht es Anschließend unter­streicht Ein Land kurz ökumenischer Verbundenheit los. In seiner Predigt themati- auch der junge, charismatische vor dem Bürgerkrieg eingeladen: der protestantische siert der Generalsekretär des Oppositionsführer Chamisa sei- Nach 37 Jahren Allein- und Ge- Kirchenrat ZCC, die katholische ZCC, Kenneth Mtata, die Ge- nen Anspruch, die Mehrheit waltherrschaft von Staatspräsi- 51 ik th e s Ökumene in Simbabwe: ­protestantische, katholische,

evangelikale und apostolische rieden Würdenträger ­treffen sich F mit Politikern beim National­ Leadership Prayer Breakfast

„RAUFT EUCH ZUSAMMEN, SPRECHT MITEINANDER, FINDET ENDLICH LÖSUN- GEN FÜR UNSER KRISEN- GESCHÜTTELTES LAND!“ Kenneth Mtata, Generalsekretär des ZCC 52 ik th e s rieden

F dent Robert Mugabe und einer wir bei den Peace Ambassadors lieren. Er stellt eine wichtige dramatischen Zuspitzung der in Mutare oder den Local Peace Ressource dar, die die Wider- wirtschaftlichen Lage über- Tim Kuschnerus Committees in Bulawayo und standsfähigkeit der Gläubigen ist evangelischer Geschäftsführer nahm das Militär im Novem- in der Region Masvingo beob- stärkt. Der christliche Glaube der Gemeinsamen Konferenz ber 2017 in einem weitgehend Kirche und Entwicklung achten. gibt den Menschen nicht zuletzt gewaltfreien Staatsstreich die (GKKE). Sinn und Inhalt für ihr Leben. Macht in Simbabwe. Im Vor- Kirchen sind Orte für Die Geschichten der Gewalt­ ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW feld hatten die katholische Bi- Heilung und Versöhnung opfer kommen in kirchlichen schofskonferenz und der pro- In den ersten Jahren der Un- Räumen nicht nur zur Sprache. testantische Kirchenrat in abhängigkeit kam es Mitte der Es wird gesungen, geschwie- mutigen Hirtenworten zu na- Konferenz Kirche und Ent- 1980er Jahre im Süden des Lan- gen oder gebetet, wenn Wor- tionalem Dialog und Versöh- wicklung (GKKE) war, den Bei- des zu schwersten Gewaltexzes- te versagen, wenn Nähe, Trost nung aufgerufen. Auch waren trag der Kirchen zu einem ge- sen des Militärs. Die Gräuel mit und Segen gebraucht werden. es die Kirchen, die nach der rechten Frieden in Simbabwe über 20 000 Toten wurden bis Vielleicht gibt es in Simbabwe Machtübernahme des Militärs in Augenschein zu nehmen heute weder aufgearbeitet noch schon eine Form von Friedens- durch Stellungnahmen und und die Kirchen dabei zu un- gesühnt und liegen wie Blei auf spiritualität. Zeichen davon ha- Veranstaltungen eine Gegen- terstützen. der Bevölkerung. Auch heute ben wir gesehen. öffentlichkeit hergestellt und Der protestantische Kir- ist Friedens- und Versöhnungs- Natürlich sind Gläubige und zivilgesellschaftliche Initiati- chenrat und die katholische arbeit im ganzen Land vonnö- Kirchen in Simbabwe auch von ven für einen demokratischen Bischofskonferenz hatten uns ten, weil zu den historischen Brüchen und Widersprüchen Neuanfang des Landes vorange- eingeladen. Insgesamt zehn Gewalterfahrungen neue hin- durchzogen. Viele Geistliche trieben hatten. Aus den Wahlen Personen gehörten unserer zukommen. Die Kirchen sind der historischen Missionskir- im Juli 2018 ging der frühere Delegation an, darunter auch ein Ort für Healing of Memo- chen – und sicherlich der un- Geheimdienstchef von Mugabe, Prälat Martin Dutzmann als ries. So hatte die katholische abhängigen afrikanischen Emmerson Mnangagwa, Spitz- evangelischer Vorsitzender der Kirche die Initiative ergriffen, Kirchen – waren Teil des Sys- name „das Krokodil“, knapp GKKE und Pater Nikodemus die Gewalttaten aus den 1980er tems Mugabe. Ihre Zahl dürf- als Sieger hervor, was jedoch Schnabel, OSB, als Mitarbei- Jahren dokumentiert und Men- te kleiner geworden sein. Aber von der Opposition angezwei- ter des Referats Religion und schenrechtsverletzungen öf- auch heute noch stärken Kir- felt wird. Sicherlich haben ihn Außenpolitik des Auswärti- fentlich gemacht. Auch nach chen und Gemeinden, zumeist viele Menschen gewählt, weil gen Amtes. Wie sieht nun die- den Unruhen vom Januar 2019 durch ihr Schweigen, der Re- sie sich von einem Vertreter ser Beitrag der Kirchen in Sim- haben die Kirchen den Opfern gierung von Staatspräsident des Militärs eher Stabilität und babwe aus? von Gewalt Räume für ihr Leid Mnangagwa den Rücken. Und Sicherheit versprachen und der Die Kirchen bieten Orte und und ihre Klage geboten. Be- die Kirchenlandschaft wird Oppositionsführer weder viel Raum für Dialog, und zwar troffene werden ermutigt, ihre durch Neugründungen vor al- Erfahrung noch Ansehen mit- nicht nur auf der nationalen Geschichten zu erzählen – der lem evangelikaler und unab- brachte. Ebene, wie beim Gebetsfrüh- erste entscheidende Schritt auf hängiger afrikanischer Kirchen stück, sondern auch und gerade dem langen Weg zu Versöh- noch heterogener. Der protes- Die Kirchen bieten Orte an der Basis vor Ort. Friedens- nung und Gerechtigkeit. tantische Kirchenrat und die und Raum für Dialog botschafter und Komitees wer- katholische Bischofskonferenz, Nach einigen Monaten der po- den von den Kirchen gegründet Die Dimension des die uns sieben Tage begleitet litischen Öffnung kam es im und geschult. Sie bringen Men- christlichen Glaubens ist haben, stellen sich dieser He- Januar 2019 zu massiven Un- schen unabhängig von Partei- allgegenwärtig und macht rausforderung. Sie suchen die ruhen und Gewalt, Simbabwe zugehörigkeit, Ethnie oder den Unterschied ökumenische Zusammenarbeit. schien kurz vor einem Bür- Funktion zusammen. Die Ko- Gebete und Gottesdienste sind In den lokalen Komitees schei- gerkrieg zu stehen. Wenigs- mitees treffen sich in Kirchen- uns in Simbabwe tagtäglich be- nen konfessionelle Unterschie- tens zwölf Menschen kamen räumen. Und auch in abgelege- gegnet. Wir konnten es in un- de ohnehin kaum eine Rolle zu ums Leben, über 600 wur- nen Regionen steht die Kirche seren Gesprächen und Begeg- spielen. Doch die Kirchen ha- den verhaftet und misshan- im Dorf. Über 80 Prozent der nungen direkt erfahren: Der ben in Simbabwe auf dem Weg delt. Die desolate Wirtschaft Menschen in Simbabwe be- christliche Glaube stiftet Ge- zu einer gerechten und fried- drohte vollends zu kollabieren. kennen sich zum christlichen meinschaft – und nur gemein- lichen Gesellschaft noch eine In dieser Situation hatten die Glauben. Nach den Ausschrei- sam können die Menschen die weite Strecke vor sich. Sie ver- Kirchen zum Gebetsfrühstück tungen im Januar 2019 haben harten Herausforderungen des dienen unsere Aufmerksamkeit eingeladen. Und in diese Zeit Friedenskomitees oft die Rolle Alltags meistern. Der christli- für ein beeindruckendes christ- fiel der schon länger geplan- des zivilgesellschaftlichen Ge- che Glaube gibt den Menschen liches Friedenszeugnis. Sie ver- te Besuch unserer Delegation. genübers zu lokalen Behörden die Kraft, auch in der größten dienen nicht zuletzt unsere Un- Ziel der Reise der Gemeinsamen eingenommen. Dies konnten Not nicht die Hoffnung zu ver- terstützung. Ein Oberstleutnant testet 1971 mit Perücke und Haarnetz, wie man Haare unter einem Stahlhelm platziert. Seit Februar 1971 zwang der Haarnetz-Erlass Soldaten, deren Haare länger waren als der Hemdkragen, zum Tragen eines Netzes. Im Mai 1972 wurde der Erlass wieder aufgehoben 54 ETHIK INNERE FÜHRUNG FÜHRUNG INNERE TUT NOT

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW Wer handeln muss, braucht Kriterien. Wer Kriterien braucht, muss nachgedacht haben. Wer Nachdenken einüben will, braucht Vorbilder. Wer Vorbild sein soll ... Ein Gespräch zur neuen Ethikvorschrift der Bundeswehr­ Von Walter Linkmann

ven Lange weiß, dass er nichts Neues erfindet: „Ethische Bildung gab es in der Bundeswehr immer.“ Ihren Solda- S ten war eigenes Nachdenken von Anfang an nicht nur er- laubt, sondern befohlen. Auch wer einen Befehl ausführt, muss das verantworten. Trotz dieser „DNA“ der Bundeswehr ist Lange überzeugt, dass jetzt die Zeit für eine Vorschrift zur ethischen Bildung gekommen ist: Die Einsatzwirklichkeit der Soldatinnen und Soldaten ist eine „Reflexion in der Oberst i. G. andere geworden. Hinzu kommen eine zuvor nicht erlebte soziale Erlebniswelt Dr. Sven Lange ist Vielfalt und ein schwindender gesellschaftlicher Konsens über der jungen Leute Referatsleiter FüSK III 3 Grundwerte. Neue Kommunikationsformen und -möglichkeiten ist viel besser „Innere Führung; Militärseel­ verstärken diese Prozesse nicht nur, sondern führen teilweise zu als jeder Unterricht sorge“ im Bundesministerium in irgendeinem der Verteidigung ganz neuen Ausdrucksweisen – und manchmal auch Problemen. „Cybermobbing und Sexting sind Phänomene, auf die wir ethisch U-Raum.“ vorbereitet sein müssen.“ Spätestens mit den jüngsten Diskus­ Oberst i. G. Sven Lange sionen zur Tradition deutscher Streitkräfte wurde klar, dass die Bundeswehr festlegen muss, was sie tut, damit die ihr anvertrau- ten jungen Menschen sich der gemeinsamen Werte vergewissern, die Kriterien politischer Entscheidungen und ihres eigenen Han- delns verstehen und reflektieren. Der Oberst und Referatsleiter im Bundesministerium der Verteidigung arbeitet deshalb mit seinem Team an drei Vorschriften zur politischen, historischen und ethi- dern Querschnittsaufgabe ist. schen Bildung in der Bundeswehr. Ethisches Wissen, Urteilsver- An zwei Stellen wird es schwierig, die Planungen konkret zu mögen und der Austausch dar- fassen. Die Themen des Politik-, Geschichts- und Ethikunterrichts über gehören in den Alltag der lassen sich nicht scharf voneinander abgrenzen: „Politisch kann Soldatinnen und Soldaten. „Re- man die Bundesrepublik nur als Antwort auf die Geschichte ver- flexion in der Erlebniswelt der stehen – und das bestimmt unsere Gesetze und Wertvorstellungen.“ jungen Leute ist viel besser als Den Verantwortlichen sollen deshalb Freiräume gewährt werden, jeder Unterricht in irgendeinem um – je nach Bedarf und eigener Einschätzung – Schwerpunkte U-Raum.“ Niemand in der Bun- setzen zu können. deswehr fängt damit bei null an, aber es ist auch niemand mit Denken ist kein Unterrichtsfach dem Thema fertig. Die Szena- Eine zweite, deutlich schwerer wiegende Schwierigkeit ist, mit rien, die Lange skizziert, zum Unterrichten, Seminaren oder Exkursionen ein Themenfeld zu Beispiel das Schießtraining bearbeiten, das von seiner Natur her nicht Unterrichtsfach, son- mit spontan integrierter ethi- scher Reflexion unter Anleitung des Ausbilders, klingen irgend- Fragen geklärt werden und bei-

wie ­idealtypisch – aber auch erstrebenswert. de in der Militärseelsorge ver- 55 Hat er manchmal Sorge, dass die Verantwortlichen vor Ort die tretenen Kirchen haben sich neue Ethik-Vorschrift aus dem hohen Ministerium einfach zur aktiv in die Beratungen einge- Seite legen werden? Dass sie Zeit und Ressourcen vermeintlich bracht: „Auch ich selbst habe im Dringenderem widmen? Dass Ethik-Ausbildung in der Truppen- vergangenen Jahr sehr viel da- praxis nicht stattfindet? „Nein.“ Diese Antwort überrascht – so zugelernt.“

wie die Fortsetzung: „Meine Sorge ist weniger, dass die Ausbil- Sven Lange erfindet nichts FÜHRUNG INNERE dung gestrichen, sondern dass sie outgesourct wird.“ Man merkt, Neues, ethische Bildung gab dass hier jemand spricht, der nicht nur die jungen Leute erziehen es in der Bundeswehr immer. möchte, die zur Bundeswehr kommen, sondern auch (vielleicht: Das Ziel der Inneren Führung, noch mehr) ihre Vorgesetzten. Die sind die entscheidenden Kon- das durch die neue Vorschrift taktpersonen. Sie stehen unter Beobachtung als Vorbilder und nicht erfunden, sondern nur Begleiter. Sie müssen glaubwürdig Rede und Antwort stehen. beschrieben wird, sind Män- Nicht alle gehen mit ethischen Fragestellungen und Reflexionen ner und Frauen, die durchdach- routiniert und sprachfähig um. Das ist kein Makel, aber auch kei- te Entscheidungen fällen und ne Entschuldigung, sich „wegzuducken“. Unterrichtsmaterial und umsetzen können. „Wir wollen Seminare sollen ihnen helfen, dass sie ihrer Rolle gerecht werden ja gerade nicht den unbeding- können. „Wir wollen Vorgesetzte nicht überfordern – aber fordern.“ ten Gehorsam – wir verlangen schon seit 60 Jahren, dass die Der Wert der weichen Themen Soldaten Befehle vor ihrem Ge- Wird man in der Welt von Personal- und Tagespolitik, von Etats, wissen prüfen.“ Diese Fähigkeit Rüstungsprojekten und Strategien belächelt, wenn man sich bestimmt nicht nur – wie schon

Schnelle Eingreifkräfte üben 2013 bei Baghlan. Wer schießt, braucht regelmäßig­ ethische Bildung

Themen wie Moral und Ethik widmet? Macht es Spaß, im Ver- die Pioniere der Inneren Füh- teidigungsministerium Referatsleiter ausgerechnet für „Innere rung wussten – den militäri- Führung und Militärseelsorge“ zu sein? Lange hat eine doppelte schen „Wert“ der Einzelnen, sie Antwort. Zum einen warnt er davor, Themen zu unterschätzen: ist auch Voraussetzung für kör- „Wenn man weiche Themen zu lange ignoriert, werden daraus ex- perliche und seelische Gesund- trem harte Themen.“ Zum anderen berichtet er von der Erfahrung, heit: „Bildung trägt unmittelbar dass er mit seiner Initiative überall auf Zustimmung gestoßen ist – zur Einsatzbereitschaft bei und bis hin zum entsprechenden Auftrag durch den Generalinspek- erhöht die eigene Resilienz.“ teur. „Widerstand kam zunächst ausgerechnet von den Kirchen.“ Die stören sich an der Idee, dass dieselben Vorgesetzten, die Befehle geben, ihre Untergebenen anleiten sollen, das Befohlene kritisch zu reflektieren. Auch war zu Anfang der Beratungen nicht allen Kirchenvertretern deutlich, dass der Lebenskundliche Unter- richt, der in der Regel durch Militärgeistliche erteilt wird, in der bewährten Form weiter bestehen wird. Inzwischen konnten viele 56 DIE PERSÖNLICHE INNERE FÜHRUNG FÜHRUNG INNERE MEINUNG

Darf ein Generalmajor sich politisch äußern – oder ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW beeinflusst er damit seine Untergebenen? Ein Zwischenruf Von Arnd Brummer

Die Bundeswehr hat’s wirklich AfD-Leute zu rechtsextremen Krei- zentraler Bestandteil der zu vertei- schwer! Den Spruch musste ich sen. Zwar soll der Generalmajor in digenden Verfassung. als Journalist zigmal von Offizie- seiner Einlassung „ausdrücklich“ ren hören. Da saßen wir nach ei- erklärt haben, dies sei seine „per- Persönliche Einlassung im ner offiziellen Veranstaltung oder sönliche Auffassung“. Seinen Geg- Sinne der Bundesrepublik einer Pressekonferenz bei einem nern aber erscheint diese Position Zudrop hat im Sinne der Bundes- Tässchen oder Gläschen zusammen unhaltbar. Sie berufen sich dabei republik gehandelt, indem er aus- und redeten über Themen und Er- auf das Soldatengesetz. In dessen drücklich vor der Gefahr rechts- eignisse, die ein leitender Mann nur Paragraph 15 heißt es: „Ein Soldat extremer Kreise warnte. Und sein im vertraulichen Klima ansprechen darf als Vorgesetzter seine Unter- Hinweis ist eine klare Aufforderung konnte: „Das bleibt aber unter uns! gebenen nicht für oder gegen eine an die AfD, nationalistisches Ge- Das zitieren Sie nicht!“ politische Meinung beeinflussen.“ dankengut in den eigenen Reihen Dieser Punkt erscheint mir an- zu bekämpfen. Kein Offizier kann befehlen, gesichts der Geschichte des deut- Dass der Wehrbeauftragte und was falsch und was richtig ist schen Militärs als durchaus wichtig. das zuständige Ministerium den An den eingangs zitierten Spruch Kein Offizier kann seinen Soldaten Vorgang prüfen, ist recht und bil- musste ich vor ein paar Wochen befehlen, was sie für absolut rich- lig. Falls Reinhardt Zudrop jedoch denken. In mehreren Medien kur- tig oder völlig falsch zu halten ha- wegen seines Verhaltens aus dem sierte die Nachricht, Generalmajor ben. Er ist Befehlshaber und kein Dienst entfernt werden sollte oder Reinhardt Zudrop, Kommandeur Diktator. Doch auch für Offiziere andere „Strafmaßnahmen“ zu er- des Zentrums Innere Führung in der Bundeswehr gilt das Grundge- dulden hätte, hoffe ich auf öffent- Koblenz, habe wegen Äußerungen setz, in dessen Artikel 5 heißt es: lichen Widerstand in Bundeswehr heftig Ärger. Bei einer „internen ­„Jeder hat das Recht, seine Meinung und Gesellschaft: ohne Waffenge- Dienstversammlung“ im Juni soll in Wort, Schrift und Bild frei zu äu- walt, aber in deutlicher Wortwahl Zudrop ein paar Minuten lang „vor ßern.“ Auch ein Generalmajor ist und Lautstärke. versammelter Mannschaft“ erklärt in diesem Sinne ein „Jedermann“. haben, warum die Partei AfD für Dass Zudrop sagt, wie er, „ganz Soldaten nicht wählbar sei. persönlich“, eine aktuelle politi- Als Argument nannte der Redner sche Situation bewertet, ist in die- demnach die Nähe einiger leitender sem Sinne kein Regelverstoß. Es ist

Arnd Brummer ist geschäfts­ führender Herausgeber des evangelischen Magazins chrismon. 57 GESCHICHTE ALS HELFER IN DER NOT FÜHRUNG INNERE UND ETHISCHE BREMSE

Die „Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege“ der Bundeswehr sind ein zutiefst politisches Papier und markieren den Perspektivwechsel vom „schwierigen Vaterland“ zum „besten Deutschland, das es je gab“ Von Uwe Hartmann

m 28. März 2018 traten die „Richtlinien zum Dr. Uwe Hartmann Waffe eingesetzt – nicht zuletzt, um bei Angehörigen der Traditionsverständnis und zur Traditionspfle- ist Oberst i. G. in Sicherheitsberufe Sympathien für bestimmte politische ge“ der Bundeswehr in Kraft. Ein problema- der Bundeswehr und Orientierungen zu wecken. Zum Kontext gehört auch, A unterrichtet an der tischer Umgang mit der Wehrmacht hatte eine Neu- US-amerikanischen dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Bundes- erstellung notwendig gemacht, wie es bereits bei den Naval Postgraduate wehr durch rechtsextreme Umtriebe und schikanöse Traditionserlassen aus den Jahren 1965 und 1982 der School in Monterey. Ausbildungsmethoden gelitten hat. Gleichzeitig nahm Fall gewesen war. Daher ist es nicht verwunderlich, der Vertrauensverlust der Soldaten in die politische dass der neue Traditionserlass die Wehrmacht als In- Leitung sowie die militärische Führung nicht zuletzt stitution deutlicher als jemals zuvor aus dem Erbe des aufgrund der zunehmenden Schere zwischen Auftrag deutschen Soldaten ausgrenzt. Seine starke Fokussie- und Mitteln zu. Auch die Suche nach Wehrmachts­ rung auf die historische Bildung lässt allerdings das in devotionalien in Kasernen trug dazu bei. Wegen dieser den Hintergrund treten, was für ein ganzheitliches Ver- Literatur krisenhaften Entwicklungen, deren Ende nicht abseh- ständnis des Erlasses unverzichtbar wäre: seine Kon- Zusammen mit bar ist, geht es dem neuen Traditionserlass vor allem textgebundenheit, d. h. seine Beeinflussung durch ak- Prof. Dr. Donald um die Stärkung von Bindungen und Zusammenhalt: Abenheim hat Uwe tuelle sicherheitspolitisch relevante Entwicklungen, Das reicht von der Westbindung Deutschlands über Hartmann kürz­ und seine Zukunftsorientierung, die in den Aufgaben lich veröffentlicht: die demokratischen zivil-militärischen Beziehungen des Soldaten und den dafür gültigen Werten, Vorbil- ­„Einführung in bis hin zur Kohäsion innerhalb der Bundeswehr. Der dern und Prinzipien zum Ausdruck kommt. Dieses die Tradition Traditionserlass ist daher ein zutiefst politisches Doku- Hintergrundwissen hilft uns, die neuen Perspektiven, der Bundeswehr. ment, das auf gefährliche außen- und innenpolitische Das soldatische Erbe welche uns die Richtlinien anbieten, klarer zu erken- Entwicklungen reagiert. Er umfasst deutlich mehr als in dem besten nen. Deutschland, das es eine Abgrenzung der Bundeswehr zur Wehrmacht und je gab“ (Miles-Verlag die Betonung der historischen Bildung in der Truppe. Kontext und Perspektivenwechsel Berlin 2019). Die politische Dimension des Traditionserlasses legt Die Arbeiten am neuen Traditionserlass fanden in ei- uns mehrere Perspektivenwechsel nahe. Bisher war nem Umfeld statt, in dem der liberale Westen sowie der Umgang mit dem soldatischen Erbe stark durch die demokratische Grundordnung von innen sowie die „tiefen Einbrüche“ in der Geschichte deutscher von außen unter Druck geraten waren. In öffentli- Streitkräfte geprägt. Deutschland insgesamt galt als chen Debatten wurde Geschichte erneut als politische ein „schwieriges Vaterland“. Der neue Traditionserlass 58 INNERE FÜHRUNG FÜHRUNG INNERE ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW

Historische Aufnahmen deutscher Soldaten. Als Vorbild soll künftig vor allem die Bundeswehr selbst dienen fordert nun dazu auf, die Zeit nach 1945 und damit wichtiger für die Widerstandsfähigkeit von Staaten das „beste Deutschland, das es je gab“ (Josef Joffe), in und deren Institutionen. den Vordergrund zu rücken. Diese Sichtweise macht den Weg frei, weitaus stärker als in den letzten Jahr- Folgerungen für die Bildung in der Bundeswehr zehnten auf das zu schauen, was Deutschland nach Was bedeuten diese Perspektivenwechsel für die Bil- 1949 geschaffen hat – ein eigenes Vorbild, das größte dung in der Bundeswehr? Ohne Zweifel ist historische Anerkennung auch aus dem Ausland erfährt. Teil die- Bildung wichtig, um die geschichtlichen Wurzeln von ses selbst geschaffenen Vorbilds sind der Aufbau der Sicherheitspolitik und Soldatsein zu verstehen. Und es Bundeswehr sowie ihre Leistungen im Kalten Krieg, ist auch richtig, die Beschäftigung mit der Geschichte als Armee der Einheit und als Einsatzarmee. Auf die- Deutschlands nach 1945 zu intensivieren. Dabei sollte – se Weise sollen die Angehörigen der Bundeswehr den neben den Einsätzen – die Gründungs- und Aufbau- Wert dieses Deutschlands erkennen und sich einen phase der Bundeswehr besonders stark berücksichtigt verfassungsorientierten Patriotismus erarbeiten, der werden. Denn hier wurden die geistigen Grundlagen sie stark macht für die Demokratie – was angesichts für das Selbstverständnis des Soldaten in der Demo- hybrider Bedrohungen von außen und populistischer kratie gelegt. Für Kenntnis und Akzeptanz der Inne- Spaltungsversuche im Innern dringend notwendig ist. ren Führung heute ist dieses historische Wissen un- Zudem stellt der Erlass die Funktion von Tradition verzichtbar. Bei der Auswahl des gültigen Erbes des als konkrete Lebenshilfe für Soldaten deutlich her- Soldaten und seiner darauf beruhenden Selbstverge- aus. Sie benötigen Werte und Vorbilder als ‚Helfer in wisserung reichen historische Bildung und militärge- der Not‘, weil das Element der Gefahr zu ihrem Be- schichtliche Beratung allerdings bei weitem nicht aus. ruf gehört. Traditionen dienen ihnen als ein verlässli- Die für ihren Beruf wesentliche Orientierung können cher moralischer Kompass für gutes Handeln und eine Soldaten eher aus der politischen und ethischen Bil- schnell einsetzende ethische Bremse gegen Versuchun- dung ableiten. Zum einen sind diese unverzichtbar für gen und Verführungen aller Art. Auch dürfen sie sich ein Verständnis des gegenwärtigen sicherheits- und darauf verlassen, dass ihre an den Werten des Grund- gesellschaftspolitischen Kontextes mit seinen krisen- gesetzes orientierten Handlungen Anerkennung und haften Entwicklungen. Zum anderen bieten sie den Sol- Wertschätzung in Politik und Gesellschaft finden. Dies daten die Möglichkeit, ein demokratisches Verständnis schafft Selbstvertrauen bei den Soldaten. von Patriotismus zu erarbeiten. Daraus können sie die Der neue Erlass betont auch die Funktion von Tra- verbindlichen Maßstäbe ableiten, die ihnen im Ein- dition als einer vertrauensbildenden Maßnahme. Tra- satz wie auch im Grundbetrieb als Helfer-in-der-Not ditionspflege in der Bundeswehr ist ein demokratisches und als vertrauensbildende Maßnahmen dienen. Es Wertebekenntnis des Soldaten. Sie stärkt das Vertrauen kommt also darauf an, das weite Themenfeld der Tra- von Politik und Gesellschaft in ihre Streitkräfte. Dar- dition gerade auch in Veranstaltungen zur politischen aus resultiert auch die hohe Bedeutung, die der neue und ethischen Bildung zu behandeln und daraus Ori- Erlass zu Recht der Inneren Führung beimisst. Denn entierung für die Auswahl des soldatischen Erbes im diese bietet nicht nur praxisnahe Grundsätze zur Men- 21. Jahrhundert abzuleiten. Dann dürften Probleme schenführung, sondern Prinzipien und Wertorientie- im Umgang mit der Wehrmacht bald der Vergangen- rungen für die Gestaltung und Pflege belastbarer de- heit angehören. mokratischer zivil-militärischer Beziehungen. In einer Welt, die aus den Fugen gerät, werden diese immer 59

DIE LISTEN UND SCHLICHE BÜCHER DER ANSTÄNDIGEN

Katholisch, konservativ und radikal rechtsstaatlich – die Autobiografie Paulus van Husens Rezension von Klaus Beckmann

Im Kreis der Verschwörer des 20. Juli 1944 ist Paulus dingungen und machten ihn zum Rechtsberater im van Husen (1891-1971) „divers“: Nicht nur kein Pro- Oberkommando der Wehrmacht. Nicht ohne Anflug testant wie die Mehrzahl der Wehrmachtsoffiziere, von Süffisanz schildert van Husen, wie eifrig Nazifunk- sondern auch von dem süddeutschen Katholiken tionäre sich vor dem Kriegsdienst drückten. Ihm selbst Stauffen­berg unterschieden durch eine im preußischen verlieh der Status des Wehrmachtsjuristen gegenüber „Kulturkampf“ geprägte rebellische Haltung gegen Parteileuten eine gewisse Autorität. alles, was zu gewaltig „Staat“ sein möchte. Seit 1941 gehörte er dem Kreisauer Kreis an, wurde Der analytische Blick des Juristen van Husen fürs schließlich im Oktober 1944 verhaftet. Gerade bei den Grundsätzliche beeindruckt: In der Rückschau auf per- persönlichen Schilderungen der Widerständler gibt van sönlich Erlebtes konturiert sich das Allgemeine, wahr- Husens dezidiert katholische Perspektive der Darstel- genommen durch einen streitbaren Anwalt des Rechts: lung besondere Würze. „Man sieht hieran, wie zersetzend eine ungerechte 1952 wurde van Husen Präsident des Verfassungs- Regierung wirkt, was nicht nur für die Hitlerzeit gilt. gerichtshofs von Nordrhein-Westfalen. Kritisch und Die anständigen Staatsbürger müssen zu unkorrekten integer blieb er auch da, konstatierte er doch unum- Listen und Schlichen greifen, um Unrecht zu verhüten wunden, in der Bundesrepublik sei die Selbstständig- oder zu mildern, wenn sie nicht von Beruf Märtyrer keit der Gerichte gegenüber der Exekutive nur zum sind.“ Schein verwirklicht. Im katholisch-bürgerlichen Milieu Westfalens ver- Es ist die freimütige Positionalität – katholisch, kon- wurzelt, wurde van Husen 1927 Mitglied der Kom- servativ, radikal rechtsstaatlich –, die diesen Lebens- mission des Völkerbundes für Oberschlesien, um als bericht so lehrreich und „zeitlos“ sein lässt. Auch in Anhänger der Zentrumspartei von den Nationalsozia­ den weltanschaulichen Grundlagen abweichende Leser listen dort abberufen und ans Preußische Oberver- werden der literarisch exzellenten Autobiografie man- waltungsgericht versetzt zu werden. Umstände, die che Einsicht danken. Dank gebührt ebenso van Husens er als glücklich empfand, enthoben van Husen der Großneffen Manfred Lütz, dem Theologen und Psycho- Gewissenszumutung des Richteramtes unter NS-Be- therapeuten, für die gekonnte Edition.

Manfred Lütz / Paulus van Husen: Als der Wagen nicht kam. Eine wahre Geschichte aus dem Widerstand, Herder-Verlag, Freiburg /Basel / Wien 2019, 376 Seiten, ­ 25 Euro. 60

BÜCHER OHNE RÜCKGRIFF AUF DIE TRADITION WIRD KEINER OFFIZIER

Sarah Kayß untersucht Motivation und Geschichtsbilder ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW deutscher und britischer Offiziersanwärter Rezension von Jobst Reller

Kayß widmet sich nach dem „Traditionshype“ bei der pire, sei es wie in Deutschland in bewusster Ab- Bundeswehr 2018 einem noch immer brennenden grenzung zur Geschichte des sogenannten „Dritten Thema: Welche Rolle kann Geschichte für Selbstver- Reichs“ und des Zweiten Weltkriegs, die auch zur ständnis, Motivation und Gedenken in der Bundes- Forderung nach einem rigiden Schlussstrich unter wehr, aber auch in den britischen Streitkräften spielen? die Rezeption dieser Phase in der Bundeswehrtradition Kayß selbst ist studierte Zeithistorikerin in der Abtei- werden kann. lung für „Kriegsstudien“ am King’s College in London – Das Buch eignet sich als Nachschlagewerk zum und damit geradezu prädestiniert, sich dieser zentra­ Thema. Ein Schlagwortregister hilft beim vertieften len Frage zu widmen. Als Methode verwendet sie Lesen. qualitative Interviews an den Offiziersakademien in Großbritannien und Deutschland. Individuelle und institutionelle Ziele werden unterschieden mit einem Sarah Katharina Kayss: offenen Blick für Werte, Lebensanschauungen und Identity, Motivation and Bilder vergangener Kulturen, die bei der Entscheidung, Memory. The Role of History in Offizier zu werden, begegnen. Wenig überraschend the British and German Forces. ­Routledge, London / New York zeigen sich zwei unterschiedliche Soldatentypen in 2019, 214 Seiten, ca. 135 Euro. beiden Ländern, die auch unterschiedlich von Ge- schichte Gebrauch machen. Eindeutig lässt sich be- legen, dass eine Entscheidung für den Offiziersbe- ruf ohne historische Rückgriffe nicht vorkommt – sei es wie in Großbritannien in zum Teil unkritischem Rückgriff auf Ruhm und Ehre des britischen Em-

MEHR ALS ETHIK

Sigurd Rink positioniert sich friedensethisch, aber er gibt auch Einblicke in die Praxis der Militärseelsorge Rezension von Tilman Asmus Fischer

Die Militärseelsorge in der Bundeswehr ist gegenwärtig Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass von unterschiedlichen Neuerungen und Aufbrüchen der amtierende evangelische Militärbischof mit seinem geprägt: Seit fünf Jahren hat die Evangelische Kirche in Buch „Können Kriege gerecht sein?“ eine eigene Posi- Deutschland die Hauptamtlichkeit ihres Militärbischofs tionsbestimmung vorgelegt hat, die zu einer nicht nur erprobt; und kurz- bzw. mittelfristig soll es zu einer innerkirchlichen, sondern gesamtgesellschaftlichen Pluralisierung der Seelsorge durch Öffnung für Juden- Debatte einlädt: sowohl über grundlegende Fragen der tum und Islam kommen. Zudem gilt es abzuwarten, Friedensethik als auch über die Seelsorge in der Bun- wie sich die „Friedenssynode“ im Herbst dieses Jah- deswehr. Denn anders als die beiden fast zeitgleich er- res langfristig auch auf den Handlungsbereich Evan- schienenen Bücher „Konstruktive Konfliktkultur“ des gelische Seelsorge in der Bundeswehr auswirken wird. katholischen Militärbischofs Franz-Josef Overbeck und 61 BÜCHER

„Pflugscharen und Schwerter“ des langjährigen evange- Sigurd Rink: Können lischen Militärdekans Hartwig von Schubert geht Rink Kriege gerecht sein? über die theologische Erörterung friedensethischer Glaube, Zweifel, Gewissen – Fragen hinaus und gibt – ausgehend von persönlichen wie ich als Militärbischof nach Antworten suche. Ullstein, Berlin Erfahrungen – Einblick in die Arbeit der Militärseel- 2019, 285 Seiten, 20 Euro. sorge. Dabei unterstreicht Rink den Selbstanspruch der Militärseelsorge, ziviles Element innerhalb der Ins- titution Bundeswehr zu sein und aus dieser Unab- ten Friedens“ verpflichtet bleibt. Diese Idee aus einer hängigkeit heraus zur „Gewissensschärfung“ der Sol- verantwortungsethisch orientierten Perspektive für daten beizutragen. Und so tut es auch nicht Wunder, gegenwärtige Gewaltkonflikte ausbuchstabiert – und dass Rink mit der im Buchtitel aufgeworfenen Frage zudem ihre Vereinbarkeit mit einer gesellschaftlichen am Ende keine Renaissance der Idee eines „gerechten Anerkennung des Soldatenberufs aufgezeigt – zu haben, Krieges“ befördert, sondern derjenigen des „gerech- ist das große Verdienst dieses Debattenbeitrags.

IN DIE ÜBERWACHUNGSROLLE GEDRÄNGT

Markus Reisner schafft eine ergiebige Zusammenschau des rasanten Fortschritts im Bereich unbemannter Systeme Rezension von Veronika Drews-Galle

auch, unter welchen vorherrschenden Einsatzmoda- litäten. „Ist der Einsatz von zunehmend autonomeren, Markus Reisner: Robotic Wars. unbemannten Waffensystemen in militärischen Kon- Legitimatorische Grundlagen und Grenzen des Einsatzes von Military flikten auf Basis geltender Völkerrechtsnormen rechts- Unmanned Systems in modernen konform und entspricht dem heutigen ethischen Ver- Konfliktszenarien. Miles-Verlag, ständnis oder ist eine Erweiterung der bestehenden Berlin 2018, 392 Seiten, völkerrechtlichen Rechtsnormen und eine exakte De- 34,80 Euro. finition ethischer Rahmenbedingungen notwendig?“ Reisners interdisziplinäre Fragestellung lässt ihn Manchmal reicht bereits ein Blick in das Abkürzungs- letztendlich die steuernde Verbindung zwischen verzeichnis eines Buches für einen Erkenntnisgewinn. Mensch und System fokussieren. Regulation sei drin- So mag es manchem gehen, der bisher wenig mit her- gend geboten, lautet seine Schlussfolgerung. Doch umschwirrenden UCAVs oder, allgemeiner, der Bedeu- dazu müsse die Menschheit erst einmal den Wandel tung von RAS zu tun hatte. Doch für Markus Reisner der Kriegsführung zur Kenntnis nehmen und das setze geht es bei seiner detailreich aufgefächerten Darstellung eine Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit ebenso um mehr als das: Für den Autor ist der zunehmende voraus wie eine Meinungsbildung unter den Völker- Einsatz von unbemannten (teil)autonomen Waffen- rechtssubjekten, -institutionen und -experten; mit dem systemen „eine emergente Strategie des Militärs“, die Ziel der Definition exakter ethischer Grenzen. Inwie- einen Wandel in der Kriegsführung einläutet – unauf- weit die Menschheit hier noch on-the-loop ist und wel- haltsam und mit unabsehbaren Folgen. che Interventionschancen die Überwacherrolle den Seine Klassifikation der unterschiedlichen „Robotic beteiligten Akteuren lässt, hierüber lässt sich, ausge- Systems“ offenbart nicht nur, wie weit diese Entwick- hend von Reisners Arbeit, vortrefflich streiten. Und er lung bereits in der Praxis fortgeschritten ist, sondern hat recht: Die Zeit drängt. 62

BÜCHER SOZIALDISZIPLIN UND EIN GETRÖSTETES GEWISSEN ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW

Jobst Reller richtet den Blick auf die Anfänge einer evangelischen Militärseelsorge vor 500 Jahren Rezension von Roger Töpelmann

Mit diesem Buch gelingt ein beachtliches Vorhaben: die Kirchgang und Abendmahlsteilnahme werden für ein Darstellung der evangelischen Seelsorge unter Soldaten Gott wohlgefälliges Leben zur Pflicht, nicht allein bei in ihren Anfängen. Mehr noch: Die historische Rück- den Soldaten. Schon um 1600 war Militärseelsorge schau ist äußerst exakt gearbeitet und mit Quellen­ zumindest in einigen Ländern der Reformation eine verweisen belegt. Allein das Personenregister ent- institutionalisierte Größe. Das Lied „Ein feste Burg ist hält über 300 Namen. Jobst Reller – als Militärpfarrer unser Gott“ bekam damals seinen Sitz im Leben der am Bundeswehrstandort Munster tätig – verortet die Feldgottesdienste. Anfänge der protestantischen Soldatenseelsorge in der Ein roter Faden zieht sich durch die Anfänge der Zeit der Bauernkriege 1524 / 1525, als Ortsgeistliche und Seelsorge an Soldaten bis in den Dreißigjährigen Krieg: Feldprediger die kriegerischen Bauernhaufen mit cha- die Aufforderung, im Gegner den Menschen zu sehen rismatischem Elan begleiteten. Auf der Gegenseite steht und zu Barmherzigkeit und Frieden bereit zu sein. Reller Landgraf Philipp von Hessen, der in die Schlacht bei beendet seine Untersuchung mit einem Gebet des Frankenhausen einen Feldprediger mitnahm und damit schwedischen Feldkonsistoriums von 1631: „Du hast erstmalig einen evangelischen Militärseelsorger ins- alle Herzen in Deinen Händen. Nimm hinweg alle titutionalisierte. Feindschaft und allen Hass und alles Missverstehen. Martin Luther rechtfertigt den Stand der Soldaten Bereite den Weg für Frieden und Versöhnung.“ Damit oder Söldner so: Kämpft ein Kriegsmann um verletz- hat der Autor den Faden bis in unsere militärseelsor- tes Recht und mit dem Ziel, Frieden herzustellen, so gerliche Gegenwart gespannt. führt er eine gerechte Auseinandersetzung zum Ziel. Der Reformator hält einen Verteidigungskrieg „zu Wehr und Schutz“ für rechtens, solange das Ziel der Friede bleibt. In seiner Schrift „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können“ hat er deshalb die Rechtmäßig- keit kriegerischen Handelns verteidigt und gleichzei- tig die Frage aufgeworfen, wie es um die Tröstung des Gewissens bei der Übertretung des 5. Gebotes „Du sollst nicht töten“ stehe. Reller macht deutlich, dass dem Militär im 16. und 17. Jahrhundert nicht nur intern eine disziplinieren- de Rolle zukam, sondern dass hier eine Sozialdiszi­ plinierung beginnt, die eine neue Sittlichkeit einleitet: Jobst Reller: Die Anfänge der evangelischen Militärseelsorge­ . Miles-Verlag, Berlin 2019, 180 Seiten, 19,80 Euro. Zwei Schwestern haben zum Lichterfest (Chanukka) Kerzen auf einer Chanukkia entzündet. Im Laufe der achttägigen Feier wird jeden Tag eine weitere Kerze zum Leuchten gebracht. Der neunte Arm dient nur zum Anzünden der anderen Kerzen. Das Fest erinnert an die Wiedereinweihung des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem 164 v. Chr. 64 ragen f bens u a Gl ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW ARMEE, DAS WAREN DIE ANDEREN

Mit der Wiedervereinigung änderte sich nicht nur die Rechtsform der Soldatenseelsorge in den östlichen Bundesländern, sondern vor allem der Blick von zivilen Gemeindemitgliedern und Soldaten aufeinander Von Albrecht Steinhäuser 65 ragen f bens u a Gl

„Gesprächsbereit“: NVA-Generaloberst Horst Brünner (Mitte) diskutiert im Dezember Persönliche Vorbemerkungen 1989 in der Eibauer ses. Fantasievoll versuchten wir, mit kleinen Aktionen Unter keinen Umständen hätte ich im September 1982 Kirche (Sachsen) mit und gegenseitigem Austausch nicht einfach nur zuzu- DDR-Bürgerrechtlern vermutet, dass meine berufliche Existenz einmal mit sehen bei der Aufrüstung durch SS-20, Cruise-Missile den Themen Bundeswehr und Militärseelsorge zu tun und Pershing. Naiv vielleicht – aber irgendetwas musste haben könnte. man doch tun! Soldatenseelsorge? Für mich war das Wenige Monate vorher noch hatte ich in der medi- damals kein Thema. zinischen Klinik „Weißer Hirsch“ in Dresden, wo ich als Hilfspfleger arbeitete, Besuch von einem Offizier Soldatenseelsorge zu Zeiten der DDR der Staatssicherheit bekommen. Über den Aufnäher Für andere allerdings schon. Eine Reihe von Mitarbei- „Schwerter zu Pflugscharen“ wollte der mit mir reden. tern in Gemeinden und kirchlicher Verwaltung boten Und mich für eine engere Zusammenarbeit gewinnen – Beratung an für junge Männer, die den Dienst mit der kann man ja mal versuchen. Waffe verweigern und stattdessen Bausoldat werden Gott sei Dank hatte mir der damalige Chefarzt die- wollten. Totalverweigerung war häufig mit schweren sen Besuch angekündigt. Zeit genug, mich vertraut rechtlichen Konsequenzen bis hin zu Gefängnis­strafen zu machen mit den rechtlichen Hintergründen dieses verbunden. Die Begleitung in diesen Prozessen war Zeichens der Friedensbewegung, um dessentwillen durchaus auch Seelsorge. viele junge Menschen Nachteile in Ausbildung und Für diejenigen, die als Christen ihren Wehrdienst in Beruf in Kauf nahmen. Und nebenbei auch zu lernen, der NVA leisteten, war die Teilnahme am Gemeindele- was „Dekonspiration“ meint: meine klare Ankündi- ben der Standorte, an denen sie Dienst taten, in der Re- gung gegenüber der Staatsmacht, meinem Pfarrer auch gel mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Gänz- Gespräche mit der Stasi nicht zu verschweigen. Das lich unmöglich indes war insbesondere der Besuch Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit ging so gerade von Gottesdiensten nicht. Und es gab durchaus ganz schnell verloren. Gemeinden, die ihre Gottesdienstzeiten so verändert Als ich 1982 dann mein Theologiestudium am haben, dass Soldaten ein Besuch ermöglicht wurde. Katechetischen Oberseminar Naumburg begann, da Und schließlich war da noch eine ganz praktische faszinierte mich die Arbeit des dortigen Friedenskrei- Möglichkeit der Hilfeleistung gerade für lebensältere 66 ragen f bens u a Gl ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW

Soldaten. Da es so etwas wie heimatnahe Verwen- Mit der Synode von 1958 war für die Gliedkirchen dung ja nicht gab, hatten die seltenen Heimaturlaube der Evangelischen Kirche in Deutschland die Situation hohe Bedeutung. Und auf manchen Pfarrgrundstücken entstanden, dass es in Sachen „Militärseelsorge“ keine standen PKW oder Motorräder, die in den Kasernen einheitlichen Wege mehr gab. nicht abgestellt werden durften. So sparten die Solda- ten wertvolle Zeit, die sie am Heimatwochenende mit Die ersten Schritte nach der friedlichen der Familie verbringen konnten. Revolution Festzuhalten ist aber in jedem Fall, dass sich Seel- Das änderte sich erst mit der friedlichen Revolution sorge für Soldaten als ein Angebot für die jungen Men- und der Wiedervereinigung zur Bundesrepublik schen verstand, die in der NVA eigentlich gar nicht sein Deutschland. Bereits während der Zeit der friedli- wollten. Und darin liegt ein signifikanter Unterschied chen Demonstrationen für mehr Freiheit und Demo- zur etablierten Militärseelsorge in Westdeutschland. kratie gab es einzelne Offiziere, die der strikten Linie Dort waren ja über alle Dienstgradgruppen hinweg von Partei und Regierung nicht mehr so ohne weite- Menschen bei der Bundeswehr, die sich zum Teil ganz res folgen wollten. Vereinzelt gab es erste Kontakte bewusst für diesen Dienst entschieden hatten. In der auch zu Kirchengemeinden vor Ort. Mit der Übernah- NVA hingegen hatte der Staat alles darangesetzt, das me der NVA durch die Bundeswehr trugen ab Okto- Offizier- und Unteroffizierkorps möglichst frei von Mit- ber 1990 dann Kommandeure aus dem Westen die gliedern der Kirche zu halten. Die wenigen Offiziere Verantwortung, die aus ihren früheren Verwendun- und Unteroffiziere, die trotz allem Christen waren und gen ein funktionierendes System von Seelsorge in den blieben, taten das mehr oder weniger heimlich. Streitkräften kannten, das sie sich für ihren neuen Dass das so gekommen war, hatte durchaus eine Verantwortungsbereich und die ihnen anvertrauten gesamtdeutsche Vorgeschichte. Noch zu Beginn der Soldaten auch wünschten. Viele der Geistlichen der 1950er Jahre hatte die (damals noch gesamtdeutsche) Kirchen­gemeinden, zu deren Bereich auch Standor- Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland die te der Bundeswehr gehörten, waren auch tatsächlich Frage der Wiederbewaffnung zu einer politischen Er- bereit, neben ihrem Gemeindedienst der Einladung messensfrage erklärt, die im Glauben verschieden in die Kasernen zu folgen und den Soldaten Angebote beantwortet werden könne. Die Möglichkeit einer für Seelsorge, Unterrichtung und Gespräch zu machen. geordneten seelsorgerlichen Begleitung von Polizei und Von einer ähnlich strukturierten Seelsorge wie in der Oberkirchenrat Militär stand dabei nie grundsätzlich infrage. Auch Albrecht alten Bundesrepublik konnte da aber keine Rede sein. wenn die Verhandlungen über einen entsprechenden Steinhäuser ist Noch vor der Wiedervereinigung der Bundes­republik Vertrag dafür zwischen Bundesregierung und EKD Beauftragter der Deutschland hatte die Synode des Bundes Evangeli- geführt wurden – für das Gebiet der DDR waren die Evangelischen Kirchen scher Kirchen in der DDR, des Zusammenschlusses bei Landtag und Bemühungen um eine geordnete Seelsorge in den der acht evangelischen Landeskirchen in der DDR, Landesregierung Streitkräften bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre in Sachsen-Anhalt. festgestellt, dass es mit dem Beitritt nach Art. 23 GG hinein nicht aufgegeben worden. eine Ausweitung des Geltungsbereiches des Militär- Im Vorfeld der Unterzeichnung des Militärseelsor- seelsorgevertrages in den Bereich der östlichen Kirchen gevertrages hatte die DDR-Regierung durch ihren stell- hinein nicht geben solle. Begründet wurde diese Hal- vertretenden Ministerpräsidenten Otto Nuschke jedoch tung mit dem Verweis auf den Beschluss „Bekennen unmissverständlich klargemacht, dass eine Verbindung in der Friedensfrage“ (1987), mit dem die Absage an der EKD mit dem „Bonner Staat“ durch diesen Ver- Geist, Logik und Praxis der Abschreckung verstanden trag von Seiten der DDR als Affront verstanden würde. wird als Konsequenz aus dem Gehorsam gegenüber Auch nach der Freistellung der aus der DDR stammen- Gott. So war die Frage nach einer geeigneten Struk- den EKD-Synodalen 1958 hörten die Angriffe durch tur für die seelsorgliche Begleitung von Soldaten ver- die DDR-Führung nicht auf, zielten aber immer klarer knüpft mit einer friedensethischen Positionsbestim- auf eine Distanzierung der DDR-Kirchen von der EKD. mung der Kirchen. 67 ragen f bens u a Gl

Freiräume nach Dienstschluss: NVA-Soldaten der ­Perleberger Unteroffizier­sschule ­spielen Gitarre (1978); Soldaten der Offiziers­ hochschule der Enttäuschungen und Ent-Täuschungen Grenztruppen der DDR Einer sagte mir einmal: Früher hat uns der Polit-­ Nicht überall stieß die Zurückhaltung der evangeli- in Suhl ­tanzen Stellvertreter gesagt, in welche Richtung zu denken schen Kirchen in dieser Frage auf das Verständnis der in einer Diskothek ist. Das ist jetzt wohl Ihr Job. handelnden Personen. Zu meinem Dienstbeginn als (1984) Natürlich haben sich Erwartungen und Wahrneh- Inhaber der „Kreispfarrstelle für Soldatenseelsorge“ mungen bei allen Beteiligten verändert. Schneller bei des Kirchenkreises Weißenfels bin ich zunächst jeden- denen, die nah an der täglichen Arbeit waren. Etwas falls unterschiedlichen Erwartungen an meinen Dienst weniger schnell bei denen, die nur vermittelte Kennt- begegnet. Erwartungen, die sich auf die Fragestellung nis von den tatsächlichen Abläufen und Inhalten der scheinbar nicht eingelassen hatten, auf welche Weise Seelsorge unter Soldaten hatten. Kirche eine begleitende Seelsorge für Soldaten leisten Nach wenigen Monaten hatte dann auch ich die könne, ohne in die Abhängigkeit sie bindender Struk- Erfahrung gemacht, dass unter den verbeamteten turen zu geraten. Kollegen im Westen sehr viele mit einer erfrischenden Kollegen sahen in mir jedenfalls erst einmal „den Unabhängigkeit am Werk waren. Und mir sind Kolle- von der Bundeswehr“. Und das, obwohl mein Status gen begegnet, die als Gemeindepfarrer ihrer östlichen ja nun gerade nicht der eines Bundesbeamten auf Zeit Kirchen nebenamtlich in die Kasernen gingen. We- war, wie bei meinen westlichen Kollegen der Fall, son- nige haben trotz dieser klaren Verortung eine Nähe dern der eines Pfarrstelleninhabers des Kirchenkreises. zu militärischem Gestus entwickelt, die nachdenk- Die Kosten dafür wurden zwar refinanziert aus den lich werden ließ. An den Strukturen kann das nicht Kirchensteuermitteln der Soldaten, aber eben nicht gelegen haben … aus Bundesmitteln. Die Details waren also nicht so recht deutlich geworden. Wege in die Normalität Einige führende Offiziere sahen in mir zunächst den Auch wenn Strukturen binden können, besteht ihr Ziel „Vertreter dieser Kirche, die die Soldaten nicht haben doch vor allem darin, Gutes zu ermöglichen und es zu will“. Dass es um eine Verweigerung des Dienstes für ordnen. Und so waren für den Dienst der Seelsorge in Soldaten gar nicht gehen sollte, sondern gerade um die der Bundeswehr in den neuen Bundesländern Regelun- Unabhängigkeit der Seelsorge – das war demnach auch gen zu finden, die einen wirkungsvollen Dienst auch nicht erkennbar geworden. Und etwas skurril war die unter den gegebenen Bedingungen möglich machen. Erwartung einiger Unteroffiziere mit NVA-Tradition. Bereits 1991 gab es eine Weisung des Bundesministeri- 68 ragen f bens u ums der Verteidigung für die Zusammenarbeit mit den 2002 beschloss die Synode der EKD eine Änderung a für die Seelsorge an Soldaten beauftragten Pfarrern der der Grundordnung, nach der die Evangelische Seelsor- Gl evangelischen Landeskirchen in den Wehrbereichen ge in der Bundeswehr Gemeinschaftsaufgabe der EKD VII und VIII. Sie ging davon aus, dass Geistliche die- ist. In einem eigenen Kirchengesetz, das auf den 1957 sen Dienst haupt- oder nebenamtlich als Pfarrer ihrer geschlossenen Militärseelsorgevertrag Bezug nimmt, Landeskirchen tun. wird die Gestaltung des Dienstes geregelt. Im Regelfall Nachdem die Bundesregierung zu erkennen gege- sind die Pfarrerinnen und Pfarrer damit hauptamtlich ben hatte, dass sie für eine grundsätzliche Verände- und Bundesbeamte auf Zeit.

ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW rung des bestehenden Militärseelsorgevertrages keine Veranlassung sieht, wurde 1996 eine „Rahmenverein- Was anders ist und bleiben wird barung über die evangelische Seelsorge in der Bun- Strukturell hat sich Seelsorge für Soldaten in Ost deswehr in den neuen Bundesländern“ geschlossen. und West inzwischen so entwickelt, dass Gegensätze In einer „Innerkirchlichen Vereinbarung“ wurde der kaum mehr erkennbar sind. Dennoch bleiben Unter­ Weg geebnet, dass Geistliche ihren Dienst haupt- oder schiede. Dass die nun allerdings ganz klar an der teilamtlich als Kirchenbeamte der EKD versehen. Trennlinie zwischen Ost und West verlaufen, ist so Nebenamtliche Beauftragung blieb weiterhin möglich. eindeutig nicht. Ich sehe drei Tendenzen:

Die Bundeswehr hat sich verändert und verändert sich weiter. Ausgesetzte Wehrpflicht, Auslandseinsätze, Soldatinnen und Soldaten mit und ohne Migrations- hintergrund, religiöse Vielfalt und Konfessionslosigkeit mögen als Stichworte genügen. Eine Reihe dieser Veränderungen ist in den östlichen Standorten anders ausgeprägt als in den westlichen. Multireligiosität beispielsweise gehört in Sachsen-Anhalt weniger zum Erfahrungshintergrund der Menschen als beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, Konfessionslosigkeit hingegen schon. Und noch immer gilt: Wer im Westen nicht Mitglied einer Kirche ist, der ist sehr wahrscheinlich irgend- wann einmal ausgetreten. Wer es im Osten nicht ist, der war sehr wahrscheinlich niemals drin.

Die Kirchen haben sich verändert und verändern sich weiter. Auch in den westlichen Ländern leiden Kirchen unter Mitgliederverlust und abnehmender gesell- schaftlicher Relevanz. Im Osten hat dieser Prozess, auch durch die repressive Politik der DDR, schon sehr viel früher eingesetzt. Es wäre übertrieben, angesichts dieser Entwicklung von Marginalisie- rung zu sprechen. Die Zeiten allerdings, in denen kirchliche Verlautbarungen per se Beachtung fanden, sind vorbei. Wenn Repräsentanten der Kirchen zu gesellschaftlichen Fragen Stellung nehmen, dann müssen sie zunehmend erklären, warum sie das tun. Gerade in friedensethischen Fragen sind die Kirchen dabei aber auf die Expertise von Soldaten angewiesen. Dass sich diese Expertise auch in den Kirchen findet, hat im Westen Tradition, im Osten eher nicht.

Unsere Gesellschaft hat sich verändert und verändert sich weiter. Die Akzeptanz gesellschaftlicher Institutionen ist über die Zeit Veränderungen unterworfen. Das gilt für Parteien und Gewerkschaften, und das gilt auch für Bundeswehr und Kirchen. Die Plausibilität von Bundeswehr und Kirchen muss deswegen, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen, immer wieder neu erwiesen werden. Und auch hier vermute ich in den östlichen Ländern und Kirchen ein stärker ausgeprägtes Institutionenmisstrauen als im Westen. Veränderungen sind aus sich heraus nicht Anlass zu Besorgnis oder Abwehr. Wenn sie gesehen und verstanden werden, wenn sich Menschen ihnen stellen, sie gestalten, dann bergen sie die Chance auf gute und neue Erfahrungen. Nicht alles wird so bleiben, wie es immer war. Aber es kann Neues wachsen und gedeihen. So wie wir es schon in der Bibel lesen: „Prüft aber alles, und das Gute behaltet.“ (1.Thessalonicher 5, 21) 69 ragen

„Liebt eure Feinde“ oder „Du sollst nicht töten“: f Soldaten werden im Einsatz oft mit ihrem Glauben konfrontiert.

Feldgottesdienste helfen, diesen Konflikt zu erörtern – bens u

wie hier mit Militärpfarrer Andreas-Christian Tübler a in Mali (2014) Gl

„ICH VERSUCHE ZU BEZEUGEN, DASS GLAUBEN EINE GUTE IDEE IST“

Oberst i. G. Sascha Zierold sagt, wie der Glaube seinen Dienst prägt, wo er sich aufgehoben fühlt und wie man christlich bleibt, wenn man in Afghanistan regelmäßig tödliche Anschläge erlebt Interview: Gabriele Meister 70 ragen f bens u a Gl ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW

Herr Zierold, in der Bibel steht die Aufforderung „Liebt Wie hat Ihre Gemeinde reagiert, als Sie sich länger eure Feinde“. Was bedeutet das für Sie als Christ und verpflichtet haben? Soldat? Natürlich gab es dort viele Kriegsdienstverweigerer, entspre- Heute gab es schon drei Explosionen, nur 800 Meter von uns chend war meine Entscheidung ein Gesprächsthema. Aber es entfernt. Afghanische Soldaten wurden getötet und einige Zivi- gab großes Verständnis und Respekt vor meiner individuellen listen. Da fällt es schwer, die Täter nicht zu verdammen. Es ist Entscheidung. Die Leute haben gemerkt, dass ich mir lange Ge- also nicht einfach zu beantworten, wie man „Liebt eure Feinde“ danken gemacht hatte und Verantwortung übernehmen wollte. und das Soldatsein zusammenbringen kann. Aber vielleicht ist die Haltung, sich solche Fragen zu stellen, zumindest der erste Sind Sie dann auch gleich Mitglied der „Cornelius- Schritt. Vereinigung e. V. – Christen in der Bundeswehr“ geworden? Noch mehr Kopfzerbrechen bereitet vermutlich der Satz Das war etwas später. 1994 haben zwei Kameraden, spätere „Du sollst nicht töten“. Freunde, die Cornelius-Vereinigung bei uns in München vor­ Ja, das ist sicher ein Konflikt, aber nicht nur für Christen gestellt, daraufhin bin ich beigetreten. in der Bundeswehr. Generell sollte es keinem leichtfallen, das Leben eines anderen zu beenden, und ich bin dankbar, dass mir An welchen Stellen Ihrer Arbeit werden Sie heute so eine Situation bisher erspart geblieben ist. Aber wenn man mit Glauben konfrontiert? sieht, dass Menschen Unfrieden stiften und andere umbringen, In gewisser Weise ständig: Mein Glaube veranlasst mich zu hat man nur die Wahl zuzugucken oder selbst aktiv zu werden. hinterfragen, ob ich mit meinem Gegenüber richtig umgehe und Man muss sich entscheiden, auch wenn es nie eine gute Lösung was ich besser machen kann, um im wahrsten Sinne des Wortes geben wird im Sinne von „unschuldig bleiben“. einen „glaubwürdigeren Eindruck“ zu machen und zu bezeugen, dass Glauben eine gute Idee ist. Sie haben sich fürs Aktivwerden entschieden. Ist Ihr Glaube der Grund dafür? Was bedeutet das für Ihren Alltag? Ich bin mit 18 Jahren Christ geworden. Damit ging für mich Dass ich gewisse Ansprüche habe. Es ist keine wirkliche der Auftrag einher, Verantwortung in der Welt zu übernehmen – Übernahme von Verantwortung, wenn man den Dienst „so lala“ in meinem Fall als Soldat. Deshalb stehen mein Christsein und macht. Es geht darum, sich mit der ganzen Person einzusetzen. mein Beruf in engem Zusammenhang. Sagen Sie das auch Unterstellten? Als Erwachsener Christ zu werden, ist ja eher Der Anspruch richtet sich in erster Linie an mich selbst. ungewöhnlich. Wie kam das? Weil ich so viele Fehler habe, bin ich dankbar für Gottes Gnade Das war die Gnade Gottes. Einige meiner Schulkameraden und versuche immer, nicht hartherzig auf meine Mitmenschen gehörten zu einer Landeskirchlichen Gemeinschaft und haben zu schauen. Man weiß ja nie, welche Probleme jemand gerade mir den Glauben nähergebracht. Kurz darauf habe ich in Celle hat. Und ich kann auch nicht verlangen, dass andere aufgrund mit der Grundausbildung angefangen und mich aufgrund mei- meiner Motivation Dinge so oder so tun. Ich kann nur dafür nes Glaubens – der für mich wie gesagt bedeutet, Verantwor- werben, irgendeine Motivation zu entwickeln. Im persönlichen tung zu übernehmen – dann länger verpflichtet. Außerdem war Gespräch sage ich allerdings schon manchmal, dass mein kurz vor Beginn meiner Grundausbildung die Mauer gefallen. Glaube der Grund für meine Motivation ist. Das habe ich als so großes Geschenk empfunden, dass ich der Gesellschaft gern etwas zurückgeben und mitgestalten wollte. 71 ragen f bens u a Gl

Oberst i. G. Sascha Zierold (47) dient derzeit als Executive Officer for Chief of Staff Resolute Support Mission in Afghanistan.

Wie reagieren die Unterstellten darauf? Die Reaktionen sind wie immer gemischt. Häufig erlebe ich Befremden. Aber es ergeben sich dann oft gute Gespräche daraus. Jeder reflektiert seinen Standpunkt.

Glauben Sie, dass manche extra in den Gottesdienst gehen, um Ihnen zu gefallen? Das weiß ich nicht, man kann ja nicht in die Köpfe hinein- gucken. Aber ausschließen kann ich das natürlich nicht.

Sollte man als Vorgesetzter da nicht lieber neutral Information bleiben? Die Corneliusvereinigung e. V. – Wenn ich darüber spreche, ist das ja meine persönliche Über- Christen in der Bundeswehr wurde 1898 als Zusammenschluss zeugung und keine Frage von richtig oder falsch. Ich möchte christlicher Offiziere gegründet. Menschen einladen, über Dinge nachzudenken, und respektie- Mittlerweile steht die Gemeinschaft re andere Standpunkte. Insofern sehe ich die Gefahr der Beein- allen Bundeswehrangehörigen und flussung nicht. Vielmehr empfinde ich beim Neutralitätsbegriff ihren Familien offen. Gegenseitiger die Gefahr, dass alles gleich wichtig oder unwichtig ist. Austausch und Stärkung für den Alltag stehen im Fokus. Dafür bietet die Gemeinschaft zum Beispiel Wie sieht es bei schwierigen Einsätzen aus: Rüstzeiten an: www.cov.de Beten Sie, bevor Sie nach Afghanistan fliegen? Das ist für mich eher eine Frage der Grundgeborgenheit, die ich empfinde. Was immer passiert, wird einen Sinn haben, auch wenn ich ihn erst einmal nicht ergründen werde. Deshalb gebe ich mir diesbezüglich auch gar keine Mühe und gehe lieber gespannt durch die Welt als in ständiger Angst.

Sie sind alleinstehend. Machen Sie all diese Themen nur mit sich aus? Die Cornelius-Vereinigung spielt eine große Rolle für mich. Wir sind eine überregionale und insofern versetzungsresistente Gemeinschaft und kennen uns zum Teil schon sehr lange. Auch Pfarrer sind dabei. Da muss man sich nicht für seinen Glauben rechtfertigen wie bei manchem Kameraden und auch nichts erklären, wie etwa bei Militärseelsorgern, die neu sind und vielleicht noch nichts Persönliches von einem wissen. Dreimal im Jahr fahren wir auf Rüstzeit, ansonsten schreiben wir uns. Natürlich sprechen wir nicht ständig über berufsethische Fragen oder den Glauben. Aber eben auch. Wir haben einen starken Grund, der uns eint. 72 ensfragen b KIRCHE G lau UNTER DEN SOLDATEN ZUR SACHE BW 36 ZUR 36 SACHE BW

Die Kapelle im Fliegerhorst Wunstorf Von Walter Linkmann

Von Angesicht zu Angesicht: Das Altarbild von Kerstin Carbow zeigt keinen Schmerz

In der Kapelle kann man mit geist- Sie wollte keinen Schmerzensmann lichem Beistand beten und ohne: malen, keinen Gekreuzigten, son- Sie hat zwei Zugänge. Der eine dern „einen von uns; einen, der führt durch das Militärpfarramt, mitten unter uns ist; einen Men- wo Pfarrerin und Pfarrhelferin schensohn; einen Bruder“. Viele sich um die Standortgemeinde Christus- und Menschenbilder hat kümmern, wo man reden, Sorgen Kerstin Carbow, Designerin aus abladen oder einen Kaffee trinken Hamburg, dafür studiert, Gesichter kann. Der andere Eingang führt aus Europa und dem Nahen Osten, direkt von draußen in die Stille. hat gelesen, Musik gehört und dann Aus der Tiefe des Blau: Sonne scheint durch die Oberlich- etliche Schichten Seidenpapier, Eine Wand greift um den Altar, ter. Eine blaue Wand greift um den Farben und Leim übereinander Sonne scheint durch ein Oberlicht in die Kapelle Altar, rundet den Gottesdienstraum aufgetragen. Jetzt schauen die ab. Aus der Tiefe des Blau schaut dunklen Augen des Menschensohns der Menschensohn den Betrach- in die Kapelle. Ruhig und durch- ter an. dringend, machen das ehemalige Impressum

Im Auftrag des Evangelischen Militärbischofs heraus­gegeben von Professorin Dr. Angelika Dörfler-Dierken, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr; ­Dr. Dr. Frank Hofmann, Andere Zeiten e. V.; Professor Dr. ­Friedrich Lohmann, Universität der ­Bundeswehr München

Mitarbeitende dieser ­Ausgabe: Claudia Baumgart-Ochse, Klaus Beckmann, Arnd Brummer, Frank Decker, Veronika Drews-Galle, Tilman Asmus Fischer, Uwe Hartmann, Sarah Jäger, Tim Kuschnerus, Martin Lammert, Martin Leiner, Gabriele Meister, Roger Mielke, Gert Pickel, Jobst Reller, Stabselement Chancengerechtigkeit, Vielfalt und Inklusion, Albrecht Steinhäuser, Hartmut Stiffel, Roger Töpelmann, Henning Wrogemann Redaktion: Dirck Ackermann (Chefredakteur), Walter Linkmann, Martin Middendorf, Felix Ehring, Florian Siebeck Redaktionsanschrift: Jebensstraße 3, 10623 Berlin Telefon: 030 310181-123 Internet: www.militaerseelsorge.de E-Mail: [email protected] Beirat für die Redaktion: Veronika Drews-Galle, Roger Mielke, Anne Peters-Rahn, Jobst Reller, Marcus Schaper Realisierung: Gemeinschaftswerk der Ev. Publizistik gGmbH Abteilung Printprodukte, Leitung: Ursula Ott Emil-von-Behring-Str. 3, 60439 / Main Bildredaktion: Caterina Pohl-Heuser Gestaltung und Satz: ­Zully Kostka Druck: Strube Druck & Medien OHG, Stimmerswiesen 3, 34587 Felsberg Verlag: Evangelische Verlags­anstalt Leipzig, Blumenstraße 76, 04155 Leipzig Der Altar stammt Vertrieb: aus der alten Garnisonkirche Gemeinschaftswerk der Ev. Publizistik gGmbH in Wunstorf Emil-von-Behring-Str. 3, 60439 Frankfurt / Main Martin Amberg, Telefon: 069 580 98-223 Wunstorf E-Mail: [email protected] Erscheinungsweise: Zweimal jährlich ISSN: 1869-4497

Bildnachweise Titel: Giulia Fiori, Getty Images / S. 5 David Carson, picture-alliance, AP / S. 6 Andrea Enderlein / S. 7 Amanda Edwards, Getty Images / S. 9 Regina Abfertigungsgebäude aus den ein Militärflugzeug in der Kirche? ­Schmeken¸SZ-Photo / S. 11–12 Patrik Bransmöller, Björn ­Wilke, Bundeswehr / S. 15 Susann Prautsch, 1970er Jahren zu einem heiligen Die Gegenfrage wurde zum Glück picture-alliance / S. 19 Wolfgang Schmidt, Ort, seinem Ort. nicht gestellt: eine Kirche im Mili- ­epd-bild / S. 22 Ari Perilstein, Getty Images / S. 27 Karen Bleier, AFP, Getty Images; Sean Gallup, Getty Die Kapelle gehört Christus – und tärflughafen? Images / S. 32 Peter Dejong, picture-alliance / S. 37 sie gehört der Gemeinde. Viele Jetzt können sie durch die beiden P.Scaasi, NurPhoto, picture-alliance; picture alliance, Arco Images / S. 38 Seyllou, AFP, Getty Images / haben mit angepackt, Zeit und Türen gehen. Aus der technischen S. 40 Bulent Kilic, AFP, Getty Images / S. 43 Abdul Liebe in den Umbau investiert, Welt des Ausbildungs- und Flug­ Aziz Safdari, Xinhua, picture-alliance / S. 44–45 De Agostini, Getty Images; Andrej Isakovix, AFP, Wände versetzt, den Raum mit betriebs in die Welt des Menschen- Getty Images / S. 51 Tim Kuschnerus / S. 53 Göttert, historischen Stücken aus der ehe- sohns, der jeden unverwandt an- picture-alliance / S. 55 Andrea Bienert, Bundes- wehr / S. 56 Lena Uphoff / S. 58 Peter Hirth, laif / maligen Fliegerhorstkirche und schaut. Die, die hier singen und S. 63 DEEPOL, plainpicture / S. 64–67 Eberhard neuen Spenden geschmückt. Fast beten, leben in beiden. Aber es ­Klöppel, picture-alliance (3) / S. 69 epd-bild, privat / S. 74 ‚People of the Twenty-First Century‘, Hans gab es bei der Eröffnung einen sind nicht zwei. Eijkelboom, Phaidon Verlag / S. 76 Gremlin, Eklat, weil auf einer Motivkerze Getty Images das Flugzeug des Lufttransport­ geschwaders 62 zu erkennen ist: der Airbus A400M. Darf man das: QUERDENKER 74 Hans Eijkelboom durch die Welt und fotografiert Menschen auf der Straße, der Straße, auf Menschen Welt fotografiert die und durch Eijkelboom Hans In Vielfalt vereint: Seit 25 Jahren reist der niederländische Fotograf Fotograf niederländische der reist 25 Jahren Seit vereint: Vielfalt In „People of the Twenty-First Century“ (Phaidon, 512 29,95 S., (Phaidon, Euro) Century“ Twenty-First of the „People in weißen Kleidern. Wie gleich oder individell die Menschen sind, sind, Menschen die individell oder gleich Wie Kleidern. weißen in liegt einmal mehr im Auge des Betrachters. Seine Beobachtungen Beobachtungen Seine Auge Betrachters. des im mehr einmal liegt zum Beispiel Männer in roten Allwetterjacken oder Frauen Frauen oder Allwetterjacken roten in Männer Beispiel zum hat Eijkelboom in einem Buch festgehalten: festgehalten: Buch einem in Eijkelboom hat

Hanna Nouri Josua Jahrgang 1956, geboren im Libanon, studierte Politik- wissenschaft und Geschichte des Islam in Beirut sowie Evangelische Theologie in Unterweissach und Leuven. Seit 1980 lebt Josua in Deutschland und ist Pfarrer der Arabischen Evangelischen Gemeinde Stuttgart und Ge- schäftsführer der Evangelischen Ausländerseelsorge e.V. Foto: © Georg Karlstetter

Für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft

Hanna Nouri Josua Die Muslime und der Islam Wer oder was gehört zu Deutschland? 160 Seiten | Paperback ISBN 978-3-374-05871-6 € 15,00 (D)

Der Islam – gehört er nun zu Deutschland oder nicht? Hanna Josua zeichnet die aktuelle Debatte vor dem Hintergrund zunehmender Migration aus islamischen Ländern nach, lässt unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen und weicht unangenehmen Fragen nicht aus. Doch ebenso, wie es nicht »den« Islam und »die« Muslime gibt, kann es auf die Ausgangsfrage kein simples »Ja« oder »Nein« geben. Muslime und Nichtmuslime müssen sich noch in vielen Fragen aufeinander zu bewegen und gemeinsam entscheiden, welcher Islam in Deutschland eine Zukunft haben kann. Die Diskussion hat gerade erst begonnen!

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Bestell-Telefon 03 41 7 11 41 44 · Fax 03 41 7 11 41 50 · [email protected] Das Thema der nächsten Ausgabe

Hinter der Firewall – das Cyber-Heft Dunkle Wolken über Cyberland. In der ­virtuellen Welt, aus der sich per Smart- App sehr reale Lampen, Staubsauger, Kraftwerke und Terminbörsen ein- und ausschalten lassen, herrschen Angst und Aufbruchstimmung. Das Kabinett tagt, die Bundeswehr schickt Nerd-Kommandos in den Cyberspace, die Kirchen formulieren Stellungnahmen. Was müssen wir über Big Data, Algorith- men und künstliche Intelligenz wissen? Und – fast noch wichtiger: Was wissen diese­ drei über uns?