AdB-Titel 3-10 4,5 mm R .fh10 09.11.2010 10:34 Uhr Seite 1

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3-2010

Zwischen Theorie und Praxis politischer Bildung

Ideen und Konjunkturen politischer Erwachsenenbildung

Was ist Bildung?

Demokratiepädagogik oder politische Bildung?

Forschung für die Praxis Außerschulische Bildung 3-2010 ISSN 0176-8212

Probedruck INHALTSVERZEICHNIS

ZU DIESEM HEFT 197 ADB-FORUM

Helle Becker SCHWERPUNKT Forschung für die Praxis? Empirische Ergebnisse zu Teilnehmenden Paul Ciupke und Wirkungen politischer Jugendbildung 256 Zwischen Theorie und Praxis Beobachtungen und Anmerkungen zu Orientierungssystemen, Autonomie und Be- ADB-JAHRESTHEMA wegungsbezug in der außerschulischen po- litischen Bildung 198 Karsten Matthis „Standort Deutschland – Wohlstand für Klaus-Peter Hufer alle?“ Politische Erwachsenenbildung – zur Ge- Ein Seminar des Arbeitnehmer-Zentrums schichte ihrer Ideen und Konjunkturen 206 Königswinter (AZK) 264

Joachim Klose „Vom Wissen der Bildung“ 218 ARBEITSHILFEN UND METHODEN

Helmut Bremer/Mark Kleemann-Göhring Christian Roth Demokratiepädagogik oder politische Bil- Energiesicherheit in Europa dung: Gegensatz oder falsche Alternative? Ein Planspiel über Ressourcenkonflikte 267 226 Astrid Messerschmidt Differenzverhältnisse INFORMATIONEN Ansätze zur Kritik von Geschlechterordnun- gen und Impulse für die politische Bildung 234 Meldungen 273

Thomas Gill Aus dem AdB 286 Zur Aktualität Kurt Löwensteins für die po- litische Jugendbildung 242 Personalien 292

Martin Allespach/Lothar Wentzel Bücher 294 Subjektorientierung und kritische Psycho- logie – neue Ansätze in der gewerkschaft- Markt 308 lichen Bildungsarbeit 249

IMPRESSUM 313

Thema des nächsten Heftes: Jugendleben, Jugendpolitik, Jugendbildung

195 196 ZU DIESEM HEFT

Der Versuch, Beobachtun- Orientierung wie an Interesse für die Belange der gen der Realität zu syste- Bildungspraxis. In welchem Maße die politische Bil- matisieren und zu inter- dung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch- pretieren, kann als die ele- land von den großen gesellschaftlichen Debatten mentarste Form von Theo- einst beeinflusst wurde, welche Impulse und Anre- riebildung bezeichnet wer- gungen sie didaktischen Ansätzen, wissenschaftli- den. Eine Theorie kann al- chen Erkenntnissen zu historischen, gesellschaftli- lerdings von Aussagen über chen und politischen, schließlich auch ökologischen einen Ausschnitt von All- Entwicklungen verdankte, stellt an herausragen- tagswirklichkeit bis hin den Beispielen Klaus-Peter Hufer dar. Joachim Klose zu ausformulierten Erklä- mahnt ein Verständnis von Bildung an, das uns beim rungsmodellen reichen, die Versuch der Indienstnahme des Bildungsbereichs sich auf ganze Epochen oder Gesellschaften, Teil- für ökonomische Zwecke abhanden zu kommen gebiete von Wissenschaften oder die Entstehung droht. Von der Relevanz theoretischer Auseinander- der Welt beziehen. Auch im Bereich der Politik, der setzungen für die didaktische Umsetzung in der nicht nur geprägt ist von miteinander konkurrie- Bildungspraxis handelt der Beitrag von Helmut Bre- renden Interessen, sondern auch von verschiede- mer und Mark Kleemann-Göhring. Astrid Messer- nen Interpretationen gesellschaftlicher Wirklichkeit schmidt, Thomas Gill und Martin Allespach mit Lo- und Weltanschauungen, sind Theorien wichtige thar Wentzel machen in ihren Beiträgen deutlich, Voraussetzungen für politisches Handeln. Sie prä- wo in Feldern der politischen Bildung auch heute gen politische Zielsetzungen und finden in den Pro- noch der Zusammenhang zwischen Theorie und grammen von Parteien ihren Niederschlag. Da kann Praxis durchaus besteht, wie sich die Praxis politi- aus einer Theorie allerdings auch schnell mal eine scher Bildung auf Theorien in sehr unterschiedli- Ideologie werden. chen Wissenschaftsbereichen bezieht und sich mit In der außerschulischen politischen Bildung haben ihnen verändert. politische Theorien als Grundlage für inhaltliche Es ist also durchaus an der Zeit, sich wieder einmal Orientierung und Angebotsgestaltung ihre frühere stärker mit den für die eigene Arbeit grundlegen- Bedeutung eingebüßt. Man bekennt sich kaum noch den wissenschaftlichen Entwicklungen zu befassen zu einer bestimmten „Denkschule“, bei der Ent- und danach zu fragen, welche Antworten sie auf scheidung über das Programm sind längst schon die Fragen der Praxis geben könnten. Dazu soll die- andere Kriterien wirkungsmächtig. Das Thema un- ses Heft anregen. Dass auch die Bezugswissenschaf- seres Heftes mutet daher zunächst ein wenig un- ten politischer Bildung vom regeren Austausch mit zeitgemäß an. der Bildungspraxis profitieren könnten, wird dabei Paul Ciupke beschreibt in seinem Beitrag die aktu- unterstellt. elle gegenseitige Ignoranz zwischen Theorie und Praxis politischer Bildung und sucht nach den Ursa- chen für den gleichzeitigen Mangel an theoretischer Ingeborg Pistohl

197 SCHWERPUNKT

Zwischen Theorie und Praxis Beobachtungen und Anmerkungen zu Orientierungssystemen, Autonomie und Bewegungsbezug in der außerschulischen politischen Bildung Paul Ciupke

Das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis der po- nen Professionalität die Disziplin weiter. Auch wenn litischen Jugend- und Erwachsenenbildung hat sich es heute immer noch angesehene schreibende und abgekühlt, die früher gegenseitig gehegten hohen lehrende Praktiker und einige aus der Praxis kom- Erwartungen sind eher einer Haltung der Distanz mende Hochschullehrer gibt – dieser Berufs- und gewichen. Zur Unübersichtlichkeit trägt unter an- Karriereweg ist nicht mehr der Normalfall, sondern derem auch die neue Vielzahl von disziplinären Be- die Ausnahme. zügen bei. Zudem zeigt sich, dass fast alle theoreti- Weiterbildung und damit auch die politische Ju- schen Rahmungen und Grundlegungen von den gend- und Erwachsenenbildung stehen aber auch Vorgaben der aktuellen Weiterbildungspolitik und unter Dauerbeobachtung seitens der Administra- ihren bestimmenden Akteuren in Administration tion und der Politik: Eine Evaluation löst die näch- und Politik eingeholt und beeinflusst werden. Da- ste ab und man nimmt auf Seiten der Praxis die her gibt es heute kein unbefangenes Verhältnis wissenschaftlichen Evaluatoren nicht immer nur als von Theorie und Praxis mehr. Verbündete wahr, sondern mitunter auch als Erfül- lungsgehilfen einer die wirklichen Problemlagen verkennenden, aber nach Steuerung und perma- War in der Profession und Disziplin der politischen nenter Innovation verlangenden Politik. Jugend- und Erwachsenenbildung1 früher alles bes- Umgekehrt finden sich ser? Manchmal könnte es so scheinen – nicht nur Politik und Administra- gerade unter den kriti- angesichts der materiellen Sorgen, die das Feld stän- tion haben mit Eingrif- schen Wissenschaftlern dig plagen, sondern auch des in mancherlei Hinsicht fen und speziellen manche, die der Praxis verkümmerten Verhältnisses wegen, das mittler- Förderprogrammen die den täglichen Verrat an weile Theoretiker und Praktiker der politischen Bil- Lenkung und Orientie- den Idealen und Normen dung miteinander pflegen. Theorien der politischen rung des Feldes politi- einer an differenzierter Bildung – gibt es die noch? Oder dominieren nicht scher Bildung längst politischer Urteilsfähig- vielmehr jene Konstrukte begrenzter Reichweite übernommen keit und nachhaltiger das den Alltag steuernde Bewusstsein der Praktiker Gesellschaftskritik orien- wie das der Theoretiker, die nicht leugnen können, tierten politischen Bildung vorwerfen. Solchen Dia- dass sie sich den Vorgaben der Bildungspolitik und gnosen ist zumindest der Umstand entgegenzuhal- einer entgrenzten Öko- ten, dass Politik und Administration mit einer In der Praxis empfindet nomie verdanken, die Vielzahl von harten wie auch weichen Eingriffen man das Feld der Wis- den Bildungssektor zu und speziellen Förderprogrammen die Lenkung und senschaft als zuneh- kolonialisieren drohen? Orientierung des Feldes längst übernommen haben, mend selbstreferentiell Und sind die Praktiker so dass zur Wahrung der beruflichen wie der institu- der politischen Jugend- tionellen Existenz das ständige Austarieren tagespo- und Erwachsenenbildung überhaupt noch an The- litischer Anforderungen und ein entsprechendes orien und wissenschaftlichen Forschungsergebnissen Entgegenkommen unausweichlich sind. Theorien interessiert oder längst gefangen in einem Dienst- spielen in dieser Situation eine nachgeordnete Rol- leistungsverständnis, das Theorien eher als Ansin- le. Das strukturelle Einwirkungspotenzial der Nach- nen und den Alltag störend und im Übrigen die frager politischer Bildung sollte auch noch erwähnt, realen Problemlagen verfehlend wahrnimmt? Eine es kann hier aber nicht weiter erörtert werden. gewisse Entfremdung und zunehmende Separie- rung sind durchaus zu spüren. Auf Seiten der Praxis Politische Jugend- und Erwachsenenbildner/-innen empfindet man – vielleicht auch nicht ganz unbe- müssen heute nicht nur eine an theoretischen Leit- gründet – das Feld der Wissenschaft als zunehmend gedanken, professionellen Grundsätzen und de- selbstreferentiell. Das ist nicht nur an manchen we- mokratischen Normen ausgerichtete Praxis zum nig nachvollziehbaren Schleifen theoretischer Ver- Gelingen bringen; sie sind gleichzeitig immer auch gewisserungsprozeduren ablesbar, sondern auch ihre eigenen Legitimationsbeschaffer und Sicherer den heutigen personellen Rekrutierungsprozessen ständig gefährdeter und umkämpfter finanzieller geschuldet. Früher wechselten nicht wenige Prakti- Ressourcen. Und die besondere Verfassung der ker in die Hochschule und entwickelten vor dem außerschulischen Bildung, die bisher idealtypisch Hintergrund ihrer im Bildungsbereich gewonne- umschrieben werden kann als die Anwesenheit von drei Freiheiten, nämlich der institutionellen Unab- 1 Mit Profession ist das praktische Feld der politischen Jugend- hängigkeit, der Freiheit der Lehre durch Abwesen- und Erwachsenenbildung gemeint und mit Disziplin die Wissen- heit von Lehrplänen und schließlich der Freiheit der schaft, wobei in Wirklichkeit von einer Vielfalt von Bezugswis- Teilnahme, muss ständig verteidigt werden und senschaften zu sprechen ist. droht doch allmählich verloren zu gehen.

198 SCHWERPUNKT

Collage: Ivonne Meißner Das Feld politische Bildung wird mit speziellen Förderprogrammen von der Politik bestellt

Wissenschaftliche Bezüge der politischen tionstheorie und stellen die Teilnehmerorientie- Jugend- und Erwachsenenbildung rung in den Mittelpunkt ihrer didaktischen Überlegungen. Sie konzentrieren ihren Blick auf Zu den Rahmenbedingungen der Profession gehö- die Teilnehmenden oder Subjekte. ren die Komplexität des Feldes politischer Bildung ■ Die Politikwissenschaften, die auf der einen Sei- und die entsprechende Vielfalt disziplinärer Bezü- te die Zuständigkeit für viele Themen politischer ge. Politische Bildner/-innen verfügen über sehr un- Bildung beanspruchen und im Subbereich der terschiedliche Ausbildungen und entsprechende Politikdidaktik das Überwältigungsverbot und Selbstverständnisse: In der Mehrzahl weisen sie damit den demokratischen Pluralismus betonen. zwar pädagogische, sozial- oder politikwissenschaft- ■ Schließlich die Sozialwissenschaften, die mit rah- liche Studienabschlüsse auf, es gibt jedoch auch et- menden Gesellschafts- und Zeitdiagnosen nach liche Historiker, Wirtschaftswissenschaftler, Philoso- dem sozialen und gesellschaftlichen Sinn von phen, Theologen, Juristen, Ethnologen, Kultur- und Weiterbildung fragen und im Besonderen Pro- Sprachwissenschaftler, die es in die politische Bil- bleme der Bildungsgerechtigkeit ansprechen. dung verschlagen hat. Das hängt sicher auch mit der Eigenart der Trägerlandschaft zusammen, de- Darüber hinaus bieten – angetrieben durch die Er- ren institutionelle Autonomien ganz unterschiedli- innerungskultur und die nicht nur für Zwecke des che inhaltliche Profile und Selbstbeauftragungen Gedenkens, sondern auch für die politische Bildung ermöglichen. genutzte Gedenkstättenlandschaft – die Geschichts- Auf jeden Fall haben wir es mit drei zentralen Be- didaktik und Gedenkstättenpädagogik sehr viel An- zugswissenschaften zu tun als da sind: regungspotenzial für Lernarrangements in der ■ Die Erziehungswissenschaften und – noch mal politischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Die untergliedert – im Besonderen die Sozialpäda- politische Jugendbildung hat auch immer noch ei- gogik, die für große Bereiche der außerschuli- ne Nähe zur offenen Jugendarbeit und zur kultu- schen Jugendbildung grundlegend ist, und die rellen Bildung, die die Vermutung, gänzlich unpoli- Erwachsenenbildungswissenschaft. Sie gruppie- tisch zu sein, weit von sich weisen. Diese Beispiele ren sich um Fragen der Bildungs- und Sozialisa- müssen hier ausreichen, um zu dokumentieren,

199 SCHWERPUNKT

Es gibt einen großen dass es einen großen eine Art theoretische Einheit der Wissenschaft aber praktischen und theo- praktischen und theore- nicht wirklich erforderlich. retischen Beziehungs- tischen Beziehungsreich- Es gibt aber noch eine weitere Perspektive: In der reichtum und viele tum und viele Wahlver- Angebotsentwicklung waren die Praktiker, d. h. Wahlverwandtschaften wandtschaften gibt, die die Studienleiter, hauptberuflichen Pädagogen und nicht nur als belastende Seminarverantwortlichen Komplexität oder wissenschaftliche Unübersicht- In der Angebotsent- immer schnell in der lichkeit ausgelegt werden müssten, sondern als wicklung war man im- Adaption aktueller so- Chance und Füllhorn theoretischer Phantasie. Die mer schnell in der ziologischer und politi- Perspektivenvielfalt, die als Qualitätsmerkmal poli- Adaption aktueller scher Zeitdiagnosen. Das tischer Bildung gilt, sollte auch in der Wissenschaft soziologischer und poli- ist ablesbar an den wech- als Bereicherung begrüßt werden. Theorien aus ei- tischer Zeitdiagnosen selnden Leitbegriffen, die nem Guss, Ansätze, die alles erklären und subsu- man benutzt und an de- mieren wollen, haben sich ohnehin historisch bla- nen man sich abarbeitet: Risikogesellschaft, Wis- miert, so dass heute ein fröhlicher und produktiver sensgesellschaft, Einwanderungsgesellschaft, Me- Eklektizismus herrschen könnte, wenn die oben diengesellschaft oder globalisierte Gesellschaft sind genannten Disziplinen sich nicht immer noch gro- nur einige dieser „Firmenschilder“, die in der poli- ßenteils ignorieren oder sogar heftig bekämpfen tischen Bildung deshalb sofort aufgegriffen wer- würden. Das Konkurrenzdenken und der Habitus den, weil sich mit ihnen demonstrieren lässt, dass der Abgrenzung bestimmen immer noch in weiten man auf der Höhe der Diskussionen und der Zeit Teilen die Diskurse. So wurde z. B. die bundesweite ist. Dabei ist es inzwischen unerheblich, ob es sich Evaluationsstudie zur politischen Erwachsenenbil- um Mediendiskurse oder gediegene wissenschaftli- dung von vielen Politikwissenschaftlern skeptisch che Paradigmen handelt. Der ständige Zwang, ge- beurteilt, weil sie von Dresdener Sozialpädagogen genüber Administration und Politik die Arbeit und erarbeitet worden war.2 Und die Vehemenz, mit die institutionelle Existenz zu legitimieren und In- der – von außen betrachtet – manche in ihren Posi- novationsbereitschaft zu zeigen, führt zu einem tionen gar nicht voneinander so weit entfernte wiederholten Kurzschluss von aktuellen gesell- Theoretiker der politischen Bildung sich mitunter schaftlichen Problemlagen und dem Auftrag politi- befehden und Ausschließlichkeitsansprüche erhe- scher Bildung. Dieses Reaktionsmuster ist durchaus ben, bleibt befremdlich. problematisch, weil es die eigenen langfristigen Die Politikdidaktik wird nach wie vor von Politik- Grundlagen entwertet. wissenschaftlern als die Leitwissenschaft beschrie- ben, die mit ihren Fragen und Koordinaten die Ordnung und Integration verschiedener weiterer Unpolitische politische Bildung? Oder: Bewe- Bezugswissenschaften verbürgt.3 Es stellt sich aber gungsorientierung versus Professionalität die Frage, ob ein solcher Vorschlag oder Hegemo- nialanspruch nicht in erster Linie den Regeln des Anfang der 1960er Jahre begann mit dem Ab- akademischen Wettbewerbs und den Reproduk- schied von der Begegnung und dem Gespräch als tionszwängen wissenschaftlicher Reputation folgt, dem wesentlichen Medium der Bildung und damit als dass hier unhintergehbare wissenschaftliche auch vom „Jargon der Eigentlichkeit“ der Prozess Orientierungs- und Erkenntnisfortschritte formu- der Verwissenschaftlichung politischer Jugend- und liert würden. Es sei zugegeben, dass die Schroffhei- Erwachsenenbildung, der anschließend in den 70er ten deutlich abgenommen und Politikwissenschaft- Jahren in oft weitreichende Planungseuphorien und ler wie Klaus-Peter Hufer und Wolfgang Sander Steuerungsphantasien, was mit politischer Bildung z. B. sich nicht nur gegenüber den bildungswissen- alles zu erreichen sei, mündete. Die Protestbewe- schaftlichen Diskursen geöffnet, sondern auch man- gung 1968 und die sozialen Bewegungen gaben cherlei davon angenommen und weiterentwickelt der politischen Bildung weiteren Anschub, so dass ei- haben. Interdisziplinäres Arbeiten ist also gefragt, ne enge Beziehung von fundamentaler Gesell- schaftskritik und politischer Bildung in vielen Krei- 2 Karsten Fritz/Katharina Maier/Lothar Böhnisch: Politische Er- sen als selbstverständlich wachsenenbildung. Trendbericht zur empirischen Wirklichkeit Eine enge Beziehung galt. Der Beutelsbacher der politischen Bildungsarbeit in Deutschland, Weinheim und von fundamentaler Konsens war deshalb München 2006. Gesellschaftskritik und auch ein vor allem von 3 So z. B. Peter Massing: Bezugswissenschaften, in: Weißeno, politischer Bildung galt liberaler und konservati- Georg u. a. (Hrsg.): Wörterbuch Politische Bildung, Schwal- in vielen Kreisen als ver Seite angeregter Ein- bach/Ts. 2007, S. 30 ff. selbstverständlich hegungsversuch und ein

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Ansatz, durch die Etablie- rung professioneller Grund- sätze wie dem Kontrover- sitäts- und Überwältigungs- gebot Grenzen zu definie- ren.

Wer in die Geschichte der Er- wachsenenbildung schaut, wird schnell entdecken, dass soziale Bewegungen und Bil- dungsaktivitäten zumeist ein Paar bilden: Die SPD etwa hat als Arbeiterbildungsver- ein angefangen, und ebenso sind die katholischen Sozial- verbände und protestanti- schen Selbstorganisationen als Bildungsvereine entwi- ckelt worden. Heute wird wiederholt auf die globali- sierungskritische Bewegung © Dieter Haugk/pixelio.de verwiesen als Gefährtin und Globalisierte Gesellschaft als Leitbegriff politischer Bildung Bezugspunkt einer repoliti- sierten Bildungsarbeit. Das gerade erschienene Ist der Mainstream der politischen Bildung heute Handbuch „Kritische politische Bildung“ versucht zu unpolitisch, zu affirmativ, zu passiv und von der eine theoretische Bestandsaufnahme unter ande- realen Politik abgewandt? Wenn man die Entwick- rem in dieser Perspektive.4 lung der politischen Jugend- und Erwachsenen- Aber auch im Verhältnis von sozialer Bewegung bildung nach dem Modell langer Wellen beschrei- und politischer Bildung hat man mit der Beschrän- ben will, dann gab es von den 60er bis Anfang der kung von Handlungsorientierungen und etwa dem 80er Jahre eine Periode des theoretischen Opti- Gebot, dass Veranstaltungen öffentlich und nicht mismus, in der vor allem in einem nur internen Kreis stattfinden sollen, Gesellschaftliche die Soziologie als Leit- Schranken gesetzt. Heute wird über die Möglich- Zukunft erschien wissenschaft fungierte. keit, auch politische Aktionen in das Bildungsge- planbar und gestaltbar, Egal war dabei, ob man schehen einzubinden, neu diskutiert, der Leiter der politische Bildung stell- moderate oder radikale Bundeszentrale, Thomas Krüger, hat sich z. B. be- te ein wesentliches Reformen oder gar revo- fürwortend zu Wort gemeldet (während seine Ta- Ferment dieser Prozesse lutionäre Veränderungen gungsbeobachter/-innen weiterhin den gewünsch- dar anstrebte: Gesellschaftli- ten Ausschluss politischer Aktion auf ihrer Checkliste che Zukunft erschien haben). Benedikt Widmaier kritisierte jüngst wieder- planbar und gestaltbar, politische Bildung stellte holt, dass die politische Bildung zu unpolitisch ge- ein wesentliches Ferment dieser Prozesse dar. In worden und die Trennung von Bildung und Partizi- den 80er Jahren verebbten nicht nur allmählich die pation nicht mehr zeitgemäß sei.5 Im Umkreis von sozialen Bewegungen und gelangten mit den Grü- Attac und anderen globalisierungs- und umwelt- nen in die Parlamente, es entwickelte sich auch in kritischen Initiativen wird ebenfalls ein Lernen in der Gesellschaft eine fortschrittskritische und zu- Kampagnen propagiert und ausprobiert. kunftspessimistische Haltung. Der Super-GAU in Tschernobyl dokumentierte das Versagen bisheri- 4 Bettina Lösch/Andreas Thimmel (Hrsg.): Kritische politische ger Industriepolitik. Das Ende des Sowjetkom- Bildung. Ein Handbuch, Schwalbach/Ts. 2010, paradigmatisch munismus und seiner verschiedenen Parallelwel- darin der Beitrag von Gerd Steffens: Braucht kritisch-emanzipa- ten bildete einen weiteren Schritt in der Entzau- torische Bildung heute eine Neubegründung? Politische Bil- berung allzu naiver und vereinfacht gestrickter dung zwischen Selbstgenügsamkeit und Globalisierungskrise. Zukunftsentwürfe und eine Radikalisierung der 5 Benedikt Widmaier: „Die beste politische Bildung ist prakti- Problemsichten auf eine Gesellschaft, deren Ent- sche Politik.“ Politische Bildung und politische Aktion, in: Praxis wicklung nicht schon durch geschichtsphiloso- Politische Bildung, 3/2009, S. 165-172 phisch verbrämte Wunschbilder vorbestimmt sein

201 SCHWERPUNKT

kann, sondern von Ungewissheit und Kontingenz Der politische und Der politische und ge- geprägt ist.6 gesellschaftliche Vor- sellschaftliche Vorwärts- Eine besonders wichtige Station im Paradigmen- wärtsdrang ist der poli- drang ist aber der politi- wechsel der Weltsicht verkörperte Mitte der 80er tischen Bildung in den schen Bildung in der Tat Jahre der Historikerstreit, der in seiner Quintessenz letzten 20 Jahren ein in den letzten 20 Jahren nicht nur eine deutsche Angelegenheit ist. Mit bisschen abhanden ein bisschen abhanden dem Bewusstsein vom beispiellosen Mord an den gekommen gekommen. Eine antiaf- Juden Europas wurde zugleich offenbar, wie dünn firmative kritische Per- die zivilisatorische Schicht der Moderne ist, und spektive, wie sie von verschiedenen Seiten einge- dass demokratische Gesellschaften nicht nur ge- fordert wird, kann sich gleichwohl zurzeit auf keine winnen, sondern auch wieder verlieren können. mächtigen „neuen sozialen Bewegungen“ berufen. Das Nachdenken über Utopien wurde abgelöst vom Man kann sie auch in unseren Kreisen nicht initiie- Philosophieren über das Böse. In der politischen ren, denn politische Bildung ist keine Ersatzpolitik. Bildung ist es seit Mitte der 80er Jahre zu einem Ebenso sollte sich eine kritische politische Bildung anwachsenden Angebot historisch-politischer Bil- davor hüten, neue Meistererzählungen anzuregen dung gekommen. Genährt wurde der neue histori- und zu stützen. sche Skeptizismus und Realismus auch durch die Im- Es bleibt also ein für die außerschulische politische pulse der mittelosteuropäischen Revolutionen 1989 Bildung konstitutives und nicht auflösbares Span- bis 1992 und die Erfahrungen des Völkermords in nungsverhältnis zwischen Aktions- und Bewe- den postjugoslawischen Staaten oder Ruanda. gungsorientierung einerseits und Institutionalisie- rung und Professionalisierung (hinter denen auch Quelle: Wikipedia/Foto: Fanny Schertzer eine öffentliche Förderung mit Auflagen steht) an- dererseits, das immer neu austariert werden muss.

Back to the Roots?

Nicht zufällig orientieren etliche theoretische An- sätze politischer Bildung – zum Teil schon vorher, aber spätestens seit 1989 – auf einen weiten Be- griff von Politik und betonen die grundsätzliche Bedeutung von Demokratie und Öffentlichkeit, von Schädel von Opfern des Völkermordes in der Gedenk- republikanischen Tugenden und politischen Subjek- stätte von Nyamata, Ruanda ten. Politische Bildung kann meiner Meinung nach ihre Legitimationsbasis eher festigen bzw. nachhal- Gleichwohl bleiben die intellektuellen Rückschlüs- tiger machen, wenn sie in ihren Begründungsver- se – auch im Subbereich der politischen Bildung – suchen gegenüber kon- kontrovers: So werden die Theorien der Postmo- Die Aneignung von kreten Politikprojekten derne, welche Abschied nehmen von den „großen Bürgertugenden ist und dem Verlangen Erzählungen“, und die konstruktivistischen Ansät- Voraussetzung politi- nach aktuellen Lösungen ze, die mal radikaler mal moderater die subjektive scher Partizipation, von gesellschaftlichen Seite des Lernens betonen, manchmal allzu pau- und damit wird Problemen eher auf vor- schal als gedanklicher Auswuchs oder willfährige sowohl der Unter- sichtige Distanz geht. Begleiter wirtschafts- oder neoliberaler Politikan- schied zum klassischen Ein solches Herangehen, sätze angesehen und nicht als berechtigter Aus- Untertanen als auch das heißt die Rückbesin- druck eines Zweifels an den großen Meistererzäh- dem vornehmlich nung auf die Grundlagen lungen.7 seine Interessen und funktionierender Demo- Zwecke verfolgenden kratie, findet sich auch 6 Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht dazu instruktiv: Wer- Wirtschaftsbürger in vielen Überlegungen ner Helsper/Reinhard Hörster/Jochen Kade: Ungewissheit. Päda- beschrieben und Vorschlägen der gogische Felder im Modernisierungsprozess, Weilerswist 2003 letzten Jahre wieder. 7 Als Meistererzählungen werden von den Historikern die um- 1993 räsonierte Herfried Münkler in seiner Berli- fassenden, erkenntnisleitenden Großtheorien seit einiger Zeit ner Antrittsvorlesung über die sozial-moralischen apostrophiert. Siehe dazu auch: Konrad Jarausch/Martin Sa- Voraussetzungen des Funktionierens westlich-libe- brow: Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der raler Demokratien und der Zivilgesellschaft und deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002 plädierte für eine Rehabilitierung des Tugendbe-

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griffs.8 Die Aneignung von Bürgertugenden ist hält, sondern auch das öffentliche Engagement Voraussetzung politischer Partizipation, und damit herangezogen wird, um die Beschäftigungsfähig- wird sowohl der Unterschied zum klassischen Unter- keit und permanente Selbstmobilisierung zu doku- tanen als auch dem vornehmlich seine Interessen mentieren, wie es z. B. beim Profilpass und ähn- und Zwecke verfolgenden Wirtschaftsbürger be- lichen Kompetenz-Portfolios geschieht.12 Hier liegt schrieben. Die klassische liberale Theorie ignoriert eine „Vereinnahmung“13 vor, eine Funktionalisie- die nötige sozialmoralische Fundierung der Demo- rung und Unterwerfung demokratischer Tugenden kratie und die zivilgesellschaftlichen Sphären, in der und politischer Urteilskraft: aus der politischen Pas- sich Bürger/-innen assoziieren, austauschen und sion wird eine soziale Pflicht. Orientierungen entwickeln. Auch Oskar Negt wird nicht müde, darauf hinzu- weisen, dass die Demokratie von Voraussetzungen lebt, die der Staat nicht umstandslos herstellen oder gar garantieren kann: „Demokratie muss ge- lernt werden“.9 Negt verweist ebenfalls auf Tugen- den als wichtige Ressource für die Fähigkeit der Selbstregierung und weiteren Demokratisierung der Gesellschaft. Er hat seine Sichtweisen und Begrün- dungen der politischen Bildung in einem gerade erschienenen Werk noch einmal zusammengefasst, das um die Frage kreist: Wie entsteht politisches Urteilsvermögen?10 „Die Entwicklung von Urteils- fähigkeit ist ... das Zentrum politischer Bildung“11 konstatiert Negt und rekurriert in seinen Beweis- führungen nicht nur auf Hannah Arendt, sondern auch auf die griechische Demokratie und Philoso- phie. Die klassischen Begründungsmuster und Le- gitimationsfiguren erfahren also schon länger eine neue Anerkennung, und das entspricht folgerich- tig dem Abschied von der Geschichtsphilosophie und der Entzauberung der großen alternativen Ge- sellschaftsentwürfe. Natürlich ist eine den Menschenrechten verpflich- tete und anerkennungs- und subjekttheoretisch fundierte politische Jugend- und Erwachsenenbil- dung hier wunderbar anschlussfähig. Und doch gibt es auch Hinweise, dass eine solche, das Sub- © Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten jekt und seine zur demokratischen Mitwirkung Kompetenznachweis im Profilpass befähigende Ausstattung betonende Begrün- dung und Zentrierung der politischen Bildung ins Die Vertreter kritischer Bildungstheorie sehen dar- Zwielicht geraten und problematische Ambiguitä- über hinaus gerade in der Ubiquität des Kompe- ten entfalten kann. Die Subjektivität und die ihr tenzbegriffs in den politischen Manifestationen und zugehörigen Tugenddiskurse geraten zum Vexier- bildungspolitischen Diskussionen eine Anpassung bild. an den neoliberalen Mainstream. So stellt Thomas Dies geschieht z. B. dann, wenn die Freiwilligkeit Höhne fest: „Der Kompetenzdiskurs rationalisiert politischen Lernens zur öffentlichen Pflicht wird und legitimiert dabei entsprechende neoliberale und der „aktivierende Sozialstaat“ den Einzelnen Subjektvorstellungen und begründet die perma- nicht nur zu unablässiger Arbeit an sich selbst an- nente Selbstrationalisierung des Individuums, mit

8 http://edoc.hu-berlin.de/humboldt-vl/muenkler-herfried/PDF/ 12 Zur Kritik siehe Paul Ciupke: Kompetenzbeichten: Profilpass, Muenkler.pdf Talentkompass, Kompetenzbilanz und Co. Eine etwas provoka- 9 So äußerte er sich jüngst noch in einem Spiegel-Interview, in: tive Betrachtung, in: außerschulische bildung 2/2007. Der Spiegel 32/2010, S. 98. 13 Siehe zu diesem Begriff auch den Band von Carsten Bün- 10 Oskar Negt: Der politische Mensch. Demokratie als Lebens- ger u. a. (Hrsg.): Bildung in der Kontrollgesellschaft. Analyse form, Göttingen 2010. und Kritik pädagogischer Vereinnahmungen, u. a. 11 ebenda, S. 32. 2009.

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den ‚Irrationalitäten‘ und Kontingenzen der unterschiedlicher sozialer Milieus und divergenter ‚Markt-Gesellschaft‘ umzugehen.“14 politischer Positionen, um die Zukunftsprobleme Zwar nervt die andauernde Fixierung auf den Neo- des Gemeinwesens zu diskutieren und sich indivi- liberalismus als Dauerschurken manchmal wie eine duell Wissen und Orientierungen zu erarbeiten. ständig laufende Schallplatte, aber ebenso ist der Dieses Leitbild der diskutierenden Arena, die, wie inzwischen auch in der Jürgen Habermas es ausdrückte, die Politik auch Der in der politischen politischen Bildung gras- kommunikativ belagert und unter Druck setzt, ist Bildung grassierende sierende „Kompetenz- mehr als gefährdet. Kommunikative kritische Öf- „Kompetenzidealis- idealismus“15 Ausdruck fentlichkeit wird abgelöst durch ein Zertifikatssys- mus“ ist Ausdruck einer theoretischen und tem.16 Die außerschulische Bildung, die immer an- einer theoretischen politischen Selbstverges- ders sein wollte und sich in ihren Gründerjahren und politischen Selbst- senheit. Es scheint so, als bewusst von den Strukturmustern der Schule ab- vergessenheit glaube man eine Art wandte, deren Gründungsimpetus gerade in dem Weltformel der Weiter- Bestreben der Entschulung bestand, verwandelt bildung gefunden zu haben, die deshalb alle sich immer mehr dem „normalen“ Erziehungs- und Vorzüge besitzt, weil sie ökonomisch, weiterbil- Bildungssystem an, dessen Funktion letztlich die dungspolitisch, empirisch, medienwissenschaftlich, der sozialen Selektion und Statuszuweisung durch konstruktivistisch, wissens-, subjekt- oder bildungs- Titel und Zugangsberechtigungen ist. Die Aufgabe, theoretisch (mit durchaus unterschiedlichem Vor- eigene kleine Öffentlichkeiten oder – wie es früher verständnis) ausgedeutet werden kann. Alle Akteu- auch hieß – Gegenöffentlichkeiten, kritische Foren re des Feldes können ihre Interessen und im Sinne des klassischen Demokratieverständnisses Selbstverständnisse auf diesen Begriff projizieren zu bilden, verblasst vor diesem Hintergrund schritt- und sich damit am politischen Spiel um Einfluss weise und damit auch ein bescheidener, aber wich- und Legitimation – oder, wenn man es kritisch tiger Anspruch. sieht, der Selbstabschaffung – beteiligen. Besonders deutlich wird das bei den aktuellen Ver- Die Akteure der außerschulischen politischen Bil- suchen, auch die politische Jugend- und Erwachse- dung heute bewegen sich mindestens zwischen nenbildung bei der Gestaltung eines Europäischen sechs relevanten Einflussfaktoren: nämlich denen und eines Deutschen Qualifikationsrahmens einzu- der gesellschaftlichen Entwicklung, den Entschei- bringen. Hierbei geht es nicht nur um den Versuch, dungen der Politik, ihrer Administration, der Wis- die Anerkennung im Gesamtsystem der Weiterbil- senschaft in ihren vielfältigen Ausdifferenzierun- dung zu erlangen, vielmehr muss politische Bil- gen, der Profession und der Teilnehmerschaft. Das dung kommensurabel gemacht werden in Bezug größte Gewicht scheinen mir dabei oft die Politik auf Fertigkeiten und Kompetenzstufen, die ihren und ihre Administration zu haben. Ursprung aus der beruflichen Bildung nicht verleug- Aber wer reflektiert eigentlich diesen Prozess, in nen können. Veranstaltungen müssen diesen Kom- dem sich schleichend Gewichtungen verschoben petenzstufen zugeordnet und für einen berechtig- haben? Sollte es eine neue Metatheorie geben, die ten, also begrenzten Personenkreis ausgeschrieben alles neu zusammen denkt? werden. Das ist die Zerstörung des Prinzips der Öf- Theorien sollen anlei- fentlichkeit und der Allgemeinzugänglichkeit. Ide- Strahlkraft und Leitfä- ten und orientieren, die altypisch gesehen – natürlich weiß man, dass die higkeit der Theorien Praxis durchschauen und Wirklichkeit dem nicht scheinen unter wach- strukturieren helfen und Kommunikative kriti- immer entspricht – ver- sender Schwindsucht manches mehr. Aber die sche Öffentlichkeit sammeln sich in Veran- zu leiden Strahlkraft und Leitfähig- wird abgelöst durch staltungen der politi- keit der Theorien schei- ein Zertifikatssystem schen Bildung Personen nen unter wachsender Schwindsucht zu leiden. Sie wirken mitunter wie die Sterne, die man noch am 14 Thomas Höhne: Der Leitbegriff ‚Kompetenz' als Mantra Himmel sieht, obwohl sie schon längst zerfallen sind. neoliberaler Bildungsreformer. Zur Kritik seiner semantischen Theorien als Orientierungssysteme werden im All- Weitläufigkeit und inhaltlichen Kurzatmigkeit, in: Pongratz, tagsgeschäft der außerschulischen politischen Bil- Ludwig A./Reichenbach, Roland/Wimmer, Michael (Hrsg.): Bil- dung – Wissen – Kompetenz, Bielefeld 2007, S. 31. 16 In diese Richtung geht zum Beispiel das Xenos-Projekt: 15 Roland Reichenbach: Soft skills: destruktive Potenziale des „DemoCredit“ der Akademie Führung & Kompetenz am Kompetenzdenkens, in: Pongratz, Ludwig A./Reichenbach, Ro- Centrum für angewandte Politikforschung (C·A·P) an der LMU land/Wimmer, Michael (Hrsg.): Bildung – Wissen – Kompetenz, in München, vgl. http://www.cap-lmu.de/akademie/projekte/ Bielefeld 2007, S. 75. xenos.php.

204 SCHWERPUNKT

dung zerrieben, denn in den Einrichtungen vertei- Dr. Paul Ciupke ist Herausgeber der „Außer- digen die hauptberuflichen Mitarbeiter nicht nur schulischen Bildung“ und arbeitet als Pädago- ihre Professionalität, sondern auch täglich ihren gischer Mitarbeiter beim Bildungswerk der Arbeitsplatz. Und ihre öffentlichen Selbstbegrün- Humanistischen Union NRW. e. V. Adresse: dungen und Leitbegriffe werden heute oft allein Kronprinzenstraße 15, 45128 Essen. für diesen Zweck kommuniziert. Vielleicht sollten wir nicht so sehr auf neue „Leitsterne“ hoffen, son- E-Mail: [email protected] dern zur Überwindung der Stagnation über neue Koalitionen im gerade genannten Sechseck der Interessenten an politischer Bildung nachdenken.

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Politische Erwachsenenbildung – zur Geschichte ihrer Ideen und Konjunkturen Klaus-Peter Hufer

Die folgende Darstellung beschreibt kursorisch die Die allgemeine Volkshochschulen ge- Geschichte der politischen Erwachsenenbildung an- Bildungsaufgabe warnt und die Arbeit hand ihrer wesentlichen Etappen. Politische Bildung nach Kriegsende der „freien Träger der insgesamt ist ein sehr vielfältiges Feld. Sie findet war orientiert am Erwachsenenbildung – statt in allgemeinbildenden Schulen und dort mit klassischen huma- der Gewerkschaften, Kir- unterschiedlichen, oft länderspezifischen Nomenkla- nistischen Menschen- chen u. a. – gewürdigt turen und Aspekten, sie ist ein Teil der außerschuli- bild (nach Knierim/Schneider schen Jugendbildung und im facettenreichen Sys- 1978, S. 35). tem der Erwachsenenbildung mit der Vielfalt ihrer Die allgemeine Bildungsaufgabe nach Kriegsende Träger präsent. Alles in seiner ganzen Variations- war orientiert am klassischen humanistischen Men- breite darzustellen, erforderte eine umfangreiche schenbild: Der Mensch sollte mit Hilfe der öffentlich Monographie. Daher will ich mich in diesem Rah- verantworteten Erwachsenenbildung „zu einer sinn- men auf die aus meiner Sicht maßgeblichen Höhe- vollen Existenz“ vordringen, „sein eigenes Wesen ... punkte der Erwachsenenbildung beschränken. Um erkennen“, hieß es damals in den Präambeln der Ar- im Gewirr der bunten Landschaft den roten Faden beitspläne und den Verlautbarungen zur Erwachse- nicht zu verlieren, orientiere ich mich am Entwick- nenbildung (zit. nach Knierim/Schneider 1978, S. 77). lungsgang der politischen Bildung innerhalb der Die „bildungsbürgerliche Rückbesinnung auf die Volkshochschule (wobei wesentliche, allgemeine Er- Existenz, das Sein und den Menschen“ waren zeitty- eignisse und Veröffentlichungen im Blick bleiben). pisch (Ciupke/Reichling 1996, S. 34). Gefordert wurde Das mag auch in einer Zeitschrift, deren Leserinnen ein Bekenntnis zu den „verlorenen (geistigen) Wer- und Leser in ihrer Mehrheit nicht in Volkshochschu- ten“ (so der Berliner VHS-Erwachsenenbildner Heinz len arbeiten, legitim sein. Denn das, was da gedacht, Gutsche, zit. nach Ciupke/ Jelich 1999, S. 15). Es ging diskutiert und realisiert wurde, steht beispielhaft um Persönlichkeitsbildung und sittliche Entfaltung, für den gesamten Verlauf der Ideen und Konjunk- der „Vermassung“ sollte entgegengewirkt, „echte turen. Auslese“ geschaffen werden (siehe Ciupke/Reichling 1996, S. 37 f., Knierim/Schneider 1978, S. 78 – 80).

Kriegsende und Neubeginn: Rückbesinnung auf Existenz und Sittlichkeit

Nach Kriegsende verfolgten die vier Siegermächte die Absicht, in Deutschland eine demokratische Kul- tur herbeizuführen. Erwachsenenbildung erschien als ein Weg hierfür. In der Kontrollratsdirektive Quelle: Wikipedia Nr. 56 vom 28. Oktober 1947, den „Grundlegenden Richtlinien für Erwachsenenbildung in Deutsch- land“, wurde dies präzisiert. Hauptziel der Erwach- senenbildung – so hieß es darin – „sollte sein, tätige Helfer für die demokratische Erziehung Deutsch- lands heranzubilden, indem der erwachsenen Bevöl- kerung die neuesten sozialen, politischen und wis- senschaftlichen Erkenntnisse allgemein zugänglich gemacht werden“ (zit. nach Wilson 1997, S. 19). Die Bildungsabsichten in der amerikanisch besetz- ten Zone waren geprägt von dem Re-Education- Konzept, und das hieß: „Rückführung Deutschlands in die Kulturgemeinschaft zivilisierter Nationen, die es unter der national-sozialistischen Herrschaft verlassen hatte“ (zit. nach Knierim/Schneider 1978, S. 21). Im Gutachten der Zook-Kommission, das im Sep- tember 1946 vorgelegt wurde, wird betont, dass es das Bildungs- und Erziehungsideal der Volkshoch- schulen sei, das Individuum zu befähigen, in einer Amerikanisches Plakat zur Re-Education. demokratischen Gesellschaft zu leben. Dabei wur- Amerikanische Besatzungszone, um 1947 de auch vor einer möglichen Monopolstellung der Deutsches Historisches Museum

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Die 50er Jahre: von der Mitbürgerlichkeit gensatz dazu „geht die mitbürgerliche Bildung auf zur Bewusstseinsbildung das Ganze, auf den ganzen Menschen, auf das gan- ze Leben“. Es sei „ein politisches Gebot, daß die Er- Dieses Gefühl, sich von „der Masse“ absetzen zu ziehung zur Demokratie den Menschen nicht nur sollen, war nach der Erfahrung mit dem National- zu den Formen, sondern auch zu den Inhalten der sozialismus und angesichts des Kommunismus ver- Demokratie bildet“ (Borinski 1954, S. 57). breitet und prägte die Kultur der 50er Jahre. Ortega Die dazu prädestinierte Form des Unterrichts war die y Gasset hatte mit seinem bereits 1930 veröffent- „Arbeitsgemeinschaft“. Diese meint: „Anerkennung lichten Buch „Der Aufstand der Massen“ Aufsehen der Mündigkeit und grundsätzlichen Gleichwertig- erregt. Darin beschreibt er den „Massenmen- keit des Hörers; Umwandlung des Lehrer-Schüler- schen“ (Gasset, S. 34), analysiert seine Psychologie Verhältnisses in ein echtes Mitarbeiter-Verhältnis und warnt vor einer drohenden „Barbarei“ (Gas- (Kooperation!); Verwendung aktivierender Metho- set, S. 54). Gleichzeitig konstatiert er als „Kehrsei- den, um den Hörer zur Selbsttätigkeit, zu einem te“ des Massenphänomens „die Fahnenflucht der aktiven Mitwirken und Mitschaffen im Kurs wie Eliten“ (Gasset, S. 32). Dieser Pessimismus mit sei- im gesellschaftlichen Leben zu erziehen“ (Borinski ner Zivilisationskritik und dem entsprechenden Eli- 1954, S. 138). tarismus passte in die Zeit, und als im Jahr 1956 die Einflussreich war damals auch Theodor Ballauf. Er Taschenbuchausgabe herauskam, wurden bereits hatte die bis dahin „einzige umfassende Theorie im ersten Jahr an die hunderttausend Exemplare der westdeutschen Erwachsenenbildung“ vorgelegt verkauft. Zwei Jahre später Jahr erschien übrigens (Siebert 1972, S. 17). Sie David Riesmans Hauptwerk „The Lonely Crowd“, Ballaufs Theorie war war orientiert am Exis- deutsch: „Die einsame Masse“. Es wurde zum Best- orientiert am Existen- tentialismus, der in den seller, für viele faszinierend konstatiert er einen tialismus, der in den 50er Jahren wie eine Entwicklungsgang sozialer Charaktere, nämlich den 50er Jahren eine ganze Art von Popkultur oder traditionsgeleiteten, den innengeleiteten und den Generation prägte Jugendbewegung eine außengeleiteten Typ. Ihnen entsprechen jeweils spe- ganze Generation präg- zifische Verhaltensmuster (Riesman). te. (Steiner 2004) Für Ballauf ging es darum, „den heutigen Menschen zu lehren, die Moderne auszu- In den frühen Jahren In den Jahren von 1950 halten und zu ertragen“ (Ballauf 1958, S. 156). Der einer aufwärts stre- bis 1959, also den frühen Existentialismus „war… Ausdruck einer … (weit) benden Bundesrepu- Jahren einer aufwärts empfundenen Krise der Moderne, in der die tradi- blik wurde zunächst strebenden Bundesrepu- tionellen Werte ihre Gültigkeit verloren haben und die vorausgegangene blik, wurde zunächst die das von traumatischen Erfahrungen und ungewis- Werteorientierung vorausgegangene Wer- sen Erwartungen verunsicherte Individuum sinnsu- fortgesetzt teorientierung fortge- chend umherirrte“ (Steiner 2004, S. 6). In der Er- setzt: „Es geht um den wachsenenbildung wurde Ähnliches empfunden Menschen, es geht um den Bestand der Freiheiten und gedacht. der abendländisch gebildeten Menschheit“ (Koch Diese Moderne war jedoch nicht so modernistisch 1950, S. 4). Prämisse und Ziel der Bildungsarbeit wie einige Jahrzehnte später. Für Ballauf sollte Er- gleichermaßen war die „Erlösung des Einzelnen wachsenenbildung der „wahren“ Bildung dienen aus der Masse“ (Koch 1950, S. 4). Erwachsenenbil- (Ballauf 1958, S. 158); hier sollte es nichts zu gewin- dung sollte, vor allem als politische Bildung, „die nen und zu verdienen geben: „Die Tätigkeit an der Pflege des sittlichen Charakters und der guten VHS darf nicht zur merkantilen Praxis werden und zwischenmenschlichen Beziehung“ leisten sowie durch umfangreiche Angebote eine erhöhte Nach- „die Erziehung zum rechten staatsbürgerlichen Den- frage hervorzurufen suchen. Innerhalb der EB gibt ken und Verhalten“. So hieß es beim Volksbildungs- es nichts zu ‚erwerben‘...“ (Ballauf 1958, S. 154). tag 1951 (Ergebnisse...1951, S. 95). In der politischen Bildung ging es vor allem um Gegen Ende der 50er Jahre bildete sich eine weite- mitbürgerliche Bildung. Eine entsprechende didak- re, in der Zukunft wirkungsvolle Linie politischer tisch-methodische Konzeption hatte Fritz Borinski Bildung heraus: zunehmend entwickelte sich ein mit seinem 1954 veröffentlichten Buch „Der Weg radikaldemokratisches, emanzipatorisches Verständ- zum Mitbürger“ vorgelegt. Borinski setzte sich ab nis der Arbeit. Es fällt ein Stichwort, das für die von der vor allem in der Weimarer Zeit vorherr- nächsten Jahre prägend sein sollte: Demokratisie- schenden „Staatsbürgerkunde“. Diese kritisiert er rung – „politische Bildung und Demokratisierung wegen ihres statischen Staatsbildes und ihres kon- ... bedingen einander“ (Tietgens 1958, S. 221). Nicht servativen und autoritären Erziehungsziels. Im Ge- mitbürgerliches Verhalten, sondern „Selbstsicher-

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Rede war vom „Sputnik-Schock“. Im damaligen Kalten Krieg machte sich die Sorge breit, dass der Westen technologisch von den Sowjets überholt werden könnte. Alle Ressourcen sollten daher mo- bilisiert, Bildungsanstrengungen verstärkt werden. (Seiverth 2007). Sieben Jahre später, 1964, wurde ein Buch veröffentlicht, das für erhebliches Aufse- hen sorgte: Es war Georg Pichts Befund von der „deutschen Bildungskatastrophe“. Darin wurde vor allem ein wachsendes internationales Wettbewerbs- manko befürchtet. Zum anderen zeigte sich ein fast grenzenlos erscheinender Glaube an eine of- fenbar unbeschränkt mobile und dynamische Leis- tungsgesellschaft. Pichts Credo: „Wenn unsere Ge- sellschaftlich wirtschaftlich bestehen soll, muß sie © Juventa Verlag Weinheim und München Weinheim © Juventa Verlag sich in eine gebildete Gesellschaft verwandeln“ (Picht 1972, S. 24). Die gleichen Gedanken bestimmten auch die Er- wachsenenbildungsdiskussion gegen Ende der 50er und zu Beginn der 60er Jahre. In dieser Zeit wurde die „realistische Modernisierung und Wende“ eingeleitet. Die- Qualifizierung waren ses Schlagwort ist seit- die Leitlinien der realis- dem zu einem festen tischen Wende in der Terminus geworden, der Erwachsenenbildung eine wesentliche Zäsur in der Geschichte der Er- wachsenenbildung markiert. Modernisierung und Qualifizierung waren die Leitlinien der realistischen Wende, deren „wichtigstes Dokument“ (Feidel- Titel einer Publikation zur Pädagogik Ballaufs Mertz 1975, S. 139) das Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswe- heit“ und „Bewußtseinsbildung“ wurden nun als sen „Zur Situation und Aufgabe der deutschen Er- politisch-pädagogische Zielvorstellungen formuliert wachsenenbildung“ (1960) war. In Abkehr von bil- (Tietgens 1958, S. 224). dungsidealistischen Gedanken und Zielen wurde Hellmut Becker, der spätere Präsident des Deut- hier ein neuer Bildungsbegriff geprägt: „Gebildet schen Volkshochschul-Verbandes, gab einen in der im Sinne der Erwachsenenbildung wird jeder, der sterilen Adenauerzeit radikal klingenden Anstoß: in der ständigen Bemühung lebt, sich selbst, die „Politische Bildung in der spannungslos geworde- Gesellschaft und die Welt zu verstehen und diesem nen Demokratie hat als vornehmste Aufgabe die Verständnis gemäß zu handeln“ (Deutscher Aus- Bildung aktiver Minderheiten“, deren Eigenschaft schuß ... 1960, S. 9 f.). Bildung wurde nun als „das ein „konstruktiver Nonkonformismus“ sein sollte Feld“ gesehen, „auf dem die Entscheidungen im (Becker 1959, S. 292). Kampf um die Selbstbehauptung des Menschen Die Vorstellung von der „aktiven Minderheit“ lag fallen. Hier wird sich entscheiden, ob der Mensch auch der Arbeit der Bundeszentrale für politische der von ihm geschaffenen Wissenschaft und Tech- Bildung in ihren Anfangsjahren zugrunde, die vor nik gewachsen ist und ob die Gesellschaft, die aus allem mit ihren Publikationen Multiplikatoren der der zweiten industriellen Revolution hervorgeht, politischen Bildung unterstützen wollte. eine menschengemäße Gestalt gewinnt“ (Deutscher Ausschuß ... 1960, S. 7). Das Gutachten verweist auf „die gegenwärtigen und vor allem die zukünftigen Die 60er Jahre: von der Bildungskatastrophe Umschichtungen in der Produktion und in den Pro- zur Studentenbewegung duktionsmethoden“ – diese „verlangen in steigen- dem Maße die Fähigkeit, sich umzuschulen“ (Deut- Am 4. Oktober 1957 transportierte eine sowjeti- scher Ausschuß ...1960, S. 14). sche Rakete den ersten Satelliten ins All. Die Aufre- Im Jahr 1966 wurde die erste große bildungssozio- gung bei den westlichen Alliierten war groß; die logische Studie veröffentlicht; ihr Titel: „Bildung

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und gesellschaftliches Bewußtsein“ (Strzelewicz/ Ziele einer emanzipatorischen Erziehung und Bil- Raapke/Schulenberg 1966). Ihr wesentlicher Ertrag dung genannt. lag u. a. im Aufzeigen von Bildungsvorstellungen, In den Institutionen der Erwachsenenbildung fan- der Sozialstruktur der Teilnehmenden an Erwach- den entsprechende Überlegungen und Strategien senenbildung und den Bildungshindernissen. Entgegenkommen und Verständnis sowie ein poli- Neben diesem bildungspolitisch motivierten Schub, tisch-pädagogisches Betätigungsfeld: „Ende der der zum Ausbau der Weiter-/Erwachsenenbildung 60er Jahre waren zahlreiche pädagogische Mitar- führte, setzte mit der Studentenbewegung und der beiter aus sozialwissenschaftlichen Studiengängen sie unterstützenden sozialwissenschaftlichen Diskus- eingestellt worden, die eine angebliche Anpassung sion eine weitere Entwicklung ein. Mit ihr wurde des Bildungsangebots an den Bedarf der Wirtschaft die im Zuge der realistischen Wende forcierte An- oder an die individuellen Aufstiegsinteressen der passungsqualifizierung kritisiert und stattdessen Erwachsenen kritisierten und die Volkshochschule auf die Demokratisierung der Gesellschaft und die nachdrücklich an ihre sozialreformerische Schritt- Emanzipation der Individuen gezielt. macherfunktion erinnerten“ (Siebert 1977, S. 575).

„Emanzipation“ wurde in den 60er Jahren zum Einen entscheidenden Einen entscheidenden Leitbegriff einer Bildung, die sich als eine kritische Impuls erhielt die Ar- Impuls erhielt damals die verstand und demzufolge starke Anlehnung an die beiterbildung durch Arbeiterbildung durch Ideen und Theorien der „Frankfurter Schule“ such- die kritische Einschät- die kritische Einschät- te. Richtungweisend waren Rundfunkgespräche zung, dass in Kursen zung, dass in Kursen und -vorträge von Theodor W. Adorno zwischen der Erwachsenenbil- der Erwachsenenbildung 1967 – 1969. Sie hatten programmatische Titel: Er- dung Angehörige der Angehörige der Mittel- ziehung – wozu?, Erziehung zur Entbarbarisierung, Mittelschicht begüns- schicht begünstigt und Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mün- tigt und Angehörige Angehörige der Unter- digkeit. (Adorno 1979) In einem Vortrag postulier- der Unterschicht be- schicht benachteiligt wur- te er sein immer wieder zitiertes Credo: „Jede nachteiligt wurden den. Nachgedacht wur- Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und de darüber, wie Arbeiter gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Ausch- davon überzeugt werden könnten, sich an politi- witz nicht sich wiederhole.“ (Adorno 1979, S. 88). scher Bildungsarbeit zu beteiligen. Die bisherige Adorno wies auf die Mechanismen hin, die Men- gewerkschaftliche Bildungsarbeit war konzipiert als schen zu solchen Taten wie Auschwitz veranlass- eine Funktionärsschulung mit traditioneller Wis- ten. Er nannte den ins „Un- erträgliche“ gesteigerten „zi- vilisatorischen Druck“ und die mit ihm verbundenen „Tendenzen zur Explosion“ (Adorno 1979, S. 90). Als „einzig wahrhafte Kraft ge- gen das Prinzip von Ausch- witz“ nennt Adorno „Auto- nomie“, d. h. im Sinne von Kant „die Kraft zur Re- flexion, zur Selbstbestim- mung, zum Nicht-Mitma- chen.“ (Adorno 1979, S. 93). Mit Autonomie, Reflexion, Selbstbestimmung, Nicht- Mitmachen und Mündigkeit (Adorno 1979, S. 144) so- wie „Erziehung zum Wider- spruch und zum Wider- stand“ (Adorno 1979, S. 145) hatte der Sozialphilosoph Quelle: Wikipedia/Foto: Frank Behnsen Adorno in diesen Rundfunk- beiträgen alle wichtigen Beeinflusste die Diskussion in den 60er Jahren: Theodor W. Adorno, an dessen Kategorien, Prinzipien und Wirken diese Gedenktafel in Frankfurt erinnert

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sensvermittlung durch Referenten sowie einem en- sellschaft ... auch gedient werden muß“ (Strzele- gen, in erster Linie gewerkschafts- und sozialpoli- wicz 1972, S. 144). tisch orientierten Themenspektrum. Oskar Negt Dagegen stand eine politökonomisch fundierte Pä- veröffentlichte hingegen 1968 seine Schrift „Sozio- dagogik, die sich gegen „die Unterordnung der Er- logische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur wachsenenbildung in eine Weiterbildung“ wandte, Theorie und Praxis der Arbeiterbildung“, die 1971 „deren objektive Funktion in der systemkonformen als überarbeitete Neuausgabe erschien (Negt 1975). Qualifkationsproduktion besteht“ (Kadelbach/Weick Mit seinen Kategorien „soziologische Phantasie“ 1973, S. 19). Die Rolle der Erwachsenenbildung als und „exemplarisches Lernen“ und dem mit ihnen „kapitalistische Produktivkraft“ (Axmacher 1974, verbundenen Bildungskonzept formulierte er eine S. 209) wurde mit politischen, ökonomischen und Alternative zu den bisherigen Formen gewerk- ideologiekritischen Analysen konstatiert. Es gab so- schaftlicher Bildungsarbeit. gar eine Position, die mit einem „revolutionären“ Sicherlich hatte die emanzipatorische Erwachse- Impetus der Erwachsenenbildung die Aufgabe zu- nenbildung die Stimmung in der Bundesrepublik schrieb, „den kollektiven Emanzipationsprozeß im erheblich mit verändert. Hans Tietgens stellt rück- Klassenkampf zur organisieren“ (Klein/Weick 1970, blickend fest: „Zum schrittweisen Wechsel der S. 345). Mehrheitsverhältnisse in Bonn hat politische Bil- Bildungspolitisch war die dung ihren Teil beigetragen! Sie schaffte das Kli- Bildungspolitisch war erste Hälfte der 70er ma, überhaupt einmal einen Wechsel für sinnvoll die erste Hälfte der Jahre geprägt vom Aus- zu halten und nicht von vornherein mit Angst auf 70er Jahre geprägt vom bau des Erwachsenen- die bloße Möglichkeit zu reagieren“ (Hering/Lüt- Ausbau des Erwach- bildungssystems in der zenkirchen 1992, S. 219). senenbildungssystems Bundesrepublik. Stim- in der Bundesrepublik mung und Erwartungen zeigen sich im 1970 von der Bildungskommission des Deutschen Bildungs- rates vorgelegten „Strukturplan für das Bildungs- wesen“. Weiterbildung (es ist nicht mehr die Rede von Erwachsenenbildung) als „Teil des Bildungssys- tems“ (Deutscher Bildungsrat 1973, S. 199) sollte „mit der Dynamik der gesellschaftlichen Entwick- lung Schritt halten“ (Deutscher Bildungsrat 1973, S. 201). Oskar Negt bei einer Die anschließende Serie von neun Erwachsenen-/ © Arbeitskreis deutscher AdB-Veranstaltung Weiterbildungsgesetzen in den Ländern war be- Bildungsstätten (hier im Jahr 2006) einflusst von a) der normativen Spannung, die sich zwischen „realistischer Wende“ und Demokratisie- rungsoptionen ergeben hatte, und b) der traditio- Die 70er Jahre: zwischen Qualifikation und nellen Diskussion, ob das Erwachsenenbildungssys- Emanzipation tem eher zu den öffentlichen Trägern (Volkshoch- schulen) oder in erster Linie zu den freien Trägern Die Erwachsenenbildung – genauer: die Volkshoch- (Kirchen, Verbänden) tendieren sollte. Hier zeigt schule – sollte aus der Warte einer emanzipatori- sich der grundsätzliche politische Konflikt, der da- schen Position ein „Werkzeug zur Veränderung der mals zwischen Sozialdemokraten und Christdemo- Gesellschaft“ (Cube u. a. 1974, S. 13) sein. Aber wie kraten ausgetragen wurde. passte das noch zu dem seit der „realistischen Wen- Prägend für die erwachsenenbildnerische Szene war de“ vertretenen Qualifizierungsgedanken? das Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen Es gab durchaus Versuche, die Positionen und Ge- ab Mitte der 70er Jahre, der Friedens-, Frauen-, gensätze Emanzipation oder Qualifikation, Demo- Umwelt-, Alternativ- und Dritte-Welt-Bewegung. kratisierung oder Industrialisierung durch Bildung Dafür gab es mehrere Gründe: Einmal wurde 1972 miteinander zu verbinden. Willy Strzelewicz z. B. der Bericht des Club of Rome konstatiert und mit warnte vor dieser, wie er meinte, „falsche(n) Alter- dem alarmierenden Titel „Die Grenzen des Wachs- native“ (Strzelewicz 1972, S. 144). Vielmehr kom- tums“ (Meadows u. a. 1972) leidenschaftlich disku- me es darauf an, dass „auch im Lernen und in den tiert. Die Ölkrise ein Jahr später hatte diese Grenze Leistungsprozessen der Demokratisierung und den sinnlich erlebbar gemacht. Damit verbunden wa- emanzipatorischen Interessen gedient werden kann ren Zweifel und Kritik an der traditionellen Politik, und unter den Bedingungen der industriellen Ge- die allzu oft Wachstum mit gesellschaftlichem Fort-

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schritt gleichsetzte. Angestrebt wurden eine neue fizierungsoffensive“ (Hufer 1992, S. 45 – 55). Die politische Kultur, ein ökologisches Bewusstsein mit sich rasant verbreitenden Informations- und Kom- ganzheitlichem Denken und basisdemokratische munikationstechniken veränderten das private und Kommunikationsformen. Mit der Ökologie- und berufliche Leben; die Menschen sollten an diese vor allem der Frauenbewegung kam ein subjekti- Bedingungen angepasst werden. Um der Weiter- ves Politikverständnis auf. Der Slogan „das Persön- bildung als „zentrales Problemlösungsinstrument“ liche ist politisch“ wurde zum Motto (Arbeitsgrup- (Schlaffke 1988, S. 12) den erforderlichen materiel- pe 1992, S. 33). len Unterbau zu besorgen, wurde ein umfangreiches Die Akteure der neuen sozialen Bewegungen ent- Instrumentarium an Weiterbildungsmaßnahmen, deckten neben anderen „gesellschaftlichen Subsys- Umschulungskonzepten, Aktionsprogrammen und temen“ auch die Erwachsenenbildung als ein inter- Modellversuchen entwickelt. Wie bei der „realisti- essantes Feld für die „multifrontale Strategie“ der schen Wende“ stand im Vordergrund des Interes- Demokratisierung der Gesellschaft (Vilmar, Bd. 1, ses, die Bundesrepublik auf dem Weltmarkt weiter- 1973, S. 107 f.). Der „alternativen Erwachsenenbil- hin konkurrenzfähig zu halten. Dazu musste das dung“ ging es vor allem darum, die Trennung von Qualifizierungsniveau auf die technischen und tech- „Bildung und Leben“ (Beer 1982, S. 140) aufzuhe- nologischen Vorgaben ben und die „politische(n) Abhängigkeiten politi- Erwachsenenbildung einer „dritten industriel- scher Erwachsenenbildung“ (Beer 1982, S. 146) zu wurde in den 80er Jah- len Revolution“ bezogen überwinden. ren vielfach auf reine werden. Die neuerliche Diejenigen, die sich in den neuen sozialen Bewe- Weiterqualifizierung Wende in der Erwachse- gungen engagierten, begannen innerhalb der Er- reduziert nenbildung wird mitun- wachsenenbildung „ihre eigenen Institutionen und ter als „instrumentelle Organisationsstrukturen aufzubauen“ (Weinberg Wende“ bezeichnet. Im Unterschied zur früheren 1987, S. 82, siehe auch Hufer/Unger 1989, S. 69 – 77). „realistischen Wende“ sollten die Bemühungen Gegründet wurden soziokulturelle Zentren, Bil- nun von vereinten Kräften aus Wirtschaft und Poli- dungswerke, -werkstätten und -läden. In einigen tik getragen werden. Dabei rückten völlig andere Bundesländern entstanden Interessen- und Dach- Weiterbildungsträger in den Vordergrund – Betrie- verbände. be und Unternehmen mit ihren Verbänden –, wohingegen die traditionellen Verbände wie die Volkshochschulen in die Defensive gerieten. Wei- terbildung sollte „zum Treibriemen technologischer Innovation“ werden (Der Bundesminister für Bil- dung und Wissenschaft 1985, S. 3), Erwachsenen- bildung wurde vielfach auf reine Weiterqualifizie- rung reduziert. Aber es ist auch eine völlig gegenläufige Tendenz zu erkennen, die – wie in der Erwachsenenbildung beliebt – mit einer Reihe von Wendetermini cha- rakterisiert wird: „Alltagswende“, „reflexive Wen-

© Thorben-Wengert/pixelio.de de“, „interpretative Wende“. Entsprechend laute- ten nun die didaktischen und konzeptionellen Leitbegriffe in der erwachsenenpädagogischen Diskussion: Subjektivität, Alltag, Alltagswissen, Le- benswelt, Lebensweltorientierung, Deutungsmus- Die Ökologiebewegung entstand in den 70er Jahren des ter, Selbstkonzept (Dewe/Frank/Hugo 1988, als Stich- vergangenen Jahrhunderts wörter jeweils in: Die Volkshochschule). Bei aller möglichen Unterscheidung im Detail han- delt es sich dabei um eine Wende, „und zwar von Die 80er Jahre: von der instrumentellen der makrosoziologischen Betrachtung und den Wende zur reflexiven Wende ‚großen‘ gesellschaftlichen Themen hin zum Alltag des einzelnen, zum überschaubaren Stadtteil, zur Die Erwachsenenbildung insgesamt erhielt eine subjektiv gedeuteten Lebenswelt“ (Siebert 1985, enorme Steigerung ihrer Bedeutsamkeit durch die S. 579). Der „subjektive Faktor“ (Die Volkshochschu- von der Bundesregierung, einzelnen Ländern, der le 1985: 60.027) wurde in der Erwachsenenbildung Wirtschaft, der Bundesanstalt für Arbeit und diver- – vor allem im Gesundheits-, Ökologie und dem po- sen Weiterbildungsverbänden propagierte „Quali- litisch-bildnerischen Bereich – wichtig genommen.

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Diese Entwicklung war sicherlich auch eine Reaktion In der politischen weitgehend abgelöst. Es und dialektische Gegenbewegung zur Funktionali- Erwachsenenbildung wurde die Vorstellung sierung und Instrumentalisierung, zur reinen Nut- wurden Antworten populär, dass die west- zen- und Gebrauchsorientierung, zur Reduktion auf auf die Frage gesucht, lichen Industriegesell- ökonomischen Zweck und technizistische Handha- welche Konsequenzen schaften nicht in zwei bung von Bildung im Zuge der „Qualifizierungsof- aus der Milieutheorie oder drei hierarchische fensive“. zu ziehen seien Gruppen gegliedert, son- Unterstützung erhielten solche Positionen durch dern in mehrere soziale Ulrich Becks Furore machendes Buch „Risikogesell- Milieus pluralisiert seien. Diese analytische Ein- schaft“ (Beck 1986). Vor allem der von ihm tief- schätzung verband sich mit dem Bild einer „Erleb- gründig beschriebene Prozess der Individualisierung nisgesellschaft“ (Schulze 1992), deren Alltagsleben mit seinen Ambivalenzen sowie Becks Feststellung ästhetisiert sei, deren Binnenkommunikation sich einer„Entgrenzung“ bzw. „Entörtlichung“ von Po- durch ästhetische Zeichen vollziehe, durch Distink- litik (Beck 1986, S. 311) wurden von der Erwachse- tion und Imitation, und in der das Leben zum Erleb- nenbildungsdiskussion aufgegriffen. nisprojekt geworden sei. Aus diesen soziologischen Befunden wurden Folgerungen vor allem für die politische Bildungsarbeit abgeleitet: „Politische Bil- Die 90er Jahre: Existenzbehauptung auf dem dung steht vor der Herausforderung, die Begeg- Weiterbildungsmarkt nung zwischen Menschen aus sehr unterschiedli- chen sozialen Milieus zu einer systematischen Ar- Das überragende politische und damit auch bil- beitsform entwickeln und durch ihre Veranstal- dungspolitische Ereignis zu Beginn der 90er Jahre tungs- und Angebotskultur ästhetische Vorausset- war die Selbstauflösung der DDR. In den Jahren zungen dafür schaffen zu müssen, daß diese Chance 1992 bis 1994 wurden in vier der neuen Bundeslän- auch tatsächlich genutzt wird“ (Flaig/Meyer/Ueltz- der – mit Ausnahme Sachsens – Erwachsenen- bzw. höffer 1993, S. 214). Empfohlen wurden „Marke- Weiterbildungsgesetze erlassen; sie sind analog zu tingkonzepte“, die eine entsprechend ästhetisch den Vorbildern im Westen. aufbereitete „Veranstaltungskultur“ mit „Gestal- In der westdeutschen Diskussion schoben sich die tung des Lernumfelds“ berücksichtigen sollten speziellen Auseinandersetzungen und Problemla- (Flaig/Meyer/Ueltzhöffer 1993, S. 182). gen einer spät- oder nachindustriellen Gesellschaft in den Vordergrund. So wurden in der politischen Von der allgemeinen Erwachsenenbildungstheorie Erwachsenenbildung Antworten auf die Frage ge- wurden substanzielle Kategorien wie Aufklärung sucht, welche Konsequenzen aus der Milieutheorie und Emanzipation in Frage gestellt. Eine „an den zu ziehen seien. Diese hatte die ehemals konkur- Ideen der Aufklärung orientierte Menschheitsver- rierenden soziologischen Gesellschaftsdeutungen besserungsposition“ (Kade 1993a, S. 392) wurde nach einem Klassen- und/oder Schichtenmodell angezweifelt, der „Aufklärungsanspruch“ wurde von Vertretern einer zuneh- mend den Ton angebenden konstruktivistischen Erwach- senenbildungstheorie als „überheblich“ und „ver- engt“ (Arnold/Siebert 1995, S. 6) diskreditiert. Es wurde behauptet, dass die eman- zipatorische Erwachsenen- bildung mit der „Erlebnis- © Rainer Sturm/pixelio.de kultur der achtziger Jahre“ „irreversibel“ niedergegan- gen sei (Kade 1993b, S. 235 u. 234); aber es wurde auch widersprochen (Hufer 1993 u. 1995, Pongratz 1994). Ab Mitte der 90er Jahre verbreitete sich eine zu- nehmende „Verbetriebs- Der schön gedeckte Tisch.Teil einer ästhetisch aufbereiteten Veranstaltungskultur? wirtschaftlichung“ der Bil-

212 SCHWERPUNKT

dungsarbeit: das Denken in Kosten-Nutzen-Kalku- „Politik/Gesellschaft“ schmilzt oder verschwindet lationen. Staatliche Mittel wurden eingefroren gar. oder gekürzt. Nicht wenige Einrichtungen der Er- Dagegen werden die Weiterbildungsangebote un- wachsenenbildung reagierten darauf mit dem Ab- ter einem funktionalen und oft technokratischen bau der politischen Bildung, speziell in dieser Ar- Aspekt gesehen, Bildung vermeintlichen Qualifi- beit stehende Bildungswerke und -häuser sahen zierungszielen unterworfen. sich in ihrem Bestand gefährdet. Flankierend und passend zur allgemeinen Markt- Die Suche nach Qualität euphorie ist in der Fachdiskussion seit einiger Zeit Die Suche nach und Qualitätssicherung statt von Bildungszielen von Kompetenzen die Re- Qualität und Quali- wurde zum Konjunktur- de. In der Erwachsenenbildung ist eine regelrechte tätssicherung wurde thema, teilweise war sie „Kompetenzkonjunktur“ (Gnahs 2007, S. 11, siehe zum Konjunktur- aus der Notwendigkeit auch Report 2002) aufgekommen. Man spricht so- thema heraus entstanden, den gar – wen wundert es? – von einer „kompetenz- „Kunden“ (wozu Teil- orientierten Wende in der Weiterbildungsdebatte“ nehmer/-innen umgewidmet wurden) ein qualita- (Arnold 2002, S. 28). tiv hochwertiges „Produkt Bildung“ zu bieten. Der Begriff „Kompetenz“ kommt aus dem lateini- Eine kritische Analyse der bildungspolitischen Ent- schen Wort „competere“, was übersetzt heißt: zu- wicklung und Situation hat Gerhard Strunk vorge- sammentreffen, ausreichen, zu etwas fähig sein, nommen. Sein Fazit: „Es hat ... den Anschein, dass zustehen. Das wäre nicht die schlechteste Arbeits- in der aktuellen Bildungspolitik ein Monismus von grundlage. Aber der Kompetenzbegriff ist vielfach Leistung, Leistungssteigerung und ein Kult des instrumentalisiert worden, er wird oft einseitig Leistungswillens gepflegt wird, dem alles andere technokratisch definiert. Mit ihm sind regelrechte untergeordnet wird.“ (Strunk 2002) Omnipotenzerwartungen verbunden: Die Bildungs- wege der Menschen sollen bemessen, taxiert, eva- luiert, letztendlich kontrolliert werden. Ein entspre- 2000 ff.: Erwachsenenbildung unter chendes Motiv für diesen Boom ist, dass „das Legitimationsdruck Kompetenzkonzept … konsequent eine output- orientierte Sichtweise verfolgt“ (Christiane Jäger, Die Jahre nach 2000 stehen politisch unter dem in: Gnahs 2007, Vorwort, S. 9). Der Output sollte op- Vorzeichen einer nahezu alle gesellschaftlichen Be- timiert und am besten quantifiziert werden. Auch reiche dominierenden neoliberalen Ideologie: Die die Europäische Kommission macht da starke Vor- Schlüsselbegriffe und bildungspolitischen Leitlinien gaben. Sie fordert einen Europäischen Qualifika- lauten nicht mehr Eman- tionsrahmen. Acht Niveaustufen, „die auf Lern- Erwachsenenbildung zipation, Selbstbestim- ergebnissen bzw. Kompetenzen basieren“ (Bundes- und politische Bildung mung, Mündigkeit oder ministerium 2009), sind das Kernstück. Diese sollen stehen unter einem Demokratisierung, son- nun auf ein nationales Bezugssystem, also auch auf massiven Druck, ihre dern Kompetenzen, Eva- einen Deutschen Qualifikationsrahmen, übertra- Arbeit und die Plausi- luation, Standards, Qua- gen werden. Die „Empfehlungen des Europäischen bilität derselben zu lität und Wirkungsfor- Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Euro- rechtfertigen schung. Erwachsenenbil- päischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges dung und mit ihr politi- Lernen“ zielen in erster Linie auf berufliche Quali- sche Bildung stehen unter einem massiven Druck, fikation ab, beziehen aber die allgemeine Bildung ihre Arbeit und die Plausibilität derselben zu recht- mit ein (Europäische Union 2007). Aufgeschreckte fertigen. oder eilfertige, vielleicht auch anpassungsbereite So hat sich die Arbeit in den Weiterbildungseinrich- politische Bildnerinnen und Bildner reagieren dar- tungen erheblich verändert. Immer mehr überneh- auf. Das Argument lautet in etwa so: „Wir müssen men pädagogische Mitarbeiter/-innen Management- unser Fach da einbringen, sonst ist es weg“ (siehe tätigkeiten, Beratungsfunktionen, Organisations- GEW-Herbstakademie 2009). und Qualitätsentwicklungsaufgaben und Akquisi- tion von Weiterbildungsaufträgen. Weiterbildung Aber auf welchem Niveau würde da beispielsweise ist dem „Trend ... hin zum Markt“ (Deutsches Insti- eine empathische Gegnerin von Fremdenfeindlich- tut 2008, S. 119) unterworfen. keit und Rassismus angesiedelt, die aus einem Ge- Und der Markt diktiert die Preise. Das müssen einmal fühl heraus Opfer schützen will, aber die neuesten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Bildungs- Studien und empirischen Ausmaße dieser Phäno- veranstaltungen spüren, auf die die Betriebskosten mene nicht kennt? Und auf welcher Niveaustufe umgelegt werden. Die Folge: Der Programmbereich landete der entschiedene Rechtsextremist, der alle

213 SCHWERPUNKT

digten Mantras vom „lebenslangen Lernen“. Aber wenn die Weiterqualifizierung auch noch so mil- lionenschwer gefüttert wird, es hat sich herumge- sprochen: Sie alleine schafft keine Arbeitsplätze. Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und poli- tischen Verwerfungen machen auch denjenigen Angst, die traditionell immer aufstiegs- und bil- Die Europäische Kommission macht bildungspolitische dungsorientiert waren: den Angehörigen der Mit- Vorgaben telschicht. Unter ihnen – und nicht nur da – macht Quelle: Nationale Agentur beim Bundesinstitut für sich derzeit Panik breit. Vielleicht kommen da ganz Berufsbildung (BIBB); www.eu-bildungspolitik.de neue Themen und Herausforderungen auf die poli- tische Bildung zu. Und da wäre es gut, wenn sich diese Untersuchungen akribisch rezipiert hat, um die Akteurinnen und Akteure der Tradition ihres sie mit strategischer Absicht gemeinsam mit seinen Faches besinnen würden. Gesinnungsfreunden für effektivere Aktionen zu nutzen? Es stellt sich doch die Frage, ob das, was da alles Literatur bewertet, niveauvoll eingeordnet und letztendlich gemessen wird, noch Bildung ist. Der gegenwärti- Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit, ge Leuchtturmbegriff „Kompetenz“ ist sinnentleert 6. Aufl., Frankfurt 1979 und beliebig. Dabei handelt es sich um ein an allen Ecken und Hecken, in allen Feldern und Nischen Arbeitsgruppe Frauenbildung und Politik (Hrsg.in): der Gesellschaft gebrauchtes Etikett, mit dem be- Von Frauen für Frauen. Ein Handbuch zur politi- hauptet wird, dass man ... kompetent ist oder sein schen Frauenbildungsarbeit, Zürich u. Dortmund muss. 1992 In Hessen hat das Landesamt für Verfassungsschutz ein „Kompetenzzentrum Rechtsextremismus (KO- Rolf Arnold/Horst Siebert: Konstruktivistische Er- REX)“ ins Leben gerufen. Das kann eigentlich nur wachsenenbildung. Von der Deutung zur Kons- noch mit Sarkasmus und mit dem Hinweis kom- truktion von Erwachsenenbildung, Baltmannswei- mentiert werden, dass man kann sehr kompetent ler 1995 rechtsextrem sein kann. Warum dieser Fetisch „Kompetenz“ eine derartige Rolf Arnold: Von der Bildung zur Kompetenz- Attraktivität hat, ist angesichts des eingetretenen entwicklung, in: Report. Literatur- und Forschungs- ans Absurde grenzenden Übereifers, alles taxieren report Weiterbildung, Juni 2002, H. 49: The- und quantifizieren zu wollen, leicht erklärbar: ma: Kompetenzentwicklung statt Bildungsziele?, „Kompetenzen sind eben messbar, Bildung nicht“ S. 26 – 38 (Münch 2009, S. 57) Allerdings hat Oskar Negt mit seinen sechs gesellschaftlichen Schlüsselkompeten- Dirk Axmacher: Erwachsenenbildung im Kapitalis- zen eine Alternative vorgelegt, die ein emanzipa- mus. Ein Beitrag zur politischen Ökonomie des Aus- torisches, aufklärendes und Bewusstsein bildendes bildungssektors in der BRD, Frankfurt/M. 1974 Gegenstück zur funktionalistischen Verengung des Kompetenzbegriffs ist. (Negt 1994 u. 2010) „… Sie Theodor Ballauf: Erwachsenenbildung – Sinn und können sich eignen, Wesenszusammenhänge der Grenzen, Heidelberg 1958 heutigen Welt zu erkennen und die bestehende Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt ihrer not- Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in ei- wendigen Umgestaltung der praktischen Kritik zu ne andere Moderne, Frankfurt/M. 1986 unterziehen.“ (Negt 1994, S. 283) Zudem regen sich neuerlich die Widersprüche, mit denen eine Hellmut Becker: Bildung und Politik, in: Volkshoch- wieder kritische und emanzipatorische politische schule im Westen, Heft 9-10/1959, S. 289 - 292 Erwachsenenbildung zurückgefordert wird. (Men- de/Müller 2009, Lösch/Thimmel 2010) Wolfgang Beer: Ökologische Aktion und ökologi- Was bleibt von alledem? Was hat Bestand, was ist sches Lernen. Erfahrungen und Modelle für die po- flüchtig? Wohin wird sich die politische Bildung litische Bildung, Opladen 1982 entwickeln? Weiterbildung soll den individuellen Aufstieg ermöglichen und den Job sichern, so lau- Fritz Borinski: Der Weg zum Mitbürger, Düsseldorf tet das Credo des heutzutage rundherum gepre- u. Köln 1954

214 SCHWERPUNKT

Bundesministerium für Bildung und Forschung: Berthold Bodo Flaig/Thomas Meyer/Jörg Ueltzhöf- Europäischer Qualifikationsrahmen (EQR)/Nationale fer: Alltagsästhetik und politische Kultur. Zur äs- Qualifikationsrahmen in anderen Ländern, Berlin thetischen Dimension politischer Bildung und poli- 2009 tischer Kommunikation, Bonn 1993

Paul Ciupke/Franz Jelich (Hrsg.): Ein neuer An- Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen, Rein- fang. Politische Jugend- und Erwachsenenbildung bek b. 1986 in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Es- sen 1999 Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft: GEW- Herbstakademie 2009: „Die Menschen stärken und Paul Ciupke/Norbert Reichling: „Unbewältigte die Dinge klären. Politische Bildung und Handlungs- Vergangenheit“ als Bildungsangebot. Das Thema kompetenz“, in: http://www.gew.de „Nationalsozialismus“ in der westdeutschen Er- wachsenenbildung 1946 bis 1989, Frankfurt/M. Dieter Gnahs: Kompetenzen – Erwerb, Erfassung, 1996 Instrumente, Bielefeld 2007

Alexander von Cube u. a.: Kompensation oder Große Panik in der Mittelschicht, in: www.sued- Emanzipation?, Braunschweig 1974 deutsche.de, vom 15.6.2010

Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: The- Sabine Hering/Hans-Georg Lützenkirchen: Weg- sen zur Weiterbildung vorgelegt, Pressemitteilung, weiser: Die politische Erwachsenenbildung nach dem Bonn 1985 Kriege. Gespräche, Bonn 1992

Deutscher Ausschuß für das Erziehungs- und Bil- Klaus-Peter Hufer: Möglichkeiten und Bedingungs- dungswesen: Gutachten „Zur Situation und Aufga- faktoren politischer Erwachsenenbildung am Bei- be der deutschen Erwachsenenbildung“, in: Volks- spiel kommunaler Volkshochschulen in Nordrhein- hochschule im Westen, Heft 1/1960, Beilage 1 Westfalen, Frankfurt/M., Bern u. New York 1985

Deutscher Bildungsrat: Empfehlungen der Bildungs- Klaus-Peter Hufer: Politische Erwachsenenbildung. kommission: Strukturplan für das Bildungswesen, Strukturen, Probleme, didaktische Ansätze. Eine Ein- Stuttgart 1973 (erstmals 1970) führung, Schwalbach/Ts. 1992

Deutsches Institut für Erwachsenenbildung: Trends Klaus-Peter Hufer: Emanzipatorischer Ansatz in der der Weiterbildung. DIE-Trendanalyse 2008, Biele- Erwachsenenbildung, in: Grundlagen der Weiter- feld 2008 bildung, Heft 6/1993, S. 314 – 316

Bernd Dewe/Günter Frank/Wolfgang Huge: Theo- Klaus-Peter Hufer: Emanzipatorische politische Bil- rien der Erwachsenenbildung. Ein Handbuch, Mün- dung in der individualisierten Gesellschaft – Schwie- chen 1988 rigkeiten und Notwendigkeit, in: Michael Jagenlauf/ Manuel Schulz/Günther Wolgast (Hrsg.): Weiterbil- Die Volkshochschule. Handbuch für die Praxis dung als quartärer Bereich. Bestand und Perspekti- der Leiter und Mitarbeiter, hrsg. von: Deutscher ven nach 25 Jahren, Neuwied, Kriftel u. Berlin 1995, Volkshochschul-Verband/Pädagogische Arbeitsstel- S. 265 – 277 le, Frankfurt/M. 1968 Klaus-Peter Hufer/Ilse Unger: Zwischen Abhängig- Ergebnisse der Arbeitskreise, in: Volkshochschule keit und Selbstbestimmung. Institutionalisierte und im Westen, Heft 8/1951, S. 95 selbstorganisierte politische Erwachsenenbildung seit den siebziger Jahren, Opladen 1989 Europäische Union: Empfehlungen des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Euro- Jochen Kade: Aneignungsverhältnisse diesseits und päischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges jenseits der Erwachsenenbildung, in: Zeitschrift für Lernen, Brüssel 2009 Pädagogik, Heft 3/1993a, S. 391 – 408

Hildegard Feidel-Mertz: Erwachsenenbildung seit Jochen Kade: Was ist aus der Theorie emanzipato- 1945. Ausgangsbedingungen und Entwicklungs- rischer Erwachsenenbildung geworden?, in: Grund- tendenzen in der Bundesrepublik, Köln 1975 lagen der Weiterbildung, Heft 4/1993b, S. 233 – 236

215 SCHWERPUNKT

Gerd Kadelbach/Edgar Weick: Politische Erwachse- Ludwig Pongratz: Zeitgeistsurfer – Oder: Die Le- nenbildung und politische Interessen, in: Hessische gende vom Ende emanzipatorischer Erwachse- Blätter für Volksbildung, Heft 1/1973, S. 16 – 28 nenbildung, in: Grundlagen der Weiterbildung, Heft 3/1994, S. 122 - 124 Edwin Klein/Edgar Weick: Anmerkungen zur Dis- kussion einer Theorie der Erwachsenenbildung, Report. Literatur- und Forschungsreport Weiterbil- in: Hessische Blätter für Volksbildung, Heft 4/1970, dung, Juni 2002, H. 49, Thema: Kompetenzentwick- S. 342 – 351 lung statt Bildungsziele?

Alfred Knierim/Johannes Schneider: Anfänge und David Riesman: Die einsame Masse. Eine Untersu- Entwicklungstendenzen des Volkshochschulwesens chung der Wandlungen des amerikanischen Cha- nach dem 2. Weltkrieg (1945 – 1951), Stuttgart rakters, Reinbek b. Hamburg 1958 1978 Winfried Schlaffke: Auswirkungen neuer Technolo- Bettina Lösch/Andreas Thimmel (Hrsg.): Kritische gien auf die Qualifizierungsanforderungen und politische Bildung. Ein Handbuch, Schwalbach/Ts. die Arbeitsorganisation, in: zweiwochendienst, 2010 Heft 21/1988, S. 10 – 12

Otto Koch: Gegenwartsaufgaben der Volkshoch- Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultur- schulen, in: Volkshochschule im Westen, Heft 1/1950, soziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. u New York Sonderbeilage 1992

Dennis Meadows u. a.: Die Grenzen des Wachs- Andreas Seiverth: Traumatisierung und Notstands- tums. Bericht des Club of Rome zur Lage der semantik. Bildungspolitische Kontinuitäten vom Menschheit, Stuttgart 1972 Sputnik- zum PISA-Schock, in: DIE. Zeitschrift für Erwachsenenbildung 4/2007, S. 32 – 35 Janne Mende/Stefan Müller (Hrsg.): Emanzipation in der politischen Bildung. Theorien – Konzepte – Horst Siebert: Erwachsenenbildung – Aspekte einer Möglichkeiten, Schwalbach/Ts. 2009 Theorie, Düsseldorf 1972

Richard Münch: Globale Eliten, lokale Autoritäten. Horst Siebert: Pluralistisch und ideologiefrei. Volks- Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von hochschulen als Partner der Erwachsenenbildung, in: PISA, McKinsey & Co., Frankfurt/M. 2009 Lutherische Monatshefte, Heft 10/1977, S. 574 – 577

Oskar Negt: Soziologische Phantasie und exempla- Horst Siebert: Paradigmen in der Erwachsenenbil- risches Lernen: Zur Theorie und Praxis der Arbeiter- dung, in: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 5/1985, bildung, Frankfurt/M. u. Köln 1975, 5. Auflage der S. 577 – 596 (1971) überarbeiteten Neuauflage Benjamin Steiner: Die Existentialisten. Generatio- Oskar Negt: Wir brauchen eine zweite, gesamt- nengeschichte einer Jugendbewegung im Paris der deutsche Bildungsreform, in: Oskar Negt (Hrsg.): Nachkriegszeit, München 2004 (LMU-Publikatio- Die zweite Gesellschaftsreform. 27 Plädoyers, Göt- nen/Geschichts- und Kunstwissenschaft Nr. 11, tingen 1994, S. 276 – 290 http://epub.ub.uni-muenchen.de)

Oskar Negt: Der politische Mensch, Göttingen 2010 Gerhard Strunk: Zwischen Eigensinn und Fremdbe- stimmung. Anmerkung zur aktuellen Bildungspoli- Georg Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe, tik, in: Bardo Heger/Klaus-Peter Hufer (Hrsg.): Auto- Freiburg 1964 nomie und Kritikfähigkeit. Leitbilder für Erziehung und Bildung in schwierigen Zeiten, Schwalbach/Ts. Georg Picht: Erwachsenenbildung – die große Bil- 2002 dungsaufgabe der Zukunft, in: Georg Picht/Fried- rich Edding u. a.: Leitlinien der Erwachsenenbildung. Willy Strzelewicz/Hans-Dietrich Raapke/Wolfgang Aufsätze zu Entwicklungstendenzen der Weiterbil- Schulenberg: Bildung und gesellschaftliches Be- dung, Braunschweig 1972, S. 17 – 39 (erstmals ver- wußtsein, Stuttgart 1973, gekürzte Taschenbuch- öffentlicht 1968) Ausgabe des 1966 erschienenen Originals, das als

216 SCHWERPUNKT

Band 10 der „Göttinger Abhandlungen zur Sozio- Johannes Weinberg: Lernen und politische Bildung logie“ erschienen ist). im außerschulischen Bildungsbereich. Eine Situa- tionsbeschreibung, in: Bundeszentrale für politische Willy Strzelewicz: Technokratische und emanzipa- Bildung (Hrsg.): Schule und Erwachsenenbildung torische Erwachsenenbildung, in: Georg Picht/Frie- (Bd. 244 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für drich Edding u. a.: Leitlinien der Erwachsenenbil- politische Bildung), Bonn 1987, S. 72 – 95 dung, Braunschweig 1972, S. 134 – 149

Hans Tietgens: Psychologische Voraussetzungen politischer Bildung, in: Volkshochschule im Westen, Dr. Klaus-Peter Hufer ist Fachbereichsleiter Heft 9-10/1958, S. 220 – 224 an der Kreisvolkshochschule Viersen und Privatdozent an der Universität Duisburg- Fritz Vilmar: Strategien der Demokratisierung, 2 Bde., Essen. Er ist erreichbar unter der Anschrift der Darmstadt und Neuwied 1973 Kreisvolkshochschule, Willy-Brandt-Ring 40, 41747 Viersen. Von Angst und Abstieg, in: Frankfurter Rundschau v. 16.6.2010, S. 2 f. E-Mail: [email protected]

217 SCHWERPUNKT

„Vom Wissen der Bildung“ Joachim Klose

Das Verständnis von politischer Bildung ist nicht Notwendigkeit einer partizipativen Mitwirkung in von Vorstellungen zur Bildung allgemein zu tren- der Gesellschaft auf der einen Seite und einer tole- nen, wie Joachim Klose in seinem Beitrag erläutert. ranten, altruistischen, gerechten und wahrhaft Er verteidigt seinen Bildungsanspruch, den er mit bürgerlichen Haltung und dem aktiven Mittun auf Bezug auf Aussagen der Geistesgeschichte zur Bil- der anderen Seite. In der Erwachsenenbildung geht dung fundiert, gegen eine allzu zweckrationale es der Politischen Bildung nicht nur um Wissensver- Funktionalisierung von Bildung. Ihm geht es um in mittlung. Diesbezüglich kann sie nicht mit den Mög- der „Wissensgesellschaft“ längst vernachlässigte Ka- lichkeiten der modernen Wissensgesellschaft kon- tegorien, um Bildung, die auf Verständnis und Hal- kurrieren. Ihr geht es vielmehr um das Verstehen tung zielt, um Sinn, Reflexion und auch um Trans- der Inhalte, die sie zur Reflexion bringt, und um zendenz. Und nicht zuletzt um die Zeit, die ein die Veränderung derjenigen, die sich mit ihnen aus- Mensch braucht, um die Welt zu verstehen und ge- einandersetzen. „Verstehen“ ist kein aktiver Pro- bildet zu sein. zess, der graduell wächst. „Verstehen“ ist immer schon ein Verstandenhaben. Es gibt nicht den Mo- ment, in welchem behauptet werden kann, „ich Wer ist politisch gebildet? verstehe gerade“. Diese Aussage signalisiert eher, dass man gerade nichts versteht. „Verstehen“ ist Was ist Politische Bildung und wer ist politisch ge- ein Umschlagpunkt vom Unklaren zum Klaren, bildet? Es heißt, dass es Ziel der Politischen Bildung vom Unverstandenen zum Verstandenen. Im Mo- ist, Toleranz und Kritikfähigkeit zu stärken, demo- ment des Verstandenhabens verändert sich derje- kratische Spielregeln zu verankern und einen Bei- nige, der versteht. Er ist dann nicht mehr der, der trag zur Herausbildung und Weiterentwicklung er vor dem Verstehen war. Das Verstandene ist Teil einer aktiven Bürgerschaft zu leisten. Aus Politik- seiner Wirklichkeit geworden, der er nicht mehr wissenschaft, Geschichtswissenschaft und Pädago- ausweichen kann und gik kommend soll die Politische Bildung Wissen Politische Bildung ist will. über die moderne Bürgergesellschaft vermitteln. eine prozesshafte Aus- Es besteht aber ein Unterschied zwischen dem Wis- einandersetzung, die Wie wird aber aus dem sen um die Regeln der darauf abzielt, Men- Wissen um Demokratie In der Erwachsenenbil- Gesellschaft und des Fair schen zu befähigen, und Gesellschaft ein Ver- dung geht es der Politi- Play, um die Kenntnis sich eine eigene Mei- stehen, das zur Hand- schen Bildung nicht nur der Menschenrechte und nung zu bilden, um lung führt? Die Antwort um Wissensvermittlung ihrer Genese und um die Position zu beziehen auf diese Frage ist unab- hängig von der Menge des konsumierten Wissens und ein Kernpunkt der Bil- dungsangebote der Er- wachsenenbildung. Sie hat eher mit Begriffen wie Em- pathie, Freundschaft und Vorbildern zu tun. Politi- sche Bildung ist eine pro- zesshafte Auseinanderset- zung, die darauf abzielt, Menschen zu befähigen, sich eine eigene Meinung zu bilden, um Position zu beziehen. In dem Prozess werden die persönliche und die gesellschaftliche Situation in den Blick ge- nommen, indem die politi- © Deutscher /Lichtblick/Achim Melde schen, wirtschaftlichen, Konstituierung des Unterausschusses des Deutschen Bundestages „Bürgerschaftliches kulturellen und sozialen Engagement“ am 15.03.2006. Hier die Bundestagsabgeordneten , Aspekte der Lebenssitua- Dr. Hermann Kues (Parlamentarischer Staatssekretär im BMFSFJ) und Dr. Michael tion näher beleuchtet wer- Bürsch (von links nach rechts). den. Hier wird der enge

218 SCHWERPUNKT

Zusammenhang, der zwischen Politik und dem ei- len Abschluss. Die Erfahrung, dass Lebenszeit und genen Leben besteht, sichtbar. Gerade dieser Zu- Weltzeit1 auf dramatische Weise ungleich groß sammenhang scheint in den Ausbildungseinrich- sind, generiert unser Gefühl, möglichst zeitökono- tungen unserer Gesellschaft immer stärker in den misch zu leben und viel in der uns bemessenen Zeit Hintergrund zu treten, weil funktionale Erforder- erleben zu müssen. Das Tempo neuer Erfindungen nisse den Bildungsprozess überlagern. Es geht nicht wird immer rasanter und die Zeitnutzung immer darum, dass die jungen Menschen in die Lage ver- intensiver. Mit der Erfindung des Computers schließ- setzt werden, ihre Interessen zu artikulieren, son- lich scheinen Zeit und Raum gestorben zu sein. dern um die Einübung von Grundhaltungen, die Sämtliches Wissen ist an jedem Punkt der Erde ver- die Herausbildung eines Selbstverständnisses zur fügbar. Zum Ungleichgewicht von Weltzeit und Le- Folge haben, das einen befähigt, die Gesellschaft benszeit tritt die unüberwindbare Differenz von kreativ zu gestalten. Weltwissen und Lebenswissen. Schon lange haben wir von dem Gefühl Abschied genommen, dass al- Werden wir auch zukünftig in der geistigen Aus- les, was es zu wissen gibt, auch gewusst werden einandersetzung mit gesellschaftlichen Prozessen kann. und Wirklichkeitsvorstellungen auf Dauer bestehen und genügend politisch interessierte Menschen mo- Unterwirft man Bildung marktwirtschaftlichen Prin- tivieren, sich für demokratische Ideen zu engagie- zipien, wird das „Lebenslange Lernen“ zur Be- ren und Verantwortung für Staat und Gesellschaft schleunigungsfalle, in der wir rastlos unserer immer zu übernehmen? schneller verfallenden Brauchbarkeit hinterher ren- nen. Die Vorstellung, dass es uns mit Bildung einmal besser gehen könne, löst sich im Bildungsdauerlauf Prozess der Entzauberung der Welt auf. Das Lebenslange Lernen wird so zum lebens- länglichen Lernen, das Menschenleben zum endlo- Von Benjamin Franklin stammt der Ausspruch: „Eine sen Schülerdasein. Der Mensch wird immer mehr Investition in Wissen bringt noch immer die besten zum „Pfadfinder“ auf dem Weg zu sich selbst und Zinsen.“ Im Fokus der gegenwärtigen Bildungspo- zu dem, worin er seine Lebenserfüllung sieht. Weil litik steht besonders die ökonomische Verwertung wir aber wissen, dass wir mehr sind als wir gelernt von Wissen. Die Umstrukturierung unseres Bildungs- haben und jemals lernen können, brauchen wir wesens „zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Maßstäbe zur Beurteilung des Wissens. Was ist es Europas als Bildungsstandort weltweit“ steht im also, was wir wissen sollten? Spannungsfeld von Qualität und Effizienz. So ist Traditionell suchte sich die Bildungspolitik ihren z. B. der politische Begründungszusammenhang des Ausgangspunkt in den Fragen der Lernenden: Was Bologna-Prozesses stark von ökonomischen Über- macht das gute Leben aus? Wie kann Menschsein legungen geprägt, während eigenständige kultu- gelingen? Hat die Wirklichkeit ein Ziel? Was ist der relle oder soziale Zielsetzungen des europäischen Sinn des Lebens? Ökonomische und gesellschafts- Hochschulraums vernachlässigt werden. Dies wird politische Fragen bildeten in diesem Komplex nur auch an der Wortwahl deutlich, die Einzug in die einen Teilaspekt. veröffentlichten Dokumente gehalten hat, wie z. B. Es wird gesagt, Bildung sei nützlich, aber nützlich der Begriff „employability“ (Beschäftigungsfähig- wofür? – Bildung ist nützlich, weil Verstehen nütz- keit). Ursprünglich wurde dieser Begriff von der eu- lich ist. Nachdenkend fügen wir unsere Erfahrun- ropäischen Unternehmerlobby geprägt und betraf gen und Kenntnisse zusammen. Nachdenkend be- die Ausrichtung der Bildungspolitik an ökonomi- lehren wir uns selbst über uns selbst. Als Belehrte schen Anforderungen. Der Übersprung des Markt- sind wir dann nicht mehr dieselben wie als Unbe- prinzips auf den Bereich des Wissens ist ein sehr lehrte. neues Phänomen. Jedes Nachdenken zielt auf Einheit in einem drei- Immer mehr junge Leute fragen sich, was sie davon fachen Sinn: haben, wenn sie Latein, Griechisch, Philosophie 1. Es versucht unsere eigenen, zunächst oft wider- oder Kunst lernen. Ziel- sprüchlichen Gefühle, Erfahrungen und Urteile Schon lange haben wir strebig orientieren sie miteinander in einen widerspruchsfreien Zusam- von dem Gefühl Ab- die eigenen Lerninhalte menhang zu bringen und sie wechselseitig für schied genommen, an den Bedürfnissen das Verstehen fruchtbar zu machen. dass alles, was es zu des zukünftigen Arbeits- wissen gibt, auch ge- marktes und konzentrie- wusst werden kann ren sich auf einen schnel- 1 Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt 1986

219 SCHWERPUNKT

2. Es versucht die Gefühle, Erfahrungen und Urtei- Quelle: Wikipedia le verschiedener Menschen, verschiedener Epo- chen und Kulturen in einen neuen Zusammen- hang zu bringen, zu vergleichen, aufeinander zu beziehen und aneinander zu messen. 3. Es versucht die Phänomene als aus einem ge- meinsamen Grund hervorgehend zu begreifen und diesen Grund zu benennen.

Als der Soziologe Max Weber 1919 gebeten wurde, etwas über „Wissenschaft als Beruf“ zu sagen, defi- nierte er in prophetischer Weise einen gesellschaft- lichen Zustand, der heute ins allgemeine Bewusst- sein gerückt ist. Er formulierte die Metapher von der „entzauberten Welt“: Die zunehmende Intel- lektualisierung und Rationalisierung bedeuten also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht, son- dern sie bedeuten etwas anderes: das Wissen da- von oder den Glauben daran, dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es al- so prinzipiell keine geheimnisvollen unberechen- baren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Ent- zauberung der Welt.2

Weber weist auf einen grundlegenden Widerspruch hin. Tatsächlich leben wir in einer entzauberten Welt: Wir schicken zwar Sonden zum Mars, operie- ren im Internet, spalten Atome, klonen Tiere und Scan des 1919 erschienenen Buches von Max Weber verpflanzen Herzen. Der moderne Mensch be- herrscht seine Welt und bedient sich dabei hoch- tionen so durchdrungen ist, dass diese gegenüber technologischer Medien. Diese entziehen sich aber anderen Faktoren vorrangig werden. jedem intuitiven Verständnis. Sie simulieren ihre Phänomenologisch wahrnehmbar ist ein nichtline- Verstehbarkeit über designte Benutzeroberflächen. arer, exponentieller Anstieg des Wissens über die Zusammenhänge in der Welt. Begründet wird dies Wer versteht schon die Mathematik hinter einem gegenwärtig mit den neuen Möglichkeiten der Versicherungsvertrag, die körperliche Problematik Informations- und Kommunikationstechnologien. hinter einem Röntgenbild oder den Quellcode ei- Dem Wachstum des Wissens scheinen praktisch kei- nes Computerprogramms? ne Grenzen gesetzt zu sein. Paradox ist, dass das Für Max Weber war klar, dass jeder Ureinwohner Wissen auch schneller entwertet wird: Das im Ex- Südamerikas die Werkzeuge seiner Weltverfügung pertentum verkörperte Wissen hat heute im Mittel besser versteht als der nur eine Halbwertzeit von wenigen Jahren.3 Wis- Die entzauberte Welt moderne Mensch, der sen muss Unsicherheiten nicht unbedingt minimie- lässt sich soziologisch sich in eine Straßenbahn ren, sondern kann sie auch potenzieren. als „Wissensgesell- setzt und eigentlich nicht Betrachtet man die Anfänge der Wissenschaftsent- schaft“ bezeichnen versteht, wie sie sich in wicklung in der Neuzeit von Descartes‘ Entdeckung Bewegung setzt. Die ent- des methodischen Denkens (res cogitans, res exten- zauberte Welt lässt sich soziologisch als „Wissens- sa) über Galileo Galileis und Kopernikus‘ Lehre vom gesellschaft“ bezeichnen. Damit ist gemeint, dass Experiment hin zu Francis Bacons Ausspruch „Wis- die materiale Welt von wissensabhängigen Opera- sen ist Macht“, so ist eine Bewegung zu registrie- ren, die von der kontemplativen Wahrheitsschau zur praktischen Weltgestaltungslehre führt, weg 2 Max Weber: Schriften zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Mi- chael Sukale, Stuttgart 1991, S. 237-273, 250 f. 3 FAZ 2002, S. 20.

220 SCHWERPUNKT

4 von der traditio hin zur innovatio. Dies hat Konse- Foto: AIMare, Quelle: Wikipedia quenzen. Zum einen führt diese Bewegung zur Entfremdung. In diesem Zusammenhang werden allgemein die drei Kränkungen der Menschheit zi- tiert, die sie aus dem Das sich selbst überho- Zentrum des Kosmos ka- lende Zeitverständnis tapultierten: Koperni- wird zum Kennzeichen kus‘ Kosmologie, Dar- der Moderne wins Deszendenztheorie und Freuds Psychoanaly- se. Die Reihe ließe sich fortsetzen mit Einsteins Re- lativitätstheorie als auch der gegenwärtigen Hirn- forschung. Zum anderen führt sie zur Umkehrung des mittelalterlichen Zeitverständnisses. Das sich Sinnsuche in der Esoterik? Grabmal von Rudolf Steiner, selbst überholende Zeitverständnis wird gerade Begründer der Anthroposophie, in Dornach/Schweiz zum Kennzeichen der Moderne. Modern ist, was den Samen der Selbstübersteigung ne vollständig berechenbare Welt überhaupt die und Selbstüberwindung in sich trägt. „Modernität“, Berechnung lohne und ob ein Leben in dieser auf- das bedeutet das Einbrechen der Zukunft in die geklärten Welt einen Sinn hat, ist nicht beweisbar.7 Gegenwart. Das war auch schon in der Antike so. Die kognitive Sicherheit, Dinge und Abläufe in der Verunsicherungen und Zukunftsängste waren Aus- gesellschaftlichen Mechanik wirklich zu verstehen, löser für das Rezitieren mythologischer Erzählun- ist längst dem Vertrauen gewichen, dass schon al- gen. Man schaute zurück, um sich des Anfangs der les gut gehen wird. „Inmitten einer bis zur Sinnlo- Welt zu vergewissern.5 sigkeit aufgeklärten Welt verspricht das Kultische zugleich Ordnung und Faszination“, stellt der Trend- forscher Norbert Bolz fest.8 Ausgleich bietet heute Wissen bedarf sinnhafter Deutung Esoterik ebenso wie Pornographie oder Eventmar- keting. Das Einbrechen der Zukunft in die Gegenwart löst heute einen Handlungszwang aus. Erst das Kom- mende legitimiert das Aktuelle. Modernität wird Wir brauchen eine andere Bildung zur Kategorie der Zeitbe- Normativ ist heute nicht wegung, der Veränder- Theorien und Modelle zu gebrauchen bedeutet, sie mehr das überzeitlich lichkeit, der beschleunig- mit Sinneswahrnehmungen, Gefühlen, Hoffnungen, Gültige, sondern die ten Selbstüberwindung. Wünschen und dem Gedankenstrom, der unsere prinzipielle Veränder- Normativ ist heute nicht Leben ausmacht, in Bezug zu setzen. Die Wahrneh- lichkeit an sich mehr das überzeitlich mung der Wirklichkeit erfolgt durch Bildung mit- Gültige, sondern die prin- hilfe von Wissen, Lernen ist der Weg dahin. Be- zipielle Veränderlichkeit an sich. Dieses neue Zeit- dient man sich nur der Begriffe von Wissen und gefühl erreicht die Moderne über ihr Basismodul Lernen, fehlt das entscheidende qualitative Krite- Wissen. Wissen verarbeitet vorhergehendes Wissen rium. Wissen bedarf der sinnhaften Deutung, wenn zu neuem Wissen. Die Bewegung der ständigen es ausgewählt werden soll. Diese Kriterien liefert Selbstübersteigung ist grundlegend. Eine besonde- aber nicht das Wissen, sondern die Bildungsper- re Herausforderung bildet dabei die Kehrseite der spektive. Paradox ist, dass man nicht nur zu wenige Wissensgesellschaft. So lässt sich auch eine neue Antworten weiß, sondern auch zu wenige Fragen. Form der Suche nach bewusster Ignoranz konsta- Kennt man die Fragen nicht, kann man die Ant- tieren. Die entzauberte Welt ruft kulturell nach ihrer worten nicht suchen. Die Wissensgesellschaft be- Wiederverzauberung. Die sich formierende Wis- nötigt dringend Wissenskanäle, die in möglichst ge- sensgesellschaft habe ein „Sinnproblem“ mit sich schickter Weise Gebiete von Wissensgenerierung selber.6 Ob das Wissen selber wissenswert sei, ob ei- und -nutzung miteinander verbinden.

4 Heinrich Rombach: Substanz, System, Struktur: Die Haupt- epochen der europäischen Geistesgeschichte, Stuttgart 2010. 7 Max Weber, S. 257. 5 René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt 2002. 8 Norbert Bolz/David Bosshart: Kult-Marketing. Die neuen Göt- 6 Max Weber, S. 249. ter des Marktes, Düsseldorf 1995, S. 11 f.

221 SCHWERPUNKT

Je komplexer das Wissen inhaltlich ist und je kom- oder einer Mikrowelle? Die Beschäftigung mit der plexer es organisiert ist, desto weniger kann es be- Welt lässt uns vergessen, wozu die Welt ist. Physik, stimmten Personen zugeordnet werden. Wissen Chemie und Biologie beantworten keine Wozu-Fra- wird zunehmend von organisierten Personengrup- gen, sondern nur Wie-Fragen. Sie erklären, wie sich pen und Wissensbeständen bezogen. So zirkulie- etwas entwickelt hat bzw. wie etwas aus etwas ren Wissensflüsse innerhalb verschiedener Wissens- anderem entstanden ist, aber nicht warum. Eine systeme, aber nach Luhmanns Systemtheorie gibt Folge von Wie-Fragen führt zu einem unendlichen es keine Kommunikation zwischen den Systemen. Regress. Wozu-Antworten unterbrechen diesen Re- Es finden zwar Austauschprozesse statt wie z. B. gress. Wozu-Fragen sind Sinnfragen.10 Warum las- zwischen dem Rechtssystem und dem Wirtschafts- sen wir die Antworten der Wie-Fragen als Wozu- system; diese Prozesse Fragen gelten? Warum geben wir uns bei der Lernen und Wissen stellen aber keine Kom- Frage nach dem Grund der Welt mit naturwissen- müssen sich am munikation im eigent- schaftlichen Antworten zufrieden? Selbst- und Welt- lichen Sinn dar, weil die Wozu-Fragen tun sich in der Erfahrung und dem verständnis des Systeme keinen gemein- Erleben kund und nicht im Beobachten. Wenn sich Menschen ausrichten samen Sinn herstellen. vieles rasch ändert, wird umso wertvoller, was uns Wie kann über System- Halt und Orientierung gibt. Man sollte allem, was grenzen hinaus „kommuniziert“ werden? Wie dem Leben dient und das Leben wertvoll macht, kann Sinn hergestellt werden? besondere Aufmerksamkeit schenken. Das äußer- Lernen und Wissen müssen sich am Selbst- und ste Wesen von Bildung hat den Menschen als Gan- Weltverständnis des Menschen ausrichten. Die Bil- zen im Blick. Es ist eine Illusion zu glauben, das Mi- dungsaufgabe schließt so die weltanschaulich-reli- nimum an Wertvorstellungen, das sich in unserer giöse Dimension des menschlichen Lebens unmittel- Verfassung niederschlägt, könne als Grundlage der bar mit ein. Ohne kulturelle Durchdringung, ohne Erziehung dienen, die glaubende Verantwortung ist die moderne Indu- Das äußerste Wesen die Menschwerdung des strie- und Dienstleistungsgesellschaft gefährdet. von Bildung hat den Menschen zum Ziel hat. Uns geht das Ziel unseres Handelns verloren. So be- Menschen als Ganzen Umgekehrt: der Minimal- kennt Albert Einstein: im Blick konsens, der in unserer Verfassung zum Aus- „Aus der noch so klaren und vollkommenen Erkenntnis des druck kommt und der unsere Gesellschaft zusam- Seienden kann kein Ziel unseres menschlichen Strebens ab- menhält, lebt aus Quellen, die tiefer liegen und geleitet werden. Die objektive Erkenntnis liefert uns mäch- reichlicher sprudeln! Wenn unser Grundwasser sich tige Werkzeuge zur Erreichung bestimmter Ziele. Aber das nur noch durch das Wasser, das aus der öffent- allerletzte Ziel und das Verlangen nach seiner Verwirkli- lichen Wasserleitung kommt, regenerieren müsste, chung muss aus anderen Regionen stammen.“9 würde aus den Leitungen bald nichts mehr fließen. Wir können die heranwachsenden Menschen nur Naturwissenschaftliche Bilder beruhen z. B. auf be- an dem teilnehmen lassen, was uns selbst erfüllt stimmten Voraussetzungen. Sie betrachten z. B. im- und uns wirklich ist.11 mer nur solche Prozesse, deren Ursache der Wirkung Was heißt Bildung in der Wissensgesellschaft? Pro- vorausgeht, die wiederholbar und einfach zu be- blematisch erscheint die teleologische Verwendung schreiben sind. Viele Erfahrungen und Ereignisse des Bildungsbegriffes: Bildung und Bildsamkeit fallen nicht in den Bereich der naturwissenschaft- orientieren sich hauptsächlich am ökonomischen lichen Erkenntnis. Ob Erleben von Schönheit, Trau- Nutzen. So wird Bildung auf den Erwerb von öko- er und Freude oder ein Handlungsziel – sie lassen nomisch verwertbarem Wissen reduziert. sich durch Physik, Chemie oder Biologie nicht be- schreiben. Die eigentli- 1959 verfasste Theodor W. Adorno den Aufsatz zur Die Beschäftigung mit che Frage lautet des- „Theorie der Halbbildung“.12 In dem kultursoziolo- der Welt lässt uns ver- halb, warum wir uns gisch ausgerichteten Artikel, der großen Einfluss gessen, wozu die Welt durch das Wissen der ist Naturwissenschaften so 10 Robert Spaemann/Reinhard Löw: Die Frage Wozu? Geschich- beeindrucken lassen. te und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens. München Dies beruht zum großen Teil auf den Realisierungs- 1987 möglichkeiten der heutigen Technik. Wer ist nicht 11 Robert Spaemann: Grenzen: Zur ethischen Dimension des beeindruckt von schönen Autos, der Raumfahrt Handelns, Stuttgart 2002 12 Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung. (1959) In Sozio- 9 Albert Einstein: Aus meinen späten Jahren. Stuttgart 1952 logische Schriften I. Ges. Werke Bd. 8, Darmstadt 1998, S. 93-121

222 SCHWERPUNKT

auf die Pädagogik hatte, konstatiert Adorno eine Unterscheidung, was wissenswert und was über- Bildungskrise. Das Problem liegt in der Kategorie flüssig ist. „Bildung und Differenzierbarkeit sind der Bildung selbst. „Der Sinn von Bildung kann nicht eigentlich dasselbe.“16 Vor allem benötigt Bildung getrennt werden von der Einrichtung der mensch- Zeit. „Bildung braucht den Schutz vor Andrängen lichen Dinge.“ Bildung, die davon absieht, formu- der Außenwelt, eine gewisse Schonung des Einzel- liert Adorno, wird zur Ideologie. Bildung und Ge- subjekts, vielleicht sogar die Lückenhaftigkeit der sellschaft, d. h. die Einordnung der menschlichen Vergesellschaftung.“17 Bildung widersteht dem Ef- Dinge, sind aufeinander bezogen. Bildung ist sub- fizienzdenken und dem Glauben, im schnelleren jektive Zueignung von Kultur. Deshalb müssen die Lernen liege der Schlüs- Doppelcharaktere von Bildung und Kultur mitbe- Bildung verflüchtigt sel zur Bildung. Wenn dacht werden. Bildung hat Freiheit zur Vorausset- sich aber durch Be- Bildung in einem größe- zung und zum Ziel, gerinnt aber auch zu kulturel- schleunigung und wird ren Zeithorizont als dem lem Kapital. Aus dem Alltagsleben gerissen und zur Halbbildung der ökonomischen Nutz- vervielfältigt, nimmt das Kulturgut Warencharak- barmachung steht, be- ter an. „Daher gibt es in dem Augenblick, in dem darf die Wissensgesellschaft einer Entschleunigung. es Bildung gibt, sie eigentlich schon nicht mehr. In Der Fehler der Bildungspolitik liegt darin, dass die ihrem Ursprung ist ihr Zerfall bereits teleologisch Bildung effizienter werden, zeitökonomisch und gesetzt.“13 Die Lösung des Dilemmas liegt in der doch lebenslang praktiziert werden soll. Aber kos- Rehabilitierung des Bildungsbegriffes: tengünstig muss sie sein und deshalb eben doch schneller, da die „Logik des Kapitaleinsatzes durch „So ist der Anachronismus der Zeit: an Bildung festhalten, rational kalkulierte Zeitbezüge gekennzeichnet nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog. Sie hat keine ist.“18 Bildung verflüchtigt sich aber durch Be- andere Möglichkeit des Überlebens als die kritische Selbstre- schleunigung und wird zur Halbbildung. flexion auf die Halbbildung, zu der sie notwendig wurde.“14

Nicht „mehr“ Bildung wird benötigt, sondern eine andere Bildung. Die funktionale Verengung von Bildung auf Berufsausbildung sollte man aufspren- 16 Theodor W. Adorno, S. 108 gen. Bildung ist geprägt von einer „nützlichen Nutz- 17 Theodor Adorno, S. 106 losigkeit“. Solch ein Begriff lässt sich allerdings nur 18 Hans Joachim Höhn: Die Zeit der Gesellschaft. Sozialethik als schwer in ein geeignetes bildungspolitisches Instru- Zeitdiagnose, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, mentarium umsetzen; hier liegt der Stachel dieses 2002, Jg. 43, S. 260-287, 227 f. nicht-affirmativen Bildungs- begriffes. Die Idee, man

Wissen ist ein Besitz, Bil- dung eher ein Prozess, der einer Geisteshaltung entspringt könne Bildung erwerben, ist falsch. „Bildung lässt sich, dem Spruch aus dem Faust entgegen, überhaupt nicht erwerben: Erwerb und schlechter Besitz wären ei- nes.“15 Wissen ist ein Besitz, Bildung eher ein Prozess, der einer Geisteshaltung entspringt. Bildung bezeich- net die kritische Aneignung von Inhalten, die Kunst der

Foto: Jeremy J. Shapiro/Quelle: Wikipedia 13 Theodor W. Adorno, S. 104 14 Theodor W. Adorno, S. 121 Theodor W. Adorno formulierte die Theorie der Halbbildung. 15 Theodor W. Adorno, S. 107 Hier mit Max Horkheimer (links) 1964 auf dem Max Weber-Soziologentag

223 SCHWERPUNKT

Bildung braucht Zeit Selbstmotivation und Teamfähigkeit sind ein gan- zes Spektrum von Verhaltensmustern, die besonders Nach der Evaluation unseres Bildungswesens (Bsp. die soziale Kompetenz betreffen und nicht virtuell PISA-Studie) hat sich die Stimmung verbreitet: vermittelt werden können. Jetzt müsse das Tempo erhöht, die „Humanres- „Wenn die ältere Generation sich an die Zeit mit source“ Wissen genutzt werden, um wieder zur den eigenen Kindern erinnert, beschleicht sie viel- Weltspitze aufzuschließen. In der Tat kann es leicht etwas wie Unbehagen und Mitleid.“20 manchmal richtig sein, voll zu beschleunigen. Aber Ist diese neue Kindheit nicht überorganisiert, ein- immer mehr Leistung in deutlich kürzeren Zeitab- dimensional? Wie viel Elternzeit, Zeit für Umwege schnitten wird das Ergebnis nur verschlechtern. Das gab es in den Siebzigern und Achtzigern, in der Gegenteil sollte man tun: das oberste Ziel ist nicht Zeit vor der Wende. Donata Elschenbroich21 spricht Nützlichkeit, sondern ein sinnerfülltes Leben. Wir von der „Singapurisierung“ der Kindheit und Ju- benötigen dringend Pausenzeiten, Abstinenz vom gend im 21. Jahrhundert. Machen-Müssen. Der Mensch muss nicht der ver- Gute Erziehung ist am Ende immer Selbsterziehung. antwortliche Besitzer aller Zeit sein. Man braucht Es geht weniger darum, was die jungen Menschen auch Zeit, um sich und seine Sachen zu bedenken. am Ende ihrer Ausbildung sind, sondern es zählt, Unterbrechungen ermöglichen die Reflexion. Sie was danach aus ihnen wird. Die Ermöglichung wah- sind die Quelle des kulturellen Lebens. „Sabbatpa- ren Menschseins ist das Ziel aller Bildungsträger: der radoxon“ nannte Leo O´ Donovan, Präsident der Elternhäuser, der Schulen Georgetown University, dieses Phänomen. Die Auf- Die Lehre von Musik, und Universitäten und hebung des Zwanges zur Nützlichkeit ermöglicht Kunst, Literatur und al- der außerschulischen Bil- nämlich die Frage nach dem Nutzen des Nutzens.19 ten Sprachen nützt dungsarbeit. Schulen und Bildung hat Selbstzweck- aufs Ganze gesehen Hochschulen helfen dem Die Aufhebung des charakter, d. h. sie eröff- auch der Wirtschaft Beschäftigungssystem, Zwanges zur Nützlich- net den Zugang zu Gü- indem sie Bildungsinhal- keit ermöglicht die Fra- tern und Chancen, die te ausweisen, die dem Gedächtnis, der kulturellen ge nach dem Nutzen nicht noch einmal durch Identität und der Erinnerung dienen. Sie sorgen so des Nutzens ihre Nützlichkeit für für Kontinuität. Die Lehre von Musik, Kunst, Litera- weitere und andere de- tur und alten Sprachen nützt aufs Ganze gesehen finiert sind. Durch Bildung erfährt der Mensch, wo- auch der Wirtschaft. für alles Nützliche nützlich ist. Bildung hat überall Universitäten stehen in Spannungsfeldern, die sie dort ihren Ansatzpunkt, wo der Mensch etwas ständig ausbalancieren müssen. Auf der einen Sei- wichtiger nimmt als sich selbst. Zum Grundinhalt te sollen sie als Forschungseinrichtung Grundla- von Bildung gehört darum nicht nur abstraktes genforschung praktizieren und auf der anderen oder akademisches Wissensgut, sondern die Viel- Seite in der Lehre auf Bildung und Berufsbildung falt der in sich als wertvoll empfundenen Elemente zielen. So dienen sie als Instrument kultureller unseres kulturellen Erbes. Selbstdeutung der Entschleunigung wie zugleich Das Tempo der Wirtschaft und das Tempo unseres der Beschleunigung, indem sie ständig verwertba- Lebens sind sehr verschieden. Computergeneratio- res Wissen produzieren. „Ihre Verfassung und Poli- nen folgen zwar in immer kürzeren Abständen, tik müssen demnach so organisiert werden, dass deswegen wird aber kein Jugendlicher schneller nicht die administrativen Strukturen systematisch erwachsen. Man sollte genau prüfen, was leicht die eine Seite solcher Spannungsrelationen gegen- verderbliche Wissensware ist. In der Rede von der über der anderen privilegieren, dass sie vielmehr „Halbwertzeit des Wissens“ wird das Wissen mit die Spannung des Differenten selbst stabilisieren.“22 Produktionszyklen verwechselt. Natürlich gibt es Allerdings kann man nicht fordern, dass sie zugleich ein Wissen, das schnell veraltet. Zum Beispiel Ge- stärker berufsbezogen ausbilden und auf das „Le- brauchsanweisungen für Wegwerfgeräte. Aber wie benslange Lernen“ vorbereiten sollen. Ersteres be- schnell veraltet das kleine Einmaleins? Basiswissen deutet, das Studium an den Markt anzukoppeln, veraltet so gut wie gar nicht. letzteres gerade dessen Entkoppelung von solchen Neben dem Erwerb nachhaltigen Wissens ist es vor allem wichtig, das Lernen zu erlernen. Konzentra- 20 Donata Elschenbroich: FAZ 1.9.04. tionsfähigkeit, Fleiß, handwerkliches Beherrschen 21 Donata Elschenbroich: Weltwissen der Siebenjährigen: Wie von Lernhilfen, Selbstdisziplin, die Fähigkeit zur Kinder die Welt entdecken können, München 2002. 22 Peter Strohschneider: Stich-Worte und Wider-Sprüche – 19 Leo O´Donavan: tempi – Bildung im Zeitalter der Beschleuni- Über die gegenwärtige Universitäts- und Wissenschaftsdebatte, gung, in: epd-Dokumentation, Nr. 16/01, 2001, S. 4-13. in: Forschung & Lehre 10/2003, S. 544-546.

224 SCHWERPUNKT

Bedarfslagen. Vielleicht sollte man sich darauf ein- Das Fremde ist ihm eine Bereicherung, ohne die er stellen, dass Berufsfelder sich zukünftig immer deut- nicht leben möchte. Neidlos bewundert er Vorzü- licher in der Weise flexibel gestalten, dass die uni- ge, wie er sie selbst nicht besitzt. Denn er gewinnt versitäre Bildung und Ausbildung darauf nicht mehr sein Selbstwertgefühl nicht aus dem Vergleich mit reagieren kann.23 anderen. Er fürchtet auch nicht, durch Dankbarkeit Um den Unterschied zwischen Bildung und Wissen in Abhängigkeit zu geraten, und er zieht das Risi- besser in den Blick zu bekommen, ist es hilfreich, ko, enttäuscht zu werden, der Niedertracht vor, an- mit Robert Spaemann einen Perspektivwechsel deren zu misstrauen. zu wagen und sich zu fragen, wer ein gebildeter Letztendlich ist auch er nur einer von vielen, des- Mensch ist.24 halb nimmt er sich selbst nicht so ernst. Vor allem Allgemein ist gebildet, wen es interessiert, wie die weiß er, dass Bildung nicht das Wichtigste ist. Bil- Welt aus anderen Augen aussieht, wer gelernt hat, dung schafft eine menschenwürdige Normalität. das eigene Blickfeld zu erweitern. Sie bereitet aber nicht auf den Ernstfall vor und „Sich mitzuteilen ist Natur. Mitgeteiltes aufzuneh- entscheidet nicht über ihn. Wichtig ist ihm die men, wie es gegeben wird, ist Bildung“, schreibt Freundschaft, besonders die Freundschaft mit an- Goethe. Fast nichts ist für den Gebildeten ohne deren Gebildeten. Interesse, aber nur weniges wirklich wichtig. Wer „Gebildete Menschen haben aneinander Freude“, gebildet ist, lebt nicht in verschiedenen Welten, so sagt Aristoteles. Überhaupt haben sie mehr Freude dass er bewusstlos von der einen in die andere hin- als andere. Und das ist es, weshalb es sich lohnt, in übergleitet. Was er weiß, hängt miteinander zu- Bildung zu investieren. sammen und wo es nicht zusammenhängt, da ver- Wer immer nur durch das Leben surft, in der Strom- sucht er, einen Zusammenhang herzustellen oder linie bleibt, um mit maximaler Geschwindigkeit wenigstens zu verstehen, warum dies so schwer ge- vorwärts zu kommen, läuft Gefahr, die Bahn zu lingt. verlieren. Junge Menschen, die sich in ihrer Ausbil- Gebildete Menschen sprechen zwar oft eine Wis- dung nicht ausschließlich am Ziel orientieren, spä- senschaftssprache, aber sie werden nicht von ihr ter eine bestimmte Arbeitsstelle auszufüllen, son- beherrscht. Wer sich nicht traut, einfache Sachver- dern sich von ihrer Neugierde leiten lassen, halte einfach auszudrücken und zu sagen, wie ihm besitzen einen großen Vorteil: zumute ist, der ist nicht gebildet. Und auch der ist In dem Wunsch die Welt zu verstehen, verstehen es nicht, der, sobald er die wissenschaftliche Termi- sie auch, warum manche Dinge sich anders entfal- nologie fallen lässt, in den erhabenen oder ordinä- ten, als sie sich vorstellten. Dies ist für sie kein ren Ton fällt. Grund, in Sinnkrisen zu fallen. Der Gebildete kann sich erfreuen an dem, was die Welt ihm darbietet und braucht nicht viel davon. Wer mit wenig auskommt, hat die größere Sicher- Dr. Joachim Klose studierte Physik, Theologie, heit, dass es ihm selten an etwas fehlen wird. Philosophie und Wissenschaftstheorie in Der Gebildete hat aber ein ausgeprägtes Gefühl für Magdeburg, Dresden, München und Cam- seinen eigenen Wert. Er scheut sich nicht zu wer- bridge/USA und ist seit 15 Jahren in der ten und beansprucht für seine Werturteile objekti- Erwachsenenbildung tätig. Er war Grün- ve Geltung. Er hält sich für wahrheitsfähig, aber dungsdirektor der Katholischen Akademie nicht für unfehlbar. des Bistums Dresden-Meißen und ist Landes- beauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung für den Freistaat 23 Strohschneider, S. 546. Sachsen. 24 Robert Spaemann: Wer ist ein gebildeter Mensch? In: Gren- Anschrift: Königstraße 23, 01097 Dresden. zen: Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2002, S. 513 ff. E-Mail: [email protected]

225 SCHWERPUNKT

Demokratiepädagogik oder politische Bildung: Gegensatz oder falsche Alternative? Helmut Bremer/Mark Kleemann-Göhring

Der Beitrag greift die Debatte um Demokratiepä- klar zu werden. Das gilt auch für die politische Er- dagogik und politische Bildung aus der Perspektive wachsenenbildung. der politischen Erwachsenenbildung auf. Er veror- tet diese innerhalb eines bereits seit den 1950er Jahren geführten Diskurses um soziales und politi- Ein Blick zurück: Alter Wein… sches Lernen. Der Beitrag vertritt die These, dass die vorgestellten Kontroversen auf in mehrfacher Die von den neueren Konzepten der Demokratie- Hinsicht dichotome Gegenüberstellungen zurück- pädagogik ausgelöste Debatte um „soziales“ und greifen, die eine sozial konstruierte Grenze zum „politisches“ Lernen ist keineswegs neu. Blickt man politischen Feld und damit Grenzziehungen zwi- genauer hin, dann lebt darin eine alte Kontroverse schen politischen und unpolitischen Subjekten zie- der politischen Bildung wieder auf.2 hen, mit der Folge, dass bestimmte soziale Grup- Bereits in den 1950er Jahren tauchte in der Bundes- pen aus diesem ausgeschlossen bleiben. Es wird republik Deutschland in der Auseinandersetzung eine Theorieperspektive eröffnet, wie eine emanzi- zwischen Theodor Wilhelms Theorie der Partner- patorisch ausgerichtete politische Bildung solche schaft (erstmals verfasst unter seinem Pseudonym „falschen“ Alternativen vermeiden kann. Friedrich Oetinger) und Theodor Litts staatsbürger- licher Erziehung die Frage nach der Bedeutung von sozialem Lernen und der kognitiven Reflexion über Einleitung Politik auf. Beide Ansätze verfolgten die Fragestel- lung, wie man angesichts der Erfahrungen des Fa- Seit der Auflage des BLK-Modellprogramms „De- mokratie lernen und leben“1 im Jahr 2002 ist vor allem innerhalb der schulischen politischen Bildung eine kontrovers geführ- Vor allem innerhalb der te Debatte um das Für schulischen politischen und Wider demokratie- Bildung ist eine kontro- pädagogischer Ansätze vers geführte Debatte entbrannt. In der politi- um das Für und Wider schen Erwachsenenbil- demokratiepädagogi- dung hat das bisher we- Inspirierte die Partner- scher Ansätze ent- nig Resonanz gefunden. schaftspädagogik von brannt Wir wollen den Diskurs Quelle: Wikipedia wood, N.Y.; Theodor Wilhelm: Der Photo by Underwood & Under- aufgreifen, um die darin amerikanische Philosoph enthaltenen theoretisch-konzeptionellen Gedanken John Dewey auf die Bedeutung für die politische Erwachsenen- bildung hin auszuleuchten. Erstaunlich ist, dass es schismus die Deutschen zu demokratiefähigen Bür- sich bei näherer Betrachtung um das Wiederaufle- gern/Bürgerinnen erziehen könne. Wilhelm hatte ben einer bereits früher unter den Schlagworten seine Idee auf der handlungstheoretischen Grund- partnerschaftliche, staatsbürgerliche oder mitbür- lage des amerikanischen Pragmatismus um John gerliche Erziehung geführten Kontroverse handelt. Dewey und George Herbert Mead entwickelt. De- Die Debatte wird vielfach normativ, mit pauscha- weys Verständnis von Demokratie, wonach diese len und dichotomen Gegenüberstellungen und aus mehr als eine Regierungsform sei, nämlich „in erster einer disziplinären Engführung heraus geführt. Da- Linie eine Form der gemeinsamen und miteinander bei wird oft der Logik des „politischen Feldes“ ge- geteilten Erfahrung“3, geht bei Wilhelm in der jetzt folgt – mit der Gefahr, dass dessen Grenzen eher in der Demokratiepädagogik wieder viel rezipier- zementiert werden. Unsere feldtheoretische Per- ten Formel auf, „Partnererziehung lehrt Demokra- spektive zeigt, dass die Positionen für unterschied- liche Orte im politischen Feld stehen, und dass bei- 2 Klaus-Peter Hufer: Demokratie-Lernen in der außerschulischen de Seiten ihre „blinden Flecken“ haben. Will man politischen Bildung oder: Der Streit um das „Demokratie-Lernen“ die Grenze zum politischen Feld für mehr Men- aus der Sicht eines Erwachsenenbildners, in: Arbeitsgemeinschaft schen durchlässiger machen und somit mehr Parti- Katholisch-Sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik zipation ermöglichen, ist es wichtig, sich darüber Deutschland (Hrsg.): Jahrbuch 2009/2010. Politische Bildung für die Demokratie, Schwalbach/Ts. 2009, S. 31-43. 1 Begründendes Gutachten für das Programm von Wolfgang 3 John Dewey/Jürgen Oelkers/Erich Hylla: Demokratie und Edelstein/Peter Fauser: Demokratie lernen und leben. Gutachten Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, für ein Modellversuchsprogramm der BLK, Bonn/Hannover 2001. Weinheim 2008, S. 121.

226 SCHWERPUNKT

tie nicht als Staatsform, sondern als Lebensform“.4 zu Wilhelms Partnerschaftserziehung aufweist. In Wilhelms Partnerschaftserziehung geht es dem- Hervorzuheben ist Borinskis Position, dass politi- nach vorrangig um das, was gemeinhin „soziales sche Bildung ein fächerübergreifendes Prinzip sein Lernen“ genannt wird. Kooperative politische Er- solle, da es „in ihrer Wurzel keine unpolitischen Fä- ziehung geht hierbei von einem Begriff des Politi- cher [gibt]“10. Dies kommt auch in seinen vier schen aus, „bei dem nicht staatliche Macht und Grundsätzen für eine demokratische Erziehung nicht individuelle Pflicht im Vordergrund stehen, zum Ausdruck, wonach demokratische Erziehung sondern menschliche Kooperation“.5 Erziehung be- (1) „im eigenen Haus [beginnt]“, (2) „soziale Er- greift er hierbei weniger als intentionales Einwir- ziehung sein und sich ken im Sinne von „Belehrung oder des Drills“, son- Fritz Borinski hat das im Alltag des Betriebs dern im pragmatistischen Verständnis des Erfahrens Konzept der Mitbür- und des Vereinslebens und Gewöhnens6. gerlichkeit in die bewähren [muss]“, (3) Erwachsenenbildung „über den politisch-sozi- Dieser Position entgegen trat Theodor Litt, der die eingeführt alen Fachunterricht hin- Ursache des Nationalsozialismus nicht wie Wilhelm ausgehen […] [und] alle in der falschen Gesinnung, der Obrigkeitshörigkeit Unterrichtsgebiete durchdringen und zu einer Ein- der Deutschen, sondern in der falschen Staatsform heit zusammenfassen [muss]“ und (4) „Bildung des Totalitarismus sah. Die politische Bildung muss und Erziehung des Charakters [sein soll]“11. Eine Demokratie als für das deutsche Volk neue Staats- mitbürgerliche Erziehung bringt demnach diejeni- form als erhaltenswert vermitteln. Hierbei misst gen sozialen Kompetenzen hervor, die für das Litt der kognitiven Dimension des Wissens um die Funktionieren einer demokratischen Gemeinschaft Demokratie eine weitaus größere Bedeutung bei, notwendig sind. konzediert aber die Bedeutung der praktischen Dieser Ansatz blieb und bleibt nicht ohne Wider- Umsetzung dieses Wissens: „Der Deutsche muß spruch. So kritisiert Hufer, dass bei einer derart [sic] recht eigentlich ‚wissen‘ um den Staat, um ihm weiten Auffassung des Politischen zentrale Katego- durch sein Tun gerecht werden zu können“.7 Litt rien der politischen Bildung (wie Macht, Herrschaft, spricht sich damit dezidiert für eine stärkere Orien- Öffentlichkeit und Allgemeinverbindlichkeit) ver- tierung an dem aus, was gemeinhin unter „politi- schwimmen würden, „wenn sie diese ins allumfas- schem Lernen“ verstanden wird. send Soziale auflöst“12. Hufer gehört bisher zu den Vereinfacht lässt sich der Gegensatz dieser beiden wenigen Vertretern der politischen Erwachsenen- Protagonisten wie folgt darstellen: Bei Wilhelm bildung, die den Diskurs um soziales und politisches schaffen zu Demokraten/Demokratinnen erzogene Lernen kritisch auf diese Teildisziplin bezogen ha- Bürger/-innen die Demokratie, bei Litt schafft die ben. Er plädiert dafür, die Vermittlung politischen Demokratie als ‚richtige‘ Staatsform durch staats- Wissens und politischer Urteilsfähigkeit stärker in bürgerliche Erziehung Demokraten/Demokratin- das Zentrum politischer Bildung zu rücken. nen. Die Bezüge für die Erwachsenenbildung liegen da- bei auf der Hand. So schreibt Wilhelm, dass die Er- …in neuen Schläuchen? Die aktuelle Debatte ziehung zu einer kooperativen Haltung in allen Ar- um Demokratie- und Politik-Lernen ten von Gemeinschaft möglich sei8, und bei Litt heißt es, dass „[die] Älteren so gut wie die Jünge- Mit der Einführung des BLK-Programms „Demo- ren zu erziehen sind“.9 kratie lernen und leben“ im Jahr 2002 erlebt nun diese Debatte um Selbst- Fritz Borinski hat das Konzept der Mitbürgerlich- Die Kontroverse um verständnis und Aufga- keit in die Erwachsenenbildung eingeführt, das in Selbstverständnis und ben politischer Bildung seiner Ausrichtung auf „soziales Lernen“ Parallelen Aufgaben politischer eine neue Konjunktur. Bildung wird vor allem Die Kontroverse wird vor 4 Theodor Wilhelm: Partnerschaft. Die Aufgabe der politischen zwischen Demokratie- allem zwischen Demo- Erziehung, Stuttgart 1956. pädagogik und Politik- kratiepädagogik und Po- 5 Friedrich Oetinger: Wendepunkt der politischen Erziehung. didaktik geführt litikdidaktik geführt. Partnerschaft als pädagogische Aufgabe, Stuttgart 1951, S. 95. 6 Oetinger (Anm. 5). 10 Fritz Borinski: Der Weg zum Mitbürger. Die politische Auf- 7 Theodor Litt: Die politische Selbsterziehung des deutschen gabe der freien Erwachsenenbildung in Deutschland, Düssel- Volkes, Berlin 1963, S. 54. dorf/Köln 1954, S. 131. 8 vgl. Oetinger (Anm. 5), S. 168. 11 Borinski (Anm. 10), S. 64. Herv. H.B./M.K.-G. 9 Litt (Anm. 7), S. 51. 12 Hufer (Anm. 2).

227 SCHWERPUNKT

Vertreter/-innen der Demokratiepädagogik beto- Demokratie als Gesell- aber die Erweiterung des nen, dass sich die Frage nach dem didaktischen schaftsform erweitert Verständnisses von De- Zentrum der politischen Bildung neu stelle. Dieses das etatistische Ver- mokratie als Lebensform, müsse sich vom Politik-Lernen zum Demokratie- ständnis um Elemente die wie bei Wilhelm the- Lernen verschieben13. Himmelmann kritisiert den in des Pluralismus, der oretisch-konzeptionell der politischen Bildung seiner Ansicht nach zu en- Zivilgesellschaft, der über pragmatistische An- gen Politik-Begriff, da diesem „die normative Basis sozialen Differenzie- sätze erfolgt, und hier- fehlt, […] es ihm an einer demokratischen Ausprä- rung oder der fried- bei vor allem über John gung mangelt, […] er zu sehr etatistisch gedacht lichen Konfliktlösung Deweys demokratiephi- ist, mit dem Wandel des Staates und des ‚Politi- losophische Ausführun- schen‘ zunehmend seinen realen Bezugspunkt ver- gen. Diese regen an, Demokratie nicht mehr nur liert und […] oft zu abstrakt und theoretisch er- als „machinery of government“, sondern als „sozi- scheint, also den Bezug zum existenziellen Alltag ale Idee“ zu verstehen. Als „Prinzip des assoziierten des zivilen Bürgerhandelns erschwert oder sogar Zusammenlebens“ und „Idee des Gemeinschafts- hindert“14. Nach dieser Position ist die Perspektive lebens“16 kann Demokratie nicht einfach (im Un- der politischen Bildung zu sehr auf Demokratie als terricht) gelehrt und gelernt, sondern sie muss eine Herrschaftsform gerichtet gewesen. praktisch erfahren werden. Ins Feld geführt wird zudem, dass der Demokratiebegriff gegenüber dem Dieser Blick wird bei Himmelmann erweitert. Da- Politikbegriff ein akzeptanz-förderndes Sympathie- mit geht eine Ausdehnung des Politikbegriffs ein- moment habe, das man sich nutzbar machen her, wenn er Demokratie darüber hinaus als eine sollte.17 Gesellschafts- und Lebensform begreift. Demo- Peter Massing kritisiert daran, dass mit der Ver- kratie als Gesellschaftsform erweitert das etatisti- schiebung des didaktischen Zentrums vom Politik- sche Verständnis um Elemente des Pluralismus, der Lernen hin zum Demokratie-Lernen die Hinwen- Zivilgesellschaft, der sozialen Differenzierung oder dung zu einem diffusen weiten Politik- und einem der friedlichen Konfliktlösung.15 Bedeutsamer ist entleerten Demokratiebegriff erfolge. Dieser enthal- te, so heißt es bei ihm zugespitzt „so viel Substanz 13 Gerhard Himmelmann: Demokratie-Lernen als Lebens-, wie ein Maggiwürfel Fleischbrühe im Vergleich zu Gesellschafts- und Herrschaftsform, in: Siegfried Schiele/ einer Rinderherde“.18 In der Unterscheidung eines Gotthard Breit (Hrsg.): Demokratie-Lernen als Aufgabe der handlungsorientierten, positiv besetzten Demokra- politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2002, S. 21-39. S. 24. tie- und eines formalen, auf das politische System 14 Himmelmann (Anm. 13). orientierten Politikbegriffs sehen Massing und 15 Gerhard Himmelmann: Demokratie Lernen. Als Lebens-, Gotthard Breit die Gefahr, dass sich die Vorstellung Gesellschafts- und Herrschaftsform. Ein Lehr- und Studienbuch, von negativ besetzter, als ‚schmutziges‘ Geschäft 3. Aufl., Schwalbach/Ts. 2007, S. 122ff. verstandener Politik verfestigen und zu mehr Poli- tikverdrossenheit und Ent- politisierung beitragen wür- de.19 Vermutet wird ferner, dass über das propagierte reine Erfahrungslernen be-

16 John Dewey: Die Öffentlich- keit und ihre Probleme, Darm- stadt 1996, S. 125. 17 Himmelmann (Anm. 15), S. 25. 18 Peter Massing: Demokratie- Lernen oder Politik-Lernen, in: Siegfried Schiele/Gotthard Breit (Hrsg.): Demokratie-Lernen als Aufgabe der politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2002, S. 160-187. S. 173. 19 vgl. Massing (Anm. 18), S. 173; © Deutscher Bundestag /Lichtblick /Achim Melde Gotthard Breit: Demokratie-Lernen Demokratie ist nicht nur Staatsform. Plenum des Deutschen Bundestages bei der Ab- oder Politik-Lernen, Polis (2003) stimmung zum Gleichbehandlungsgesetz im Juni 2006 H. 2, S. 6; Hufer (Anm. 2), S. 33.

228 SCHWERPUNKT

Zuständigkeitsbereich. So gesehen sind Abwehrre- aktionen wenig verwunderlich. © Privat Politisches Feld: Zwischen Politisierung und Entpolitisierung

An der hier nur kurz nachgezeichneten Debatte Kritisiert den Ansatz der um Demokratiepädagogik und politische Bildung Demokratiepädagogik: fällt auf, dass vielfach normativ, mit pauschalen Der Berliner Politikdi- und dichotomen Gegenüberstellungen und aus ei- daktiker Peter Massing ner disziplinären Engführung heraus argumentiert wird. Das führt, wie wir mit der Habitus-Feld-Theo- stimmte Themen kaum erfasst werden könnten, rie Bourdieus23 zeigen wollen, letztlich in Sackgas- wie bspw. Außen- und Sicherheitspolitik, interna- sen, insbesondere dann, wenn man (was auffällig tionale Politik oder wirtschaftspolitische Fragen. wenig geschieht) die Lernenden als Akteure mit Massing hat in scharfer Form gegen die Demokra- einbezieht. tiepädagogik ins Feld geführt, dass ein normativer Das zeigt sich auch in Bezug auf Lernen (Gegensatz Demokratiebegriff gegen das Indoktrinationsver- „praktisches Erfahren“ und „kognitives Wissen“), bot und das Kontroversitätsgebot des Beutelsba- von dem zwar viel die Rede ist, häufig aber ohne cher Konsens verstoßen würde.20 Dem hat wiede- Bezug auf elaborierte lerntheoretische Konzepte. rum Fauser vehement widersprochen.21 Diese würden zunächst analytisch danach fragen, wie Lernen sich vollzieht, anstatt normativ von Die Relevanz dieser Debatte für die politische Er- dem auszugehen, was zu vermitteln ist, um dann in wachsenenbildung sieht Klaus-Peter Hufer weni- Frage zu stellen, inwie- ger für den konzeptionellen Bereich, da hier die Nachhaltiges Lernen fern etwa Außen- und Diskussion um einen weiten Politikbegriff beispiels- erfolgt gerade dann, Sicherheitspolitik über weise schon länger geführt werde. Aber es geht wenn Lerngegenstän- Erfahrungslernen ange- eben nicht einfach nur um unterschiedliche Kon- de für die Subjekte eignet werden kann. zepte, sondern die Demokratiepädagogik offeriert Bedeutung bekommen Neuere Ansätze haben eine Alternative zu der bisherigen, auf den Politik- verdeutlicht, dass Lernen unterricht konzentrier- nicht aus objektiven Bedingungskonstellationen Die Demokratiepäda- ten schulischen politi- erzeugt werden kann (mögen diese auch noch so gogik offeriert eine schen Bildung. Auf dem einleuchtend oder „zwingend“ sein), sondern ge- Alternative zu der bis- Spiel steht damit die bil- rade nachhaltiges Lernen dann erfolgt, wenn Lern- herigen, auf den Poli- dungspolitische Domi- gegenstände für die Subjekte Bedeutung bekom- tikunterricht konzen- nanz.22 Zu befürchten sei, men; „Interesse“ für ein Thema entwickelt sich, trierten schulischen dass eine Schwächung wenn es in irgendeiner Form eine subjektiv rele- politischen Bildung der Politikdidaktik auch vante Berührung mit einer Thematik gegeben hat.24 Auswirkungen auf die Ohne das hier weiter ausführen zu können, gibt es politische Erwachsenenbildung haben werde. Be- also starke Argumente für ein von Dewey ausge- reits Borinski hat politische Bildung als Quer- hendes erweitertes Verständnis von Erfahrungsler- schnittsaufgabe verstanden. Dies wird in der Demo- nen, dessen Anschlussfähigkeit für die politische kratiepädagogik konzeptionell neu ausbuchstabiert. Bildung weiter auszuloten wäre. Dabei wäre auch Für die institutionelle Ebene der politischen Erwach- zu prüfen, inwieweit Erfahrungslernen und damit senenbildung stellt sich nach diesem Verständnis zusammenhängende Formen wie praktisches, sinn- die Frage nach ihrem originären Aufgaben- und liches, körperliches, situiertes Lernen für bestimm- te soziale Milieus typisch sind, und dass es oft Lern- 20 vgl. Peter Massing: „Demokratie-Lernen“ und „Politik-Ler- nen“ – ein Gegensatz? Eine Antwort auf Gerhard Himmelmann, 23 Helmut Bremer: Symbolische Macht und politisches Feld. Politische Bildung (2004) H. 1, S. 130-135. Der Beitrag der Theorie Pierre Bourdieus für die politische Bil- 21 vgl. Peter Fauser: Demokratiepädagogik und politische Bil- dung, in: Bettina Lösch/Andreas Thimmel (Hrsg.): Kritische poli- dung. Ein Diskussionsbeitrag, in: Wolfgang Beutel/Peter Fauser tische Bildung. Ein Handbuch, Schwalbach/Ts. 2010, S. 185-196. (Hrsg.): Demokratiepädagogik. Lernen für die Zivilgesellschaft, 24 Anke Grotlüschen: Erneuerung der Interessetheorie. Die Ge- Schwalbach/Ts. 2007, S. 16-41. S. 30. nese von Interesse an Erwachsenen- und Weiterbildung, Wies- 22 Hufer (Anm. 2), S. 33. baden 2010.

229 SCHWERPUNKT

formen sind, die im Feld im Vergleich zum kogniti- nicht.27 Aber auch die politische Bildung ist in die- ven, reflexiv verfügbaren Wissen abgewertet wer- ses Ringen involviert. den.25 Bourdieu28 kritisiert nun, dass die Politikwissenschaft zumeist die Trennung in Experten und Laien bzw. Was aber heißt es, die hier aufgegriffene Debatte in politisch Aktive und politisch Passive als quasi aus einer Feldperspektive zu betrachten? Mit Fel- naturgegeben nachvollzieht. Wichtig sei jedoch, dern sind gesellschaftliche Sphären wie Religion, den Gründen nachzugehen und die Mechanismen Ökonomie, Kunst oder eben Politik gemeint. Es herauszuarbeiten, durch die Menschen „aktiv“ oder sind Handlungsräume, in denen es um etwas geht, „passiv“, „politisch“ oder „unpolitisch“ werden, und im Falle des politischen es geht darum herauszuarbeiten, was die sozialen Es gibt ein ständiges Feldes um die Regelung Voraussetzungen dafür sind. Über welchen Habitus Ringen um die Ausle- der allgemeinen Angele- und welches „politische Kapital“ muss man verfü- gung und Ausgestal- genheiten, in den Wor- gen? tung von Politik ten Bourdieus um die Durchsetzung der legiti- men Sicht der sozialen Welt.26 Dabei gibt es ein 27 vgl. ausführlicher Helmut Bremer: Das „politische Spiel“ ständiges Ringen um die Auslegung und Ausge- zwischen Selbstausschließung und Fremdausschließung, Außer- staltung von Politik. Hauptsächlich sind es Exper- schulische Bildung (3/2008), S. 266-272; Bremer (Anm. 23); Hel- ten (Politiker, Journalisten, Meinungsforscher), die mut Bremer/Mark Kleemann-Göhring: „Defizit“ oder „Benach- den Ton angeben und diesem „Spiel“ ihren Stem- teiligung“: Zur Dialektik von Selbst- und Fremdausschließung pel aufdrücken. Sie stehen in Beziehung zu den in der politischen Erwachsenenbildung und zur Wirkung sym- „Laien“ und definieren, wer dazu gehört und wer bolischer Herrschaft, in: Christine Zeuner (Hrsg.): Demokratie und Partizipation – Beiträge der Erwachsenenbildung, 25 vgl. Helmut Bremer: Soziale Milieus, Habitus und Lernen, Hamburg, Lehrstuhl für Erwachsenenbildung (2010) H. 13, Weinheim 2007, S. 259 ff. im Erscheinen. 26 Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen 28 vgl. Pierre Bourdieu: Politik. Schriften zur Politischen Öko- Vernunft, Frankfurt am Main 2001, S. 238. nomie 2, Konstanz 2010, S. 43.

© Rainer Sturm/pixelio.de Praktisches Lernen wird oft abgewertet

230 SCHWERPUNKT

Bourdieus impliziter Politikbegriff ist insofern sehr Indem bestimmte Ein- Lernorte (wie die Fami- „weit“, als dass er ihn an die alltäglichen Weltsich- stellungen und Prakti- lie, die Schulklasse, die ten der Akteure rückbindet. Das wird deutlich, ken des Sich-Engagie- Peer-Group usw.) pau- wenn er betont, dass eine Untersuchung des Erler- rens für andere dem schal entpolitisiert wer- nens und Erwerbens von Weltsichten und Disposi- „sozialen“ Lernen den. tionen „zum eigentlichen geschichtlichen Ursprung zugeordnet werden, Aus der von uns einge- politischer Ordnung“ führt und eine „Theorie der werden sie zugleich nommen feldtheoreti- Erkenntnis der sozialen Welt eine elementare Di- entpolitisiert schen Perspektive sind mension der politischen Theorie“ ist.29 Er ist inso- vorgenommene Setzun- fern „eng“ bzw. klar, als dass „Herrschaft“ (und die gen wie „Konfliktfähigkeit“, „Öffentlichkeit“, „En- Kritik daran) in ihren manifesten und symbolischen gagement nach Regeln des politischen Systems“ Formen für ihn eine zentrale Rolle spielt und er in usw., mit denen „Politik“ von Demokratiepädago- den Weltsichten der sozialen Subjekte immer ver- gik abgegrenzt wird, zu hinterfragen. Sie erschei- innerlichte Formen von Herrschaft enthalten sieht. nen als mehr oder weniger willkürlich und als Ver- Die Politik des „politischen Feldes“ ist dann eine suche, eine Grenze zum politischen Feld zu ziehen spezifische Form, Politik zu denken und zu prakti- bzw. aufrecht zu erhalten. Indem bestimmte Ein- zieren, und sie ist nur bestimmten Akteuren vorbe- stellungen und Praktiken des Sich-Engagierens für halten. andere dem „sozialen“ Lernen zugeordnet wer- Was ändert sich, wenn man die Debatte um Demo- den, werden sie zugleich zu Artikulationsformen, kratiepädagogik und politische Bildung aus dieser die im politischen Feld nicht legitim sind. Sie wer- Perspektive betrachtet? Zentral ist, dass Bourdieu den, um den Spieß umzudrehen, entpolitisiert. die politische Welt radikal als sozial konstruiert be- trachtet. Dadurch wird einer rein normativen oder auf der Logik einer Fachdisziplin beruhenden Be- Reproduktion sozialer Ungleichheit in der po- gründung dessen, was Politik „ist“, der Boden ent- litischen Arbeitsteilung zogen. Wenn etwa Sibylle Reinhardt mit Bezug auf empi- Noch mehr Brisanz erhält dieser Aspekt, wenn man rische Studien es als erwiesen ansieht, dass kein die Lernenden als Akteure mit einbezieht. Es ist be- automatischer Transfer zwischen sozialem und po- kannt, dass politische Erwachsenenbildung wie litischem Lernen stattfände, dann ist das in gewis- überhaupt politische Partizipation vor allem eine ser Weise richtig. Allerdings beruht das auf be- Sache von Milieus der oberen sozialen Stufen ist.32 stimmten Vorannahmen. So wird ein Verständnis Was aber, wenn gerade die als „unpolitisch“ abge- von Demokratie zugrunde gelegt, für das die Kon- werteten und abgewehrten Formen „sozialen Ler- flikt-Logik demokratischer Systeme als konstitutiv nens“ und „sozialen Engagements“ die Formen gesetzt wird. Befragte, die auf Konflikt bezogene sind, mit denen sich die weniger oder gar nicht pri- Items im Fragebogen ablehnen, erscheinen dann vilegierten Milieus artikulieren? als nicht demokratie- bzw. politikfähig.30 Die Ge- Alles spricht dafür, dass genüberstellung von „privat“ (als Ort des „sozialen Begünstigt sind immer dichotome Gegenüber- Lernens“, für den Harmonie und Konsens typisch diejenigen, die auf- stellungen, mit denen im sind) und „öffentlich“ (Ort des „politisches Lernens“, grund ihrer kulturellen, Kontext der politischen an dem Konflikte ausgehandelt werden) erscheint sozialen und ökonomi- Bildung oft argumentiert beim genaueren Hinsehen schematisch und gera- schen Ressourcen und wird (politisches vs. so- dezu willkürlich31, hat aber zur Folge, dass ganze ihres „symbolischen ziales Lernen, politische Kapitals“ Distanz zu Bildung vs. Sozialarbeit, 29 Bourdieu (Anm. 26), S. 214, 221. ihren Alltagszwängen politische Bildung vs. be- 30 Sibylle Reinhardt: Schulleben und Unterricht. Nur der einnehmen können ruflich-betriebliche Bil- Zusammenhang bildet politisch und demokratisch, Zeitschrift dung), genau diese Wir- für Pädagogik (2009) H. 6, S. 860-871, S. 862 f. kung haben. Begünstigt sind immer diejenigen, die 31 Dass man, wie sie (vgl. Reinhardt (Anm. 30), S. 864) voraus- aufgrund ihrer kulturellen, sozialen und ökonomi- setzt, Konflikten im privaten Nahraum generell aus dem Weg schen Ressourcen und ihres „symbolischen Kapi- gehen könne, im öffentlichen Raum jedoch nicht, wirkt so nicht tals“ Distanz zu ihren Alltagszwängen einnehmen überzeugend. Man könnte hier sogar genau andersherum können. Das aber ermöglicht es, „Politik“ als eine argumentieren, denn wie sollen gerade Kinder und Jugendli- che, aber auch Eltern, dem privaten Raum der Familie entflie- 32 vgl. Helmut Bremer: Soziale Milieus und politische Bildung – hen, und wie leicht ist es demgegenüber, sich einer öffentlichen Ein neuer Blick auf ein altes Phänomen, Außerschulische Bil- Debatte zu entziehen. dung (2006) H. 2, S. 144-151.

231 SCHWERPUNKT

eigene elaborierte Sphäre betrachten und anerken- Politische Bildung und partizipatorische nen zu können. Für weniger privilegierte Milieus Demokratie dagegen bleibt Politik vermischt mit und vergra- ben in anderen alltags- und lebensweltlichen Praxis- Die Darstellung hat gezeigt, dass manche Dichoto- formen und somit wenig sichtbar als eigenständi- mien, die die kontroverse Debatte um Demokratie- ger Bereich, auf den Veranstaltungen der politi- pädagogik (bzw. die politische Bildung generell) schen Bildung in der Regel zielen. durchziehen, sich in der hier eingenommenen Per- spektive auflösen und sie bisweilen als „falsche Al- So scheint die These berechtigt, dass die bestehen- ternativen“ erscheinen lassen. In den Blick geraten den Regeln des politischen Feldes gegen große die Relationen, die Beziehungen zwischen den Teile der „politischen Laien“ gerichtet sind. Sie sol- Akteuren, und daran anknüpfend die Frage: len akzeptieren, dass Politik nicht ihre Welt ist, sie Wer versucht Definitionen, Sichtweisen auf „Poli- schließen sich selbst aus, was jedoch als vorwegge- tik“, durchzusetzen, und welche Bedeutung hat nommener Fremdausschluss einzustufen ist. Auf das für welche Individuen und Gruppen? Die Aus- diese Weise wird die Reproduktion der sozialen einandersetzung um Demokratiepädagogik und Ungleichheit in der politischen Arbeitsteilung politische Bildung enthält also eine theoretische verschärft und die sozial weiter unten stehenden Dimension, die auch für die außerschulische politi- Milieus werden auf „unpolitische“, d. h. nicht legi- sche Bildung relevant ist. Letztlich zielt die Argu- time, Formen der politi- mentation in kritischer Absicht darauf, welches Die Reproduktion der schen Artikulation zu- Verständnis politischer Handlungen und Einstel- sozialen Ungleichheit rückgeworfen. Hier gilt lungen in der politischen Bildungsarbeit zum Tra- wird in der politischen es, sich klar zu machen, gen kommen sollte. Arbeitsteilung dass der Transfer vom Es darf sich keines- verschärft „sozialen“ zum „politi- Ein Ansatz, der eman- wegs „eng“ auf den schen“ Lernen, auf den zipatorisch angelegt ist, Bereich beschränken, so gerne gepocht wird, real das Überschreiten einer muss davon ausgehen, der als explizit „poli- Grenze verlangt, die eine (Selbst-) Sicherheit bzw. ei- wie „Politik“ den Sub- tisch“ gilt oder sich nen Habitus erfordert, über die bzw. über den nicht jekten im Alltag als solcher ausweist. alle verfügen (als Klassensprecher/-in, als Vertreter/ erscheint Gerade ein Ansatz, -in einer Belegschaft oder einer Initiative in einer der emanzipatorisch bestimmten „Öffentlichkeit“ zu agieren und das angelegt ist, muss davon ausgehen, wie „Politik“ Wort zu ergreifen). Dabei wird in der Debatte meist den Subjekten im Alltag erscheint. Allerdings muss ausgeblendet, dass es sich um eine soziale Grenze dabei der „enge“, explizite Bereich des Politischen handelt. Diese gilt es durchlässiger zu machen. berücksichtigt und benannt werden als eine Sphä- re, in der Politik in beson- © Bundesarchiv, Foto: Thum, Joachim F., Quelle: Wikipedia derer Weise gedacht und gehandhabt wird. Demo- kratiepädagogische Ansät- ze bleiben naiv, wenn sie etwa die Schule oder ver- gleichbare pädagogische Kontexte als eine Art Insel begreifen, in der „Demo- kratie als Lebensform“ ein- geübt werden kann. Die Menschen leben auch in der Welt „draußen“, erle- ben sich insgesamt als „mächtig“ oder „ohnmäch- tig“, und sie antizipieren aufgrund ihrer gesamten Erfahrungswelt ihre Parti- zipationschancen (und emp- finden ein partizipatori- Für weniger privilegierte Milieus bleibt Politik vergraben in anderen alltags- und sches Angebot in der Schu- lebensweltlichen Praxisformen le dann womöglich als

232 SCHWERPUNKT

Farce). Hier ist Bettina Lösch33 zuzustimmen, die für torische oder gelenkte Demokratie, die Michael einen weit gefassten Politikbegriff plädiert, der die Vester34 wieder aufgegriffen hat. Die gelenkte, d. Gegenüberstellung von Demokratie und Politik h. auf die formellen Wege der Repräsentation und durchbricht, aber Ansätze sozialen Lernens über- Entscheidungsfindung pochende Demokratie ist steigt, „indem die politische Dimension – etwa Fra- gekennzeichnet durch ein Misstrauen35, getragen gen von Macht-, Ungleichheits- und Herrschafts- von der Befürchtung, es kann nichts Gutes dabei verhältnissen – explizit thematisiert wird“. herauskommen, wenn der „politisch inkompeten- Es geht zunächst um eine Haltung, einen eigenen ten Masse“ zu viel Teilhabe gegeben wird. Eine par- Standpunkt. Statt etwa bestimmte Lern- oder Arti- tizipatorische Demokratie sieht dagegen die eman- kulationsformen als „sozial“ in Abgrenzung zu „po- zipativen Potenziale in allen Bevölkerungsgruppen litisch“ zu klassifizieren (und sich damit die Logik des und versucht, ihnen praktische Partizipationsmög- politischen Feldes unhinterfragt zu eigen zu ma- lichkeiten einzuräumen. chen), wäre es weiterführender zu hinterfragen, was im engeren „politischen Feld“ anerkannt wird, also legitimes und nicht-legitimes politisches Lernen zu Dr. Helmut Bremer ist Professor für Erwachse- unterscheiden. nenbildung mit Schwerpunkt politische Bil- Ein solch kritisches Politikverständnis muss offensiv dung an der Fakultät für Bildungswissen- vertreten werden, gerade wenn es darum geht, schaften der Universität Duisburg-Essen. weniger privilegierte Milieus für politische Bildung Arbeitsschwerpunkte: Politische Bildung und zu gewinnen. Diese Aufforderung wird von der Po- politische Sozialisation; Teilnehmer- und litik bekanntlich gerne an die Träger politischer Bil- Adressatenforschung; Milieu- und Habitus- dung gerichtet, zumeist freilich ohne mitzuden- analyse. ken, wie diese eine solche Bildungsarbeit unter Anschrift: Universität Duisburg-Essen, Fakultät für Bildungswis- den gegenwärtigen Bedingungen realisieren kön- senschaften, Institut für Berufs- und Weiterbildung, Berliner nen. Sicher gilt es die von Hufer formulierten und Platz 6-8, 45127 Essen. bereits erwähnten möglichen Folgen solcher Posi- tionierungen für die politische Erwachsenenbildung E-Mail: [email protected] zu bedenken (indirekte Schwächung des engen Sach- und Fachbereichs). Aber die sachliche Diskus- sion, das Ringen um die Weiterentwicklung der Mark Kleemann-Göhring ist seit 2009 Wissen- Konzepte politischer Bildung, sollte nicht von vorn- schaftlicher Mitarbeiter an der Universität herein unter disziplinpolitischen Zwängen geführt Duisburg-Essen. werden. Arbeitsschwerpunkte: Politische Erwachsen- Die Debatte hat letztlich nicht nur einen abstrak- bildung, Bildungssoziologie, soziale Ungleich- ten akademischen Charakter. Wenn man weiter- heiten, Habitus- und Milieuforschung. denkt, geht es auch um das Demokratieverständnis, Anschrift: Universität Duisburg-Essen, Fakul- auf das eingangs schon einmal hingewiesen wurde: tät für Bildungswissenschaften, Institut für Berufs- und Weiter- Wird Demokratie durch bildung, Berliner Platz 6-8, 45127 Essen. Das Ringen um die Partizipation der Bürger Weiterentwicklung der geschaffen, oder schafft E-Mail: [email protected] Konzepte politischer ein demokratisches Sy- Bildung sollte nicht von stem erst die demokra- vornherein unter diszi- tischen Bürger? Das ent- plinpolitischen Zwän- spricht etwa der Kontro- 34 Michael Vester: Partizipatorische oder gelenkte Demokra- gen geführt werden verse um eine partizipa- tie? Alternativen der gesellschaftlichen Organisation in der Krise des Kapitalismus, SLR (2008), S. 81-93. 33 Bettina Lösch: Internationale und europäische Bedingungen 35 Wie es bereits in der klassischen Demokratietheorie bspw. politischer Bildung – zur Kritik der European Citizenship Educa- bei Alexis de Tocqueville in der Befürchtung einer „Tyrannei der tion, Zeitschrift für Pädagogik (2009) H. 6, S. 849-859, S. 854. Mehrheit“ zum Ausdruck kommt.

233 SCHWERPUNKT

Differenzverhältnisse Ansätze zur Kritik von Geschlechterordnungen und Impulse für die politische Bildung Astrid Messerschmidt

In der feministischen Theorie und politischen Praxis verworfen (Guitiérrez Rodríguez 1996, S. 169). Wie sind wesentliche Ansätze zum Umgang mit Diffe- Trinh T. Minh-ha sagt, muss der Feminismus seine renz entwickelt worden, die zu einer selbstkriti- eigene Identität in Frage stellen (vgl. Trinh 1995, schen Analyse von Geschlechteridentitäten und S. 33). Das Bild von sich selbst zu ändern, ist eine der zweigeschlechtlichen Gesellschaftsordnung ge- Voraussetzung, um das Bild der ‚Anderen‘, der führt haben. Herrschaftskritische soziale Bewegun- ‚Fremden‘ zu hinterfragen und auf seine Projektio- gen spielen für die Theoriebildung eine bedeuten- nen hin zu untersuchen. Wie werden dabei Rand de Rolle und bieten Anknüpfungspunkte für die und Mitte festgelegt und verschoben? Wenn femi- politische Bildung. Anhand der Konzepte von Dif- nistische Bewegungen zu einer Dezentrierung der ferenz, gender und queer geht der Beitrag den hegemonial-männlichen und zugleich geschlechts- theoretischen Bezugspunkten einer geschlechter- losen wissenschaftlichen Sichtweise geführt haben, reflektierenden Bildungsarbeit nach und setzt sich so sind sie umso mehr herausgefordert, sich selbst mit aktuellen Herausforderungen für die politische zu dezentrieren (vgl. Messerschmidt 2005, S. 56). Bildung im migrationsgesellschaftlichen Kontext „Das frühere ‚Wir‘ ist nicht länger unproblema- auseinander. tisch, und es wird deutlich, dass es von Anfang an nicht so einfach war, das ‚Wir‘ von uns Frauen“ (Meulenbelt 1988, S. 16). Feministische Selbstkritik Feministische Theoriebildung als herrschafts- hat es mit einem fragilen ‚Wir‘ zu tun, das es zu de- kritische Selbstreflexion konstruieren gilt, denn sie geht zurück auf Erfah- rungen ungesicherter Subjektivität. Riskiert wird Wer für Frauenrechte und Gleichheit und für die mit der selbstkritischen Infragestellung eines femi- Sichtbarkeit der Frauengeschichte eingetreten ist, nistischen ‚Wir‘ und seiner Ausblendungen, den konnte sich lange ziem- Status wieder zu verlieren, von dem aus gespro- Die Kategorie ,Frau‘ lich sicher sein, auf der chen werden kann. Und dennoch bildet die Aus- gerät ins Wanken und richtigen Seite zu stehen. einandersetzung mit innerfeministischen Differen- stellt sich als vielfach Auf dieser Seite aber ist zen die einzige Möglichkeit für eine nicht ignorante in sich gebrochene dar, es ungemütlicher gewor- Artikulation im Kontext gesellschaftlicher Ungleich- weil mehrere Heer- den, als nicht mehr nur heitsverhältnisse. schaftsachsen durch die Ungleichheiten zwi- sie hindurch laufen schen den Geschlechtern, Foto: Govert de Roos; Quelle: www.sp.nl/ sondern jene unter den Frauen selbst auf die Tagesordnung der Frauen- und Geschlechterforschung gesetzt worden sind. Die Kategorie ‚Frau‘ gerät ins Wanken und stellt sich als vielfach in sich gebrochene dar, weil mehre- re Herrschaftsachsen durch sie hindurch laufen. Wer argumentiert aus welchem gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Zusammenhang? Wie sind Geschlechter in einem Geflecht von Herrschafts- und Dominanzbeziehungen verortet? Geschlechter- positionen sind als relationale in einem Beziehungs- geflecht unterschiedlicher Identifizierungskatego- rien erkennbar zu machen. Anja Meulenbelt macht deutlich, wie sich bereits der Feminismus der 1980er Jahre verändert und immer mehr durch die Einsicht gekennzeichnet wird, „welche Unterschie- de zwischen Frauen herrschen“ (Meulenbelt 1988, S. 16). Die unhinterfragt universalistisch verstande- ne Kategorie ‚Frau‘ bezeichnet Marie Luise Ange- rer als eine „Meisterinnenerzählung“, die es auf der Folie der Differenz zu kritisieren gilt. Der Fokus verlagert sich vom Begriff ‚Frauen‘ als Anzeichen gemeinsam erfahrener Unterdrückung auf die Dif- ferenz zwischen Frauen und somit auf die „Relatio- nalität geschlechtlicher Positionen“ (Angerer 1995, Die niederländische Autorin und Politikerin Anja S. 25). Damit wird die „ahistorische Kategorie Frau“ Meulenbelt

234 SCHWERPUNKT

Frauen- und Geschlechterforschung haben bis heu- der eigenen Auseinandersetzung offen gelegt und te immer wieder den Gleichheitsgedanken über- zu wesentlichen Elementen feministischer Theorie- prüft und Verhältnisse bildung werden. Geht es doch im Feminismus von Feministische Kritik der Ungleichheit be- Anfang an um den Preis der Gleichheit: Heißt Ge- lässt sich auf Differenz nannt. Dabei sind diese schlechtergleichheit, dass alle Differenzen zum ein, anstatt an einer Ungleichheiten im Ver- Verschwinden gebracht werden, sind wir dann alle Identitätsbestimmung lauf der feministischen männlich? Wer bestimmt überhaupt, was männlich festzuhalten, die alles Theoriedebatte nicht nur oder weiblich ist und ist das Weibliche nur die Ab- ausschließen muss, was zwischen Männern und weichung vom dominanten Männlichen? In dieser sie fragwürdig werden Frauen analysiert wor- Diskussion lassen sich drei Ausrichtungen unter- lässt den, sondern immer scheiden: ein Diskurs der Gleichheit und emanzipa- mehr rückten Differenz- torischen Partizipation, zweitens ein abgrenzender verhältnisse unter Frauen in den Blick. Die feminis- Ansatz, der weibliche tische Diskussion um Differenz hat sich selbstkri- Dem feministischen Differenz positiv besetzt, tisch auf den eigenen Subjektstatus gewendet und Engagement geht es und drittens eine post- die vermeintliche Einheit der Kategorie „Frau“ ge- um die Möglichkeit, feministische Richtung, sprengt. Die Differenzmarkierung dient nicht mehr Differenz in Gleichheit die geschlechtliche Iden- der Kennzeichnung von Geschlechterdualitäten, leben zu können oder titäten radikal in Fra- sondern wird zum Ort der inneren Heterogenität Gleichheit mit Differen- ge stellt (vgl. Becker- der Geschlechter, eine unendliche Bewegung der zen zu realisieren Schmidt/Knapp 2000). Infragestellung geschlechtlicher Identität setzt ein. Annita Kalpaka spricht Durch die Kategorie „Frau“ laufen vielfältige Dif- davon, dass sich aus den Erkenntnissen der Ge- ferenzlinien hindurch, die sexuell, sozial und kul- schlechterforschung Impulse für den Umgang mit turell bedingt sind. Damit lässt sich feministische „Differenzdilemmata“ ergeben, die in jeder diffe- Kritik auf Differenz ein, anstatt an einer Identitäts- renzsensiblen pädagogischen Arbeit auftauchen bestimmung festzuhalten, die alles ausschließen (Kalpaka 2006, S. 293). Zwischen der Vernachlässi- muss, was sie fragwürdig werden lässt. Kritik an gung und Hervorhebung von Differenz, Ignoranz geschlechtlich bedingter Diskriminierung wird da- und Betonung eröffnet sich ein Spannungsfeld, in bei nicht hinfällig, sondern erst in die Lage ver- dem feministische Forschung und Praxis sich be- setzt, wahrzunehmen, wie feministische Politiken wegen. Geht es dem feministischen Engagement und Repräsentationen selbst in diskriminierende doch um die Möglichkeit, Differenz in Gleichheit Strukturen involviert sind. Durch die feministische leben zu können oder Gleichheit mit Differenzen Auseinandersetzung mit eigenen Machtpraktiken zu realisieren. Eine pädagogische Antwort auf das und mit den inneren Differenzierungen der Kate- Differenzdilemma bildet das Konzept einer „Ba- gorie ‚Frau‘ sind Erweiterungen in der Analyse von lance zwischen Dramatisierung und Entdramati- Herrschaft möglich geworden, die weit über die sierung von Differenz“ (ebd.), was im Falle der innerfeministische Diskussion ausstrahlen. „Eine Kri- Geschlechterreflexion auch heißen kann, eine Ba- tik an einem Mittelschichts- und Heterosexualitäts- lance zwischen Thematisierung und Dethematisie- fokus sowie vor allem die Kritik von Schwarzen rung von Geschlecht zu finden. Mit dem Gedanken Feministinnen an einer dominanten weißen Per- der Balance wird aber meines Erachtens die Unru- spektive hat eine Multiperspektivität sowohl auf he, die vom Dilemma ausgeht, allzu schnell besänf- Subjektivitäten wie auf Herrschaftsverhältnisse her- tigt. Mit dem Anspruch, für die soziale Wirksam- vorgebracht“ (Stuve 2008, S. 83). Olaf Stuve be- keit von Differenzen sensibel zu werden, entgeht trachtet die feministische Debatte um die Grenzen eine geschlechterreflektierende Praxis nicht dem der eigenen Perspektiven als analytische Erweite- Problem, mit Kategorien umzugehen, die von rungen in der „subjektorientierten Theorieentwick- Machtunterschieden durchsetzt sind. Kalpaka kenn- lung um strukturelle und historische Dimensionen zeichnet die soziale Relevanz von Differenzen als von Herrschaft“ (ebd.). „Unterschiede, die einen Unterschied machen“ (ebd., S. 294), und dieser Unterschied kann bedeu- ten, weniger Zugang zu Ressourcen zu haben und Geschlechterordnungen und das Dilemma eingeschränkte Möglichkeiten, sich zu artikulieren der Differenz1

Die aktuelle feministische Debatte ringt mit dem 1 Die Formulierung vom ‚Dilemma der Differenz‘ verwendet Verhältnis von Differenz und Gleichheit und zeich- Doron Kiesel bereits 1996 in seiner Kritik der interkulturellen net sich dadurch aus, dass die Schwierigkeiten in Pädagogik (vgl. Kiesel 1996).

235 SCHWERPUNKT

Foto: Marcus Cyron, Quelle: Wikipedia chen. Aus der Geschlechterforschung kommen zwei Konzepte, die das Dilemma im Umgang mit Diffe- renzen reflektieren, weil beide versuchen, Verschie- denheit und Gleichheit in einen Zusammenhang zu bringen. Gender macht Geschlecht als „strukturelle Kategorie“ gesellschaftlich sichtbar (vgl. Rendtorff/ Moser 1999, S. 18) und problematisiert dabei die Ungleichheitsverhältnisse zwischen den Geschlech- tern sowie deren soziale Reproduktion. Queer macht Geschlecht als politische Kategorie sichtbar und problematisiert Machtverhältnisse, die Identitäten zuordnen, anordnen und kontrollieren. Erst durch die Diskussion um die gesellschaftlich vorherrschen- de heteronormative Zweigeschlechtlichkeit ist die Dimension des sexuellen Begehrens und der viel- fältigen Sexualitäten als gelebte Praxen ins Blick- feld der Geschlechterdebatten gerückt (vgl. Jagose 2001). In den Sozial- und Kulturwissenschaften steht queer für eine theoretische Ausrichtung, die jede Identifizierung fragwürdig werden lässt und die Beziehungen zwischen etablierten und marginali- sierten Zugehörigkeiten analysiert, um die darin wirkenden Normalisierungspraktiken sichtbar zu machen.

Durch die Trennung Das mit gender bezeich- Ließ sich mit männlichen Attributen darstellen, um ihre von körperlichem und nete soziale und kultu- Regentschaft über Ägypten zu legitimieren: Hatschepsut, sozialem Geschlecht relle Geschlecht taucht 5. Königin der 18. Dynastie wird beides wieder als Ausdruck eines Un- Statue im Alten Museum Berlin stabilisiert behagens gegenüber fi- xierenden Zuschreibun- und gehört zu werden. Insofern sollte eine ge- gen auf (vgl. Howald 2001, S. 297).2 Und dieses schlechterreflektierende Theorie und Praxis sowohl Unbehagen macht einen Ansatz berühmt, der das für die Wahrnehmung der Differenzen und deren Gegenüber von sex und gender selbst für proble- kritische Reflexion eintreten, wie auch gegen die matisch erklärt, weil durch die Trennung von kör- soziale Ungleichheit der Geschlechter in einer Ge- perlichem und sozialem Geschlecht beides wieder sellschaft agieren, die zweigeschlechtlich organi- stabilisiert werde. Judith Butlers Botschaft, dass siert ist. auch sex gender sei und umgekehrt - also dass das Körperliche auch kulturell und das Kulturelle auch körperlich (weil verkörpert) sei – ist heftig um- Bewegungen um gender und queer kämpft innerhalb feministischer Theoriebildungs- bewegungen, scheint doch dadurch das Subjekt fe- Auf Differenzen aufmerksam zu machen und in ministischer Intervention verloren zu gehen, wenn Bildungsprozessen für eine Sensibilität im Umgang niemand mehr weiß, wer eigentlich wer ist und mit Verschiedenheit einzutreten, erweist sich als wenn an keiner biologischen Materialität mehr fest- ambivalent. Einerseits soll auf Unterschiede einge- zuhalten sein soll (vgl. Butler 1991, S. 22 ff.). Zwi- gangen werden, andererseits besteht die Gefahr, schen Verwerfung und Begeisterung hat diese Sorge Identitäten festzuschrei- um die Entmaterialisierung von sex nach meinem Geschlechtersensible ben. Eine geschlechter- Eindruck die deutschsprachige Debatte mehr be- Bildungsarbeit sollte sensible Bildungsarbeit darauf achten, Ge- sollte deshalb darauf 2 Jenny Howald setzt diesen Prozess mit der Neuen Frauenbe- schlechterpositionen achten, Geschlechterpo- wegung Ende der sechziger Jahre an (vgl. Howald 2001, S. 297). als relationale in einem sitionen als relationale in Allerdings ist nach meiner Einschätzung eine breitere Ausein- sozialen und kulturel- einem sozialen und kul- andersetzung mit der Unterscheidung von sex und gender in len Beziehungsgeflecht turellen Beziehungsge- der deutschsprachigen Diskussion erst in den 1980er Jahren erkennbar zu machen flecht erkennbar zu ma- erfolgt.

236 SCHWERPUNKT

stimmt als der Angriff auf die produktive Macht Mit queer erfolgt eine heterosexuellen Matrix, der Zweigeschlechtlichkeit. Aber gerade dieser Punkt radikale Kritik an der also einer Ordnung, die trifft die Ordnung von gender in ihrem Kern. Homogenisierung von Geschlechterverhältnisse Vielleicht hat es mit dieser Verdrängung zu tun, gender innerhalb einer nur in Beziehungen zwi- dass der kritische Gehalt des Genderbegriffs so zweigeschlechtlich- schen Männern und Frau- schnell verloren gegangen ist. Beispielsweise kriti- heterosexuellen Matrix en repräsentiert. Zudem sieren zahlreiche Wissenschaftler/-innen aus Päda- ist erst durch die Diskus- gogik, Sozialer Arbeit und Soziologie in einem sion um heteronormative Zweigeschlechtlichkeit die „Gender-Manifest“ vom Januar 20063 den affirma- Dimension des sexuellen Begehrens und der viel- tiven Gebrauch des Genderbegriffs, der einfach die fältigen Sexualitäten als gelebte Praxen ins Blick- Bezeichnungen Männer und Frauen ersetzt und in feld der Geschlechterdebatte gerückt. Durch queer zwei Hinsichten problematisch ist: Er bestätigt die kann eine gesellschaftskritische Perspektive eröff- heterosexuell-normative Sicht des Geschlechterver- net werden, wenn die Entstehungsgeschichte von hältnisses als Frauen-Männer-Verhältnis, und er ver- queer auf dem Hintergrund sozialer Kämpfe re- schleiert Geschlechterhierarchien und Spannungen flektiert wird.5 Queer theory ist nicht zu trennen im Verhältnis der Zweigeschlechtlichkeit. Die Un- von sozialen Bewegungen, und queer politics sind terzeichner/-innen des Manifestes kritisieren eine darauf ausgerichtet, Bündnisse nicht auf Identität, Praxis des Gender Mainstreaming in Bildung und sondern auf Solidarität zu gründen (vgl. Jagose Beratung, die zwar eine Aufmerksamkeit für Ge- 2001, S. 12). Queer steht für einen Ausdruck von schlecht einklagt, dabei aber eine zweiwertige Engagement, des Anspruchs, eigenes Begehren le- Gender-Identität reproduziert.4 ben zu können und bezeichnet politische Bündnisse Wie affirmativ wird gender eingesetzt, wenn es zu sexueller Randgruppen (vgl. Jagose 2001, S. 13). einem Aspekt der Modernisierungskontrolle inner- Deutlicher als beim Genderbegriff ist die politische halb betrieblicher Reorganisationsstrategien wird? Grundierung von queer spürbar, was vielleicht da- Gegenüber einer Kontrollstrategie, die mit Gender mit zu tun hat, dass die Akteure der queer-Bewe- zweigeschlechtliche Ordnungen bestätigt, plädiert gungen nicht nur marginalisiert, sondern auch das Manifest für einen paradoxen Umgang, bei skandalisiert sind und nicht nur gegen ihr Ver- dem gender als Analysekategorie gebraucht und schwinden und Vereinnahmtwerden anzutreten als Ordnungskategorie überwunden werden soll. haben, sondern gegen Stigmatisierung und Aus- Die soziale Bewegung, aus der die Diskussion um grenzung bis hin zur Verfolgung. gender kommt, ist eine Bewegung der Kritik, die Einsprüche formuliert gegenüber bestehenden Ge- Insbesondere der letzte Aspekt von Verfolgung schlechterordnungen in der bürgerlichen Gesell- und Gewaltgeschichte kommt in den Blick, wenn schaft. Sie steht wie viele kritische Bewegungen in die Geschichte der Homosexualität im 20. Jahrhun- der Gefahr, genau dieses Moment des Negativen dert betrachtet und der zeitgeschichtliche Kontext zu verlieren und funktional zu werden für das bes- in den Nachwirkungen des Nationalsozialismus sere Funktionieren der bestehenden Ordnungen. wahrgenommen wird. Für die politische Bildung An dieser Stelle der Wiederbelebung von Kritik se- fordert ein queer-theoretischer Ansatz eine zeitge- he ich den Ansatzpunkt von queer. schichtliche Reflexion heraus, die sich auf den poli- Die Interventionen von queer gehen von sozialen tischen Gebrauch der Geschlechterkategorie im Bewegungen aus, die Geschlechterordnungen von Zusammenhang von Bevölkerungspolitik und Na- einem anderen Rand aus angreifen, als es Frauen- tionalismus bezieht. Wenn homosexuelle Männer bewegung und Feminismen getan haben. Mit queer und Frauen als ‚Andere‘ identifiziert werden, ist erfolgt eine radikale Kritik an der Homogenisierung das Ausdruck einer hegemonialen Ordnung von von gender innerhalb einer zweigeschlechtlich- Identitäten, die Heterosexualität normalisiert, in- dem alles davon Abweichende zum ‚Anderen‘ ge- 3 Gender Manifest: Plädoyer für eine kritisch reflektierende macht wird. Aus dieser identitätskritischen Perspek- Praxis in der genderorientierten Bildung und Beratung. Ent- tive rücken Machtverhältnisse in den Blick, so dass standen in Kooperation zwischen dem genderbüro Berlin und dem GenderForum Berlin, Januar 2006. Gender Manifest: 5 Annamaria Jagose rekonstruiert den bewegungsgeschicht- www.gender.de und www.genderforum-berlin.de lichen Hintergrund von queer theory aus drei Quellen sozialer 4 Diese Reproduktion erfolgt auch, wenn auf Evaluationsbö- Kämpfe: der Homophilenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts, gen für Lehrveranstaltungen an Hochschulen die Studierenden der Homo(Befreiungs)Bewegung ab 1969 und des lesbischen gefragt werden, ob „Gender-Gesichtspunkte“ berücksichtigt Feminismus seit den 1960er Jahren (vgl. Jagose 2001, S. 8). Zu- worden sind und ob auf „Geschlechtsunterschiede“ eingegan- dem erhielt die Theoriebildung einen praktischen Impuls durch gen worden ist. den Politisierungsschub von Sexualität in der AIDS-Krise.

237 SCHWERPUNKT

© Ritula Fränkel

Weltbilder und Selbstbilder für die Bildungsarbeit die Aufmerksamkeit darauf Geschlechterverhältnisse in der Migrations- zu richten ist, wie sich Normalisierungspraktiken gesellschaft als Gegenstand der politischen jeweils geschichtlich konkretisiert haben und wo Bildung sie zu Herrschaftspraktiken geworden sind. Eine geschlechterreflektierende Praxis politischer An den bewegungsgeschichtlichen Hintergrund der Bildung hat die Aufgabe, dafür zu sensibilisieren, feministischen Theorie und Praxis kann politische wo Geschlechterzuschreibungen zu Diskriminie- Bildung anknüpfen, wenn sie einer kritischen Ge- rungen führen. Wo wird schlechterkonzeption folgt. Erst durch die Frauen- Eine geschlechter- Geschlecht zum Auf- bewegungen und durch die Homosexuellenbewe- reflektierende Praxis hänger für verachtendes gungen kommt es zu einer gesellschaftskritischen politischer Bildung hat Sprechen, für soziale Aus- Diskussion der Geschlechterkategorie und der Se- die Aufgabe, dafür zu grenzungen und Abwer- xualitäten in Pädagogik und Sozialwissenschaften. sensibilisieren, wo Ge- tungen? Sexistische Dis- Auf diesem Hintergrund wird deutlich, dass es bei schlechterzuschreibun- kriminierungen richten der Reflexion der sozia- gen zu Diskriminierun- sich häufig gegen die- Politische Bildung len Bedeutung von Ge- gen führen jenigen, die nicht in das kommt nicht ohne eine schlecht um einen politi- Normalitätskonzept von Positionierung aus, will schen Gegenstand geht gesellschaftlich akzeptierter Weiblichkeit und Männ- sie Geschlecht als eine im Zusammenhang einer lichkeit passen, insbesondere gegen diejenigen, die gesellschaftliche Kate- demokratisierenden Bil- von hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen ab- gorie in ihrem Selbst- dungsarbeit. Demgegen- weichen. Eine queer-theoretische Perspektive kann verständnis und ihrer über bleiben Ansätze, die die Wahrnehmung dafür schärfen. Zum anderen Praxis verankern sich auf Geschlechterun- hat eine geschlechterreflektierende Praxis politi- terschiede beziehen, in scher Bildung sich damit auseinander zu setzen, Identitätsvorstellungen stecken, die im Verlauf der wie auf Geschlechterverhältnisse Bezug genom- feministischen Theorieentwicklung in Frage gestellt men wird, wenn es darum geht, Selbst- und Fremd- und dekonstruiert worden sind. Politische Bildung bilder zu verfestigen. kommt deshalb nicht ohne eine Positionierung aus,

238 SCHWERPUNKT

will sie Geschlecht als eine gesellschaftliche Kate- einer Sexualisierung im Diskurs um den Islam, wo- gorie in ihrem Selbstverständnis und ihrer Praxis ver- bei die Geschlechterverhältnisse der ‚Anderen‘ ab- ankern. Wie eine solche Positionierung aussehen gewertet und die eigene Situation idealisiert wer- kann, lässt sich anhand der aktuellen Diskussion um den (vgl. ebd., S. 401). Emanzipation wird dabei Geschlechterverhältnisse in der bundesdeutschen nicht mehr an der Ungleichverteilung von Arbeit, Einwanderungsgesellschaft skizzieren. Einkommen und Status bemessen, sondern „am Im Zusammenhang von Migration und Interkultu- Abstand zwischen der westlichen und der muslimi- ralität wird die Geschlechterkategorie zum bevor- schen Frau (ebd., Hervorh. im Original). Die poli- zugten Aufhänger, wenn es darum geht, ein natio- tische Bildung kann zu einer Differenzierung bei- nales Selbstbild aufgeklärter Fortschrittlichkeit zu tragen, wenn sie auf die vernachlässigten struktu- behaupten. Kontrastiert wird diesem emanzipier- rellen Probleme in der Migrationsgesellschaft auf- ten Selbstbild das Fremdbild der muslimischen Frau merksam macht. Ungleiche Zugänge zu Arbeit und als Ausdruck kultureller Rückständigkeit und religi- Ausbildung, rechtliche Einwanderungsbedingun- öser Unterdrückung. Im Kontext der Migrations- gen und die Geschichte der bundesdeutschen Ar- gesellschaft ist politische Bildung auf neue Weise beitsmigration bilden ein Bedingungsgefüge, das zu herausgefordert, sich geschlechterpolitisch zu posi- einer strukturellen Schlechterstellung großer Teile tionieren. Dafür bedarf es allerdings einer Abkehr der Deutsch-Muslime geführt hat. Trotz dieser struk- von einem „orthodoxen Feminismus (…), für den turellen migrationspolitischen Benachteiligung sind das Geschlechterverhältnis die Grundkategorie ist, Muslime in der deutschen Migrationsgesellschaft von der ausgehend sich alle anderen Machtverhält- angekommen und organisieren ihren Alltag hier nisse erklären lassen“ (Rommelspacher 2009, S. 395). auf vielfältige Weise. Um sich mit der aktuellen Als Prototyp für die politischen Instrumenta- Längst hat sich hierzulande ein vielfältiges und un- ,Fremden‘ dient die lisierung von Geschlecht ter keiner gut gemeinten Bindestrich-Identität zu muslimische Frau, die auseinandersetzen zu vereindeutigendes multikulturelles Alltagsleben ent- sich mit islamischen können, sind vielmehr wickelt. Das kulturelle Selbstbild ist mehrheitsge- Attributen ausstattet die Wechselwirkungen sellschaftlich demgegenüber immer noch einem mo- mehrerer Kategorien der Unterscheidung zu beachten. In der bundesdeut- Foto: Rainer Zenz; Quelle: wikipedia schen Einwanderungsgesellschaft wird gegenwär- tig die Unterscheidung von Muslimen und den als ‚abendländisch‘ adressierten Deutschen eingesetzt, um Grenzen der Zugehörigkeit zu markieren.6 Als Prototyp für die ‚Fremden‘ dient dabei die muslimi- sche Frau, die sich mit islamischen Attributen aus- stattet. Sie gilt als defizitär, unemanzipiert und rück- ständig, insbesondere dann, wenn sie das ‚Kopftuch‘ trägt. Als orientalisierte Andere symbolisiert sie das, was westliche Frauen und die westliche Gesellschaft hinter sich gelassen zu haben glauben. Sie kann als Kontrastfolie eingesetzt werden für ein Selbstbild emanzipierter Fortschrittlichkeit. In letzter Zeit wer- den ungerechte oder gewalttätige Verhältnisse zwi- schen den Geschlechtern kaum noch hinsichtlich der weißen deutschen Gesellschaft diskutiert, son- dern in erster Linie auf die muslimische Minderheit projiziert. Familienmacht, Ehe, sexuelle Gewalt er- scheinen als Probleme der Muslime. Es kommt zu

6 Neuerdings wird vermehrt die kulturelle Selbstbezeichnung vom „christlich-jüdischen Abendland“ verwendet. Das Jüdische wird dabei en passant vereinnahmt, ohne wirklich gemeint zu sein. Salomon Korn sieht die rhetorische Funktion dieser Bezeich- nung in der Abgrenzung gegenüber den „neuen Fremden“, eine Deutsch-türkische Fahne, gesehen im Sommer 2006 Allianz solle gebildet werden, die sich insbesondere gegen während der Fußballweltmeisterschaft in Berlin-Neu- Muslime richtet (in: Süddeutsche Zeitung vom 17. Februar 2010). kölln

239 SCHWERPUNKT

nokulturellen Identitätskonzept verhaftet, während cher Tendenzen dient die Geschlechterkategorie beispielsweise im Integrations- und Diversitätskon- dieser Ignoranz. Auf diesem Hintergrund hat eine zept der Stadt Frankfurt am Main von „Superviel- geschlechterreflektierende politische Bildung sich falt“ die Rede ist.7 Statt Parallelgesellschaften ent- heute mit den strukturellen Bedingungen von steht eine von vielen Differenzen durchzogene Selbst- und Fremdbildern auseinander zu setzen Gesellschaft der „Interkultur“ (Terkessidis 2010), die und zu reflektieren, wie feministische Emanzipa- weder auf Harmonie noch auf Integration ange- tionsdiskurse für antimuslimische Stereotype be- wiesen ist. Demgegenüber ist der pädagogische Dis- nutzt werden. Sie befindet sich in einem Geflecht kurs um Migration hierzulande immer noch viel zu von Instrumentalisierungen, die selbst zum Gegen- sehr von Integrationsvorstellungen besetzt. Der In- stand der Bildungsarbeit werden sollten. tegrationsdiskurs verlangt ein Bekenntnis zu ein- deutiger Zugehörigkeit und drückt zugleich die Nichtzugehörigkeit aus, indem er Eingewanderte pauschal unter Verdacht stellt.8 Behauptet wird die Literatur Differenz zwischen Mehrheitsdeutschen und mi- grantischen Minderhei- Marie Luise Angerer: The Body of Gender: Körper. Die migrationsgesell- ten und beansprucht Geschlechter. Identitäten, in: dies. (Hrsg.): The Body schaftlichen Zugehörig- wird gleichzeitig, diese of Gender: Körper/Geschlechter/Identitäten, Wien keiten werden igno- aufzuheben. Obwohl da- 1995, S. 17-34 riert, wenn die in sich bei immer nur von den heterogene muslimi- ‚Migranten‘ gesprochen Regina Becker-Schmidt/Gudrun Axeli-Knapp: Femi- sche Minderheit in wird, enthält dieser Dis- nistische Theorien zur Einführung, Hamburg 2000 Deutschland unter dem kurs implizite Behaup- Gesichtspunkt der Reli- tungen über die autoch- Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, gion fremd gemacht thone Gesellschaft, die Frankfurt/Main 1991 wird sich darin als eine in sich homogene Ordnung ge- Encarnación Gutiérrez Rodríguez: Frau ist nicht sicherter Überzeugungen und Übereinstimmungen gleich Frau, nicht gleich Frau… Über die Notwen- repräsentiert, doch mit der Integrationsforderung digkeit einer kritischen Dekonstruktion in der fe- zugleich ausdrückt, dass das national homogenisier- ministischen Forschung, in: Ute-Luise Fischer et al te ‚Wir‘ nicht aufrechtzuerhalten ist. Gegenüber (Hrsg.): Kategorie Geschlecht? Empirische Analysen den Muslimen wird dieses Wir kulturell und religi- und feministische Theorien, Opladen 1996, S. 163- ös besetzt, während Muslime als ‚fremd‘ adressiert 190 werden. Die migrationsgesellschaftlichen Zugehö- rigkeiten werden ignoriert, wenn die in sich hetero- Jenny Howald: Ein Mädchen ist ein Mädchen ist gene muslimische Minderheit in Deutschland unter kein Mädchen? Mögliche Bedeutungen von „Queer dem Gesichtspunkt der Religion fremd gemacht wird. Theory“ für die feministische Mädchenbildungsar- Im Zusammenhang islamfeindlicher gesellschaftli- beit, in: Bettina Fritzsche/Jutta Hartmann/Andrea Schmidt/Anja Tervooren (Hrsg.): Dekonstruktive Pä- 7 Die Bezeichnung ‚Supervielfalt‘ steht für eine zunehmende dagogik. Erziehungswissenschaftliche Debatten un- Vielfalt von Herkunftsländern und Migrationspfaden und ter poststrukturalistischen Perspektiven, Opladen wachsende Verschiedenheiten im Rechtsstatus und den sozialen 2001, S. 295-309 Lagen, insbesondere in Großstädten. Vgl. dazu: Regina Römhild und Steven Vertovec, „Frankfurt vernetzt“. Vernetzungs- und Annamaria Jagose: Queer Theory. Eine Einführung, Vielfaltspolitik in Frankfurt am Main, in: Vielfalt bewegt Frank- Berlin 2001 furt. Entwurf eines Integrations- und Diversitätskonzepts für die Stadt Frankfurt am Main, Arbeitspapier des Dezernats für Annita Kalpaka: „Hier wird Deutsch gesprochen“ – Integration, September 2009, S. 37 ff. Unterschiede, die einen Unterschied machen, in: 8 „Der Begriff Integration ist nach über 30 Jahren wieder in Gabi Elverich/Annita Kalpaka/Karin Reindlmeier Mode. Sehr sinnvoll ist das nicht. Denn in Deutschland verber- (Hrsg.): Spurensicherung. Reflexion von Bildungs- gen sich hinter diesem Wort allerlei unausgesprochene Vorstel- arbeit in der Einwanderungsgesellschaft, Frank- lungen darüber, was ‚Deutschsein‘ bedeutet, wie Leute sich bei furt/M./London 2006, S. 263-297 ‚uns’ benehmen müssen und was sie nicht tun sollten, wer die richtigen Voraussetzungen hat und wer Defizite, für wen die Doron Kiesel: Das Dilemma der Differenz. Zur Kri- Institutionen gemacht sind und wer da eigentlich nur Gast ist“ tik des Kulturalismus in der interkulturellen Päda- (vgl. Terkessidis 2010, S. 7). gogik, Frankfurt/M. 1996

240 SCHWERPUNKT

Astrid Messerschmidt: Randbewegungen – postko- was hat Bingo mit Intersektionalität zu tun, und loniale Lernprozesse in der Frauen- und Geschlech- warum trägt das Thema Zwangsheirat zum besse- terforschung, in: thema forschung: Fokus Geschlecht, ren Verständnis von TeilnehmerInnenorientierung Technische Universität Darmstadt, Heft 2/2005, bei? in: Malwine Seemann (Hrsg.): Ethnische Diver- S. 55-57 sitäten, Gender und Schule. Geschlechterverhält- nisse in Theorie und schulischer Praxis, Oldenburg Anja Meulenbelt: Scheidelinien. Über Sexismus, Ras- 2008, S. 75-93 sismus, Klassismus, Reinbek bei Hamburg 1988 Mark Terkessidis: Interkultur, Frankfurt/M. 2010 Barbara Rendtorff/Vera Moser: Geschlecht als Ka- tegorie – soziale, strukturelle und historische Aspek- Trinh T. Minh-ha: Texte – Filme – Gespräche, Mün- te, in: dies. (Hrsg.): Geschlecht und Geschlechter- chen/Wien 1995 verhältnisse in der Erziehungswissenschaft. Eine Einführung, Opladen 1999, S. 11-68 Prof. Dr. Astrid Messerschmidt lehrt interkul- Birgit Rommelspacher: Feminismus und kulturelle turelle Pädagogik an der Pädagogischen Dominanz. Kontroversen um die Emanzipation der Hochschule . Lehr- und Forschungs- muslimischen Frau, in: Sabine Berghahn/Petra Ro- schwerpunkte: Bildungsprozesse in der stock (Hrsg.): Der Stoff, aus dem Konflikte sind. De- Migrationsgesellschaft, Zeitgeschichtliche batten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich Erinnerungsarbeit, Kritische Bildungstheorie. und der Schweiz, Bielefeld 2009, S. 395-411 Anschrift: Pädagogische Hochschule Karls- ruhe, Bismarckstraße 10, 76133 Karlsruhe Olaf Stuve: Über die Berücksichtigung von Unter- schiedlichkeit und Herrschaft in der Bildung. Oder – E-Mail: [email protected]

241 SCHWERPUNKT

Zur Aktualität Kurt Löwensteins für die politische Jugendbildung Thomas Gill

Bei der Lektüre der einschlägigen Werke zur politi- der der 1924 gegründeten Reichsarbeitsgemein- schen Bildung in Deutschland fällt auf, dass diese schaft der Kinderfreunde mit pädagogischen Fra- in aller Regel den Beginn der Tradition insbesonde- gen auseinandergesetzt. Die Erfolgsgeschichte der re der politischen Jugendbildung mit der Re-Edu- Kinderfreunde ist legendär. Nach den von den Kin- cation der fünfziger Jahre ansetzen. Dies ist auf die derfreunden selbst 1932 veröffentlichten Zahlen Breite gesehen ohne Zweifel richtig, blendet aber hat die Organisation zur Anfangszeit 1923 ganze aus, dass es bereits eine durchaus vielfältige Tradi- 54 Ortsgruppen. Im Jahr 1932 sind es 1.100, in de- tion der politischen Jugendbildung in der Weimarer nen sich rund 200.000 Kinder, Helfer und Eltern or- Republik – insbesondere auch im Umfeld der sozi- ganisieren.2 Sie sind damit die größte Kinderbewe- aldemokratischen Arbeiterbewegung – gab. Der gung weltweit. sozialdemokratische Bildungs- und Kulturpolitiker Kurt Löwenstein, Abgeordneter des Deutschen Reichstags von 1920 bis 1933, und die ganz wesent- Kurt Löwenstein wird 1885 in lich von ihm geprägte sozialdemokratische Kinder- eine jüdische Kaufmannsfamilie organisation der „Reichsarbeitsgemeinschaft der im Niedersächsischen Bleckede Kinderfreunde“ sind Vertreter dieser Tradition. Sein geboren. Ein Stipendium ermög- 70ster Todestag am 8. Mai 2009 war Anlass für die licht ihm den Besuch einer wei- nach ihm benannte Jugendbildungsstätte in Wer- terführenden Schule. Er tritt in neuchen, über Anknüpfungspunkte an seine Päda- ein orthodoxes Rabbinerseminar gogik für die heutige Theorie und Praxis der politi- ein. Zunehmende Zweifel veran- schen Jugendbildung nachzudenken. lassen ihn zum Austritt nicht nur aus dieser Institution, sondern

Archiv der Arbeiterjugendbewegung auch aus seiner Religionsge- Wer war Kurt Löwenstein? © meinschaft. Löwenstein wird Kurt Löwenstein 1935 im Exil Freidenker. Löwenstein gehört zum Kreis der sozialdemokrati- schen Linken um den deutschen Reichstagsabge- Er studiert Pädagogik und schließt 1910 seine Doktorarbeit ab. ordneten Paul Levi und den österreichischen Uni- Zu Beginn des ersten Weltkriegs gehört Löwenstein zu den we- versitätsprofessor Max Adler, die im Anschluss an nigen, die die allgemeine Kriegsbegeisterung nicht teilen. Er Rosa Luxemburg deren theoretische Reflexionen meldet sich als Sanitäter beim Roten Kreuz, um keine Waffe tra- zum Verhältnis von Revolution, Demokratie und gen zu müssen, und erfährt so das ganze Ausmaß des Kriegs- Sozialismus auf die Bedingungen der parlamenta- elends unmittelbar. rischen Republik beziehen. Zentrale Schlussfolge- rung ist die Erkenntnis, dass im Falle einer revolu- Er kommt als Mitglied eines Soldatenrats aus dem Krieg zurück tionären Situation, so wie sie 1918 bestand, die und wird sofort politisch aktiv. Er wird Mitglied der USPD, und Menschen dazu in der Lage sein müssen, diese als deren führender Bildungspolitiker arbeitet er das Schulpro- Chance zur Veränderung zu nutzen und die neuen gramm von 1919 mit aus. Löwenstein und der USPD war es Möglichkeiten auszugestalten. Dies führt zu einem wichtig, grundlegend mit dem alten obrigkeitsstaatlichen Bil- spezifischen Verständnis von Politik, das Organisa- dungswesen zu brechen und die Produktion von Untertanen tion, Aufklärung und politischen Kampf nicht als und die frühzeitige Selektion der Kinder nach dem Einkommen separate Elemente, sondern als aufeinander bezo- ihrer Eltern ein- für allemal abzuschaffen. gene Ausdrucks- und Gestaltungsformen desselben Prozesses begreift. Nur so kann im Prozess der Ge- Doch Löwenstein muss erfahren, dass die Mehrheitssozialdemo- sellschaftsveränderung sichergestellt werden, dass kratie – auch in der Bildungspolitik – den Kompromiss mit den die Menschen selbst, „die proletarische Masse“, bürgerlichen und katholischen Kräften sucht. Die weltlichen nicht zum Objekt anderer, „einer Avantgarde“ wer- Gemeinschaftsschulen bleiben auch während der Weimarer Re- den, sondern Gesellschaftsveränderung zugleich – publik insgesamt die Ausnahme, ein Reichsschulgesetz wird nie modern gesprochen – als Lernprozess organisiert verabschiedet. ist.1 Dies hat Konsequenzen für das spezifische Konzept „politischer Bildung“ Löwensteins. Wie schnell die Durchsetzungsfähigkeit der sozialdemokrati- schen Parteien in der neu geschaffenen Republik schwindet, Neben seinem Engagement als Bildungspolitiker hat sich Löwenstein vor allem als erster Vorsitzen- 2 Wie das Leben lernen…, Kurt Löwensteins Entwurf einer so- 1 Jörn Schütrumpf: Unabgegoltenes. Politikverständnis bei zialistischen Erziehung, Beiträge und Dokumente, Berlin 1985, Paul Levi, in: Utopie kreativ, Heft 150, 2003. S. 75.

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wird für Löwenstein unmittelbar spürbar, als seine Wahl zum Wie viele andere in der menschenverachtenden Sprache der Na- Oberstadtschulrat von Berlin am Protest der konservativen tionalsozialisten „rote Juden“ war auch Kurt Löwenstein den Interessenverbände und am preußischen Oberpräsidenten der Nationalsozialisten besonders verhasst. Am frühen Morgen des Provinz Berlin-Brandenburg scheitert. 27. Februar 1933 dringen SA-Leute in die Wohnung der Löwen- steins ein, verwüsten sie und schießen mehrfach durch die ver- Löwenstein übernimmt in der Folgezeit zahlreiche Ämter und schlossene Schlafzimmertür. Löwenstein flieht unmittelbar da- Mandate, die er bis zum Ende der Weimarer Republik innehat: nach über Prag und das internationale Falkenlager in Ostende Er ist Reichstagsabgeordneter, Vorsitzender der Arbeitsgemein- in Belgien nach Paris. Dort baut er in den folgenden Jahren die schaft sozialdemokratischer Lehrer und Lehrerinnen Deutsch- Internationale Falken-Bewegung IFM-SEI weiter mit aus und ar- lands, Vorstandsmitglied des Sozialistischen Kulturbundes, Mit- beitet bei der Exilvereinigung sozialdemokratischer Lehrer mit. glied des Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit Er muss erleben, wie in den folgenden Jahren erst die österrei- beim Parteivorstand der SPD und Volksbildungsstadtrat in Ber- chische und dann die sudetendeutsche Falkenorganisation zer- lin-Neukölln, wo unter seiner Ägide eine ganze Reihe von schlagen werden. Am 8. Mai 1939 stirbt Kurt Löwenstein. „Sein Schulreformen durchgeführt wird. Sein größtes Engagement Herz hielt die Enttäuschungen nicht mehr aus“, so sah es sein gilt der 1924 gegründeten Reichsarbeitsgemeinschaft der Kin- Sohn Dyno. Am 10. Mai wird seine Asche unter Anteilnahme derfreunde, deren erster Vorsitzender er ist. Tausender auf dem Friedhof Père La Chaise in Paris beigesetzt. Wenige Monate später bricht der Zweite Weltkrieg aus.

Herzstück der Kinderfreunde sind die drei- bis Mit dem Konzept der Kinderrepubliken als Groß- viermal wöchentlich stattfindenden Kindergruppen, zeltlager findet diese Pädagogik nach der Kinder- aufgeteilt in drei Altersbereiche von 6 bis 16 Jahren. republik in Seekamp 1927 eine adäquate Ergän- Hier geht es den Kinderfreunden um zweierlei: zung und verlagert die Demokratieerziehung von einerseits sollen die Kinder Betreuung, Unterstüt- der Gruppen- und Ortsgruppengestaltung auf die zung und Förderung jenseits der Alltagserfahrun- größere Ebene einer – quasi für vier Wochen ent- gen von Arbeiterkindern in der Weimarer Republik stehenden – Kleinstadt auf der grünen Wiese. Dass erhalten. Dazu gehörten nicht nur die Benachteili- dies zunächst vor allem auf Formen des Parlamen- gung in Schule und Öffentlichkeit, Wohnungsnot, tarismus zurückgreift mit Wahlkampf etc., wird schlechte Ernährung und fehlende Anregung, son- von Löwenstein selbst als aktuell erreichter Stand dern auch der Mangel an Unterstützung, Achtung der Entwicklung gesehen. Bei der Einschätzung der und Zuneigung in der eigenen Familie. Anderer- parlamentarischen Verfahren in den Kinderrepu- seits ist damit auch die politische Zielsetzung ver- bliken darf allerdings nicht vergessen werden, dass bunden, dass die Kinder und Jugendlichen erfah- Arbeiter keine zwanzig Jahre zuvor im Kaiserreich ren, was es heißt, Mitbestimmung, Demokratie und zwar Abgeordnete werden konnten, aber weder Selbstbestimmung zu leben und die eigenen Ange- Minister noch Regierungschef, ja selbst nicht ein- legenheiten in der Gruppe gemeinsam zu regeln. mal Landrat, Bürgermeister oder irgendein ande- res Amt der Exekutive über- nehmen konnten – und hier sind Arbeiterkinder bei der Leitung eines Zeltlagers mit über 2.000 Teilnehmenden beteiligt und entscheiden über ihre gemeinsamen Ge- schicke.

Besonderen Angriffen wa- ren die Kinderfreunde we- gen ihrer Gemeinschaftser- ziehung von Jungen und Mädchen ausgesetzt, die „gemeinsame Erziehung beider Geschlechter durch beide Geschlechter“ wie es damals hieß, war in der © Archiv der Arbeiterjugendbewegung Weimarer Republik für die Kurt Löwenstein bei einer Tagung der Kinderfreunde starken reaktionären Kräf-

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Besonderen Angriffen te und auch für die mehr darauf, die Kinder zu befähigen, selbst ihre waren die Kinderfreunde katholische Kirche ei- Interessen zu erkennen, zu artikulieren und gemein- wegen ihrer Gemein- ne ungeheure Provo- sam zu vertreten sowie gleichzeitig ihre Angele- schaftserziehung von kation. genheiten selbstbestimmt und in demokratischen Jungen und Mädchen Prozessen aushandeln zu können. Eine entschei- ausgesetzt Die Kinderfreunde dende Rolle kommt dabei den nur wenig älteren entfalten auch eine Gruppenhelferinnen und -helfern zu, die einen für enorme Wirkung als laienpädagogische Bewegung; die damalige Zeit gerade für Arbeiterkinder völlig über 10.000 Helferinnen und Helfer und über neuen Typus des Pädagogen repräsentieren. 70.000 Eltern werden erreicht. Das ist auch ein ganz wichtiger Beitrag zur deutlichen Verbesserung der Die heutige politische Jugendbildung kann an Lö- Situation der Kinder in ihrem familiären Alltag. wensteins Konzept in zwei Punkten anknüpfen: Zum einen nicht die rund 20 % Jugendlichen zu vergessen, die sich – wenn auch unter anderen heu- Zur Aktualität Kurt Löwensteins tigen Rahmenbedingungen – in ähnlich schwierigen Lebenssituationen befinden wie Proletarierkinder Löwenstein hat keine ausgearbeitete Theorie poli- in der Weimarer Republik. Zum zweiten bei ihren tischer Bildung formuliert; weder die damaligen Angeboten für diese Zielgruppe die Erweiterung Umstände noch der Stand der Fachdiskussion er- der Handlungsfähigkeit der Teilnehmenden nicht möglichten dies. Seine Reflexionen und Ausführun- aus dem Blick zu verlieren, worunter deutlich mehr gen regen allerdings auch heutige Debatten über zu verstehen ist als die Vermittlung bestimmter, politische Jugendbildung an. Im Folgenden soll nicht von den Teilnehmenden selbst festgelegten dies anhand von fünf Themenkomplexen näher Kompetenzen. ausgeführt werden, um die Relevanz für die heuti- ge Praxis politischer Bildung zu verdeutlichen. Löwensteins Auseinandersetzung mit der Lebenssi- Internationale Solidarität tuation proletarischer Kinder, sein Verständnis von Nach der für die Zeitgenossen prägenden Erfah- internationaler Solidarität, seine Bildungspolitik in rung des Ersten Weltkrieges sah Löwenstein eine Berlin-Neukölln, seine Vorstellungen zur Demokra- wesentliche Aufgabe darin, die Tradition des Anti- tisierung der Gesellschaft und sein Begriff der Anti- militarismus der sozialdemokratischen Jugendbe- zipation weisen auch heute noch über den Zeit- wegung fortzuführen, indem er versuchte, durch kontext der Weimarer Republik hinaus. konkrete Praxis den Begriff der internationalen So- lidarität mit Leben zu füllen. Zum einen geschah dies in seit Ende der zwanziger Jahre bis kurz vor Zur Lebenssituation „proletarischer“ Kinder dem Zweiten Weltkrieg durchgeführten, internatio- Ausgangspunkt für Löwensteins pädagogische und nalen Kinderzeltlagern – bildungspolitische Überlegungen ist die sehr grund- Löwenstein versuchte, meist mit mehreren hun- legende Analyse nicht nur der materiellen Lebens- durch konkrete Praxis dert Teilnehmenden. Ne- situation, sondern vor den Begriff der interna- ben der internationalen Arbeiterkinder erfahren allem auch ihrer psycho- tionalen Solidarität mit Begegnung sollten die nicht nur in allen gesell- logischen Folgen. Wel- Leben zu füllen Teilnehmenden gemein- schaftlichen Bereichen che Auswirkungen ha- sam ihren Zeltlagerall- Diskriminierung und ben die Erfahrungen von tag gestalten und so ein Gespür dafür bekommen, Demütigung, sondern Armut und Ausgrenzung was Zusammenarbeit über Grenzen hinweg auch auch in ihren Familien für die betroffenen Kin- im großen Rahmen bedeuten kann. Diese Tradition der und Jugendlichen? internationaler Festivals und Camps wurde auch Welche Prozesse der primären Sozialisation finden nach dem Zweiten Weltkrieg von den sozialdemo- in den Familien der Arbeiterkinder statt? Seine Er- kratischen Kinder- und Jugendorganisationen gebnisse sind ernüchternd: Arbeiterkinder erfah- weitergeführt und hat das Konzept der internatio- ren nicht nur in allen gesellschaftlichen Bereichen nalen Seminare der Jugendbildungsstätte Kurt Lö- Diskriminierung und Demütigung, sondern auch in wenstein geprägt. den Familien selbst, durch ihre eigenen Eltern. Lö- wensteins Antwort auf diese Mehrfachbenachteili- Interkulturelles Lernen im Rahmen der Begegnun- gung ist nicht der Vorschlag für ein System der Für- gen und antirassistische Pädagogik sind ein Gestal- sorge, das die Entmündigung nur noch verschärfen tungsprinzip. Die Erfahrung von Selbstorganisation würde. Die Pädagogik der Kinderfreunde zielt viel- und Partizipation, die Durchführung von Veranstal-

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Bildung Als Dezernent für Volksbil- dungswesen in Berlin-Neu- kölln bekommt Löwenstein ab 1921 in der Lokalpolitik die Chance, Teile seiner bil- dungspolitischen Vorstel- lungen zu realisieren. Eine seiner ersten Maßnahmen ist die Schaffung von so ge- nannten „Arbeiter-Abitu- rientenkursen“, 1923 das erste Modell des 2. Bildungs- wegs, das junge Arbeiter und Arbeiterinnen im Alter von 18 – 30 Jahren inner- halb von drei Jahren zur Hochschulreife führen soll. © Archiv der Arbeiterjugendbewegung Internationale Kinderrepublik 1932 in Draveil Ab 1927 baut er gemein- sam mit dem entschiedenen tungen mit bis zu 150 Teilnehmenden aus über 20 Schulreformer Fritz Karsen das erste deutsche Ge- Ländern, die Verbundenheit über gemeinsame ge- samtschulprojekt auf, das 1930 den Namen „Karl- sellschaftspolitische Ziele und eine gemeinsame Marx-Schule“ erhält. Organisatorisch einer Inte- Praxis über die Seminare hinaus sind weitere wich- grierten Gesamtschule tige Aspekte. Die Behandlung von Themen wie zum Es ging um nicht weni- ähnlich geht das inhalt- Beispiel internationale Konflikte erhält durch die ger als um die Begrün- liche curriculare Kon- Beteiligung junger Menschen aus den Nachfolge- dung einer Schule, die zept weit über diese staaten Jugoslawiens, aus Israel und Palästina, aus sich an den Erfordernis- hinaus. Es ging um nicht dem Kaukasus und aus Zypern ihre besondere Re- sen einer „werdenden“ weniger als um die Be- levanz und ist damit auch aktiver Bestandteil inter- Gesellschaft orientiert gründung einer Schule, nationaler Friedenspolitik. die sich nicht mehr an den Erfordernissen der bestehenden, sondern an Löwenstein war es wichtig, Verständigung und denen einer kommenden – oder wie Löwenstein es Austausch dauerhaft zu etablieren. Aus diesem ausdrückt „werdenden“ – Gesellschaft orientiert. Grund hat er den Aufbau internationaler Struktu- Ziel ist die Schaffung von Produktionsgemeinschaf- ren, das „International Falcon Movement“ mit gro- ten von Schülern/Schülerinnen und Lehrern/Lehre- ßem, persönlichem Einsatz vorangetrieben. Für die rinnen, die gemeinsam die inhaltliche Gestaltung Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein stellte sich des Lernens planen, umsetzen und kontrollieren. ab Mitte der 90er Jahre eine ähnliche Frage, näm- Hier noch von Unterricht zu sprechen, trifft zumin- lich wie sie den Aufbau von Strukturen sozialde- dest in Bezug auf Löwensteins Ideal der Schule mokratisch-sozialistischer Kinder- und Jugendorga- nicht mehr den Kern der Sache. nisationen in Osteuropa unterstützen kann. Die Beteiligung an internationalen Seminaren sollte Löwensteins Erfahrungen aus dem außerschulischen für die Organisationen ein Lernfeld bieten, um mit pädagogischen Bereich, sein spezifisches Politikver- der eigenen Praxis der Kinder- und Jugendarbeit ständnis und sein Begriff von Bildung führten zu an die Tradition demokratisch-sozialistischer Päda- einem Konzept der Schulgemeinschaft, das weit gogik anschließen zu können. Heute verfügt die über das hinausgeht, was heute als Reformschule Bildungsstätte über ein Netzwerk von über 40 Part- diskutiert wird. Es ging Löwenstein dabei jedoch nerorganisationen in nahezu allen Ländern Euro- nicht um eine einzelne Reformschule, sondern um pas und Israel/Palästina, die nicht nur aus dem so- die Gestaltung des Schulwesens im Bezirk Berlin- zialdemokratischen Spektrum kommen, sondern Neukölln, der damals knapp eine Million Einwoh- zum Teil auch Selbstorganisationen nicht-heterose- ner/-innen hatte. Das heute mit viel Mühe zu xueller junger Menschen in ihren Ländern sind, die implementierende Projekt der kommunalen Bil- sich regelmäßig an dem internationalen LBGT-Se- dungslandschaft war in Berlin-Neukölln unter Lö- minar „Queer Easter“ beteiligen. wensteins Ägide weit fortgeschritten.

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Der Impuls, der aus dem außerschulischen Bereich bestimmung der Kinder zu fragen, war der grund- der Pädagogik in das Reformprojekt Neuköllns ein- legende Gedanke der Pädagogik der Kinderfreun- ging, ist ein wichtiger Hinweis für die außerschuli- de. Die Proletarierkinder sollten von erniedrigten, sche politische Bildung als Kooperationspartner verachteten Wesen zu selbstbewussten, mündigen von Schule heute. Ihre Aufgabe wäre es demnach Akteuren werden, die ihre eigenen Geschicke soli- vor allem, notwendige Anregungen zur Erweite- darisch und frei selbst entscheiden. rung des Verständnisses von Bildung zu geben, um einen Prozess in Gang zu bringen, der nicht nur auf Löwensteins Vorstellungen gehen über pädagogi- der methodischen und organisatorischen Ebene, sche Fragen hinaus. Seine Analyse der gesellschaft- sondern vor allem didaktisch die Schule über das lichen Entwicklungen verweist aber noch auf ein hinausführt, was sie heute ist. relativ mechanistisches Theoriemodell. So fasst er in einem Artikel für das Handbuch der Pädagogik von Nohl/Pallat 1929 prägnant zusammen: „Die Demokratisierung starke Integration der Bedürfnisbefriedigung der Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass das ehemali- Gesellschaft muss sich organisatorisch als Demo- ge Gruppenkind und der spätere Helfer der Kin- kratisierung auswirken. Wenn die wirtschaftliche derfreunde, , in seiner ersten Regie- Produktion Gemeinschaftscharakter trägt und die rungserklärung als Kanzler das Motto „mehr einzelnen Menschen in diesem hohen Maße ab- Demokratie wagen" in den Mittelpunkt seiner Po- hängig macht, dann ist die natürliche Folge, litik stellte. dass die Tendenz der Gesellschaft dahin gehen muss, diese Produktion für die Gemeinschaft zu ei- Mehr Demokratie wa- Mehr Demokratie wagen ner Produktion, die durch die Gemeinschaft regu- gen im pädagogischen im pädagogischen Pro- liert wird, zu machen.“ (…) „Wenn aber so Wirt- Prozess war der grund- zess, die Macht der Hel- schaft und Gesellschaft Demokratisierung fordern, legende Gedanke der fer/-innen immer wieder dann ist es Aufgabe der Erziehung, die heranwach- Pädagogik der Kinder- in Frage zu stellen und senden Menschen auf diese Forderung vorzube- freunde nach Chancen der Selbst- reiten.“3 Der Erwartung, dass aus ökonomischen Entwicklungen gesellschaftliche Veränderungen re- © Archiv der Arbeiterjugendbewegung sultieren, kann heute niemand mehr folgen. Ge- sellschaftliche Verhältnisse sind das Ergebnis von zähem Ringen in politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, und jede gerade erreichte Position ist immer wieder gefährdet, zurückge- drängt zu werden.

Demokratie ist für Die Forderung nach De- Löwenstein mehr als mokratisierung macht eine Herrschaftsform deutlich, dass Demokra- tie für Löwenstein mehr ist als eine Herrschaftsform. Als Lebensform stellt Demokratisierung die Potentiale der Selbstbestim- mung und der individuellen Freiheit in den Mittel- punkt eines Handelns, das Gesellschaft grundlegend verändern soll. Die Forderung nach Demokratie – hier und jetzt – verweist auch auf einen anderen Politikbegriff. Politik wird auf die unmittelbaren Lebenszusammenhänge und Interessen der Men- schen bezogen. Sie findet zwar auch in den politi- schen Institutionen statt, genauso wichtig ist aber der unmittelbare Bezug zum Alltagsleben. Damit wird der Befreiungsgehalt reformerischer Politik unmittelbar überprüfbar. Um im Bild zu bleiben:

3 Löwenstein: Die Kinderfreundebewegung, in: Nohl/Pallat (Hg.): Handbuch der Pädagogik, Bd. 5 Sozialpädagogik, Internationale Kinderrepublik in Draveil 1932 Langensalza 1929, Hervorhebungen T.G.

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Politik findet nicht mehr im Hinterzimmer, sondern der bitteren Erfahrung des Ersten Weltkrieges – ei- am Küchentisch und an der Werkbank statt. ne der wichtigsten Aufgaben der Kinderfreunde. Er ergänzt so gewissermaßen das mechanistische Für Angebote der politischen Bildung bedeutet Weltbild der Vorkriegssozialdemokratie um die dieser Anspruch einerseits, dass die Frage der Parti- Komponente des subjektiven Faktors. zipation und Interessenvertretung bei allen behan- delten politischen Themen elementarer Bestandteil Antizipation ist keine Utopie, kein „Nicht-Ort“, ist. Wie können die Betroffenen ihre eigenen An- sondern sie bezieht ihre Zielperspektive aus der gelegenheiten selbst in die Hand nehmen? Welche Kritik des Bestehenden, ist „bestimmte Negation“. Fähigkeiten und welches Wissen müssen sie sich „Ihr Nein kommt nicht von außen, sondern hat sei- aneignen, um in Zukunft besser ihre Interessen ver- nen Standpunkt im Verneint“5, wie der Berliner treten zu können? Zugleich ist es auch eine Frage Philosoph Wolfgang Fritz Haug formuliert hat. Sie an die Gestaltung der Angebote politischer Bil- wendet sich folglich nicht von der gesellschaft- dung: Wie können die Teilnehmenden in dem Pro- lichen Wirklichkeit ab, ist keine Inselpädagogik, zess der Seminargestaltung – von der Begrüßung sondern ist „vor“gelebte Negation der bestehen- bis zur Auswertung – Mitbestimmung und Selbst- den Verhältnisse und weist somit zugleich über bestimmung erfahren? Was können wir anbieten, diese hinaus. um dies abzusichern – von dem gemeinsamen Aus- handlungsprozess über Seminarthemen und Schwer- Antizipation, die Erfahrung, dass menschliches Zu- punkte bis zum Delegationsrat und der selbst orga- sammenleben auch anders gestaltet werden kann, nisierten Freizeitgestaltung der Teilnehmenden?

Antizipation Die Vorstellung, dass der Sozialismus nicht nur eine Zukunftsaufgabe ist, sondern bereits im Hier und Heute gelebt werden muss, kennzeichnet die sozial- demokratische Arbeiterjugendbewegung seit dem Arbeiterjugendtag 1919 in Weimar. Stürmisch wur- de dort das von Johannes Schult vorgetragene Be- kenntnis begrüßt: „In dem engen Gemeinschaftsle- ben beider Geschlechter wollen wir den Adel an uns bilden, um mitzubauen an einer sozialistischen Zu- kunft, bis wir an Stelle Hasses, Neides, Kleinsucht die Liebe der Menschen untereinander in Volks- und Völkergemeinschaften zum Siege geführt haben. Wir wollen die Neurung des Sozialismus durch Tat und Beispiel aus unsrer Jugendbewegung.4“ Die Sprache ist uns heute völlig fremd, nur schwer lässt sich der Inhalt darin finden. Den in dieser Sprache verkleideten Gedanken der Antizipation, der Vor- wegnahme von Zukünftigem, hat der Frankfurter Bildungstheoretiker und ehemalige stellvertretende Falken-Vorsitzende Heinz Joachim Heydorn 1973 als den originären Beitrag der sozialistischen Jugendbe- wegung zur Theorie des Sozialismus bezeichnet.

Für Löwenstein ist Antizipation eng mit der gesell- schaftspolitischen Forderung der Demokratisierung verbunden. Die Kinder und Jugendlichen auf die zu erwartende Zukunft vorzubereiten und ihnen die notwendigen Fähigkeiten zu vermitteln, ein New Games 1930 demokratisch-sozialistisches Gemeinwesen auch ge- stalten zu können, darin sah er – gerade auch nach 5 Zitiert nach Jan Rehmann: Antizipation, in: Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.): Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, 4 Zitiert nach Heinrich Lienken: „Geist von Weimar“, Bonn 1987. Hamburg 1994.

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Antizipation ist eine ist eine ganz wichtige Schlussbemerkung wichtige Voraussetzung Voraussetzung für die für die Entwicklung Entwicklung eines kriti- Kurt Löwenstein geriet nach 1945 als Vordenker ei- eines kritischen Be- schen Bewusstseins und nes Demokratischen Sozialismus weitgehend in wusstseins und der der Fähigkeit, sich nicht Vergessenheit. Insbesondere bei der Rezeption der Fähigkeit, sich nicht von den bestehenden sozialistischen Erziehungsklassiker in den siebziger von den bestehenden Verhältnisses überwälti- und achtziger Jahren war er den meisten nicht re- Verhältnissen überwäl- gen zu lassen, sondern zu volutionär genug, weil sich seine Sprache den Pa- tigen zu lassen seinen Erkenntnissen rolen, den zitierfähigen Schlagworten und dem und Überzeugungen zu verbalen Radikalismus entzieht. stehen. Antizipation verbindet das Moment der Kri- Aber alle, die gerade deshalb hofften, ihn als bra- tik und der Analyse mit der individuell persönlichen ven Sozialreformer einordnen zu können, mussten Erfahrung, und gerade dies macht die damit verbun- bei genauerem Hinsehen feststellen, dass er genau denen Lernprozesse so intensiv und nachhaltig. Was dies nicht war. damit gemeint ist, illustriert ein Zitat aus einer Bro- Seine Schriften bleiben schwer verständlich, da sie schüre des Neuköllner Kulturvereins zum Wider- in Bildhaftigkeit der Sprache und Argumentation stand in Neukölln: stark der Zeit verhaftet sind, sich häufig auf aktuel- le Anlässe der Weimarer Republik beziehen und „Dass in Neukölln eine breite Kreise erfassende, zähe ganz sicher keine geschlossene Theorie politischer Widerstandsarbeit geleistet wurde, hat sicher damit zu tun, Bildung darstellen, aus der sich unmittelbar Praxis- dass die Bewohner dieses Bezirks in den Jahren der Weima- anleitungen für die Lösung heutiger Fragen ablei- rer Republik erfahren und erlebt hatten, wie Kommunalpo- ten ließen. litik menschenwürdig gestaltet werden kann. In einem Rei- Gleichwohl bleibt die Auseinandersetzung mit sebuch der frühen dreißiger Jahre heißt es, Neukölln habe ihm spannend, da er sich mit gutem Gespür für ‚in der Anwendung sozialistischer Theorien in der Praxis des Perspektiven dem Verhältnis zwischen Pädagogik Lebens die führende Rolle in Groß-Berlin inne.‘ Gemeint und Politik gewidmet und versucht hat, Antworten sind damit z. B. die Arbeit des Volksbildungsstadtrates Lö- zu finden, an die angeschlossen werden kann. wenstein, die gesundheitspolitischen Initiativen des Stadt- arztes Dr. Schmincke, die Modelle wahrhaft sozialen Woh- nungsbaus wie in der Britzer Hufeisensiedlung. Diese Literatur sozialen Errungenschaften zu vernichten oder zumindest in ihrem Sinne umzufunktionieren, war eines der ersten Ziele Kurt Löwenstein: Sozialismus und Erziehung, Schrif- der Nazis in Neukölln. Ihre inhumane, menschenverachten- ten 1919 – 1933, Berlin/Bonn/Wien 1976 de Haltung erwies sich ganz konkret in ihrer Bezirkspolitik. Widerstand dagegen wurde vor allem von denjenigen ge- Kurt Löwenstein: Wie das Leben lernen…, Kurt Lö- leistet, die die kommunalpolitische Arbeit während der wensteins Entwurf einer sozialistischen Erziehung, Weimarer Zeit getragen hatten, und von denen, die von Beiträge und Dokumente, Berlin 1985, Antiqua- dieser Zeit geprägt worden waren, wie die Schüler der Rütli- risch über die JBS zu erhalten und Karl-Marx-Schule – Modellschulen, deren oberstes Erzie- hungsziel der selbstverantwortlich handelnde Mensch war.“6 Kurt Löwenstein: Die Kinderfreundebewegung, in: Hermann Nohl/Ludwig Pallat (Hrsg.): Handbuch der Der Anspruch der Antizipation ist – bezogen auf den Pädagogik, Bd. 5 Sozialpädagogik, Langensalza 1929 pädagogischen Prozess –, dass alle Pädagogik, auch die politische Bildung, sich nicht nur an der Gegen- Deutschland Radio Wissen: Große Pädagogen: Kurt wart messen muss, sondern an dem, was sein könnte. Löwenstein, 2010 Angebote der politischen Bildung sollen so gestaltet http://wissen.dradio.de/index.8.38.de.html?dram: werden, dass auch andere Formen des Zusammenle- article_id=2457&sid= bens erfahrbar werden und sich der Horizont der Teilnehmenden erweitern kann. Bezogen auf die ge- sellschaftspolitischen Prozesse insistiert Antizipation Thomas Gill ist Geschäftsführer der Jugend- darauf, dass das Bestehende nicht das Ende der Ge- bildungsstätte Kurt Löwenstein und dort er- schichte ist. Antizipation ist eine Einladung zu einem reichbar unter der Adresse Freienwalder Al- „Mehr“ an Selbstbestimmung und Autonomie. lee 8-10, 16356 Werneuchen/Werftpfuhl.

6 Neuköllner Kulturverein (Hrsg.): Widerstand in Neukölln, Ber- E-Mail: [email protected] lin 1983, S. 16.

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Subjektorientierung und kritische Psychologie – neue Ansätze in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit Martin Allespach/Lothar Wentzel

Die Gewerkschaften gehören zu den größten An- Abwertung und damit verbundenen Einschränkun- bietern politischer Bildung. In der aktuellen Diskus- gen betroffen, die die politische Bildung seit dem sion über die lerntheoretische Grundlegung mo- Ende des Kalten Krieges erfahren hat. Die Beschnei- derner gewerkschaftlicher Bildungsarbeit hat die dung des Bildungsurlaubs und der Abbau öffent- Subjektorientierung einen hohen Stellenwert. licher Förderung haben ihre Spuren hinterlassen. Martin Allespach und Lothar Wentzel erläutern, Auch die geringer werdenden finanziellen Spiel- wie sich diese Subjektorientierung in der Bildungs- räume der Gewerkschaften schränken ihre Arbeit praxis konkretisieren und welche Effekte dies für ein. Trotzdem hat die politische Bildung nach wie die Lernprozesse haben könnte. Die Stärke dieses vor einen hohen Stellenwert in den Gewerkschaf- Ansatzes zeigt sich insbesondere in seiner Eignung ten. Sie investieren alljährlich einen hohen zwei- für die Erreichbarkeit von Lerngruppen, denen Bil- stelligen Millionenbetrag in die gewerkschaftliche dungsferne und Desinteresse an politischer Bil- Bildungsarbeit. dung nachgesagt werden. Mit über 200.000 Teilnehmenden pro Jahr zählen die Gewerkschaften zu den größten Anbietern von Subjektorientierung im Sinne der Lerntheorie politischer Bildung in der Bundesrepublik Deutsch- von Klaus Holzkamp land. Die meisten Bildungsveranstaltungen dauern mehrere Tage oder eine Woche. Die DGB-Gewerk- In den gegenwärtigen gewerkschaftlichen Debat- schaften verfügen über 25 Bildungsstätten, in denen ten über die eigene Bildungsarbeit spielt das The- über 90 hauptamtliche pädagogische Mitarbeiter/- ma ‚Subjektorientierung‘ eine zentrale Rolle. Da- innen arbeiten. Dazu kommen mehrere tausend mit wird an ein Grundthema angeknüpft, das eine ehrenamtliche Lehrkräfte und viele Fachkräfte, die lange Tradition in der gewerkschaftlichen Bildungs- bestimmte Spezialgebiete übernehmen. Vielfach arbeit hat. Es geht um die Frage, wie die Erfahrun- werden die Seminare von einem Zweierteam gelei- gen aus der eigenen Lebenswelt sowie die Erkennt- tet. Neben den von den Gewerkschaften selbst nisinteressen der Teilnehmenden einerseits und die durchgeführten Veranstaltungen existieren Bildungs- Positionen sowie die Politik der Gewerkschaften einrichtungen wie ‚Arbeit und Leben‘, die in enger andererseits produktiv aufeinander bezogen wer- Kooperation mit den Gewerkschaften tätig sind. den können. Bereits Oskar Negt hatte in seiner viel- beachteten Darstellung „Soziologische Phantasie Die Gewerkschaften Die Gewerkschaften ver- und exemplarisches Lernen“ (1968) die Bedeutung verstehen ihre Bil- stehen ihre Bildungsar- des lebensweltlichen Ausgangspunkts betont. In- dungsarbeit aus- beit ausschließlich als po- zwischen ist Subjektorientierung zu einem Leitbild schließlich als politi- litische Bildungsarbeit, geworden, das aber in vieler Hinsicht vage bleibt. sche Bildungsarbeit, die der besseren Interes- die der besseren Inter- senvertretung von Ar- Subjektorientierung als Dieses Leitbild gilt es essenvertretung von beitnehmern dient. Sie Leitbild gewerkschaft- zu konkretisieren. Dazu Arbeitnehmern dient wenden sich mit ihren licher Bildungsarbeit greifen wir in der De- Angeboten vor allem an gilt es zu konkretisieren batte auf die lerntheo- Betriebsräte und Vertrauensleute, aber auch an retischen Überlegungen die Mitgliedschaft. Die gewerkschaftliche Bildung von Klaus Holzkamp (vgl. Holzkamp 1993) zurück. widerlegt deutlich die These, dass das Interesse an Er entwickelte im Kontext der kritischen Psychologie politischer Bildung kontinuierlich zurückgeht und eine subjektwissenschaftliche Perspektive des Ler- bestimmte ‚bildungsferne‘ Bevölkerungsschichten nens, bei der die Lerninteressen der Teilnehmen- dafür überhaupt nicht zu erreichen sind. Die Nach- den konsequent zur Grundlage der Bildungsarbeit frage nach den Bildungsangeboten ist nach wie gemacht werden. Diesen Ansatz, von dem wir mei- vor hoch, und unter den Teilnehmenden befinden nen, dass er die Bildungsarbeit der Gewerkschaf- sich beispielsweise auch solche Gruppen, denen ten noch lebendiger und ertragreicher gestalten hinlänglich Bildungsferne und Desinteresse an po- kann, wollen wir hier vorstellen. litischer Bildung nachgesagt werden. Sie werden erreicht, weil das Lernen in gewerkschaftlichen Se- minaren auf ihre Lebens- und Arbeitssituation Be- Zum Stand gewerkschaftlicher Bildungsarbeit zug nimmt und damit hoch situativ ist. Die Über- windung von Bildungsschranken wird auch dadurch Vorweg einige Informationen zum Stand der ge- erleichtert, dass ein Vertrauensverhältnis zu Ge- werkschaftlichen Bildungsarbeit: Wie andere Ein- werkschaften (als Träger der Bildungsveranstaltun- richtungen sind auch die Gewerkschaften von der gen) besteht.

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Die gewerkschaftliche Bildungsarbeit war – wie die Joachim Ludwig vertritt ebenfalls ein subjektwis- anderer Träger politischer Bildung auch – in der senschaftliches Lernkonzept, das auf dem Grund- Vergangenheit geprägt von abstrakt aufkläreri- satz „beraten statt verkünden“ basiert. Deshalb sei schen Ansprüchen und Arbeitsformen, die es den es nur konsequent, wenn Bildung und Beratung Teilnehmenden nicht immer leicht machten, ihre immer deutlicher einen neuen Verbund eingehen. Interessen einzubringen. Dies wird seit langem kri- Damit sind die Begründungen für Subjektorientie- tisiert. Bereits Anfang der 90er Jahre initiierte die rung in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit for- IG Metall ein großes Forschungsprojekt, das an- muliert: hand sorgfältiger Seminarbeobachtungen die Ei- gensinnigkeit von Lerninteressen beschrieben hat. 1. Lerntheoretisch greifen Lehrprozesse, die nicht Die Forschergruppe trat auf den einzelnen Lernenden eingehen und Die gewerkschaftliche dafür ein, sich auf diese seinen individuellen Lernprozess beratend be- Bildungsarbeit konnte Lerninteressen einzulas- gleiten, nicht immer, aber oft zu kurz. Die sub- auf die Arbeiten kriti- sen, um die Teilnehmen- jektwissenschaftliche Leitfrage lautet, welches scher Wissenschaftler den wirklich zu erreichen Wissen für die Lernenden und ihre betriebli- im Bereich politischer und ihre Lernbereitschaft che Situation hilfreich ist und wie neues Wis- Bildung zurückgreifen zu fördern (Forschungs- sen zu erfolgreichem Handeln genutzt wer- projekt BI-Metall, 1991 – den kann. 1994). Wo diese Offenheit bestand und wo es mög- 2. Bildungssoziologisch kann aufgrund der zuneh- lich war, auch die dunklen Seiten der eigenen Situ- menden Differenzierung der Milieus, hinsichtlich ation zu thematisieren, konnte ein deutlich ande- von Lernansprüchen, Lernbiographien, politi- res, produktiveres Lernklima festgestellt werden. schen Wertorientierungen, sozialen, ökonomi- Solche Befunde lösten viele Diskussionen aus, die schen und kulturellen Interessen kaum mehr zu einem Überdenken der didaktisch-methodischen von einer einheitlichen Teilnehmerstruktur im Ansätze und Bildungskonzeptionen führten. Dabei Gewerkschaftsseminar ausgegangen werden. Es konnte die gewerkschaftliche Bildungsarbeit auf gibt sehr unterschiedliche Teilnehmer, die sich die Arbeiten kritischer Wissenschaftler im Bereich in Wünschen, Interessen und Voraussetzungen politischer Bildung zurückgreifen. sehr unterscheiden. Deshalb steht Solidarität auch im Mittelpunkt der gewerkschaftlichen Bil- dungsarbeit. Nur so können die verschiedenen Subjektwissenschaftliche Kritik an einer Interessen, die Gemeinsamkeiten, die Differen- Instruktionsdidaktik in der politischen zen in Milieu und Habitus ausgedrückt, bearbei- Bildung tet und überbrückt oder gar ausgeglichen wer- den. Peter Faulstich und Andere haben seit längerem 3. Bildungstheoretisch ist – unter Berücksichtigung unter Bezugnahme auf eine subjektwissenschaftli- zunehmender Komplexität und Verflochtenheit che Lerntheorie die herrschende Instruktionsdidak- der Arbeit von betrieblichen Interessenvertre- tik in der politischen Bildung kritisiert (vgl. z. B. tern – Skepsis gegenüber Wissensbeständen Faulstich/Ludwig 2008, Faulstich 2005 und 2006). formuliert, die von vornherein weitgehende Verbunden mit einer solchen pädagogischen Her- Passgenauigkeit in den komplexen Situationen stellungs- und Vermittlungslogik sei die Illusion, für sich reklamieren (vgl. Kielmann/Ludwig man könne die intendierten Kompetenzen instru- 2000). Gewerkschaftliche Bildung wendet sich mentell in einer Ziel-Mittel-Wirkungskette durch in diesem Sinne gegen jede Form von Verein- hinreichend raffinierte fachung, Pauschalisierung und Schwarz-Weiß- Man kann Wissen in Methoden erzeugen. In Denken. Differenzierung heißt unter ande- den Köpfen anderer dieser Version gerät po- rem: die Komplexität und Widersprüchlich- nicht erzeugen und litische Bildung in das keit politischer Zusammenhänge offen zu legen man kann Lernen Fahrwasser einer sowohl und zu durchdringen und zugleich die Vermitt- nicht erzwingen postulatorisch als auch lungs- und Transformationsprozesse mit zu den- technisch operierenden ken. Herstellungsdidaktik, die einem Lehr-Lern-Kurz- 4. Transfertheoretisch lässt sich die Übertragung schluss unterliegt. Man kann Wissen in den Köpfen des Wissens in die gewerkschaftliche Alltagspra- anderer nicht erzeugen und man kann Lernen xis durch eine stärkere Subjektorientierung und nicht erzwingen – schon gar nicht in der politi- im Verbund von Bildung und Beratung pädago- schen Bildung, unabhängig davon, ob das oberste gisch wirkungsvoller und reflektierter beför- Richtziel Staatstreue oder Emanzipation heißt. dern.

250 SCHWERPUNKT

Konzeptionelle Überlegungen Beruht das Lernen dagegen auf den Lerninteressen des Einzelnen, ist es produktiver, stärkt die Lernfä- In diesem Sinne setzen wir uns in unserer gemein- higkeit und die Selbsttätigkeit, fördert die Fähig- sam mit Hilbert Meyer verfassten Arbeit „Politische keit des Einzelnen, sich die Welt aufzuschließen Erwachsenenbildung – Ein subjektwissenschaft- und in ihr selbstbewusst zu handeln. Diese Art des licher Zugang am Beispiel der Gewerkschaften“ (Al- Lernens nennt die Subjektwissenschaft expansives lespach/Meyer/Wentzel 2009) für eine solche Kon- Lernen. zeption ein, die die Lerninteressen des Subjekts in den Mittelpunkt stellt. Sie korrespondiert in ho- Expansives Lernen ist nicht zu erzwingen, aber hem Maße mit den Leitprinzipien gewerkschaft- durch eine Gestaltung von Bildungsprozessen, die licher Bildungsarbeit und ist anschlussfähig zu weitgehend auf den Lerninteressen der Teilneh- den Debatten und Herausforderungen, denen sich menden beruht, kann es befördert werden. die gewerkschaftliche Bildungsarbeit zu stellen hat (z. B. ausdifferenzierte, heterogene Lernvorausset- Ein fruchtbarer Weg, solche Ziele einzulösen, bie- zungen, unterschiedliche betriebliche Kontexte und tet beispielsweise der Ansatz der Fallarbeit. Dabei Erfahrungen in der politischen Arbeit, betriebspo- werden, wenn man in einen neuen thematischen litische Konflikte, die in Anzahl und Intensität zu- Schwerpunkt eintritt, zunächst die Erfahrungen genommen haben, die zunehmende Komplexität der Seminarteilnehmenden erfragt. Der Erfahrungs- der Themen, mit denen sich die betriebliche bericht, in dem sich die Beteiligten am meisten Interessenvertretung zu beschäftigen hat und die wiedererkennen, wird gemeinsam als Arbeitsgrund- das Einlegen von Lernschleifen genauso notwen- lage ausgewählt. Der Fall wird daraufhin von dem dig machen wie den Transfer des Gelernten, das Betroffenen ausführlicher dargestellt und gemein- demokratische Lern- und Bildungsverständnis sam im Seminar analysiert. Die darin liegende Hand- etc.). lungsproblematik wird so Schritt für Schritt entfal- tet. Danach werden zusätzliche Informationen, Lernen kommt nicht Die Subjektwissenschaft z. B. Gesetzestexte, zu Rate gezogen und die ver- einfach dadurch in geht davon aus, dass schiedenen Handlungsmöglichkeiten durchgearbei- Gang, dass von dritter Lernanforderungen nicht tet. Dieses Verfahren kommt den Lerninteressen Seite über die Köpfe per se schon Lernhand- der Teilnehmenden meist sehr nahe, eröffnet gute der Lernenden hinweg lungen sind, sondern nur Chancen für Handlungstransfer und lässt zugleich Lernanforderungen dann zu solchen werden, Verallgemeinerungen im Hinblick auf die politisch- formuliert werden wenn sie von den Sub- gesellschaftlichen Rah- jekten jeweils bewusst Es ist noch viel For- menbedingungen zu. als Lernproblematiken übernommen werden kön- schungs- und Entwick- Derartige produktive An- nen, was wiederum voraussetzt, dass die Subjekte lungsarbeit notwen- sätze dürfen allerdings einsehen, wo es hier für sie etwas zu lernen gibt. dig, um den Anspruch nicht darüber hinweg- Lernen kommt nicht einfach dadurch in Gang, dass einer reflektierten täuschen, dass gerade im von dritter Seite (etwa der des Lehrers oder einer Subjektorientierung methodischen Bereich Institution) über die Köpfe der Lernenden hinweg einzulösen noch viel Forschungs- Lernanforderungen formuliert werden. und Entwicklungsarbeit notwendig ist, um den Anspruch einer reflektier- Soll ein Individuum, ohne dass es dafür akzeptable ten Subjektorientierung einzulösen. Gründe gibt, lernen, wird es widerständig oder ausweichend reagieren. Es wird gelernt aufgrund von Bedrohungsabwehr (z. B. Abwehr von Status-, Konsequenzen für die gewerkschaftliche Einkommens- oder gar Arbeitsplatzverlust). Klaus Bildungsarbeit Holzkamp hat ein solches Lernen als „defensiv“ be- zeichnet. Unter subjektwissenschaftlichen Gesichtspunkten besteht die zentrale Aufgabe gewerkschaftlicher Dieses defensive Lernen ist aufwändig und wenig Bildungsarbeit in einer didaktisch begründeten Ver- ertragreich, mühsam, voller innerer Widerstände, mittlung subjektiver Interessen und Bedeutungen und der Lernerfolg ist oft nur vorübergehend. Die- der Teilnehmenden mit den gesellschaftlichen Theo- se Art von Lernen ist kaum geeignet, Selbstbe- rien und Inhalten der Pädagogen und der Organi- wusstsein und autonome Handlungsfähigkeit zu sation. D. h., die subjektiven Sinnhorizonte und fördern, so wie es die gewerkschaftliche Bildungs- Interessen des Lernenden erhalten einen eigen- arbeit intendiert. ständigen politischen Charakter im Vermittlungs-

251 SCHWERPUNKT

prozess, ohne dass der Standpunkt des Lehrenden dies eine wesentliche Fähigkeit, um individuelles dominiert. In der Bearbeitung eines Seminarthe- und politisches Schicksal selbst in die Hand nehmen mas – etwa zur Arbeitszeitgestaltung – werden die zu können. subjektiven Lerninteressen mit den begründeten Sinnhorizonten des Lehrenden und der Institution Die Frage, die sich bei Bildungspraktikern natürlich wechselseitig bearbeitet. Hier gilt es, noch viel sofort einstellt, ist: Inwieweit ist dies ein realisti- konzeptionelle Entwicklungsarbeit zu leisten, die sches Konzept? Zwei Gesichtspunkte dürften dabei sich aber gegenwärtig in den Gewerkschaften zu besonders wichtig sein: Wie können wir Lerninter- etablieren beginnt. essen der Teilnehmenden überhaupt identifizieren und den Seminarverlauf auf diesen Lerninteressen Auf dieser konzeptionellen Basis stellen sich für die aufbauen? Und: Wie kann eine Seminarleitung gewerkschaftliche Bildungsarbeit viele Fragen (vgl. diese Ansprüche einlösen? Allespach 2010): Zu Beginn eines Seminars mit den Teilnehmenden ■ Sind gewerkschaftliche Bildungsveranstaltungen einen Lehr-/Lernvertrag auszuhandeln, der die wei- nicht eher von der Logik der Sachgegenstände tere Bearbeitung des Themas auf der Grundlage als von der Logik des Lernens, also von den ihrer Lerninteressen regelt, ist in der gewerkschaft- Lerninteressen der Teilnehmenden her struktu- lichen Bildung wenig realistisch. Dies setzt ein hohes riert? Maß an bewusster Lernplanung voraus. Die Teilneh- ■ Werden die Möglichkeiten, die Lerninteressen menden in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit der Teilnehmenden zum Sprechen zu bringen und das Seminar daran zu orientieren, genutzt? ■ sind in der Regel keine Lernprofis, können ihre Die Anfangssituationen sind dafür nur begrenzt Lerninteressen – zumindest anfänglich – nicht so geeignet. Werden die Chancen im weiteren Ver- detailliert artikulieren, lauf ausgeschöpft? ■ haben nicht selten problematische Schulkarrie- ■ Ist das Zeitregime in Gewerkschaftsseminaren ren hinter sich oder verfügen über wenig Bil- nicht zu sehr auf die Abarbeitung von Stoff aus- dungserfahrung und verhalten sich deshalb ab- gerichtet, anstatt sich auf die Erfahrungen von wartend, Teilnehmenden einzulassen? ■ sind in der Anfangssituation besonders verunsi- ■ Kümmert man sich genügend um Lernblockaden chert, und Widerstände, oder wird nicht häufig der ■ haben wenig Methodenkenntnisse, leichtere Weg gewählt und mit denen gearbei- ■ haben oft konservative Lernerwartungen, tet, die den Vorstellungen der Pädagogen fol- ■ nehmen nicht selten Haltungen ein, die Ausdruck gen? von vorsichtigem Abwarten und Befürchtungen ■ Ist auch und manchmal sogar vor allem die ge- sind, von der Gewerkschaft in die Pflicht ge- werkschaftliche Bildungsarbeit nicht schnell da- nommen zu werden. bei, politische Bildung zu postulieren, nach dem Motto: „Es wäre notwendig ...“, „Gewerkschaftli- Es ist sinnvoll, immer Die Teilnehmenden wer- che Bildung ist ...“, „Gewerkschaftliche Bildung wieder Reflexionsräu- den sich ihrer Lerninter- soll ...“, „Es muss ...“, usw.? me zu schaffen und die essen oft erst im Lauf des ■ Ergibt sich nicht allzu häufig eine Diskrepanz Planung offen zu halten Seminars bewusst. Des- zwischen hochgesteckten Zielen und der Wirk- halb ist es sinnvoll, immer lichkeit? Die schön klingenden Ansprüche an wieder Reflexionsräume zu schaffen und die Pla- Aufklärung, Emanzipation, Kritik- und Konflikt- nung offen zu halten, also in Form eines schrittweise fähigkeit und dergleichen beeindrucken – gleich- sich entwickelnden Arbeitsbündnisses vorzugehen. zeitig entziehen ihnen sich nicht selten die zu Es besteht die Möglichkeit, in den jeweiligen The- beglückenden Adressaten. menfeldern die Schwerpunkte jedes Mal neu aus- zuhandeln. Zunächst kann auch ein Einstiegsthema Durch den subjektwissenschaftlichen Blick auf verabredet werden. Danach können weitere Ar- Lernprozesse verändern sich die Lernziele der ge- beitsschritte jeweils neu festgelegt werden. Damit werkschaftlichen Bildungsarbeit nicht grundsätz- sollen nur verschiedene Möglichkeiten angedeutet lich, wohl aber der Weg, um sie zu erreichen. Ein werden. Lernziel allerdings erhält eine besondere Bedeu- tung: die Lust am Lernen und die Stärkung des Ver- Die Seminarleitung hat auch in einem solchen Kon- trauens in die eigene Fähigkeit, sich die Welt aus zept die Aufgabe der Prozesssteuerung und inhalt- eigenen Kräften erschließen zu können. Für uns ist lichen Beratung. Die Lerninteressen der Teilneh-

252 SCHWERPUNKT

menden können nicht per se Basis der Seminarge- Arbeitsweise ein hohes Maß an Akzeptanz und staltung sein. Sie müssen zum Sprechen gebracht, Umsetzung in die Realität. In der Handlungs-/Ak- gebündelt und in Arbeitsprozesse übersetzt wer- tionsforschung sind entsprechende Modelle vielfäl- den. Es geht im subjektwissenschaftlichen Sinne um tig erprobt worden. die Ausgliederung eines gemeinsamen Lerngegen- standes. Die Seminarleitung muss auch in diesen Forschung muss nicht aufwändig sein. Es gibt auch Prozessen für pädagogische Anliegen werben/ar- Formen der Selbstevaluation, mit denen Seminar- gumentieren und bei der Bearbeitung bestimmter praxis aus subjektwissenschaftlicher Perspektive un- Gegenstände deutlich werden lassen, welche wei- tersucht werden kann. Hilbert Meyer hat dazu eine teren Kenntnisse und Fähigkeiten dafür notwen- Reihe von Vorschlägen gemacht, die mit realisti- dig sind. schem Aufwand im pädagogischen Alltag zu ver- wirklichen sind (Allespach/Meyer/Wentzel 2009, Die Seminarleitung Von der Seminarleitung S. 192 ff.). Unter den Lehrkräften können auch repräsentiert natürlich wird viel fachliche Kom- Gruppen zur kollegialen Fallberatung gebildet immer auch die petenz verlangt, denn sie werden, in denen bestimmte Seminarschritte aus- gewerkschaftliche muss auf Lernanforde- gewertet werden usw. Es wäre viel gewonnen, Organisation rungen reagieren kön- wenn die pädagogischen Mitarbeiter auf der Basis nen, die sie nur begrenzt subjektwissenschaftlicher Fragestellungen ein for- vorher einplanen kann. Zu ihren Aufgaben gehört schend-experimentierendes Verhältnis zu ihrer eige- auch, verdrängte, unangenehme und übersehene nen Arbeit in der pädagogischen Praxis entwickeln Inhalte zur Diskussion zu stellen. Die Seminarlei- würden. Eine solche konzeptionelle Entwicklungs- tung repräsentiert natürlich immer auch die ge- arbeit hätte Bedeutung für den gesamten Bereich werkschaftliche Organisation. Schon deswegen muss der politischen Bildung. sie die Erfahrungen der Organisation, von ihr für wichtig gehaltene Inhalte und Strategien einbrin- Oskar Negt betont in seinem neuen Buch (Negt gen. All dies sollte aber nicht gegen die Teilneh- 2010) den Stellenwert, den politische Bildung für menden, sondern aus der Entwicklung des Semi- eine Demokratie hat. Demokratie sei die einzige nars mit ihnen abgestimmt geschehen, sonst droht Staatsform, die gelernt werden muss. Dies kann der Prozess in defensives Lernen umzuschlagen. umso eher gelingen, je mehr sich die Teilnehmen- den in den Seminaren als tätige Subjekte, als ex- Dies verlangt ein hohes Maß an Souveränität und pansiv Lernende erfahren. Qualifikation von der Seminarleitung. Daher kommt der Fortbildung zur Unterstützung der Fähigkeit, Seminarprozesse lernerorientiert zu gestalten, ein Literaturangaben: hoher Stellenwert zu. Hier geht es nicht nur um die Erweiterung des Methodenrepertoires, sondern Martin Allespach: Gewerkschaften als Träger von vor allem um eine reflektierte Anwendung in be- Bildungsarbeit, Enzyklopädie Erziehungswissen- stimmten Situationen. Dazu hat Hilbert Meyer eine schaft Online, Juventa Verlag, 2010 Reihe von Anregungen gemacht (Allespach/Mey- er/Wentzel 2009, S. 70 ff.). Lerntheoretische Kennt- Martin Allespach: Subjektorientierung – ein schil- nisse und eine Ausbildung in einer gruppenpsycho- lernder Begriff, unveröffentlichtes Manuskript eines logisch fundierten Arbeitsweise wie TZI sind dafür Vortrags im Rahmen der Jahresarbeitstagung der in jedem Fall wichtig und sinnvoll. pädagogischen Mitarbeiter/-innen der IG Metall am 28.05.2010, Berlin Die Lehrkräfte sollten Natürlich lässt das viele als Forschende einbe- Fragen offen. Wir haben Martin Allespach: Lernort Gewerkschaft, in: Peter zogen werden den hohen Bedarf an Faulstich/Mechthild Bayer: Lernorte, Hamburg 2009, Forschung und Entwick- VSA-Verlag lung bereits angesprochen. Konkrete Konzepte müssen in Alltagssituationen erprobt und ausge- Martin Allespach/Hilbert Meyer/Lothar Wentzel: wertet werden. Dabei sollten die Lehrkräfte als Politische Erwachsenenbildung. Ein subjektwissen- Forschende einbezogen werden. Dies entspricht schaftlicher Zugang am Beispiel der Gewerkschaf- nicht nur dem Geist der Subjektwissenschaft. Es er- ten, Marburg 2009, Schüren Verlag möglicht auch, das alltagstheoretische Wissen und die praktische Kreativität der Lehrkräfte fruchtbar Herbert Altrichter/Peter Posch: Lehrerinnen und Leh- zu machen. Darüber hinaus verspricht eine solche rer erforschen ihren Unterricht. Eine Einführung in

253 SCHWERPUNKT

die Methoden der Aktionsforschung, Bad Heilbrunn Wolfgang Klafki: Neue Studien zur Bildungstheo- 2007, Verlag Julius Klinkhardt rie und Didaktik, Weinheim und Basel 1996, Beltz Verlag Adolf Brock/Hans Dieter Müller/Oskar Negt (Hrsg.): Arbeiterbildung, soziologische Phantasie und exem- Joachim Ludwig/Kurt Müller: Kompetenzentwick- plarisches Lernen in Theorie, Kritik und Praxis. Rein- lung im Interessenfeld betrieblicher Modernisierung. bek bei Hamburg 1978, Rowohlt TB-Verlag Fallarbeit als Konzept zur Kompetenzentwicklung?, in: Rainer Brödel/Julia Kreimeyer (Hrsg.): Lebensbe- Peter Faulstich (2009): Vorwort, in: Martin Allespach/ gleitendes Lernen als Kompetenzentwicklung, Bie- Hilbert Meyer/Lothar Wentzel: Marburg 2009, Schü- lefeld 2004, S. 281-306 ren Verlag Hilbert Meyer: Was ist guter Unterricht? Berlin Peter Faulstich/Mechthild Bayer (Hrsg.): Lernwider- 2004, Cornelsen stände. Anlässe für Vermittlung und Beratung, Ham- burg 2006, VSA-Verlag Oskar Negt: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen 2010, Steidl Verlag Peter Faulstich u. a.: Lernwiderstand – Lernumge- bung – Lernberatung. Bielefeld 2005, W. Bertels- Oskar Negt: Überlegungen zur Kategorie „Zusam- mann Verlag menhang als einer gesellschaftlichen Schlüssel- qualifikation“, in: Literatur und Forschungsreport Peter Faulstich/Joachim Ludwig (Hrsg.): Expansives Weiterbildung Nr. 26, Frankfurt a. M. 1990 Lernen. Bartmannsweiler 2004, Schneider Verlag Ho- hengehren Oskar Negt: Schlüsselqualifikationen und Kompe- tenzen in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, Joke Frerichs: Lernerfahrungen – Erfahrungslernen, in: Forum Bildung, Informationsdienst und Diskus- Köln 2002, ISO sionsplattform zur Bildungsarbeit der IG Metall, Nr. 7, S. 13 - 19, Frankfurt am Main 2000 Klaus Holzkamp: Lernen – subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt und New York 1993, Cam- Oskar Negt: Soziologische Phantasie und exempla- pus Verlag risches Lernen – Zur Theorie und Praxis der Arbei- terbildung, Frankfurt a. M. 1971, Europa Verlag Gertrud Hovestadt: „Schade, dass so wenig Frauen da sind“. Normalitätskonstruktionen der Geschlech- Ver.di: Bildung bewegt. Subjektorientierung in der ter in männerdominierter Bildungsarbeit. BI-Metall gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Tagungsdoku- Forschungsprojekt, Münster 1996, Verlag Westfäli- mentation, Berlin 2010, Eigenverlag Ver.di sches Dampfboot Christoph Weischer: Handeln in Betrieb und Ge- Gertrud Hovestadt: Leidenschaft und Profession: werkschaft. Orientierungsprobleme von Interessen- Lehrerinnen und Lehrer in der Bildungsarbeit der IG vertreterInnen. BI-Metall Forschungsprojekt, Mün- Metall. BI-Metall Forschungsprojekt, Münster 1996, ster 1966, Verlag Westfälisches Dampfboot Verlag Westfälisches Dampfboot Christoph Weischer: Politische Bildungsarbeit und IG Metall (Hrsg): Rahmenkonzeption für die ge- gewerkschaftliche Organisation. Aspekte der Bil- werkschaftliche Bildungsarbeit, Joachim Beerhorst/ dungsdebatte in der IGM. BI-Metall Forschungspro- Claudia Hartwich/Norbert Remppel/Lothar Went- jekt, Münster 1996, Verlag Westfälisches Dampf- zel, Frankfurt a. M.1998 boot

Werner Jank/Hilbert Meyer: Didaktische Modelle, Christoph Weischer: Engagement und Distanz: For- Berlin 2002, Cornelsen Verlag schung in einer politischen Organisation. BI-Metall Forschungsprojekt, Münster 1997, Verlag Westfäli- Harald Kielmann/Joachim Ludwig: Beraten statt sches Dampfboot Verkünden. Neue Wege in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, in: Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.): Christoph Weischer/Peter Blöing/Gertrud Hovestadt/ Werden, Düsseldorf 2000 Hanns Wienold: Das Seminar gibt sich eine Form.

254 SCHWERPUNKT

Seminardiskurs und sozialer Prozess. BI-Metall For- Privatdozent Dr. Martin Allespach ist Leiter schungsprojekt, Münster 1998, Verlag Westfäli- des Funktionsbereichs Grundsatzfragen und sches Dampfboot Gesellschaftspolitik beim IG Metall-Vorstand. Anschrift: IG Metall Vorstand, Wilhelm Leu- Lothar Wentzel: Subjektorientierung, in: Bildung schner Str. 79, 60329 Frankfurt am Main. bewegt, Berlin 2010, ver.di, S. 5 - 10, E-Mail: [email protected] Hanns Wienold: ‚Nichts als Geschichten‘. Von den Schwierigkeiten des Umgangs mit den Wirklichkei- ten und den Grenzen der Pädagogik. BI-Metall For- Dr. Lothar Wentzel ist Mitarbeiter im Funk- schungsprojekt, Münster 1996, Verlag Westfälisches tionsbereich für Grundsatzfragen, Gesell- Dampfboot schaftspolitik und strategische Planung beim Vorstand der IG Metall. Gerhard Zimmer: Was bestimmt den Lernerfolg? Anschrift: IG Metall Vorstand, Wilhelm Leu- in: H. Diekmann u. a.: Kompetenztransfer durch schner Str. 79, 60329 Frankfurt am Main. Selbstgesteuertes Lernen, Bad Heilbrunn 2006, Ver- lag Julius Klinkhardt E-Mail: [email protected]

255 ADB-FORUM

Forschung für die Praxis? Empirische Ergebnisse zu Teilnehmenden und Wirkungen politischer Jugendbildung Helle Becker

Im Mittelpunkt des im folgenden Beitrag beschrie- Von einer systemati- deren Folge aber auch benen Projekts steht eine Sichtung von Studien zur schen empirischen schnell deutlich wurde, außerschulischen politischen Bildung, wobei ein Erforschung der Bedin- dass sie nur ein Anfang besonderes Augenmerk den Wirkungen dieser Bil- gungen erfolgreichen sein konnten. Im Bun- dungsarbeit auf die daran Beteiligten gilt. Helle politischen Lernens desausschuss politische Becker warnt davor, von einem allzu simplen In- kann nicht die Rede Bildung (bap) wurde dis- put-Output-Zusammenhang auszugehen. Die Wir- sein kutiert, welche weiteren kungen der Bildungsangebote stellen sich allzu oft empirischen Erkenntnis- erst auf Umwegen ein. Die bisherigen Ergebnisse se der politischen Bildung zur Verfügung stehen. der Auswertung geben Hinweise auf wichtige Vor- Ein europäisches Projekt eines Mitgliedsverbands, aussetzungen für gelingende Bildungsprozesse, des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten (AdB)2, ohne als Anleitung für die Bildungspraxis gelten zu brachte zutage, was man schon geahnt hatte: Von können. einer systematischen empirischen Erforschung der Bedingungen erfolgreichen politischen Lernens, die bildungspraktische und bildungspolitische Entschei- Ausgangslage dungen absichern könnte, und auch für eine aus- sichtsreiche Positionierung auf dem Weiterbildungs- Was wissen wir eigentlich über die außerschuli- markt oder gegenüber der formalen Bildung kann sche politische Bildung? Wer sind die Teilnehme- im Bereich der politischen Bildung nicht die Rede rinnen und Teilnehmer, wie erreicht man sie, wel- sein. Will die politische Bildung ihre Arbeit mehr che Interessen bringen sie mit, was erwarten sie als bisher auf wissenschaftlich gestützte, empirisch und vor allem: Was nehmen sie mit aus den Ange- gewonnene Erkenntnisse gründen, so ist sie zurzeit boten? auf ein weit verzweigtes und unübersichtliches Feld empirischer Studien in ganz unterschiedlichen Diese Fragen werden dringlicher mit dem Legitima- Fach- und Forschungsbereichen verwiesen. tions- und Handlungsdruck, unter dem die politi- sche Jugend- und Erwachsenenbildung seit einigen Der Bundesausschuss politische Bildung initiierte Jahren steht. Die Fragen werden von verschiede- daher in der Trägerschaft des Arbeitskreises deut- nen Seiten gestellt: Von der Politik und den Zu- scher Bildungsstätten und mit Unterstützung des wendungsgebern, die die politische Bildung in der Bundesministeriums für Bildung und Forschung gesellschaftlichen Pflicht sehen und auf Effektivität das Projekt „Praxisforschung nutzen – Politische drängen, von ihren tat- Bildung weiterentwickeln. Stocktaking-Study zur Es wäre hilfreich und sächlichen und poten- Gewinnung und Nutzbarmachung von empiri- sinnvoll, die theoreti- ziellen ‚Abnehmern‘, die schen Erkenntnissen für die politische Bildung in sche Positionierung passende Angebote für Deutschland“. Ziel des Forschungsprojektes ist es, und die Entscheidun- ihre Interessen suchen vorhandene Forschungsergebnisse zu recherchie- gen für die Praxis der und wissen wollen, was ren und zu analysieren, um sie für die politische politischen Bildung sie erwarten können, Bildung nutzbar zu machen, so dass diese auf der Grundlage und nicht zuletzt von wissenschaftlicher der Profession selbst, die empirischer Forschun- sich vor dem Hintergrund gen absichern und gesellschaftlicher und po- 1 Karsten Rudolf: Politische Bildung und Markt – Marktforschung weiterentwickeln zu litischer Veränderungen für die außerschulische politische Bildung: Chancen, Grenzen können neu orientiert und posi- und Strategien (Bericht politische Bildung), Diss., Justus-Liebig- tioniert. Hilfreich und Universität Gießen 2003; Achim Schröder/Nadine Balzter/Tho- sinnvoll wäre es in diesem Zusammenhang, die mas Schroedter: Politische Jugendbildung auf dem Prüfstand. theoretische Positionierung und die Entscheidun- Ergebnisse einer bundesweiten Evaluation, Karsten Fritz/Katha- gen für die Praxis der politischen Bildung auf rina Maier, Weinheim und München 2004; Lothar Böhnisch: Po- der Grundlage wissenschaftlicher empirischer For- litische Erwachsenenbildung. Trendbericht zur empirischen schungen absichern und weiterentwickeln zu kön- Wirklichkeit der politischen Bildungsarbeit in Deutschland, nen. Aber da sieht es schlecht aus. Weinheim und München 2006. 2 „Stock-taking study on lifelong learning for democratic citi- Zwar gab es in den Jahren 2003 und 2004 drei gro- zenship through adult education – LLL-EDC Study“ (2006 – 2008), ße empirische Studien zur politischen Bildung1, die Partner: Universitäten aus GB, DK, PL, SL, ES, AU, RUM sowie dieser Entwicklung wichtige Impulse gaben und DARE (D) und EAEA (HU), deutscher Teil: Helle Becker für Anlass zu zum Teil heftigen Diskussionen boten, in DARE/AdB; Work Package 1 – „Research Review“

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■ wissensbasierte konzep- tionelle Überlegungen für die Praxis politischer Bildung (Teilnehmeran- sprache, Programmge- staltung, Konzepte und Formate) anstellen kann, ■ theoretisch-konzeptionel- le Schlussfolgerungen für die fachliche Standortbe- stimmung politischer Bil- dung ziehen kann (Ziele, fachliche Reichweiten des Gegenstands, Zielgrup- pen, Outcome/Output, i. e. Kompetenzen, „Wir- kungen“), ■ und Anhaltspunkte für die verbands- und bil- dungspolitische Argumen- tation gewinnen kann. © Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten Die Bestandsaufnahme wür- Was erwarten Teilnehmer/-innen von der politischen Bildung? Hier auf der Sommer- de daneben auch, so die schule 2003 Erwartung, einen Überblick über diejenigen Forschungsbereiche verschaffen, In einer umfangreichen Recherche wurden ver- die sich mit Fragen politischer Bildung befassen, sie schiedene empirische, quantitative und qualitative könnte auch problematische Praxislagen und pro- Untersuchungen gesammelt, z. B.: blematische Forschungsfragen deutlich machen so- 1. Empirische wissenschaftliche Forschungsarbei- wie Forschungslücken aufzeigen. Außerdem erhoff- ten, die explizit zur politischen Bildung oder ten sich die Initiatoren Impulse für eine engere zu verwandten Themenbereichen (Themen po- Verknüpfung von Wissenschaft und politischer Bil- litischer Bildung, Politikinteressen/-einstellun- dungspraxis. gen oder bürgerschaftliches Engagement) er- stellt wurden. 2. Empirische wissenschaftliche Forschungsarbei- Projekt „Praxisforschung“ ten, die in einem europäischen Kontext zum Be- reich „Education for democratic/active citizen- Im Projekt „Praxisforschung nutzen, politische Bil- ship“ erstellt wurden. dung weiterentwickeln“ wurde nach qualitativen 3. Empirische wissenschaftliche Forschungsarbei- und quantitativen empirischen Untersuchungen ge- ten, die einen weiter gefassten Fokus haben, der sucht, die im weitesten Sinn Ergebnisse liefern, die aber Fragen der politischen Bildung berührt oder für die Praxis und den theoretischen Diskurs der poli- diese explizit und implizit einbezieht; zum Bei- tischen Bildung interessant sein können. Dabei wur- spiel zur Jugend- und Erwachsenenbildung bzw. de innerhalb der vergangenen zehn Jahre, also zu- Weiterbildung allgemein, zu sozialen Merk- rück bis ca. zum Jahr 2000 recherchiert. Dieser malen, Bildungsvoraussetzungen, Dispositionen Zeitraum ist willkürlich und aufgrund der begrenz- oder Freizeitinteressen und -verhalten von Bür- ten Ressourcen gesetzt. Andererseits kann man mit gerinnen und Bürgern bzw. Teilnehmer- und Plausibilität annehmen, dass innerhalb von zehn Jah- Zielgruppen. ren gesellschaftliche Veränderungen dazu geführt haben, die Aussagekraft von empirischen Befunden Die thematische und methodische Bandbreite zu schwächen, die älter sind. Ein weiteres Argument dieser Untersuchungen und Studien ist groß. So war die Tatsache, dass empirische Untersuchungen handelt es sich um Evaluationen von (Förder-) Pro- im Bereich der außerschulischen politischen Jugend- grammen, Befragungen von jugendlichen und und Erwachsenenbildung erst in den letzten Jahren – erwachsenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Zuge der forcierten empirischen Bildungsfor- pädagogischer Maßnahmen, Befragungen von po- schung – vermehrt durchgeführt wurden. litischen Weiterbildnern und Einrichtungen, Struk-

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turanalysen, Untersuchungen zur Jugendverbands- Zu den beiden Schwerpunkten wurden jeweils ver- arbeit, zur politischen Partizipation und zum poli- feinernde Fragenkataloge erarbeitet, die als Such- tischen Engagement sowie zum Politikinteresse, Matrix für die weitere Analyse dienen. Ziel der demografische und demoskopische sowie europä- Analyse soll es sein herauszufinden, welche Befun- ische und internationale Untersuchungen. Vorsorg- de sich gegenseitig stützen oder widersprechen. lich und flankierend wurden auch konzeptionelle Dafür ist eine systematische Beschreibung der Er- Vorarbeiten für die Frage nach der „Messbarkeit“ kenntnisse notwendig. Da jede empirische Studie politischer Bildung auf nationaler und europä- ihren spezifischen Gegenstandsbereich und ihre ischer bzw. internationaler Ebene (Indikatorenfor- Methodik hat, war die Frage zu lösen, wie eine schung, Modelle zur Anerkennung nicht-formaler Vergleichbarkeit der Funde hergestellt werden Lernergebnisse etc.) gesammelt. kann. Die systematische Sichtung und Analyse des Materials erfolgte daher angelehnt an die Metho- © Rainer Sturm/pixelio.de de der „qualitativen Inhaltsanalyse“ (eine Metho- de der qualitativen empirischen Sozialforschung) nach Jochen Gläser/Grit Laudel3. Damit werden an- hand der Such-Matrix Ergebnisse aus den Arbeiten herausgezogen und geclustert. Daneben werden eine kritische Einschätzung der jeweiligen Untersu- chungen, des Untersuchungsvorgehens und der Reichweiten der Befunde sowie erste Schlussfolge- rungen angestrebt.

Vorläufige Hinweise

Diese Arbeit ist zurzeit noch nicht abgeschlossen, das Projekt läuft bis Ende des Jahres 2010. Vorläufi- Wie die Effekte politischer Bildung messen? ge Ergebnisse stehen also unter dem Vorbehalt weiterer Recherche und Analyse. Allerdings lassen sich – vorsichtig – erste Befunde ankündigen. Diese Fokussierte Analyse stammen vor allem aus dem Bereich der außerschu- lischen politischen Jugendbildung, dem Bereich, Um die weitere Systematisierung und Analyse der die meisten Forschungsarbeiten in diesem Zu- möglichst eng an den Bedürfnissen der Praxis vor- sammenhang aufweist. nehmen zu können, wurden die Träger politischer Bildung im bap in die Arbeit einbezogen. In Zu- sammenarbeit mit den Trägern wurde der For- 1. Zugangswege schungsfokus eingegrenzt. So einigte man sich auf Der überwiegende Teil der empirischen Studien, zwei wesentliche Fragestellungen, unter denen die die untersucht haben, wie jugendliche Teilnehme- nunmehr 237 ermittelten Untersuchungen gesich- rinnen und Teilnehmer auf die Angebote aufmerk- tet wurden, von denen eine Auswahl zurzeit analy- sam gemacht und geworben wurden, kommen zu siert wird: dem Schluss, dass die Anwerbung durch eine per- sönliche Ansprache am erfolgversprechendsten ist. 1. Was sagen wissenschaftliche empirische Arbei- Dabei muss sie nicht höchstpersönlich vom Durch- ten über die Zugangsmotive von Teilnehme- führenden der Maßnah- rinnen und Teilnehmern politischer Bildungs- Die Anwerbung durch me erfolgen, sondern maßnahmen (Was bringt TN in Maßnahmen eine persönliche An- auch über andere Perso- politischer Bildung? Was macht sie aufmerk- sprache ist am erfolg- nen, die dem Jugend- sam?), über Teilnahmemotive und -interessen versprechendsten lichen bekannt sind, wo- (Was erwarten/wünschen TN von Maßnahmen bei ‚Peers‘ – Freund oder politischer Bildung?), über ihr Interesse an be- Freundin, Klassenkameraden – besonders effektive stimmten Lernformen oder an bestimmten The- ‚Anwerber‘ sind. Die persönliche Ansprache erfolgt men? auf unterschiedlichen Wegen, z. B. bei der Vorstel- 2. Was sagen wissenschaftliche empirische Arbei- ten zu den Effekten („Wirkungen“) politischer 3 Jochen Gläser/Grit Laudel: Experteninterviews und qualitati- Bildungsmaßnahmen? ve Inhaltsanalyse, Wiesbaden 2009

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© Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten Persönliche Ansprache erweist sich als wirkungsvoller als Flyer und Plakate lung des Angebots in Schulen, in Jugendzentren Jugendlichen nicht unbedingt auf die Inhalte des oder im Verein. Unklar ist, ob ein Grund dafür die Angebots richten. Sie liegen vielmehr vorrangig in Möglichkeit ist, sich ein besseres Bild vom Angebot allgemeinen Wünschen und Erwartungen nach so- zu machen, z. B. durch Erzählen oder die Möglich- zialen Kontakten („Spaß haben“, „etwas zusam- keit für Rückfragen. Wahrscheinlicher ist, dass das men mit Freunden oder Gleichgesinnten machen“, Vertrauen in die Person ausschlaggebend ist, die „gute Atmosphäre in der Gruppe erleben“) oder quasi als ‚Testimonial‘ für die Güte des Angebots in einem allgemeinen Wunsch nach Veränderung. einsteht. Alle anderen ‚Anwerbemedien‘ wie z. B. Letzteres betrifft entweder die eigene biografi- das Internet, Flyer, Programme oder Plakate, ran- sche Orientierung (etwas Neues erleben, neue gieren jedenfalls in ihrer Erfolgsquote hinter die- Leute und Perspektiven kennenlernen, Orientie- sem Weg. rung für das eigene Leben gewinnen) oder die ei- gene Umwelt (etwas verändern wollen, neue Per- spektiven für das gesellschaftlich-politische Leben 2. Teilnahme-Interessen kennenlernen, Einfluss üben wollen, partizipieren Für die oben formulierte zweite Annahme spricht wollen). Dafür möchten diese Jugendlichen oft der Befund, dass viele Jugendliche, vor allem dieje- wissen, wie es geht, wie sie bestimmte Zusam- nigen, die nicht verbandlich oder in anderen For- menhänge durchschauen können (Jugendbelange, men engagiert und überdurchschnittlich politisch Globalisierung, Dritte Welt) oder wie sie Engage- interessiert sind, keine klare Vorstellung davon ha- ment konkret umsetzen, konkrete Veränderungen ben, auf was sie sich in bewirken können. Ein dritter Schwerpunkt der Die stärksten und häu- der Maßnahme einlas- Interessen liegt in der erwarteten Nützlichkeit der figsten Teilnahme- sen. Dieser Befund kor- Maßnahme für das eigene Leben (Kompetenzer- motive der Jugendli- respondiert mit der Er- werb in der Hoffnung, etwas für die Zukunft chen richten sich nicht kenntnis, dass sich die „brauchen zu können“ oder im Sinne einer beruf- unbedingt auf die stärksten und häufigs- lichen Verwertbarkeit oder der Erhöhung von Be- Inhalte des Angebots ten Teilnahmemotive der werbungschancen).

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Dezidierte politische Interessen als Zugangsmotiv Dabei scheint es entscheidend zu sein, dass die ziel- für Angebote politischer Bildung nennen in der gruppenspezifische „Motivbalance“ (wie viel Spaß, Mehrheit offenbar nur spezielle Zielgruppen wie wie viel Veränderung) erhalten bleibt. Zentral ist z. B. verbandlich organisierte Jugendliche oder sol- daher die Rolle der Leitung oder der Teamerinnen che, die bereits politisch aktiv sind. Nicht wenige und Teamer. In ihrem professionellen Vermögen Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass Be- liegt es, Selbstbildungsprozesse anzuleiten, ohne griffe wie „Politik“ oder „Demokratie“ sogar ab- die Offenheit der Situation und die Flexibilität im schreckende Wirkung haben oder Verunsicherung Umgang mit Inhalten und Methoden zu riskieren. bezüglich der Inhalte der Maßnahme hervorrufen. Der (zumindest in den Augen der Teilnehmenden Allerdings darf hier nicht der quantifizierende Um- subjektive) Erfolg einer Maßnahme hängt also auch kehrschluss erfolgen, dass Angebote politischer Bil- wesentlich davon ab, ob die pädagogische Leitung dung vor allem Jugendliche erreichen, die nicht zielgruppenerfahren und methodisch flexibel ist. schon politisch oder gesellschaftlich interessiert sind (oder gar als „politikfern“ gelten). Dies wiederlegen Untersuchungen von Maßnahmen, deren Teilneh- 4. Effekte politischer Bildung mende recht eindeutig ein bestehendes Interes- Obwohl wir offensichtlich davon ausgehen kön- se mitbringen (manchmal auch mitbringen müs- nen, dass viele Jugendliche Angebote politischer sen, da entsprechende Anforderungen bestehen). Bildung wahrnehmen, ohne direkt an politischer Aber es scheint Hinweise darauf zu geben, dass Ju- Bildung interessiert zu sein, und sich die Eingangs- gendliche ohne fachspezifische Interessenslagen motivation häufig auf das sozialen Erleben, die ei- erreichbar sind und einen wahrscheinlich nicht gene persönliche Entwicklung oder ein generelles unwesentlichen Anteil der Teilnehmerschaft aus- Veränderungsbedürfnis richtet, ist anhand einer machen. großen Zahl an Untersuchungen – vor allem Vor- her-Nachher-Befragungen – festzustellen, dass sich dies während und nach der Maßnahme ändert. Dies 3. Interesse an bestimmten Lernformen betrifft sowohl den Bereich des fachlichen Wissens Nicht verwunderlich ist es nach diesen Befunden, im weitesten Sinn als dass es ganz bestimmte Lernformen sind, die von Veränderungen in auch die Bereitschaft den Jugendlichen favorisiert werden. Dies sind vor Form von Einstellungs- zum Engagement und allem offene, aktivierende und partizipative Me- änderungen oder Zu- gilt wohl oft auch dann, thoden und Formate. In der Regel wird von den wachs an Kompeten- wenn Jugendliche kei- Jugendlichen lobend hervorgehoben, dass sie die zen werden vermerkt nerlei Eingangsmotiva- Maßnahme maßgeblich mitgestalten konnten und tion für das Thema hat- die pädagogische Leitung auf ihre Person, Ideen ten. So werden bei den meisten Beobachtungen und Handlungen eingegangen ist. und Teilnehmerbefragungen Veränderungen in Form von Einstellungsänderungen oder Zuwachs an Vor allem die Erfah- Vor allem die Erfahrung Kompetenzen vermerkt und zwar sowohl hinsicht- rung der Selbstwirk- der Selbstwirksamkeit, lich spezifischer Kompetenzen für politische Teilha- samkeit, der Einfluss- der Einflussnahme und be ebenso wie in Bezug auf personale und soziale nahme und Gestal- Gestaltungsmacht prägt (Schlüssel)kompetenzen, die allerdings in der Regel tungsmacht prägt Wahrnehmung und Voraussetzung bzw. wichtige Bedingung für die Wahrnehmung und Rückmeldungen der Ju- politische Teilhabe sind. Genannt werden u. a.: Rückmeldungen der gendlichen. Je besser die Wissen über das politische (Projekt-)Thema, positi- Jugendlichen Teilnehmenden ihre Par- ve Einstellung oder Bereitschaft zu politischem tizipationsmöglichkeiten Engagement, zur Politik, zur EU, Toleranz gegen- bewerten, umso positiver schätzen sie den Erfolg über Andersdenkenden, Handlungswissen (wie man der Maßnahme ein. Dies ist auch nicht verwun- sich politisch einsetzen und politisches Handeln be- derlich, denn offene, aktivierende und partizipa- einflussen kann), Kompetenzen im Umgang mit tive Methoden und Formate können in der Regel Politikern/Politikerinnen oder politischen Entschei- beide Bedürfnisse befriedigen, von denen oben dungsträgern, Kritik- und Urteilsfähigkeit, Problem- die Rede war: Sie lösen sowohl den Wunsch nach lösungskompetenzen, Kompromiss- und Koopera- sozialer Nähe ein (nach Spaß, Gruppenfeeling, tionsfähigkeit, Präsentationskompetenzen, Ver- etwas zusammen machen) wie auch nach Ver- handlungskompetenzen, Durchsetzungsvermögen, änderung (Erleben von Partizipation, Möglich- Moderationsfertigkeiten, Kommunikationskompe- keiten der Beeinflussung der Umwelt, Selbstwirk- tenzen, Interkulturelle Kompetenzen, Organisa- samkeit). tionskompetenzen, Fähigkeit, mit Kritik umgehen

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zu können, Führungsfähig- keiten, Empathiefähigkeit, Selbstbewusstsein u. v. a. m.

Für diese Effekte scheint es zwei wichtige Bedingungen zu geben: Die Mitwirkung des Teilnehmenden und das Erlebnis der Selbstwirksam- keit: „Die Wirksamkeit pä- dagogischer Interventionen, bei denen es um die Vermitt- lung von Wissensbeständen und um die Stärkung von Kompetenzen geht“, sagen Angelika Engelbert und Alois Herlth in ihrer Studie zu einem multinationalen und integrativen Jugend- begegnungsprojekt4, „hängt maßgeblich davon ab, inwie- weit es gelingt, die ‚Klien- © Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten ten‘ (in diesem Fall also die Die Mitwirkung der Teilnehmenden ist eine wichtige Voraussetzung für die Erzie- teilnehmenden Jugendli- lung von Lerneffekten. Jugendliche auf dem DJHT 2008 in Essen chen) zu einer aktiven ‚Mit- wirkung‘ zu bewegen. Eine Wirkung des Begeg- allem Ort und zeitlicher Rahmen), von einer reali- nungsprojektes ist in dieser Perspektive also erst stischen Zielstellung, von der zielgruppenspezifi- dann wahrscheinlich, wenn eine solche ‚Ko-Pro- schen ‚Motivbalance‘ und der Qualifikation der duktion‘ in Form einer aktiven Beteiligung und Teamer/-innen oder Trainer/-innen. Eine zusätzli- Umsetzung durch die Beteiligten gegeben wäre.“5 che Bedingung, die gegeben sein sollte, ist die Und Claudia Zinser und Thomas Schübel schreiben „Produktion von „Nichtwissen“, wie es Angelika in ihrer Untersuchung „Von der Einstiegsmotiva- Engelbert und Alois Herlth nennen: „Sie funktio- tion zur Durchhaltemotivation. Evaluation des Mo- niert, wenn immer wieder neue Erfahrungen das dellprojekts „Demokratieführerschein“6: „Erst das Interesse an neuen Erfahrungen fördern und auf- Erleben der Partizipation, der TrainerInnen, der rechterhalten – also in erster Linie Lernbedürfnisse Gruppe, des Projekts führt zu einer Durchhalte- seitens der Lernenden erzeugt werden.“8 Dies pas- motivation, die bereit macht für ein längeres Enga- siert zum Beispiel dann, wenn zur Meisterung selbst gement.“ Die Haltung der Trainer/-innen und die gestellter Aufgaben bestimmte Wissensbestände, offenen Methoden „führten dazu, dass aus dem Fertigkeiten oder Fähigkeiten nötig sind, deren Reinschnuppern ein aktives Mitmachen wurde.“7 Aneignung also nicht von außen gesetzt, sondern aus eigenem Antrieb verfolgt wird. Die Möglichkeit, diese Selbstwirksamkeit zu erle- ben, hängt vom Zusammenspiel mehrerer Fakto- Und nicht zuletzt ist als Voraussetzung dafür, dass ren ab: von bestimmten Rahmenbedingungen (vor Lerngelegenheiten genutzt werden und insofern eine ‚Wirksamkeit‘ zeigen, die „biografische Pas- 4 Angelika Engelbert/Alois Herlth: Wenn Jugendliche einander sung“ relevant. Jede Person bringt ihren ganz per- begegnen. Evaluation des multinationalen und integrativen sönlichen Lebens- und Sozialisationshintergrund Jugendbegegnungsprojektes EIGHT COLUMNS. Ministerium mit, der sie unterschiedlich empfänglich macht für für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes die mit der Maßnahme einhergehenden Erfahrungs- Nordrhein-Westfalen, Bielefeld/Düsseldorf 2007. und Lernmöglichkeiten: „Die Beweggründe der Ju- 5 A. a. O., S. 15. gendlichen für gesellschaftliches Engagement zu 6 Claudia Zinser/Thomas Schübel: Von der Einstiegsmotivation einem bestimmten Zeitpunkt in einem spezifischen zur Durchhaltemotivation. Evaluation des Modellprojekts Projekt sind verbunden mit einer Erfahrung von „Demokratieführerschein“. Abschlussbericht (Unveröffentlich- Zugewinn, die jede Person anders erlebt und die tes Manuskript o. J./2009). 7 Claudia Zinser/Thomas Schübel, a. a. O., S. 14 8 Angelika Engelbert/Alois Herlth a. a. O., S. 16

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eingebunden ist in eine so genannte ‚biografische der Teilnahmen keine Rolle. D. h. die subjektive Be- Passung‘. Diese Passung hat in Kombination mit urteilung und auch die festgestellten Veränderun- den Rahmenbedingungen und Inhalten eines Pro- gen wurden mit der Häufigkeit der Teilnahme jektes auch deutlichen Einfluss auf dessen Nachhal- nicht besser bzw. eindeutiger.“11 tigkeit“.9 Diese Beobachtung tangiert nicht die Frage, dass Wenn das oben Gesagte stimmt, dann spricht nichts Partizipationserfahrungen nicht flüchtig oder nich- gegen die Annahme, dass auch pädagogische Kurz- tig, sondern im Gegenteil langfristig und nachhal- zeitmaßnahmen Effekte haben können, die bio- tig im Sinne von wiederholbar und real wirksam grafisch prägend sind. Solche Maßnahmen, die ei- sein sollten, noch spricht sie gegen die Notwendig- nen „Motivationsschub“ leisten können, der weit keit, dass Jugendlichen und Erwachsenen immer tragen kann, haben dann wieder eine Fülle und Vielfalt von Erfahrungs- und Auch pädagogische eine „Sprungbrettfunk- Lernmöglichkeiten im Laufe des Lebens angeboten Kurzzeitmaßnahmen tion“, wie es Achim werden müssen. Aber sie ist ein Signal dafür, dass können Effekte haben, Schröder und andere in die Gleichung „kurzzeitpädagogische Maßnahmen die biografisch prä- ihrer Untersuchung „Po- = oberflächlich, langzeitpädagogische Maßnahmen gend sind litische Jugendbildung = nachhaltig“ nicht immer aufgeht und deshalb auf dem Prüfstand“10 auf den Prüfstand gestellt werden muss. nennen. In der Tat zeigen Untersuchungen, dass Jugendliche nach der wiederholten Teilnahme an einer bestimmten Maßnahme zwar ihr Wissen ver- Exkurs: „Effekte“ oder „Wirkungen“? tieften oder verbreiterten, die Wiederholung der Maßnahme jedoch ihre Einstellungen und Aktivie- Es kann nicht von einer Spätestens damit ist ei- rung nicht unbedingt verstärkten: „Für die von uns linearen Abhängigkeit ne grundsätzliche Frage betrachteten Erfolgsindikatoren spielte die Anzahl zwischen pädagogi- berührt, nämlich die scher Maßnahme und nach der Feststellbarkeit 9 Franziska Wächter/Claudia Zinser: Evaluationsbericht zum erwünschtem Effekt von ‚Wirkungen“ politi- Projekt P – Ergebnisse quantitativer und qualitativer Befragun- gesprochen werden scher Bildung. Zuwen- gen, München 2006, S. 75. dungsgeber und -neh- 10 Achim Schröder/Nadine Balzter/Thomas Schroedter (s. Fuß- mer treibt diese Frage um, und die Sehnsucht nach note 1). einfachen Antworten ist groß. Die bisher unter- suchten Studien und Befra- gungen behandeln dieses Thema in der Regel kritisch und mit Bedacht. Denn auch wenn die oben zitier- ten Untersuchungen einen Zusammenhang annehmen zwischen den in einer Maß- nahme gemachten Erfah- rungen und beobachtbaren oder selbst wahrgenomme- nen Veränderungen bei den Teilnehmenden, so kann nicht von einer linearen Abhängigkeit zwischen pä- dagogischer Maßnahme und erwünschtem Effekt gesprochen werden. Dies wäre aber im strengen Sinn genau die Definition von ‚Wirkung‘ im Sinne einer Kausalität, eines direkten © Jugendbildungsstätte Kaubstraße Auch Kurzzeitveranstaltungen können nachhaltig wirken. Veranstaltung der 11 Angelika Engelbert/Alois Jugendbildungsstätte Kaubstraße 2007 Herlth: a. a. O., S.184.

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und starken Zusammenhangs zwischen Ergebnis eine elaborierte Basis, die pädagogischen Prämis- und Ursache. Ursache-/Wirkungszusammenhänge sen außerschulischer politischer Bildung und die oder Kausalzusammenhänge sind aber in komple- (vor allem politischen) Erwartungen an deren ‚Out- xen sozialen Situationen immer nur als Pluralität - come‘ in ein anspruchsvolles Verhältnis zu setzen. also einer Vielfalt von (Ursache-) Einflussfaktoren gegeben. Die Vielfalt der Faktoren – forschungslo- gisch nicht überzeugend zu isolieren – betreffen Vorläufige Schlussfolgerungen12 sowohl die Eingangssituation der Teilnehmer (Wis- sensvorräte, Motive, situationsabhängige Disposi- Die Sammlung und Sichtung der Forschungsarbei- tionen) wie auch die pädagogische Situation selbst ten – zurzeit sind es 73, die einer engeren Analyse (Gestaltung von Setting, Inhalte, Methoden, Lehr- unterliegen – lassen bereits jetzt mindestens zwei oder Bezugspersonen). Schlussfolgerungen zu.

Das Problem des Wirkungszusammenhangs stellt Reichweiten beachten: Die Erwartung an unsere sich in der außerschulischen (politischen) Bildung Untersuchungen kann nicht darin liegen, Steue- zusätzlich im besonderen Maße, weil prozessorien- rungswissen oder Handlungsanweisungen für die tierte, offene (Selbst-) Bildungsprozesse, wie sie Praxis zu erhalten. Die Vorstellung, wir kämen bei zum Konzept außerschulischer Jugend- und Er- ausreichender Forschung zu einer ‚evidenzbasier- wachsenenbildung gehören, nicht im Sinne eines ten Praxis‘ und analog zu einer ‚evidenzbasierten Input-Output-Schemas bzw. einer teleologischen Politik‘ ist angesichts der oben angesprochenen Erfolgsdefinition (z. B. in Form von abfragbaren Komplexität von Forschungsgegenstand und For- oder testbaren Lernzielen) geplant und durchge- schungsergebnissen nicht nur eindimensional, son- führt werden. Sie zielen vielmehr in erster Linie dern unterliegt einer technokratischen Vorstellung darauf ab, dass die Teilnehmenden in absichtsvoll von Theorie und Praxis und der ‚Herstellbarkeit‘ von gestalteten Settings (Lernarrangements) Gelegen- Bildungsprozessen. Man kann davon ausgehen, dass heiten zur Selbstbildung erhalten, neue Erfahrun- die Forschungsergebnisse zu neuen Diskussionen gen machen, diese reflektieren und für sich sowie und Überlegungen anregen, das pädagogische gemeinsam neue Denkweisen formulieren und Handlungsrisiko der Praxis aber erhalten bleibt. Handlungsstrategien erproben können. Sie können dies gemäß eigener, biografisch motivierter Inter- Forschung für die Praxis: Dennoch wäre es natür- essen tun, sie können es aber auch lassen, einfach lich hilfreich, wenn mehr Forscherinnen und For- ‚nur‘ Spaß haben, die Geselligkeit genießen oder scher im Bereich der politischen Bildung empirisch ganz andere, ungeplante Erlebnisse und Einsichten arbeiten würden und wenn sie dies orientiert am haben. Wissensbedarf der Praxis täten. Forschung, die an Praxisfragen arbeitet, sollte Träger und Experten in Zu dieser grundsätzlich angelegten Ergebnisoffen- die Generierung von Fragestellungen einbeziehen heit, die einer Standardisierung (oder einem Ran- und ein ausreichendes Strukturwissen über die Be- king) von Effekten im Prinzip widerspricht, kommt dingungen außerschulischer politischer Bildung si- hinzu, dass mögliche Bildungseffekte einer zeit- cherstellen (wer macht was, unter welchen Bedin- lichen Dynamik unterworfen sind, ihre Performanz gungen). Dann wären wir schon einen großen also nicht in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Schritt weiter. Lernprozess erfolgen muss (manchmal auch nicht kann). Die oben erwähnte „biografische Passung“ kann auch in zeitlicher Verzögerung zum Erlebten Dr. Helle Becker ist Erziehungswissenschaft- zutreffen. Und außerdem kann auch aus dem, was lerin, freie Publizistin und Projektmanagerin als sichtbare Kompetenzen während einer Maß- mit den Schwerpunkten politische, kulturelle nahme beschrieben – festgestellt – werden kann, und internationale Bildung. Sie ist wissen- nicht geschlossen werden, dass diese Kompetenzen schaftliche Leiterin des Projekts „Praxisfor- durch die Maßnahme hervorgebracht oder verstärkt schung nutzen, politische Bildung weiterent- worden sind; wohl allerdings, dass die Maßnahme wickeln“. die Gelegenheit gegeben hat, sie zu zeigen. E-Mail: [email protected]

Das Thema ‚Wirkungen politischer Bildung‘ ist also 12 Ergebnisse und Schlussfolgerungen sollen auf der Abschluss- auch im Hinblick auf vorhandene empirische ‚Ef- tagung des Projekts diskutiert werden, die am 14. und 15. De- fekt-Forschung‘ differenziert zu betrachten. Die zember in Berlin stattfindet. Anmeldungen unter: bisher gesichteten Arbeiten bieten jedoch bereits http//:www.adb.de/veranstaltungen/anmeldung14122010.html

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„Standort Deutschland – Wohlstand für alle?“ Ein Seminar des Arbeitnehmer-Zentrums Königswinter (AZK) Karsten Matthis

Der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten be- schließt jährlich ein Thema, das aus seiner Sicht von grundlegender oder aktueller Bedeutung für die politische Jugend- und Erwachsenenbildung ist und von seinen Mitgliedseinrichtungen unter verschie- denen Aspekten aufgegriffen werden soll. Für das Jahr 2010 lautet das Jahresthema „Wirtschaft(en) in gesellschaftlicher Verantwortung – Demokratie – Ökonomie – Politische Bildung“. Der AdB und seine Mitglieder wollen den Ursachen und Folgen der ak- tuellen Finanzkrise in Angeboten der politischen Bildung nachgehen und sich dafür einsetzen, dass Jugendliche und Erwachsene nicht nur die für sie wichtigen Informationen zu einem besseren Ver- ständnis in die ökonomischen Zusammenhänge er- halten, sondern auch die Kompetenzen entwickeln, die sie zu einer aktiven Beteiligung an den Ausein- andersetzungen über die Zukunft der Wirtschafts- systeme befähigen. In dieser Ausgabe stellen wir ein Beispiel aus der Bildungspraxis des Arbeitneh- mer-Zentrums Königswinter vor.

Zum Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

Seminartitel müssen ansprechend sein und einen „Aha-Effekt“ auslösen. Die Überschrift „Wirtschafts- standort Deutschland – Wohlstand für alle?“ stieß auf Interesse; über 20 Teilnehmer/-innen kamen zu der Veranstaltung. Der Bezug auf den Bestseller Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ aus dem Jahr

1957 war für ältere Interessierte klar. Für jüngere Quelle: Wikipedia B 145 Bild-F041449-0007/Engelbert Reineke/CC-BY-SA; © Bundesarchiv, Menschen ist der Name Ludwig Erhards nicht mehr Sein Name verbindet sich mit dem Konzept der Sozialen unbedingt mit dem Konzept der Sozialen Markt- Marktwirtschaft: Ludwig Erhard wirtschaft verbunden. Noch in den 50er Jahren ge- Hier auf dem CDU-Parteitag 1973 in Hamburg hörte der Franke zu den beliebtesten Politikern in Deutschland. Für weite Kreise der Gesellschaft galt Arbeitslosigkeit von über 3 Mio. Menschen sowie Erhard als Schöpfer des deutschen Wirtschaftswun- die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise haben ders, dessen Markenzeichen der stets Zigarre rau- das Erfolgskonzept Soziale Marktwirtschaft in Fra- chende Wirtschaftsminister wurde. Er selbst hat ge gestellt. Abstiegsängste haben sich quer durch aber diesen Begriff „Wirtschaftswunder“ immer ab- die Generationen verbreitet. gelehnt und bestand darauf, dass das Wirtschafts- wachstum Ergebnis einer erfolgreichen marktwirt- Soziale Marktwirt- So hatte es der erste Re- schaftlichen Politik sei. Soziale Marktwirtschaft, schaft basiert auf ferent des Seminars, so Erhard und sein Staatssekretär Müller-Armack, einer christlich Matthias Schäfer, Leiter braucht einen festen Rahmen, benötigt eine Ord- fundierten Ethik des Teams Wirtschafts- nungspolitik, die das Verhältnis zwischen Kapital politik der Konrad-Ade- und Arbeit immer wieder austariert. Zur Sozialen nauer-Stiftung (Berlin), nicht leicht, die Prinzipien Marktwirtschaft gehören Tarifparteien und das Be- der Sozialen Marktwirtschaft werbend zu erläu- triebsverfassungsgesetz, das Kartellrecht und eine tern. Keine Frage, die Soziale Marktwirtschaft ba- Steuerpolitik, die Luft für Investitionen und Kon- siert auf einer christlich fundierten Ethik, die sich sum lässt. auf das christliche Menschenbild beruft. Freiheit und Verantwortung, Solidarität und Subsidiarität Das Vertrauen in die Soziale Marktwirtschaft, das sind Kategorien dieses Wirtschaftskonzeptes, das repräsentativ belegt ist, war nicht nur bei unseren der Referent als dritten Weg zwischen Kapita- Seminarteilnehmern erschüttert. Die anhaltende lismus und Sozialismus beschrieb. Die aktuelle Rea-

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lität der Sozialen Marktwirtschaft weist jedoch vorstandes der IG BCE auf. Biermann ist Arbeits- auch Schattenseiten auf, wie unsichere Beschäfti- marktexperte und Mitglied im Verwaltungsrat der gungsverhältnisse oder Langzeitarbeitslosigkeit un- Bundesagentur für Arbeit. Er legte zunächst dar, ter älteren Menschen. dass der Standort Deutschland nicht auf Großindu- strie verzichten könne. Nicht nur werde es mehr Beschäftigung allein über neue Dienstleistungs- Arbeitsbedingungen am Wirtschaftsstandort unternehmen geben. Er unterstrich die Bedeutung Deutschland der Chemie-Industrie, die Millionen von Menschen in Deutschland Arbeit gebe. Zum Standort Deutsch- Wie ist es um den Wirtschaftsstandort Deutschland land gehören seiner Ansicht nach flexible Tarifver- konkret bestellt? Am Beispiel der Region Köln/Le- träge, die sich je nach Region und wirtschaftlichem verkusen wurden zwei Großbetriebe unter die Lu- Erfolg der Unternehmungen richten. Er wandte sich pe genommen. Per Bus sind beide Unternehmen in gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Leihar- 30 bzw. 60 Minuten erreichbar. Zu den wichtigsten beit und Minijobs seien letztendlich dem Standort Arbeitgebern gehört der Köln/Bonner Großflugha- nicht dienlich, weil nur durch sozialversicherungs- fen, der rd. 13.000 Menschen Beschäftigung bietet. pflichtige Beschäftigung der Konsum angekurbelt Das Managementmitglied Walter Bieber beschrieb werde. den Teilnehmern den harten Konkurrenzkampf der Ausbildung und Weiterqualifizierung seien der bundesdeutschen Flughäfen und konnte auf gute Schlüssel für die Zukunft des Standorts Deutsch- Bilanzen sowie hohe Mitarbeiterzufriedenheit ver- land. Nur gut qualifizierte Mitarbeiter können da- weisen. Ökologische Bedenken der Teilnehmer ge- für garantieren, dass bspw. die deutsche Chemiein- genüber Lärmbelästigung und Luftverschmutzung dustrie auch in Zukunft konkurrenzfähig sei. Die wehrte er gekonnt ab. Der Seminargruppe wurde Unternehmen könnten zwar von ihren Arbeitneh- gestattet, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen mern Flexibilität einfordern, müssten aber im und sich über die Arbeitsbedingungen auch auf dem Gegenzug auch Sicherheit bieten. Rollfeld (u. a. Gepäckabfertigung) zu informieren.

Professionell präsentiert sich am Standort Leverku- Seminarfazit sen die Bayer AG. Das Kommunikationscenter Bay- Komm verfügt über repräsentative Räume, welche In der Seminarkritik zeigten sich die Seminarteil- über die Konzernstruktur und die aktuelle Unter- nehmer insbesondere zufrieden mit den Betriebs- nehmenspolitik informieren. Trotz dieses „Heimvor- besichtigungen. Diese böten die Möglichkeit, einen teils“ hatte die Referentin recht schnell inhaltliche Blick hinter die Kulissen zu werfen und zumindest Schwierigkeiten. Auf die Frage einer Seminarteil- die Arbeitsplatzrealität zu erspüren. Gelobt wur- nehmerin, wie viele Leiharbeiterinnen und Leihar- den die Ausführungen von Egbert Biermann als ab- beiter die Bayer AG beschäf- tigt, konnte sie mit keiner Quelle: Wikipedia/Foto: user qualle Zahl aufwarten. Auch kriti- sche Nachfragen der Teilneh- mer des Seminars, ob die Forschung nur dem wirt- schaftlichen Gewinn diene, konnte sie nicht parieren. Immerhin konnte sie auf ei- ne erfolgreiche Firmenpoli- tik hinweisen, viele soziale Leistungen für die Mitarbei- ter und die Region anführen, einschließlich der Bundesli- gamannschaft, die salopp als „Werks-Elf“ bezeichnet wird.

Aktuelle politische Standort- fragen nahm Egbert Bier- mann, Mitglied des Haupt- Terminal 1 des Flughafen Köln/Bonn (CGN). Architekt: Paul Schneider-Esleben

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solutem Profi in den Bereichen Arbeitsmarkt und Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit aktuelle Bildung. Als Fazit betonten die Teilnehmer, Soziale Zeitungsartikel, Statistiken sowie Schaubilder prä- Marktwirtschaft könne nur mit verbindlichen Re- sentierte. Zusätzlich erhielten die Teilnehmer Infor- geln funktionieren, wirtschaftliche Vernunft und mationen über die besichtigten Betriebe Flugha- sozialer Ausgleich müssten zwei Seiten einer Me- fen Köln/Bonn und die Bayer AG. Zu dem Seminar daille sein. Trotz Kritik an der Sozialen Marktwirt- wurden gezielt Bürgerinnen und Bürger mit wirt- schaft gibt es für die übergroße Mehrheit der Se- schafts- und sozialpolitischem Interesse eingeladen, minarteilnehmer dazu keine echte Alternative. u. a. Betriebsräte und Gewerkschaftsmitglieder. Weder Neoliberalismus noch eine Rückkehr zu ei- ner sozialistischen Planwirtschaft à la DDR seien echte Alternativen. Verlauf und Diskussion im Seminar machen Mut, das Thema weiter anzupacken und Betriebsbesich- Karsten Matthis ist Geschäftsführer im AZK tigungen auf das Programm zu setzen. Allerdings und pädagogischer Leiter der Stiftung Christ- sind diese nur sinnvoll, wenn tatsächlich kompe- lich-Soziale Politik e.V. Adresse über die Stif- tente Firmenvertreter und Betriebsräte an diesen tung: Johannes-Albers-Allee 3, 53639 Königs- Gesprächen beteiligt werden. winter. Für dieses Seminar wurde ein Reader zusammen- gestellt, der unter den Stichworten Wachstum, Homepage: www.azk.de

266 METHODEN UND ARBEITSFORMEN

Energiesicherheit in Europa Ein Planspiel über Ressourcenkonflikte Christian Roth

Im Rahmen dieses Planspiels werden der Energie- linesystems kann nur in Absprache mit der russischen streit zwischen Russland auf der einen Seite und Seite erfolgen. Der russische Gasmonopolist Gaz- den wichtigen Transferländern Ukraine und Bela- prom verfolgt seit einigen Jahren die Strategie, die rus auf der anderen Seite sowie die Rolle und Inter- Preise für Gaslieferungen im postsowjetischen Raum essen der Europäischen Union näher beleuchtet. auf internationales Niveau anzuheben, was die Ur- Ziel des Planspiels ist die Formulierung einer Ener- sache für die Lieferkonflikte mit der Ukraine und giecharta, die im Rahmen einer intergouverne- Belarus ist. Gleichzeitig besitzt das Unternehmen mentalen Energiekonferenz verhandelt und verab- ein großes Interesse, die Pipelinenetze im postso- schiedet werden soll. Den Teilnehmer/-innen am wjetischen Raum zu übernehmen. Im Gegensatz zu Planspiel sollen Probleme der Energiesicherheit in Belarus hat sich die Ukraine bisher diesem Ziel er- Europa und eines intergouvernementalen Politik- folgreich entgegengestellt. Gazprom hofft in der prozesses veranschaulicht werden. zur Zeit schwierigen ökonomischen Lage für den ukrainischen Staat, den Druck auf den ukrainischen Gasmonopolisten Naftogas weiter erhöhen zu kön- Ausgangslage nen, um doch noch Zugriff auf das ukrainische Pipe- linesystem zu bekommen. Von ukrainischer Seite Für Russland sind die Beziehungen zu Belarus und existiert seit kurzem ein Angebot, in einem Konsor- zur Ukraine von herausragender Bedeutung. Mos- tium aus russischen, ukrainischen und europäischen kau zielt darauf, seine beiden westlichen Nachbarn Unternehmen das ukrainische Pipelinesystem zu be- politisch und wirtschaftlich zu kontrollieren und treiben und zu modernisieren. betrachtet sich weiter als allein zuständige Ord- Russland hat durch subventionierte Energieliefe- nungsmacht im postsowjetischen Raum. Dabei tritt rungen das Wirtschaftssystem des belarussischen es in eine Integrationskonkurrenz zu EU und NATO Präsidenten Lukaschenkos abgesichert, welches auf um die gemeinsame Nachbarschaft. Kiew und Minsk dem günstigen Einkauf von Rohstoffen aus Russ- möchten sowohl mit Russland als auch mit der EU land und dem teuren kooperieren. Beide sind historisch eng mit Russland Die Basis einer engen Verkauf veredelter Roh- verflochten, nicht zuletzt durch eine starke russi- Kooperation zwischen stoffe auch in die EU sche Minderheit. Sie befinden sich zudem in ener- Belarus und Russland basierte. Die Basis einer giepolitischer Abhängigkeit von Moskau, das auch wird seit etwa 2006 in engen Kooperation zwi- militärisch bei seinen Anrainern präsent ist. Frage gestellt schen Belarus und Russ- land wird seit etwa 2006 Sowohl Belarus als auch die Ukraine liegen geo- in Frage gestellt. In diesem Jahr begann Russland strategisch an der Grenze zu NATO und EU und im postsowjetischen Raum und damit auch in Bela- sind Transitländer für Erdöl und Erdgas zum be- rus die Preise für Energieexporte anzuheben. Bis deutendsten russischen Absatzmarkt, den EU-Mit- 2011 sollen die russischen Subventionen vollkom- gliedsstaaten. Russland transportiert 25 Prozent sei- men abgeschafft werden, was die wirtschaftlichen nes Gases und 30 Prozent seines Öls durch Belarus Beziehungen beider Länder verändern wird. Die in die Europäische Union. Durch die Ukraine flie- Folge ist, dass Belarus sich nach alternativen Wirt- ßen zurzeit knapp 80 Prozent des russischen Gases schaftspartnern umschaut, wie es das bereits durch in die EU. Gleichzeitig sind beide Staaten selbst wichtige Abnehmer für In den Energiebezie- russische Rohstoffe. hungen zwischen In den Energiebeziehun- Russland und der gen zwischen Russland Ukraine besteht eine und der Ukraine besteht enge gegenseitige eine enge gegenseitige Verflechtung Verflechtung. Während Russland der wichtigste Gaslieferant der Ukraine ist, ist die Ukraine der größte Einzelabnehmer von russischem Gas. Gleich- zeitig ist die Ukraine das wichtigste Transitland für Gas in die EU. Das Pipelinesystem durch die Ukrai- ne wurde zu Sowjetzeiten gebaut und ist technisch mit dem russischen System verbunden. Das heißt: beide funktionieren nur in Abstimmung miteinan- © Manfred Mazi/pixelio.de der und eine Modernisierung des ukrainischen Pipe- Gaspipeline

267 METHODEN UND ARBEITSFORMEN

die Beteiligung am Programm der Östlichen Part- 2. die Energiesicherheit, d. h. den ungehinderten nerschaft der EU tut. Andererseits muss die Basis Zugang zu Erdöl und Gas aus Russland für die der bilateralen Beziehungen erneuert werden. Das Mitgliedstaaten der EU, langfristige Ziel der russischen Führung ist es, den 3. die Transfersicherheit, d. h. den ungehinderten westlichen Nachbarn politisch und ökonomisch zu Transport von Gas und Erdöl durch die Transit- kontrollieren. Dies soll einerseits durch die schritt- länder nach Westeuropa. weise Übernahme der Transitpipeline in die EU durch Gazprom erfolgen, was 2010 zu 50 Prozent Bezogen auf das Problemfeld Energiesicherheit sei für teilweise subventionierte Öllieferungen erfolgt auf die große wechselseitige Abhängigkeit zwi- ist. Andererseits versuchen russische Unternehmen, schen Russland und Westeuropa als Geschäftspart- im Rahmen der belarussischen Privatisierung die ner hingewiesen. Russland ist auf das Geld aus dem wichtigsten Teile der belarussischen Wirtschaft zu Gas- und Erdölgeschäft mit der EU ebenso ange- übernehmen. wiesen wie diese auf die Energieressourcen aus Russland. Bezogen auf die Transfersicherheit be- Streitigkeiten um Gas zwischen Russland und frü- steht die Problematik, dass die Gas- und Ölfelder heren Sowjetrepubliken, die nun als Transitländer im Westen Sibiriens mit den Raffinerien in Europa dienen, werden in der EU besorgt beobachtet, da über Pipelines verbunden werden müssen. Die Pi- 25 Prozent des in der EU verbrauchten Erdgases pelines verlaufen durch Drittstaaten (Transitländer), aus Russland kommen. Im Juli dieses Jahres hatte die dadurch ihre Bedeutung für die Energiesicher- Russland erst mit Weißrussland wieder im Clinch um heit in Europa erhalten. unbezahlte Rechnungen gelegen und seine Liefe- rungen an das Nachbarland gedrosselt. Auch zwi- schen Moskau und Kiew hatte es in der Vergan- Pipelines in Europa genheit bereits Probleme gegeben, die wiederholt zu einem Stopp der russischen Gaslieferungen an Basierend auf der realen Ausgangs- und Konfliktsi- die Ukraine führten. Anfang 2009 waren die Gas- tuation ergeben sich für die fünf Akteure des Plan- lieferungen von Russland nach Europa wegen ei- spiels (Russland, Belarus, Ukraine, Deutschland und nes solchen Streits über die Bezahlung zwischen EU folgende Rollenprofile: Moskau und Kiew für zwei Wochen unterbrochen. Russland ■ Russland ist eine „Petromacht“. Geführt wird Konfliktgegenstand und Rollenprofile das Land von Staatspräsident Medwedev. Er kontrolliert die Energiewirtschaft des Landes Der Konflikt begann im März 2005, als Russland die und den Energiekonzern „Gazprom“. Bedingungen für Transittransporte von Erdgas über ■ Russland leidet darunter – seit dem Zusammen- ukrainisches Territorium nach Westeuropa sowie bruch der Sowjetunion – seinen Anspruch als den Preis, den die Ukraine für Erdgasimporte zah- Weltmacht verloren zu haben. Seine Energieres- len sollte, zugunsten marktorientierter Preispolitik sourcen setzt Russland immer öfter als außen- neu festlegte. Weil die Ukraine sich weigerte, den politische Waffe ein. So hat es in den letzten neuen Bedingungen zuzustimmen, und ein Ver- Jahren der Ukraine und Weißrussland im wahr- trag für 2006 bis zuletzt ausblieb, stellte Russland sten Sinne des Wortes den „Gashahn“ zuge- am 1. Januar 2006 die Gasexporte in die Ukraine ein. dreht, sofern diese nicht auf die Bedingungen Dies führte kurzzeitig zu Lieferengpässen in ver- Moskaus eingehen wollten. schiedenen europäischen Staaten. In den folgenden ■ Der Energiekonzern „Gazprom“ strebt an, die Jahren kam es immer wieder zu Konflikten zwischen Energiepreise für die osteuropäischen Export- Russland auf der einen sowie Belarus und der länder von Gas und Öl auf „Westniveau“ anzu- Ukraine auf der anderen Seite um Gaspreise und heben. Gleichzeitig werden neue große Pipeli- Transitbedingungen, die immer wieder kleinere Ver- nes durch die Ostsee, das Schwarze Meer und sorgungsengpässe für die westeuropäischen Staa- die Türkei gebaut, um die Abhängigkeit von ten zur Folge hatten. Im Wesentlichen beinhaltet den Transferländern Belarus und Ukraine zu mi- der Energiestreit drei Konfliktpunkte: nimieren. ■ Auch die Länder Westeuropas – insbesondere 1. die Preispolitik Russlands gegenüber den frühe- Deutschland – sind abhängig von den Gas- und ren Sowjetrepubliken, die im Falle von Belarus Erdöllieferungen Moskaus. Russland droht of- und der Ukraine auch wichtige Transitländer für fensiv damit, sich im Falle politischer und öko- Gas nach Westeuropa darstellen, nomischer Probleme mit den Staaten des Wes-

268 METHODEN UND ARBEITSFORMEN

Quelle: Wikimedia Commons; ©Onno (in Anlehnung an Quelle http://www.eia.doe.gov/emeu/cabs/Russia/Maps.html) Vorhandene und geplante Gas-Pipelines zwischen Russland und Deutschland, Stand 2009

tens dem asiatischen Markt, insbesondere Chi- Erdöl und Gaslieferungen nach Westeuropa ge- na, zuzuwenden. gen Russland auszuspielen. Lukaschenko droht immer wieder offen damit, den Gastransport Belarus nach Westeuropa zu unterbinden, falls Russland ■ Weißrussland ist eine autoritäre Diktatur. Ge- nicht kompromissfähig ist. führt wird sie von Präsident Alexander Luka- ■ Für Lukaschenko geht es um alles! Der Fortbe- schenko. Das Wirtschaftssystem des Landes ent- stand seines Regimes steht auf dem Spiel. Wenn spricht dem einer zentralen Planwirtschaft. Weißrussland statt der bisherigen Freundschafts- ■ Obwohl Weißrussland eine Vereinigung mit preise für russische Energielieferungen nun welt- Russland anstrebt, ist das Verhältnis der beiden marktnahe Preise bezahlen muss, sind die bisher Staaten extrem angespannt. Drohungen Russ- de facto mit dem Geld russischer Steuerzahler lands, kein Gas und Öl mehr durch die Pipeline finanzierten üppigen Sozialleistungen in Gefahr, „Druschba“ zu lassen, wenn Weißrussland nicht denen Lukaschenko seine hohen Zustimmungs- die finanziellen Forderungen des russischen raten im Volk verdankt. Energiekonzerns „Gazprom“ erfüllt, bezeichnet Lukaschenko als Erpressung und Staatsterro- Ukraine rismus. ■ Die Ukraine befindet sich im Wandel von einer ■ Weißrussland möchte sich nicht erpressen lassen autoritären Diktatur zu Demokratie und Markt- und versucht seine Bedeutung als Transitland für wirtschaft. Innenpolitisch umstritten ist der au-

269 METHODEN UND ARBEITSFORMEN

ßenpolitische Kurs des Landes. Favorisiert wird russland und die Ukraine sind es als Transferlän- eine Annäherung an die Europäische Union, je- der für Öl und Gas. Daher ist die EU generell an doch gibt es im Land auch starke prorussische guten Beziehungen und engen wirtschaftlichen Kräfte. Kontakten mit diesen Ländern interessiert. ■ Durch die höheren Forderungen des russischen ■ Das Thema Energiesicherheit steht auf der poli- Energiekonzerns „Gazprom“ wird sich der bis- tischen Tagesordnung der EU ganz weit oben. her sehr günstige Preis für Gas (im Jahre 2006 Einerseits versucht die EU Strategien zu ent- etwa 35 % bis 40 % der Preise in Westeuropa) wickeln, um die Abhängigkeit vom Energielie- drastisch erhöhen. Die ukrainische Wirtschaft ist feranten Russland abzuschwächen. Andererseits an dieser Stelle besonders empfindlich und in strebt die EU eine vertiefte politische und wirt- hohem Maße von Russland abhängig. schaftliche Partnerschaft mit Russland an. ■ Die von der gegenwärtigen ukrainischen Regie- ■ Die Disziplinierungsversuche Russlands gegen- rung angestrebte stärkere wirtschaftliche Ausrich- über Weißrussland und der Ukraine verurteilt tung der Ukraine in Richtung Europäische Union die EU, ebenso die machtpolitischen Demonstra- dürfte ausländische Investitionen steigen lassen tionen des weißrussischen Präsidenten Luka- und so den wirtschaftlichen Aufschwung stärken. schenko, der immer wieder den Energiezufluss ■ Gleichzeitig gefährdet der Streit um Gas und Öl nach Westeuropa über die Pipeline „Druschba“ die innenpolitische Stabilität der Ukraine und stoppte, um Russland zu weiteren Verhandlun- damit die Sicherheit der ganzen Region, da sich gen über die Energiepreise oder Zahlungsmo- die russisch sprechende Mehrheit im Osten des dalitäten zu zwingen. Landes stark mit Russland verbunden fühlt. ■ Europa braucht eine stimmige Energiesiche- ■ Die Ukraine möchte sich nicht erpressen lassen rungspolitik. Dazu gehört ein enger Energiedia- und versucht, ihre Bedeutung als Transferland log mit den Nachbarn Ukraine, Weißrussland für Erdöl und Gaslieferungen nach Westeuropa und Russland, ein guter Energiemix, mehr For- gegen Russland auszuspielen. So strebt die Ukrai- schungsförderung für erneuerbare Energien, ne eine Diversifizierung ihrer Energieversorgung Energiesparpotenziale und saubere Kohlekraft- an und eine Zusammenarbeit mit der EU bei der werke. Modernisierung ihres Pipelinesystems. ■ Neue Leitungen, zum Beispiel durch die Türkei, sollen Europa unabhängiger von Russland ma- Deutschland chen. Daneben soll der Ukraine geholfen werden, ■ Deutschland bezieht etwa ein Drittel seines Erd- sich aus der Abhängigkeit von Russland zu lösen. gases aus Russland. Kein anderes Lieferland kommt nur annähernd auf diese Menge. ■ Den Energiestreit zwischen Russland und Weiß- Planspiel Energiesicherheit in Europa russland beobachtet Deutschland mit großem Unbehagen, da die Energieversorgung insbeson- Im Rahmen des Planspiels soll neben der inhaltli- dere über die Pipeline „Druschba“ erfolgt. Die- chen Bearbeitung des Themas insbesondere die Rol- se Pipeline ist eine der längsten der Welt. Durch le intergouvernementaler Entscheidungsprozesse in die Leitung fließt rund ein Fünftel des deut- der internationalen Politik untersucht werden. Ziel schen Gasbedarfs. Die Pipeline verläuft in zwei ist die Verabschiedung einer verbindlichen Ener- Strängen, der größere führt über Weißrussland giecharta für Europa. und versorgt Deutschland sowie Polen. Das Planspiel verfolgt dabei mehrere Ziele: ■ Deutschland strebt Rechtssicherheit und Ver- ■ Es vermittelt ein Bewusstsein hinsichtlich der tragssicherheit mit Russland an, die sich auch Probleme der Energiesicherheit und der Res- auf die Transferländer Weißrussland und Ukrai- sourcenknappheit und den konkreten Anforde- ne erstrecken muss. rungen an eine nachhaltige Politikstrategie. ■ Teile der Medien hinterfragen die Kooperation ■ Es veranschaulicht, dass eine nachhaltige Ener- mit einem autoritär regierten Russland, insbe- giepolitik nicht nur eine ökonomische Frage ist, sondere beim Bau der so genannten „Ostseepi- sondern dass hier auch (außen)politische, öko- peline“, die Russland und Deutschland, unter logische und soziale Aspekte eine zentrale Rolle Umgehung der Transitländer Belarus und Ukrai- spielen; insbesondere vor dem Hintergrund des ne, zukünftig direkt verbinden wird. großen sozioökonomischen Gefälles innerhalb Europas. Europäische Union ■ Das Planspiel dient schließlich der vertiefenden ■ Als Erdgaslieferant ist Russland von entschei- Auseinandersetzung intergouvernementaler Ver- dender Bedeutung für die EU, aber auch Weiß- handlungsprozesse und veranschaulicht die ver-

270 METHODEN UND ARBEITSFORMEN

schiedenen Interessenlagen und Machtstruktu- schließlich ein Moderatorenkoffer, Overheadpro- ren innerhalb der europäischen Staatenfamilie. jektor oder Beamer, vier Stellwände, Plakate und Folien benötigt. Für die einzelnen Akteure müssen Dazu schlüpfen die Teilnehmenden in die Rolle eigene Räumlichkeiten vorgesehen werden, um in- Russlands, Belarus‘, der Ukraine, Deutschlands und terne Abstimmungsprozesse zu ermöglichen der EU. In der konkreten Rolle erfahren die Teil- nehmenden, wer welche Gestaltungs- und Entschei- dungsmacht innerhalb des intergouvernementalen Spielablauf Verhandlungsprozesses innehat und wie man diese Die Teilnehmenden werden in fünf Gruppen mit durch informelle Strategien und Taktiken ausbau- mindestens drei Personen eingeteilt: (1) Russland; en kann. Ein realer Politikprozess wird auf diese (2) Belarus; (3) Ukraine; (4) Deutschland und (5) die Weise nachgespielt und erfahrbar. Die Reduktion Europäische Union. Durch diese Auswahl werden der Akteure dient der Vereinfachung und Realisie- die unterschiedlichen nationalen Interessenlagen rung des Planspiels. Erfahrungsgemäß zeichnen sich von Energielieferant, Transitländern und Liefer- im Planspiel zwei zentrale Konfliktlinien ab. Die ei- ländern abgebildet. Je nach Größe der Gruppe ins- ne bezieht sich auf den Zielkonflikt ökonomische gesamt können noch weitere Akteure, wie z. B. versus machtpolitische Interessen. Die zweite auf weitere Transitländer bzw. EU-Mitgliedstaaten, wis- das Spannungsfeld zwischen Europäisierung und senschaftliche Experten, Presse, etc. eingeführt nationalen Souveränitätsvorbehalten. werden. Begleitpersonen könnten zudem in die Rolle von Spielbeobachtern schlüpfen. Jede Grup- pe erhält in einem ersten Arbeitsschritt die Aus- gangslage des Planspiels, eine detaillierte Rollen- karte, eine Arbeitskarte mit konkreten Kriterien für die Erarbeitung der nachhaltigen Politikstrate- gie sowie die Infographiken über das Pipelinesys- tem und die Gasexporte nach Westeuropa. Zu- nächst sollen die einzelnen Akteure ihr Rollenpro- fil lesen und sich ihrer Position klar werden sowie die notwendigen weiteren Arbeitsschritte bespre- chen und Aufgaben untereinander verteilen. Im nächsten Schritt realisieren die einzelnen Ak- teure mit Hilfe der verteilten Materialien ihre Posi- tion und erarbeiten eine Posterpräsentation für die © P. Kirchhoff/pixelio.de im Plenum stattfindende Pressekonferenz anläss- Die Teilnehmer/-innen des Planspiels schlüpfen in die lich der Energiekonferenz. Nach Durchführung der Rolle intergouvernmentaler Verhandlungspartner Pressekonferenz (moderiert von einem Vertreter der Europäischen Union, die als Gastgeber der Energie- konferenz fungiert), die es den einzelnen Akteu- Zielgruppe, Teilnehmerzahl und Ausstattung ren ermöglicht, die jeweiligen Positionen der an- Alter und Bildungsniveau der Teilnehmenden spie- deren Staaten kennenzulernen, ziehen sich die len keine wesentliche Rolle, da die Rollenprofile als Akteure in ihre zugewiesenen Räume zurück. In auch die Materialien den Fähigkeiten der Lernen- dieser Phase des Planspiels konkretisieren die ein- den angepasst werden können. Es sollten mindes- zelnen Akteure auf der Grundlage ihrer Posterprä- tens 15 Teilnehmende sein. Andererseits sollte die sentation ihre Position und erarbeiten konkrete Teilnehmerzahl von 30 Personen nicht überschrit- Vorschläge und Beschlussvorlagen für die Energie- ten werden. Die Materialien für das Planspiel sind konferenz. im Einzelnen: Moderiert wird die Energiekonferenz von der Eu- ■ die Ausgangslage des Planspiels ropäischen Union, die einerseits zwischen Russland ■ die Arbeitskarte für die Teilnehmenden und den Transitländern vermitteln soll, anderer- ■ die einzelnen Rollenkarten seits auf eine verbindliche Energiecharta für Euro- ■ der Protokollbogen für jede Spielrunde pa drängt. Es sollen zentrale Konfliktlinien, aber ■ Infographiken (Pipelinesystem und Gasexporte auch mögliche Kompromisse aufgezeigt werden. nach Westeuropa). Entscheidungen werden entsprechend des inter- gouvernementalen Charakters der Verhandlungen Ferner werden ein Stehpult und eine Glocke sowie einstimmig getroffen. Die Ergebnisse jeder Ver- Namensschilder und Fähnchen für die Sitzung, handlungsrunde (Änderungen an der Energiechar-

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ta) werden mit Hilfe eines Protokollbogens doku- spiel inhaltlich vor allem hinsichtlich des Realitäts- mentiert und auf Folie übertragen bzw. entspre- bezuges des Verhandlungsprozesses und der durch- chend vervielfältigt, da auf dieser Grundlage wei- gesetzten Politikstrategie. In methodischer Hinsicht ter verhandelt wird. D. h., Verhandlungsrunden im werden Konzeption und Durchführung des Plan- Rahmen der Energiekonferenz können immer wie- spiels sowie das Rollenverhalten der Teilnehmen- der auch für bilaterale Verhandlungen der Staaten den diskutiert. Nahezu immer wird die wesentlich unterbrochen werden. Sollten sich die Akteure zu intensivere Lernerfahrung beim Planspiel gegen- schnell auf ein bestimmtes Ergebnis einigen, be- über dem zur Routine gewordenen Schulunterricht steht für die Spielleitung die Möglichkeit, eine Er- hervorgehoben. Und selbst kritischen Stimmen ge- eigniskarte in das Spiel einzubringen und eine neue lingt die Einsicht: „Jetzt verstehe ich endlich, wie Konfliktsituation zu schaffen. Politik funktioniert und warum das immer so lange dauert mit den Entscheidungen.“

Vorbereitungs- und Durchführungsanforderungen Bewährt hat sich, wenn zur Vorbereitung des Plan- Quelle spiels bereits mit der Lerngruppe Probleme der Energiesicherheit und Ressourcenknappheit erör- Stefan Meister: Russlands Beziehungen zur Ukraine tert worden sind. Grundkenntnis über die einzel- und Belarus, veröffentlicht auf aussenpolitik.net: nen Staaten (insbesondere Belarus und Ukraine) 23.04.2010: und die Funktionsweise des Internationalen Sys- http://aussenpolitik.net/themen/eurasien/russland/ tems sind gleichfalls hilfreich. Ein bevorstehendes russlands_beziehungen_zur_ukraine_und_zu_bela- Planspiel motiviert ohnehin zu einer gründlichen rus/ Vorbereitung. Der ideale Zeitansatz beträgt dabei einen Seminartag (sechs Zeitstunden), mindestens aber einen Schulvor- bzw. -nachmittag. Christian H. Roth, M.A., ist freiberuflicher Bil- dungsreferent und freier Mitarbeiter des Internationalen Forums Burg Liebenzell. Auswertung des Planspiels Er ist erreichbar über die Adresse pbnet – Das Planspiel schließt stets mit einer Auswertung Netzwerk für Politik und Bildung. ab. Falls es Spielbeobachter gibt, vermitteln diese E-Mail: [email protected] zunächst ihre Eindrücke. Bewertet wird das Plan- http://www.pbnet.info

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Meldungen

Erste Beratung Haushaltsentwurf 2011

Am 7. Juli 2010 legte die Bundes- kindlichen Bildung nicht gespart Sie warfen der Regierungskoali- regierung ihren Entwurf für den werden soll. BMFSFJ und BMBF tion vor, dass Ankündigungen Bundeshaushalt des Jahres 2011 werden gemeinsam zusätzliche wie das Bildungssparen oder die vor. Er sieht Ausgaben von Mittel für die frühkindliche Bil- Weiterbildungsallianz bei ihrer 307,4 Milliarden € vor; gegen- dung einbringen. Der Etat 2011 Umsetzung nicht die gewünsch- über dem aktuellen Haushalt be- des Bundesinnenministers sieht ten Erfolge gebracht hätten oder deutet dies eine Minderung von ein Ausgabenvolumen von gescheitert seien beziehungs- 12,1 Milliarden €. Fast alle Res- 5,39 Milliarden € vor und enthält weise im Haushalt nicht mehr sorts weisen für 2011 gegenüber damit gut 104 Millionen weniger vorkämen. Es gebe trotz des hö- dem laufenden Haushalt einen als 2010. Beim BMI ist auch der heren Etats auch Bildungsberei- Rückgang ihres Ausgabenvolu- Haushalt der Bundeszentrale für che, die von Kürzungen bedroht mens aus, allerdings in unter- politische Bildung angesiedelt, in seien. Bei der allgemeinen und schiedlicher Größenordnung. Von dem die Mittel für die politische beruflichen Bildung würden den Ausgabenkürzungen am Bildung um 1,55 Mio. € gekürzt 27 Prozent gegenüber dem Haus- stärksten betroffen ist das Bun- werden sollen (siehe dazu auch halt 2010 eingespart. Insbesonde- desministerium für Arbeit und in diesem Heft „Aus dem AdB“). re der Bereich der beruflichen Soziales, das allerdings auch das Weiterbildung, der durch die Ressort mit den höchsten Ausga- Der Deutsche Bundestag befasste Bundesagentur für Arbeit ver- ben im Bundeshaushalt ist. Zu- sich Mitte September 2010 mit waltet werde, sei von Kürzungen wächse verzeichnen können im dem Haushaltentwurf in Erster betroffen. Statt mit der geplan- nächsten Jahr nur die Bundesmi- Lesung. Bundesbildungsministe- ten Bildungschipkarte private nisterien für Verteidigung, für rin Dr. wies bei Träger zu fördern, sollte mehr in Umwelt, Naturschutz und Reak- der Debatte über ihren Etat auf die Bildungsinfrastruktur inve- torsicherheit, für wirtschaftliche die Vorrangstellung von Bildung stiert werden. In der Debatte Zusammenarbeit und Entwick- und Forschung in dieser Regie- wurde zudem – parteiübergrei- lung sowie das Bundesministe- rung hin. Gegenüber dem letzten fend – erneut das Kooperations- rium für Bildung und Forschung. Haushalt der rot-grünen Bundes- verbot beklagt, das Bundesinitia- Bundesbildungsministerin Dr. An- regierung seien die Mittel für Bil- tiven im Bereich der Bildung nette Schavan bezeichnete ihren dung und Forschung im aktuel- einschränkt. Haushalt in Höhe von 11,646 Mil- len Entwurf um 54 % angehoben liarden € (gegenüber 2010 ist das worden. Im Mittelpunkt der Bil- Bei den Beratungen über den ein Anstieg um 7,2 Prozent) als dungspolitik sollten der Abbau Haushalt des Bundesministeriums einen Haushalt auf Rekordniveau. von Benachteiligung, die Verbes- für Familie, Senioren, Frauen und Sie kündigte an, dass frühkind- serung von Zugängen und mehr Jugend ging es vor allem um die liche Bildung, die Stärkung des Aufmerksamkeit für Kinder und Förderung der frühkindlichen Fachkräftenachwuchses und der Jugendliche mit Bildungsproble- Bildung, das Elterngeld und die Hochschulbereich besondere men stehen. Ein zentrales Projekt Kindertagesbetreuung. Bundes- Schwerpunkte im kommenden der Bundesregierung seien die jugendministerin Dr. Kristina Haushaltsjahr sein sollen. Der Bildungsketten bis zum Ausbil- Schröder führte aus, dass allen Haushalt des Kulturstaatsminis- dungsabschluss, die zur Reduzie- Sparmaßnahmen zum Trotz mehr ters , der direkt rung der Schulabbrecherquote Geld für den Kinder- und Jugend- der Bundeskanzlerin zugeordnet beitragen sollten. Vertreter-/in- plan zur Verfügung gestellt wer- ist, soll nach dem Entwurf der nen der Koalitionsfraktionen den solle und 5 Mio. € mehr für Bundesregierung für 2011 stabil bekräftigten die Absicht der Bun- die Programme für Demokratie, bleiben. Die Bundesministerin für desregierung, die „Bildungsrepu- Toleranz und Vielfalt zur Verfü- Familie, Senioren, Frauen und Ju- blik Deutschland“ zu schaffen gung stehen würden. Trotz der gend, Dr. Kristina Schröder, muss und die dafür erforderlichen Mit- notwendigen Haushaltskonsoli- hingegen mit einem Rückgang tel bereitzustellen. Abgeordnete dierung sei es möglich, politisch ihrer Ausgaben um 106,1 Millio- der Oppositionsparteien forder- zu gestalten. Die Ministerin ver- nen € gegenüber dem laufenden ten hingegen die Bundesregie- teidigte die Kürzungen beim Haushaltsjahr rechnen. Die Ein- rung dazu auf, mehr Bildungs- Elterngeld, da es bei HARTZ-IV- schnitte betreffen vor allem das gerechtigkeit zu schaffen und Empfängern häufig dazu beige- Elterngeld, während an der früh- Bildungsbarrieren zu beseitigen. tragen habe, die Abhängigkeit

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von Sozialleistungen zu verstär- Art gefördert würden. Den An- zu bieten. Die geplanten Kür- ken. Auch müsse das Lohnab- nahmen über die Gefährdungen zungen bei der Bundeszentrale standsgebot eingehalten werden. durch verschiedene Extremismus- für politische Bildung gingen Die Opposition warf der Regie- Ausprägungen liege keine diffe- zulasten von Information, Auf- rung vor, zur Vergrößerung der renzierte Analyse zugrunde. klärung und demokratischer sozialen Kluft beizutragen und Kultur. mit ihrem Haushalt den Keil zwi- Bei der Debatte über den Haus- schen die ohnehin auseinander- halt des Bundesinnenministeriums Nach der Ersten Lesung im Parla- driftenden Teile der Gesellschaft spielten bildungspolitische Aspek- ment wurden die Haushaltspläne noch tiefer zu treiben. Jugendpo- te insbesondere im Zusammen- der einzelnen Ressorts zur weite- litik finde nicht statt, Ansätze für hang mit den Integrationskursen ren Beratung an die Ausschüsse die politische und die kulturelle eine Rolle. Bundesinnenminister und den Haushaltsausschuss über- Bildung oder den internationalen Dr. Thomas de Maizière bezeich- wiesen. Der Deutsche Bundestag Jugendaustausch im Kinder- und nete sie als das wichtigste inte- wird den Bundeshaushalt 2011 in Jugendplan des Bundes, der oh- grationspolitische Förderinstru- Zweiter und Dritter Lesung vom nehin nur noch „auf Sicht gefah- ment des Bundes. Trotz der sonst 22. bis 26. November 2010 bera- ren“ werde, würden gekürzt, für unvermeidlichen Haushaltskür- ten und beschließen. die künftige Entwicklung des zungen sei dieser Ansatz im Ver- Zivildienstes gebe es kein Kon- gleich zum aktuellen Haushalts- zept. Kritisiert wurde auch das jahr nicht reduziert worden. Die Quellen: Das Parlament Nr. 38 Programm „Maßnahmen zur Stär- Oppositionsvertreter-/innen hin- vom 20. September 2010, BMBF- kung von Vielfalt, Toleranz und gegen beklagten, dass die Zahl Newsletter Nr. 119/2010, BMFSFJ- Demokratie“, das als Sammeltopf der Integrationskurse nicht aus- PM Nr. 44/2010, Plenarprotokolle bezeichnet wurde, aus dem Maß- reiche, um allen daran Interessier- des Deutschen Bundestages nahmen gegen Extremismen aller ten eine Teilnahmemöglichkeit 17/57, 17/58, 17/59, 17/60

Neue OECD-Studien kritisieren Mangel an Hochqualifizierten und bestätigen gute Qualität der beruflichen Bildung

Im September 2010 legte die Or- auf jetzt 260.000 pro Jahr. Den- gleichen Zeitraum die Zahl der ganisation für wirtschaftliche Zu- noch liegt das OECD-Mittel auf Erwerbsfähigen mit tertiärer sammenarbeit und Entwicklung einem höheren Niveau; Deutsch- Ausbildung jährlich nur um (OECD) den jährlichen Bericht land bleibt in der OECD nach der durchschnittlich 0,9 Prozent. „Bildung auf einen Blick“ und ei- Türkei, Belgien und Mexiko das Die Studie weist darauf hin, dass ne Länderstudie zur beruflichen Land mit der geringsten Studier- sich die wirtschaftlichen Vorteile Bildung in Deutschland vor. Ob- neigung. Darin sieht die OECD einer Hochschulausbildung in wohl die Absolventenzahlen an angesichts der demographischen Deutschland weiter verbessert den deutschen Hochschulen ge- Entwicklung in Deutschland ein haben. Der Einkommensvor- stiegen sind, wird Deutschland großes Problem für die Sicherung sprung von Hochqualifizierten dazu aufgefordert, mehr zu tun, künftiger Fachkräfte. Während in betrug gegenüber Erwerbstäti- um Voraussetzungen für längere den anderen Ländern das Poten- gen mit abgeschlossener Berufs- Erwerbszeiten zu schaffen und zial an Hochqualifizierten um ausbildung im Jahr 2008 rund dem sich abzeichnenden Fach- durchschnittlich 4,6 Prozent jähr- 67 Prozent. Seit 1998 hat er sich kräftemangel entgegenzuwirken. lich stieg und selbst in Japan, ne- mehr als verdoppelt. Weitere In Deutschland hat – wie in den ben Deutschland das einzige Vorteile sind ein deutlich gerin- meisten anderen OECD-Ländern – OECD-Land, in dem die Bevölke- geres Risiko von Arbeitslosigkeit eine deutliche Expansion bei der rung im erwerbsfähigen Alter in und weit höhere Erwerbsquoten tertiären Ausbildung stattgefun- den vergangenen Jahren abnahm, bei den Älteren. den. Zwischen 2000 und 2008 die absolute Zahl der Hochquali- Obwohl die Ausgaben für Bil- wuchs die Zahl der jährlichen fizierten zwischen 1998 und 2008 dung in Deutschland gestiegen Hoch- und Fachhochschulabsol- um jährlich 3,1 Prozent wuchs, sind, liegen sie pro Schüler bezie- venten um mehr als ein Drittel erhöhte sich in Deutschland im hungsweise Studierendem im

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Vergleich zu anderen Ländern zu prüfen und im Falle festge- tersgruppen, sozialen Schichten der OECD leicht unter dem stellter Defizite explizit Unterricht und in allen Bundesländern sei Durchschnitt. Während zwischen anzubieten, um diese Lücken zu man tief enttäuscht, weil die an- 2000 und 2007 in fast allen schließen. Die Berufsschulen soll- gekündigte Bildungsrepublik von OECD-Ländern die Ausgaben pro ten mehr Wert auf allgemeine der Politik nicht ernsthaft genug Schüler im Primar- und Sekundar- Bildung legen. Die Übergänge in angestrebt werde. Von Bund und bereich anstiegen und im glei- den tertiären Bereich sollten er- Ländern werde zu wenig Geld chen Zeitraum auch die Ausga- leichtert und Zugangsbarrieren zur Verfügung gestellt, um dieses ben pro Studierendem in etwa abgebaut werden. Ziel zu erreichen. Selbst unter den der Hälfte der OECD-Länder er- Anhängern der Unionsparteien höht wurden, haben sich in Während die Bundesregierung und der FDP bezweifelten inzwi- Deutschland in beiden Bereichen sich in einer Pressemitteilung über schen zwei Drittel, dass die Bil- die Ausgaben kaum verändert. die Bestätigung der Qualität und dungsrepublik noch ernsthaftes Die öffentlichen und privaten Zukunftsfähigkeit des dualen Be- Ziel sei. Nach Aussage des Vorsit- Ausgaben für Bildungseinrich- rufsbildungssystems in Deutsch- zenden des Verbandes Bildung tungen lagen in Deutschland land freute, beklagte die Opposi- und Erziehung e. V., Udo Beck- 2007 bei 4,7 Prozent des Brutto- tion die Unübersichtlichkeit von mann, der die Umfrage in Auf- inlandsprodukts, mit in den letz- Maßnahmen in der Berufsbildung trag gegeben hatte, sind deren ten Jahren rückläufiger Tendenz. und die hohe Zahl von Altbewer- Ergebnisse die Bestätigung dafür, Nur die Slowakei, Tschechien und bern. Die Fraktion Die Linke warf dass die Bürgerinnen und Bürger Italien gaben einen noch gerin- der Regierung Zahlenspielerei die „Trickserei der Politik durch- geren Anteil ihrer Wirtschaftsleis- vor und forderte eine „ehrliche schauen und ihren Ankündigun- tung für Bildung aus. Bei den Ausbildungsstatistik“. Die Regie- gen in Sachen Bildung nicht mehr Spitzenreitern USA, Korea und rung verwies darauf, dass mit trauen.“ Der Umgang mit dem Dänemark macht der Anteil der den Bildungsketten bereits eine Thema Bildungsrepublik und de- Bildungsausgaben über 7 Prozent wichtige Maßnahme gegen die ren Finanzierung zeige, wie Poli- des Bruttoinlandsprodukts aus. Unübersichtlichkeit der verschie- tik selbst Politikverdrossenheit denen Initiativen umgesetzt wor- erzeuge. Zum Projekt „Bildungs- Die Deutschland-Studie der OECD den sei. Der Bundesverband der ketten“ und dem Bildungspaket zur Berufsbildungspolitik würdigt Lehrerinnen und Lehrer an beruf- für arme Kinder merkt der VBE die Stärken der dualen Ausbil- lichen Schulen begrüßte, dass kritisch an, dass die dafür vorge- dung. Hervorgehoben werden sich die OECD nun auch der Be- sehenen Mittel zunehmend an vor allem die gute Verankerung rufsbildungspolitik gewidmet ha- freie Träger und private Einrich- in der Gesellschaft und das hohe be. Dies trage dazu bei, den Stel- tungen gelenkt würden. Das sei Engagement der Arbeitgeber lenwert der beruflichen Bildung eine Folge des geltenden Koope- und der anderen Sozialpartner. in das rechte Licht zu setzen. Der rationsverbots, weil der direkte Kritisiert wird hingegen die hohe Vorsitzende der Gewerkschaft Er- Zufluss in die Länder nicht sein Zahl junger Menschen im Über- ziehung und Wissenschaft (GEW), dürfe. Das Kooperationsverbot gangssystem, die der am dualen Ulrich Thöne, merkte hingegen zwischen Bund und Ländern für System Beteiligten fast entspricht. zu der Studie an, dass sie allen den Bildungsbereich müsse fal- Zudem gelinge es trotz großen fi- Rechentricks der Finanzminister, len, und die Bildungsfinanzie- nanziellen Einsatzes nicht, genug Sonntagsreden der Politiker und rung solle zu Gunsten der staat- junge Menschen vom Übergangs- Bildungsgipfeln der Regierenden lichen Bildungseinrichtungen system in das duale System zu zum Trotz bestätige, dass Bund umgesteuert werden, so der VBE. leiten. Beklagt wird zudem ein und Länder sich seit Jahren Mangel an Basiskompetenzen, hartnäckig weigerten, den Bil- Von den Kommunen wird erwar- die für einen Berufseinstieg er- dungsbereich ausreichend und tet, dass sie Koordinierung und forderlich sind. Die Studie emp- angemessen zu finanzieren. Die Steuerung beim Übergang jun- fiehlt der Bundesregierung, die Bildungsrepublik Deutschland ger Menschen von der Schule in Kooperation von Akteuren im bleibe eine Fata Morgana, so der den Beruf übernehmen. Die Übergangssystem ebenso zu ver- Kommentar der GEW. Bundesministerin für Familie, bessern wie die Berufsberatung, Senioren, Frauen und Jugend, Lese- und andere Basiskompeten- Nach einer forsa-Umfrage halten Dr. Kristina Schröder, sieht in den zen insbesondere bei Schülern auch 79 Prozent der Bundesbür- Kommunen die zentralen Akteu- und Schülerinnen im Übergangs- ger die Bildungsrepublik für eine re für die Integration dieser Ju- system oder ohne Schulabschluss Worthülse. Quer durch alle Al- gendlichen in den Beruf. Sie kün-

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digte ein Modellprogramm an, beitsförderung und Jugendhilfe studie Deutschland), BMBF-PM das den Kommunen in Zeiten vernetzen. Mit der Initiative Ju- Nr. 168/2010, heute im bundestag besonders knapper Kassen den gend stärken: aktiv in der Region Nr. 305, Pressemitteilung des Rücken stärken soll. 36 Kommu- stellt das BMFSFJ in den Jahren Bundesverbands der Lehrerinnen nen werden im Rahmen dieses 2010 – 2013 rund 17 Millionen € und Lehrer an beruflichen Schu- Programms neue Strategien zur aus dem Europäischen Sozial- len e. V. vom 08.09.2010, Unterstützung junger Menschen fonds zur Verfügung. Die Kom- GEW-Zeitschrift Erziehung und beim Übergang von der Schule in munen stellen Mittel für die Kofi- Wissenschaft Nr.10/2010, bildungs- den Beruf erproben. Sie sollen in nanzierung bereit. klick.de Nr. 75314, BMFSFJ-PM den nächsten Jahren verbindliche Nr. 66/2010 Strukturen zur Abstimmung der Quellen: OECD: Bildung auf Angebote aufbauen und Akteure einen Blick 2010, OECD: an den Schnittstellen Schule, Ar- Learning for Jobs 2010 (Länder-

Weiterbildungstrends

Wie jedes Jahr hat das Deutsche Hier zeigen sich auffallende Zu- Internet veröffentlicht wurde, Institut für Erwachsenenbildung wachsraten nun bei Sprachen, bestätigt die problematische (DIE) auch in diesem Herbst eine die früher selten gelernt wurden. Lage der Beschäftigten insbeson- Fülle von Daten präsentiert, die Chinesisch und Japanisch sowie dere im Bereich der öffentlich Entwicklungen und Strukturen in die skandinavischen Sprachen ha- finanzierten Weiterbildung, die der Weiterbildung verdeutlichen. ben zugelegt, erreichen dennoch sich zu einem unattraktiven und Die neue DIE-Trendanalyse zeigt selten mehr als ein Prozent Anteil prekären Tätigkeitsbereich ent- unter anderem einen leichten an Unterrichtsstunden und Bele- wickelt hat. In der betrieblich und Anstieg der Beteiligung an orga- gungen. Fast jede vierte Unter- privat finanzierten Weiterbildung nisierter Weiterbildung, was die richtsstunde und mehr als jede sind hingegen durchaus respek- Autoren der Studie zu der opti- fünfte Belegung bei den Volks- table Arbeitsbedingungen vorzu- mistischen Annahme veranlasst, hochschulen entfielen auf Kurse finden. Das Gutachten, das von dass die auf dem Bildungsgipfel im Bereich Deutsch als Fremd- drei Wissenschaftlern der Univer- 2008 in Dresden angestrebte sprache, wo sich Angebot und sität Duisburg-Essen erstellt Erhöhung der Teilnahmequote Nachfrage außerordentlich posi- wurde, spricht von einer Polari- auf 50 Prozent bis zum Jahr 2015 tiv entwickelten. sierung in der Weiterbildungs- schon früher erreicht werden Die Beschäftigungsverhältnisse branche. Das Gutachten sieht könnte. Im Jahr 2007 nahmen von Lehrenden in der Weiterbil- darin das Ergebnis einer Entwick- nach einem Beteiligungsrück- dung blieben hingegen prekär. lung von deregulierten Arbeits- gang bundesweit immerhin Die Zahl der unbefristeten Be- märkten und flexiblen Beschäfti- wieder 43 Prozent aller 19- bis schäftigungsverhältnisse, insbe- gungsformen, die durch das im 64-Jährigen an Weiterbildungs- sondere von hauptberuflich Leh- Jahr 1985 verabschiedete Beschäf- veranstaltungen teil. Angegeben renden, nimmt kontinuierlich tigungsförderungsgesetz forciert wurden vor allem berufliche ab, die der befristeten Verträge worden seien. Inzwischen sei die Gründe für die Teilnahme, wobei nimmt weiter zu. Das DIE be- freiberufliche Honorartätigkeit auch Veranstaltungen der allge- fürchtet, dass die geringe Stabi- vor allem im Sektor der außerbe- meinen Weiterbildung oft aus lität der Beschäftigungsverhält- trieblichen, öffentlich finanzierten beruflichen Motiven besucht nisse und die damit verbundene Weiterbildung zum „Normalar- wurden. Das DIE stellte auf der mangelnde soziale Absicherung beitsverhältnis“ des Lehrperso- Basis der verfügbaren Daten eine negativen Einfluss auf die Qua- nals geworden. Die auf Nord- Prognose auf, nach der die lität der Weiterbildungsangebote rhein-Westfalen konzentrierte 50-Prozent-Marke bereits im Jahr haben werde. Studie ergab, dass niedrige Ein- 2010 erreicht werden könnte. Auch ein Gutachten, das im Auf- kommen, flexible Arbeitseinsät- In der allgemeinen Weiterbildung trag der Max-Traeger-Stiftung er- ze, zeitlich verdichtete Arbeit, haben Sprachen und Fremdspra- stellt und von der Gewerkschaft erhebliche Belastungen und das chen einen hohen Stellenwert. Erziehung und Wissenschaft im Gefühl, zunehmend mit Aufga-

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ben konfrontiert zu sein, die der pädagogischer Betreuung auch sozialen Integration brutto rund beruflichen Ausbildung nicht sozialpolitische Funktionen und 2.000 € (West) beziehungsweise entsprechen und auch nicht durch Aufgaben übernehmen müssen, rund 1.850 € (Ost). Die Bundesre- eigene Weiterbildung abgedeckt arbeiten die besser bezahlten gierung prüft zurzeit die Ausge- werden können, wesentliche At- Selbstständigen in der beruf- staltung und Initiierung einer tribute des Arbeitsalltages heuti- lichen/betrieblichen Weiterbil- Weiterbildungsallianz für die ger Weiterbildungsbeschäftigter dung mit zumeist homogenen, Branche. sind. Das monatlich verfügbare höher qualifizierten Adressaten- Einkommen der selbstständigen gruppen in fachlich profilierten Das Projekt Flexi-Path, an dem Honorarkräfte liegt zwischen 800 Inhaltsbereichen. das Deutsche Institut für Erwach- und 1.100 €. Das geringe Ein- In allen Arbeits- und Aufgaben- senenbildung beteiligt war, wur- kommen begründet einen Ver- feldern müssen sich die Beschäf- de am 20. September 2010 in zicht auf die Entrichtung der tigten auf einen beschleunigten Bonn mit einer internationalen Renten- und Krankenversiche- Wandel einstellen. Aufgaben Konferenz abgeschlossen. Dieses rungsbeiträge, für die die Hono- und Funktionen wechseln perma- Projekt wurde von einem inter- rarkräfte selbst aufkommen müs- nent, pädagogische Kompetenz- nationalen Konsortium initiiert sen. Diese Situation bedingt ein felder werden zu Gunsten ande- und von der EU gefördert, um Bedrohungsgefühl, dass beson- rer Einsatzbereiche ausgedünnt. die unterschiedlichen Professio- dere Brisanz gewinnt, wenn das nalisierungswege von Menschen, Einkommen aus der Weiterbil- Wie die Bundesregierung auf die in der Erwachsenenbildung dungstätigkeit im Haushalt der eine Kleine Anfrage der Links- tätig sind, anhand einheitlicher Betroffenen die einzige Einnah- fraktion mitteilte, gibt es rund Standards zu definieren, um sie mequelle ist. Bei den Festange- 1,35 Millionen Beschäftigungs- vergleichen zu können. Ange- stellten ist die Problematik eines verhältnisse von Lehrenden in strebt wurde ein gemeinsames geringen Einkommens aufgrund der Weiterbildungsbranche. Kompetenzprofil für in der ihrer vertraglichen Absicherung Dabei beruft sich die Regierung Weiterbildung Beschäftigte. Im nicht so dramatisch wie bei den auf eine Studie der WSF Wirt- Rahmen des Projekts untersuch- Selbstständigen, wenngleich auch schafts- und Sozialforschung aus ten Wissenschaftlerinnen und sie von Einkommensstagnation dem Jahr 2005. Von diesen Be- Wissenschaftler aus sieben euro- betroffen sind. Über die Jahre schäftigungs-/Tätigkeitsverhält- päischen Ländern spezifische hinweg wird ein spürbarer Ein- nissen sind laut Studie 14 Prozent Qualifikationen von Erwachse- kommensverlust infolge schwin- (oder 185.000) sozialversiche- nenbildnern. Sie orientierten sich dender Kaufkraft festgestellt, rungspflichtig, 74 Prozent Hono- dabei am Europäischen Qualifi- was tendenziell zur Annäherung rarkräfte/Selbstständige und kationsrahmen. Das Deutsche In- der Einkommen beider Beschäf- 130.000 oder 10 Prozent Ehren- stitut für Erwachsenenbildung tigtengruppen führt. amtliche (der Rest wird als Sons- stellte auf dieser Konferenz ein In der beruflichen oder betrieb- tige bezeichnet). Die Studie er- Toolkit vor, mit dessen Hilfe Er- lichen Weiterbildung werden mittelte einen Brutto-Stunden- wachsenenbildner/-innen ihre hingegen Einnahmen mit einem satz an den Volkshochschulen formal und non-formal erworbe- durchschnittlichen Nettoeinkom- von rund 17 €. Für einen Teil der nen Kompetenzen auf den men von 3.300 € erzielt, wobei in der Weiterbildung Lehrenden EQF-Levels sechs und sieben iden- die Einkommensverhältnisse wurde 2007 erstmals ein Bran- tifizieren, reflektieren und nach- zwar nach dem Erwerbsstatus chentarifvertrag zwischen der weisen können. differieren, sich insgesamt aber Zweckgemeinschaft von Mit- auf deutlich höherem Niveau im gliedsunternehmen des Bun- Die Weiterbildungsbranche prä- Vergleich zu den angegebenen desverbandes der Träger der sentiert sich jährlich auf dem Daten in der allgemeinen Weiter- beruflichen Bildung und der Deutschen Weiterbildungstag, bildung bewegen. Hier besteht Vereinigten Dienstleistungsge- der in diesem Jahr zum dritten auch nicht das Problem der Fi- werkschaft (ver.di) und der Ge- Mal stattfand. Am 24. September nanzierung von Sozialversiche- werkschaft Erziehung und Wis- wurden auf 717 eingetragenen rungsbeiträgen. Während die senschaft abgeschlossen. Danach Veranstaltungen in ganz Deutsch- prekär Beschäftigten in öffent- beträgt die monatliche Anfangs- land Anbieter und Angebote der lich geförderten Maßnahmen mit vergütung für pädagogische Mit- Weiterbildung vorgestellt, wobei sehr heterogenen und eher ge- arbeiter und Mitarbeiterinnen in die Volkshochschulen und die ring qualifizierten Zielgruppen der außerbetrieblichen/beruf- Träger beruflicher Bildung den arbeiten und deshalb neben lichen Qualifizierung und der größten Anteil hatten. Das dies-

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jährige Motto des Weiterbil- stimmten Aufgaben in andere litischer Bildung sind 41 % der dungstages lautete: „Bildung Länder finden dagegen in unter- Befragten interessiert, wobei stärken – Chancen nutzen“. Der schiedlicher Größenordnung er- hier die Jüngeren mit 46 % mehr Veranstalterkreis umfasste in die- heblich weniger Zustimmung Interesse zeigen. Trotz der hohen sem Jahr 16 Verbände, Organisa- (55 %, 37 % beziehungsweise Zustimmung zur Weiterbildung tionen und Träger der Weiterbil- 8 %). Weiterbildung oder Um- ergab die Umfrage, dass von den dungsbranche. Anlässlich dieses schulung sind nach der Ansicht Befragten nach eigenen Anga- Ereignisses wurde eine Umfrage von 82 beziehungsweise 71 % der ben in den letzten zwei Jahren in Auftrag gegeben, die in Erfah- Befragten die geeigneten Maß- nur 41 % eine Fortbildung oder rung bringen sollte, wie die Deut- nahmen, um Menschen nach län- Weiterbildung besuchten. Am schen über die Weiterbildung gerer Arbeitslosigkeit wieder in häufigsten taten dies Beamte denken. Nach dem Ergebnis die- den Beruf zu bringen. Bei der Fra- (52 %), während Arbeiter ver- ser Umfrage, die das Meinungs- ge nach den Themen, die Men- gleichsweise seltener an Weiter- institut forsa realisierte, hält eine schen für eine Fortbildung am bildung beteiligt waren (39 %). überwältigende Mehrheit von meisten interessieren, nannten 90 % die Qualifizierung der Be- 61 % der Befragten den Themen- schäftigten in Deutschland für bereich gesundheitliche Bildung, Quellen: DIE-Fakten www.die- das beste Mittel, um das Problem der nur noch vom Bereich „fach- bonn.de, GEW-Dok 09/09 des Fachkräftemangels zu lösen. spezifisches Wissen und Können (Download: www.gew.de/ Die Integration von Unqualifi- im Berufsfeld“ übertroffen wur- Binaries/Binary58732/Gutach- zierten ohne Abschluss in den de. Es folgen die Interessensge- ten%20Rolf%20Dobischat.pdf), Arbeitsmarkt, eine begrenzte biete „Kompetenzen im Bereich heute im bundestag Nr. 285, Zuwanderung qualifizierter Ar- Mitarbeiterführung etc.“, „Spra- DIE-PM vom 21.09.10, www.deut- beitskräfte aus dem Ausland chen“, „interkulturelle Bildung“ scher-weiterbildungstag.de/ oder die Auslagerung von be- und „politische Bildung“. An po- aktuelles/forsa-umfrage.html

Neue Shell-Studie attestiert Jugendlichen optimistische Grundhaltung

Mitte September wurde die neue Wirtschaftskrise inzwischen auf gendlichen als notwendige Vor- Shell-Jugendstudie vorgestellt, 59 % gegenüber 50 % im Jahr aussetzung für ein glückliches die gemeinsam von den Bielefel- 2006 erhöht. Allerdings gibt es Leben angesehen wird. Mehr als der Sozialwissenschaftlern Prof. hier Unterschiede bei den be- 90 % der Jugendlichen bestätig- Dr. Mathias Albert, Professor Dr. fragten Jugendlichen, die aus ten ein gutes Verhältnis zu ihren Klaus Hurrelmann, Dr. Gudrun einer immer größer werdenden Eltern. Fast drei Viertel aller Ju- Quenzel und einem Experten- Kluft zwischen den sozialen Mi- gendlichen wohnen aus Kosten- team des Münchener Forschungs- lieus resultieren. Jugendliche aus gründen und wegen der Bequem- instituts TNS Infratest Sozialfor- sozial schwachen Familien sind in lichkeit noch bei ihren Eltern. Der schung unter Leitung von Ulrich erheblich geringerem Maße da- Wunsch nach Kindern hat zuge- Schneekloth verfasst wurde. Die von überzeugt, später ihre beruf- nommen. 69 % der Jugendlichen 16. Shell-Jugendstudie ermittelte, lichen Wünsche verwirklichen zu wollen selber Kinder haben, wo- welche Bedürfnisse und Werte können. Dies gilt vor allem dann, bei junge Frauen mit 73 % diesen das Leben der Jugendlichen heu- wenn sie nicht sicher sind, ihren Wunsch häufiger äußern als jun- te bestimmen. Die letzte Shell- Schulabschluss zu erreichen. ge Männer mit 65 %. Jugendstudie erschien im Jahr Der Schulabschluss bleibt weiter- Soziale Unterschiede zeigen sich 2006. hin der Schlüssel zum beruflichen im Freizeitverhalten der Jugend- Während damals noch Ungewiss- Erfolg. In keinem anderen Land lichen. Jugendliche aus privile- heit angesichts der Zukunftsper- sind die Bildungschancen so ab- gierten Elternhäusern beschäfti- spektiven und optimistische hängig von der jeweiligen sozia- gen sich verstärkt mit Lesen und Erwartungen sich die Waage hiel- len Herkunft der Jugendlichen. kreativen Tätigkeiten und pfle- ten, hat sich der Anteil der Ju- Mehr Zustimmung als bei der letz- gen soziale Kontakte, während gendlichen, die optimistisch in ten Studie erfährt auch die Fami- Jugendliche aus sozial benachtei- die Zukunft schauen, trotz der lie, die von drei Vierteln der Ju- ligten Familien vornehmlich mit

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Computer und Fernsehen be- rungsbefürworter sehen vor al- studie gemeinsam mit dem Sozi- schäftigt sind. Keine Unterschie- lem die Chance auf wirtschaft- alwissenschaftler Mathias Albert de gibt es jedoch bei der Nutzung lichen Wohlstand, Frieden und in Berlin vor. Sie kündigte an, des Internets. Im Schnitt verbrin- Demokratie, Globalisierungsgeg- dass die Bundesregierung trotz gen Jugendliche fast 13 Stunden ner erkennen mehrheitlich Um- Sparzwang in den nächsten Jah- pro Woche im Netz. Dabei zeigen weltzerstörung, Arbeitslosigkeit, ren gezielt in die frühkindliche sich allerdings wiederum Unter- Armut und Unterentwicklung, Bildung und Sprachförderung in- schiede. Jüngere männliche Ju- Vor-und Nachteile halten sich vestieren werde. Bis 2014 sollen gendliche aus sozial benachteilig- beim Globalisierungs-Mainstream zusätzlich rund 400 Millionen € ten Familien beschäftigen sich die Waage. für 4.000 „Brennpunkt-Kitas“ be- hauptsächlich mit Computerspie- Die Jugendlichen zeigten sich reitgestellt werden, um das Erler- len, jüngere weibliche Jugendli- zu 76 Prozent am Klimawandel nen der deutschen Sprache zu che nutzen vor allem die sozialen interessiert. Sie halten ihn für ein fördern. Angesichts der großen Netzwerke, eher ältere männli- sehr großes Problem und haben Bedeutung, die das Internet für che Jugendliche aus den oberen dabei zum Teil auch persönliche die Jugendlichen hat, wird die Schichten nutzen die gesamte Konsequenzen gezogen, indem Ministerin Ende September den Bandbreite des Netzes mit allen sie auf ein umweltbewusstes Ver- „Dialog Internet – aufwachsen seinen Möglichkeiten. halten achten. mit dem Netz“ starten, in dem Die Studie konstatiert ein leicht Religion spielt für die Mehrheit gemeinsam mit Vertreterinnen gestiegenes Interesse an Politik, der Jugendlichen nur eine unter- und Vertretern aus Wirtschaft, auch wenn es nach wie vor deut- geordnete Rolle, wobei sich aller- Politik, Jugendschutzorganisatio- lich unter dem Niveau der 1970er dings regionale und konfessio- nen und Internet-Community in- und 1980er Jahre liegt. Das Inter- nelle Unterschiede zeigen. Gott novative Handlungsempfehlun- esse bei den 12-15-Jährigen hat ist mittlerweile nur noch für 44 % gen erarbeitet werden sollen, sich in den letzten acht Jahren der katholischen Jugendlichen wie Kinder und Jugendliche die mit 21 % nahezu verdoppelt, bei wichtig, während für junge Men- Chancen des Internets nutzen den 15-17-Jährigen stieg es von schen in den neuen Bundeslän- und dabei gegen seine Risiken 20 auf 33 %. dern Religion zumeist völlig be- geschützt werden können. Die Mehrheit der Jugendlichen deutungslos ist. Jugendliche aus ordnet sich weiterhin links von der Einwandererfamilien haben hin- Im September wurde auch über Mitte ein. Während Polizei, Ge- gegen einen starken Bezug zur die Ergebnisse des 13. Kinder- richte, sowie Men- Religion, der in diesem Jahrzehnt und Jugendberichtes diskutiert. schenrechts- und Umweltschutz- noch zugenommen hat. Der Bundestagsausschuss für Fa- gruppen als vertrauenswürdig Die Studie bewertet die Werte milie, Senioren, Frauen und Ju- gelten, haben die Regierung, die und Lebenseinstellungen von gend hatte zu einem öffentlichen Kirche, große Unternehmen und Jugendlichen als pragmatisch. Expertengespräch eingeladen. die Parteien an Vertrauen einge- Auch wenn der persönliche Er- Der letzte Jugendbericht stand büßt. Das Vertrauen in Banken folg von großer Wichtigkeit ist, unter dem Titel „Mehr Chancen hat infolge der letzten Rezession bedeutet Leistung für die Ju- für gesundes Aufwachsen – ge- am meisten gelitten. gendlichen nicht alles. 57 % wol- sundheitsbezogene Prävention Der Anteil der Jugendlichen, die len ihr Leben intensiv genießen. und Gesundheitsförderung in der sich sozial engagieren, hat sich Es geht ihnen jedoch nicht nur Kinder- und Jugendhilfe“. Zu den im Vergleich zu den Vorjahren er- um ihr persönliches Vorankom- Ergebnissen gehört, dass nach höht. 39 % setzen sich häufig für men, sondern sie wollen auch ihr wie vor der soziale Status ent- soziale und gesellschaftliche soziales Umfeld pflegen und scheidend für die Gesundheit der Zwecke ein, wobei auch hier interessieren sich für die Vorgän- Kinder und Jugendlichen ist. Des- Aktivität und Engagement bil- ge in der Gesellschaft. Eingefor- halb wird gerade bei Kindern, die dungs- und schichtabhängig sind. dert werden sozial-moralische in Armut aufwachsen, bei Kin- Die Globalisierung bedeutet für Regeln, an die sich alle halten dern aus Einwandererfamilien, 84 % der Jugendlichen zuerst, in sollen. 70 % der Jugendlichen bei Kindern mit Behinderungen der ganzen Welt reisen, studie- finden, dass man sich gegen Miss- und traumatisierten Kindern und ren oder arbeiten zu können. stände in Arbeitswelt und Gesell- Jugendlichen besonderer Förde- Die Studie macht drei Profile aus: schaft zur Wehr setzen muss. rungsbedarf gesehen. Die Auto- Globalisierungsbefürworter, Glo- ren des 13. Kinder-und Jugend- balisierungsgegner und Globali- Bundesjugendministerin Dr. Kristi- berichtes sprechen sich für eine sierungs-Mainstream. Globalisie- na Schröder stellte die Jugend- umfassende Zuständigkeit der

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Jugendhilfe für alle Kinder und ungsangebot auch nach dem Kin- Quellen: www.shell.de, Jugendlichen aus. Die bisher gel- dergarten sicherzustellen. Zurzeit „REGIERUNGonline – wissen aus tenden verschiedenen Sozialge- seien Einrichtungen der Kinder- erster Hand vom 14.09.10, heute setzgebungen sollten zu einem und Jugendhilfe auf der einen im bundestag Nr. 302 einzigen Gesetz zusammenge- Seite und Behindertenhilfe auf führt werden, um ein flächen- der anderen Seite zu sehr vonein- deckendes integratives Betreu- ander isoliert.

Auseinandersetzung über geeignete Formen zur Förderung kultureller Teilhabe

Nachdem am 9. Februar 2010 das Freizeit- und kulturelle Angebote Die Pläne von Ursula von der Bundesverfassungsgericht die Be- bezahlen sollen. Das Ziel dabei Leyen stoßen selbst bei Vertre- rechnung der Regelleistung und ist, dass die dafür vorgesehenen tern und Vertreterinnen der Re- des Sozialgeldes wegen teilweise Mittel direkt für diese Leistungen gierungskoalition auf Vorbehal- unzureichend nachvollziehbarer eingesetzt werden und nicht te. Vor allem von Politikern der Berechnungs- und Fortschrei- über die Verteilung von Geld an CSU wird kritisiert, dass den Fa- bungsgrundlage für verfassungs- die Familien anderen Zwecken milien die Entscheidung über die widrig erklärt hatte, bewegt die zugeführt werden. Die Kritiker Inanspruchnahme von Leistun- Frage nach der angemessenen an diesem Modell beklagen den gen nicht mehr zugetraut werde Höhe der HARTZ IV-Regelsätze damit verbundenen befürchteten und die Länder nicht selbst be- und der Leistungen für Kinder in Verwaltungsaufwand und halten stimmen können, in welcher so genannten Bedarfsgemein- die Bundesagentur für Arbeit, die Form sie die Leistungen erbrin- schaften die politische Debatte. ursprünglich als Beratungsinstanz gen. Die Arbeiterwohlfahrt er- Vor allem die von der Regierung bei der Inanspruchnahme der Bil- klärte, mit der Chipkarte würden geplanten Reformen zur Sicher- dungsangebote vorgesehen war, die eigentlichen Probleme nicht stellung der kulturellen Teilhabe von dieser Aufgabe für überfor- gelöst. Die Diskussion über diese von Kindern und Jugendlichen dert. Der Deutsche Musikrat be- unausgereifte Idee lenke von den sind umstritten. Die Bundesre- fürchtet die Steigerung einer eigentlichen sozial ungerechten gierung will mit dem Bundespro- Nachfrage nach kulturellen Bil- Vorhaben wie der Kürzung des gramm „Lokale Bildungsbünd- dungsangeboten, die von den Elterngeldes für Hartz-IV-Emp- nisse“ Kinder fördern, die von Einrichtungen in ihrer gegenwär- fänger ab, sagte der AWO-Bun- Bildungsarmut bedroht sind. tigen Verfassung nicht gedeckt desvorsitzende Wolfgang Stadler. Dieses Programm befindet sich werden könne. Man müsse den Der Deutsche Bundesjugendring noch in der Phase der Konzeptio- außerschulischen Einrichtungen sieht in dem Versuch, gesellschaft- nierung und Planung und ist im kultureller Bildung ermöglichen, liche Teilhabe durch Sachleistun- Bundeshaushaltsentwurf 2011 diesem Mehrbedarf nachzukom- gen zu ermöglichen, den fal- auch nicht vorgesehen. men. Die Chipkarte mache nur schen Weg. Dies setze voraus, Sehr viel konkreter sind indes die Sinn, wenn nachhaltige Bildungs- einen Katalog von Angeboten Planungen für das so genannte angebote finanziert werden. und Aktivitäten der soziokultu- Bildungspaket, das ab Mitte 2011 Auch Teile der Bundestagsoppo- rellen Teilhabe zu definieren. Ein Leistungen für Schulmaterial und sition sprechen sich dafür aus, solcher Katalog könne jedoch nie -essen und ein nachmittägliches mehr in die Bildungsinfrastruk- alle Möglichkeiten der Teilhabe Sport-, Kultur- oder Musikange- tur zu investieren als Individual- abdecken und schränke die bot für Kinder aus Hartz-IV-Fami- leistungen zu finanzieren. „Gäbe Selbstbestimmung von Kindern lien und Familien mit kleinem es einen Rechtsanspruch auf den und Jugendlichen empfindlich Einkommen bringen soll. Die Bun- Besuch einer Ganztagsschule in- ein. desministerin für Arbeit und So- klusive eines warmen Mittages- ziales, Dr. , sens sowie ausreichender Sport- Quellen: heute im bundestag Nr. plant für Mitte 2011 die Einfüh- und Musikangebote, wäre die ak- 273, Deutscher Musikrat PM vom rung einer Bildungs-Chipkarte, tuelle Debatte über Chipkarten 17.08.10, Focus-online vom mit der Kinder aus armen Fami- überflüssig", kritisierte die fami- 19.08.10, DBJR-PM vom 27.09.10, lien außerschulische Bildungsleis- lienpolitische Sprecherin der SPD- BPA-Bulletin vom 29.09.10, EPD- tungen, Nachhilfeunterricht, Bundestagsfraktion, . Nachrichten

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Perspektiven für die Kinder- und Jugendarbeit in Baden-Württemberg

Baden-Württemberg ist das erste und Jugendarbeit der besonde- Sportvereine bis heute erreichen, Land, das die aktuelle Lage und ren Herausforderung stellen sieht die Studie ein großes Poten- die Zukunft seiner Kinder- und müsse, einen Beitrag zu den ge- zial für die Kinder- und Jugend- Jugendarbeit wissenschaftlich sellschaftlichen Integrationsauf- arbeit im Lande. Sportvereine untersuchen ließ. Im Juli wurde gaben zu leisten. Obwohl Baden- seien besonders dazu geeignet, eine vom Leiter des Deutschen Württemberg ökonomisch nicht quer über die Bevölkerungs- Jugendinstituts, Prof. Dr. Thomas nur in Deutschland, sondern auch schichten und Altersgruppen Rauschenbach, zusammen mit im europäischen Vergleich gut hinweg auch Jugendliche aus anderen Wissenschaftler/-innen dastehe, müsse es sich die Frage ökonomisch schlechter gestellten erstellte Expertise im Rahmen ei- stellen, wie es gerechte Bedin- Familien und benachteiligten nes Fachgesprächs vorgestellt. gungen für das Aufwachsen jun- Milieus besser zu integrieren und Diese Expertise war im Herbst ger Menschen gestalten wolle, da Kinder und Jugendliche aus 2008 von der ehemaligen Staats- auch in Baden-Württemberg Ar- Einwandererfamilien noch am rätin für Demographischen Wan- mutslagen verbreitet seien. ehesten zu erreichen und einzu- del und Senioren, Prof. Dr. Clau- Zur Infrastruktur und zur Perso- beziehen. Dieses Potenzial der dia Hübner, in Auftrag gegeben nalsituation der Kinder- und Ju- Sportverbände und Sportvereine worden. gendarbeit wird festgestellt, dass solle systematisch gefördert und Die rund 400 Seiten starke Exper- der Anteil der diplomierten Fach- inhaltlich ausgestaltet werden. tise verweist auf die mangelhafte kräfte in den einzelnen Hand- Die kirchliche Jugendarbeit hat Datenlage zur Jugendarbeit auf lungsfeldern gestiegen sei, gleich- in Baden-Württemberg nach wie Länder- und regionaler Ebene. zeitig aber auch in der ersten vor einen hohen Stellenwert im Sie beschreibt die Herausforde- Hälfte der 2000er Jahre der An- Vergleich zu anderen Bundeslän- rungen für die Jugendarbeit an- teil von Teilzeitbeschäftigten dern. Insbesondere in ländlichen gesichts des demographischen wuchs. Bei der Ressourcenaus- Gebieten werden ihre Angebote Wandels, im Zusammenhang stattung, aber auch bei den Be- wahrgenommen. Sie wird auch mit dem Ausbau ganztägiger Bil- schäftigungsbedingungen würden künftig als wichtiger Akteur im dungsangebote und durch Ver- erhebliche regionale Unterschie- Feld der außerschulischen Kinder- dichtung der Jugendphase und de deutlich. und Jugendarbeit gesehen. Aller- im Hinblick auf die künftige Aus- Der Anteil der in der Kinder- und dings werden ein Mitglieder- gestaltung und Ausstattung die- Jugendarbeit engagierten Ehren- schwund sowie ein kontinuier- ses Arbeitsfeldes. amtlichen ist in Baden-Württem- licher Rückgang der Taufen in Die Autoren der Studie konstatie- berg vergleichsweise groß. Sie beiden Volkskirchen festgestellt, ren, dass sich Baden-Württemberg sind vor allem in den Jugendver- die sich zahlenmäßig auf die gegenwärtig an einem Wende- bänden des Landes aktiv, die den künftige Entwicklung kirchlicher punkt befinde. Das Bevölkerungs- größten Teil der öffentlich geför- Jugendarbeit auswirken werden. wachstum werde sich in Zukunft derten Maßnahmen im Bereich Die Studie weist darauf hin, dass genauso wenig fortsetzen, wie der Kinder- und Jugendarbeit in Heranwachsende aus kirchenfer- auch die Zuwanderung nach Ba- Baden-Württemberg erbringen. nen Milieus, junge Menschen den-Württemberg zuletzt erheb- In der Abhängigkeit vom ehren- mit Migrationshintergrund und lich zurückgegangen sei. Vor die- amtlichen Engagement liegen der Hauptschüler/-innen deutlich sem Hintergrund müsse sich die Studie zufolge die Stärke und unterrepräsentiert sind und sich Kinder- und Jugendarbeit weiter- Schwäche der Jugendverbands- deshalb die Frage stelle, ob die entwickeln. Besonders die länd- arbeit zugleich. kirchliche Kinder- und Jugendar- lichen Regionen seien von deut- Zu den Trägern außerschulischer beit auch für diese jungen Men- lichen Bevölkerungsrückgängen Jugendarbeit gehören auch die schen Zugangsmöglichkeiten betroffen und stünden deshalb Sportvereine, in denen mehr als schaffen will und kann. vor der Aufgabe, auch künftig drei Viertel aller Kinder und Ju- Speziell für Kinder und Jugendli- eine zukunftsfähige Infrastruktur gendlichen in Baden-Württem- che im ländlichen Raum bieten zur Kinder- und Jugendarbeit berg im Laufe des Heranwachsens die Landjugendverbände in Ba- auszugestalten. Der hohe Anteil aktiv sind, was auch im Bundes- den-Württemberg Aktivitäten im an Menschen mit Migrationshin- vergleich eine Spitzenstellung Rahmen der Kinder- und Jugend- tergrund bleibe hingegen beste- bedeutet. In der hohen Zahl der arbeit an. Die Studie sieht in der hen, weshalb sich die Kinder- Kinder und Jugendlichen, die die Arbeit der Landjugendverbände

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auch einen Schutz gegenüber etablierten Anbieter und Orga- lusts und der Abdrängung in eine dem Einfluss extremistischer und nisationen der Kinder- und Nischenexistenz. Im Konzept gewaltbereiter Vereinigungen, Jugendarbeit eher gering ein- der lokalen oder regionalen Bil- die besonders im ländlichen Raum gebunden. dungslandschaften sehen die aktiv sind. Bei der Entwicklung Autoren der Studie eine Möglich- von Perspektiven der Landjugend- Die Expertise trifft ihre Feststel- keit und die Chance, die Stärken arbeit sei allerdings auch die Wir- lungen vor allem im Hinblick auf der Schule mit den Stärken der kung von Modernisierungspro- die zu erwartenden demographi- außerschulischen Bildungsakteu- zessen zu beachten, die bereits schen Veränderungen und den re zu verbinden. Die unterschied- zu neuen Strukturen des Auf- daraus resultierenden Altersauf- lichen Akteure und Anbieter von wachsens im ländlichen Raum bau der Bevölkerung. Sie rechnet Bildungsangeboten vor Ort sollen geführt haben. Dazu gehört auch mit einem Rückgang der Zahl der so zusammengebracht und die die steigende Mobilität, die – sechs- bis unter 27-Jährigen bis Bildungslandschaft so organisiert nicht zuletzt bedingt durch die zum Jahr 2020 um 13 Prozent, werden, dass ein breiteres ver- Zusammenlegung von Schulen – in der Altersgruppe der 12- bis netztes und plurales Bildungs- es erschweren wird, Kinder und 21-Jährigen werde sich die Zahl netzwerk aus einem Guss, wenn Jugendliche in Aktivitäten der sogar um 17 Prozent reduzieren. auch nicht unbedingt an einem Landjugendverbände einzubin- Parallel dazu ist in Baden-Würt- Ort entstehen kann, und mög- den. temberg wie auch in anderen lichst alle Kinder und Jugend- Die Kooperation von Schule und Bundesländern die Zahl der Zu- lichen dadurch individuell besser Jugendarbeit steht im Mittel- wanderer erheblich zurückge- gefördert werden. Für den Auf- punkt eines eigenen Kapitels der gangen. Angesichts dieser und bau der lokalen Bildungsland- Studie. Insbesondere im Ausbau anderer Veränderungen kommt schaften seien zusätzliche Mittel der Ganztagsschule wird eine es nach Aussage der Expertise erforderlich, die vor allem im wichtige Herausforderung für die darauf an, die ehrenamtlich or- ländlichen Raum gebraucht wür- Kinder- und Jugendarbeit gese- ganisierten Felder der Kinder- den. Wenn das Land die Mittel hen. Sie werde die alltäglichen und Jugendarbeit in dem Gefüge für die Kinder- und Jugendarbeit Zeitstrukturen und damit mögli- der anderen gesellschaftlichen aufgrund des rückläufigen An- cherweise auch das außerschuli- Akteure, Sozialisationsfelder und teils junger Menschen nicht redu- sche Freizeitverhalten der Schüle- Bildungsinstitutionen neu zu ziere, sondern die finanziellen rinnen und Schüler verändern. positionieren, konzeptionell neu Ressourcen im System der Kin- Gerechnet wird damit, dass durch auszurichten und eine Verände- der- und Jugendarbeit blieben, die Erweiterung schulischer Ange- rung der Strategie der Koopera- würden sich deren finanzielle bote den Anbietern der außer- tion, insbesondere beim Ausbau Spielräume für die anstehenden schulischen Jugendarbeit mögli- der Ganztagsschule, zu entwi- Zukunftsaufgaben und -projekte cherweise Konkurrenz entsteht ckeln. Mit den traditionellen eindeutig erhöhen, und die und zugleich den Jugendlichen Gewinnungsstrategien und Kon- Kinder- und Jugendarbeit könnte weniger Zeit für die Wahrneh- zepten sowie den derzeitigen in Zukunft eine deutlich verän- mung außerschulisch organisier- Personal- und Finanzressourcen derte Rolle im Aufwachsen von ter Freizeitangebote bleibt. ließen sich in Zukunft weder die Kindern und Jugendlichen ein- Die Autoren der Studie fordern Angebote, Aufgaben und Ar- nehmen. die Jugendarbeit dazu auf, sich beitsfelder im erforderlichen Um- über die existierenden Koopera- fang erweitern noch neue Ziel- tionen mit Halbtagsschulen gruppen erschließen, aber auch Quelle: Ministerium für Arbeit hinaus mit ihrem Verhältnis nicht die Kooperation und Ver- und Sozialordnung, Familien und zur Ganztagsschule zu beschäf- netzung mit anderen Akteuren Senioren Baden-Württemberg tigen. In das vom Land geförder- entscheidend vorantreiben. Da- (auf der Homepage des Ministeri- te Jugendbegleiter-Programm mit einher gehe die Gefahr ge- ums steht die Expertise auch zum an Ganztagsschulen seien die sellschaftlichen Bedeutungsver- Download bereit)

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Diskussionen im Bundestag zu den Programmen gegen Links- und Rechtsextremismus

Wie bereits in der letzten Ausga- tionär-marxistischen oder anar- Es gehe dabei um die Stärkung be dieser Zeitschrift berichtet, chistischen Ideologien orientie- des Demokratiebewusstseins, will die Bundesregierung nicht ren. In den Strukturmerkmalen zum Beispiel durch Ermöglichung nur Modellprojekte zur Präven- werden allerdings auch Gemein- und Förderung eigener Partizipa- tion gegen Rechtsextremismus samkeiten mit dem Rechtsextre- tionserfahrungen, Stärkung der und Fremdenfeindlichkeit för- mismus festgestellt, wobei ein Geschichtskompetenz durch eine dern, sondern auch Programme exklusiver Erkenntnisanspruch, angeleitete Auseinandersetzung gegen Linksextremismus und ein dogmatischer Absolutheits- mit populistischen Ideologien Islamismus auflegen. Die Ausge- anspruch, ein deterministisches und Arbeit mit Zeitzeugen des staltung dieser Programme war Geschichtsbild, eine identitäre DDR-Systems und die Stärkung Gegenstand einer Anfrage der Gesellschaftskonzeption, ein der Differenzierungskompetenz Bundestagsfraktion der SPD, zu dualistischer Rigorismus und fun- durch die Auseinandersetzung der die Bundesregierung bereits damentale Verwerfungen ange- mit aktuellen gesellschaftlichen Ende Juni ihre Antwort vorlegte, führt werden. Auch antidemo- Fragestellungen. Die Umsetzung in der sie ihre Konzeption der an- kratische und antipluralistische soll in Zusammenarbeit mit Part- gekündigten Bundesprogramme Orientierungen, Freund-Feind- nerorganisationen und Trägern gegen Linksextremismus erläu- Denken und Verschwörungstheo- realisiert werden, die pädagogi- terte. Die Bundesregierung führt rien werden als charakteristisch sche und bildnerische Angebote darin aus, dass sie gegen Links- für linksextremistische Einstellun- für junge Menschen sowie für extremismus ebenso wie gegen gen benannt. Bei den Handlungs- mit diesen arbeitende Multiplika- Rechtsextremismus und islamisti- mustern wird die Bereitschaft zur torinnen und Multiplikatoren schen Extremismus gleicherma- Anwendung von Gewalt festge- unterbreiten. Von den öffentlich ßen entschlossen vorgehen wol- stellt, die nach vorliegenden Er- geförderten Trägern werde künf- le. Dies bedeute jedoch weder kenntnissen vor allem Sachbe- tig verlangt, dass sie für sich und eine Relativierung des Rechts- schädigungen, Brandanschläge ihre Kooperationspartner die extremismus noch eine Gleich- und Übergriffe auf Personen Übereinstimmung ihrer Intentio- setzung von Links- und Rechts- (vorrangig Polizeibeamte und nen und ihrer Arbeit mit den extremismus. Mit dem neuen Angehörige rechtsextremer Sze- Zielen des Grundgesetzes schrift- Programm verfolge sie das Ziel, nen) sowie das Aufrufen zu ent- lich bestätigen. vorrangig im präventiv-pädago- sprechenden Handlungsweisen Im Hinblick auf die Gefährdung gischen, integrativen und bil- umfasst. der gesellschaftlichen Ordnung dungsorientierten Bereich Zielgruppen dieses Programms durch Linksextremisten verweist anzusetzen, um tolerante und sind vorrangig Jugendliche sowie die Bundesregierung auf die Zu- demokratische Einstellungen und für diese Zielgruppe „sozialisa- nahme von Personen mit Gewalt- Handlungsweisen zu stärken. Zu tionsrelevante Akteure“, womit bereitschaft, die innerhalb von Linksextremismus und Islamismus Pädagoginnen und Pädagogen fünf Jahren deutlich angewach- gebe es keine vergleichbar breite und Eltern gemeint sind. Die sen sei. Das gelte auch für die Fachdiskussion wie zum Rechts- Bundesregierung verweist auf politisch links motivierten Ge- extremismus, weshalb das neue Aktivitäten der Bundeszentrale walttaten mit extremistischem Programm als ein „lernendes“ für politische Bildung, die das Hintergrund, die von 2008 bis angelegt sei und bestehende Thema Extremismus bereits mit 2009 um über 59 Prozent sprung- Wissenslücken schließen solle. Informationen und Bildungsan- haft angestiegen seien. Linksextremismus wird von der geboten aufgegriffen habe und Am 7. Juli legte die Bundestags- Bundesregierung definiert als sich dabei an verschiedene Ziel- fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bestrebung von Personenzusam- gruppen wende. Die zentrale NEN einen Antrag vor, in dem sie menschlüssen, die anstelle der Funktion seines Programms sieht Demokratiestärkung als Dauer- bestehenden Staats- und Gesell- das Bundesministerium für Fami- aufgabe bezeichnete und forder- schaftsordnung eine sozialistische lie, Senioren, Frauen und Jugend te, die Auseinandersetzung mit beziehungsweise kommunistische darin, geeignete Ansätze für eine rassistischen, antisemitischen und Gesellschaft oder eine „herr- präventive Auseinandersetzung menschenfeindlichen Haltungen schaftsfreie“, anarchistische Ge- mit dem Phänomen des Linksex- gesamtgesellschaftlich anzuge- sellschaft etablieren wollen und tremismus zu entwickeln und hen und die Förderprogramme ihr politisches Handeln an revolu- diese modellhaft zu erproben. des Bundes danach auszurichten.

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Rassistisches Denken, antisemiti- mit einer eindeutigen Ausrich- Programme hätten sich bewährt. sche Ressentiments und abwer- tung gegen Rechtsextremismus Da die bisherigen Erfolge jedoch tende Haltungen gegenüber an- eine wesentliche Rolle. Die Zu- keineswegs gesichert seien, müss- ders Denkenden, Lebenden und sammenlegung der bisherigen ten sie verstärkt werden. Liebenden finde man auch in der Programme und eine Vermi- Die Beratung der Anträge im Mitte der Gesellschaft. Man kön- schung mit der Förderung gegen Deutschen Bundestag findet am ne diese Phänomene deshalb Linksextremismus und Islamismus 1. Oktober statt. nicht allein als Problem rechter würden dem Problem nicht ge- Ränder sehen, sondern jeder recht. In der Begründung wird Auf der Ebene der Bundesländer Form von Menschenfeindlichkeit auf die besondere Bedeutung versucht man ebenfalls, dem und ideologisch motivierter Ge- der Programme gegen Rechtsex- Extremismus präventiv zu begeg- walt müsse entschieden ent- tremismus in den neuen Bundes- nen. Einer Meldung des Nachrich- gegengetreten werden, auch ländern hingewiesen, zu deren tendienstes dapd vom 13. Septem- wenn sie aus dem linken politi- Ausgestaltung Verbesserungsvor- ber zufolge soll in Niedersachsen schen Spektrum komme oder schläge gemacht werden. der Verfassungsschutz sich stär- islamistisch motiviert sei. Aller- Auch die Linksfraktion forderte ker der politischen Bildung in den dings seien differenzierte Strate- die Bundesregierung in einem Schulen widmen. Innenminister gien erforderlich, um den großen Antrag dazu auf, die Bundes- Uwe Schünemann (CDU) präsen- Unterschieden an Ausmaß, Be- programme gegen Rechtsextre- tierte eine Grundrechtefibel für drohungspotenzial, Erscheinungs- mismus auszuweiten und finan- Schüler der vierten Klasse, ver- formen und Anschlussfähigkeit ziell deutlich besser auszustatten. schiedene Extremismus-Comics in die Mitte der Gesellschaft zu Sie verlangte eine Verdoppelung für Schüler der Mittelstufe und entsprechen. Wer nur auf die Be- der Mittel für das Programm ein vom Verfassungsschutz für kämpfung extremistischer Ränder „Vielfalt tut gut“ von 19 auf den Unterricht entwickeltes setze, blende menschenfeindliche 38 Millionen €. Die Zahl der Planspiel „Demokratie und Extre- Einstellungen in der Mitte der „Lokalen Aktionspläne“ müsse mismus“, die im politischen Un- Gesellschaft aus. Die politische gleichzeitig erhöht werden. Die terricht an den Schulen eingesetzt Bildung soll nach dem Antrag Linksfraktion fordert außerdem werden sollen. Die politische Bil- von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur eine Erhöhung der Mittel für dung durch den Verfassungs- Vermittlung demokratischer Kul- das Programm „Kompetent für schutz soll bereits in der Grund- tur, Zivilcourage und Partizipa- Demokratie“ von fünf auf acht schule im Alter von neun Jahren tion (insbesondere für bildungs- Millionen Euro und eine Fortfüh- beginnen. Danach soll die Behör- ferne Schichten und Menschen rung der Finanzierung des Pro- de für alle Altersstufen gezielt mit Migrationshintergrund) aus- gramms „Förderung von Projek- Angebote machen. Schüler soll- gebaut werden. Bewährte Pro- ten für demokratische Teilhabe ten schon im Grundschulalter zur jekte gegen Rechtsextremismus und gegen Extremismus in Ost- Beschäftigung mit Grund- und sollen durch langfristige und ver- deutschland“. Nach Auskunft der Menschenrechten motiviert wer- lässliche Bundesförderung verste- Bundesregierung ist allerdings den, so Innenminister Schüne- tigt werden. Weitere Forderun- nicht damit zu rechnen, dass die mann. Die Grundrechte-Fibel ent- gen gelten der Ausgestaltung für 2010 dafür verfügbaren Haus- stand in Zusammenarbeit mit und besseren Finanzierung der haltsmittel bis zum Jahresende Baden-Württemberg. Comics zu bereits bestehenden Programme. verbraucht sein werden. Nicht den Themen Islamismus, Rechts- In der Begründung des Antrags verbrauchte Haushaltsmittel und Linksextremismus wurden wird das Ausmaß rechtsextremer sollen in das neue Haushaltsjahr aus Nordrhein-Westfalen über- und neonazistischer Aktivitäten 2011 übertragen werden. Die nommen und inhaltlich ange- beschrieben. Um dem Rechtsex- Linksfraktion fordert in ihrem passt. Dazu entwickelt der tremismus wirkungsvoll zu be- Antrag, eine Zentralstelle bei der Verfassungsschutz Handlungs- gegnen, seien vielfältige zivilge- Bundesregierung zu schaffen, um empfehlungen für Schulen und sellschaftliche Initiativen vor Ort die unterschiedlichen Programme Lehrer. Zur Begleitung des Plan- von großer Bedeutung. Solche zu koordinieren und eine Gesamt- spiels bietet der Verfassungs- Entwicklungen müsse der Bund strategie zur Bekämpfung des schutz eigene Experten an. vielfältig politisch und finanziell Rechtsextremismus zu entwickeln. unterstützen. Dabei spielten pra- Die vom Bund angestoßenen und Quellen: Bundestagsdrucksachen xisorientierte Bundesprogramme durch die Länder kofinanzierten 17/2298, 17/2482 und 17/3045

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Integration schreitet voran, muss aber intensiviert werden

Anfang Juli legte Staatsministe- aber auch 8,3 Millionen einen tions- und Sprachkurslehrern/-in- rin Prof. Dr. Maria Böhmer den deutschen Pass; 7,3 Millionen nen zusammen mit der GEW eine achten Bericht über die Lage der Menschen sind ausländischer Stellungnahme verabschiedet. Ausländerinnen und Ausländer in Staatsangehörigkeit. Beim Alters- Betont wird darin die Bedeu- Deutschland vor. Sie sieht Fort- aufbau zeigt sich, dass im Ver- tung von Integrationskursen zur schritte bei Sprache, Bildung und gleich zur Gesamtbevölkerung Sprachvermittlung und Orientie- Ausbildung der Migranten, je- Menschen mit Migrationshinter- rung, von denen vor allem die doch müsse gerade im Bildungs- grund mehrheitlich den jüngeren Frauen profitieren würden. Die und Ausbildungsbereich und auf Altersstufen angehören. Beson- Stellungnahme richtet sich gegen dem Arbeitsmarkt verstärkt eine ders hoch ist ihr Anteil bei den Diskussionsbeiträge, die man- Verbesserung der Situation be- Kindern, wo sie mittlerweile gelnde Integration als genetisch wirkt werden. Da mittlerweile 34,4 Prozent der unter Fünfjähri- bedingt ansehen oder als das Re- etwa jedes dritte Kind unter fünf gen und 32,7 Prozent der unter sultat angeblicher Unwilligkeit Jahren einen Migrationshinter- Zehnjährigen stellen. In der von Migranten und Migrantin- grund habe, müsse Migrantinnen Altersgruppe über 65 Jahre nen. Es gebe keine andere Chan- und Migranten in Deutschland ei- macht der Migrantenanteil nur ce zur Integration, als die Men- ne Perspektive geboten werden. 8,5 Prozent aus. schen dort „abzuholen“, wo sie Auch wenn sich das Bildungsni- Anfang September stellte Innen- stehen. Die Vermittlung von veau der jungen Migranten in den minister Dr. Thomas de Maizière Sprache und Bildung sei eine letzten drei Jahren erhöht habe, zusammen mit dem Präsidenten Bringschuld, die die deutsche müsse diese Entwicklung be- des Bundesamts für Migration Politik jahrelang versäumt habe. schleunigt werden durch eine Bil- und Flüchtlinge, Albert Schmid, Auch heute stelle die Politik nicht dungsoffensive, um mehr jungen ein bundesweites Integrations- hinreichende Mittel zur Verfü- Migranten den Aufstieg zu er- programm vor. Es soll die Integra- gung. Die Integrationskursträger möglichen. Für den Bildungser- tionsangebote von Bund, Län- und die Leiterinnen und Leiter folg der Kinder sei die Mitwir- dern, Kommunen und Freien der Kurse würden nicht gefragt kung der Eltern entscheidend, Trägern erfassen und Vorschläge beziehungsweise gehört. Die die zum Erwerb der deutschen für eine Weiterentwicklung die- neuen Bestimmungen des Bun- Sprache motivieren müssten. ser Angebote machen. Expertin- desamtes für Migration und Laut Lagebericht hat sich die Aus- nen und Experten aus Politik, Flüchtlinge grenzten genau die- bildungsbeteiligung von auslän- Verwaltung, Praxis der Integra- jenigen aus, die Integrationshilfe dischen Jugendlichen verbessert; tionsförderung und Wissenschaft nötig hätten: Menschen ohne ei- sie stieg 2008 im Vergleich zum haben gemeinsam drängenden genes Einkommen, Menschen mit Vorjahr um 2 Prozent. Dennoch Handlungsbedarf identifiziert körperlichen Beeinträchtigungen, liegt sie mit 32,2 Prozent weit und konkrete Empfehlungen und ältere Menschen und Mütter mit unter der Quote der Deutschen Strategien entwickelt. Die wich- kleinen Kindern. Zudem mangele im gleichen Alter, die 68,2 Pro- tigste Herausforderung wird es bei den Leitern und Leiterin- zent beträgt. Auch die Arbeits- nach wie vor in der Überwindung nen an pekuniärer und gesell- losenquote von Migranten ist von Sprachproblemen gesehen. schaftlicher Anerkennung. Ihr fast doppelt so hoch wie die von Das Integrationsprogramm ent- Berufsalltag sei bestimmt von Deutschen. hält ausführliche Situationsbe- Dumpinglöhnen, Minihonoraren, Der Anteil der Menschen mit Mi- schreibungen und Vorschläge zur fehlender sozialer Absicherung, grationshintergrund macht in der Steigerung der Effizienz von Ak- zu erwartender Altersarmut und Bundesrepublik mittlerweile fast tivitäten und Maßnahmen. Es nicht vorhandener Mitbestim- ein Fünftel der Bevölkerung aus. bietet eine wichtige Grundlage mung. Von 82,1 Millionen Einwohnern für das künftige Handeln von im Jahr 2008 hatten insgesamt Trägern und Akteuren bei der Quellen: BPA-Mitteilung vom 15,6 Millionen Menschen einen Integration. 07.07.10, heute im bundestag Migrationshintergrund. Von den Zur aktuellen Integrationsdebat- Nr. 281, BMI-Newsletter vom Zuwanderern haben inzwischen te hat ein Netzwerk von Integra- 08.08.10, www.daz-netwerk.de

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Aus dem AdB

Theaterpädagogik, Gewaltprävention und ökologische Bildung waren Schwerpunkte des diesjährigen Fachkräfteaustauschs mit der Mongolei

Auch in diesem Jahr reiste eine Gruppe von deutschen Pädago- gen und Pädagoginnen in die Mongolei, um mit mongolischen Fachkräften der Jugendarbeit auf einem Symposium Schwerpunkte demokratischer Jugendbildung zu erarbeiten. Vorausgegangen war im Frühjahr eine Hospitation in deutschen Bildungseinrichtun- gen, in denen mongolische Ver- treter/-innen einen Einblick in die Praxis politischer Jugendbildung in Deutschland erhielten. Auf der Grundlage dieser Hospi- tationen wurde das Programm in der Mongolei ausgearbeitet, das neben dem dreitägigen Sympo- sium im Zavhan-Aimag, circa 1200 Kilometer westlich der Hauptstadt Ulan Bator, auch Reisten zum Symposium in die Mongolei: Sabine Lück, Jens Lindemann, Gespräche in Ulan Bator und Be- Ute Kröger und Olfert Dorka (von links nach rechts) sichtigungen von Einrichtungen und Organisationen der Jugend- bung im Vordergrund. Hier bot dings war ihnen auch klar, dass bildung in der Mongolei vorsah. der Ort eine einmalige Gelegen- dazu die Fortbildung der Fach- Die deutschen Pädagogen und heit, an einem Fluss mit mächti- kräfte eine wichtige Vorausset- Pädagoginnen befanden sich gen Stromschnellen, Kehrwässern zung ist und die Begeisterung für vom 22. Juli bis 5. August 2010 in und Kiesinseln das Wasser und ihre Einsatzmöglichkeiten, die der Mongolei. Jens Lindemann seine vielfältigen Bedeutungen man in diesem Workshop ken- von der seit Jahren im Austausch zu erfahren. Auch klimatische nenlernte, allein für eine quali- mit der Mongolei engagierten Fragen und der behutsame Um- tative pädagogische Arbeit nicht Bildungsstätte „Die Mühle“ leite- gang mit der Natur konnten in ausreicht. te die vierköpfige deutsche Dele- diesem Workshop thematisiert Präventive Konfliktbearbeitung gation. werden. war der Schwerpunkt des dritten Die theaterpädagogische Arbeit Workshops, in dem es vor allem Im Mittelpunkt des Symposiums stand im Mittelpunkt des zwei- um Konfliktanalyse, Gruppen- standen drei Workshops, die be- ten Workshops. Theaterpädago- dynamik, Kooperationen und reits bei den Hospitationen in gik ist in der Mongolei so gut wie Mobbing ging. Im Rahmen des Deutschland bearbeitete Themen unbekannt. Deshalb begegneten Workshops entstand u. a. ein Rol- aufgriffen und den zahlreichen die Teilnehmer und Teilnehme- lenspiel zum Mobbing, das bei mongolischen Fachkräften, die rinnen des Workshops diesem der Präsentation vorgeführt wur- an dem Symposium teilnahmen, Angebot mit Skepsis, waren je- de. Die Teilnehmenden zeigten zeigten, wie sie die Praxis demo- doch überrascht, wie gut sich das sich davon überzeugt, dass sie kratischer Jugendbildung gestal- Theaterspiel für die pädagogische die Anregungen zur präventiven ten können. Diese Workshops Arbeit eignet. Die Teilnehmer und Konfliktbearbeitung gut umset- wurden von den mongolischen Teilnehmerinnen außerten viele zen können. Hospitanten geleitet und von Ideen und Visionen und verein- den deutschen Kolleginnen und barten, gemeinsam ein Konzept Die deutsche Gruppe besuchte Kollegen begleitet. zu entwickeln, um theaterpäda- zwei außerschulische Bildungs- Im Workshop „Ökologische Bil- gogische Arbeit künftig mit Kin- einrichtungen und ein Projekt dung“ standen Übungseinheiten dern und Jugendlichen in der der Schulsozialarbeit in Ulan Ba- im Gelände der näheren Umge- Mongolei zu realisieren. Aller- tor. Diese Einrichtungen machten

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deutlich, dass der Aufbau von Bil- Bei der Auswertung mit den für die Fortsetzung dieses erfolg- dungsstrukturen in Ulan Bator mongolischen Kooperationspart- reichen deutsch-mongolischen durchaus auch als Ergebnis des nerinnen wurden die Probleme Austauschs entwickelt. deutsch-mongolischen Fachkräf- angesprochen, die sich durch ei- teprogramms bewertet werden ne Kürzung der für den Austausch Quelle: Berichte der Delegations- kann. In den Einrichtungen arbei- bereitgestellten Fördermittel und teilnehmer/-innen ten ehemalige Hospitanten, de- eine Veränderung der Vorgaben ren Erfahrungen in den Aufbau ergeben können. Trotz einiger dieser Organisationen eingeflos- ungewisser Perspektiven wurden sen sind. aber schon gemeinsame Ideen

Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten kritisiert Mittelkürzungen bei der Bundeszentrale für politische Bildung

Der in der ersten Sitzungswoche Der Arbeitskreis deutscher Bil- Deshalb wendet sich der Arbeits- nach der Sommerpause vom dungsstätten als Fachverband kreis deutscher Bildungsstätten Deutschen Bundestag zu beraten- unabhängiger Träger der poli- mit Nachdruck gegen diese Mar- de Haushaltsentwurf der Bundes- tischen Jugend- und Erwachsen- ginalisierung Politischer Bildung regierung für das Jahr 2011 weist bildung hat in einer Pressemit- und fordert das Parlament auf, in eine Kürzung der Mittel für politi- teilung darauf hingewiesen, den kommenden Haushaltsver- sche Bildungsarbeit von 1,55 Mio. dass er – auch angesichts der handlungen die Politische Bildung Euro aus. Ein Blick in den Etat der Perspektive, dass für die nächs- zu stärken und den Kürzungsplä- Bundeszentrale für politische Bil- ten Jahre weitere massive Kür- nen der Bundesregierung nicht dung macht deutlich, wo die zungen angekündigt wurden – zuzustimmen. Mittel eingespart werden sollen: nicht nur eine Bedrohung für Inzwischen hat auch die Arbeits- zur Hälfte bei der Politischen Bil- die Existenz vieler Bildungsein- gemeinschaft Demokratischer dungsarbeit, die die Bundeszen- richtungen sieht, sondern eine Bildungswerke e. V., der einige trale selbst durchführt, und zur solche Kürzung ein verhängnis- Mitglieder des Arbeitskreises anderen Hälfte bei den Zuschüs- volles Signal gegenüber einem deutscher Bildungsstätten ange- sen für die Politische Bildung der Bildungsbereich ist, dem die hören, auf ihrer Mitgliederver- zahlreichen freien Träger. Förderung demokratischer sammlung am 24. September In der Relation zu den jeweiligen Entwicklung und politischer 2010 in einer Erklärung die ak- Haushaltsansätzen bedeutet das Kultur zentrales Anliegen ist. tuellen Pläne der Bundesregie- für die freien Träger Politischer Die aktuellen Diskussionen rung zur Kürzung der Mittel für Bildung eine deutliche und nicht über die Integrationsproblema- die Politische Bildung verurteilt. nachvollziehbare Kürzung um tik und die Reaktionen auf die Die geplanten Kürzungen be- mehr als 11 Prozent ihres aktuel- Publikation von Thilo Sarrazin schädigten die demokratische len Förderungsvolumens von verdeutlichen nach Ansicht Kultur der Bundesrepublik 6,8 Mio. Euro. Die Kürzung bei des AdB, dass Politische Bildung Deutschland. Die ADB fordert der Bundeszentrale für ihre eige- für die Demokratie eine stän- angesichts der Aufgaben Politi- nen Angebote macht im kom- dige Aufgabe bleibt und nicht scher Bildung, den Haushaltsan- menden Jahr dagegen nur knapp dem Versuch der Haushaltskon- satz für die Bundeszentrale für 4 Prozent bei einem Budget von solidierung zum Opfer fallen politische Bildung um zehn Pro- rund 19 Mio. Euro aus. darf. zent zu erhöhen.

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Kommission Erwachsenenbildung tagte im Kloster Banz

Leider war der Himmel verhangen, als die Kommission Erwachsenen- bildung vom 13. bis 15. Septem- ber 2010 zu ihrer Herbstsitzung in Kloster Banz, dem Bildungs- zentrum der Hanns-Seidel-Stif- tung in Bad Staffelstein, zusam- menkam. Durch Wind und Regen wurde ein Schwerpunkt dieser Sitzung, eine Fotoexkursion zur Wallfahrtskirche Vierzehnheili- gen, etwas beeinträchtigt. Die Kommission hatte sich von Kloster Banz aus auf den Weg gemacht, um eine Methode auszuprobie- ren, die in der Annäherung an Bildungsinhalte und deren An- eignung über das Medium Foto- © Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten grafie besteht. Diese Methode Die Schaufront der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen war bereits Gegenstand voraus- gegangener Kommissionssitzun- letztlich auch eine „Friedensga- men zu beachtenden Einschrän- gen, in denen über Studienfahr- rantie“ versprach. Die Fülle die- kungen entstandenen Fotos wur- ten nach Schlesien berichtet ser Macht kam nicht nur in der den zu einem späteren Zeitpunkt wurde. Hier hatte man sich foto- Vorstellung vom „Gottesgnaden- in der Kommissionssitzung prä- grafisch mit der Landschaft des tum“ weltlicher Herrschaft zum sentiert und kommentiert. Die Riesengebirges auseinanderge- Ausdruck; sie zeigte sich auch in Kommissionsmitglieder berichte- setzt. der Herrschaft über die Materie, ten über ihre Wahrnehmungen Prof. Dr. Matthias Pfüller, Vorsit- die in der verschwenderischen und die Gründe für die Auswahl zender der Kommission Erwach- Formensprache von Barock und von Motiven und konnten nicht senenbildung, hatte den Ausflug Rokoko, in der sich die Natur nur unmittelbar die Einsatzmög- nach Vierzehnheiligen mit einer ornamental in Stein präsentiert, lichkeiten von Fotografie im Rah- Einführung in die Formensprache starre Linien sich in Bewegung men politischer Bildung erfahren, und den politischen und kulturel- auflösen, die Grenzen zwischen sondern auch feststellen, welche len Kontext des Barockzeitalters Architektur, Skulptur und Bild Lernprozesse durch sinnliche An- vorbereitet und sich dabei auf ei- durchlässig werden und sich in schauung und Wahrnehmung nige Elemente konzentriert, die der Ikonographie der Bilder der und den Austausch über die dar- bei der Auswahl von Fotomoti- Blick ins Unendliche richtet, eine aus entstandenen Bilder ange- ven an den Orten Kloster Banz neue Dimension erreicht. Auch regt werden können. und Vierzehnheiligen besonders Verspieltheit und Dekadenz sind beachtet werden sollten. Zu den Elemente des Barock, die in der Ein zweiter inhaltlicher Schwer- historischen Voraussetzungen, Schäferdichtung und in der Eroti- punkt dieser Sitzung war ein Vor- unter denen sich der Barock in sierung vor allem der Malerei zur trag des Kommissionsmitglieds Architektur und Kunst entwickel- Geltung kommen. Glaube, Macht Karl Heinz Keil, der bei der Hanns- te, gehören die Herrschaftsform und ästhetische Formensprache Seidel-Stiftung u. a. für Neue des Absolutismus und die Gesell- waren die Stichworte, die im Fo- Technologien und Medien zu- schaftsform des Feudalismus. Der cus der Betrachtung des Ensem- ständig ist. Er informierte über Absolutismus war – zumindest in bles Kloster Banz, das dem Früh- Ursprung und Entwicklung des Deutschland – die Antwort auf barock zuzurechnen ist, und der Web 2.0 und seine Bedeutung für die verheerenden Wirkungen des Basilika Vierzehnheiligen, die die politische Kommunikation, Dreißigjährigen Krieges, nach schon zum Spätbarock, dem Ro- die in der aktuellen Diskussion ei- dessen Ende man sich von einer koko gehört, liegen sollten. nen Spannungsbogen von pessi- Stärkung staatlicher Macht mehr Die zum Teil unter wetterbeding- mistischer Wahrnehmung bis zu Sicherheit und Stabilität und ten und den in kirchlichen Räu- euphorischer Zustimmung um-

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fasst. Zahlreiche Beispiele aus dem übrigens, dass die größte Affi- © Foto: Fenna Paproth Internet, unter anderem Wahl- nität zu den neuen Medien bei werbespots von Barak Obama, Anhängern der FDP besteht, ge- Videospots auf YouTube, Inter- folgt von den Grünen, während netkampagnen (wie zur Wahl die SPD-Sympathisanten das eines Bundespräsidenten Gauck) Schlusslicht bilden. Die zentrale machten deutlich, in welchem Bedeutung der neuen Kommuni- Umfang die neuen Kommunika- kationsplattformen liegt im Aus- tions- und Vernetzungsmöglich- tausch und in der Vernetzung, keiten des Web 2.0 bereits ge- weniger in der Information, die nutzt werden. Die verschiedenen nach wie vor noch über die tradi- Plattformen wie twitter, flickr, tionellen Medien wie Fernsehen Kommissionsmitglied bei der Sich- facebook, studivz und xing wur- und Printmedien läuft, wobei tung der Sitzungsmaterialien den vorgestellt und in Hinblick auch die Webseiten der Printme- auf ihre Stärken und Schwächen dien eine große Rolle spielen. Für Wie bei jeder Sitzung der Kom- kommentiert. Die Mitglieder der die politische Bildung sind die mission wurden auch in Banz die Kommission wurden aufgefor- neuen Medien gleichzeitig Inhalt bildungspolitischen und für die dert, sich selbst sechs Nutzer- und Werkzeug. Sie bieten die Erwachsenenbildung relevanten gruppen zuzuordnen, die in ei- Chance, neue Zielgruppen anzu- Entwicklungen auf der Ebene ner Studie der Initiative D21 zur sprechen und neue didaktische von Bund und Ländern erörtert. Digitalen Gesellschaft ermittelt Formate zu entwickeln. Sie müs- Die Geschäftsführerin des Ar- wurden. Bei den Kommissions- sen allerdings adäquat „bespielt“ beitskreises deutscher Bildungs- mitgliedern überwog bei ihrer werden, wenn ihr Einsatz den ge- stätten, Ina Bielenberg, nahm Selbsteinschätzung der Typus des wünschten Erfolg bringen soll. an dieser Sitzung teil, um der Berufsnutzers, dem nach der Stu- Karl Heinz Keil verschwieg nicht Kommission nicht nur für ihr die 10 % der Bevölkerung zuge- die Probleme der neuen Netz- Engagement für eine Reform der ordnet werden. Karl Heinz Keil werke und wies darauf hin, dass Förderungsrichtlinien der Bun- wies auf die zunehmende Nut- es für eine abschließende Bewer- deszentrale für politische Bildung zung von social media durch die tung der Nutzungsmöglichkeiten zu danken, sondern sie auch über Politik hin, die er ebenfalls an für die politische Bildung noch zu den aktuellen Stand der Diskus- Beispielen veranschaulichte. Bei früh sei, da der Prozess noch sion auf den verschiedenen Ebe- der Parteienpräferenz zeigt sich nicht abgeschlossen sei. nen zu informieren. Als besonders schwieriges Problem erweist sich © Hanns-Seidel-Stiftung die Umsatzsteuerpflichtigkeit der Zuschüsse der bpb an die Träger. Es hat bereits Prüfungen – schwer- punktmäßig in Nordrhein-West- falen – gegeben, die zu erheb- lichen Nachzahlungsforderungen durch die Finanzämter geführt haben. Durch verschiedene Akti- vitäten auf der Ebene von AdB und Bundesausschuss politische Bildung wurde das Problem auch von den Gesprächspartnern in der Politik zwar erkannt, eine politische Lösung wurde jedoch noch nicht gefunden, wobei eine Mindestlösung der Verzicht auf die rückwirkende Zahlung wäre, und für die Zukunft eine entspre- chende Richtlinienreform Abhilfe schaffen könnte. Auch wegen der anderen von der Kommission vorgebrachten Kritikpunkte an Hier blaut der Himmel über Kloster Banz den Richtlinien sei man mit der

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Bundeszentrale für politische Bil- durch die Darstellung konkreter Rundgang mit dem Technischen dung weiter im Gespräch. Projekte, und bei der Argumen- Leiter, Hans Schnabl, über die Angesichts der von der Bundes- tation für die Belange politischer Geschichte dieses imposanten regierung angekündigten Kür- Bildung und die Bedeutung die- Bauwerks zu informieren, die zungen für den Bereich der poli- ses Bereichs auch die neuen Me- verschiedenen Gebäudeteile und tischen Bildung erörterte die dien und ihre Netzwerke zu nut- Räumlichkeiten und ihre Funktio- Kommission Möglichkeiten zur zen. nen kennenzulernen und zu er- Abwendung der sich verschärfen- Der Aufenthalt in Kloster Banz fahren, welch großen logisti- den Situation für die Träger. Es gab der Kommission Gelegen- schen und organisatorischen wurde empfohlen, die Leistun- heit, sich in Gesprächen mit dem Aufwand Erhalt und Betrieb ei- gen der politischen Bildung stär- Leiter des Bildungszentrums, ner so anspruchsvollen Anlage ker in den Vordergrund zu stellen Michael Möslein, und bei einem erfordern.

Der Verein Bildung – Begegnung – Zeitgeschehen Bernau feierte sein zwanzigjähriges Bestehen

Im heutigen Oberstufenzentrum statt, Abendvorlesungen in der mangelhaften Sprach- und Lese- im Bernauer Waldfrieden wurde Bernauer Galerie oder in der kompetenzen von Kindern und vor 20 Jahren der Verein Bildung Bibliothek, die schnell zu Mar- Jugendlichen an. Die Einrichtung – Begegnung – Zeitgeschehen kenzeichen der Vereinsarbeit zeigte in den Jahren ihres Beste- gegründet. Er hatte das Ziel, ge- wurden. Unterstützt wurde der hens immer auch ein Gespür für meinsam mit anderen Trägern Verein in dieser Zeit vom Arbeits- den Bildungsbedarf vor Ort, für ein unabhängiges Bildungszen- kreis deutscher Bildungsstätten den sie Fördermittel einwerben trum aufzubauen, obwohl es und der Brandenburgischen konnte. kaum Aussichten auf Finanzie- Landeszentrale für politische Bil- Die Finanzierung des Bildungsan- rung der Arbeit gab, die an der dung. Für den Aufbau der politi- gebots wurde jedoch im Laufe Gründung Beteiligten jedoch schen Bildung in Ostdeutschland der Jahre immer komplizierter. große Einsatzbereitschaft und gab es damals eine besondere Die Bedingungen für die Arbeit Begeisterung an den Tag legten. Förderung, die zur Absicherung verschlechterten sich kontinuier- Nach zwei Jahren, in denen Per- der Arbeit beitrug. Bildung-Be- lich. Dem Rückgang an Förder- sonal- und Betriebsräteschulun- gegnung-Zeitgeschehen reagier- mitteln stehen ständig steigende gen das Fundament der Arbeit te aber immer auch auf neue Kosten gegenüber. In der Realität bildeten, orientierte sich der Ver- Anforderungen. Als 1994 Russ- bedeutet dies einen enormen Ar- ein um. Am heutigen Kulturhof, landdeutsche nach Bernau ka- beitseinsatz und viel ehrenamtli- an dem sich verschiedene Bil- men, bot die Bildungseinrichtung ches Engagement für wenig Geld. dungsträger und Jugendeinrich- Sprach- und Integrationskurse Am Personal wird von der Politik tungen zusammenfanden, wurde an. Auch Berufsorientierungsse- gespart, während die Bildungs- ein Konzept entwickelt, in dem minare mit Bernauer Schulklas- häuser saniert wurden. Trotz die- Zeitgeschehen und die Geschich- sen gehörten über viele Jahre ser entmutigenden Erfahrung re- te der DDR als neues zentrales zum Bildungsangebot. Aktuell signierte die Bildungseinrichtung Arbeitsfeld aufgenommen wur- setzen sprach- und integrations- nicht, sondern feierte Ende Sep- den. Das BBZ erarbeitete Veran- fördernde Projekte des Vereins in tember mit Unterstützern, Weg- staltungsreihen wie das Bernauer Kindertagesstätten und Grund- begleitern und Interessierten ein Erzählcafé, die Geschichtswerk- schulen bei den längst erkannten Jubiläumsfest in Bernau.

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Neue Publikationen aus dem Bereich des AdB

liche und Lehrkräfte an verschie- Broschüre beschreibt die Statio- denen Orten stattfanden. Im nen von der Schülerinitiative in Mittelpunkt stehen Beispiele aus Hannover bis zu einer bundes- der Projektarbeit, die zeigen, wie weit agierenden Organisation, vielfältig auch die Ansätze der die aus 13 Landesvereinen be- Praxis außerschulischer politischer steht und sechs Geschäftsstellen Bildung sind: In Essen produzier- mit acht Regionalbüros unter- ten die Schüler/-innen gemein- hält. 130 hauptamtliche Mitar- sam von öffentlichen Auftritten beiter/-innen erledigen die begleitete Hörfunkbeiträge zu Aufgaben. Die IJGD vermitteln eigenen Geschichten und zur Ge- Teilnehmer/-innen in Kurz-, Mit- schichte der Juden in ihrer Stadt; tel-, und Langzeitdienste zu in- in Vlotho an der Weser fanden und ausländischen Kooperations- Kurse zur Leitung interreligiöser partnern. Bestimmend für die Ar- und interkultureller Jugendgrup- beit sind interkulturelles Lernen, pen in Kooperation mit Migran- Freiwilligenarbeit, Selbstorgani- tenorganisationen statt; im Thü- sation, soziales Lernen, Emanzi- ringer Wald drehten Kinder pation der Geschlechter und einen Film zum Thema „Frisch ökologisches Lernen. Zahlreiche angekommen in Deutschland“; Fotos in der Publikation geben Drei Jahre lang lief unter dem La- im ostfriesischen Aurich nahmen einen optischen Eindruck von bel „Communis – gemeinsam Lehrkräfte an einem Diversity- Verbandsereignissen und agie- lernen in der politischen Training zu Chancen und Heraus- renden Personen. Die Publikation Bildung“ ein Projekt, das der forderungen interkulturellen enthält Erinnerungsberichte von Arbeitskreis deutscher Bil- Zusammenlebens teil; eine Neu- Angehörigen der Gründungsge- dungsstätten (AdB) im Rahmen köllner Gesamtschulklasse produ- neration und von den Verein tra- des vom Bundesministerium für zierte ein Theaterstück und eine genden Persönlichkeiten, die die Familie, Senioren, Frauen und Radiosendung zu Jugendkultu- Entwicklung in den Folgejahren Jugend aufgelegten Programms ren; Zivilcourage war das Thema bis heute bestimmten. Sie wird „VIELFALT TUT GUT. Jugend für eines Videoseminars in Bielefeld; abgeschlossen von Grußworten Vielfalt, Toleranz und Demokra- in Welper im Ruhrgebiet ging es und Glückwünschen zahlreicher tie“ realisierte. Der gerade dazu um den Umgang mit Konflikten Kooperationspartner/-innen und veröffentlichte Bericht zeigt an und Teambildung, in Bad Sege- steht auf der Homepage der IJGD Beispielen aus der Projektarbeit, berg um die Themen „Sexualität“ unter www.ijgd.de zum Downlo- wie die daran beteiligten neun und „Jugend & Kultur“; ein Semi- ad bereit. Bildungseinrichtungen junge nar- und Ausstellungsprojekt zu Menschen unterschiedlicher Geschlechterrollen wurde in Bre- nationaler und sozialer Herkunft men realisiert. Barbara Thimm, Mitarbeiterin zu gemeinsamem Lernen zusam- Der von Projektleiter Boris Brok- am Jugendgästehaus Dachau menführten. In der Kooperation meier redigierte Bericht umfasst und dort zuständig für die Berei- mit Schulen wurden nicht nur un- 45 Seiten und ist zu beziehen che Gedenkstättenpädagogik terschiedliche didaktische Kon- über die Geschäftsstelle des und Gegenwartsbezug, ist Mit- zepte interkulturellen Lernens AdB; er steht außerdem als Down- herausgeberin eines Buches, das entwickelt und umgesetzt, son- load auf der AdB-Homepage unter dem Titel „Verunsichernde dern auch Möglichkeiten zur www.adb.de zur Verfügung. Orte. Selbstverständnis und Wei- interkulturellen Fortbildung der terbildung in der Gedenkstätten- schulischen Lehrkräfte angeboten. pädagogik“ im Brandes & Apsel Eine Festschrift zu ihrem Jubi- Verlag erschien. Es handelt sich Der Bericht beschreibt Ziele, läum haben die Internationa- dabei um die Ergebnisse eines Struktur, Organisation und Er- len Jugendgemeinschafts- Modellprojekts, an dem zahlrei- gebnisse des Verbandsprojekts, dienste veröffentlicht, die im che Pädagogen und Pädagogin- in dessen Laufzeit rund 200 Semi- letzten Jahr ihr 60jähriges Beste- nen beteiligt waren (darunter nare und Workshops für Jugend- hen feierten. Die 80 Seiten starke auch Imke Scheurich, Mitglied

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des Redaktionsbeirats dieser Zeit- der – schön gestaltet – auf über zurückliegenden Fall der Mauer schrift), um gemeinsam ein Be- 70 Seiten die Entwicklung in den mit Zeitzeugen der Wendeereig- rufsbild Gedenkstättenpädago- Arbeitsbereichen der Bildungs- nisse statt. Auch in der Medienar- gik zu entwickeln das in dieser stätte darstellt. Zu den Highlights beit stand die Geschichte der Publikation entfaltet wird. des vergangenen Jahres gehört – deutsch-deutschen Teilung und wie schon in den Jahren zuvor – des Mauerfalls im Mittelpunkt. Barbara Thimm/Gottfried Kößler/ das Berliner Jugendforum im Ab- Der Bericht informiert über wei- Susanne Ulrich (Hrsg.): Verunsi- geordnetenhaus von Berlin, das tere Projekte und Veranstaltun- chernde Orte. Selbstverständnis Jugendliche und Abgeordnete gen, über Veränderungen in den und Weiterbildung in der Gedenk- zum Austausch über verschiede- Gremien und beim Personal und stättenpädagogik – Frankfurt/ ne politische Themen zusammen- gibt schließlich in einem Anhang Main 2010, Brandes & Apsel, führt. Gutes Benehmen im inter- einen Überblick über Personen 207 Seiten. kulturellen Kontext war Inhalt und Aktivitäten. von zwei Seminaren mit Jugend- lichen aus verschiedenen Län- Bezug: wannseeFORUM Hohen- Das wannseeForum hat seinen dern, Oral History fand im Jahr zollernstraße 14, 14109 Berlin, Jahresbericht 2009 vorgelegt, der Erinnerung an den 20 Jahre www.wannseeforum.de

Personalien

Elisabeth von Uslar leitet seit Im Frühjahr 2010 wurde das neue ■ Prof. Dr. dem 1. Juli 2010 die Stabsstelle Kuratorium der Bundeszentrale ■ Gisela Piltz. stiftungsübergreifende Strate- für politische Bildung berufen. gien in der Konrad-Adenauer- Ihm gehören 22 Mitglieder des Aus der Fraktion DIE LINKE: Stiftung. Zuletzt war sie Leiterin Deutschen Bundestages an. ■ des persönlichen Büros des ehe- ■ maligen Bundespräsidenten Aus der CDU-/CSU-Fraktion: ■ Dr. . Horst Köhler. ■ Ernst-Reinhard Beck Sie soll neben der koordinieren- ■ Michael Brand Aus der Fraktion B90/DIE GRÜNEN: den und konzeptionellen Beglei- ■ Dr. tung der genannten Schwer- ■ . punkte die Hauptabteilungen ■ zudem beim Aufspüren neuer ■ Prof. Dr. Themen und interessanter Part- ■ Auf ihrer Frühjahrssitzung hat ner sowie beim Entwickeln neuer ■ die Mitgliederversammlung des Formate unterstützen. ■ Elisabeth Winkelmeier- Bundesausschuss Politische Bil- Becker. dung einen neuen Vorsitzenden gewählt. Lothar Harles, Ge- Ulrich Niemann ist seit dem Aus der SPD-Fraktion: schäftsführer der Arbeitsgemein- 19. Juli 2010 der neue Leiter des ■ schaft katholisch-sozialer Bereiches Internationale Politik ■ Klaus Brandner Bildungswerke in der Bundesre- der Friedrich-Naumann-Stiftung ■ Dr. Barbara Hendricks publik Deutschland (aksb) und für die Freiheit in der Geschäfts- ■ bisheriger Stellvertreter, wurde stelle in Potsdam. Dort ist er für ■ Gabriele Lösekrug-Möller. in einer Nachwahl zum Nachfol- die Steuerung der internationa- ger von Theo W. Länge (Bundes- len Arbeit der Stiftung verant- Aus der FDP-Fraktion: arbeitskreis Arbeit und Leben) wortlich. ■ Patrick Meinhardt bestimmt, der den Vorsitz bereits

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Ende 2009 niedergelegt hatte. seinen langjährigen Studienleiter Moskau und in andere mittel- Harles übte bereits seit 1. Januar Heinz-Wilhelm Schnieders mit und osteuropäische Länder 2010 kommissarisch das Amt des einer Festveranstaltung in den verantwortlich. Vorsitzenden aus. Auf der Mit- Ruhestand. Heinz-Wilhelm Schnie- gliederversammlung am 10. No- ders nahm im Lauf seiner Tätig- vember 2010 in Bonn finden keit in Aurich auch zahlreiche Kerstin Griese ist wieder Mit- turnusgemäß die nächsten Vor- Funktionen im Arbeitskreis deut- glied des Deutschen Bundesta- standswahlen statt. scher Bildungsstätten wahr: Un- ges, dem sie bereits von 2000 bis ter anderem war er Mitglied der 2009 angehörte. In der vorigen Kommissionen Bildungspolitik Legislaturperiode war sie sieben Theo W. Länge, langjähriger und Erwachsenenbildung sowie Jahre lang Vorsitzende des Fami- ehemaliger Vorsitzender des des Redaktionsbeirats der Zeit- lienausschusses. Durch die Ernen- Bundesausschuss politische Bil- schrift „Außerschulische Bildung“, nung von Angelica Schwall-Dü- dung und Bundesgeschäftsführer und er arbeitete in verschiede- ren zur NRW-Europaministerin des Bundesarbeitskreises Arbeit nen Projektgruppen des AdB mit. rückte sie nun ins Parlament nach. und Leben, wurde beim Deut- Zahlreiche Kolleginnen und Kol- Seit Ende letzten Jahres gehört schen Weiterbildungstag 2010 legen und Kooperationspartner/ Kerstin Griese dem Bundesvor- im Deutschen Bundestag für sein -innen dankten ihm auf dem Ab- stand der Diakonie an und wird Engagement für die politische schiedsfest für die gute Zusam- die dort übernommenen Aufga- Bildung vom Präsidenten der menarbeit. ben auch weiterhin wahrneh- Bundeszentrale für politische Bil- Sein Nachfolger Detlef Maaß men. dung, Thomas Krüger, geehrt. will die engagierte Bildungsar- beit seines Vorgängers fortset- zen. Seine Arbeitsschwerpunkte Greta Wehner, deren Herbert- Ruth Kirsch, in der CDU-Bundes- werden Internetkompetenz, de- und-Greta-Wehner-Stiftung das geschäftsstelle in der Abteilung mografischer Wandel und Fami- Herbert- Wehner-Bildungswerk Politische Programme und Analy- lienbildung sein. in Dresden unterstützt, erhält für sen zuständig für die Bereiche Bil- ihre Verdienste um die demokra- dung, Jugend und Kultur, vertritt tische und politische Bildung in die CDU seit Mai 2010 im Bundes- Ebenfalls in den Ruhestand ging Sachsen das Bundesverdienst- ausschuss Politische Bildung (bap). Mario Bracciali, der seit 1982 kreuz erster Klasse. bei der Europäischen Akademie Bayern tätig war. Er arbeitete zu- Mike Corsa, Generalsekretär der nächst als Jugendbildungsrefe- Seit 15. September 2010 ist Mar- Arbeitsgemeinschaft der Evange- rent im JBR-Programm des AdB kus Tolksdorf Geschäftsführer lischen Jugend in Deutschland, und später dann als Studienleiter. des Franziskuswerks Schönbrunn. wurde vom Bundesjugendkura- Mario Bracciali entwickelte die Tolksdorf war zuvor Leiter der torium, das in diesem Sommer Seminararbeit mit der Bundes- Akademie Schönbrunn und von neu berufen wurde, einstimmig wehr und schaffte neue Studien- 2006 bis 2009 Bundesgeschäfts- zum Vorsitzenden dieses Gremi- schwerpunkte mit zahlreichen führer der Katholischen Bundes- ums gewählt. Studienfahrten in die DDR und arbeitsgemeinschaft für Erwach- Seminaren an der innerdeut- senenbildung (KBE) in Bonn. schen Grenze. In den 90er Jah- Das Europahaus Aurich verab- ren war er für zahlreiche Stu- schiedete Anfang September 2010 dienfahrten und Seminare in

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Bücher

Klaus-Peter Hufer: Erwachsenenbildung. Eine Einführung – Schwalbach/Ts. 2009, Wochenschau Verlag, 223 Seiten

Christine Zeuner/Peter Faulstich: Erwachsenenbildung – Resultate der Forschung. Entwicklung, Situation und Perspektiven – Weinheim und Basel 2009, Juventa Verlag, 368 Seiten

Hans Jürgen Finckh: Erwachsenenbildungswissenschaft, Selbstverständnis und Selbstkritik – Wiesbaden 2009, VS-Verlag, 324 Seiten

Rudolf Tippelt/Aiga von Hippel (Hrsg.): Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung – 4. durchgesehene Auflage, Wiesbaden 2010, VS-Verlag, 1105 Seiten

Handbuch der Erziehungswissenschaft. Herausgegeben im Auftrag der Görres-Gesellschaft, Bd.II: Schule, Erwachsenenbildung, Weiterbildung, Teilband 2: Erwachsenenbildung/Weiterbil- dung, bearbeitet von Thomas Fuhr/Philipp Gonon/Christiane Hof – Paderborn 2009, Verlag Ferdi- nand Schöningh, 1286 Seiten

Die Erwachsenenbildungswissen- Jugendbildung eine starke Aus- Perspektive (S. 11) und beziehen schaft bildet eine der wichtigen prägung hin zur politischen Bil- sich auf eine empirische Forschung Bezugsdisziplinen der politischen dung, denn er hebt die Aufgaben- als „Lernprozess …, in dem das Jugend- und Erwachsenenbil- felder der politischen, der inter- scheinbar Selbstverständliche dung. Einige Neuerscheinungen kulturellen Bildung sowie des unsicher wird …“. Nach einer der Jahre 2009/2010 sollen hier – globalen Lernens in eigenen umfangreichen Sichtung der For- auch im Hinblick auf ihre Aussa- Kapiteln besonders hervor schungsliteratur kommen Zeuner gen zur politischen Bildung – vor- und verknüpft sie mit sozialen und Faulstich in ihrem – leider gestellt werden. Problemstellungen und Gegen- etwas knappen – Resümee u. a. Klaus-Peter Hufer, in der Erwach- wartsdiagnosen. Es ist eine Ar- zu folgenden interessanten Er- senenbildung tätiger Politikwis- beit, die einerseits Studierenden kenntnissen: Es gibt im Vergleich senschaftler, hat eine leicht les- einen geeigneten Überblick ver- viel Auftragsforschung und diese bare Einführung in die Erwach- schafft, aber auch erfahrenen behindert längerfristige Grundla- senenbildung verfasst, die auf Praktikern erlaubt, den Stand der genforschung. In der Lernfor- seinen Essener Vorlesungen be- Erkenntnisse und die gegenwär- schung dominiert das Interesse an ruht. Dass diese auch eine Zusam- tige Situation zu rekapitulieren. Strategien und Prozesssteuerung menfassung seiner Erfahrungen über die Frage nach der „subjek- von 33 Jahren Bildungsarbeit in Die umfangreichere Darstellung tiv interessengeleiteten erfolgrei- der Volkshochschule und anders- der beiden Hamburger Erwachse- chen Aneignung“ (S. 357). Daten wo darstellen, erwähnt er in sei- nenbildungswissenschaftler/-in über Teilnahmemotive und -in- ner Einleitung ausdrücklich. In Christine Zeuner und Peter Faul- teressen fehlen. Es gibt keine 17 Kapiteln werden die Ziele, die stich zentriert sich um die Dar- langfristigen Analysen über ge- Geschichte, das System, die Lehr- stellung des Forschungsstandes. sellschaftliche Entwicklungen, und Lernformen und vor allem Man kann ihr Buch nicht nur als Wertewandel und Konsequenzen die wesentlichen Aufgabenfelder systematische Darstellung, son- für die Erwachsenenbildung. Das vorgestellt. Das nicht besonders dern zugleich auch als einen um- Verständnis von Professionalität umfangreiche Buch ist nicht mehr, fassenden Rezensionsessay lesen, und Institutionalisierung hat sich aber auch nicht weniger als der im Vergleich zu Klaus-Peter Hufer gewandelt, damit sind heute nicht Untertitel verspricht. Ausgreifen- verarbeiten sie eine außerordent- mehr nur Hauptberuflichkeit und dere Reflexionen über neuere liche Menge Literatur mehr. Die die Form stabiler Eigenständig- Theorieangebote sollte man des- inhaltlichen Aufgabenfelder spie- keit gemeint. Zum Schluss gehen halb nicht erhoffen, aber eine len eine weitaus geringere Rolle, Zeuner und Faulstich kurz auf die solide Darstellung der wesent- wichtiger sind Aussagen über die aktuellen Trends und die damit lichen Grundzüge des Feldes bie- Bereiche des Lehrens und Lernens verbundene Weiterbildungsrhe- tet der Band schon. Wie bei Hufer und die Teilnehmerschaft selber. torik ein: Hier identifizieren sie nicht anders zu erwarten, zeigt Sie verstehen sich als Deuter des sechs „Glaubenssätze“ – der Aus- seine Darstellung der Erwachse- wissenschaftlichen Forschungs- druck Glaubensworte wäre viel- nenbildung und außerschulischen stands in kritisch-pragmatischer leicht treffender gewesen, denn

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dazu zählen Begriffe wie Kompe- Reformulierungsanstrengungen gen findet, fragt man sich doch tenz und alle mit „selbst“ zu- und Wiederanknüpfungsbemü- manchmal, was denn nun der Er- sammengesetzten Leitbegriffe hungen an die Weimarer Tradi- trag ist. Der Leser bleibt etwas wie Selbstorganisation, Selbst- tionen in der geisteswissenschaft- ratlos zurück. steuerung u. a. m. Hier hätte lichen Pädagogik der 1940er und man sich gerade vor dem Hinter- 1950er Jahre gemeint. Im zwei- Ein Klassiker in der nunmehr vier- grund der Erwachsenenbildungs- ten Strang, der von Finckh mit ten Auflage ist das Handbuch forschung auch eine intensivere Erwachsenenbildung als empi- Weiterbildung und Erwachsenen- kritische Auseinandersetzung ge- risch-gesellschaftsbezogene Di- bildung. Seit seinem ersten Er- wünscht, denn es handelt sich daktik bezeichnet wird, finden scheinen im Jahr 1994 sind die zweifelsohne um Phänomene sich die Vertreter einer sozialwis- meisten Beiträge gründlich über- einer neuen symbolischen Ord- senschaftlich aufgeklärten Er- arbeitet und ist das Kompendium nung, die die Forschung als Auf- wachsenenbildungswissenschaft, erweitert worden. Damit bleibt tragsforschung hervorgebracht wie sie Schulenberg, Strzelewicz, es wohl das Standardwerk der Er- hat. Knoll, Tietgens und andere ver- wachsenenbildung. Die Gliede- traten und die in den 60er Jahren rung der 66 Einzelbeiträge nach Eine Flaschenpost ist das Buch an den Hochschulen eine genuine den Bereichen Geschichte, Theo- von Hans Jürgen Finckh – ge- und eine im weitesten Sinn empi- rien, Forschungsmethoden, insti- schrieben offenbar in der zwei- risch gestützte Erwachsenenbil- tutionelle, rechtliche und weitere ten Hälfte der 80er Jahre zehrt dungsforschung entwickelten. Im Grundlagen, Bereiche, Teilneh- die Auseinandersetzung inhalt- dritten Komplex setzt der Autor mer und Lehren und Lernen ist lich vor allem von den Diskussio- sich mit der Erwachsenenbildung nach wie vor überzeugend. Er- nen der 70er Jahre. Eine späte als Arbeiterbildungswissenschaft gänzt wird dieses thematische Ankunft, möchte man meinen. und gesellschaftskritischer Bil- Spektrum durch ein kommentier- Der kurze Nachtrag, eine relativ dungstheorie und Didaktik aus- tes Internetquellen-Verzeichnis simple Auseinandersetzung mit einander. Im Mittelpunkt stehen und ein Stichwortregister. Dieses dem Konstruktivismus, die einen hier Oskar Negts Arbeiterbil- Register könnte allerdings zur Anschluss der Studie an die Theo- dungstheorie und verwandte besseren und schnelleren Er- riediskussionen jüngerer Zeiten linksundogmatische Versuche schließung des voluminösen Ban- annehmen lassen soll, ist wirklich einer Begründung von Subjekt- des erweitert und durch ein Per- vernachlässigenswert. Es handelt theorie, Didaktik und politischer sonenregister ergänzt werden. sich um eine zwiespältige Unter- Selbstkonstitution. Durch einen Aufsatz von Helle suchung, sie ist einerseits kennt- Erwachsenenbildung steht für Becker und Thomas Krüger ist nisreich, geschichtsbewusst und den Autor immer in einem politi- auch die politische Bildung reprä- theoretisch äußerst ambitioniert schen und gesellschaftlichen Ho- sentiert. Der Überblick über Ge- und wirkt andererseits wie eine rizont; so ordnet er die geistes- schichte, Trägerlandschaft und Botschaft im Retrodesign, denn wissenschaftliche Pädagogik als Arbeitsformen im ersten Teil ih- sie strahlt noch den Glanz jener politische Pädagogik ein, die em- rer Ausführungen ist sehr knapp Sterne intellektueller, politischer pirisch-gesellschaftsbezogene gehalten. In den Mittelpunkt der und wissenschaftlicher Selbstbe- Didaktik als emanzipatorische Darstellung stellen sie vielmehr feuerung ab, die inzwischen weit- Pädagogik und die Arbeiterbil- die aktuellen Herausforderungen gehend verloschen sind. Finckhs dung als pädagogische Politik. und die Entwicklung neuer We- Überlegungen erstrecken sich auf Man sieht die Steigerung, die ge. Wenig überraschend ist es die wesentlichen Beiträge zur einen zunehmenden Grad der daher, dass eine Anpassung an Theoriebildung von 1945 bis Politisierung der Erwachsenenbil- die Kommunikations- und Rezep- 1980. Man kann daher sein Buch dung anzeigt. Das Theorie-Praxis- tionsgewohnheiten neuer und auch als eine Geschichte der Er- Verhältnis beschäftigt also den junger Zielgruppen gefordert und wachsenenbildungstheorien in Autor insbesondere. Ein Gesamt- dabei den Medien verschiedener diesem Zeitraum lesen. In drei resümee fehlt dem Buch, aber Art eine wichtige Rolle zuge- größeren Komplexen arbeitet der das ist nicht das einzige irritieren- schrieben wird. Thomas Krüger Autor sein Thema ab und identi- de Moment. Nach dem Lesen vertritt diese Position ja schon fiziert zugleich drei wesentliche theoretisch ansprechender aber länger. Stränge. Den ersten bildet die manchmal auch angestrengter Es fehlt im Handbuch ein Beitrag hermeneutisch-gesellschaftsbe- Passagen, in denen Finckh zu zu Bildungsstätten und den Insti- wusste Bildungstheorie und Di- interessanten Differenzierun- tutionen der politischen Erwach- daktik, damit sind vor allem die gen und zu neuen Begriffsbildun- senenbildung, der aufgrund der

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Quantität von Einrichtungen und dert: der erste widmet sich der dung, wo es immer wieder heißt, der besonderen Qualität von Ler- Schule und wird hier gänzlich ig- es gäbe nur eine Teilnahmequote nen in Heimvolkshochschulen noriert. Der zweite Teil wurde von 1 % der Erwachsenen an der und Akademien durchaus ge- bearbeitet von Thomas Fuhr, Phi- politischen Bildung, obwohl es rechtfertigt wäre. Peter Ahlheit lipp Gonon und Christiane Hof auch andere, viel höhere Schät- setzt sich in einem lesenswerten und bietet auf etwa 550 Seiten in zungen (bis zu 5 %) gibt. Die po- Beitrag kritisch mit dem „selbst- fünf Unterabteilungen 40 Einzel- litische Bildung wird von Wiltrud gesteuerten Lernen“ auseinan- darstellungen. Unter den Auto- Gieseke im Rahmen eines Bei- der. Hier und da würde man sich ren sind viele mit Rang und Na- trags zur allgemeinen Bildung die stärkere Berücksichtigung men: Jochen Kade etwa schreibt auf drei Seiten knapp porträtiert. auch gegenüber den Trends der über Metatheorie, Wolfgang Zu bemängeln ist das Fehlen ei- Weiterbildung skeptischer Posi- Seitter stellt die Geschichte der nes Stichwort- und Personenver- tionen in diesem Handbuch wün- Erwachsenenbildung vor, Joa- zeichnisses, das die Erschließung schen. chim Ludwig erläutert den sub- der Beiträge erleichtern helfen jekttheoretischen Ansatz, Peter würde, und auch ein Autoren- Konkurrenz erwächst dem Hand- Faulstich die Entwicklung von /Autorinnenverzeichnis fehlt buch Erwachsenenbildung/Wei- Recht, Politik und Organisation merkwürdigerweise. Vielleicht terbildung durch den neuen Teil- und Klaus Meisel das Manage- gibt es dafür noch einen abschlie- band II des Handbuchs der Erzie- ment der Erwachsenenbildung. ßenden Extraband, aber leser- hungswissenschaft. Das Hand- Zum lesenswertesten gehören freundlich ist das nicht. buch wird im Auftrag der Görres- die Ausführungen von Dieter Nit- Zu resümieren bleibt, dass es eine Gesellschaft, einer seit der zwei- tel über die Erwachsenenbildner Vielzahl durchaus solider neuerer ten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ihr professionelles Selbstver- Veröffentlichungen zur Erwach- bestehenden katholischen Ge- ständnis. senenbildung gibt, die das Feld lehrten- und Wissenschaftsgesell- In dem Beitrag von Jürgen Witt- mit theoretischem Anspruch dar- schaft, herausgegeben, aber dar- poth über Institutionen der Er- stellen, vermessen oder in dieses aus kann in keiner Weise der wachsenenbildung wird zwar der einführen, wer aber an neuen Schluss eines wissenschaftlichen AdB erwähnt, es fehlen aber Aus- und unkonventionellen Gedan- Partikularismus oder einer religi- führungen zur besonderen Form ken und Deutungen interessiert ösen Schlagseite des Handbuch- des Lernorts Bildungsstätte. Auch ist, der muss woanders fündig projekts gezogen werden. kolportiert Wittpoth einfach die werden. Der nun vorliegende Band II ist Ergebniszahlen von Kuwan bzw. wiederum in zwei Teile unterglie- des Berichtssystems Weiterbil- Paul Ciupke

Gotthard Breit/Stefan Schieren (Hrsg.): Gerechtigkeit in der Demokratie. Eine Einführung – Schwalbach/Ts. 2009, Wochenschau Verlag, 139 Seiten

Der Titel des vorliegendes Buches teien immer wieder zu spüren mehr oder weniger unverbunden kündigt ein großes Vorhaben an: bekommen. Es wird von dem nebeneinander. Sie bieten eine eine Einführung in die Vorstel- „hohen Erregungsniveau“ ge- umfassende Auseinandersetzung lungen zur Gerechtigkeit in der sprochen, die die Gerechtigkeits- mit ihren jeweiligen Schwerpunk- Demokratie. Die Breite der The- debatte in Deutschland prägt, ten, haben aber auch viele inhalt- men reicht dabei von der Darstel- und es wird auch deutlich, dass liche Überschneidungen, ohne lung unterschiedener Gerechtig- die Diskussion über Verteilungs- sich allerdings aufeinander zu keitskonzepte und ihrer Rolle für gerechtigkeit und Armut in beziehen. Ein abgestimmtes Kon- die politische und sozialstaatliche Deutschland unter anderen Be- zept, zumal wenn die gleichen Ordnung über Konzepte zur Ar- dingungen erfolgt als in vielen Fragen aufgegriffen werden, mutsmessung und das Verhältnis anderen Ländern. wäre hier sicher sinnvoll gewe- von Recht und Gerechtigkeit bis Dieser Bogen wird in einem Bänd- sen. Da auch die kurze Einleitung hin zu der „gefühlten Ungerech- chen gespannt, das knapp 140 Sei- lediglich eine knappe Inhaltsbe- tigkeit“, deren emotionelle Aus- ten umfasst. Die fünf darin ver- schreibung bietet und keinen in- wirkungen die politischen Par- sammelten Aufsätze stehen dabei haltlichen, konzeptionellen Rah-

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men zieht, handelt es sich eher um Die Komplexität der Verteilungs- Ortrud Leßman fragt im letzten eine Sammlung von Einzelaufsät- gerechtigkeit steht bei Uwe Beitrag: Wie viel Armut ist ge- zen als um eine Einführung in das Andersen im Zentrum seiner Aus- recht? Gerechtigkeitsprinzipien Thema. führungen. Er legt den Schwer- wie die von John Rawls, die ver- Im ersten Aufsatz des Bandes be- punkt auf die Einkommens- und schiedene Dimensionen wie z. B. schreibt Daniel Hildebrand ausge- Vermögensverteilung, die in Rechte, Freiheit, einkommens- hend von John Rawls Konzept der Deutschland durch das System und vermögensunabhängige Gerechtigkeit als Fairness die Be- der sozialen Marktwirtschaft Chancen beinhalten, machen die deutung der Gerechtigkeit in der geprägt ist. Er stellt die Ergeb- Methoden der Armutsmessung Demokratie als Gleichheit an nisse des 3. Armuts- und Reich- komplizierter, als wenn sie sich Rechten, Ansprüchen und Entfal- tumsberichts der Bundesregie- nur am Einkommen orientieren. tungsmöglichkeiten. Er beleuchtet rung (2008) vor, die die politische Armutsmessung erfolgt über Gerechtigkeit als Problem von Diskussion um Verteilungsge- zwei Schritte: über die Identifi- Macht und Moral und fragt, ob rechtigkeit in jüngster Zeit be- zierung der Armen und die Be- es nicht eine besondere Form stimmt haben. nennung eines Maßes für die der Gerechtigkeit in der Demo- Gotthard Breit geht von der Fra- Gesamtarmut in der Gesellschaft. kratie gibt. Er beschreibt die ge aus, welche Herausforderun- Bei mehrdimensionalen Konzep- Widersprüchlichkeit von Rechts- gen für Politik und Gesellschaft ten müssen dementsprechend staat und Demokratie, die Benach- durch gefühlte Ungerechtigkeit mehrere Dimensionen beachtet teiligung von Minderheiten und und Angst vor sozialem Abstieg und in einen Zusammenhang ge- Wirkungsweisen des Mehrheits- und materieller Not entstehen. bracht werden. Die Autorin stellt prinzips. Dazu hat er Leserbriefe von Rent- verschiedene Konzepte dazu vor. Der zweite Beitrag von Sabine nerinnen und Rentnern aus re- Abgesehen von dem nicht einge- Berghahn nähert sich dem Thema gionalen und überregionalen lösten Titelanspruch ermöglichen aus der Perspektive des Rechts- Tageszeitungen ausgewertet. die Aufsätze einen Einblick in ver- staats. Wie ist das Verhältnis von Ängste und Sorgen, Unmut, ja schiedene Aspekte der Gerechtig- Gerechtigkeit und Recht? Ist un- Zorn werden sichtbar, die nicht keitsdebatte, sie sind kenntnis- sere Gerechtigkeit ‚gerecht‘? Ist selten das Entstehen eines reich und dicht geschrieben und Gerechtigkeit objektivierbar und demokratischen Bürgerbewusst- gut zu lesen. Zu bemängeln ist welchen Beitrag leistet der Rechts- seins verhindern. Politik(er)ver- allerdings, dass das Thema Chan- staat zur Gewährleistung von drossenheit entzündet sich nicht cengerechtigkeit und Bildung, Gerechtigkeit? Anhand verschie- selten an subjektivem Ungerech- das für Entwicklung und Inklu- dener Beispiele macht sie die tigkeitsempfinden. Das ist auch sion in unserer Gesellschaft eine komplizierten Zusammenhänge den Politikern bewusst, und sie große Bedeutung hat, allenfalls und Probleme deutlich, mit de- schauen auf die große Gruppe am Rande gestreift wird. nen die Menschen im Rechtsstaat der Älteren und auf deren Wahl- zu rechnen haben. verhalten. Friedrun Erben

Janne Mende/Stefan Müller (Hrsg.): Emanzipation in der politischen Bildung. Theorien – Konzepte – Möglichkeiten – Schwalbach/Ts. 2009, Wochenschau Verlag, 382 Seiten

Klaus Ahlheim hat in den letzten nos herausstellten. Solche Über- meingut in allen politischen Bil- Jahren mehrfach auf die Bedeu- legungen setzt der Sammelband dungsansätzen aufzufinden ist“ tung Adornos als Vordenker der von Janne Mende und Stefan (Müller/Witzig, S. 82). Daher Erwachsenenbildung in der jun- Müller fort, der das Erbe der Kri- zielen die Beiträge darauf, das gen Bundesrepublik aufmerksam tischen Theorie und eines „kriti- Profil einer expliziten, theore- gemacht (vgl. Ahlheims Aufsatz- schen Marxismus“ (Mende, S. 117) tisch fundierten emanzipatori- sammlung „Ungleichheit und aufgreifen und für die aktuellen schen Bildung zu schärfen und Anpassung“, 2007), und in der Debatten nutzbar machen will. auf die Praxisprobleme in aus- außerschulischen politischen Bil- Ausgangspunkt ist der Tatbe- gewählten Themenfeldern dung gab es verschiedene State- stand, dass die Berufung auf (soziale Ungleichheit, Geschlech- ments, die die Aktualität Ador- Emanzipation „heute als Allge- terverhältnisse, Rassismus, histo-

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rischer und Neo-Faschismus …) gründung liegt mittlerweile mit aktuell sei – eine Beurteilung, zu beziehen, wobei allerdings dem Band „Friedenspädagogik“, die auch in der fachlichen De- die Befassung mit dem breit Reinbek 2008, von Grasse/Gruber/ batte der politischen Bildung gefächerten Spektrum außer- Gugel vor) Man mag an den frie- zunehmend eine Rolle spielt. schulischer politischer Bildung, denspädagogischen Konzepten Zudem setzt sich die Autorin die die Herausgeber eingangs Fehler und Versäumnisse kritisie- mit der Dogmatisierung der polit- ankündigen (S. 5), etwas ins ren – was Schneider nicht tut –, ökonomischen Kritik durch den Hintertreffen gerät. aber dass sie die Gewaltsamkeit Marxismus-Leninismus auseinan- Als Reflexion des eigenen Stand- der herrschenden Verhältnisse der und hält als Fazit fest: „Aus- orts kann der Sammelband für ignoriert hätten, kann man ihnen gerüstet mit einer solchen Reak- die fachliche Debatte und für die nun wirklich nicht vorwerfen. tualisierung Marxens sowie mit konkrete Praxis zahlreiche Anre- Friedenspädagogik hat sich zum seiner Kritik der politischen Öko- gungen geben. Er bringt aber lei- einen mit alternativen Wegen nomie … ist der Rückgriff auf die der auch merk- bis fragwürdige der Friedenssicherung befasst, marxsche Theorie für eine kriti- Positionen. Das beginnt mit dem wo Militärs behaupteten, dass sche politische Bildung unab- Eröffnungsbeitrag von Bettina dafür gewaltsame Mittel „nötig“ dingbar“ (S. 117). Dettendorfer „Zur Geschichte der seien. Sie hat sich zum anderen Andererseits wendet Mende die politischen Bildung in Deutsch- mit den Ursachen von Kriegen Emanzipationsforderung auf die land und ihren aktuellen Heraus- auseinandergesetzt und sie aus Bildungsaufgabe selber an: forderungen“, der – angesichts der Welt zu schaffen versucht. „Überwunden werden muss ein des kritischen Anspruchs des Dagegen ist die Behauptung von Lehr-Lern-Verhältnis, in welchem Buchs – eine erstaunlich unkriti- den gewaltsamen Verhältnissen, hierarchisch, paternalistisch oder sche Bezugnahme auf den Main- die einfach so „ausbrechen“ (die auch nur ‚gut gemeint’ die Bild- stream der Politikdidaktik auf- also über einen Umweg die Meta- nerInnen den Subjekten der poli- weist und zur außerschulischen pher vom Kriegs-„Ausbruch“ tischen Bildung ihre eigenen Szene übrigens kaum etwas bei- rechtfertigen), nur die aufpolierte Norm- und Zielvorstellungen auf- steuert. Der nächste Beitrag von Stammtischparole, dass es Kriege pfropfen.“ (S. 120) Die Schwierig- David Schneider, der eine eigen- bekanntlich immer gegeben hat. keit besteht für die Autorin dar- willige Exegese bildungstheoreti- Und das wird dann mit Horkhei- in, dass sie gleichzeitig ihren scher Texte liefert, bringt zur mer- und Adorno-Zitaten gar- normativen Anspruch beibehal- politischen Bildung überhaupt niert! ten und nicht zugunsten einer wenig, und das Wenige ist auch Den Hauptbeitrag in konzeptio- „postmodernen Beliebigkeit“ noch schief. So wendet er gegen neller Hinsicht hat Janne Mende (S. 120) aufgeben will. Sie stellt Klafkis Postulat der Friedenser- beigesteuert. Sie begründet hier daher Überlegungen an, die auf ziehung als Essential politischer ihre Unterscheidung zwischen einen reflektierten Umgang mit Bildung ein: „Die Unsinnigkeit einem eingeschränkten und den eigenen Wertungen zielen – des willkürlich ausgerufenen Im- einem erweiterten Emanzipa- eine Position, die der außerschu- perativs Frieden dürfte sich so- tionsbegriff und zieht daraus lischen Trägerszene mit ihrer Plu- lang bewahrheiten, wie Verhält- Schlussfolgerungen für die Bil- ralität der Wertorientierungen nisse andauern oder ausbrechen, dungspraxis, wobei sie einerseits vertraut sein dürfte. Über einen zu deren Abschaffung Kriege den Begriff der Emanzipation solchen Konsens hinaus geht nötig sind bzw. sein können.“ in gesellschaftstheoretischer dann ihre These vom „Vorrang (S. 56) Hinsicht präzisiert. Damit schließt des Objekts“ (S. 122 ff.), die sich Als ob Friedenserziehung in sie an ein Votum Peter Massings von Adornos Analyse des Verhält- Deutschland „willkürlich“ postu- an (S. 115), der gegenüber mo- nisses von Individuum und Gesell- liert worden wäre! Sie war seit dischen Zeitdiagnosen – die schaft leiten lässt: Eine gesell- Anfang der 80er Jahre eine mit Schlagwörter von der „Wissens- schaftstheoretische Fundierung Nachdruck betriebene Praxis, die gesellschaft“ oder der „Globali- der Bildungsarbeit setze bei den sich auf einen weltweiten („kal- sierung“ gehören hier hin, kom- objektiven Prozessen an, durch ten“) Kriegszustand bezog und men leider in dieser Funktion die Interessenlagen konstituiert die sich jetzt, da die deutsche auch im Sammelband vor (vgl. werden, und ziele damit auf eine Kriegsbeteiligung „heiß“ gewor- S. 34) – auf der Notwendigkeit Erhellung und Erschließung der den ist, eher in eine Randgröße von Gesellschaftstheorie bestand. Bedingungen, unter denen die verwandelt hat und durchaus Mende geht zur Begründung Subjekte ihre Erfahrungen sam- Einiges an Ermunterung gebrau- auf die Kapitalismuskritik von meln, ihre Bedürfnisse entfalten, chen könnte. (Eine Art Neube- Marx zurück, die nach wie vor ihre Interessen artikulieren. Auf

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Grundlage einer solchen theore- nen, sei das Hauptinteresse kri- Menschen- und Gesellschaftsbil- tischen Klärung einen Weltzu- tisch-emanzipatorischer Bildungs- des. gang für die Teilnehmenden von arbeit – und nicht die doktrinäre Bildungsveranstaltungen zu eröff- Vermittlung eines progressiven Johannes Schillo

Edith Glaser/Sabine Andresen (Hrsg.): Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erzie- hungswissenschaft (5/2009) – Disziplingeschichte der Erziehungswissenschaft als Geschlechter- geschichte – Opladen & Farmington Hills 2009, Verlag Barbara Budrich, 170 Seiten

Der vorliegende Band vereint in an Kucklick einen ganz neuen durch beispielsweise dieses Kon- sich multiple Perspektiven aktuel- Blick auf die Geschlechterfrage zept der „geistigen Mütterlich- ler Forschungsansätze geschlech- als diesbezügliche Fortführung keit“. Sie verweist damit auch tersensibler Erziehungswissen- der Systemtheorie Luhmanns. darauf, dass der Bereich der sozi- schaft. Den Hauptteil bilden vier Nicht mehr die Trennung in pri- alen Arbeit von Beginn an ge- Beiträge, die dem interessierten vate und öffentliche Sphären sei schlechterhierarchisch struktu- Leser ein breites Spektrum an dis- maßgeblich für die Entwicklung riert war, so dass durch ihren ziplinübergreifenden Blickwin- des modernen Geschlechterver- Beitrag deutlich wird, dass der keln liefern. hältnisses, für Kucklick und Eh- von Ehrenspeck als weiblicher Die Vielperspektivität kommt un- renspeck wird die Trennung von Bereich der Interaktion definierte ter anderem zustande durch Interaktion und Gesellschaft zur Arbeitsbereich in sich ebenfalls sowohl unterschiedliche Frage- Geschlechterverhältnisse „ord- geschlechterhierarchisch struktu- stellungen als auch durch das nenden“ Grundkategorie. riert ist, wie auch der Rest der Heranziehen differenter Theorie- Ehrenspeck operiert mit dem von Gesellschaft, was Heite schon zu disziplinen. Die Theoriebezüge Kucklick neugeschöpften Begriff Beginn ihres Beitrages deutlich spannen sich von Bourdieu über der „negativen Andrologie“, hervorhebt. Luhmann bis zu postmodernen der eine Analyse der modernen Den Fokus legt Heites mit ihrem feministischen Theoretikerinnen Männlichkeit in Bezug auf die Beitrag allerdings auf eine Kritik wie Seyla Benhabib oder Nancy seit dem 18. Jahrhundert in geis- an neoliberalen Aktivierungs- Fraser. teswissenschaftlichen Texten im- prozessen im Bereich der sozialen mer wiederkehrende Verwerfung Arbeit, den sie geschlechterhier- Der Beitrag von Markus Rieger- des Mannes als moralische Instanz archisch in professionelle, semi- Ladich plädiert für eine macht- versucht. Zur Bekräftigung dieser professionelle und ehrenamtliche kritische Analyse der erziehungs- Analyse setzt sie der „negativen Bereiche untergliedert sieht. Sie wissenschaftlichen Geschlechter- Andrologie“ den in der geschlech- fordert eine Anerkennung und forschung bzw. der Erziehungs- tersensiblen Erziehungswissen- Gratifizierung der Sorge (Care) wissenschaft im Allgemeinen. In schaft vielfach und kontrovers als gesellschaftssituierendes Ele- seiner Abhandlung geht es ihm erforschten Begriff der „geisti- ment, das sie sich im Sinne eines insbesondere darum, Bourdieus gen Mütterlichkeit“ zur Seite. idealen Dekonstruktivismus ge- Modell einer reflexiven Soziolo- Die im Anschluss folgende Ab- schlechtergerecht ersehnt. gie und hier im speziellen seine handlung von Catrin Heite macht Der Aufsatz von Astrid Kaiser Arbeiten zum wissenschaftlichen im Gegensatz zu dem Beitrag von bietet einen sehr interessanten Feld für eine kritische Disziplin- Ehrenspeck deutlich, dass es in der Überblick über die historische analyse fruchtbar zu machen. geschlechtersensiblen Forschung Entstehung und Entwicklung der Damit bewegt sich der Beitrag der Erziehungswissenschaften pädagogischen Genderdiskurse im Spannungsfeld zwischen kriti- spätestens seit den 90er Jahren bis in die Gegenwart. Sie be- scher Machtanalyse und der am eine Tradition gibt, die sich der schreibt die personell teilweise Ende implizit formulierten Frage, Widersprüchlichkeit von Konzep- übereinstimmende Entstehung wie dieses Wissen im Kampf um ten wie der „geistigen Mütter- der sich autonom verstehenden Positionen eventuell strategisch lichkeit“ widmet. Heite beleuch- Frauen-und-Schule-Bewegung zu nutzen ist. tet konkret den Widerspruch von und der später entstandenen Der Beitrag von Yvonne Ehren- Ausschluss und Aneignung der Organisationsformen pädago- speck entwickelt in Anlehnung weiblichen Geschlechtergruppe gischer Genderforschung im

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Wissenschaftsbereich. Kaiser be- Ich möchte an dieser Stelle den wicklung sozialer Tätigkeiten schreibt anschaulich die anfangs „Work in Progress“-Beitrag von zu einem Frauenberuf. Am parallel und sich ergänzenden, Sandra Landhäußer hervorhe- Ende plädiert sie für eine insti- nachher zunehmend getrennt ben. Sie beschäftigt sich mit tutionalisierte, professionelle verlaufenden Diskussionsstränge. Rekurs auf die historische Di- community-orientierte soziale Sie macht deutlich, dass sie die mension der sozialen Arbeit Arbeit. Eine machtkritische ehemals gegenseitige Befruch- der Settlerinnen von Hull-House Analyse des sozialen Berufs, tung der beiden Disziplinen für mit der Frage nach ihrer zu- wie sie beispielsweise Susanne wichtig und produktiv hielt und kunftsweisenden Funktion für Maurer an anderer Stelle be- die gegenwärtige Entwicklung community-orientiertes Vorge- treibt, bleibt hier leider uner- bedauert. Dabei gelingt es ihr, in hen heute. wähnt. (Vgl. Maurer, Susanne: Bezug auf die inhaltlichen Impli- Im Zentrum des Beitrags steht Das Soziale und die Differenz. kationen überzeugend den für die Frage nach der Möglichkeit Zur (De-)Thematisierung von beide Seiten entstandenen Ver- von Aktivierung sozialen Kapi- Differenz in der Sozialpädago- lust zu veranschaulichen. tals durch community-orientierte gik. In: Helma, Lutz/Wenning, soziale Arbeit. Dabei wird zu- Norbert (Hrsg.): Unterschiedlich Die Vielperspektivität des Bandes nächst die Geschichte von Hull- verschieden. Differenz in der Er- setzt sich mit den nächsten bei- House und ihrer Gründerin Jane ziehungswissenschaft. Opladen den Abschnitten: „Work in Pro- Addams erzählt. In diesem Zu- 2001, S. 125-143). gress“ und den Rezensionen, die sammenhang stellt sich Land- ihn abschließen, fort. häußer die Frage nach der Ent- Melanie Ferrarese

Siegfried Grillmeyer/Peter Wirtz (Hrsg.): Ortstermine 2. Politisches Lernen am historischen Ort (Veröffentlichungen der CPH-Akademie für Jugend- und Erwachsenenbildung, Bd. 9) – Schwalbach/Ts. 2008, Wochenschau Verlag, 301 Seiten

Birgit Dorner/Kerstin Engelhardt: Arbeit an Bildern der Erinnerung. Ästhetische Praxis, außer- schulische Jugendbildung und Gedenkstättenpädagogik. Dimensionen Sozialer Arbeit und der Pflege, Bd. 9 – Stuttgart 2006, Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, 244 Seiten

Monika Deutz-Schroeder/Klaus Schroeder: Oh, wie schön ist die DDR. Kommentare und Materia- lien zu den Ergebnissen einer Studie – Schwalbach/Ts. 2009, Wochenschau Verlag, 208 Seiten

Wie schon im ersten Band der Wiederaufbereitungsanlage in Lernort als solcher, die – schon am „Ortstermine“, der im Jahr 2006 Wackersdorf. Auch wenn die Tag nach ihrer Entstehung – im- erschien, stehen in der im Auf- Herausgeber in ihrem Vorwort mer selbst historische und als his- trag der Arbeitsgemeinschaft ka- klar machen, dass es nahezu im- torisch zu verstehende – Form tholisch-sozialer Bildungswerke mer auch eine „immateriell und der Erinnerung bzw. des Geden- in der Bundesrepublik Deutsch- ideell“ beschreibbare, identitäts- kens selbst. Es ist also auch die land (AKSB) herausgegebenen bildende, konstruierte und kom- Geschichte des Erinnerungsortes Sammelpublikation von Siegfried munikative Ebene ortsbezogener selbst im Blick. Fünfzehn Aufsät- Grillmeyer und Peter Wirtz unter- politischer Bildung gibt: Natür- ze enthält der Band. Seine Breite schiedliche Lernorte für historisch- lich geht es hier um aufsuchende reicht von der italienischen Eis- politische Bildung in Deutschland politische Bildung. Dabei ist – diele als Verdrängungsort der im Zentrum. Dabei kann es sich wer schon einmal selbst einen ungeplanten Einwanderung in um die verschiedensten Qualitä- Lernort aufgesucht hat, weiß das der alten Bundesrepublik bis zur ten und Quantitäten lokalen Be- selbstverständlich – Thema und Walhalla bei Regensburg, von zugs handeln, vom Ort einer Gegenstand der Reflexion nicht Straßburg als Hauptstadt des Schlacht im 18. Jahrhundert über nur das historische Geschehen, Elsass und Symbol der europä- ganz West-Berlin bis hin zur KZ- auf welches sich der Ort bezieht, ischen Einigung bis hin zur Frage Gedenkstätte Dachau oder gar sondern immer auch, manchmal eines dreiköpfigen Autor-/inn/-en- dem Ort der geplanten atomaren gar im Mittelpunkt stehend, der teams: „Ist der Adel verschwun-

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den?“. Letztlich handelt es sich türme“, also zentrale, auch zen- Dass die Aufarbeitung des DDR- um ein instruktives Lesebuch, trale Leitbilder vermittelnde Ge- Regimes nach wie vor in den Kin- verbunden mit zahlreichen Anre- denkstätten o. ä. in Kontrast zu derschuhen steckt, symbolisiert gungen für diejenigen, die poli- den „Netzen“ von wesentlich nicht nur der Titel des dritten tisch-historische Elemente von zahlreicheren „kleineren“ Zei- hier zu besprechenden Buches. Studienreisen planen. Langweilig chen der Erinnerung an eben „Oh, wie schön ist die DDR“ wird der Band nie. Es lohnt sich, auch zahlreichen, nahezu flä- heißt, frei nach Janosch, ein klei- einfach nachzuschlagen – und chendeckend auszumachenden nes Taschenbuch des Wochen- auf das Jahrbuch der AKSB zu Orten nationalsozialistischer Ver- schau Verlags aus der Reihe verweisen, in welchem in unre- folgung. So wird klar, dass die „Positionen“. Monika Deutz- gelmäßigen Abständen weitere NS-Diktatur nicht einfach nur Schroeder und Klaus Schroeder Beiträge zu den „Ortsterminen“ etwas Außergewöhnliches war, vom Forschungsverbund SED- erscheinen sollen. Zu wünschen sondern eben tief in den Alltag, Staat an der Freien Universität ist, dass dann die bisherige Über- in das gesamte gesellschaftliche Berlin präsentieren hier die Er- repräsentanz von Lernorten im Leben bis an die Wurzeln des gebnisse einer Befragung von süd- und westdeutschen Raum menschlichen Zusammenlebens Schülern zu ihrem DDR-Bild. nach und nach ausgeglichen wird. hinein- und folgenreich gewirkt Demnach sind die lediglich „rudi- hat. Weitere Aspekte, die der mentären Kenntnisse“ und eine In dem Band „Arbeit an Bildern Autor beleuchtet, sind die natur- teils verklärende Bewertung der der Erinnerung“, der auf eine Ta- gemäß unterschiedlichen Wahr- DDR-Geschichte besonders in gung im Jugendgästehaus Dach- nehmungen der verschiedenen Ostdeutschland vor allem auf Ge- au 2003 zurückgeht, werden Generationen und Gedenkstätten spräche in der Familie und im nä- exemplarisch unterschiedliche als Konstrukte bzw. Orte histori- heren Umfeld zurückzuführen. Methoden und Ansätze ästheti- scher „Inszenierung“. Schließlich Der SED-Staat werde häufig als scher Praxis im Umgang mit der empfiehlt der Autor, entlang der soziales Paradies verklärt, das Aufarbeitung des Nationalsozia- Begriffskette „Orte – Körper(er- wiedervereinigte Deutschland lismus in der Jugendbildungsar- leben) – Bilder – Emotionen – Su- dagegen negativ bewertet. Die- beit vorgestellt. Dabei handelt es che – Produzieren“ (S. 45) einen ses berge die Gefahr einer „Re- sich sowohl um einen Reflex auf Wechselbezug von Emotionen, naissance antidemokratischer die Tatsache des Übergangs vom von körperlich-sinnlichen Wahr- Einstellungen“ (S. 15). Belegt „kommunikativen zum kulturel- nehmungen und kognitiv-ratio- wird dies mit zahlreichen Schau- len Gedächtnis“ (Assmann/Ass- nalen Prozessen herzustellen, bildern und Zitaten aus der Erhe- mann), also des Verlorengehens mithin den Adressatinnen und bung wie „Die deutlich fühlbare der Zeitzeugengeneration, als Adressaten historisch-politischer Friedlichkeit eines Alltags in der auch auf die Notwendigkeit, Bildung nicht einfach vorprodu- DDR ist klar von Druck, Hektik, Jugendlichen vermittelbare Zu- zierte Bilder „beizubringen“, Lärm, Verdummung, Armut und gänge zur Geschichte und Er- sondern in erster Linie dabei zu Ungerechtigkeit des Westens zu innerungskultur zu ermöglichen. helfen, dass sie sich ihre Bilder unterscheiden.“ (S. 170) Dem Damit nicht viele Bevölkerungs- selbst erarbeiten können. So blei- Fazit des Autorenpaars, es hand- gruppen ausgegrenzt bleiben, ben die Orte im Gedächtnis und le sich bei dieser Umfrage um ein seien, so die These der Herausge- werden womöglich zum Auslöser Warnsignal in Bezug auf den berinnen, Methoden der ästheti- von Aktivitäten. Eine solche Art Zustand der ostdeutschen Teilge- schen Praxis eine dringend erfor- von Erinnerungsarbeit hält Pfül- sellschaft, ist partiell zuzustim- derliche inhaltliche Erweiterung. ler für „Zukunftsmusik“, auch men. In der Tat waren viele Er- Auf die Einleitung folgen drei wenn dieser Weg schon öfter wartungen an den Westen als eher theoretische bzw. das The- exemplarisch beschritten worden „Land der Träume“ für die einge- ma übergreifende Aufsätze, die ist. Es folgen sechzehn Beispiele, sperrten Ostdeutschen überzogen. sich mit Kunstpädagogik in der die schwerpunktmäßig den Ein- Das erklärt richtig die Verklärung Gedenkstättenarbeit (Birgit Dor- satz von Kunstpädagogik und und retrospektive Idealisierung ner und Thomas Lutz) sowie mit kreativen Techniken an konkre- der DDR. Wenn aber kritisiert grundsätzlichen Fragestellungen ten Projekten der Erinnerungs- wird, der „Zusammenhang von neuer Erinnerungsmöglichkeiten kultur und Gedenkstättenarbeit sozialer Marktwirtschaft und in Bezug auf die außerschulische vorstellen. Dieser Weg weist in Demokratie“ sei „offensichtlich Bildungsarbeit (Matthias Pfüller) die Zukunft – nicht nur für die vielen Ostdeutschen fremd“ ge- beschäftigen. Pfüller setzt bei Jugendbildung, sondern für die blieben, so kann dies nicht allein Gedenkorten einzelne „Leucht- politische Bildung insgesamt. mit „der notwendigen Delegiti-

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mierung von Diktaturen jedweder freiheitliche und demokratische der Leserin werden sich die Gei- Couleur“ beantwortet werden. Zu Gestaltung des Zusammenlebens ster allerdings an der Frage schei- einem vollständigen Bild gehört in West wie Ost verringert worden den, ob die Autoren/Autorinnen nämlich dazu, dass das Soziale an sind. Das Warnsignal sollte also hier tatsächlich den Finger in die der Marktwirtschaft in den ver- nicht nur einer – aus gewiss ver- Wunde legen oder lediglich mora- gangenen zwei Jahrzehnten in ständlichen Gründen sensibleren – lisierend ihre Zeigefinger ausge- Ost wie West immer stärker in den „Teilgesellschaft“ gelten, sondern streckt haben. Hintergrund geraten ist und da- in ganz Deutschland ertönen. Je mit auch die Spielräume für die nach Standpunkt des Lesers oder

Klaus Kremb (Hrsg.): Weltordnungskonzepte. Hoffnungen und Enttäuschungen des 20. Jahrhun- derts – Schwalbach Ts. 2010, Wochenschau Verlag, 127 Seiten

Dieser von Klaus Kremb heraus- Mit dem Hungervorhaben im punkt der Diktatur; das Land wur- gegebene Sammelband, der in „Unternehmen Barbarossa“ de ohne Rücksicht auf Verluste in der Serie „Studien zur Weltge- (1941) als Kalkül und Ideologie nur einem Jahrzehnt industriali- schichte“ erschienen ist, besteht beschäftigt sich der Beitrag von siert, und parallel dazu verübte aus fünf Kapiteln, bei denen es Wigbert Benz, der erhellt, dass man einen der größten Massen- sich jeweils um Überblicksdarstel- der millionenfache Hungertod morde im 20. Jahrhundert. Ob- lungen handelt, die um entspre- sowjetischer Zivilisten, etwa bei wohl die UdSSR durch den Zwei- chend aussagekräftige Schlüssel- der Belagerung Leningrads sowie ten Weltkrieg etwa 27 Millionen quellen ergänzt werden. Im sowjetischer Kriegsgefangener Tote zu beklagen hatte, gehörte ersten einleitenden Kapitel lie- (zwischen 2,5 und 3,3 Millionen sie zu den Siegermächten. Schließ- fert Kremb in Anlehnung an Eric Tote) von den Nationalsozialisten lich sei die Demokratie in Russland Hobsbawm einen Überblick über nicht nur billigend in Kauf ge- nach 1991 nicht zusammenge- das „Jahrhundert der Extreme“. nommen, sondern bewusst ge- brochen, obschon sich die soziale Präsentiert werden fünf gegen- plant und kaltblütig umgesetzt Situation der Bevölkerung er- sätzliche Begriffspaare, die je- wurde. Deutlich gemacht wird heblich verschlechtert habe. Die weils für fünf Hoffnungen und auch, dass es für diese riesige sechste These Noltes erscheint fünf Enttäuschungen stehen: Opfergruppe im historischen Be- mir diskutabel, da wir es in Russ- Demokratie vs. Antidemokratie, wusstsein Deutschlands weiter- land nicht erst seit Putin wohl Menschenrechte vs. Genozide, hin keinen Platz gibt. Die beiden eher mit einer Demokratur als Selbstbestimmung vs. Fremdbe- ausgewählten Quellen spiegeln mit einer Demokratie zu tun ha- stimmung, Integration vs. Kon- die Täter- und Opferperspektive ben. Auch die Aussage über das frontation, Positiver Friede vs. exemplarisch wider. aufgrund überhöhter Rohstoff- Alte Kriege. Die Zuspitzung im Mit dem Thema Russland in Euro- preise induzierte russische Wirt- Hinblick auf diese gegensätz- pa im Zeitalter der Extreme setzt schaftswachstum ist nicht mehr lichen Begriffspaare sei auf Pola- sich Hans-Heinrich Nolte mit Hilfe aktuell. (S. 52) risierungen zurückzuführen, die sechs historischer Zugänge ausein- Mit der Stellung der USA im Ost- sich aus vier Weltordnungssyste- ander, wobei es ihm um weltsyste- West-Konflikt beschäftigt sich men ergaben: dem liberalen, dem matische Perspektiven geht: geis- Jürgen Wilzewski. Dabei behan- kommunistischen und dem fa- tesgeschichtlich, politikgeschicht- delt der Autor den Ideenkonflikt schistischen Weltordnungsmodell lich, wirtschaftsgeschichtlich, (Menschenrechte, persönliche sowie der Option der Dekolonisa- kriminalgeschichtlich, militärge- Freiheit), das Sicherheitsdilemma tion. Für die Gegenwart kommt schichtlich und diplomatiege- (Atomwaffen und Bedrohungs- der Autor zum Ergebnis, dass schichtlich. Der Autor kommt zu potenzial) sowie den Machtkon- spätestens nach dem 11. Septem- folgenden Ergebnissen: In Russ- flikt (Wettrüsten, Entspannungs- ber 2001 die Geschichte mit aller land wurde der im Westen ge- politik, Konfrontation). Danach Macht zurückgekehrt und die prägte Wert der Gleichheit zur diskutiert er das Problem des ge- von Francis Fukuyama lancierte Maxime des Handelns; eine basis- sellschaftlichen Aushandlungs- These vom Ende der Geschichte demokratische Bewegung (Räte- prozesses, also die Tatsache, dass obsolet geworden sei. modell) wurde zum Ausgangs- sich die amerikanische Gesell-

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schaft und der Kongress aus dem wird deutlich, dass erst die Entko- schläge und eine – besonders von Schatten der Imperial Policy lösen lonialisierung die Möglichkeit Südafrika betriebene – Destabili- konnten. Schließlich geht der Au- eröffnete, die Geschichte Afrikas sierung der Region. tor auf das institutionelle Lernen professionell zu betrachten, etwa Insgesamt ist Rüther bemüht, die in den USA ein (Atomwaffen- unter dem Motto eines erwa- Doppelperspektive zu wahren: sperrvertrag, SALT I, KSZE) und chenden Schwarzafrika und eines die Entkolonialisierung wird in kommt zum Ergebnis, dass Mo- Neubeginns der Geschichte. Aller- erster Linie aus der Sicht Afrikas ral, Sicherheit, Macht und Nor- dings sorgten die fehlende sozia- erzählt, ohne Europa dabei aus- men komplementäre Bestandtei- le Gerechtigkeit, Hunger und zublenden. le der amerikanischen Grand Armut dafür, dass das ehrgeizige Das vorliegende Bändchen ver- Strategy gegenüber der UdSSR Modernisierungsprojekt sich nicht fügt neben den überzeugenden während des Ost-West-Konflikts durchsetzen konnte, zumal in Überblicksdarstellungen über gewesen seien. Den Artikel run- Afrika der überaus komplizierte instruktive Quellenanhänge, den neun aufschlussreiche Schlüs- und häufig unabgeschlossene einen adäquaten Anmerkungs- seldokumente ab. Prozess des sog. nation-building apparat und über eine recht Schließlich beschäftigt sich Kirsten – anders als in Europa – auf die knappe Auswahlbibliographie. Rüther mit Entkolonialisierung Staatenbildung folgte. Ferner gab Es stellt sicherlich einen guten und Unabhängigkeit im südlichen es aus der Perspektive des südli- Einstieg in eine komplex bleiben- Afrika und beschreibt diese Pro- chen Afrika bei der Gewinnung de Materie dar. zesse aus regional- und weltge- der Unabhängigkeit und bei der schichtlicher Perspektive. Dabei Entkolonialisierung herbe Rück- Zbigniew Wilkiewicz

Wolfgang Beutel/Peter Fauser (Hrsg.): Demokratie, Lernqualität und Schulentwicklung – Schwalbach/Ts. 2009, Wochenschau Verlag, 220 Seiten

Die Stichworte im Titel dieses Entwicklung der Demokratiepä- Sehr lesenswert, weil grundlegend Bandes haben sich in der Ausein- dagogik geleistet, aber es bildet und schulentwicklungsperspekti- andersetzung um das Thema eben auch nur einige Facetten visch bedeutsam, beschreibt Peter Demokratiepädagogik in den dieser ganzen Thematik ab. Lei- Fauser den Zusammenhang von vergangenen Jahren als die drei der suggeriert der Titel etwas an- verständnisintensivem Lernen, entscheidenden Eckpunkte in dere Intentionen, erwartet wur- Demokratiepädagogik und Schul- der Fachdiskussion wie der Praxis den breiter angelegte Aspekte entwicklung. Kritikern der herauskristallisiert. In der Zwi- der Debatte um demokratiepä- Debatte, dass nämlich demokra- schenzeit liegen neben grundle- dagogisch orientierte Schulent- tiepädagogisches Handeln im genden theoretischen Überlegun- wicklung. Fachunterricht keinen Raum gen auch umfangreiche schul- Trotz dieser an manchen Stellen habe, wird quasi der Wind aus praktische Erfahrungen vor, die vorfindlichen Fokussierung des den Segeln genommen. Fauser, zeigen, wie in vielfältigen Ansät- Themas auf die Erfahrungen aus der sich seit Jahren um diesen Zu- zen, Methoden und Aufgaben „Demokratisch Handeln“ liefert sammenhang bemüht, trägt ein- kompetenzorientiert für die und der Band eine ganze Reihe inter- drücklich Argumente vor, wie je- in der Demokratie gelernt wer- essanter und wichtiger Beiträge de Lehrperson ihren Unterricht den kann. Der Band von Wolf- zur Thematik. Im Kern geht es neu orientieren kann und sollte. gang Beutel und Peter Fauser dabei um geeignete Qualitäts- Dirk Lange umreißt das Span- knüpft an andere Veröffentli- merkmale und Verfahren zur nungsfeld von Fachlichkeit und chungen an und greift aktuelle Qualitätssicherung. In zwei Haupt- Schulprinzip bei der demokrati- Beispiele aus Theorie und Praxis teilen werden Grundfragen der schen Erziehung und untermau- auf. Im Mittelpunkt steht dabei Demokratiepädagogik und ert die Dringlichkeit der Aufgabe (einmal mehr) das „Förderpro- Aspekte des Verstehens und der mit vielfältigen Argumenten. Die gramm Demokratisch Handeln“. Evaluation von Demokratiepäda- ganze Diskussion um demokra- Unzweifelhaft hat das Förderpro- gogik bearbeitet. Im Folgenden tiepädagogisch orientierte Schul- gramm in den vergangenen Jah- seien die interessantesten Beiträ- entwicklung kann nicht ohne ren viele wichtige Beiträge in der ge vorgestellt und kommentiert. den spezifischen rechtlichen Rah-

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men gedacht werden. Hans Peter Konzept „Partizipativer Schul- Argumente der Autoren machen Füssel beleuchtet in seinem Bei- entwicklung“, das als (neue) Ty- das Verstehen der Schwierigkei- trag eben diese schulrechtlichen pologie von Führungshandeln ten auf dem Weg der Zusammen- Aspekte demokratischer Aner- eingeführt und im Kontext von arbeit leichter. kennungs- und Regelungsver- Demokratietheorie und Bürger- Allen daran Beteiligten muss hältnisse in der Schule. Gerade leitbildern didaktisch begründet klar sein, dass die Diskussion im Blick darauf, dass Demokratie- wird. Schulentwicklung beginnt um gangbare Wege, wie Demo- pädagogik in der Schule mehr mit dem Willen der Führungs- kratie in die Schule gelangen Raum haben muss als nur ein kräfte in den Schulen, die ande- kann und zwar nicht nur als „befristetes Inselverständnis“, ren Akteure im Schulkontext kurzfristiger Unterrichtsgegen- sind diese Argumente jedem auch wirklich zu beteiligen und stand, sondern als Handlungs- Schulleitungsmitglied ans Herz damit Partizipation als Säule der maxime aller Verantwortlichen zu legen. Demokratie im Schulalltag auch und Akteure, erst begonnen Im zweiten Teil beschreibt zu- ernst zu nehmen. hat. Demokratie in der Schule nächst Helmut Frommer Fremd- Ein Buch für Akteure in der Schu- ist bislang noch weitgehend ein und Selbstevaluation als Werk- le? Zunächst schon. Aber auch Nebenschauplatz, sie muss zu zeuge demokratischer Schulent- alle, denen an Kooperationen einem professionell verantwor- wicklung. Er geht dabei der Frage zwischen außerschulischen Ein- teten Ausgangspunkt für Schul- nach, wie sich einerseits Standards richtungen und Schule gelegen entwicklung und Maßstab der für demokratiepädagogische ist, sollten sich vor allem mit den nachhaltigen Verbesserung der Schulentwicklung herausbilden grundlegenden Beiträgen des Lernqualität an deutschen Schu- lassen, und wie andererseits An- Bandes auseinandersetzen. Ko- len werden. Gerade dafür liefert sätze demokratiepädagogischer operationen mit dem Ziel, das der Band einige wertvolle und Projekte selbst dazu beitragen, demokratische Klima an Schulen anregende Anstöße. solche Standards herauszubilden. nachhaltig zu beeinflussen, sind Volker Reinhardt entfaltet ein mühsame Arbeitswege. Viele Stephan Schack

André Schläfli/Irena Sgier: Portrait Weiterbildung Schweiz – 2. vollständig überarbeitete Auflage, Bielefeld 2008, W. Bertelsmann Verlag, 88 Seiten

Die Rote Reihe des Deutschen Im Jahr 2006 wurde der Bund Traditionell schneidet die Schweiz Instituts für Erwachsenenbildung beauftragt, den Weiterbildungs- im internationalen Vergleich gut (DIE) verhilft zu einem schnellen bereich gesetzlich zu regeln. ab, was die Nutzung von Weiter- Einstieg über die Situation der Erstmals sind die 26 Kantone bildungsangeboten angeht. Die Weiterbildung im jeweiligen gehalten, Kompetenzen an Bern Teilnahmequoten an Weiterbil- Land. Den Band über die Schweiz abzugeben. Mit dieser Beauftra- dung rangieren nach OECD und haben André Schläfli, Direktor gung verbindet sich die Hoff- Eurostat im vorderen Viertel des Schweizerischen Verbandes nung, dass die Kompetenzen (S. 52). Jedoch zeigt sich, dass gut für Weiterbildung (SVEB), und klar geregelt sind und mehr ausgebildete Bürger ihr Wissen Irena Sgier, die als wissenschaftli- Transparenz ins eidgenössische noch weiter vertiefen möchten, che Mitarbeiterin beim Verband Weiterbildungssystem kommt. Personen mit geringen Qualifika- tätig ist, verantwortet. Der Band Darüber hinaus steht auch die tionen hingegen eher weniger bietet kompakt umfassende Frage der Finanzierung an. Es von Angeboten Gebrauch ma- Informationen über die Weiter- besteht Interesse an neuen chen. Auffallend ist auch das bildungssituation der Eidgenos- Finanzierungsinstrumenten Ungleichgewicht der Geschlech- senschaft. Die Schweiz ist nicht wie dem Bildungsschein oder ter. Parlamentarische Initiativen Mitglied der Europäischen Union, Steuerabzügen für Einzelperso- wollen die Chancengleichheit in jedoch ist das Land mit anderen nen (S. 39 f.). Die Förderung den 26 Kantonen fördern und europäischen Staaten vernetzt von benachteiligten und wenig fordern Impulsprogramme für und ein wichtiger Akteur in der qualifizierten Bevölkerungs- Frauen, die nach einer Familien- internationalen Weiterbildungs- gruppen wird nachdrücklich phase wieder ins Berufsleben ein- landschaft. angestrebt. steigen wollen. Um mehr Chan-

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cengleichheit zu schaffen, wer- Um sich ein genaueres Bild über stehende Berufsbildungsgesetz den zielgruppenspezifische An- die Situation der Weiterbildung solle zum Berufs- und Weiterbil- gebote in Gang gesetzt, um zu verschaffen, so die Ansicht des dungsgesetz reformiert werden. Gruppen mit bislang schwachen Autorenduos, muss die Weiterbil- Auf einen Blick kann der Leser Grundkompetenzen zu fördern. dungsstatistik verbessert und ver- die Vorschläge für Maßnahmen Hierzu gehören u. a. Migranten feinert werden. Ein gesetzlicher im Weiterbildungsbereich der oder ältere Arbeitnehmer. Auf- Rahmen im neuen Weiterbil- Schweiz (S. 75 f.) nachvollziehen. grund der demografischen Ent- dungsgesetz würde die Grundla- Ein umfassendes Literatur- und wicklung in der Schweiz wird ge für landesweite Erhebungen Adressenverzeichnis rundet den den Altersgruppen ab dem schaffen. Band Porträt Weiterbildung 55. Lebensjahr mehr Gewicht Schweiz ab. eingeräumt, um die Idee des Die Schweiz hat dem Kopenha- lebensbegleitenden Lernens zu gen-Prozess zugestimmt. Dies be- Der Weiterbildung wird in der fördern. deutet für die Eidgenossenschaft Schweiz ein hoher Stellenwert eine engere Verzahnung von be- eingeräumt. Nicht nur die beruf- Die Trägervielfalt in der Schweiz ruflicher Bildung und Weiterbil- liche Weiterbildung hat sich eta- ist groß. Neben öffentlich-recht- dung einschließlich mehr länder- bliert, sondern auch andere An- lichen Trägern finden sich auch übergreifender Kooperation zwi- gebote wie kulturelle Bildung, kommerzielle private. Darüber schen Bildungsträgern. Der Ten- Kurse für Eltern und (noch nicht hinaus haben sich auch die soge- denz zur Internationalisierung bundesweit) für Migranten ha- nannten Migros-Klubschulen möchte und kann sich die Schweiz ben ihren Platz in der Bildungs- herausgebildet, die gemeinnützig nicht entziehen. landschaft erobert. Die Schweiz sind und vom Konzern unterstützt gibt vielerlei Anregungen, wie werden. Wie in Deutschland prä- Das Autorenteam gibt zum Ab- bspw. das Qualifizierungssystem gen auch politische, sozialpart- schluss des Bandes Empfehlun- für Lehrende in der Weiterbil- nerschaftliche und konfessionelle gen zum angestrebten Weiterbil- dung (S. 56 – 58). Dieses Modell Träger die Weiterbildungsland- dungsgesetz der Schweiz. Das wäre auch für Deutschland ernst- schaft. Stark rückläufig ist der Gesetz müsse die Weiterbildung haft zu prüfen. Anteil evangelischer Bildungs- umfassend regeln und auf eine zentren (S. 31). bundesweite Basis stellen. Das be- Karsten Matthis

Hakki Keskin: Deutsch-türkische Perspektiven – Schwalbach/Ts. 2009, Wochenschau Verlag, 254 Seiten

Dieses Buch des bekannten aufzeigen, um eine umfassende Entgleisung Thilo Sarrazins vom deutsch-türkischen Politikers, politische, rechtliche, soziale und Oktober 2009 (die Rezension wur- Wissenschaftlers und Aktivisten wirtschaftliche Integration zu de vor späteren Entgleisungen Hakki Keskin gliedert sich in ins- verwirklichen. (S. 16) Sarrazins geschrieben, die Red.). gesamt zwölf gut lesbare, in Fürwahr ein hoher Anspruch und Mit Hakki Keskin meldet sich einem flüssigen Stil verfasste Ka- ein komplexes Unterfangen, zu- allerdings ein echter Experte mit pitel. Es wendet sich an interes- mal die Frage der Integration in Bindestrich-Identität zu Wort, der sierte Normalbürger und soll ei- ganz Europa, besonders aber in trotz biographischer Betroffenheit nen konstruktiven Beitrag zum Deutschland, wo es diesbezüglich durchaus in der Lage ist, nicht nur Zusammenleben der Mehrheits- immer noch viel Nachholbedarf teilnehmend zu beobachten, son- gesellschaft mit den eingewan- gibt, in aller Munde ist und sich dern auch einen Perspektivwech- derten kulturellen Minderheiten immer wieder mehr oder minder sel von Mehrheitsgesellschaft zu liefern. Zahlreiche Ansätze ge- prominente und berufene Exper- Minderheit und umgekehrt vor- lungener Integration werden er- ten mehr oder minder qualifi- zunehmen. Hier haben wir es mit läutert, es wird aber auch nach ziert oder aber auch einfach jemandem zu tun, der durch sein den Ursachen für nicht gelunge- polemisch-populistisch zu Worte Denken, Schreiben und Handeln ne Integration gefragt. Schließ- melden. Erinnert sei in diesem das über Jahrzehnte in Deutsch- lich will der Autor neue Wege Zusammenhang an die peinliche land gehegte Defizitmodell des

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Weder-noch erfolgreich zu einem deshalb fordert er auch weitere hang mit dem immer wieder neu überzeugenden Modell des So- Erleichterungen bei der Einbür- diskutierten EU-Beitritt der Tür- wohl-als-auch gekehrt hat. Denn gerung und das uneingeschränk- kei gegen die sog. privilegierte Keskin ist sowohl Türke als auch te Recht auf den Doppelpass. Partnerschaft und fordert die Deutscher, hält diese doppelte Dies entbindet die kulturelle Anwendung der Kopenhagener Identität bewusst aus und be- Minderheit allerdings nicht von Kriterien. Der EU-Beitritt der Tür- zieht aus ihr die für sein aktives, ihrer Pflicht, sich um Integration kei sei sowohl wirtschaftlich als widerständiges Leben und Wir- zu bemühen und die Angebote auch sicherheitspolitisch unein- ken notwendige Energie. Dabei der staatlichen Förderung anzu- geschränkt zu begrüßen. Schließ- bleibt er seinen Landsleuten, der nehmen. Allerdings beklagt der lich gibt Keskin im letzten Kapitel großen Gruppe von deutsch-tür- Autor auch in diesem Zusammen- seines Buches zu bedenken, dass kischen „Mitbürgern“ der ersten, hang die weiterhin bestehende die Frage der globalen Migration zweiten, dritten und demnächst massive Benachteiligung der und ihrer Ursachen in Zukunft vierten Generation, nicht nur ver- Schüler/-innen mit Migrations- nicht nur national, sondern auch bunden, indem er sich sowohl hintergrund, wobei er besonders global diskutiert und angegan- wissenschaftlich-publizistisch als bemängelt, dass die Bildungs- gen werden müsse, da soziale auch politisch für sie einsetzt, chancen in Deutschland noch Gerechtigkeit weltweit propa- sondern er fordert von der deut- immer an die soziale Herkunft giert und verwirklicht werden schen Mehrheitsgesellschaft, der gekoppelt sind. Interkulturelle sollte. er selbstverständlich auch ange- Kompetenz und die Aufwertung Das Buch verbindet empirische hört, mehr Empathie und eine der türkischen Sprache – die Be- Daten und wissenschaftliche Ana- entschlossenere und konsequen- herrschung der Muttersprache als lyse mit persönlicher Betroffen- tere Integrationspolitik, wobei wichtige kulturelle und ökonomi- heit. Zu Worte kommt hier nicht die totale Anpassung, also die sche Ressource – sind für ihn inso- nur der Wissenschaftler Keskin, Assimilation, abgelehnt wird. fern ein weiter wichtiges, aber sondern auch der Politiker und Integration wird als wechselsei- nicht eingelöstes Desiderat. Eben- Aktivist, der leidenschaftlich für tiger Prozess verstanden, der For- so kritisch geht Keskin mit der die Verwirklichung seiner Ziele derung nach einer einseitigen Chancenungleichheit zwischen kämpft. Zahlreiche Thesen und Unterordnung der Minderheit Deutschen und Nichtdeutschen Postulate des Autors sind gewiss unter die Mehrheitsgesellschaft auf dem Arbeitsmarkt um, wobei kontrovers und werden seit Jahr- oder unter eine wie auch immer er auf die Versäumnisse der deut- zehnten je nach politischem und geartete deutsche Leitkultur wird schen Beschäftigungspolitik ver- gesellschaftlichem Standort der eine klare Absage erteilt. Dem- weist, besonders im Hinblick auf Kontrahenten bejaht oder abge- entsprechend soll das seit 1989 die fatale Situation der deutsch- lehnt. Unabhängig von dieser in Deutschland erstmals einge- türkischen Frauen. Intensiv wid- leidenschaftlichen, zuweilen lei- schränkte ius sanguinis zukünftig met er sich dem Problem der der auch polemisch geführten immer stärker durch das ius soli verweigerten Anerkennung von Diskussion bleibt festzustellen, abgelöst werden. Insofern spricht Leistungen der Migranten und dass das vorliegende Buch ei- sich Keskin auch eindeutig für fordert im Hinblick auf die recht- nen wichtigen Beitrag zu einem den Verfassungspatriotismus aus, liche Stellung der Deutsch-Tür- Thema liefert, das uns alle an- der ihm in einer Einwanderungs- ken die Einführung des kommu- geht und zukünftig immer wie- gesellschaft moderner und huma- nalen Wahlrechts. In weiteren der auf der Tagesordnung stehen ner erscheint als das antiquierte Kapiteln geht der Autor auf die wird. und Minderheiten diskriminieren- Türkeipolitik der Bundesrepublik de Abstammungsprinzip. Und ein, wendet sich im Zusammen- Zbigniew Wilkiewicz

Georg Kortendieck/Frank Summen (Hrsg.): Betriebswirtschaftliche Kompetenz in der Erwach- senenbildung – Bielefeld 2008, W. Bertelsmann Verlag, 392 Seiten

Das Buch „Betriebswirtschaft- dreijährigen Modellprojekt senenbildung auf, das sich an liche Kompetenz in der Erwach- der Katholischen Bundesar- pädagogische Mitarbeiterin- senenbildung“ baut auf einem beitsgemeinschaft für Erwach- nen und Mitarbeiter in der

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Erwachsenenbildung gerichtet auch durch die anderen Kapitel Das Buch besticht dabei durch hat. zieht), strategisches Management, seine Praxisnähe. Die Texte sind Die Beiträge gliedern sich in zwei externes und internes Rechnungs- leicht und flüssig zu lesen und wesentliche Teile. Der erste Teil wesen sowie Controlling und sind durch viele Grafiken, Tabel- enthält neben der Einführung Kostenmanagement. Diesen The- len, Beispielrechnungen und her- eine Darstellung zum Verhältnis men ist jeweils ein eigenes Kapi- vorgehobene Merksätze angerei- von Betriebswirtschaft und Er- tel gewidmet. chert. Die vermittelten Inhalte wachsenenbildung. Die Autoren Diese Beiträge können auch je- werden durch viele nachvollzieh- erläutern, wie Begriffe und Denk- weils für sich gelesen werden bare Beispiele untermauert, die weisen aus der Betriebswirt- und eignen sich gut, um sich in eine Umsetzung in die eigene schaftslehre in die Erwachsenen- ein einzelnes Themengebiet ein- Praxis erleichtern. Lediglich für bildung und in den Betrieb von zuarbeiten. die Kapitel über externes und Bildungseinrichtungen übernom- Das Buch versucht, die betriebs- internes Rechnungswesen bedarf men werden können, ohne die ei- wirtschaftliche Kompetenz von es zum Verständnis entweder et- genen Ziele in der Erwachsenen- pädagogischen Mitarbeitenden was Vorwissen in der Buchfüh- bildung aus dem Blick zu verlieren. in der Erwachsenenbildung zu rung oder zusätzlicher Einarbei- In den Betrachtungen wird nicht stärken, ohne dabei die betriebs- tung in dieses sehr komplexe außer Acht gelassen, dass die wirtschaftlichen über die päda- Thema, das sich sicherlich nicht meisten, insbesondere gemein- gogischen Aspekte zu stellen. jedem Pädagogen in der Kürze nützige, Bildungseinrichtungen Den Autoren gelingt der Spagat, der hier gebotenen Übersicht eben keine reinen Wirtschafts- sowohl die ökonomischen Anfor- erschließt. betriebe sind. Dabei wird das derungen an die Bildungsein- Es ist den Texten der Autoren Spannungsfeld zwischen ökono- richtungen als auch die pädago- anzumerken, dass sie aus den mischen und pädagogischen gischen Erwartungen und Vor- Erfahrungen der Arbeit in der Interessen und Erwartungen gaben zu berücksichtigen. Erwachsenenbildung entstanden abgesteckt und von den Autoren Wegen der prekären finanziellen sind. Durch die Aufteilung der bearbeitet. Situation vieler Bildungseinrich- Kapitel und die Hervorhebung Der zweite Teil, der den größten tungen und der Kürzung öffent- einzelner Teile ist auch ein Nach- Umfang hat, enthält längere Bei- licher Mittel, von denen fast alle schlagen einzelner Themen leicht träge verschiedener Autoren. Die Akteure der Weiterbildung be- möglich. Somit eignet sich die Texte orientieren sich inhaltlich troffen sind, ist es auch für die Veröffentlichung auch als ständi- an den Themen der Fortbildungs- pädagogischen Mitarbeitenden ges Nachschlagewerk in der täg- reihe in dem Modellprojekt. eine Notwendigkeit, ökonomi- lichen Arbeit und als Gedanken- Die Inhalte dieses Teiles sind öko- sche und betriebswirtschaftliche stütze. nomische Grundlagen, Marketing Aspekte in die Planung ihrer An- (was sich als Querschnittsthema gebote einzubeziehen. Frank Wittemeier

Sigrid Tschöpe-Scheffler: Familie und Erziehung in der Sozialen Arbeit – Schwalbach/Ts. 2009, Wochenschau Verlag, 157 Seiten

Das von Professor Sigrid Tschö- In der Einleitung geht Tschöpe- Im ersten Kapitel wird kurz auf pe-Scheffler, Direktorin des Insti- Scheffler zunächst auf die den gesellschaftlichen Wandel tuts für Kindheit, Jugend und „Krise der Familie“ und den und seinen Einfluss auf Familien, Familie an der Fachhochschule „Erziehungsnotstand“ ein. Dann auf statistische Daten und fami- Köln, für Studenten geschriebe- kontrastiert sie diese Aussagen liensoziologische Erkenntnisse, ne Taschenbuch befasst sich vor mit der Bedeutung der Familie auf verschiedene Familienfor- allem mit der Familienerzie- für die kindliche Entwicklung, men, auf die Eltern-Kind-Bezie- hung. Formen der Sozialarbeit, wobei sie auch auf die Erkennt- hung beeinflussende Faktoren die sich auf Familien beziehen, nisse der Bindungsforschung ver- sowie auf die Anforderungen an werden mit Ausnahme der El- weist. Ferner stellt sie den von Eltern eingegangen. ternbildung kaum berücksich- ihr verwendeten Familienbegriff Das zweite Kapitel befasst sich tigt. vor. mit der Familienerziehung, die

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als eine Form des Alltagshandelns Im fünften Kapitel werden ver- den, bevor die Angebote der bezeichnet wird. Dabei greifen schiedene Formen physischer und Elternbildung ausführlich darge- die Eltern auf Alltagswissen zu- psychischer Gewalt gegenüber stellt werden: Motivationslagen rück – was sich als problematisch Kindern beschrieben. Dann wird der Eltern, Ziele, Formen (Eltern- erweisen kann. Im dritten Kapitel auf negative Konsequenzen für trainings, Seminare, Elternarbeit analysiert Tschöpe-Scheffler, was die kindliche Entwicklung einge- in Kindertageseinrichtungen und eine „gute“ Erziehung ist, und gangen, die insbesondere aus ge- Schulen, Hausbesuchsprogram- präsentiert ihr Konzept der „Fünf störten Paarbeziehungen, Tren- me, Elternbriefe, Websites) und Säulen der Erziehung“, mit des- nung und Scheidung, ungelösten Grenzen der Maßnahmen. Es fol- sen Hilfe entwicklungsförderndes Konflikten oder Stress resultieren gen eine kurze Zusammenfassung und entwicklungshemmendes Er- können. Ferner werden die Aus- und ein langes Literaturverzeich- ziehungsverhalten unterschieden wirkungen von Gewalt auf die nis. werden kann. Dann stellt sie ver- kindliche Entwicklung skizziert. schiedene Erziehungsstile vor, die Danach beschreibt Tschöpe- Da sich das Taschenbuch in ers- in empirischen Untersuchungen Scheffler weitere Formen eines ter Linie an Studentinnen und ermittelt wurden. Im vierten entwicklungshemmenden Erzie- Studenten richtet, sind am Ende Kapitel befasst sich Tschöpe- hungsverhaltens: Ablehnung, jedes Kapitels mehrere „Übungs- Scheffler mit Charakteristika Vernachlässigung, Überbehütung, und Wiederholungsfragen“ eines kompetenzfördernden Er- Missachtung, Dirigismus, Beliebig- angefügt. Das Buch ist verständ- ziehungsverhaltens, wobei sie keit und Grenzenlosigkeit. Schließ- lich und flüssig geschrieben, z. B. eine positive Persönlichkeits- lich verweist sie noch auf Risiko- wurde aber wenig ansprechend entwicklung bei den Eltern, die und Schutzfaktoren für die kind- gelayoutet. Es ist als Einführung elterliche Autorität, das Recht liche Entwicklung, die von der in Fragen der Familienerziehung von Kindern auf gewaltfreie Er- Resilienzforschung ermittelt wur- und Elternbildung für die ge- ziehung und die Bedeutung von den. nannte Zielgruppe gut geeig- liebevoller Zuwendung, Achtung, Im sechsten und letzten Kapitel net. Respekt, intensiver Interaktion werden zunächst verschiedene und klarer Grenzsetzung betont. Arten der Prävention unterschie- Martin R. Textor

Markt

Termine

Unter dem Titel „NS-Ideologie im IN VIA Tagungshaus Pader- Am 29. und 30. November 2010 und die Täterschaft der SS“ ver- born sowie im Kreismuseum findet im Universitätsclub Bonn anstaltet das Bildungswerk der Wewelsburg – „Erinnerungs- und das 13. DIE-Forum Weiterbildung Humanistischen Union NRW in Gedenkstätte Wewelsburg 1933 – statt. In diesem Jahr widmet sich Kooperation mit dem Forum Ge- 1945“ statt. das Forum dem Thema „Lernen schichtskultur an Ruhr und Em- in Bewegung – Vom Einfluss des scher sowie dem Kreismuseum Weitere Infos: Bildungswerk der bewegten Körpers auf individuel- Wewelsburg vom 18. bis 20. No- Humanistischen Union, Kronprin- les und soziales Lernen“. Im vember 2010 eine Werkstatt zenstr. 15, 45128 Essen, Fokus stehen Theorie- und Praxis- „Geschichtsarbeit und historisch- Tel. 0201-227982, ansätze, die ein schnelleres, er- politisches Lernen zum National- Internet: folgreicheres und nachhaltigeres sozialismus“. Die Tagung findet www.hu-bildungswerk.de. Lernen versprechen, wenn es mit

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körperlicher Bewegung verbun- Vom 24. Bis 26. Februar 2011 ver- Die siebten Aktionstage Politi- den wird. Anmeldeschluss für die anstaltet die Bundesstiftung zur sche Bildung finden 2011 wieder Veranstaltung ist der 3. Novem- Aufarbeitung der SED-Diktatur im gewohnten Zeitraum vom ber 2010. ihre 4. Geschichtsmesse. Die drei- 5. bis 23. Mai statt. Bereits jetzt tägige Veranstaltung steht unter können sich Einrichtungen der Weitere Infos: Deutsches Institut dem Motto „Geteiltes Land – ge- politischen Bildung mit ihren Ver- für Erwachsenenbildung – meinsame Geschichte“ und fin- anstaltungen und Projekten in Leibnitz Zentrum für Lebenslan- det im Ringberg Hotel Suhl statt. den Online-Veranstaltungskalen- ges Lernen e. V. (DIE), Brigitte der unter www.bpb.de/aktionsta- Rishmawi, Tel. 0228-3294-104, Weitere Infos: Bundesstiftung zur ge eintragen. Die Planungen für E-Mail: [email protected], Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Auftaktveranstaltung zu Be- Internet: www.die-bonn.de. Christina Wendler und Christian ginn der Aktionstage laufen be- Dzaack, Kronenstr. 5, 10117 Ber- reits. Sie soll in Form einer Quiz- lin, Tel. 030-31 98 95-427 oder show in Berlin stattfinden. Die Frage, welche Rolle Film und -233, Internet: www.geschichts- Medien für die Bildung spielen messe.de/messe2010.php. Weitere Infos: Bundeszentrale können und müssen, soll im für politische Bildung, Svetlana Mittelpunkt des 3. Kongresses Alenitskaya, Adenauerallee 86, „Vision Kino 10: Film – Kompe- „Heimspiel 2011“ lautet der Titel 53113 Bonn, Tel. 0228-99515-509, tenz – Bildung“ vom 1. bis 3. De- eines Theaterfestivals, dass die E-Mail: svetlana.alenitskaya@bpb. zember 2010 in Berlin stehen. Die Kulturstiftung des Bundes vom bunde.de. Veranstaltung wird von Vision 29. März bis 3. April 2011 in Köln Kino und der Bundeszentrale für in Kooperation mit dem Schau- politische Bildung gemeinsam or- spiel Köln veranstaltet. Das Festi- ganisiert und richtet sich an Fach- val präsentiert Produktionen von kräfte aus dem Bildungsbereich deutschen und internationalen sowie Wissenschaftler, Journali- Theaterschaffenden an der sten, Kulturschaffende und inter- Schnittstelle zwischen Interven- essierte Bürger/-innen. tion, Theater, Performance und politischem Aktionismus. Weitere Infos und Online-Anmeldungen unter: Weitere Infos: www.visionkino.de. www.heimspiel2011.de.

Recherche-Stipendien für Mittel-, Ost- und Südosteuropa

Die Robert Bosch Stiftung und Region grenzüberschreitend für Weitere Infos: das Literarische Colloquium Ber- ein breites Publikum aufzuberei- Literarisches Colloquium lin unterstützen Autoren, die Re- ten und damit zur Diskussion an- Berlin e. V., Inga Niemann, cherchereisen nach Mittel-, Ost- zuregen. Abhängig vom Recher- Am Sandwerder 5, 14109 Berlin, und Südosteuropa planen. Die cheaufwand und der Dauer der Tel. 030-81699664, Autoren sollen in die Lage ver- Reise können pauschale Stipen- Internet: setzt werden, deutschsprachige dien in Höhe von 2.000 bis www.lcb.de/grenzgaenger. Veröffentlichungen über diese 10.000 Euro beantragt werden.

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Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2010/11

Am 1. September 2010 startete gendlichen unter 21 Jahren sind von 250.000 Euro auslobt. Einsen- der 22. Geschichtswettbewerb aufgerufen, auf Spurensuche in deschluss ist der 28. Februar 2011. des Bundespräsidenten zum ihren Wohnorten zu gehen. Aus- Thema „Ärgernis, Aufsehen, gerichtet wird der Wettbewerb Weitere Infos: Empörung: Skandale in der Ge- von der Körber-Stiftung in Ham- www.geschichtswettbewerb.de. schichte“. Alle Kinder und Ju- burg, die Preise im Gesamtwert

Zeitschriften zur politischen Bildung

Wie kann und soll sich politische Bezug: Juventa Verlag, Schwerpunktthema „20 Jahre Bildung zur „Gender“-Thematik Ehretstr. 3, 69469 Weinheim, deutsche Einheit“. positionieren? Die neue Ausgabe Internet www.juventa.de. 3/2010 von kursiv – Journal für Bezug: W. Bertelsmann Verlag, politische Bildung versammelt Auf dem Esch 4, 33619 Bielefeld, Beiträge zu diesem Schwerpunkt, Die vom W. Bertelsmann Verlag Internet: www.wbv.de/deutsch- die eine Übersicht zur fachlichen im Auftrag der Bundeszentrale landarchiv. Diskussion und zu Positionen der für politische Bildung herausge- politischen Bildung auf diesem gebene Zeitschrift Deutschland Themenfeld bieten. Archiv soll ab Januar 2011 mit Beim Wochenschau Verlag er- einer neuen Konzeption erschei- scheint die Zeitschrift Wochen- Bezug: Wochenschau Verlag, nen. Geplant ist ein Internet- schau – Politik und Wirtschaft Adolf-Damaschke-Str. 10, portal, das unter der Adresse unterrichten pro Ausgabe je- 65824 Schwalbach/Ts., Internet: www.deutschlandarchiv.info im weils mit zwei Heften für die Se- www.wochenschau-verlag.de. Januar online gehen soll. Hier kundarstufen I bzw. II. Während werden künftig alle Beiträge, es in Nummer 5/2010 für die Se- das Forum und thematische kundarstufe I um die „Medien“ Ausgabe 3/2010 der vom Bundes- Schwerpunkte kostenfrei zur geht, ist das „Das neue Parteien- ausschuss Politische Bildung her- Verfügung gestellt. Eine Druck- system“ Thema im Heft für die ausgegebenen Zeitschrift Praxis ausgabe der Zeitschrift pro Sekundarstufe II. Politische Bildung widmet sich Quartal soll es weiterhin geben, der Diskussion um die Wirtschafts- allerdings unter der Vorausset- Bezug: Wochenschau Verlag, und Ordnungspolitik in Zeiten zung, dass ausreichend Abonnen- Adolf-Damaschke-Str. 10, der ökonomischen Krise und gibt tinnen und Abonnenten ge- 65824 Schwalbach/Ts., Internet: Anregungen, wie politische Bil- wonnen werden können. Die www.wochenschau-verlag.de. dung sich diesem Thema annä- aktuelle Ausgabe 5/2010 des hern kann. Deutschland Archivs hat das

Zeitschriften zur Erwachsenen-/Weiterbildung

In der neuen Ausgabe IV/2010 es vor allem um die Tatsache, und ob es vorrangig noch um die der DIE – Zeitschrift für Er- dass in Bildungspolitik und Bil- „Köpfe“ oder nur noch um die wachsenenbildung, die vom dungspraxis Daten und Bench- „Zahlen“ geht. Deutschen Institut für Erwachse- marks eine immer wichtigere Rol- nenbildung herausgegeben wird, le spielen. Dabei wird gefragt, Bezug: W. Bertelsmann Verlag, steht das Thema „Kopf oder wie weit diese sogenannte „Evi- Auf dem Esch 4, 33619 Bielefeld, Zahl“ im Mittelpunkt. Dabei geht denzbasierung“ tragen kann, Internet www.wbv.de.

310 INFORMATIONEN

Seit 1996 geben Wissenschaftler zusammengestellt, das im März Ausgabe 1/2010 der Zeitschrift des Fachbereichs Erziehungswis- 2010 während des 22. Kongresses Hochschule & Weiterbildung senschaft der Universität Ham- der Deutschen Gesellschaft für der Deutschen Gesellschaft für burg in unregelmäßiger Folge Erziehungswissenschaft „Bildung wissenschaftliche Weiterbildung die Hamburger Hefte der Er- in der Demokratie“ stattfand. und Fernstudium (DGWF) widmet wachsenenbildung heraus. Im sich dem Thema „Hochschulsteue- Oktober ist eine neue Ausgabe Bezug: Universität Hamburg, rung“. Darin geht es um Manage- Nr. 1/2010 dieser Reihe erschie- FB Erziehungswissenschaft Sek- ment-Fragen in wissenschaftlichen nen. Die Herausgeberin Christine tion 3, Joseph-Carlebach-Platz 1/ Weiterbildungseinrichtungen. Zeuner hat in diesem Heft Vor- Binderstr. 34, 20146 Hamburg, träge des Symposiums „Demo- Internet: Bezug: DGWF, Vogt-Kölln-Str. 30, kratie und Partizipation – Beiträ- www.erzwiss.uni-hamburg.de. 22527 Hamburg. ge der Erwachsenenbildung“

Jugendbildung/Jugendhilfe

„8 x Außerschulische Jugend- ■ Haus am Maiberg – Akademie In Ausgabe 03.10 des „Jugend- bildung in Hessen“ heißt eine für politische und soziale Bil- hilfereport“ vom Landschafts- Veröffentlichung von acht Trä- dung, verband Rheinland (LVR) geht es gern der hessischen Jugendbil- ■ LAG Soziale Brennpunkte um das Thema „Kinderarmut. Da dung in Hessen, die nach dem Hessen, ist mehr drin!“. Darin wird nach Hessischen Jugendbildungsförde- ■ Jugendbildungsstätte Lud- Möglichkeiten kommunalen rungsgesetz als „sonstige Träger“ wigsburg, Handelns gefragt, wie die Teilha- zusammengefasst werden. Die ■ MUK Institut für Medienpäda- be von Armut betroffener Kinder Broschüre präsentiert das päda- gogik und Kommunikation und Jugendlicher an Bildung, gogische Programm sowie Bei- sowie Kultur und sozialen Aktivitäten spielangebote der folgenden ■ Verein zur Förderung bewe- ermöglicht bzw. verbessert wer- Einrichtungen: gungs- und sportorientierter den kann. Jugendsozialarbeit (bsj) Mar- ■ basa e. V. – Bildungsstätte Alte burg. Bezug: Landschaftsverband Schule Anspach, Rheinland, LVR-Landesjugendamt ■ Bonifatiushaus Fulda, Bezug: Die Broschüre kann kos- Rheinland, Kennedy-Ufer 2, ■ IB Internationaler Bund – tenlos angefordert werden bei 50679 Köln, Jugendbildung Hessen, [email protected]. Internet: www.lvr.de.

Neues im Netz

Das Bundesministerium für Bil- europäischen Bildungspolitik zu delte Hintergrundinformationen dung und Forschung hat in Zu- verstehen. Die Seite gibt einen und aktuelle Nachrichten ge- sammenarbeit mit der Nationa- Überblick über das Themenfeld meinsam mit den wichtigsten len Agentur Bildung für Europa und stellt die wichtigsten Instru- Dokumenten-Downloads zur beim Bundesinstitut für Berufs- mente, Initiativen und Entschei- Verfügung gestellt. bildung (BIBB) eine neue Websi- dungen vor. Aus Bereichen wie te zur EU-Bildungspolitik ins Schulbildung, Hochschulen, Leben gerufen. Das Online-Portal Berufliche Bildung, Erwachse- Im August 2010 ist ein Portal www.eu-bildungspolitik.de nenbildung, aber auch Mobilität, mit umfassenden Informatio- soll helfen, die bisweilen recht Qualitätssicherung oder Beschäf- nen rund ums bürgerschaftli- komplizierten Strukturen der tigungsfähigkeit werden gebün- che Engagement online gegan-

311 INFORMATIONEN

gen. Die kostenfrei nutzbare und Weiterverwendung, z. B. auf dass es künftig auch für andere Plattform www.engagiert-in- eigenen Websites oder Blogs, zur Betriebssysteme angepasst wer- deutschland.de informiert über Verfügung. Das Projekt wird ge- den kann. Projekte, Fachinformationen, fördert von Die Gesellschafter Veranstaltungen und aktuelle (Aktion Mensch), FairTrade e. V., Nachrichten aus zahlreichen Be- der Doris Wupperman Stiftung, Seit Ende September 2010 lädt reichen des bürgerschaftlichen der Aktion Selbstbesteuerung, die Plattform www.dialog- Engagements in Deutschland. der Stiftung Umverteilen! sowie nachhaltigkeit.de ein zur Dis- Darüber hinaus dient die Website der BMU Foundation. kussion über das Thema Nachhal- dem Erfahrungsaustausch zwi- tigkeit in allen Lebensbereichen. schen engagierten Menschen, Weitere Infos: e-politik.de, Bürgerinnen und Bürger der Organisationen, öffentlichen In- Jan Künzl, Projektleiter Wissens- Bundesrepublik können sieben stitutionen und Unternehmen. Werte, Gaudystr. 2, 10437 Berlin, Wochen lang bis zum 14. Novem- Moderierte, virtuelle Themen- E-Mail: [email protected], ber 2010 Stellung nehmen zu räume laden dazu ein, kreative Internet: www.e-politik.de/ Themen wie Klima/Energie, Ver- Ideen zu entwickeln, umzusetzen lesen/wissenswerte-animations- kehr, Konsum, Gesundheit etc. und weiter zu verbreiten. Das clips-zur-politischen-bildung/ Alle Beiträge werden ausgewer- Projekt wird gefördert vom tet und fließen in die Arbeit an Bundesministerium für Familie, dem Entwurf für den nächsten Senioren, Frauen und Jugend Seit Anfang September 2010 Fortschrittsbericht zur nationalen (BMFSFJ). bietet der Deutsche Bundestag Nachhaltigkeitsstrategie ein, der auch Informationen für Nutzer im Sommer 2011 vorliegen soll. des mobilen Internets. Unter Bereits im Mai 2010 fiel der Start- m.bundestag.de oder schuss für das Projekt Wissens- www.bundestag.de/mobil In der Edition des „Medienpro- Werte des Vereins /e-politik.de/, können Handy- und Smartphone- jektes Wuppertal“ sind einige der eine Reihe von Animations- Nutzer unterwegs jederzeit Jugendvideoproduktionen neu clips zur politischen Bildung pro- aktuelle Nachrichten aus dem erschienen, die auf DVD zum duzieren und verbreiten möchte. Bundestag abrufen, Debatten Kauf bzw. zur Ausleihe erhältlich Bereits zwei Clips zu den Themen live verfolgen und sich über Ab- sind. Die professionell gestalte- „Vereinte Nationen UNO“ und geordnete, Ausschusssitzungen ten und unter Anleitung von „Islamismus“ sind erschienen, die oder die Öffnungszeiten der Filmemachern produzierten in ca. fünf bis sieben Minuten Reichstagskuppel informieren. Dokumentationen wurden von einen Überblick über das behan- Zudem stellt der Deutsche Bun- Jugendlichen für Jugendliche delte Thema geben. Weitere destag eine kostenfreie Anwen- produziert und sind zur Unter- Clips zu den Themen Welthan- dung (App) „Deutscher Bundes- stützung von Bildungsveranstal- delssystem, Globalisierung und tag“ für iPhone-, iPad- oder iPod tungen gedacht. Klimawandel sind noch geplant. Touch-Geräte bereit, mit der mo- Die Kurzfilme sind als Creative bile Inhalte noch komfortabler Weitere Infos: Alle Filme werden Commons lizenziert und stehen abrufbar sind. Das App ist platt- unter www.medienprojekt-wup- damit zur allgemeinen Nutzung formübergreifend konzipiert, so pertal.de vorgestellt.

Ausstellung „Deutschland für Anfänger“

Eine neue Wanderausstellung auf Deutschland und seine Men- bis zum 27.02.2010 in Berlin zu unter dem Titel „Deutschland schen. Das mit vielen privaten sehen. für Anfänger – Eine deutsche Erinnerungsstücken und inter- Entdeckungsreise von A bis Z“ aktiven Elementen ausstaffier- Weitere Informationen: ist Ende September 2010 im Forum te „Musée Sentimental“ ent- www.bpb.de/veranstaltungen/ Willy Brandt in Berlin eröffnet stand als Partnerprojekt der Bun- C8WWR8. worden. Die Ausstellung richtet deszentrale für politische Bil- anhand von 26 plastischen Buch- dung (bpb) und dem Goethe- Zusammenfassung: staben einen unerwarteten Blick Institut. Die Ausstellung ist noch Ivonne Meißner

312 IMPRESSUM

Außerschulische Bildung 3-2010 Die Außerschulische Bildung wird als Fachzeitschrift für politische Jugend- 41. Jahrgang und Erwachsenenbildung vom Ar- beitskreis deutscher Bildungsstätten Materialien zur politischen Jugend- und Erwachsenenbildung – (AdB) herausgegeben. Verband, Her- Mitteilungen des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten e. V. ausgeberin und Herausgeber, Redak- tionsbeirat und die Redakteurin Herausgeber: möchten dadurch Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten e. V., vertreten durch Dr. Paul Ciupke und Ulrike Steimann ■ zur fachlichen und wissenschaft- lichen Reflexion der Praxis politi- Redaktion: scher Jugend- und Erwachsenen- Ingeborg Pistohl bildung beitragen und damit die Professionalität pädagogischen Redaktionsbeirat: Handelns stärken, Ina Bielenberg, Gertrud Gandenberger, Dr. Christoph Meyer, Wolfgang Pauls, Dr. Melanie Piepenschneider, Imke Scheurich ■ aktuelle und relevante Themen aus Politik und Gesellschaft auf- Redaktions- und Bezugsanschrift: greifen und im Hinblick auf ihre AdB, Mühlendamm 3, 10178 Berlin, Behandlung in der politischen Bil- Tel. (0 30) 400 401-11 u. 12 dung aufbereiten, www.adb.de E-Mail: [email protected], ■ Beispiele der Bildungsarbeit öf- [email protected] fentlich machen und ein Schau- fenster des Arbeitsfeldes bieten, Herstellung: Druckcenter Meckenheim/Brandenburgische ■ theoretische und fachliche Diskus- Universitätsdruckerei und Verlagsgesellschaft sionen in Beziehung setzen und Potsdam mbH die Diskurse in der Profession und den wissenschaftlichen Bezugs- ISSN 0176-8212 disziplinen jeweils miteinander bekannt machen, Bildnachweis: Copyrighthinweise s. Fotos. Die Abbildungen in Wikipedia ste- ■ Methoden der politischen Bildung hen unter der GNU Free Documentation License. vorstellen,

Bezugsbedingungen (gültig ab Ausgabe 1-2003) ■ neue fachbezogene Publikationen Einzelheft € 6,00 und Medienproduktionen präsen- 1-3 Abonnements (jährlich) € 16,00 tieren und in ihrer Relevanz für ab 4 Abonnements (jährlich) € 12,00 die Bildungsarbeit einschätzen, Abonnements für Studenten, Prakti- kanten, Referendare, Arbeitslose (jährlich) € 12,00 ■ über bildungs- und jugendpoliti- (bitte jährlich Bescheinigung übersenden) (zuzüglich Porto) sche Entwicklungen in Bund und Ländern berichten, Die Mitglieder des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten er- halten je ein Exemplar kostenlos. ■ Nachrichten aus dem AdB und an- deren Fachverbänden verbreiten. Diese Zeitschrift wird maßgeblich durch Mittel des Bundesminis- teriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert und von der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-West- falen unterstützt.

313 314 AdB-Titel 3-10 4,5 mm R .fh10 09.11.2010 10:34 Uhr Seite 1

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3-2010

Zwischen Theorie und Praxis politischer Bildung

Ideen und Konjunkturen politischer Erwachsenenbildung

Was ist Bildung?

Demokratiepädagogik oder politische Bildung?

Forschung für die Praxis Außerschulische Bildung 3-2010 ISSN 0176-8212

Probedruck