Angeborene Fehlbildungen A.-K
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Martini, Ellenbogen, Unterarm, Hand (ISBN 3131262117) © 2003 Georg Thieme Verlag 121 6 Angeborene Fehlbildungen A.-K. Martini 6.1 Einleitung zu den angeborenen Fehlbildungen des Ellenbogens, des Unterarmes und der Hand 6.2 Fehlbildungen des Ellenbogens 6.3 Fehlbildungen des Unterarmes und der Handgelenke 6.4 Fehlbildungen der Hand Martini, Ellenbogen, Unterarm, Hand (ISBN 3131262117) © 2003 Georg Thieme Verlag 122 6 Angeborene Fehlbildungen 6.1 Einleitung zu den angeborenen Fehlbildungen des Ellenbogens, des Unterarmes und der Hand Bei den angeborenen Fehlbildungen (Malformation) han- zeigt die wichtigsten und häufigsten Syndrome, bei delt es sich um einen primären Defekt aus einem lokali- denen die Fehlbildung der oberen Extremität ein wichtiges sierten Fehler der Morphogenese, der zum Zeitpunkt der Symptom darstellt (Tab. 6.1). Geburt vorliegt (Warkany u. Kalter 1961). Angeborene Die Handfehlbildung kann ein wichtiger Hinweis auf Anomalien manifestieren sich dagegen im Säuglings- und ein erst später erkennbares Syndrom sein. Die genaue Kleinkindesalter oder später und werden erst durch das Diagnose und Klärung der Ätiologie ist für die Betroffenen Wachstum auffällig. von großer Bedeutung, dabei gilt es, das Wiederholungs- Nach Conway u. Bowe (1956) hat eines von 626 Neu- risiko abzuschätzen und eventuell präventive Maßnahmen geborenen eine Fehlbildung an einer oberen Extremität. zu treffen. Eine genetische Beratung ist in solchen Fällen Die meisten sind geringfügig und bedürfen keiner Behand- zu empfehlen. Genetisch bedingte Gliedmaßenfehlbildun- lung, aber 1 von 10 dieser Fehlbildungen erfordert auf- gen können in 3 Gruppen unterteilt werden: monogene grund der Funktionsstörung oder des auffälligen Erschei- Erbleiden (autosomal-dominant, autosomal-rezessiv, nungsbildes eine spezielle Therapie (Birch-Jensen 1949) x-dominant, x-rezessiv), Chromosomenaberrationen und multifaktorielle Krankheiten. Eine Vielzahl experimenteller Untersuchungen haben 6.1.1 Ätiologie den Nachweis erbracht, dass manche Gliedmaßenfehlbil- dungen durch exogene Noxen hervorgerufen werden können. Die Wirkung eines teratogenen Faktors ist, wie Groß angelegte klinische Beobachtungen und tierexperi- Büchner (1958, 1959) betont, von der jeweiligen Entwick- mentelle Studien haben die Klärung der Ursachen man- lungsphase des Keimlings abhängig. Lenz u. Knapp (1962) cher Fehlbildungen (Thalidomid-Katastrophe) und des haben für die Thalidomid-Embryopathie als kritische Vererbungsmodus (Spalthand) ermöglicht. Trotzdem Phase die Zeitspanne vom 37. bis zum 50. Tag nach der bleibt die eindeutige Zuordnung einer Ursache für viele letzten Menstruation ermittelt. Im Tiermodell wurde eine Fehlbildungen der oberen Extremität unmöglich (Lang- Vielzahl von Noxen untersucht: Ionisierende Strahlen, Hy- mann 1989). Eine Vielzahl von Fehlbildungen an Hand per-, Hypo- und Avitaminosen, Hormone, Zytostatika, und Unterarm sind Teil eines genetisch bedingten Syn- Hypo- und Anoxie, Infektionen usw. (Literaturübersicht droms (Wynne-Davies u. Lamb 1985). Die Tabelle 6.1 u. a. bei Berry u. Poswillow 1975, Langmann 1989). Ogino Tab. 6.1 Fehlbildungen und Vererbungsmodus (aus: Lamb u. Wynne-Davies 1998) ____ Fehlbildungen Klinische Bilder Vererbungsmodus Aplasien Radialdefekte: Fanconi-Anämie autosomal-rezessiv Thrombozytopenie/Radiusaplasie autosomal-rezessiv Hypoplastische Anämie, z.T. mit triphalangealem Daumen autosomal-rezessiv Holt-Oram-Syndrom (Herz-Hand-Syndrom) autosomal-dominant Duane-Syndrom autosomal-dominant Hypoplasien Daumenhypoplasie: progressive Myositis ossificans autosomal-dominant Rubinstein-Taybi-Syndrom x-chromosomal-dominant Brachydaktylie: xo Pseudohypoparathyreoidismus Turner-Syndrom Plusvarianten präaxiale (radialseitige) Polydaktylie z. T. autosomal-rezessiv postaxiale (ulnarseitige) Polydaktylie autosomal-rezessiv Laurence-Moon-Syndrom Gigantismus: Neurofibromatose autosomal-dominant Weichteildefekte Marfan-Syndrom autosomal-dominant kongenitale kontrakte Arochnodaktylie autosomal-dominant Scheie-Syndrom (u.a. Mucopolysaccharidosen) autosomal-rezessiv Martini, Ellenbogen, Unterarm, Hand (ISBN 3131262117) © 2003 Georg Thieme Verlag 6.1 Einleitung zu den angeborenen Fehlbildungen des Ellenbogens, des Unterarmes und der Hand 123 (1996) konnte durch Applikation des Zytostatikums Busul- 6.1.2 Klassifikation fan bei Ratten am 9. Schwangerschaftstag Ulnardefekte und am 10. Schwangerschaftstag Radialdefekte hervor- rufen. Bei verschiedenen Rattenstämmen zeigten sich un- Die Handfehlbildungen treten in sehr vielfältigen Formen terschiedliche Defekte. Bei diesen Experimenten traten auf, so dass die Unterbringung aller Deformitäten in einer Polydaktylie, Syndaktylie und Spalthand oft kombiniert Klassifikation kaum möglich ist. Manche Klassifikationen auf und es fand sich die gleiche kritische Periode zur Aus- richten sich nach der Morphologie, andere nach der tera- lösung dieser Fehlbildungen. tologischen Reihenfolge oder nach der Pathogenese. Keli- Eine Assoziation fand sich zwischen Symbrachydakty- kan (1974) gibt einen Überblick über die bekannten Klas- lie und transversalen Defekten, so dass die scharfe Tren- sifikationen in 21 Tabellen. Besondere Verbreitung fanden nung zwischen longitudinalen und transversalen Fehlbil- die Einteilungen von Kümmel (1895) in der Modifikation dungen nicht mehr möglich ist (Ogino 1996, Miura u. Mit- von Nigst (1927), Müller (1937) und von Frantz u. O’Rahil- arb. 1994, Luijsterburg u. Mitarb. 2000, Lamb u. Wynne- ly (1961). 1968 entwickelten Swanson u. Mitarb. eine um- Davies 1998). fassende Klassifikation, die nach den embryologischen Pri- Neue Untersuchungsergebnisse über die molekularen märschäden von Gliedmaßenteilen in Gruppen einteilt. Grundlagen der Embryologie des Skelettsystems werden Henkel u. Willert (1969) entwickelten eine Klassifikation die Bedeutung regulierender Gene und Transkriptionsfak- der Dysmelie in zwei Hauptgruppen: Transversale und toren verdeutlichen. Mundlos u. Olsen (1997) unterschei- longitudinale Defekte. Diese Einteilung ging auch in die den in diesem Zusammenhang nach dem Pathomechanis- Klassifikation von Swanson u. Mitarb. (1968) ein, ins- mus zwei Gruppen: Die Störung der Mesenchymverdich- besondere in der ersten Gruppe. tung und -differenzierung sowie die Störung der Knorpel- Die endgültige Klassifikation von Swanson (1976) proliferation und -reifung. So haben bei der ersten Gruppe wurde von der „American Society for Surgery of the Transskriptionsfaktoren der HOX-Familie (Homöbox-Ge- Hand“, von der „International Federation of Societies for ne), PAX-Gene (Paired-box-Gene) und BMPs (Bone mor- Surgery of the Hand“ und von der „International Society phogenic proteins) eine zentrale Bedeutung. Für einige for Prothetics and Orthetics“ angenommen und hat bis Fehlbildungen oder Syndrome sind die entsprechenden heute allgemeine Gültigkeit. Genloci identifiziert und in Tabelle 6.2 dargestellt. Diese umfasst die folgenden 7 Kategorien: Bei der Proliferation und Reifung des Knorpels während des Wachstums haben besonders GH (growth hormone), I. Fehlen der Bildung von Teilen: Wachstumsfaktoren, FGF (fibroblastic growth factor), FGFR A Transversale Defekte: (fibroblastic growth factor receptor) sowie das Parathor- 1. Amputationsdefekte: Arm, Unterarm, Handgelenk, mon eine große Bedeutung. Auch in dieser Gruppe sind für Hand, Finger. einige Syndrome die Genloci mittlerweile bekannt B Longitudinale Defekte: (Tab. 6.3). 1. Komplett: proximal (Phokomelie), distal. 2. Kombiniert: radialer Defekt (radiale Klumphand). 3. Kombiniert: zentraler Defekt (Spalthand). Tab. 6.2 Störungen der Mesenchymverdichtung und die 4. Kombiniert: ulnarer Defekt (ulnare Klumphand). entsprechenden Genloci (aus: Mundlos u. Olsen 5. Hypoplasie distal: Finger. 1997) ____ Defekte der Mesenchymverdichtung Genloci II. Fehlen der Differenzierung (Separation) von Teilen: und -differenzierung A Synostosen: Ellenbogen, Unterarm, Karpus, Metakar- Synpolydaktylie HOX D-13 pus, Phalangen. B Luxation des Radiuskopfes. Greig-Syndrom GLI 3 C Symphalangie. Waardenburg-Syndrom PAX-3 D Syndaktylie: häutige Komplexe, als Teil eines Syn- droms. Holt-Oram-Syndrom 12 q 2 E Kontraktur: 1. Weichteile: Arthrogryposis, Pterygium, schnellender Finger, Fehlen der Strecksehnen, Daumenhypoplasie, Tab. 6.3 Störungen der Knorpelproliferation und -reifung Kamptodaktylie, Windmühlenflügeldeformität. (aus: Mundlos u. Olsen 1997) 2. Knochen: Klinodaktylie, Kirner-Deformität, Deltakno- ____ Syndrome Genloci chen. Achondroplasie FGFR 3 III. Doppelbildungen: Apert-Syndrom FGFR 2 A Daumen-Polydaktylie (präaxial). B Dreigliedriger Daumen, Hyperphalangie. Pfeiffer-Syndrom FGFR 1 Martini, Ellenbogen, Unterarm, Hand (ISBN 3131262117) © 2003 Georg Thieme Verlag 124 6 Angeborene Fehlbildungen C Polydaktylie der Finger: zentrale (Polysyndaktylie), ul- macht und ist für die frühfunktionelle Entwicklung des nare Polydaktylie (postaxial). Kindes wertvoll. Die Indikation und der Zeitpunkt der D Spiegelbilddeformität. Operation werden von verschiedenen Kriterien bestimmt: ¼ Die gesamte Situation des Kindes muss berücksichtigt IV. Überentwicklung (Gigantismus) des ganzen Armes werden: Weitere Fehlbildungen an derselben Extremi- oder Teile des Armes: tät, an anderen Gliedmaßen oder Organen, die dringen- Makrodaktylie. der Behandlung bedürfen. Der geistige Entwicklungs- stand und der Intelligenzgrad des Kindes sind von ent- V. Unterentwicklung (Hypoplasie). scheidender Bedeutung, wenn Mitarbeit in der Nach- behandlungsphase benötigt wird. VI. Schnürfurchenkomplex. ¼ Beim Zeitfaktor ist zu