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2 3 Brüder Grimm 4 5 Kinder- und Hausmärchen 6 7 Ausgabe letzter Hand 8 mit den Originalanmerkungen 9 der Brüder Grimm 10

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12 Mit einem Anhang sämtlicher,

13 nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen

14 und Herkunftsnachweisen herausgegeben

15 von Heinz Rölleke

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2 3 Brüder Grimm 4 5 Kinder- und Hausmärchen 6 7 Band 1 8 9 Märchen Nr. 1–86 10

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2 3 1980, 2010 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, 4 Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

5 Einband- und Schubergestaltung: Anja Grimm Gestaltung Bild: Armgart von Arnim: Frankreich und Deutschland (1843). 6 Aquarell und Deckfarbenmalerei über Bleistift, mit Silber- und Goldhöhung. 7 © Freies Deutsches Hochstift / Frankfurter Goethe-Museum 8 Druck und buchbinderische Verarbeitung: GGP Media GmbH, 9 Karl-Marx-Straße 24, 07381 Pößneck

10 Printed in Germany 2018 reclam ist eine eingetragene Marke 11 der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart 12 Band 1–3 in Kassette: isbn 978-3-15-030048-0 13 14 Auch als E-Book erhältlich 15

16 www.reclam.de

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1 Inhalt 2 3 An die Frau Bettina von Arnim 11 4 Vorrede (1819; 1837; 1840; 1843; 1850; 1857) 15 5 6 1. Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich 29 7 2 Katze und Maus in Gesellschaft 33 8 3. Marienkind 35 9 4. Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen 41 10 5. Der Wolf und die sieben jungen Geißlein 50 11 6. Der treue Johannes 53 12 7. Der gute Handel 62 13 8. Der wunderliche Spielmann 66 14 9. Die zwölf Brüder 69 15 10. Das Lumpengesindel 75 16 11. Brüderchen und Schwesterchen 77 17 12. 84 18 13. Die drei Männlein im Walde 88 19 14. Die drei Spinnerinnen 94 20 15. Hänsel und Gretel 96 21 16. Die drei Schlangenblätter 104 22 17. Die weiße Schlange 108 23 18. Strohhalm, Kohle und Bohne 113 24 19. Von dem Fischer un syner Fru 114 25 20. Das tapfere Schneiderlein 122 26 21. Aschenputtel 131 27 22. Das Rätsel 139 28 23. Von dem Mäuschen, Vögelchen und der Bratwurst 142 29 24. 144 30 25. Die sieben Raben 147 31 26. Rotkäppchen 150 Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen 8.7.14 Z:/UB/Pageone/030048_Grimm_Kinder-Hausmaerchen/2140422-Band1.pod Seite 6

1 27. Die Bremer Stadtmusikanten 154 2 28. Der singende Knochen 157 3 29. Der Teufel mit den drei goldenen Haaren 159 4 30. Läuschen und Flöhchen 166 5 31. Das Mädchen ohne Hände 168 6 32. Der gescheite Hans 175 7 33. Die drei Sprachen 178 8 34. Die kluge Else 180 9 35. Der Schneider im Himmel 184 10 36. Tischchen deck dich, Goldesel, und Knüppel aus dem Sack 186 11 37. Daumesdick 197 12 38. Die Hochzeit der Frau Füchsin 203 13 39. Die Wichtelmänner 206 14 40. Der Räuberbräutigam 209 15 41. Herr Korbes 213 16 42. Der Herr Gevatter 215 17 43. Frau Trude 216 18 44. Der Gevatter Tod 217 19 45. Daumerlings Wanderschaft 221 20 46. Fitchers Vogel 225 21 47. Von dem Machandelboom 229 22 48. Der alte Sultan 238 23 49. Die sechs Schwäne 240 24 50. Dornröschen 246 25 51. Fundevogel 250 26 52. König Drosselbart 252 27 53. Sneewittchen 257 28 54. Der Ranzen, das Hütlein und das Hörnlein 266 29 55. Rumpelstilzchen 273 30 56. Der Liebste Roland 276 31 57. Der goldene Vogel 280 Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen 8.7.14 Z:/UB/Pageone/030048_Grimm_Kinder-Hausmaerchen/2140422-Band1.pod Seite 7

1 58. Der Hund und der Sperling 288 2 59. Der Frieder und das Catherlieschen 291 3 60. Die zwei Brüder 298 4 61. Das Bürle 320 5 62. Die Bienenkönigin 325 6 63. Die drei Federn 328 7 64. Die goldene Gans 331 8 65. Allerleirauh 335 9 66. Häsichenbraut 341 10 67. Die zwölf Jäger 342 11 68. De Gaudeif un sien Meester 345 12 69. Jorinde und Joringel 347 13 70. Die drei Glückskinder 350 14 71. Sechse kommen durch die ganze Welt 353 15 72. Der Wolf und der Mensch 358 16 73. Der Wolf und der Fuchs 359 17 74. Der Fuchs und die Frau Gevatterin 361 18 75. Der Fuchs und die Katze 362 19 76. Die Nelke 363 20 77. Das kluge Gretel 368 21 78. Der alte Großvater und der Enkel 371 22 79. Die Wassernixe 371 23 80. Von dem Tode des Hühnchens 372 24 81. Bruder Lustig 374 25 82. De Spielhansl 385 26 83. Hans im Glück 388 27 84. Hans heiratet 393 28 85. Die Goldkinder 395 29 86. Der Fuchs und die Gänse 400 30

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2 3 Sage vergeht nie ganz, die verbreitete, welche der Völker 4 redende Lippe umschwebt: denn sie ist unsterbliche Göttin. 5 6 Hesiod, 763 7

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1 An die Frau Bettina von Arnim. 2 3 Liebe Bettine, dieses Buch kehrt abermals bei Ihnen ein, wie eine 4 ausgeflogene Taube die Heimat wieder sucht und sich da friedlich 5 sonnt. Vor fünf und zwanzig Jahren hat es Ihnen Arnim zuerst, grün 6 eingebunden mit goldenem Schnitt, unter die Weihnachtsgeschenke 7 gelegt. Uns freute dass er es so wert hielt, und er konnte uns einen 8 schönern Dank nicht sagen. Er war es, der uns, als er in jener Zeit ei- 9 nige Wochen bei uns in Cassel zubrachte, zur Herausgabe angetrie- 10 ben hatte. Wie nahm er an allem Teil, was eigentümliches Leben 11 zeigte: auch das kleinste beachtete er, wie er ein grünes Blatt, eine 12 Feldblume mit besonderem Geschick anzufassen und sinnvoll zu 13 betrachten wusste. Von unsern Sammlungen gefielen ihm diese 14 Märchen am besten. Er meinte wir sollten nicht zu lange damit zu- 15 rückhalten, weil bei dem Streben nach Vollständigkeit die Sache am 16 Ende liegen bliebe. »Es ist alles schon so reinlich und sauber ge- 17 schrieben« fügte er mit gutmütiger Ironie hinzu, denn bei den küh- 18 nen, nicht sehr lesbaren Zügen seiner Hand schien er selbst nicht 19 viel auf deutliche Schrift zu halten. Im Zimmer auf und abgehend las 20 er die einzelnen Blätter, während ein zahmer Kanarienvogel, in zier- 21 licher Bewegung mit den Flügeln sich im Gleichgewicht haltend, auf 22 seinem Kopfe saß, in dessen vollen Locken es ihm sehr behaglich zu 23 sein schien. Dies edle Haupt ruht nun schon seit Jahren im Grab, 24 aber noch heute bewegt mich die Erinnerung daran, als hätte ich ihn 25 erst gestern zum letztenmal gesehen, als stände er noch auf grüner 26 Erde wie ein Baum, der seine Krone in der Morgensonne schüttelt. 27 Ihre Kinder sind groß geworden und bedürfen der Märchen nicht 28 mehr: Sie selbst haben schwerlich Veranlassung sie wieder zu lesen, 29 aber die unversiegbare Jugend Ihres Herzens nimmt doch das Ge- 30 schenk treuer Freundschaft und Liebe gerne von uns an. 31

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1 Mit diesen Worten sendete ich Ihnen das Buch vor drei Jahren 2 aus Göttingen, heute sende ich es Ihnen wieder aus meinem Ge- 3 burtslande, wie das erstemal. Ich konnte in Göttingen aus meinem 4 Arbeitszimmer nur ein paar über die Dächer hinausragende Linden 5 sehen, die Heyne hinter seinem Hause gepflanzt hatte, und die mit 6 dem Ruhm der Universität aufgewachsen waren: ihre Blätter waren 7 gelb und wollten abfallen, als ich am 3ten Oktober 1838 meine Woh- 8 nung verließ; ich glaube nicht dass ich sie je wieder im Frühlings- 9 schmuck erblicke. Ich musste noch einige Wochen dort verweilen 10 und brachte sie in dem Hause eines Freundes zu, im Umgange mit 11 denen, welche mir lieb geworden und lieb geblieben waren. Als ich 12 abreiste wurde mein Wagen von einem Zug aufgehalten: es war die 13 Universität, die einer Leiche folgte. Ich langte in der Dunkelheit hier 14 an und trat in dasselbe Haus, das ich vor acht Jahren in bitterer Kälte 15 verlassen hatte: wie war ich überrascht als ich Sie, liebe Bettine, fand 16 neben den Meinigen sitzend, Beistand und Hilfe meiner kranken 17 Frau leistend. Seit jener verhängnisvollen Zeit, die unser ruhiges Le- 18 ben zerstörte, haben Sie mit warmer Treue an unserm Geschick Teil 19 genommen, und ich empfinde diese Teilnahme ebenso wohltätig als 20 die Wärme des blauen Himmels, der jetzt in mein Zimmer herein 21 blickt, wo ich die Sonne wieder am Morgen aufsteigen und ihre 22 Bahn über die Berge vollenden sehe, unter welchen der Fluss glän- 23 zend herzieht; die Düfte der Orangen und Linden dringen aus dem 24 Park herauf, und ich fühle mich in Liebe und Hass jugendlich er- 25 frischt. Kann ich eine bessere Zeit wünschen um mit diesen Mär- 26 chen mich wieder zu beschäftigen? hatte ich doch auch im Jahre 1813 27 an dem zweiten Band geschrieben, als wir Geschwister von der Ein- 28 quartierung bedrängt waren und russische Soldaten neben in dem 29 Zimmer lärmten, aber damals war das Gefühl der Befreiung der 30 Frühlingshauch, der die Brust erweiterte und jede Sorge aufzehrte. 31

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1 Diesmal kann ich Ihnen, liebe Bettine, das Buch, das sonst aus 2 der Ferne kam, selbst in die Hand geben. Sie haben uns ein Haus au- 3 ßerhalb der Mauern ausgesucht, wo am Rande des Waldes eine neue 4 Stadt heranwächst, von den Bäumen geschützt, von grünendem Ra- 5 sen, Rosenhügeln und Blumengewinden umgeben, von dem ras- 6 selnden Lärm noch nicht erreicht. Als ich in dem heißen Sommer 7 des vorigen Jahres während der Morgenfrühe in dem Schatten der 8 Eichen auf und ab wandelte, und die kühlende Luft allmählig den 9 Druck löste, der von einer schweren Krankheit auf mir lastete, so 10 empfand ich dankbar wie gut Sie auch darin für uns gesorgt hatten. 11 Ich bringe Ihnen nicht eins von den prächtigen Gewächsen, die hier 12 im Tiergarten gepflegt werden, auch keine Goldfische aus dem dun- 13 keln Wasser, über dem das griechische Götterbild lächelnd steht: 14 warum aber sollte ich Ihnen diese unschuldigen Blüten, die immer 15 wieder frisch aus der Erde dringen, nicht nochmals darreichen? 16 Habe ich doch selbst gesehen dass Sie vor einer einfachen Blume still 17 standen und mit der Lust der ersten Jugend in ihren Kelch schauten. 18 19 Berlin im Frühjahr 1843. 20 21

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1 Vorrede. 2 3 Wir finden es wohl, wenn von Sturm oder anderem Unglück, das 4 der Himmel schickt, eine ganze Saat zu Boden geschlagen wird, dass 5 noch bei niedrigen Hecken oder Sträuchen, die am Wege stehen, ein 6 kleiner Platz sich gesichert hat, und einzelne Ähren aufrecht geblie- 7 ben sind. Scheint dann die Sonne wieder günstig, so wachsen sie 8 einsam und unbeachtet fort: keine frühe Sichel schneidet sie für die 9 großen Vorratskammern, aber im Spätsommer, wenn sie reif und 10 voll geworden, kommen arme Hände, die sie suchen, und Ähre an 11 Ähre gelegt, sorgfältig gebunden und höher geachtet, als sonst ganze 12 Garben, werden sie heim getragen, und winterlang sind sie Nah- 13 rung, vielleicht auch der einzige Samen für die Zukunft. 14 So ist es uns vorgekommen, wenn wir gesehen haben wie von so 15 vielem, was in früherer Zeit geblüht hat, nichts mehr übrig geblie- 16 ben, selbst die Erinnerung daran fast ganz verloren war, als unter 17 dem Volke Lieder, ein paar Bücher, Sagen, und diese unschuldigen 18 Hausmärchen. Die Plätze am Ofen, der Küchenherd, Bodentreppen, 19 Feiertage noch gefeiert, Triften und Wälder in ihrer Stille, vor allem 20 die ungetrübte Phantasie sind die Hecken gewesen, die sie gesichert 21 und einer Zeit aus der andern überliefert haben. 22 Es war vielleicht gerade Zeit, diese Märchen festzuhalten, da die- 23 jenigen, die sie bewahren sollen, immer seltner werden. Freilich, die 24 sie noch wissen, wissen gemeinlich auch recht viel, weil die Men- 25 schen ihnen absterben, sie nicht den Menschen: aber die Sitte selber 26 nimmt immer mehr ab, wie alle heimlichen Plätze in Wohnungen 27 und Gärten, die vom Großvater bis zum Enkel fortdauerten, dem 28 stätigen Wechsel einer leeren Prächtigkeit weichen, die dem Lächeln 29 gleicht, womit man von diesen Hausmärchen spricht, welches vor- 30 nehm aussieht und doch wenig kostet. Wo sie noch da sind, leben 31 sie so, dass man nicht daran denkt, ob sie gut oder schlecht sind,

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1 poetisch oder für gescheite Leute abgeschmackt: man weiß sie und 2 liebt sie, weil man sie eben so empfangen hat, und freut sich daran, 3 ohne einen Grund dafür. So herrlich ist lebendige Sitte, ja auch das 4 hat die Poesie mit allem Unvergänglichen gemein, dass man ihr 5 selbst gegen einen andern Willen geneigt sein muss. Leicht wird 6 man übrigens bemerken dass sie nur da gehaftet hat, wo überhaupt 7 eine regere Empfänglichkeit für Poesie, oder eine noch nicht von den 8 Verkehrtheiten des Lebens ausgelöschte Phantasie vorhanden war. 9 Wir wollen in gleichem Sinne diese Märchen nicht rühmen oder gar 10 gegen eine entgegengesetzte Meinung verteidigen: ihr bloßes Da- 11 sein reicht hin sie zu schützen. Was so mannigfach und immer wie- 12 der von neuem erfreut bewegt und belehrt hat, das trägt seine Not- 13 wendigkeit in sich und ist gewiss aus jener ewigen Quelle gekom- 14 men, die alles Leben betaut, und wenn es auch nur ein einziger 15 Tropfen wäre, den ein kleines, zusammenhaltendes Blatt gefasst hat, 16 so schimmert er doch in dem ersten Morgenrot. 17 Darum geht innerlich durch diese Dichtungen jene Reinheit, um 18 derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen: sie ha- 19 ben gleichsam dieselben blaulichweißen makellosen glänzenden 20 Augen*, die nicht mehr wachsen können, während die andern Glie- 21 der noch zart, schwach und zum Dienste der Erde ungeschickt sind. 22 Das ist der Grund, warum wir durch unsere Sammlung nicht bloß 23 der Geschichte der Poesie und Mythologie einen Dienst erweisen 24 wollten, sondern es zugleich Absicht war, dass die Poesie selbst, die 25 darin lebendig ist, wirke und erfreue, wen sie erfreuen kann, also 26 auch, dass es als ein Erziehungsbuch diene. Wir suchen für ein sol- 27 ches nicht jene Reinheit, die durch ein ängstliches Ausscheiden des- 28 sen, was Bezug auf gewisse Zustände und Verhältnisse hat, wie sie 29

30 * in die sich Kinder selbst so gern greifen (Fischarts Gargantua 129b, 131b) und 31 die sie sich holen möchten.

16 Vorrede Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen 8.7.14 Z:/UB/Pageone/030048_Grimm_Kinder-Hausmaerchen/2140422-Band1.pod Seite 17

1 täglich vorkommen und auf keine Weise verborgen bleiben können, 2 erlangt wird, und wobei man zugleich in der Täuschung ist, dass was 3 in einem gedruckten Buche ausführbar, es auch im wirklichen Leben 4 sei. Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit einer geraden nichts 5 Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung. Dabei haben wir je- 6 den für das Kinderalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen 7 Auflage sorgfältig gelöscht. Sollte man dennoch einzuwenden ha- 8 ben dass Eltern eins und das andere in Verlegenheit setze und ihnen 9 anstößig vorkomme, so dass sie das Buch Kindern nicht geradezu in 10 die Hände geben wollten, so mag für einzelne Fälle die Sorge be- 11 gründet sein, und sie können dann leicht eine Auswahl treffen: im 12 Ganzen, das heißt für einen gesunden Zustand, ist sie gewiss unnö- 13 tig. Nichts besser kann uns verteidigen als die Natur selber welche 14 diese Blumen und Blätter in solcher Farbe und Gestalt hat wachsen 15 lassen; wem sie nicht zuträglich sind nach besonderen Bedürfnissen, 16 der kann nicht fordern dass sie deshalb anders gefärbt und geschnit- 17 ten werden sollen. Oder auch, Regen und Tau fällt als eine Wohltat 18 für alles herab, was auf der Erde steht, wer seine Pflanzen nicht hin- 19 einzustellen getraut, weil sie zu empfindlich sind und Schaden neh- 20 men könnten, sondern sie lieber in der Stube mit abgeschrecktem 21 Wasser begießt, wird doch nicht verlangen dass Regen und Tau dar- 22 um ausbleiben sollen. Gedeihlich aber kann alles werden was natür- 23 lich ist, und danach sollen wir trachten. Übrigens wissen wir kein 24 gesundes und kräftiges Buch, welches das Volk erbaut hat, wenn wir 25 die Bibel obenan stellen, wo solche Bedenklichkeiten nicht in un- 26 gleich größerem Maß einträten; der rechte Gebrauch aber findet 27 nichts Böses heraus, sondern, wie ein schönes Wort sagt, ein Zeug- 28 nis unseres Herzens. Kinder deuten ohne Furcht in die Sterne, wäh- 29 rend andere, nach dem Volksglauben, die Engel damit beleidigen. 30 Gesammelt haben wir an diesen Märchen seit etwa dreizehn Jah- 31 ren, der erste Band, welcher im Jahre 1812 erschien, enthielt meist

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1 was wir nach und nach in Hessen, in den Main- und Kinziggegenden 2 der Grafschaft Hanau, wo wir her sind, von mündlichen Überliefe- 3 rungen aufgefasst hatten. Der zweite Band wurde im Jahre 1814 be- 4 endigt und kam schneller zu Stande, teils weil das Buch selbst sich 5 Freunde verschafft hatte, die es nun, wo sie bestimmt sahen was und 6 wie es gemeint war, unterstützten, teils weil uns das Glück begüns- 7 tigte, das Zufall scheint, aber gewöhnlich beharrlichen und fleißigen 8 Sammlern beisteht. Ist man erst gewöhnt auf dergleichen zu achten, 9 so begegnet es doch häufiger als man sonst glaubt, und das ist über- 10 haupt mit Sitten und Eigentümlichkeiten, Sprüchen und Scherzen 11 des Volkes der Fall. Die schönen plattdeutschen Märchen aus dem 12 Fürstentum Münster und Paderborn verdanken wir besonderer Güte 13 und Freundschaft: das zutrauliche der Mundart bei der innern Voll- 14 ständigkeit zeigt sich hier besonders günstig. Dort, in den altbe- 15 rühmten Gegenden deutscher Freiheit, haben sich an manchen Or- 16 ten die Sagen und Märchen als eine fast regelmäßige Vergnügung der 17 Feiertage erhalten, und das Land ist noch reich an ererbten Gebräu- 18 chen und Liedern. Da, wo die Schrift teils noch nicht durch Einfüh- 19 rung des Fremden stört oder durch Überladung abstumpft, teils, 20 weil sie sichert, dem Gedächtnis noch nicht nachlässig zu werden 21 gestattet, überhaupt bei Völkern, deren Literatur unbedeutend ist, 22 pflegt sich als Ersatz die Überlieferung stärker und ungetrübter zu 23 zeigen. So scheint auch Niedersachsen mehr als alle andere Gegen- 24 den behalten zu haben. Was für eine viel vollständigere und inner- 25 lich reichere Sammlung wäre im 15ten Jahrhundert, oder auch noch 26 im 16ten zu Hans Sachsens und Fischarts Zeiten in Deutschland 27 möglich gewesen.* 28 * Merkwürdig ist dass bei den Galliern nicht erlaubt war die überlieferten Ge- 29 sänge aufzuschreiben, während man sich der Schrift in allen übrigen Angele- 30 genheiten bediente. Cäsar, der dies anmerkt (de B. G. VI 4), glaubt dass man da- 31 mit habe verhüten wollen, im Vertrauen auf die Schrift, leichtsinnig im Erler-

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1 Einer jener guten Zufälle aber war es, dass wir aus dem bei Cassel 2 gelegenen Dorfe Niederzwehrn eine Bäuerin kennen lernten, die 3 uns die meisten und schönsten Märchen des zweiten Bandes erzähl- 4 te. Die Frau Viehmännin war noch rüstig und nicht viel über fünfzig 5 Jahre alt. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Festes, Verständiges und 6 Angenehmes, und aus großen Augen blickte sie hell und scharf.* Sie 7 bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtnis und sagte wohl selbst 8 dass diese Gabe nicht jedem verliehen sei und mancher gar nichts im 9 Zusammenhange behalten könne. Dabei erzählte sie bedächtig, si- 10 cher und ungemein lebendig, mit eigenem Wohlgefallen daran, erst 11 ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so dass 12 man ihr mit einiger Übung nachschreiben konnte. Manches ist auf 13 diese Weise wörtlich beibehalten und wird in seiner Wahrheit nicht 14 zu verkennen sein. Wer an leichte Verfälschung der Überlieferung, 15 Nachlässigkeit bei Aufbewahrung und daher an Unmöglichkeit lan- 16 ger Dauer als Regel glaubt, der hätte hören müssen, wie genau sie 17 immer bei der Erzählung blieb und auf ihre Richtigkeit eifrig war; sie 18 änderte niemals bei einer Wiederholung etwas in der Sache ab und 19 besserte ein Versehen, sobald sie es bemerkte, mitten in der Rede 20 gleich selber. Die Anhänglichkeit an das Überlieferte ist bei Men- 21 schen, die in gleicher Lebensart unabänderlich fortfahren stärker, als 22 wir, zur Veränderung geneigt, begreifen. Eben darum hat es, so viel- 23 fach bewährt, eine gewisse eindringliche Nähe und innere Tüchtig- 24 nen und Behalten der Lieder zu werden. Auch Thamus hält dem Theuth (im 25 Phädrus des Plato) bei Erfindung der Buchstaben den Nachteil vor, den die 26 Schrift auf die Ausbildung des Gedächtnisses haben würde. 27 * Unser Bruder Ludwig Grimm hat eine recht ähnliche und natürliche Zeich-

28 nung von ihr radiert, die man in der Sammlung seiner Blätter (bei Weigel in Leipzig) findet. Durch den Krieg geriet die gute Frau in Elend und Unglück, das 29 wohltätige Menschen lindern aber nicht heben konnten. Der Vater ihrer zahlrei- 30 chen Enkel starb am Nervenfieber, die Waisen brachten Krankheit und die 31 höchste Not in ihre schon arme Hütte. Sie ward siech und starb am 17. Nov. 1816.

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1 keit, zu der Anderes, das äußerlich viel glänzender erscheinen kann, 2 nicht so leicht gelangt. Der epische Grund der Volksdichtung gleicht 3 dem durch die ganze Natur in mannigfachen Abstufungen verbrei- 4 teten Grün, das sättigt und sänftigt, ohne je zu ermüden. 5 Wir erhielten außer den Märchen des zweiten Bandes auch 6 reichliche Nachträge zu dem ersten, und bessere Erzählungen vieler 7 dort gelieferten gleichfalls aus jener oder andern ähnlichen Quellen. 8 Hessen hat als ein bergichtes, von großen Heerstraßen abseits lie- 9 gendes und zunächst mit dem Ackerbau beschäftigtes Land den Vor- 10 teil, dass es alte Sitten und Überlieferungen besser aufbewahren 11 kann. Ein gewisser Ernst, eine gesunde, tüchtige und tapfere Gesin- 12 nung, die von der Geschichte nicht wird unbeachtet bleiben; selbst 13 die große und schöne Gestalt der Männer in den Gegenden, wo der 14 eigentliche Sitz der Chatten war, haben sich auf diese Art erhalten 15 und lassen den Mangel an dem Bequemen und Zierlichen, den man 16 im Gegensatz zu andern Ländern, etwa aus Sachsen kommend, 17 leicht bemerkt, eher als einen Gewinn betrachten. Dann empfindet 18 man auch dass die zwar rauheren aber oft ausgezeichnet herrlichen 19 Gegenden, wie eine gewisse Strenge und Dürftigkeit der Lebenswei- 20 se, zu dem Ganzen gehören. Überhaupt müssen die Hessen zu den 21 Völkern unseres Vaterlandes gezählt werden, die am meisten wie die 22 alten Wohnsitze so auch die Eigentümlichkeit ihres Wesens durch 23 die Veränderung der Zeit festgehalten haben. 24 Was wir nun bisher für unsere Sammlung gewonnen hatten, 25 wollten wir bei dieser zweiten Auflage dem Buch einverleiben. Da- 26 her ist der erste Band fast ganz umgearbeitet, das Unvollständige er- 27 gänzt, manches einfacher und reiner erzählt, und nicht viel Stücke 28 werden sich finden, die nicht in besserer Gestalt erscheinen. Es ist 29 noch einmal geprüft, was verdächtig schien, d. h. was etwa hätte 30 fremden Ursprungs oder durch Zusätze verfälscht sein können, und 31 dann alles ausgeschieden. Dafür sind die neuen Stücke, worunter

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1 wir auch Beiträge aus Östreich und Deutschböhmen zählen, einge- 2 rückt, so dass man manches bisher ganz Unbekannte finden wird. 3 Für die Anmerkungen war uns früher nur ein enger Raum gegeben, 4 bei dem erweiterten Umfange des Buchs konnten wir für jene nun 5 einen eigenen dritten Band bestimmen. Hierdurch ist es möglich ge- 6 worden, nicht nur das, was wir früher ungern zurück behielten, mit- 7 zuteilen, sondern auch neue, hierher gehörige Abschnitte zu liefern, 8 die, wie wir hoffen, den wissenschaftlichen Wert dieser Überliefe- 9 rungen noch deutlicher machen werden. 10 Was die Weise betrifft, in der wir hier gesammelt haben, so ist es 11 uns zuerst auf Treue und Wahrheit angekommen. Wir haben näm- 12 lich aus eigenen Mitteln nichts hinzugesetzt, keinen Umstand und 13 Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiederge- 14 geben, wie wir ihn empfangen hatten; dass der Ausdruck und die 15 Ausführung des Einzelnen großenteils von uns herrührt versteht 16 sich von selbst, doch haben wir jede Eigentümlichkeit, die wir be- 17 merkten, zu erhalten gesucht, um auch in dieser Hinsicht der 18 Sammlung die Mannigfaltigkeit der Natur zu lassen. Jeder, der sich 19 mit ähnlicher Arbeit befasst, wird es übrigens begreifen, dass dies 20 kein sorgloses und unachtsames Auffassen kann genannt werden, 21 im Gegenteil ist Aufmerksamkeit und ein Takt nötig, der sich erst 22 mit der Zeit erwirbt, um das Einfachere, Reinere und doch in sich 23 Vol[l]kommnere von dem Verfälschten zu unterscheiden. Verschie- 24 dene Erzählungen haben wir, sobald sie sich ergänzten und zu ihrer 25 Vereinigung keine Widersprüche wegzuschneiden waren, als Eine 26 mitgeteilt, wenn sie aber abwichen, wo dann jede gewöhnlich ihre 27 eigentümlichen Züge hatte, der besten den Vorzug gegeben und die 28 andern für die Anmerkungen aufbewahrt. Diese Abweichungen 29 nämlich erschienen uns merkwürdiger, als denen, welche darin bloß 30 Abänderungen und Entstellungen eines einmal dagewesenen Urbil- 31 des sehen, da es im Gegenteil vielleicht nur Versuche sind, einem im

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1 Geist bloß vorhandenen, unerschöpflichen, auf mannigfachen We- 2 gen sich zu nähern. Wiederholungen einzelner Sätze, Züge und Ein- 3 leitungen, sind wie epische Zeilen zu betrachten, die, sobald der Ton 4 sich rührt, der sie anschlägt, immer wiederkehren, und in einem an- 5 dern Sinne eigentlich nicht zu verstehen. 6 Eine entschiedene Mundart haben wir gerne beibehalten. Hätte 7 es überall geschehen können, so würde die Erzählung ohne Zweifel 8 gewonnen haben. Es ist hier ein Fall wo die erlangte Bildung, Fein- 9 heit und Kunst der Sprache zu Schanden wird und man fühlt dass 10 eine geläuterte Schriftsprache, so gewandt sie in allem übrigen sein 11 mag, heller und durchsichtiger aber auch schmackloser geworden ist 12 und nicht mehr so fest dem Kerne sich anschließt. Schade, dass die 13 niederhessische Mundart in der Nähe von Cassel, als in den Gränz- 14 punkten des alten sächsischen und fränkischen Hessengaues, eine 15 unbestimmte und nicht reinlich aufzufassende Mischung von Nie- 16 dersächsischem und Hochdeutschem ist. 17 In diesem Sinne gibt es unsers Wissens sonst keine Sammlungen 18 von Märchen in Deutschland. Entweder waren es nur ein paar zufällig 19 erhaltene, die man mitteilte, oder man betrachtete sie bloß als rohen 20 Stoff, um größere Erzählungen daraus zu bilden. Gegen solche Bear- 21 beitungen erklären wir uns geradezu. Zwar ist es unbezweifelt, dass 22 in allem lebendigen Gefühl für eine Dichtung ein poetisches Bilden 23 und Fortbilden liegt, ohne welches auch eine Überlieferung etwas 24 Unfruchtbares und Abgestorbenes wäre, ja eben dies ist mit Ursache, 25 warum jede Gegend nach ihrer Eigentümlichkeit, jeder Mund anders 26 erzählt. Aber es ist doch ein großer Unterschied zwischen jenem halb 27 unbewussten, dem stillen Forttreiben, der Pflanzen ähnlichen und 28 von der unmittelbaren Lebensquelle getränkten Entfalten, und einer 29 absichtlichen, alles nach Willkür zusammenknüpfenden und auch 30 wohl leimenden Umänderung: diese aber ist es, welche wir nicht bil- 31 ligen können. Die einzige Richtschnur wäre dann die von seiner Bil-

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1 dung abhängende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, 2 während bei jenem natürlichen Fortbilden der Geist des Volkes in 3 dem Einzelnen waltet und einem besondern Gelüsten vorzudringen 4 nicht erlaubt. Räumt man den Überlieferungen wissenschaftlichen 5 Wert ein, das heißt gibt man zu dass sich in ihnen Anschauungen und 6 Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst dass dieser 7 Wert durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet 8 wird. Allein die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn wo lebt sie wirk- 9 lich als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der Tat kühlt und erfrischt, 10 oder wärmt und stärkt? Aber jede Bearbeitung dieser Sagen, welche 11 ihre Einfachheit, Unschuld und prunklose Reinheit wegnimmt, reißt 12 sie aus dem Kreise, welchem sie angehören, und wo sie ohne Über- 13 druss immer wieder begehrt werden. Es kann sein, und dies ist der 14 beste Fall, dass man Feinheit, Geist, besonders Witz, der die Lächer- 15 lichkeit der Zeit mit hineinzieht, ein zartes Ausmalen des Gefühls, 16 wie es einer von der Poesie aller Völker genährten Bildung nicht all- 17 zuschwer fällt, dafür gibt: aber diese Gabe hat doch mehr Schimmer 18 als Nutzen, sie denkt an das einmalige Anhören oder Lesen, an das 19 sich unsere Zeit gewöhnt hat, und sammelt und spitzt dafür die Rei- 20 ze. Doch in der Wiederholung ermüdet uns der Witz, und das Dau- 21 ernde ist etwas Ruhiges Stilles und Reines. Die geübte Hand solcher 22 Bearbeitungen gleicht doch jener unglücklich begabten, die alles, was 23 sie anrührte, auch die Speisen in Gold verwandelte, und kann uns 24 mitten im Reichtum nicht sättigen und tränken. Gar, wo aus bloßer 25 Einbildungskraft die Mythologie mit ihren Bildern soll angeschafft 26 werden, wie kahl, innerlich leer und gestaltlos sieht dann trotz den 27 besten und stärksten Worten alles aus! Übrigens ist dies nur gegen so- 28 genannte Bearbeitungen gesagt, welche die Märchen zu verschönern 29 und poetischer auszustatten vorhaben, nicht gegen ein freies Auffas- 30 sen derselben zu eignen, ganz der Zeit angehörenden Dichtungen, 31 denn wer hätte Lust der Poesie Gränzen abzustecken?

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1 Wir übergeben dies Buch wohlwollenden Händen, dabei denken 2 wir an die segnende Kraft, die in ihnen liegt, und wünschen dass de- 3 nen, welche diese Brosamen der Poesie Armen und Genügsamen 4 nicht gönnen, es gänzlich verborgen bleiben möge. 5 Cassel am 3ten Julius 1819. 6

7

8 Durch eine Anzahl neuer, dem zweiten Teile zugefügter Märchen,

9 unter welchen einige in schweizerischer Mundart sich auszeichnen,

10 ist unsere Sammlung in gegenwärtiger dritten Auflage wiederum

11 gewachsen und der Vollständigkeit, so weit sie möglich ist, näher ge-

12 rückt. Außerdem sind viele der frühern Stücke abermals umgearbei-

13 tet und durch Zusätze und einzelne, aus mündlichen Erzählungen

14 gewonnene Züge ergänzt und bereichert.

15 Der dritte Teil, dessen Inhalt sich lediglich auf den wissenschaft-

16 lichen Gebrauch der Sammlung bezieht und daher nur in einem viel

17 engern Kreis Eingang finden konnte, ist diesmal nicht mit abge-

18 druckt, weil davon noch Exemplare in der Reimerschen Buchhand-

19 lung zu Berlin vorrätig sind. In der Folge soll dieser dritte Teil als ein

20 für sich bestehendes Werk erscheinen, in welchem auch die in der

21 vorigen Ausgabe vorangesetzten Einleitungen von dem Wesen der

22 Märchen und von Kindersitten einen Platz finden werden.

23 Die treue Auffassung der Überlieferung, der ungesuchte Aus-

24 druck und, wenn es nicht unbescheiden klingt, der Reichtum und

25 die Mannigfaltigkeit der Sammlung haben ihr fortdauernde Teilnah-

26 me unter uns und Beachtung im Auslande verschafft. Unter den ver-

27 schiedenen Übersetzungen verdient die englische als die vollstän-

28 digste, und weil die verwandte Sprache sich am genausten an-

29 schließt, den Vorzug.* Eine Auswahl, als kleinere Ausgabe in einem

30 * Nachdem Francis Cohen im Quarterly Review (1819 Mai) die ältere Ausgabe 31 ausführlich angezeigt hatte, erschien nach der zweiten eine Übersetzung von

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1 Bändchen, wobei zugleich die Bedenklichkeit derer berücksichtigt 2 ist, welche nicht jedes Stück der größeren Sammlung für Kinder an- 3 gemessen halten, veranstalteten wir zuerst 1825, sie ist 1833 und 1836 4 wieder aufgelegt worden. 5 Der wissenschaftliche Wert dieser Überlieferungen hat sich in 6 mancher überraschenden Verwandtschaft mit alten Göttersagen be- 7 währt, und die nicht selten Gelegenheit gehabt 8 darauf zurückzukommen, ja sie hat in der Übereinstimmung mit 9 nordischen Mythen einen Beweis des ursprünglichen Zusammen- 10 hangs gefunden. 11

12 Edgar Taylor in zwei Teilen mit geistreichen Kupfern von Cruikshank (Ger- 13 man popular stories London 1823 und 1826), welche nochmals (1839) aufgelegt 14 ward. Eine andere Auswahl mit Bildern von Richard Doyle lieferte John Ed- 15 ward Taylor (The fairy ring: a new collection of popular tales translated from 16 the german of Jacob and Wilhelm Grimm London 1846). Ferner, Grimms Hou-

17 seholdstories newly translated with illustrations by Wehnert 2 voll. London 1856, 8. Ein einzelnes Märchen The charmed Roe or the little brother and little 18 sister illustrated by Otto Spekter London 1847; die Bilder sind sehr hübsch. 19 Eine holländische (Sprookjesboek vor Kinderen Amsterdam 1820) enthielt ei- 20 nen Auszug, wie eine dänische von Hegermann-Lindencrone (Börne Eventyr 21 Kopenh. 1820 oder 21). Auch in Dansk Laesebog for Tydske af Frederik Brese-

22 mann zweite Auflage 1843 S. 123–133 sind drei Stücke von J. F. Lindencrone übersetzt. Einzelne Stücke hat Öhlenschläger übertragen, eine größere Anzahl 23 C. Molbech (Julegave for Börn 1835–1839 und Udvalgte Eventyr og Fortällingar 24 Kopenhagen 1843). Mehrere Stücke findet man in Reuterdahls Julläsning for 25 barn ins Schwedische übersetzt. Das Journal de Débats vom 4ten August 1832 26 enthält sinnreiche Äußerungen über das Buch und als Probe eine Übersetzung 27 des Märchens von dem eisernen Heinrich: ferner das Blatt vom 1. Jan. 1831

28 ein Bruchstück aus dem Machandelbaum; späterhin (Paris 1836) erschienen Contes choisis de Grimm traduits par F. C. Gérard mit Kupfern. Endlich im Jahr 29 1846 Contes de la famille par les frères Grimm traduits de l’allemand par 30 N. Martin et Pitre-Chevalier (Paris ohne Angabe des Jahrs) mit einer märchen- 31 haften Biographie.

Vorrede 25