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1 Die Brüder Grimm, meine Großmutter und die Kraft der Provinz Dankesrede bei der Verleihung des Brüder-Grimm-Preises am 4. Februar 2012 in der Aula der Alten Universität Marburg Von Heribert Prantl Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die journalistische Koryphäen als ihre ersten Lehrer nennen dürfen. Es gibt andere, die haben berühmte Väter. Wieder andere können berichten, dass die Lektüre von Tolstoi, Dickens oder Balzac ihr Erweckungserlebnis gewesen sei. Ich habe mit Maria Prantl lernen dürfen, sie war meine Großmutter, sie war für mich eine Berühmtheit, nicht so sehr, weil sie vierzehn Kinder geboren und ich dementsprechend viele Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen hatte, sondern weil die ebenso resolute wie gütige Bauersfrau spezielle Hobbys hatte: Briefe schreiben, die Bibel lesen und die Grimmschen Märchen. Ich war ihr Schüler. Mit der Bibel und mit den Grimmschen Märchen habe ich, als ich viereinhalb Jahre alt war, lesen gelernt. Aber davon und von meiner Großmutter haben Sie ja nichts gewusst, als Sie mir die Auszeichnung mit dem Brüder- Grimm-Preis zugedacht haben. Ich war deshalb erst einmal ein wenig verdutzt und habe im Textarchiv meiner Süddeutschen Zeitung angerufen. Wenn ich die hohe Ehre habe, einen Preis zu entgegennehmen zu dürfen, der den Namen der Brüder Grimm trägt, dann wollte ich mir schon sicher sein, dass ich auch selbst den Namensträgern die Ehre gegeben habe. Ich wollte also wissen, wie und wie oft in meinen Texten die Brüder Grimm vorkommen. Aus dem SZ-Archiv kam sodann ein überraschend großer Stapel mit Leitartikeln und politischen Essays, der mir den Einfluss von Jacob und Wilhelm Grimm auf meine Kommentierung der deutschen Politik recht deutlich machte: Zu Kohl, Genscher, Strauß und Schäuble, zu Gerhard Schröder und Angela Merkel, zu Edmund Stoiber, Seehofer und Westerwelle gesellen sich da in meinen 25 Jahren als politischer Journalist ganz gern die Frau Holle, der Hans im Glück, der Froschkönig, der Teufel mit den drei goldenen Haaren und der getreue Heinrich. Vielleicht darf ich mit Ihnen schnell durch den genannten Stapel blättern: Der Kommentator Prantl analysierte da, die CSU lasse sich wie Hans im Glück einreden, Karl-Theodor Guttenberg sei das Huhn, das goldene Eier legt. Der SPD warf er vor, sie lasse die Themen, die wie Sterntaler für sie auf der Straße lägen, von der Linkspartei 1 2 aufsammeln. Über Westerwelle schrieb er: „Im Kabinett Merkel spielt er die Rolle, die im Märchen von der Frau Holle die Pechmarie hat." Und Heribert Prantl befand sogar, die Grünen könnten mit Joschka Fischer eine Art Froschkönig aufweisen. Die Art der Nutzanwendung von Märchen, ob im Journalismus oder in der Politik, kann schon einiges aussagen. Es hatte zum Beispiel schon eine gewisse Bedeutung, dass die DDR 1985 zum 200. Geburtstag von Jacob Grimm eine Serie mit Märchen-Briefmarken ausgerechnet mit „Tischlein deck dich“ begann. Die Bundesrepublik aber begann die Markenserie mit den Sterntalern, also mit den Sternen, die vom Himmel fallen und sich in Geld verwandeln. Ich bleibe noch ein wenig bei meiner publizistischen Beziehung zu den Brüdern Grimm: Als Helmut Kohl siebzig Jahre alt wurde, schrieb ich ihm ein großes Albumblatt zum Geburtstag, das ich „Lob der Provinz“ nannte. Es war ein Stück „von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ – also ein Grimmsches Märchen. Er war, so begann ich, furchtlos wie kein anderer, und seine herzhafte Ungeniertheit suchte weit und breit ihresgleichen. Andere, nicht ganz so couragiert wie er, wurden Leiter des örtlichen Fanfarenzuges. Er aber zog hinaus in die Welt, ließ sich lieber mit Tod und Teufel ein als mit dem Alltag – und ging mit ihnen um wie mit Requisiten aus Holz und Pappmache. Mit einer Tatkraft, die schon fast etwas Stumpfes hat, überstand er jede Gefahr. Später, als der furchtlose Bursche älter geworden war, nannte man seine stoische Unerschütterlichkeit „Aussitzen“. Aber dort, wo das Märchen, von dem, der das Fürchten lernen wollte, mit dem Gewinn des Königsreiches endet, ging die reale Geschichte des Helmut Kohl erst richtig los – weil er mehr konnte als der Held des Märchens, dem nie einer hilft, der immer mutterseelenallein ist: Kohl konnte begeistern, er konnte sich Freunde machen; er hatte aber auch die furchtbare Gabe, seine Freunde zu opfern, wenn sie nicht so wollten, wie er wollte, wenn sie sich seinem totalen Zugriff entzogen. Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen: Helmut Kohl hatte die Gabe, aus Erlebnissen, Erinnerungen und Geschichten Geschichte zu machen – aus Geschichten wie dieser, die er einst im Interview mit mir erzählt hat: „Ich habe“, erzählte Kohl, „einmal eine Rede in Metz gehalten. Da sagte mir der dortige Oberbürgermeister, wie ich war er Jahrgang 1930, dass er in Erinnerung hat, wie man in Metz vom Gehsteig runtergehen musste, wenn ein deutscher Offizier kam. Das war im Jahr 1942. Und dann hatte ich gesagt, ich habe eine Erinnerung an 1945 in meiner Heimatstadt, wo es dann umgekehrt war. Wir mußten vom Gehsteig runter, wenn ein französischer Offizier kam. Die beiden Städte liegen gerade zweihundert Kilometer auseinander“. Das sind die Erlebnisse, das sind die Geschichten, die Helmut Kohls Europapolitik geformt haben. Diese Europapolitik war so lebendig, wie es Kohls Erinnerungen waren. Es war seine Welt, die Pfalz, die ihm die Welt erschloss, sie war überall dort, wo er war, er brachte sie mit. 2 3 Das ist die Kraft der Provinz. Europa: das sind nicht die vereinigten Staaten von Europa. Unser Europa: das sind die vereinigten Provinzen - Burgund, Brabant, Bayern, Böhmen, Bosnien, Pommern, Flandern und Asturien, Schlesien, Jütland und die Lombardei, Cork, Navarra, Latium, Piemont und Pannonien. Provinz ist ein gutes Wort, Provinz ist ein reiches Wort. Provinz ist, wo Zusammenhänge überschaubar sind. Die Brüder Grimm waren gesegnet mit der Kraft der Provinz, ihr Interesse an der Sprache war patriotisch und kosmopolitisch zugleich. Die Brüder Grimm hingen an ihrer Heimat im Hessischen, sie hingen an der Provinz „wie die Katzen am Haus“, so schrieb Carl Zuckmayer in seiner Monographie über die Brüder Grimm. Jacob Grimm hat seine Antrittsvorlesung in Göttingen, vom heimatlichen Kassel für den Autofahrer heute nicht viel weiter als einige Zigarettenlängen entfernt (wie der Spiegel einmal schrieb), über das „Heimweh“ gehalten. Und für die Anhänglichkeit der Brüder zueinander, ihre Abhängigkeit voneinander, gibt es vielleicht im Märchen Beispiele, aber nicht in der deutschen Geistesgeschichte. Die Brüder Grimm lebten in der Provinz, in Kassel, in Marburg, in Göttingen, bevor der Verfassungsbruch des Königs von Hannover, der „monarchische Staatsstreich“ (Thomas Nipperdey) des Königs Ernst August sie nach Berlin vertrieb. In der Provinz erschienen die Bände eins, zwei und drei der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen, in der Provinz erschienen die vier Bände der deutschen Grammatik, die ein Meilenstein der historisch- vergleichenden Sprachwissenschaft ist; in der Provinz erschienen die Deutschen Heldensagen von Wilhelm Grimm, in der Provinz entstand der gewaltige Plan zum gewaltigen „Deutschen Wörterbuch`, der dann in Berlin ausgeführt wurde – 1854 erschien der erste Band; abgeschlossen wurde das 33 Bände zählende Werk im Jahr 1971 mit dem Erscheinen des Quellenverzeichnisses; an der Vollendung dieses großen Werks arbeiteten die Akademien der zwei deutschen Staaten gemeinsam. So weit, weit über hundert Jahre weiter, reichte die Kraft der Brüder Grimm, sie brachten es fertig, ihr Werk brachte es fertig, dass die verfeindeten deutschen Bruderstaaten auch in Zeiten des kalten Kriegs zusammenarbeiteten, dass sie bei der Arbeit am großen Werk brüderlich waren. Das ist die Kraft der Provinz. Und weil wir schon dabei sind: Das große Viergestirn - Wieland, Goethe, Herder und Schiller - wirkte in Weimar, also in der Provinz. Es gibt eine Weimarer Klassik, keine Berliner Klassik. Die Märchen der Brüder Grimm: sie spielen in der Provinz, die Provinz ist sowohl hortus insectorum als auch ein geistiger Raum . Wenn einer von dort auszieht, das Fürchten zu lernen – mit den Erfahrungen, die er dort gemacht hat, kann er auch die Gefahren der 3 4 Nicht-Provinz bestehen. Die Märchen sind der Hort der Provinz, die Kinder- und Hausmärchen sind sein Schatz. Die Brüder Grimm haben diese Schätze gesammelt und bearbeitet – man muss aufhören damit, die Grimms als Märchenonkel der Nation in einer biedermeierlichen Gelehrtenidylle zu verorten. Erstens weil in den Märchen mehr steckt als Idylle, zweitens weil die Grimms mit dem Spitzweg-Image wenig zu tun haben, das ihnen verpasst worden ist. Man hat die Grimms romantisch verniedlicht, man hat sie entpolitisiert, verbiedermeiert, man hat sie zu weltfremden Stubengelehrten gemacht. Stubengelehrte hätten nicht aufgemuckt gegen den König. Die Grimms waren keine Politiker, das war nicht ihr Beruf und nicht ihre Berufung; aber sie waren politische Professoren. Als der König von Hannover die Grimms zwingen wollte, ihren Eid auf die Verfassung zu brechen, da sprach Jacob Grimm das schöne Wort: „Wenn die Wissenschaft hier kein Gewissen mehr haben darf, muss sie sich eine andere Heimstatt suchen“. Das ist kein Satz von einem biedermeierlichen Mucker. Das ist ein politischer Satz. Das ist „die Entstehung der Germanistik aus dem Geist der Demokratie“, wie 1996 die Gedenkveranstaltung der Universität Frankfurt überschrieben war, mit der der 150. Jahrestag der ersten Germanistenversammlung von 1846 gefeiert wurde. Die Brüder Grimm waren zwei der Göttinger Sieben – dieser sieben Professoren, die am Beginn der deutschen