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Die Brüder Grimm, meine Großmutter und die Kraft der Provinz

Dankesrede bei der Verleihung des Brüder-Grimm-Preises am 4. Februar 2012 in der Aula der Alten Universität Marburg

Von Heribert Prantl

Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die journalistische Koryphäen als ihre ersten Lehrer nennen dürfen. Es gibt andere, die haben berühmte Väter. Wieder andere können berichten, dass die Lektüre von Tolstoi, Dickens oder Balzac ihr Erweckungserlebnis gewesen sei. Ich habe mit Maria Prantl lernen dürfen, sie war meine Großmutter, sie war für mich eine Berühmtheit, nicht so sehr, weil sie vierzehn Kinder geboren und ich dementsprechend viele Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen hatte, sondern weil die ebenso resolute wie gütige Bauersfrau spezielle Hobbys hatte: Briefe schreiben, die Bibel lesen und die Grimmschen Märchen. Ich war ihr Schüler. Mit der Bibel und mit den Grimmschen Märchen habe ich, als ich viereinhalb Jahre alt war, lesen gelernt. Aber davon und von meiner Großmutter haben Sie ja nichts gewusst, als Sie mir die Auszeichnung mit dem Brüder- Grimm-Preis zugedacht haben.

Ich war deshalb erst einmal ein wenig verdutzt und habe im Textarchiv meiner Süddeutschen Zeitung angerufen. Wenn ich die hohe Ehre habe, einen Preis zu entgegennehmen zu dürfen, der den Namen der Brüder Grimm trägt, dann wollte ich mir schon sicher sein, dass ich auch selbst den Namensträgern die Ehre gegeben habe. Ich wollte also wissen, wie und wie oft in meinen Texten die Brüder Grimm vorkommen.

Aus dem SZ-Archiv kam sodann ein überraschend großer Stapel mit Leitartikeln und politischen Essays, der mir den Einfluss von Jacob und auf meine Kommentierung der deutschen Politik recht deutlich machte: Zu Kohl, Genscher, Strauß und Schäuble, zu Gerhard Schröder und Angela Merkel, zu Edmund Stoiber, Seehofer und Westerwelle gesellen sich da in meinen 25 Jahren als politischer Journalist ganz gern die , der Hans im Glück, der Froschkönig, der Teufel mit den drei goldenen Haaren und der getreue Heinrich.

Vielleicht darf ich mit Ihnen schnell durch den genannten Stapel blättern: Der Kommentator Prantl analysierte da, die CSU lasse sich wie Hans im Glück einreden, Karl-Theodor Guttenberg sei das Huhn, das goldene Eier legt. Der SPD warf er vor, sie lasse die Themen, die wie Sterntaler für sie auf der Straße lägen, von der Linkspartei 1

2 aufsammeln. Über Westerwelle schrieb er: „Im Kabinett Merkel spielt er die Rolle, die im Märchen von der Frau Holle die Pechmarie hat." Und Heribert Prantl befand sogar, die Grünen könnten mit Joschka Fischer eine Art Froschkönig aufweisen.

Die Art der Nutzanwendung von Märchen, ob im Journalismus oder in der Politik, kann schon einiges aussagen. Es hatte zum Beispiel schon eine gewisse Bedeutung, dass die DDR 1985 zum 200. Geburtstag von eine Serie mit Märchen-Briefmarken ausgerechnet mit „Tischlein deck dich“ begann. Die Bundesrepublik aber begann die Markenserie mit den Sterntalern, also mit den Sternen, die vom Himmel fallen und sich in Geld verwandeln.

Ich bleibe noch ein wenig bei meiner publizistischen Beziehung zu den Brüdern Grimm: Als Helmut Kohl siebzig Jahre alt wurde, schrieb ich ihm ein großes Albumblatt zum Geburtstag, das ich „Lob der Provinz“ nannte. Es war ein Stück „von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ – also ein Grimmsches Märchen. Er war, so begann ich, furchtlos wie kein anderer, und seine herzhafte Ungeniertheit suchte weit und breit ihresgleichen. Andere, nicht ganz so couragiert wie er, wurden Leiter des örtlichen Fanfarenzuges. Er aber zog hinaus in die Welt, ließ sich lieber mit Tod und Teufel ein als mit dem Alltag – und ging mit ihnen um wie mit Requisiten aus Holz und Pappmache. Mit einer Tatkraft, die schon fast etwas Stumpfes hat, überstand er jede Gefahr. Später, als der furchtlose Bursche älter geworden war, nannte man seine stoische Unerschütterlichkeit „Aussitzen“. Aber dort, wo das Märchen, von dem, der das Fürchten lernen wollte, mit dem Gewinn des Königsreiches endet, ging die reale Geschichte des Helmut Kohl erst richtig los – weil er mehr konnte als der Held des Märchens, dem nie einer hilft, der immer mutterseelenallein ist: Kohl konnte begeistern, er konnte sich Freunde machen; er hatte aber auch die furchtbare Gabe, seine Freunde zu opfern, wenn sie nicht so wollten, wie er wollte, wenn sie sich seinem totalen Zugriff entzogen.

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen: Helmut Kohl hatte die Gabe, aus Erlebnissen, Erinnerungen und Geschichten Geschichte zu machen – aus Geschichten wie dieser, die er einst im Interview mit mir erzählt hat: „Ich habe“, erzählte Kohl, „einmal eine Rede in Metz gehalten. Da sagte mir der dortige Oberbürgermeister, wie ich war er Jahrgang 1930, dass er in Erinnerung hat, wie man in Metz vom Gehsteig runtergehen musste, wenn ein deutscher Offizier kam. Das war im Jahr 1942. Und dann hatte ich gesagt, ich habe eine Erinnerung an 1945 in meiner Heimatstadt, wo es dann umgekehrt war. Wir mußten vom Gehsteig runter, wenn ein französischer Offizier kam. Die beiden Städte liegen gerade zweihundert Kilometer auseinander“.

Das sind die Erlebnisse, das sind die Geschichten, die Helmut Kohls Europapolitik geformt haben. Diese Europapolitik war so lebendig, wie es Kohls Erinnerungen waren. Es war seine Welt, die Pfalz, die ihm die Welt erschloss, sie war überall dort, wo er war, er brachte sie mit. 2

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Das ist die Kraft der Provinz. Europa: das sind nicht die vereinigten Staaten von Europa. Unser Europa: das sind die vereinigten Provinzen - Burgund, Brabant, Bayern, Böhmen, Bosnien, Pommern, Flandern und Asturien, Schlesien, Jütland und die Lombardei, Cork, Navarra, Latium, Piemont und Pannonien. Provinz ist ein gutes Wort, Provinz ist ein reiches Wort. Provinz ist, wo Zusammenhänge überschaubar sind.

Die Brüder Grimm waren gesegnet mit der Kraft der Provinz, ihr Interesse an der Sprache war patriotisch und kosmopolitisch zugleich. Die Brüder Grimm hingen an ihrer Heimat im Hessischen, sie hingen an der Provinz „wie die Katzen am Haus“, so schrieb Carl Zuckmayer in seiner Monographie über die Brüder Grimm. Jacob Grimm hat seine Antrittsvorlesung in Göttingen, vom heimatlichen Kassel für den Autofahrer heute nicht viel weiter als einige Zigarettenlängen entfernt (wie der Spiegel einmal schrieb), über das „Heimweh“ gehalten. Und für die Anhänglichkeit der Brüder zueinander, ihre Abhängigkeit voneinander, gibt es vielleicht im Märchen Beispiele, aber nicht in der deutschen Geistesgeschichte.

Die Brüder Grimm lebten in der Provinz, in Kassel, in Marburg, in Göttingen, bevor der Verfassungsbruch des Königs von Hannover, der „monarchische Staatsstreich“ (Thomas Nipperdey) des Königs Ernst August sie nach Berlin vertrieb. In der Provinz erschienen die Bände eins, zwei und drei der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen, in der Provinz erschienen die vier Bände der deutschen Grammatik, die ein Meilenstein der historisch- vergleichenden Sprachwissenschaft ist; in der Provinz erschienen die Deutschen Heldensagen von Wilhelm Grimm, in der Provinz entstand der gewaltige Plan zum gewaltigen „Deutschen Wörterbuch`, der dann in Berlin ausgeführt wurde – 1854 erschien der erste Band; abgeschlossen wurde das 33 Bände zählende Werk im Jahr 1971 mit dem Erscheinen des Quellenverzeichnisses; an der Vollendung dieses großen Werks arbeiteten die Akademien der zwei deutschen Staaten gemeinsam. So weit, weit über hundert Jahre weiter, reichte die Kraft der Brüder Grimm, sie brachten es fertig, ihr Werk brachte es fertig, dass die verfeindeten deutschen Bruderstaaten auch in Zeiten des kalten Kriegs zusammenarbeiteten, dass sie bei der Arbeit am großen Werk brüderlich waren.

Das ist die Kraft der Provinz. Und weil wir schon dabei sind: Das große Viergestirn - Wieland, Goethe, Herder und Schiller - wirkte in Weimar, also in der Provinz. Es gibt eine Weimarer Klassik, keine Berliner Klassik.

Die Märchen der Brüder Grimm: sie spielen in der Provinz, die Provinz ist sowohl hortus insectorum als auch ein geistiger Raum . Wenn einer von dort auszieht, das Fürchten zu lernen – mit den Erfahrungen, die er dort gemacht hat, kann er auch die Gefahren der 3

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Nicht-Provinz bestehen. Die Märchen sind der Hort der Provinz, die Kinder- und Hausmärchen sind sein Schatz.

Die Brüder Grimm haben diese Schätze gesammelt und bearbeitet – man muss aufhören damit, die Grimms als Märchenonkel der Nation in einer biedermeierlichen Gelehrtenidylle zu verorten. Erstens weil in den Märchen mehr steckt als Idylle, zweitens weil die Grimms mit dem Spitzweg-Image wenig zu tun haben, das ihnen verpasst worden ist. Man hat die Grimms romantisch verniedlicht, man hat sie entpolitisiert, verbiedermeiert, man hat sie zu weltfremden Stubengelehrten gemacht.

Stubengelehrte hätten nicht aufgemuckt gegen den König. Die Grimms waren keine Politiker, das war nicht ihr Beruf und nicht ihre Berufung; aber sie waren politische Professoren. Als der König von Hannover die Grimms zwingen wollte, ihren Eid auf die Verfassung zu brechen, da sprach Jacob Grimm das schöne Wort: „Wenn die Wissenschaft hier kein Gewissen mehr haben darf, muss sie sich eine andere Heimstatt suchen“. Das ist kein Satz von einem biedermeierlichen Mucker. Das ist ein politischer Satz. Das ist „die Entstehung der Germanistik aus dem Geist der Demokratie“, wie 1996 die Gedenkveranstaltung der Universität Frankfurt überschrieben war, mit der der 150. Jahrestag der ersten Germanistenversammlung von 1846 gefeiert wurde.

Die Brüder Grimm waren zwei der Göttinger Sieben – dieser sieben Professoren, die am Beginn der deutschen Demokratiegeschichte stehen. Die sieben aus ihrem Amt enthobenen Professoren der Universität Göttingen waren im Einzelnen der Staatsrechtler Wilhelm Eduard Albrecht, der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, der Orientalist Heinrich Ewald, der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus, die Germanisten Jacob und Wilhelm Grimm und der Physiker Wilhelm Eduard Weber. Sie verweigerten dem neuen König Ernst August den Huldigungseid, als dieser, nachdem ihm das Königreich Hannover zugefallen war, die geltende Verfassung aufgehoben hatte. Sie hielten es mit Kant und seiner Forderung: „Das Recht muss nie der Politik, wohl aber die Politik dem Recht angepasst werden“ – und das lebten sie auch so und das wurde 1837 zum ersten Mal ganz deutlich. Sie wurden entlassen; und drei von ihnen, der Historiker Dahlmann, der Germanist Gervinus und Jacob Grimm, wurden zur Emigration gezwungen. Das war 1837, ein Jahr später schrieb Jacob Grimm eine Schrift über seine Entlassung, von der Christa Wolf 1989 schrieb: „Ich wäre dafür, Jacobs Schrift in die Lehrpläne der Oberschulen aufzunehmen, als ein hinreißendes Beispiel für die stilbildende Kraft von Charakterfestigkeit und Überzeugungstreue“.

Der Politikwissenschaftler Wilhelm Bleek meint, die Brüder Grimm „mögen ihren Schritt noch so unpolitisch und antirevolutionär verstanden haben; sie wurden durch die Protestation doch zu anerkannten Sprechern des rechtsstaatlichen Liberalismus. Sie weckten in der vormärzlichen Zeit von Repression und Restauration 4

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Erwartungen und Hoffnungen, die auf Erfüllung drängten“. So war es – die Wirkungsgeschichte des Bürgermuts der Göttinger Sieben war in ihrer Zeit ungeheuer. Vor allem das liberale Bürgertum, dessen Hauptvertreter die Gelehrten waren, empfand sich von da an mehr an Gesetz und Verfassung gebunden als dem Monarchen gegenüber verpflichtet. Die Göttinger Sieben sind ein frühes Beispiel zivilen Ungehorsams.

Die Brüder Grimm als Stubengelehrte? Ein Stubengelehrter hätte in der Paulskirche, in der ersten deutschen Nationalversammlung, nicht an so herausgehobener Stelle gesessen wie Jacob Grimm: in der ersten Reihe, im Mittelgang, auf einem gesonderten Sitz, unmittelbar gegenüber der Rednertribüne und dem Präsidium. Ein Stubengelehrter hätte dort nicht am 4. Juli 1848 den bekenntnishaften Vorschlag gemacht, den künftigen „Grundrechten des deutschen Volkes“ folgenden ersten wunderbar farbigen, kräftigen, poetischen Artikel voranzustellen: „Alle Deutschen sind frei, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei“.

Wäre dieser Antrag, weil er der Mehrheit zu radikal war, nicht mit 192 gegen 205 Stimmen verworfen worden, und stünde dieser Satz auch noch heute so im Grundgesetz – es hätte in der Bundesrepublik keine so schändliche Ausländer- und Asylpolitik betrieben werden können, wie sie betrieben worden ist und wie sie die EU immer noch betreibt: „ … deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“ Das ist ein Satz von einer Strahlkraft, wie ihn erst hundert Jahre später der Artikel 1 des Grundgesetzes erreicht. Die persönliche Freiheit des Menschen im Grimmschen Artikel 1 war das Urgrundrecht, das heute die Menschenwürde im Artikel 1 des Grundgesetzes ist. Ist das die Botschaft eines unpolitischen Stubengelehrten? 1848/49 – das waren die politischen Gründerjahre und die Grimms gehörten zu den Gründervätern.

Gewiss. Grimm war kein politischer Volkslehrer wie Karl von Rotteck, er trat nicht auf bei den „Konstitutionsfesten“ und Volksversammlungen, er war keiner der Professoren, die sich in der Tagespublizistik engagierten, damals, als sich die Zahl der Zeitungen binnen weniger Jahre in Deutschland verdoppelte. Grimm hat kein konkretes politisches Programm formuliert, er ließ sich in politicis durchaus vom Gefühl tragen, das vaterländisch und zugleich universalistisch war und das ihn erst dorthin und dann dahin trug. Lange Zeit war Jacob Grimm ein konstitutioneller Monarchist, später wurde er Republikaner, ein Demokrat mit revolutionären Anwandlungen.

Die Hurrapatrioten und Nationalisten haben das als Verirrung, als eine Art Demenz abgetan: Wilhelm Scherer, der 1885 die erste Biographie über Jacob Grimm publiziert hat, bemerkt regelrecht entsetzt, wie Grimms „ursprünglich konservativer Sinn – mehr nach links 5

6 abdrängt“ – als nämlich preußische, österreichische, hessische, bayerische und württembergische Truppen im Frühjahr 1849 die bürgerliche Revolution beendet und Aufständische zusammengeschossen hatten, die die Reichsverfassung verteidigen wollten. Die ultrakonservativen Regierungen, die - nicht nur in Preußen – wieder an die Regierung kamen, setzten alles daran, mit den Mitteln der Repression, der Zensur und der Manipulation der Presse die Erinnerung an die Revolution, an die Leidenschaft der Gelehrten und ihre politische Botschaft aus dem öffentlichen Bewusstsein zu tilgen.

1858 schrieb Jacob Grimm, dem der „Polizeigeist“ Preußens unheimlich war und der immer eher ein Groß- als ein Kleindeutscher war, in einem Brief: „Es kann nur durch rücksichtslose Gewalt geholfen werden. Je älter ich werde, desto demokratischer gesinnt wie ich … die Verfassung in das Geleise der bestehenden Verhältnisse zu zwängen, kann zu keinem Heil führen“. Bei solchen Sätzen wurde der Biograph von 1885 ganz kirre. Sie passten absolut nicht in das deutschnationale Bild, das man sich damals von Grimm machen wollte. Biograph Scherer ärgert sich: „Wie ganz hatte ihn der prophetische Sinn verlassen, wenn er sich mit dem Ausblick auf eine Revolution befreunden konnte!“

Ich habe in den Reprints von zeitgenössischen Zeitschriften geblättert und – das passt zu diesem Tag heute – ein Märchen gefunden, ein politisches Märchen; es ist nicht von den Brüdern Grimm, aber es beschreibt, so denke ich, recht anschaulich ihren politischen Gemütszustand in ihrem letzten Lebensjahrzehnt. Es handelt sich um „Die Geschichte von den drei Weisen aus dem Abendlande, ein Evangelium am Weihnachtsabend“, erschienen am 1850 in den „Spitzkugeln“ Nr. 11, einer satirischen, radikal-demokratischen Zeitschrift, die wegen Zensur unter wechselnden Namen erschien. Nun also diese bezeichnende Geschichte über die politischen Zustände in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Hoch- und Endzeit des Schaffens der Brüder Grimm:

„Es begab sich aber zur Zeit des Kaisers Herodes, welcher wohnete am Eispol im Jahre eintausend achthundert und achtundvierzig, dass eine Stimme vom Himmel erscholl, welche den Völkern zurief: „Heute ward euch ein Kindlein geboren, des Name sollt ihr Freiheit heißen!“ – Und die Völker jubelten und steckten dreifarbige Cocarden auf, und tranken eine Menge Punsch und Weißbier auf die Gesundheit des neugeborenen Kindleins, und wickelten es in Windeln, und übergaben es den deutschen Professoren, dass sie es pflegen sollten in der Paulskirche zu Frankfurt am Main.

Die deutschen Professoren aber waren schlechte Wärterinnen, und wussten nicht umzugehen mit einem so zarten Kind, und fütterten es, der Eine mit saurer Weisheitsmilch, der andere mit Gothaer Wurst, der Dritte mit Klößen aus Volkssouveränität und roter Republik 6

7 zusammengeknetet, und … steckten ihm Lutschbeutel „deutsche Einheit“ in den Mund. Und also wurde es verpöppelt. Die Mutter Germania aber weinte, dass ihr Kind so schlechten Eltern anvertraut ward. Und im Träume erschien ihr ein Engel und sprach: „Stehe auf, Germania, nimm den Kind heimlich aus der Wiege und lege dafür einen Wechselbalg hinein, und fliehe mit dem Messias Freiheit über das Meer, denn der Kaiser Herodes hat Boten ausgesandt, und trachtet es zu tödten!“ Und Germania tat also.

Der Kaiser aber wiegelte die Fürsten auf und suchte ihnen plausibel zu machen, dass es sich nicht regieren lasse, so lange das Kindlein Freiheit lebe und beredete sie, dass sie es tödteten. Und alsobald ging ein herrliches Kriegsheer gen Frankfurt, vertrieb die Wärterinnen aus dem Tempel des heiligen Paulus, und sucheten das Kind zu fahen, um es zu tödten. Aber eine kleine Zahl muthiger Männer ergriff den Wechselbald in der Meinung, es sei dies der rechte Messias, und floh damit nach Württemberg. Darob ergrimmte Herodes und befahl Alles zu tödten, was nur einen Gedanken von Freiheit in der Brust trage. Und es begann eine blutige und grausige Metzelei gegen die Demokratie, weil man sie in Verdacht hatte, dass sie das Kind der Freiheit heimlich verberge, um es seiner Zeit auf den Thron zu setzen. Herodes rieb sich nach gethaner Arbeit vergnügt die Hände, und streckte sich auf das Lager, denn er glaubte das Kindlein getödtet.

Aber als er schlief, erschien ihm ein Kobold und raunte ihm grinsend ins Ohr: „Das Kindlein lebt und ist munter und gesund. Es lässt sich durch Gewalt nicht tödten! – Das sprang Herodes wütend auf und schrieb an die Fürsten: „Lasset uns die drei weisesten Männer unserer Länder zusammen treten, dass sie berathen, wie man das Kindlein fein säuberlich um die Ecke bringe … Germania aber hat sich damit geflüchtet in die Herzen der wahren und aufrichtigen Demokraten, und erst wenn das letzte Herz des letzten Demokraten durchstochen ist: Dann wird man das Kindlein Freiheit getödtet haben!“

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Das Kindlein Freiheit – es war das Kindlein, das den Brüdern Grimm zeitlebens angelegen war und das Jacob Grimm, je älter er wurde, in seinen Briefen immer radikaler verteidigte. Die Geschichte vom Kindlein Freiheit und den Gefahren, denen es ausgesetzt ist, spiegelt glaube ich, die politische Haltung der Grimms in ihrem letzten Lebensjahrzehnt. Jacob Grimm war ja selbst einer der Professoren im Paulskirchen-Parlament gewesen, mit denen die eben gehörte Geschichte ihren milden Spott treibt – und er war später nicht mehr so sehr zufrieden mit seinem, wie er meinte, eher milden Wirken dort.

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Was lernen wir von den Brüdern Grimm? Wir lernen, welch wunderbares Werk Gemeinsamkeit schaffen kann. Wir lernen, dass Märchen mehr sind als possierliche Erzählungen. Wer lernen, dass der Schutz der Freiheit eine Lebensaufgabe ist. Wir lernen, wie ein großer Gelehrter wie Jacob Grimm lernte, ein Demokrat zu werden. Wir lernen, wie zwei Gelehrte sich getraut haben, ein gewaltiges Werk anzupacken, von dem sie wussten, dass sie selbst es nicht würden vollenden können..

Dazu am Schluss jetzt noch ein echtes Grimmsches Märchen, eines, das die Phantasie besonders beflügelt, vielleicht auch die demokratische Phantasie, die Phantasie in Arbeit und Leben. Meine Großmutter hat es nicht gern vorgelesen, es gefiel ihr nicht; aber es ist mein Lieblingsmärchen geworden; es ist, wie Märchen es oft sind, sehr drastisch – es ist wenig bekannt; es handelt davon, wie es vermeintlich Schwache miteinander schaffen, sich erfolgreich gegen eine Gefahr zu verteidigen. Die Gefahr, gegen die sie sich verteidigen, wird verkörpert durch einen Herrn Korbes. Mit gefällt dieses Märchen so gut - bis kurz vor dem Schluss vielleicht; den werden wir dann gemeinsam umschreiben.

„Da taten sich also Hähnchen und Hühnchen, der Mühlstein, ein Ei, eine Ente, eine Stecknadel und eine Nähnadel zusammen: Wie sie zu dem Herrn Korbes seinem Haus kamen, war der Herr Korbes nicht da. Die Mäuschen fuhren den Wagen in die Remise, das Hähnchen flog mit dem Hühnchen auf eine Stange, die Katze setzte sich in den Kamin, die Ente in die Bornstande, die Stecknadel setzte sich auf ein Stuhlkissen, die Nähnadel ins Kopfkissen im Bett, der Mühlenstein legte sich über die Türe und das Ei wickelte sich in ein Handtuch. Da kam der Herr Korbes nach Hause, ging an den Kamin und wollte Feuer anmachen. Da warf ihm die Katze Asche ins Gesicht. Er ging geschwind in die Küche und wollte sich abwaschen. Wie er an die Bornstande kam, spritzte ihm die Ente Wasser ins Gesicht. Als er sich abtrocknen wollte, rollte ihm das Ei aus dem Handtuch entgegen, ging entzwei und klebte ihm die Augen zu. Er wollte sich ruhen und setzte sich auf den Stuhl, da stach ihn die Stecknadel. Darüber wurde er ganz verdrießlich und ging ins Bett. Und wie er den Kopf aufs Kissen legte, da stach ihn die Nähnadel. Da war es so bös und toll, dass er zum Haus hinauslaufen wollte. Wie er aber an die Tür kam, sprang der Mühlstein herunter und schlug ihn tot.“

Ein so gewaltsames Ende darf freilich auch nur ein Märchen finden. In der Wirklichkeit hat man bei allem Elan, das Böse zu besiegen, sich

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9 davor zu hüten, über das Ziel hinauszuschießen. Mir geht es in diesem Märchen um den Wert der gemeinsamen Aktion. Der Herr Korbes - er sei die Verkörperung der Gefahren, die einer demokratischen Gesellschaft drohen. Und die Geschichte zeigt, wie man sich gemeinsam dagegen wehrt, was solidarische Aktion vermag. Schreiben wir deshalb das Ende des Grimmschen Märchens um: Der Herr Korbes, Symbol für die Gefahren, die einer Gesellschaft drohen, er soll nicht erschlagen, sondern verjagt werden aus dem Haus der Demokratie - vertreiben wir daraus die Missachtung der Schwachen, die Missachtung des Rechts, den Ausländerhass, den Neonazismus, die Entsolidarisierung und das angebliche Recht des Stärkeren, vertreiben wir die soziale Ungerechtigkeit.

Aber wer ist denn nun mit seinen Möglichkeiten eher die Stecknadel, eher das Ei oder die Ente? Die eigene Rolle und die eigene Aufgabe zu finden, damit fängt der aufrechte Gang, damit fängt die gemeinsame Aktion, damit fängt die Zivilgesellschaft an. Die Brüder Grimm haben ihre Rolle und ihre Aufgabe gekannt. Wir profitieren davon bis heute.

ENDE

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